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German Pages 398 Year 2006
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Band 168
Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EU-Vertrag, EG-Vertrag und EU-Verfassungsvertrag
Von
Markus Söbbeke-Krajewski
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
MARKUS SÖBBEKE-KRAJEWSKI
Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union
Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft Herausgegeben im Auftrag der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster durch die Professoren Dr. Heinrich Dörner Dr. Dirk Ehlers Dr. Ursula Nelles
Band 168
Der religionsrechtliche Acquis Communautaire der Europäischen Union Ansätze eines systematischen Religionsrechts der EU unter EU-Vertrag, EG-Vertrag und EU-Verfassungsvertrag
Von
Markus Söbbeke-Krajewski
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster hat diese Arbeit im Jahre 2005 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
D6 Alle Rechte vorbehalten # 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5383 ISBN 3-428-12120-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Für Elke und Lilian
Rem tene verba sequentur.
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im Sommersemester 2005 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation angenommen worden. Literatur, Gesetzgebung und Judikatur konnten bis zum Oktober 2005 berücksichtigt werden. Diese Dissertation ist während einer gut dreijährigen beruflichen Tätigkeit in Brüssel entstanden. Die Zusammenarbeit und der Gedankenaustausch mit Menschen aus vielen Ländern in der Hauptstadt unserer Europäischen Union haben mich sehr bereichert und ermutigt. Dort treffen sich Menschen mit Visionen und Mut, um am großen Ziel eines friedlichen, freien und wohlhabenden Europa zu arbeiten. Zu wenig von der Kraft und Aufbruchsstimmung dort erreicht die Menschen vor Ort, zu sehr wird die EU als Sündenbock für die Missstände andernorts missbraucht. Es ist die Aufgabe derjenigen, die die EU in Brüssel kennen, dieses Bild zu korrigieren. Doch es ist vor allem Aufgabe jedes europäischen Bürgers, sich selbst in das Projekt einzubringen. Gestalten wir eine Europäische Union, vereint aus den europäischen Staaten, gebunden an verfassungsmäßig garantierte Grundrechte, die uns Bürgern einen Raum der freien Entfaltung bietet. Die vorliegende Dissertation soll auch ein Beitrag zu dieser Aufgabe sein. Idee, Entschluss, Disziplin und die Arbeit des Denkens und Schreibens sind die notwendigen Voraussetzungen zum Gelingen einer Dissertation, die der Autor selbst erbringen muss. Doch das Vorhaben wäre nicht gelungen, wenn der Verfasser nicht vielfältige Unterstützung erhalten hätte. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dirk Ehlers, meinen besonderen Dank aussprechen. Seine Betreuung der Dissertation war fordernd und fördernd zugleich; für beides bin ich ihm gleichermaßen dankbar. Er unterstützte mich mit hilfreichen Ratschlägen und vertraute auf das Gelingen der Arbeit trotz meiner Mehrfachbelastung durch Beruf und Dissertation. Sein Vertrauen ermunterte und bestärkte mich. Zudem schulde ich ihm und seinen Mitherausgebern sowie der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Dank für die Aufnahme dieser Dissertation in die Schriftenreihe der Fakul-
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Vorwort
tät „Münsterische Beiträge zur Rechtswissenschaft“. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Dr. Bodo Pieroth für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Dem Freundeskreis Rechtswissenschaft e.V. der Westfälischen Wilhelms-Universität danke ich für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Sehr dankbar bin ich meinen Eltern, Maria und Dieter Krajewski. Sie haben mich mein Leben lang liebevoll unterstützt und in jeder Hinsicht gefördert; sie haben mir beigebracht, Perspektiven zu entwickeln und umzusetzen. Damit haben sie den Grundstein für diese Arbeit gelegt. Ebenso großer Dank gilt meinem Bruder, Thomas Krajewski. Er ist seit Kindertagen mein vertrauter Begleiter, Freund und inzwischen juristischer Kollege. Gerade die Zeiten des gemeinsamen Studiums und Lernens haben mir viel Freude und Anregung gebracht. Des Weiteren danke ich allen anderen Verwandten, Freunden und Kollegen, die Anteil am Fortgang meiner Arbeit genommen haben. Von ganzem Herzen danke ich schließlich meiner Frau Elke Söbbeke. Sie hat die gesamte Entstehung dieser Arbeit begleitet, die Doppelbelastung durch Beruf und Dissertation mitgetragen und die Freude über Fortschritte und Gelingen geteilt. Ihr ehrliches Interesse an meinem Dissertationsthema, das sie mir in unseren vielen Gesprächen gezeigt hat, und ihre große Zuversicht haben mich immer neu angeregt und motiviert. Unsere gemeinsamen Arbeitssamstage mit Blick auf die Rue Faider werde ich, wie die gesamte gemeinsame Zeit in Brüssel, nie vergessen. Elkes liebevolle Unterstützung war mir während der gesamten Arbeit der größte Rückhalt. Münster (Westf.), im November 2005
Markus Söbbeke-Krajewski
Inhaltsverzeichnis A. Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Das Aufkommen religionsrechtlicher Fragen im europäischen Einigungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die heutige Europäische Union: von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Wertegemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) . . . . . . . III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Wertegemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Bestand an Rechtsmaterie von religionsrechtlicher Relevanz auf EU-Ebene: die Entwicklung in quantitativer und qualitativer Hinsicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Untersuchung der quantitativen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Untersuchung der qualitativen Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auswertung der Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die religionsrechtliche Materie in der Kompetenzstruktur der EU . . . . . . 1. Die Kompetenzstruktur unter dem EU-/EG-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausdrückliche Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Vertragsabrundungskompetenz (Art. 308 EG-Vertrag) . . . . . . . c) Sachzusammenhang, Implied Powers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Annexkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kompetenzstruktur unter dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausschließliche Zuständigkeiten (Art. I-13 VVE) . . . . . . . . . . . . . . b) Geteilte Zuständigkeiten (Art. I-14 VVE). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen (Art. I-17 VVE) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Fragen der Terminologie: Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“ für den europäischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Kontext der terminologischen Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Ungeeignetheit des Begriffes „Staatskirchenrecht“ für die europarechtliche Materie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Untersuchung nach dem Wortlaut des Begriffes „Staatskirchenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Begriffskomponente „Staat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Begriffskomponente „Kirche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis b) Die Untersuchung nach den begriffs- und problemimmanenten Bedeutungen des Begriffs „Staatskirchenrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3. Die Geeignetheit des Begriffs „Religionsrecht“ bzw. „Religionsverfassungsrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die historische Entwicklung im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Geltungsgrund und die formale Stellung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Gewichtung des Grundrechtsschutzes in der Rechtssprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung der Religionsfreiheit bis zum Verfassungsvertrag. . . . . . 1. Das Urteil Prais. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. 6 II EU-Vertrag i. V. m. Art. 9 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Religionsfreiheit als Ergebnis der Herleitung aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Lehre von den drei Systemen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Ermittlung gemeinsamer Strukturprinzipien der Religionsfreiheit . (1) Individuelle Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Korporative Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rechtspersönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Weitere Strukturprinzipien im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Privilegierung etablierter Religionsgemeinschaften . . . . . . . . . . c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Das Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC . . . . . . . . . . 1. Einleitende Bemerkungen zur Europäischen Grundrechtecharta (EGRC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Entstehung und Auslegung des Art. 10 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Debatte im Grundrechtekonvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Evolution des Art. 10 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Kohärenz von EGRC und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Debatte über die Schranken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kritik von außerhalb des Grundrechtekonvents . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Definition der Rechtsgüter des Art. 10 I EGRC. . . . . . . . . . . . . . . . a) Der Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Definitionsansätze der Rechtssprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Religion und Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Gedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis (3) Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Eigener Ansatz zur Definition des Merkmals Religion . . . . . . . . . . 4. Die Ausgestaltung des Art. 10 I EGRC als Individualgrundrecht . . . . a) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sachlicher Schutzbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Das Wechseln der Religion und Weltanschauung . . (bb) Das Bekennen der Religion und Weltanschauung . . (cc) Der unbeschriebene Bereich des Art. 10 I EGRC . . (dd) Der status positivus der unionsrechtlichen Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gedankenfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Verhältnis der Freiheiten zueinander. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Der staatliche Zugang zum Schutzbereich – Die Relevanz der Binnengrenzen des Schutzbereichs bei der Grundrechtsanwendung durch weltliche Stellen. . . . . . . . . (f) Zwischenergebnis: Die Konzeption des Schutzbereichs des Art. 10 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Schranken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die allgemeine Konzeption der Grundrechtsschranken in der EGRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Konzeption der Schranken bei Art. 10 I EGRC . . . . . . . . (3) Der Geltungsbereich der Schrankenregelung des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Die Schranken des Art. 10 I EGRC im Einzelnen . . . . . . . . . . (a) Das Problem des „Gesetzes“-vorbehalts . . . . . . . . . . . . . . . (b) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Öffentliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Öffentliche Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Öffentliche Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (f) Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. . . . . . . . . . . . . . (5) Die Schranken-Schranken des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Notwendigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) In einer demokratischen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Wesensgehaltsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Weitergehender Schutz gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC?. . . . . . 5. Die Ausgestaltung des Art. 10 I EGRC als korporatives Grundrecht a) Untersuchung zur Existenz der korporativen Dimension der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wortlaut des Art. 10 I EGRC. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
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(2) Historie unter Berücksichtigung der EMRK-Rechtssprechung, insbesondere das Urteil Hasan & Chaush ./. Bulgarien . . . . . . . (3) Herleitungsversuch aus der individuellen Religionsfreiheit . . . (4) Herleitungsversuch aus der Vereinigungsfreiheit . . . . . . . . . . . . (5) Die Herleitung aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (6) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (7) Rechtsanwendungsebene. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die korporative Religionsfreiheit im Kontext des Unionsrechts . . (1) Primärer Bereich: innere Angelegenheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sekundärer Bereich: karitative Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Tertiärer Bereich: rein gewerbliche Betätigung . . . . . . . . . . . . . Der persönliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit (1) Das Merkmal „Vereinigung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Das Merkmal „religiös“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kompetenz zur Definition auf EU-Ebene. . . . . . . . . . . . . . . (b) Grundsätzliche Definitionsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Bestimmung des Merkmals „religiös“ vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der korporativen Religionsfreiheit im EU-Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Der „funktionale Ansatz“ der korporativen Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Lösungsstrategie zur Bestimmung des Merkmals „religiös“ (aa) Lösungsstrategie 1. Schritt: Darlegungslast und -recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Lösungsstrategie 2. Schritt: Plausibilitätskontrolle . . (3) Steht der persönliche Schutzbereich auch Vereinigungen mit einzelnen religiösen Zwecken offen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Kirchen in der Rechtsform der Körperschaften öffentlichen Rechts oder vergleichbarem Status . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (5) Staatskirchen im Schutzbereich der unionsrechtlichen Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der sachliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit . . (1) Die grundsätzlichen Gewährleistungen des sachlichen Schutzbereichs für Religionsgemeinschaften. . . . . . . . . . . . . . . . (2) Der objektiv-rechtliche Gehalt der korporativen Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Der sachliche Schutzbereich in Bezug auf die drei Bereiche korporativ-religiöser Betätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Primärer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Sekundärer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Tertiärer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansätze und Umfang eines Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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188 190 191 192 193 194 196 198 200 200 201 203 203 203 205 205
Inhaltsverzeichnis (1) Die Diskussion in der deutschen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Ein „funktionaler Ansatz“ als Grundsatz der Bestimmung von Existenz und Umfang des Selbstbestimmungsrechts . . . . (a) Zur Existenz des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . . (b) Zum Umfang des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . (3) Einzelne Bereiche des Selbstbestimmungsrechts . . . . . . . . . . . . (a) Personalhoheit und Ämterfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Organisationshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Mission und Lehrtätigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Rechtspersönlichkeit und Registrierung . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Eigentumsrecht, Vermögens- und Finanzhoheit . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Schranken der korporativen Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Parallelen zur individuellen Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . (2) Die Schutzgüter des Art. 9 II EMRK im Rahmen der korporativen Religionsfreiheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Öffentliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Öffentliche Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Öffentliche Gesundheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Öffentliche Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Rechte und Freiheiten anderer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Problem der fehlenden europaweit gültigen Beurteilungsmaßstäbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Das Verhältnis der korporativen Religionsfreiheit zu den Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundfreiheiten und Grundrechte im lex-specialis-Verhältnis (2) Grundfreiheiten und Grundrechte in Idealkonkurrenz . . . . . . . (3) Kollision von Grundfreiheit und Grundrecht . . . . . . . . . . . . . . . (a) Kein Exklusivitätsverhältnis zwischen Religionsrecht und Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gleichrangigkeit von Grundfreiheiten und Grundrecht . . (aa) Das Rangverhältnis von Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten (Religionsfreiheit) unter dem EU-Vertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Das Rangverhältnis von Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten (Religionsfreiheit) unter dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Konstellationen der Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Mittelbare belastende Drittwirkung der Grundfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten . . . . (cc) Insbesondere: die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 206 210 211 211 214 214 219 221 222 224 226 226 227 227 227 229 230 230 230 230 233 235 235 236 236 237
237
239 239 239 240 244
14
Inhaltsverzeichnis (dd) Keine Ausnahmen durch Art. 39 IV, 45 I, 55 EGV. (4) Lösung der Kollision von Religionsfreiheit und Grundfreiheiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Unzulänglichkeit der bisherigen EuGH-Rechtssprechung. (b) Kein pauschaler Vorrang der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . (c) Lösung der Kollision durch Herstellung praktischer Konkordanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Primärer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Sekundärer Bereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Tertiärer Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Der Schutz vor Eingriffen in die Religionsfreiheit durch Private . . (1) Unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Unionsrechtliche Schutzpflicht zu Gunsten der Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sonderfall: Schutzpflicht bei innerkirchlichen Sachverhalten .
D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften gemäß Art. I-52 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Entstehungsgeschichte des Art. I-52 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Arbeiten des Verfassungskonvents an Art. I-52 VVE . . . . . . . . . . . II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Union. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften, weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten . . . . . . . . . . . c) Status. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Achten und Nicht-Beeinträchtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektiv-rechtlicher Gehalt des Art. I-52 I, II VVE . . . . . . . . . . . . . . . a) Subjektive Rechte im Unionsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Untersuchung des Art. I-52 I, II VVE auf subjektiv-rechtlichen Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterschiedliche Rechte für religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenspiel mit Art. 10 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Dialogverpflichtung des Art. I-52 III VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestandsmerkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Kirchen und Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Pflegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Eigenschaften des Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) In Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags . . . . . . 2. Bewertung des Art. I-52 III VVE. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
244 247 247 248 249 249 250 253 254 254 256 259 260 260 260 262 267 267 267 268 269 272 273 274 275 278 278 279 281 281 281 282 282 283 284 285
Inhaltsverzeichnis
15
IV. Die Achtung nationaler religiöser Riten im Tierschutz der EU gemäß Art. III-121 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Normgenese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Regelungsgehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
287 287 287 289
E. Die Achtung der Vielfalt der Religionen gemäß Art. 22 EGRC. . . . . . . . . I. Entstehung der Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 22 EGRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Achten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kein subjektiv-rechtlicher Gehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Verhältnis zu anderen religionsrechtlichen Vorschriften. . . . . . . . . . . . . . . .
290 290 291 291 291 291 292 293 294
F. Primärrechtliche Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion I. Die Bekämpfung der Diskriminierung auf Grund der Religion in Art. 13 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtsnatur des Art. 13 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Anwendungsbereich des Art. 13 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Kollision des Gleichheitsgebots mit der korporativen Religionsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verbote der Diskriminierung auf Grund der Religion im VVE: Art. 21 I EGRC, Art. III-118, III-124 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Art. 21 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die rechtliche Ausgangslage zu Art. 21 I EGRC . . . . . . . . . . . . . . . c) Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Persönlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Sachlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Art. III-118, Art. III-124 VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Veränderungen des Rechts der Diskriminierung aus Gründen der Religion und Weltanschauung unter EUV/EGV und dem VVE . . . . . . . . 1. Zum Schutz vor ungerechtfertigter Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zum Recht auf Differenzierung aus religiös-weltanschaulichen Motiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verbesserungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
295 295 296 297 299 302 302 302 304 304 305 305 307 307 309 309 309 310 311
G. Schutz des nationalen Religionsrechts durch den Grundsatz der Wahrung der nationalen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312
16
Inhaltsverzeichnis 1. Die europarechtlichen Vorgaben für den Begriff der „nationalen Identität“ und die nationale Ausfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bedeutung der nationalen Identität für das Religionsrecht. . . . . . . . . . . a) Die nationalen Staat-Kirche-Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Religion im staatlichen Bildungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kirchliche Wohlfahrtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Finanzierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften . . . . . e) Kirchliches Arbeitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Schutzwirkung des Art. 6 III EUV für das nationale Religionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Der Schutz der nationalen Identität unter dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich EUV/VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
H. Schutz des nationalen Religionsrechts durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips und seine Wirksamkeit. 2. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für das Religionsrecht. . . . . II. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich zwischen EUV/EGV und dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schutz der Religionsgemeinschaften durch den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und seine Wirksamkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für das Religionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Vergleich zwischen EUV/EGV und dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
313 315 316 318 318 319 319 320 320 322 323 324 324 326 328 330 332 333 333 334 338 340
J. Religion unter dem Kulturrecht des EGV und des VVE. . . . . . . . . . . . . . . . 341 I. Religion unter dem Kulturrecht des EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 II. Religion unter dem Kulturrecht des VVE und Vergleich zum EGV . . . . . 345 K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht – Auswirkungen des primärrechtlichen Religionsrechts auf die sekundärrechtliche Ebene an Hand ausgewählter Bereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt (RiLi 2000/78/EG) 1. Die Normgenese der Ausnahmevorschrift des Art. 4 . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inhalt und Umfang der Ausnahme des Art. 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ausnahme des Art. 4 I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Ausnahme des Art. 4 II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
346 346 348 351 351 352
Inhaltsverzeichnis
17
(1) Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 4 II. . . . . . . . . . (2) Die sachlichen Anforderungen des Art. 4 II. . . . . . . . . . . . . . . . (a) Einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln. . . . . . . . . (b) Keine Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Beachtung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Das Problem der religiös begründeten weiteren Differenzierungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Diskussion in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Vorschlag einer eigenen Lösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Staatskirchen und die Berufung auf Art. 4 II . . . . . . . . . . . . . . . (5) Das Problem des konfessionellen Staatsamtes . . . . . . . . . . . . . . c) Das Zusammenwirken von Art. 4 I und II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Lage unter dem VVE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kollektives Arbeits- und Dienstrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates (RiLi 1994/45/EG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Der Ansatz des Tendenzschutzes im Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
353 354 355 355 355
357 358 358 359 362 362 363 363 364 364
366 367
Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Summary. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 394
Abkürzungsverzeichnis A.A. ABl. AEMR Alt. AöR arg. Art. Aufl. BAG BB Bd. ber. BetrVG BGBl. BR BReg. Bsp. Bull. BVerfG bzw. CEC cf. CMLRev COMECE D DÖV DR Drucks. DVBl. EBRG EC ECFR ECHR EEA EG
Andere Ansicht Amtsblatt der Europäischen Union Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) Alternative Archiv des öffentlichen Rechts argumentum Artikel, article Auflage Bundesarbeitsgericht Betriebsberater Band berichtigt Betriebsverfassungsgesetz Bundesgesetzblatt Bundesrat Bundesregierung Beispiel Bulletin Bundesverfassungsgericht beziehungsweise Conference of European Churches – Church and Society Commission confer Common Market Law Review Commissio Episcopatuum Communitatis Europaeensis Deutschland Die Öffentliche Verwaltung Decisions and Reports/Décisions et Rapports (der EKMR) Drucksache Deutsches Verwaltungsblatt Europäische-Betriebsräte-Gesetz European Community, -ies European Charter of Fundamental Rights European Convention on Human Rights Einheitliche Europäische Akte Europäische Gemeinschaft(en)
Abkürzungsverzeichnis EGMR EGRC EGV EJCSR EKD EKMR ELJ ELRev EMRK endg. engl. EP etc. EU EuBl. EuGH EuGRZ EuR EUV EU-Verf EuZW F f., ff. Fn. franz. FS GB gem. GG Hdb. HK H.M. HR Hrsg. I IRL i. S. d. i. V. m. JöR JURA JZ
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Charta der Grundrechte der Europäischen Union EG-Vertrag European Journal for Church-State Research Evangelische Kirche Deutschlands Europäische Kommission für Menschenrechte European Law Journal European Law Review Europäische Konvention für Menschenrechte endgültig englisch Europäisches Parlament et cetera Europäische Union Europa-Blätter (Beilage des Bundesanzeigers) Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte Zeitschrift Europarecht (Zeitschrift) Vertrag über die Europäische Union (Entwurf des Vertrages über eine) Verfassung der Europäischen Union Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Frankreich folgende Fußnote französisch Festschrift Geschäftsbericht gemäß Grundgesetz Handbuch Herder-Korrespondenz Herrschende Meinung Human Rights Survey Herausgeber Italien Irland im Sinne des in Verbindung mit Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Juristenzeitung
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20 Kap. KOM Komm. lit. m. E. MJ MT m. w. N. NJW no. Nr. NVwZ o. Ö Parl. RDUE REDP Reg. Reports resp. RiLi Rn. Rs. RSpr. R.T.D.E scil. sec. SK Slg. s. o. st. StKR str. s. u. SubsP TR u. UK v. verb. Verf. vgl.
Abkürzungsverzeichnis Kapitel Europäische Kommission Kommentar litera, Buchstabe meines Erachtens Maastricht Journal of European and Comparative Law Malta mit weiteren Nachweisen Neue Juristische Wochenschrift number Nummer Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht oben Österreich Parlament Revue du Droit de l’Union Européenne Revue Européenne de Droit Public Regierung Reports of Judgements and Decisions/Recueil des Arrêts et Décisions (EGMR) respective Richtlinie Randnummer Rechtssache Rechtssprechung Revue Trimestrielle de Droit Européen scilicet section Slowakei Sammlung siehe oben ständig Staatskirchenrecht streitig siehe unten Subsidiaritätsprotokoll Türkei unten Vereinigtes Königreich von Großbritannien und Nordirland versus verbunden Verfassung vergleiche
Abkürzungsverzeichnis VK Vorbem. VVDStRL VVE WRV WVRK z. ZaöRV z. B. ZEE ZfA Ziff. zit. ZRP
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Verfassungskonvent/Konvent zur Zukunft Europas Vorbemerkungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Vertrag über eine Verfassung für Europa (vom 29. Oktober 2004) Weimarer Reichsverfassung Wiener Vertragsrechts-Konvention zu, zum, zur Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für Evangelische Ethik Zeitschrift für Arbeitsrecht Ziffer zitiert Zeitschrift für Rechtspolitik
A. Einführung I. Einleitung Das Thema der Religion ist der Europäischen Union nicht fremd. Neben der überwiegend politischen Debatte um die invocatio dei im Vertrag über eine Verfassung der Europäischen Union (VVE) wirft das Thema rechtliche Fragen auf: Im Primärrecht und im Sekundärrecht der Union kommen Religion und Weltanschauung vor. Die Religionsfreiheit der Grundrechtecharta und der Religionsartikel I-52 VVE sind sichtbare Zeichen; doch auch unter der Rechtslage des EU- und EG-Vertrages existieren bereits Religionsfreiheit und die Erklärung zum Status der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Vom Nichtdiskriminierungsrecht des Art. 13 EGV bzw. Art. III-108 i. V. m. Art. III-124 VVE über die entsprechenden Gleichbehandlungsrichtlinien in der Arbeitswelt bis zu den Durchführungsverordnungen über den Umgang mit Daten bei Europol bezieht sich das Europarecht auf Religion und Weltanschauung. Auch die Institutionen der Union befassen sich mit dem Thema: im Generalsekretariat der EU-Kommission in Brüssel ist der Politische Beraterstab (Bureau of European Policy Advisors, BEPA; ehemals Group of Policy Advisors, GOPA) eingerichtet worden, ein Beraterstab des Kommissionspräsidenten, der sich unabhängig vom politischen Tagesgeschäft mit Fragestellungen befasst, die als langfristig und strategisch bedeutsam für die Union eingestuft werden1. Zur Begleitung des Verfassungsprozesses wurde durch Kommissionspräsident Prodi eine Beratergruppe zur kulturellen und spirituellen Dimension Europas ins Leben gerufen (sog. Michalski-Gruppe)2. Laut ihrem Arbeitsauftrag waren die Schwerpunktthemen der Gruppe die spirituellen, religiösen und kulturellen Werte sowie deren Funktion als Hauptfundament der künftigen Einheit Europas. Der Arbeitsauftrag dieser Gruppe wurde unter Kommissionspräsident 1 Der Politische Beraterstab ist eine Dienststelle der Europäischen Kommission, die unmittelbar dem Präsidenten der EU-Kommission untersteht. Der Stab berät den Präsidenten und die Kommissionsmitglieder aktuell, eingehend und objektiv zu künftigen Maßnahmen der Europäischen Union. Das Interesse gilt disziplinübergreifenden Themen, die in der Regel einen längeren Zeithorizont haben als jene, mit denen sich andere Kommissionsdienststellen befassen. 2 Informationen unter: http://www.europa.eu.int/comm/research/social-sciences/ group/michalski_en.htm; Abschlussbericht unter: http://www.europa.eu.int/comm/ research/social-sciences/pdf/michalski_091104_report_annexes_en.pdf.
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A. Einführung
Barroso in das BEPA überführt und dort in das Arbeitsfeld „Politik“ als Topos „Dialog mit Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften“ integriert3. Auf dieser Grundlage finden seit Kommissionspräsident Jacques Delors jährliche Gespräche des Kommissionspräsidenten mit den Repräsentanten großer Glaubensgemeinschaften statt4. Es besteht also bereits eine Art Institutionalisierung des Themas bei der Union, die den Anspruch der EU, den Schritt von der Wirtschafts- zur Wertegemeinschaft zu tun, untermauert. Sieht man dies im Gesamtbild mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit, der Anerkennung der mitgliedsstaatlichen Statusrechte der Religionsgemeinschaften, der Zusage eines regelmäßigen Dialogs der Union mit den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften in Art. I-52 III VVE und den zahlreichen religionsrechtlich relevanten Normen des Sekundärrechts, so stellt sich drängender noch als vor wenigen Jahren die Frage nach einem Religionsrecht der Europäischen Union, und insbesondere, welchen Charakter und welche Eigenschaften diese Rechtsmaterie aufweist. Die vorliegende Studie hat zum Ziele, die Untersuchung, ob ein Religionsrecht der Europäischen Union existiert, zu vertiefen und fortzuführen. Angesichts des Vorkommens von Normen im EU-Recht, die an religiöse Tatbestände anknüpfen oder sich auf sie auswirken, ist diese Hypothese von verschiedener Seite bereits bejaht worden. Im Rahmen einer Bestandsaufnahme sollen diese Normen näher untersucht und erschlossen werden. Eine wesentliche Fragestellung der Studie ist die nach Veränderungen und einem Entwicklungsschritt der Materie unter dem EU-Verfassungsprozess: wie verändert sich das Religionsrecht der EU durch den geplanten EU-Verfassungsvertrag? Welche Impulse gehen von der Debatte um die Verfassung für das Religionsrecht der Union aus? Diese Debatte kann möglicherweise Entwicklungslinien aufzeigen, unabhängig vom späteren Erfolg oder Scheitern des Verfassungsvertrages. Die Studie untersucht somit das Entstehen eines Systems von Religionsrecht der Union. „System“ wird dabei nicht verstanden im Sinne eines geschlossenen Staatskirchenrechts, wie es in den Mitgliedsstaaten vorhanden ist, sondern im Sinne eines strukturierten Normenbestandes, eines acquis communautaire, in dem vorhandene religionsrechtlich relevante Regeln nicht sporadisch und beliebig erscheinen, sondern miteinander koordiniert sind, strukturelle Parallelen aufweisen, untereinander zusammenwirken, sich ergänzen oder auch kollidieren, kurz: mit einander in Beziehung stehen. Dies wären Belege für ein beginnendes, ansatzweise vorhandenes systematisches Religionsrecht der Europäischen 3 Http://www.europa.eu.int/comm/dgs/policy_advisers/activities_bepa/fields/polit ical_field/index_en.htm. 4 Zum Gespräch des Jahres 2005 siehe die gemeinsame Erklärung unter: http:// www.europa.eu.int/comm/commission_barroso/president/pdf/statement_20050712_ en.pdf.
I. Einleitung
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Union. Ein solches System steht der Beschreibung und Analyse offen: Binnenstrukturen, Funktionsweise und Grenzen können untersucht werden. Die Studie wird zeigen, dass religionsrechtlich relevante Normen des Unionsrechts dann geschaffen werden, wenn anlässlich der legislativen Bearbeitung eines Sachbereichs in der Kompetenz der EU inzidenter religionsrechtliche Fragen aufgeworfen werden und einer Lösung bedürfen. Wegen des Charakters als inzidenter mitgeschaffene Normen kann man diese Materie als „inzidentes Religionsrecht“ der EU bezeichnen. Es entsteht bislang kein europäisches Staatskirchenrecht, das die nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme verdrängt, aber es wächst ein Religionsrecht heran, das sie beeinflussen und auch verändern kann. Daraus entsteht auch ein Bedürfnis nach Schutz berechtigter nationaler Rechtspositionen, insbesondere der Rechte des organisierten religiös-weltanschaulichen Lebens, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Dies gilt desto mehr, als die religionsrechtlich relevanten Regeln der EU spezifisch religiöse Aspekte manchmal nicht in den Blick nehmen. Ziel der Untersuchung ist es daher auch zu ermitteln, ob das religionsrechtliche System der EU ein „Schutzregime“ für berechtigte Rechtspositionen von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften enthält, und dieses dann zu beschreiben. Die gegenwärtige Lage der EU ist durch Unsicherheit über die Zukunft ihrer rechtlichen Grundlagen geprägt. Die Reform- und Aufbruchstimmung, die der Verfassungsprozess ausgelöst hat, wird überlagert von Zweifeln am Erfolg des Ratifizierungsverfahrens des Verfassungsentwurfs. Auf absehbare Zeit ist unklar, ob und wie das geltende Primärrecht der EU durch den vorliegenden Entwurf des VVE oder eine nachverhandelte Fassung reformiert werden wird. Die vorliegende Dissertation stellt sich auf diese Unsicherheit ein, indem sie in den Kapiteln, die dies erfordern, sowohl die Rechtslage unter dem EUV/EGV als auch diejenige unter dem VVE erörtert und sodann beide vergleicht. Durch diese – unter den Umständen unvermeidliche – Vorgehensweise gewinnt die Arbeit eine Dimension, mit der nicht nur ein status quo, sondern auch eine Entwicklungsperspektive dargestellt werden kann. Die Normen des VVE werden jeweils unter der Prämisse untersucht, dass sie das zukünftig geltende Recht der Union darstellen. Sollte der VVE jedoch nicht in Kraft treten, können die dort entworfenen Veränderungen als Perspektiven der weiteren Entwicklung des EU-Religionsrechts verstanden werden, deren Realisierung in der Fortentwicklung der EU außerhalb des Verfassungsvertrages von 2004 denkbar ist. Der VVE wird in der Zählung und Fassung der Regierungskonferenz zur Unterzeichnung des Verfassungsvertrages vom 29. Oktober 2004 zu Grunde gelegt, die Gegenstand des Ratifizierungsverfahrens ist. Für die Europäische Charta der Grundrechte (EGRC) wird die herkömmliche Zählweise verwen-
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A. Einführung
det, da es sich um ein selbständiges Dokument handelt. Die diesbezüglichen Ausführungen bleiben mit der Inkorporation der Charta als Teil II des Verfassungsvertrages unverändert gültig; auf geringfügige Änderungen der inkorporierten Fassung wird hingewiesen.
II. Gang der Untersuchung In der Einführung (Kapitel B.) wird nach einer kurzen Darstellung der Entwicklung der EU von der Wirtschafts- zur Werteunion eine Bestandsaufnahme von religionsrechtlich relevanten Normen des Unionsrechts durchgeführt. Aus dem Ergebnis der Bestandsaufnahme werden bereits erste Schlüsse hinsichtlich der Natur der religionsrechtlichen Rechtsmaterie und ihrer Strukturen gezogen. In einer quantitativen Analyse wird dargestellt, wie im Laufe der Entwicklungsschritte der heutigen EU das Vorkommen der Normen mit religionsrechtlicher Relevanz im Unionsrecht überproportional gewachsen ist. Eine qualitative Analyse des Bestandes zeigt an, wie die religionsrechtlich relevanten Normen bestimmten Sachgebieten zugeordnet werden können, bestimmte grundrechtliche Aspekte aufweisen und über gemeinsame Strukturprinzipien verfügen. Sie verdeutlicht den Charakter der religionsrechtlichen Normen als „inzidentes Religionsrecht“, das anlässlich der Regelung anderer Kompetenzbereiche der EU inzidenter mitgeschaffen wird. An dieser Analyse wird deutlich, dass der Bestand über eine innere Regelmäßigkeit verfügt und somit Ansätze einer systematischen Struktur aufweist. Der ermittelte Bestand wird dann in den Kontext der Kompetenzstruktur der Union unter EUV/EGV und zukünftigem VVE gestellt. Schließlich werden terminologische Fragen erörtert. In Kapitel C. wird das Grundrecht der unionsrechtlichen Religionsfreiheit untersucht. Der historische Abriss der Entstehung der unionsrechtlichen Religionsfreiheit erklärt die Herkunft und heutige Existenz des Grundrechts. Die Religionsfreiheit wird an Hand von Art. 10 I der Grundrechtecharta (EGRC) unter Rückgriff auf Art. 9 EMRK, die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten und die Materialien des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta untersucht. Die Analyse widmet sich zunächst der individuellen Religionsfreiheit, legt sodann aber einen Schwerpunkt auf die Frage nach der korporativen Religionsfreiheit und einem Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften. Zu den beiden letzteren Punkten werden mehrere Herleitungswege geprüft; insbesondere wird die neuere Rechtssprechung des EGMR zur Analyse herangezogen. Der EGMR hat sich in jüngeren Entscheidungen aufschlussreich zu einer grundrechtlich begründeten inneren Autonomie von Religionsgemeinschaften geäußert. Im Ergebnis zeigt sich, dass das unionsrechtliche Grundrecht der
II. Gang der Untersuchung
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Religionsfreiheit eine korporative Dimension aufweist und dass aus ihr ein Selbstbestimmungsrecht hergeleitet werden kann, das aber vom Umfang her hinter dem vom deutschen Recht gewährten Selbstbestimmungsrecht zurückbleibt. Dann wird untersucht, wie sich die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht in den Kontext des EU-(Wirtschafts)Rechts einfügen können. Hier werden drei Bereiche (primär/sekundär/tertiär) definiert, in denen die korporative Religionsfreiheit und das Selbstbestimmungsrecht in unterschiedlichem Grade zur Geltung kommen. Die Studie untersucht zunächst den primären, inneren Bereich der Religionsgemeinschaften einschließlich der nach innen gerichteten Tätigkeiten wirtschaftlicher Art; dann den sekundären Bereich, der geprägt ist durch die Ausübung der Religion mittels nach außen gerichteter wirtschaftlicher Tätigkeit. Schließlich wird der tertiäre Bereich (gewerbliche Tätigkeit) geprüft. Das Verhältnis des europäischen Grundrechts der Religionsfreiheit zu den Grundfreiheiten des EGV wird analysiert. Es wird gezeigt, dass diese Rechte mit einander kollidieren können; für den Kollisionsfall wird ein Lösungsvorschlag erarbeitet. An die Untersuchung der Religionsfreiheit schließt sich in Kapitel D. die Untersuchung des neuen Art. I-52 VVE (bislang die unverbindliche Erklärung Nr. 11 zum Status der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften) an. Art. I-52 VVE enthält als Neuerung ein Dialoggebot der Union mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, das ebenfalls genauer betrachtet wird. Schließlich wird das Zusammenwirken der Religionsfreiheit mit dem Statusschutz insbesondere unter dem zukünftigen VVE (dort als Art. 10 I EGRC und Art. I-52 VVE) beleuchtet. Im Zusammenspiel dieser zentralen Normen zeigt sich der Kern eines Schutzregimes für die berechtigten Rechtspositionen der Religionsgemeinschaften. Sodann wird untersucht, welche weiteren Rechtsgrundsätze des Primärrechts als Komponenten am korporativen Religionsrecht der Union beteiligt sind; dabei wird geprüft, welche dieser Normen eine Schutzwirkung zu Gunsten von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften erzeugen können. Hier wird zu ermitteln versucht, inwieweit im Primärrecht ein Schutzregime für die berechtigten Rechtspositionen des organisierten religiösen Lebens in der EU angelegt ist. Dabei wird jeweils, soweit möglich, die Rechtslage unter dem EUV/EGV mit dem geplanten VVE verglichen. Zunächst betrachtet Kapitel E. den Vielfaltsartikel, Art. 22 EGRC, der die Vielfalt der Religionen in der EU schützen soll. Kapitel F. befasst sich mit den primärrechtlichen Anti-Diskriminierungsregelungen, die religionsrechtliche Relevanz aufweisen. Hier treffen Diskriminierungsbeschränkungen basierend auf religiös-weltanschaulichen Krite-
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A. Einführung
rien mit religiös-weltanschaulich begründeten Ansprüchen der Religionsgemeinschaften auf Differenzierung zusammen. Daher stellt sich die Frage, ob und wie die unionsrechtliche korporative Religionsfreiheit mit den Gleichheitsgeboten des Primärrechts zum Ausgleich gebracht werden kann. In Kapitel G. wird geprüft, ob der Grundsatz der Achtung der nationalen Identität einen Beitrag zum Schutzregime der Religionsgemeinschaften in der EU leisten kann; in Kapitel H wird diese Frage mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip und dessen Gestalt unter dem EUV/EGV und dem VVE gestellt. In Kapitel I. wird das kompetentielle Verhältnismäßigkeitsprinzip des Unionsrechts unter diesem Aspekt geprüft. Die Untersuchungen legen dar, dass sowohl das Prinzip der nationalen Identität als auch das der Subsidiarität nur einen sehr begrenzten Beitrag für das Religionsrecht leisten können, das Verhältnismäßigkeitsprinzip aber strukturell in der Lage ist, einen nicht unerheblichen Beitrag zu leisten. Kapitel J. befasst sich mit dem Kulturrecht im EUV/EGV und dem VVE; es zeigt, dass hier keine spezifische Betroffenheit des Religionsrechts entsteht und der Union vermittels der Kultur keine Kompetenz zur Regelung des Religionsrechts zuwächst. In Kapitel K. werden schließlich ausgewählte religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht der Union untersucht. Damit sollen die zuvor analysierten religionsrechtlichen Strukturen des Primärrechts unter EUV/EGV und VVE auf die Rechtsanwendungsebene bezogen werden. Hier soll gezeigt werden, wie das primärrechtliche Religionsrecht Auswirkungen auf religionsrechtliche Probleme zeitigen kann, die sich anlässlich der Gestaltung des Sekundärrechts ergeben. Schwerpunktmäßig wird hier die Richtlinie 2000/78/EG über die Nicht-Diskriminierung in Arbeit und Beruf untersucht. Diese verbietet in Umsetzung primärrechtlicher Vorgaben grundsätzlich die Diskriminierung aus religiösen Gründen in der Arbeitswelt; sie enthält aber andererseits Ausnahmevorschriften, die die berechtigten Belange der Religionsgemeinschaften befriedigen sollen, in bestimmten Fällen auf Grund religiöser Motive differenzieren zu dürfen. Es wird gezeigt, dass diese Ausnahmen aus den Vorgaben des primärrechtlichen Schutzregimes zu Gunsten der Rechtspositionen der Religionsgemeinschaften hergeleitet werden können. Diese Untersuchung wird ebenfalls an Hand zweier weiterer Richtlinien betreffend die Arbeitswelt durchgeführt, wobei sich die Wirkfähigkeit der primärrechtlichen Vorgaben der korporativen Religionsfreiheit und des Statusschutzes der Religionsgemeinschaften auf der Rechtsanwendungsebene zeigen. Die vorliegende Studie kann an verschiedene Vorarbeiten anknüpfen, die zu früheren Stadien der europäischen Einigung religionsrechtliche Fragen
II. Gang der Untersuchung
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untersucht haben. Genannt seien die grundlegende Arbeit von Blum5 zu Art. 9 I EMRK, die Beiträge zu den Essener Gesprächen 1992 und 19966, die Beiträge im European Journal for Church and State Research und die Untersuchungen von Conring7, Vachek8 und Evans9.
5 Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990. 6 EssGespr 27 (1992); EssGespr 31 (1996). 7 Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, zugleich ein Beitrag zu Art. 9 EMRK, Frankfurt a. M. 1998. 8 Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedsstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, Frankfurt a. M. 2000. 9 Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, Oxford 2001.
B. Das Aufkommen religionsrechtlicher Fragen im europäischen Einigungsprozess Die Einigung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich im Wesentlichen in zwei Institutionen: der heutigen Europäischen Union und dem Europarat. Die heutige Europäische Union war auf dem Modell einer wirtschaftlichen Verflechtung der immer wieder in Feindschaft verfallenden europäischen Staaten aufgebaut; der Europarat wurde geschaffen, um die gemeinsamen Werte der Völker Europas zu fördern. Beide Entwicklungen verliefen parallel und haben sich ständig gegenseitig beeinflusst und befruchtet. Sie sind zwei Komponenten eines historischen Prozesses, dessen Bedeutung nur in einer Gesamtschau voll erfasst werden kann. Die beiden Komponenten kann man als zwei eigenständige Sphären beschreiben, die ursprünglich nebeneinander lagen, im Verlaufe ihrer Entwicklung aber immer größere Überschneidungen aufwiesen. Da die Sphäre der Europäischen Union deutlich schneller wuchs, hat sie sich – bildlich gesprochen – immer weiter auf das Gebiet des Europarates ausgedehnt, ohne dieser Sphäre jedoch ihre eigenständige Bedeutung zu nehmen. Es findet vielmehr eine Symbiose der jeweiligen Eigenschaften statt, die ihrer gegenseitig zu bedürfen scheinen und sich sehr gut ergänzen. Das mag daran liegen, dass beide Sphären ein ähnliches Entwicklungsziel anstreben und, je näher sie diesem kommen, ihre unterschiedlichen Errungenschaften zusammenführen können und müssen. In der alltäglichen Wahrnehmung der Menschen spielt die wirtschaftliche Vereinigung Europas im Rahmen der Europäischen Union eine deutlich größere Rolle als der Europarat. Die Auswirkungen des Gemeinsamen Marktes sind spürbarer als das Wirken des Europarates, der weitgehend Dinge leistet, die zumindest den Menschen in Westeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch durch ihre Nationalstaaten gewährleistet werden, nämlich Menschenrechte und Freiheiten. Die wirtschaftliche Einigung bleibt jedoch nicht auf wirtschaftliche Aspekte beschränkt, sondern strahlt in Lebensbereiche aus, die auf den ersten Blick als genuin nicht-wirtschaftlich erscheinen. Die Einführung wird zeigen, wie in der Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums sehr bald religionsrechtliche Fragen aufgeworfen werden. In dieser Einführung werden daher zunächst die beiden Entwicklungsstränge der europäischen Einigung mit dem bisherigen Übergewicht der
I. Die heutige Europäische Union
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wirtschaftlichen Vereinigung dargestellt. Dann wird gezeigt, wie religionsrechtliche Fragen in einer sich entwickelnden Wirtschaftsgemeinschaft aufkommen. Dies führt zu einem Überblick über die Kompetenzstruktur, mit der die EU die religionsrechtlichen Fragen behandeln kann. Schließlich muss die Einführung in die Problematik Fragen der Terminologie klären.
I. Die heutige Europäische Union: von der Wirtschaftsgemeinschaft zur Wertegemeinschaft Die Entstehung der heutigen Europäischen Union (EU) ist gekennzeichnet durch einen Ansatz, der in Europa historisch bisher einzigartig ist: die Vereinigung der Völker Europas mit dem Ziel einer dauerhaften Friedenssicherung1 in einem Kontinent, der seit der Zeit des Römischen Reichs unter Kriegen leidet, wird angestrebt durch eine schrittweise Verflechtung und Vereinheitlichung der nationalen Volkswirtschaften. Gerade diese Kombination von Ziel und Mittel macht im Grunde das Wesen der EU aus und unterscheidet sie von allen anderen Einigungsansätzen, die Europa in vielen Jahrhunderten seiner Geschichte erlebt hat. Die EU hat zum Ziel, eine Wertegemeinschaft zu schaffen. Dies ist etwas wesensmäßig anderes als eine Wirtschaftsgemeinschaft, mag sie auch umfassend und perfektioniert sein. Das Ziel wurde bereits in den ersten Anfängen der heutigen EU konzeptionell angelegt. Von Beginn an wurde ein funktionaler Ansatz zur Verwirklichung einer späteren, umfassenden Union gewählt2. Um das Ziel einer Wertegemeinschaft zu erreichen, wurde die wirtschaftliche Integration so voran getrieben, dass sie eine Zwangsläufigkeit in Gang setzt, aus der die weitere Integration gespeist wird und Kraft bezieht. Das einzigartige Integrationskonzept der EU besteht in der Schaffung und Ausnutzung eines Überlauf-Effektes („spill-over effect“)3: die Verflechtung einzelner, begrenzter Bereiche (Sektoren) der Wirtschaft löst weiteren Integrationsbedarf in verwandten Sektoren aus, greift aber zunehmend über wirtschaftliche Bereiche hinaus – wirtschaftliche Einheit berührt zwangsläufig andere Sphären des gesellschaftlichen Lebens – und führt schließlich zum Endstadium einer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Integration4. Diese um1 Die Friedenssicherung durch eine friedliche Vereinigung Europas ist im Übrigen auch eine historische Abkehr von dem seit dem 16. Jahrhundert verfolgten Konzept eines Gleichgewichts der europäischen Mächte, deren angestrebte Ebenbürtigkeit den Ausgang eines Krieges unvorhersagbar machen und jeweils von einem Angriff abschrecken sollte (vgl. dazu Brockhaus in fünfzehn Bänden 2002, Bd. 4, S. 215, Eintrag „europäisches Gleichgewicht“). 2 Schweitzer/Hummer, Rn. 34 f. 3 Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 1 EUV, Rn. 12 f.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
fassende Integration ist eine Wertegemeinschaft, die nicht nur im Umfange über eine wirtschaftliche Verflechtung weit hinausgeht; sie unterscheidet sich auch wesensmäßig von ihr. Auch wenn die Entwicklung der ersten Jahrzehnte so in erster Linie aus wirtschaftlichen Maßnahmen besteht, darf dies nicht darüber täuschen, dass stets etwas qualitativ anderes als Fernziel angestrebt wurde, nämlich die umfassende Wertegemeinschaft der teilnehmenden Völker Europas, in der die gemeinsame Wirtschaft nur einen Teilbereich darstellt. In den Entwicklungsschritten der EU lässt sich dieser Ansatz aufzeigen5. Die institutionelle Geschichte der wirtschaftlichen Vereinigung beginnt mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Die Gründung dieser „Montanunion“ durch den Pariser Vertrag vom 18. April 1951 bildet den ersten konkreten Schritt zur Einigung der Völker Europas in der EU. Bereits in diesem Vertrag wird die oben beschriebene Integrationsmethodik sichtbar: der wirtschaftliche Zusammenschluss der Kohle- und Stahlindustrien der beteiligten Staaten6, insbesondere Frankreichs und Deutschlands, enthob diese Sektoren der ausschließlich nationalstaatlichen Herrschaft und sollte eine gegenseitige Abhängigkeit schaffen, die ultimativ nicht-wirtschaftlichen Zielen diente. Ohne eine nationaler Lenkung unterworfene Montanindustrie war es zu der Zeit unmöglich, Kriege zu führen. Die wirtschaftliche Verflechtung dieser Sektoren wurde somit schon ganz zu Beginn nicht ausschließlich und nicht primär als Mittel verstanden, um höheres Wirtschaftswachstum zu erzielen, sondern als Mittel zum Zweck der Wertegemeinschaft. Überragender und leitender nicht-wirtschaftlicher Wert, der durch wirtschaftliche Integration verwirklicht werden sollte, war der gemeinsame Friede. Dem entsprechend wurde die geplante Integration von Anfang an nicht daraufhin ausgelegt, eine bloße Freihandelszone (wie z. B. die Europäische Freihandelszone EFTA) zu bilden. Das Scheitern der zur gleichen Zeit angestrebten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) am 30. August 1954 in der französischen Nationalversammlung zeigt im Vergleich mit der erfolgreichen EGKS, dass Vereinigungsansätze, die auf nicht-wirtschaftlicher Methodik beruhen, zur damaligen Zeit nicht genug Integrationsmoment entfalten konnten, um weitergehende Ziele wie die Friedenssicherung und eine Gemeinschaft der europäischen Staaten zu erreichen. Die EVG sah in Art. 38 ihres Statuts 4 von Simson/Schwarze, in: Handbuch Verfassungsrecht, Rn. 91; Oppermann, Europarecht, Rn. 24. 5 Zur Entwicklungsgeschichte der heutigen EU vgl.: Schweizer/Hummer, Rn. 29 ff.; Pechstein/Koenig, Rn. 23 ff.; Koenig/Haratsch, Rn. 26 ff. 6 Dies waren neben Frankreich und Deutschland: Belgien, Italien, die Niederlande und Luxemburg.
I. Die heutige Europäische Union
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vor, dass sie ein Bestandteil eines späteren bundesstaatlichen oder staatenbündischen Gemeinwesens sein kann. Die EVG bildete dazu eine „ad-hocVersammlung“, die einen Verfassungsentwurf ausarbeitete. Dieser hatte eine umfassende „Europäische Politische Gemeinschaft“ (EPG) zum Ziele und sah in Art. 117 auch die Wahrung der Menschenrechte vor7. Das klare Benennen dieser Perspektive reichte nicht aus, um nationale Bedenken wegen eines Souveranitätsverlustes zu überwinden. Die Römischen Verträge, insbesondere der Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, vom 25. März 1957, in Kraft getreten am 1. Januar 1958, bestätigten und erweiterten den Ansatz der EGKS. Die Präambel des EWG-Vertrages nennt als Ziel der wirtschaftlichen Integration die umfassende politische Einigung der Mitgliedsstaaten und weist somit über die Dimension der wirtschaftlichen Einigung hinaus. In den folgenden Jahren funktionierte das den damaligen Europäischen Gemeinschaften zu Grunde gelegte Konzept der fortschreitenden Vereinigung auf Grund wirtschaftlicher Sogwirkung gut. Dies zeigt sich schon daran, dass immer wieder das Bedürfnis formuliert wurde, den Schritt zur politischen Gemeinschaft zu vollziehen. Dennoch machen die Rückschläge deutlich, dass die wirtschaftliche Integration noch nicht weit genug fortgeschritten war, um das dafür erforderliche Integrationsmoment zu erzeugen. Die auch auf die kulturelle „Einigung der Völker [Europas]“ abzielenden Fouchet-Pläne von 1961/62 scheiterten mit dem ergebnislosen Treffen der Arbeitsgruppe am 17. April 1962, ohne dass es gelungen war, einen konsensfähigen Plan einer politischen Gemeinschaft zu entwerfen8. Der Terminus „Europäische Union“ als über den wirtschaftlichen Ansatz hinausgehender Begriff erscheint als politische Absichtserklärung seit 1972, als er Eingang in die Schlusserklärung der Gipfelkonferenz von Paris fand9. In der Folge dieser Schlusserklärung wurden der Plan, eine Europäische Union zu entwickeln, vom EG-Gipfel in Kopenhagen 1973 bestätigt, doch auch jetzt reichte der Integrationswille noch nicht. Der Bericht des belgischen Außenministers Tindemans vom 29. Dezember 197510 konzentrierte sich wieder auf kleinschrittige Maßnahmen aus dem Wirtschafts- und Währungsbereich. Damit wurde die ursprüngliche Integrationskonzeption der EGKS und der EWG fortgeführt. Gleiches gilt für die Schlusserklärung des Europäischen Rates vom 30. November 197611. Zwar wurde ein gemeinsames, zusammenhängendes politisches Leitbild erwähnt, Vorrang bei der Errich7
Bieber, in: B/B/P/S, 3. Aufl., S. 551. Vgl. zu den Fouchet-Plänen: Bieber, in: B/B/P/S, 3. Aufl., S. 552. 9 6. GB 1972, Ziff. 5; Bieber, in: B/B/P/S, 3. Aufl., S. 550. 10 Bull. EG, Beilage 1/1976. 11 10. GB 1976, Anl. II. 8
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
tung der Europäischen Gemeinschaft haben aber wirtschaftliche Maßnahmen: Bekämpfung der Inflation und der Arbeitslosigkeit sowie die Vereinheitlichung der Energie- und Forschungspolitik. Dennoch zeigt sich auch während dieser von ökonomischer Stagnation geprägten Zeit, dass das Bewusstsein der damaligen Europäischen Gemeinschaft für gemeinsame Werte und für eine gemeinsame Verantwortung für grundlegende Werte wuchs. Ein Beleg dafür ist die Gemeinsame Erklärung der Organe der Europäischen Gemeinschaft zu den Grund- und Menschenrechten vom 5. April 197712. Neue Impulse für die über wirtschaftliche Aspekte hinausgehende Einigung kamen ab 1979 vom erstmals direkt gewählten Europäischen Parlament. Das Europäische Parlament ist seinerseits ein Zeugnis für die auch qualitativ fortschreitende Integration, da es eine allgemein-politische Vertretung der EU-Bürger ist und keine Institution, die für das Funktionieren eines Marktes erforderlich ist. Es wurde geschaffen, um sich auch mit nichtwirtschaftlichen Fragen zu befassen. Am 9. Juli 1981 startete es die Initiative für neue Impulse zur Schaffung einer Europäischen Union, die zur Verabschiedung des „Entwurfs eines Vertrages zur Gründung der Europäischen Union“ vom 14. Februar 1984 führte13. Fast zeitgleich mit dieser Initiative führte der „Entwurf einer Europäischen Akte“, der sogenannte GenscherColombo-Plan vom 6. November 198114, zur Feierlichen Erklärung des Europäischen Rates vom 20. Juni 198315, der auch die kulturelle Zusammenarbeit forderte und damit einen wichtigen Schritt zur Ausdehnung der Gemeinschaft in nicht-wirtschaftliche Bereiche vornahm. Die Einheitliche Europäische Akte (EEA)16, am 28. Februar 1986 unterzeichnet, weist wiederum vorrangig eine ökonomische Zielsetzung auf, stellt aber einen wichtigen Schritt in Richtung politische Einigung dar17. Sie schlägt die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) vor. Präambel und Art. 1 EEA erklären als Ziel die Errichtung einer Europäischen Union. Zwar wurde noch 1987 in der deutschen Diskussion die Möglichkeit bezweifelt, eine Definition des Wesens einer Europäischen Union zu finden18. Als Inhalt einer umfassenden Union wurde aber erkannt, dass die Besonderheit der europäischen Einigung darin besteht, staatliche Strukturen so zu bündeln, dass die Bildung eines gemeinsamen Willens möglich ist. 12 13 14 15 16 17 18
ABl. 1977 C 103, S. 1. Bull. EG 2/1984, S. 9 ff. Bull. EP Nr. 50/1981, S. 31. Bull. EG 6/1983, S. 26 ff. Bull. EG, Beilage 2/1986. von Simson/Schwarze, Handbuch Verfassungsrecht, Rn. 91. Bieber, in: B/B/P/S, 3. Aufl., S. 550.
I. Die heutige Europäische Union
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Die Union wurde daher als ein Beziehungsprozess beschrieben, der aus der aufeinander bezogenen Entfaltung von Teil- und Gesamtkräften der Mitgliedsstaaten entsteht. Ein solcher Prozess geht über wirtschaftliche Einflüsse jedenfalls hinaus und ist nicht werteneutral. Er besitzt qualitative Merkmale, die sich aus den übereinstimmenden Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten herleiten; dazu gehören insbesondere die Grundrechte19. Insofern reflektiert die EEA und die darum geführte wissenschaftliche Diskussion, dass die europäische Einigung ab der Mitte der 1980er Jahre weitere Ansätze einer Wertegemeinschaft aufzuweisen beginnt. Diese Entwicklung erreicht einen vorläufigen Höhepunkt mit der Unterzeichnung des Maastrichter Vertrages vom 7. Februar 1992 zur Gründung einer Europäischen Union20, der am 1. November 1993 in Kraft trat. Dieser wurde durch den Vertrag von Amsterdam vom 2. Oktober 199721, in Kraft getreten am 1. Mai 1999, und durch den Vertrag von Nizza vom 26. Februar 200122, in Kraft getreten am 1. Februar 2003, erweitert. Die erheblichen Fortschritte seit der EEA und der Wirtschaftsgemeinschaft von Mitte der 1980er Jahre bis zur Union des Jahres 2003 lassen sich in den vertraglichen Grundlagen ablesen. Der Unionsvertrag in der Fassung von Nizza enthält in Präambel und Text Bestimmungen, die die Verwirklichung einer Wertegemeinschaft bezeugen. So spricht die Präambel vom „Bekenntnis der Vertragsstaaten zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit“, sowie davon, „dass Fortschritte bei der wirtschaftlichen Integration mit parallelen Fortschritten auf anderen Gebieten einhergehen.“ Art. 1 II betont, dass der Vertrag „eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas“ darstellt. Art. 2 I Spiegelstrich 4 setzt zum Ziel „die Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“; Art. 6 I, II schließlich stellt fest, dass die Union auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit beruht, die allen Mitgliedsstaaten gemeinsam sind, und die Grundrechte achtet, die sich aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben. Dies sind Anzeichen, dass die im Jahre 1951 gewählte Konzeption der als Integrationsantrieb agierenden wirtschaftlichen Verflechtung, die die Vereinigung in einem umfassenden Sinn vorantreiben soll, eine weitgehend integrierte Wertegemeinschaft hervorgebracht hat. 19 20 21 22
Bieber, in: B/B/P/S, 3. Aufl., S. 550 f. BGBl. 1992 II S. 1253. BGBl. 1998 II S. 387, 454. BGBl. 2001 II S. 1666.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Neben der Fortentwicklung des Vertragswerks zeichnet auch die Rechtssprechung des EuGH, insbesondere im Grundrechtebereich, die beschriebene Entwicklung nach. Sie ist gleichzeitig Indikator und weiterer Antrieb dieser Entwicklung. Indikator ist sie, weil der EuGH vorher gegebenes EURecht auslegt (Art. 220 EGV; Art. I-29 VVE); Antrieb, weil der EuGH die Grundrechtssprechung eigenständig vorangetrieben und angemahnt hat. Von eminenter Bedeutung auf dem Weg der EG zur Wertegemeinschaft war insbesondere die Erkenntnis des EuGH im Jahre 1969, dass die Grundrechte, wie sie sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergeben, Teil der autonomen Rechtsordnung der EG sind23. Die Entwicklung eines europarechtlichen Grundrechtsbestandes erfolgte daraufhin jahrzehntelang hauptsächlich durch den EuGH, der auf die Rechtserkenntnisquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten zurückgriff. Die so entwickelten Grundrechte wurden vom Grundrechtekonvent in einer Europäischen Charta der Grundrechte (EGRC) zusammengefasst und systematisiert. Rechtsverbindlichkeit wird die EGRC allerdings erst als Teil II des VVE erlangen, wenn dieser in Kraft tritt. Mit dem Vertrag über eine Europäische Verfassung (VVE), der vom „Konvent zur Zukunft Europas“ am 13. Juni 2003 verabschiedet und von der Regierungskonferenz in Brüssel am 18. Juni 2004 angenommen worden ist, definiert sich die Europäische Union als eine auf Werte gegründete Gemeinschaft. Diese Werte zählt der VVE in Art. I-2, I-3 auf. In Teil II erhält die Union erstmals einen verbindlichen Katalog an Grundrechten. Damit stellt der VVE einen vorläufigen und bei In-Kraft-Treten (vor allem der EGRC) erfolgreichen Abschluss der Entwicklung der Union zu einer Wertegemeinschaft dar. Auch wenn der VVE (vorerst) nicht in Kraft treten sollte, ist das Vorhaben ein Zeugnis für den hohen Integrationsstand, den die Union erreicht hat.
II. Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) Der zweite wichtige Entwicklungsstrang im europäischen Einigungswerk ist der in Straßburg ansässige Europarat. Der Europarat hat einen wesentlich andersartigen Ansatz als die EU gewählt, um die Einheit Europas voranzutreiben. Er ist als zwischenstaatliche Organisation entstanden und eine solche auch bis heute geblieben. Seine Ziele bestehen hauptsächlich im Schutze 23 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7 (Stauder ./. Ulm); EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide).
II. Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention
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der Menschenrechte, des Rechtsstaats und der Demokratie, in der Förderung eines Bewusstseins gemeinsamer kultureller Identität Europas und in der Suche nach Lösungen für gesellschaftliche Probleme in Europa24. Ein Ansatz wirtschaftlicher Vereinigung der Volkswirtschaften Europas ist ihm fremd. Das der EU eigentümlich gewordene Integrationsmoment, das sie aus der wirtschaftlichen Dynamik bezieht, konnte der Europarat aus seinem politikund werteorientierten Ansatz nie in ähnlichem Ausmaße entfalten. Im Gegensatz zur EU fehlt ihm quasi ein autonomer Antriebsmotor zur Verwirklichung seiner Ziele. Dennoch ist die Geschichte des Europarates mit Blick auf die Vereinigung Europas ein Erfolg zu nennen, nicht zuletzt, da er die Einigungsziele der EU in wichtigen und grundsätzlichen Feldern komplementiert. In dem für die vorliegende Untersuchung wichtigen Bereich der Entwicklung eines gemeinsamen Grundrechtsschutzes in Europa hat der Europarat auch und gerade aus der Sicht der EU bedeutende Leistungen erbracht. Vor allem fungiert er als Impulsgeber und Vordenker für die Entwicklung der EU zu einer Wertegemeinschaft. Der Europarat, der im Jahre 2005 sechsundvierzig Mitgliedstaaten (Vertragsstaaten) zählt, wurde am 5. Mai 1949 von zehn Ländern gegründet25. Er ist ein Produkt verschiedener Bewegungen im unmittelbaren Nachkriegseuropa, die sich zur Aufgabe gesetzt hatten, die kurz darauf im Statut des Europarates benannten Ziele durch die Einigung der Staaten Europas zu sichern und zu verwirklichen. Erster Schritt dieser Bewegungen war die Organisation des Kongresses von Den Haag vom 7. bis 11. Mai 1948, bei dem in mehreren Beschlüssen die Forderungen aufgestellt wurden, eine wirtschaftliche und politische Union zur Gewährleistung der Sicherheit, der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, des sozialen Fortschritts und der Wahrung der Menschenrechte zu schaffen26. Dem Europarat wurden jedoch nicht die notwendigen Kompetenzen und Mittel zur Verfügung gestellt, dieses umfassende Ziel effektiv anzustreben. Insbesondere sind ihm keine staatlichen Hoheitsrechte übertragen worden. Der Europarat beruht auf einem Kompromiss zwischen Vertragsstaaten, deren grundsätzlicher Integrationswille in unterschiedlichem Maße ausgeprägt war. Somit wurde es im Gründungsvertrag des Europarates unterlassen, der Organisation die Instrumente zu übertragen, derer sie für eine dynamische, sich selbst antreibende Integration bedurft hätte. Stattdessen blieb die Einigung vom externen Willen der Regierungen der Vertragsstaaten abhängig, den sie hauptsächlich in verschiedenen 24
Vgl. Art. 1 Satzung des Europarates, BGBl. 1950 I S. 263. Unterzeichner des Vertrages zur Gründung des Europarates vom 5.5.1949 waren: Belgien, Dänemark, Frankreich, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Schweden und das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland. Die Bundesrepublik Deutschland trat am 13.7.1950 bei. 26 Partsch, ZaöRV, 15 (1953/4), S. 631 ff. 25
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Konventionen völkerrechtlichen Charakters, also durch jeweils autonome, auf einen Vertragsschluss gerichtete Willenserklärungen, betätigt haben. Den stärker integrationswilligen Staaten unter den zehn Gründungsmitgliedern des Europarates und der 1950 beigetretenen Bundesrepublik Deutschland reichte dieser Ansatz nicht aus. Sie griffen daher den Vorschlag des französischen Außenministers Robert Schuman auf, eine europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu errichten27. Während das umfassende Ziel des Haager Kongresses somit nicht im Rahmen des Europarates verwirklicht worden ist, lässt sich die heutige EU durchaus auf die in Den Haag gelegte Keimzelle und damit auf einen gemeinsamen Ursprung mit dem Europarat zurückführen. Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)28 ist die bedeutsamste Konvention, die die Arbeit des Europarates hervorgebracht hat. Sie war bereits vom Haager Kongress initiiert worden29. Der Kongress bildete einen Rechtsausschuss, der den ersten Entwurf einer Menschenrechtskonvention verfasste30. Diese sollte die Grundlage für die vom Kongress ins Auge gefasste politische Einheit der demokratischen Staaten Europas darstellen. Das Projekt wurde vom Europarat aufgegriffen und fortgeführt. Am 4. November 1950 wurde der Vertrag in Rom unterzeichnet und trat am 3. September 1953 nach der erforderlichen Ratifizierung durch zehn Vertragsstaaten in Kraft. Ende 2005 haben alle sechsundvierzig Staaten des Europarates die Konvention unterzeichnet und ratifiziert. Die Bereitschaft zur Unterzeichnung der EMRK ist damit zu einer ungeschriebenen Voraussetzung des Beitritts zum Europarat geworden31. Die EMRK ist, was ihre Rechtsnatur betrifft, nach ganz herrschender Meinung ein völkerrechtlicher Vertrag32. Gelegentlich wird sie wegen ihrer Besonderheiten als eine Rechtsform sui generis33 bezeichnet. Aus dem rein völkerrechtlichen Kontext hat sie sich emanzipiert, indem sie durch eine 27
Pechstein/Koenig, Rn. 27. BGBl. 1952 II S. 686, 953 (Deutscher Text; die amtliche Bezeichnung lautet „Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ vom 4.11. 1950); Neufassung der amtlichen deutschen Übersetzung: BGBl. 2002 II S. 1059. Im Internet finden sich Text und Protokolle auf der Seite des Europarates: www.coe.int. 29 Politische Resolution des Haager Kongresses, Ziff. 5; abgedruckt bei: Siegler, S. 17. 30 Abgedruckt bei: Weiss, Anhang I, S. 37. Allgemein zur Entstehungsgeschichte der EMRK: Partsch, ZaöRV 15 (1953/54), S. 631 ff. 31 Blum, S. 20. 32 Frowein, in: Frowein/Peukert, Einführung, Rn. 4; Guradze, Einführung, S. 11; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 906; Grabenwarter, EMRK, § 2, Rn. 1. 33 Drzemczewski, S. 22, 33 (m. w. N.). 28
II. Europarat und Europäische Menschenrechtskonvention
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enge Verklammerung mit manchem nationalen Recht und sogar einer Auslagerung nationalen Verfassungsrechts für einige Konventionsstaaten zu einer Art Komplementärverfassung geworden ist34. Dahinter steht, dass die EMRK im Vergleich zu herkömmlichen völkerrechtlichen Verträgen über eine charakteristische Besonderheit verfügt, der sie zum Teil ihre Bedeutung für die Bürger Europas verdankt: neben den Rechten und Pflichten, die sie zwischen den Vertragsstaaten konstituiert, verschafft die Konvention in ihren materiellen Bestimmungen einzelnen Personen individuelle Rechte gegenüber den Vertragsstaaten35. Den Bürgern der Vertragsstaaten werden also durch die Ratifizierung der EMRK subjektive völkerrechtliche Rechte eingeräumt36. Hinzu kommt der objektive Charakter der EMRK: sie reflektiert eine gemeinsame Grundüberzeugung der Vertragsstaaten, die sowohl in der Literatur wie auch in der Rechtssprechung des EGMR als ordre public europäischen Ranges betrachtet wird37. Eine weitere – mittelbare – Ausdehnung ihres Einflusses in einer besonderen Form hat die EMRK durch den Vertrag zur Gründung der Europäischen Union von Maastricht im Jahre 1993 erfahren: zwar ist die EU der EMRK bisher nicht als Vertragspartner beigetreten, da sie davon ausgeht, dass ihr die Verträge nicht die dazu erforderliche völkerrechtliche Kompetenz vermitteln38. Sie verpflichtet sich aber intern, die Grundrechte zu achten, wie sie in der EMRK gewährleistet sind (Art. 6 II EUV). Dogmatisch betrachtet besteht somit zwischen EU und EMRK keine verbindliche rechtliche Beziehung. In ihrer internen Rechtssphäre hat sich die EU aber freiwillig an den Grundrechtsstandard der EMRK gebunden. Somit hat die EMRK auch für die EU die Rolle einer „Komplementärverfassung“ im Grundrechtebereich angenommen. Die EMRK kennt ein eigenes Rechtsschutzsystem mit zwei Verfahrensarten: die Staatenbeschwerde und die Individualbeschwerde. Die Staatenbeschwerde (Art. 33 EMRK) greift den objektiv-rechtlichen Charakter der in der Konvention garantierten materiellen Rechte auf. Staaten können sich einer Konventionsverletzung durch andere Vertragsstaaten annehmen und sie vor den EGMR bringen, ohne ein eigenes Rechtsschutzinteresse geltend machen zu müssen. In der Praxis ist die Staatenbeschwerde ohne große Bedeutung geblieben39. Weitaus bedeutender ist die Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK), die Personen, Personenmehrheiten und Nicht-Regierungsorganisationen offen steht. Dieser Kreis muss eine Beschwerdebefugnis dar34
Grabenwarter, EMRK, § 2, Rn. 3. Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 907. 36 Walter, S. 23 ff.; Rogge, in: Int. Kommentar, Art. 25 Rn. 83; Golsong, S. 128. 37 Frowein, in: FS Zeidler, S. 1763, 1769; EGMR, Urteil vom 18.1.1978, Serie A-25, S. 90 (Irland ./. Vereinigtes Königreich) (= EuGRZ 1979, 149, 159). 38 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 35. 39 Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 908. 35
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
legen. Die Individualbeschwerde reflektiert, dass die in der Konvention enthaltenen Rechte einen subjektiven Gehalt aufweisen, der nicht nur materiell gewährleistet wird, sondern auch durch entsprechende verfahrensrechtliche Instrumente geltend gemacht werden kann und dadurch seinen praktischen Wert erhält. Das organisatorische Regime der EMRK ist durch Protokoll Nr. 1140 der Vertragsstaaten neu strukturiert worden. Die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte und der nicht-ständige Europäische Gerichtshof für Menschenrechte41 wurden ersetzt durch den neuen, ständigen Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte42. Dieser hat am 1. November 1998 seine Arbeit aufgenommen und verfügt über so viele Richter wie die Konvention Signatarstaaten hat (Art. 20 EMRK; zurzeit sechsundvierzig). Die neue Organisation war aus Kapazitätsgründen notwendig geworden. Während die frühere Europäische Kommission für Menschenrechte im Jahre 1981 404 Fälle darauf zu überprüfen hatte, ob sie dem Gerichtshof zuzuweisen sind, stieg diese Zahl auf 2037 Fälle im Jahre 1993 und auf 4750 Fälle im Jahre 1997. Der frühere nicht-ständige Gerichtshof hatte 1981 52 Fälle zu entscheiden, im Jahre 1997 bereits 119. Dieser Anstieg resultiert nicht nur aus der Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten. Er reflektiert das steigende Bewusstsein eines gemeinsamen Bestandes an Menschen- und Grundrechten in Europa, das selbstverständlich auch durch die EMRK gefördert wird. Gleichzeitig dürfte der Anstieg ein Zeichen für einen gewachsenen Bedarf an Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene sein; nicht weil Konventionsverletzungen zunehmen (dafür gibt es keine Anhaltspunkte), sondern weil die fortschreitende Einigung Europas ein Bedürfnis weckt, eine gemeinsame, verlässliche Grundlage an Grundrechten zu schaffen und in Anspruch zu nehmen. Da die steigende Nachfrage nach Schutz durch die EMRK bzw. vor dem EGMR auch aus den Mitgliedsstaaten der EU kommt, lässt sich darauf schließen, dass das wachsende Bedürfnis für einen ausgeprägteren Grundrechtsschutz auch in dem durch wirtschaftliche Integration immer stärker verflochtenen EU-Gebiet existiert. Es scheint sich seinen Weg über die EMRK zum EGMR in dem Maße zu bahnen, wie der Grundrechtsschutz durch die Organe der EU als nicht ausreichend empfunden wird; dies betrifft typischerweise die Grundrechte, die außerhalb der im EG-Vertrag statuierten Grundfreiheiten liegen und sich – wie die Religionsfreiheit – noch im europarechtlichen Entwicklungsstadium befinden. Auf diese Weise wächst die Rolle der EMRK auch in den durch die wirtschaft40
BGBl. 1995 II S. 579. Zum früheren Verfahren vgl. Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905 f. 42 Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 1999, S. 1165; Meyer-Ladewig, NJW 1998, S. 512; ders., NJW 1995, S. 2813; Schlette, ZaöRV 56 (1996), S. 905; Rowe/ Schlette, ELRev 23 (1998), S. HR/3 ff. 41
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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liche Integration zunehmend geeinten Staaten der EU; der EMRK und dem EGMR kommt, bezogen auf die Mitglieder der EU, wegen ihrer Ersatzfunktion als grundrechtsgewährleistende Instanz, eine Vordenkerrolle für die künftige Grundrechtsgestaltung in der EU zu.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen in der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Wertegemeinschaft Die Integration Europas im Rahmen der Europäischen Union geht heute, wie oben dargelegt, wesensmäßig über den bloßen Austausch von Gütern und Dienstleistungen am Markt hinaus. Sie erfasst annähernd alle Bereiche des rechtlich geregelten menschlichen Lebens in der Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, dass bei dieser Qualität der Integration auch religionsrechtliche Aspekte aufgeworfen werden43. Doch bereits zu der Zeit, als die Integration noch nicht über wirtschaftliche Aspekte hinaus entwickelt war, setzte sich allmählich in Deutschland und den anderen EG-Mitgliedsstaaten die Erkenntnis durch, dass die Regelungen des nationalen Staatskirchenrechts durchaus nicht so europafern sind, dass sie von der wirtschaftlich geprägten Integrationsdynamik der EG unbehelligt bleiben würden44. Man wurde sich bewusst, dass auf europarechtlicher Ebene ein Bestand an religionsrechtlich relevanter Rechtsmaterie im Entstehen begriffen war. Dieser wirkt sich nach dem Prinzip des Anwendungsvorrangs des EU-Rechts auf das deutsche (und jedes mitgliedsstaatliche) nationale Staatskirchenrecht aus. An die Erkenntnis der Europabetroffenheit schlossen sich Überlegungen an, dass die nationalen staatskirchenrechtlichen Regelungen, wenn schon betroffen, möglicherweise auch nicht gegen Veränderungen europafest oder europaresistent sind45, jedenfalls nicht in dem Maße, wie ursprünglich angenommen worden war. Zur Einschätzung seiner Bedeutung ist es erforderlich, den bisher entstandenen Bestand an religionsrechtlich relevanter Rechtsmaterie auf EU-Ebene zu untersuchen.
43 Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 242; Vachek, S. 20 ff. 44 Hollerbach, ZevKR 35 (1990), S. 250, 268; Robbers, in: HdbStKirchR, Bd. 1, 2. Aufl., S. 315; Link, ZevKR 42 (1997), S. 130, 135; epd-dokumentation Nr. 33/1995. 45 Link, ZevKR 42 (1997), S. 130, 135.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
1. Der Bestand an Rechtsmaterie von religionsrechtlicher Relevanz auf EU-Ebene: die Entwicklung in quantitativer und qualitativer Hinsicht Um einen Überblick über die Materie zu gewinnen, soll die Entwicklung des religionsrechtlich relevanten Bestandes an EU-Recht quantitativ und qualitativ analysiert werden. Dabei ist es wegen des inzwischen enormen Umfanges des EU-Rechts nicht möglich, dessen Gesamtheit auf religionsrechtliche Relevanz zu untersuchen. Möglich ist aber eine mechanische Erfassung religionsrechtlich relevanter Rechtsakte durch Abfrage der Datenbanken, in denen das EU-Recht gespeichert ist. Die Analyse der so ermittelten Rechtsakte zielt dann nicht auf vollständige Erfassung der Materie, sondern versucht, Aussagen über die Entwicklung des Bestandes abzuleiten, indem die Abfrageergebnisse jeweils in den Kontext einer bestimmten Integrationsepoche gestellt werden. Die im Folgenden berücksichtigten Rechtsakte sind ermittelt worden durch eine Abfrage der offiziellen Datenbank der EU über die gesamte Tätigkeit der Organe der EG/EU, „CELEX“46. a) Untersuchung der quantitativen Entwicklung Das folgende Protokoll der Datenbankabfrage verdeutlicht, wie die Anzahl religionsrechtlich relevanter EU-Rechtsakte mit wachsender Tiefe und Intensität der Integration zugenommen hat. Die Abfrage des in CELEX enthaltenen Datensatzes erfolgte mit dem Suchbegriff „religi+“ in der deutschsprachigen Version der Datenbank. Damit wird jeder Rechtsakt erfasst, der diese Buchstabenfolge enthält; durch den Platzhalter „+“ werden die ohne Leerstelle folgenden Buchstabenfolgen ebenfalls berücksichtigt, so dass Worte wie „Religion“ und „religiös“ etc. gleichermaßen ermittelt werden. 46 Datenbankabfrage vom 7.3.2003, aktualisiert am 4.10.2004. Diese Vorgehensweise kann keinen Anspruch auf eine erschöpfende Erfassung der religionsrechtlichen Materie erheben. Zunächst kann nicht verifiziert werden, ob die Datenbank tatsächlich über eine lückenlose Datenbasis verfügt. Zweitens kann nicht sicher gestellt werden, dass die gewählten Suchbegriffe alle relevanten Rechtsakte erfassen. Drittens kann ein technologisches Suchverfahren nicht die analytisch-wertende Auswertung eines menschlichen Lesers leisten, die Zusammenhänge und Bedeutungen entdeckt, die einer mechanischen (und damit begrifflich beschränkten) Suche verborgen bleiben müssen. Unter Berücksichtigung dieser Einschränkungen kann aber davon ausgegangen werden, dass die Abfrage ein hinreichend zuverlässiges Bild von der relevanten Materie ermittelt. Die CELEX-Datenbank enthält zum Abfragezeitpunkt einen Gesamtbestand von mehr als 220.000 Einträgen. Eine menschliche Auswertung ist damit ausgeschlossen.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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(1) Abfrageschritt 1: Suchbegriff „religi+“, Einschränkungen: keine. Ergebnis: Diese Abfrage ergibt eine Trefferzahl von 1261 Einträgen, die dem Suchbegriff entsprechen. (2) Abfrageschritt 2: Suchbegriff „religi+“, Einschränkungen: auf Zeiträume. 1951–1957: 0 Treffer 1958–1967: 0 Treffer 1968–1977: 14 Treffer 1978–1987: 52 Treffer 1988–1992: 55 Treffer 1993–1997: 279 Treffer 1998–2002: 674 Treffer 2003–2004: 150 Treffer (im Zwei-Jahres-Zeitraum).
Die Entwicklung verdeutlicht, dass im gesamten erfassten Bestand die Einträge mit dem Suchbegriff „religi+“ überproportional angestiegen sind. Der Gesamtbestand erfasst auch Erklärungen, Anfragen und andere Äußerungen des Europaparlamentes. Die Einrichtung dieser gewählten Volksvertretung im Jahre 1979 könnte eine Ursache für die Zunahme im Zeitraum ab 1978 sein und zeigen, dass das Thema Religion durch die Europaparlamentarier verstärkt nach Brüssel getragen worden ist und Eingang in die Diskussion auf EU-Ebene fand. Dies weist auf die Rolle hin, die das Europaparlament bei der Erweiterung der Union von einer technokratischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wertegemeinschaft der europäischen Völker gespielt hat. Bemerkenswert ist ebenso der starke Anstieg der Trefferzahl für den Zeitraum von 1993 bis 1997, der mehr als eine Verfünffachung der Trefferzahl im Vergleich zum vorherigen Zeitraum aufweist. Dieses Ergebnis nach In-Kraft-Treten des Vertrags von Maastricht deutet an, dass die in Maastricht angestrebte Erweiterung zur Wertegemeinschaft für den Bereich religiöser Themen tatsächlich stattgefunden hat und eine starke Ausdehnung der Äußerungen mit religiösem Bezug nach Maastricht mit sich brachte. (3) Abfrageschritt 3: Suchbegriff „religi+“, Einschränkung auf „Gesamtes Sekundärrecht“: Ergebnis: 178 Treffer
Schränkt man die Suchkriterien ein durch die Beschränkung auf den Datensatz „Gesamtes Sekundärrecht“, so ergibt sich eine Trefferzahl von 178 Rechtsakten. Herausgefiltert ist damit u. a. die große Anzahl europaparlamentarischer Äußerungen ohne unmittelbare Rechtswirkung.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
(4) Abfrageschritt 4: Suchbegriff „religi+“, Einschränkung auf „Gesamtes Sekundärrecht“ und Zeiträume: 1950–1957: 0 Treffer 1958–1967: 0 Treffer 1968–1977: 11 Treffer 1978–1987: 22 Treffer 1988–1992: 20 Treffer 1993–1997: 33 Treffer 1998–2002: 64 Treffer 2003–2004: 24 Treffer (Zwei-Jahres-Zeitraum).
Auch im Bereich des Sekundärrechts zeigt sich somit eine deutliche Zunahme in der Zeit nach dem Vertrage von Maastricht. (5) Abfrageschritt 5: Suchbegriff „religi+“, Einschränkung auf „Verordnungen“: Ergebnis: 65 Treffer. (6) Abfrageschritt 6: Suchbegriff „religi+“, Einschränkung auf „Richtlinie“: Ergebnis: 30 Treffer.
Die beiden letzten Abfragen (5) und (6) zeigen, dass im Sekundärrecht die Buchstabenfolge „religi+“ deutlich öfter in Verordnungen auftaucht als in Richtlinien. Dies dürfte darauf zurückzuführen sein, dass der Agrar- und Lebensmittelsektor überwiegend durch Verordnungen geregelt wird und dort Sonderregeln mit Bezug zur Religion häufig sind. Beispiele sind die Verordnungen EWG/1608/1976 über Weine und Traubenmoste (mit Hinweis auf Weine für religiöse Zeremonien), die Verordnung EWG/3993/ 1987 über die Gemeinsame Marktorganisation für Zucker, die eine Sonderregel für „duftende Zubereitungen für religiöse Zeremonien“ enthält, und die Verordnung EG/1829/2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, die für die Zulassung eines genetisch veränderten Lebensmittels eine begründete Erklärung verlangt, dass das Lebensmittel keinen Anlass für ethische oder religiöse Bedenken gibt. Der Fehlbetrag zwischen der addierten Summe von Richtlinien und Verordnungen und der Gesamtzahl für das „Gesamte Sekundärrecht“ ergibt sich aus Mitteilungen, Entscheidungen und anderen Akten der EU-Kommission, beispielsweise die „Durchführungsbestimmungen für die von Europol geführten Arbeitsdateien zu Analysezwecken“47, die einen Hinweis auf Religionszugehörigkeit enthalten.
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ABl. 1999 C 26, S. 1 ff.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Festzuhalten bleibt also die große Zahl von Erwähnungen der Religion in den Äußerungen der EU und der erhebliche Anstieg im Laufe ihrer Entwicklung. b) Untersuchung der qualitativen Entwicklung Die qualitative Analyse verfolgt drei Ziele. Erstens soll sie ermitteln, ob die EU-Rechtsmaterie sich mit wachsender Integrationstiefe der EU auch spezifischer auf religionsrechtliche Belange bezieht und der Bestand an religionsrechtlich relevanter Materie auch in dieser qualitativen Hinsicht an Bedeutung gewinnt. Untersucht man die religionsrechtlich relevante Rechtsmaterie, die die EU seit ihren Anfängen als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erlassen hat, so lässt sich neben der quantitativen Zunahme auch eine qualitative Entwicklung erkennen, die eine zunehmende Spezifizität der religionsrechtlich relevanten Regelungen anzeigt. Im Ergebnis zeigt sich, dass es zunehmend mehr EU-Rechtsmaterie gibt, die spezifischen Bezug auf religionsrechtliche Aspekte nimmt. Zweitens vermittelt die Untersuchung einen Eindruck, in welchen sachlichen Bereichen sich religionsrechtlich relevante Vorschriften finden. Auch hier ist das Ziel nicht die abschließende Erfassung, sondern das zuverlässige Nachweisen der Tendenz. Drittens wird versucht, einen großen Teil der erfassten Rechtsmaterie in einen grundrechtlichen Zusammenhang zu stellen48. Dazu soll versucht werden, in den Rechtsakten die grundrechtlichen Gewährleistungsdimensionen Freiheit, Gleichheit und Teilhabe aufzuzeigen und eine Kategorisierung nach diesen Dimensionen vorzunehmen49. Dies ist legitim, da die EG einen gemeinsamen Bestand an Grundrechten seit den EuGH-Entscheidungen „Stauder“50 und „Internationale Handelsgesellschaft“51 kennt, und das Grundrecht der Religionsfreiheit seit der Entscheidung Prais52 als in diesem Bestand enthalten gilt53. Dieses Grundrecht strahlt trotz seiner diffusen Konturen auf das einfache Recht der EU/EG aus und schlägt sich in verschiedenen Regelungen nieder. Die Existenz vieler der nachfolgend aufgeführten (Sonder-)Regelungen ist ein Beleg dafür. Zum Zwecke der späteren genaue48
Zum Grundrecht der Religionsfreiheit im EU-Recht s. u. Kap. C. Ansatzweise dazu Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 185; Mückl, Religionsfreiheit, S. 7 ff. 50 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7 (Stauder ./. Ulm). 51 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide). 52 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat). 53 Vgl. dazu unten, Kap. C.II.1. 49
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
ren Untersuchung des Grundrechts wird bereits hier der Blick auf die schwerpunktmäßige grundrechtliche Dimension eines Rechtsaktes gelegt. Für die qualitative Untersuchung wird hier unterschieden zwischen verbindlichen Rechtsakten (Gruppe A) und rechtlich unverbindlichem „soft law“ (Gruppe B). Letzteres enthält Charten und Absichtserklärungen, die nicht über rechtliche Verbindlichkeit verfügen, ihre europarechtliche Relevanz aber daraus beziehen, dass sie als politische Willensäußerungen zur Auslegung des EU-Rechts herangezogen werden54. Aus Gründen des Umfangs konnte nicht die gesamte oben ermittelte Rechtsmaterie untersucht werden, sondern eine nach Relevanzkriterien erfolgte Auswahl. Gruppe A (verbindliche Rechtsakte) Um in der Gruppe A (verbindliche Rechtsakte) eine möglichst breit angelegte Basis von Rechtsmaterie zu erfassen, soll dort nicht differenziert werden zwischen dem EU-Primärrecht und dem Sekundärrecht, und im Sekundärrecht wiederum nicht zwischen den verschiedenen Rechtsformen der Gesetzgebung (Verordnung, Richtlinie). Dadurch eventuell auftauchende Ungenauigkeiten, vor allem terminologischer Art, sind hier unschädlich und werden bewusst in Kauf genommen, da der Schwerpunkt der Untersuchung nicht die detaillierte Aufschlüsselung der Gesetzgebungsaktivität nach einzelnen Rechtsinstrumenten der EU ist. Dem hier verfolgten Ziel, die Entwicklung der religionsrechtlichen Relevanz der EU-Rechtsakte aufzuzeigen, ist die gewählte Kriterienschärfe angemessen. Für die hier vorzunehmende Untersuchung in der Gruppe A (verbindliche Rechtsakte) werden zwei Kategorien gebildet, in die die religionsrechtlich relevanten Rechtsakte eingeordnet werden55. Die erste Kategorie lautet „final – spezifisch“ und enthält diejenigen Rechtsakte, die an religiös-weltanschaulichen Aspekten eines Sachverhaltes anknüpfen. Sachlicher Bezugspunkt einer „final – spezifischen“ Norm ist dementsprechend ein Glaubensinhalt (das forum internum) und dessen Lebensäußerung (forum externum) gerade als solcher. Mit Blick auf das Rechtssubjekt zielen diese Rechtsakte auf Personen oder Personenmehrheiten in ihrer Eigenschaft als individuelle Gläubige oder Religionsgemeinschaften: eine natürliche Person ist Regelungssubjekt einer Norm, gerade 54
Riedel, in: Meyer, EGRC-Komm., Vorbem. Kapitel IV, Rn. 19.; ausführlich zum soft law und seiner Bedeutung im EU-Recht Wellens/Borchardt, G. M., Soft Law in European Community Law, ELJ 14 (1989), S. 267 ff., 285 ff. 55 Die Möglichkeit einer Kategorisierung klingt bei Lecheler, in: FS Leisler, S. 45, an, wenn er von direkter und indirekter Betroffenheit spricht; sie wird aber dort nicht weitergeführt.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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weil sie einen bestimmten religiösen Glauben oder eine bestimmte Weltanschauung hat; eine Religionsgemeinschaft ist Regelungssubjekt, gerade weil sie als Gemeinschaft Ausdruck eines bestimmten gemeinsamen Glaubens oder einer bestimmten gemeinsamen Weltanschauung ist. Die zweite Kategorie lautet „nicht-final – unspezifisch“ und umfasst diejenigen Rechtsakte, die, obwohl sie an nicht genuin religiösen Verhaltensweisen anknüpfen, dennoch religionsrechtliche Implikationen aufwerfen. Diese Rechtsakte betreffen einen Gläubigen oder eine Religionsgemeinschaft in der Stellung als generelles, am Rechtsleben teilnehmendes Rechtssubjekt, wirken sich aber auf religiös-weltanschaulich geprägte Verhaltensweisen aus. Das Kriterium „nicht-final – unspezifisch“ beschreibt nicht die außerhalb des religionsrechtlich relevanten Bereichs gelegene Materie, sondern beschreibt innerhalb dieses Bereichs die geringere religionsrechtliche Spezifizität der Materie. Analysiert man nun die wichtigen, religionsrechtlich relevanten Rechtsakte der EU und ordnet sie gemäß der gebildeten Kategorien, so ergibt sich folgendes Bild: Final – spezifische Betroffenheit Rechtsakt: Art. 10 I Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.2000 56, 57 Regelungsjahr: 2000 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Grundrechte Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Norm garantiert die unionsrechtliche Religionsfreiheit. Rechtsakt: Art. 14 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.200058 Regelungsjahr: 2000 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Grundrechte Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Norm enthält (im Rahmen der einzelstaatlichen Gesetze) die Freiheit von Religionsanhängern, ihre Kinder nach den Maßgaben ihrer Religion zu erziehen.
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ABl. 2000 C 364, S. 1 ff. Die folgenden Normen der EGRC und der Art. I-52 VVE sind zurzeit noch unverbindlich, wurden aber in die Gruppe der verbindlichen Rechtsakte aufgenommen, da ihr verbindliches In-Kraft-Treten mit dem VVE vorgesehen ist und sie vom EU-Gesetzgeber und vom EuGH bereits berücksichtigt werden. 58 ABl. 2000 C 364, S. 1 ff. 57
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Rechtsakt: Art. 21 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.200059 Regelungsjahr: 2000 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Grundrechte Grundrechtlicher Aspekt: Gleichheitsrecht Begründung: Die Norm verbietet die Diskriminierung von Religionsanhängern auf Grund ihrer religiösen Überzeugungen. Rechtsakt: Art. 22 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7.12.200060 Regelungsjahr: 2000 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Grundrechte Grundrechtlicher Aspekt: Art. 22 ist ein Programmsatz für die Politik der EU, enthält jedoch kein subjektives Recht61. Begründung: Die Norm verpflichtet die EU, die Wahrung der religiösen Vielfalt bei ihrer Gesetzgebung zu achten. Rechtsakt: Art. I-52 I, II VVE Regelungsjahr: 2004 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: grundrechtsähnliche Querschnittsnorm, kann alle Bereiche betreffen. Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Art. I-52 I, II VVE gewährleistet die Achtung und Nicht-Beeinträchtigung des Status der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach der jeweiligen nationalen Rechtslage. Er ist aus der Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam betreffend den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften hervorgegangen62. Rechtsakt: Art. I-52 III VVE Regelungsjahr: 2004 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Querschnittsnorm, kann alle Bereiche betreffen. Grundrechtlicher Aspekt: Teilhaberecht Begründung: Art. I-52 III VVE gewährleistet, dass die EU mit den Religionsund Weltanschauungsgemeinschaften einen institutionalisierten Dialog führt. Die Norm formt den Grundsatz der partizipativen Demokratie (Art. 46 VVE) aus. Sie ist eine Erweiterung der Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam betreffend den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften63.
59 60 61 62 63
ABl. 2000 C 364, S. 1 ff. ABl. 2000 C 364, S. 1 ff. s. u. Kap. E.III. s. u. Kap. D. s. u. Kap. D.III.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Rechtsakt: Art. III-121 VVE Regelungsjahr: 2004 (Verbindlichkeit abhängig von Ratifizierung des VVE) Bereich: Tierschutz Grundrechtlicher Aspekt: Art. III-121 ist ein Programmsatz für die Politik der EU. Begründung: Bei der Umsetzung des Tierschutzes hat die Union die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedsstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten zu berücksichtigen. Art. III-121 VVE greift den Gedanken des Art. I-52 I, II VVE auf und dehnt ihn auf die Tierschutzpolitik aus64. Rechtsakt: Art. 13 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der Fassung des Vertrages von Amsterdam vom 2.10.1997/Art. III-118, III-124 VVE Regelungsjahr: 1997 Bereich: Anti-Diskriminierungsgesetzgebung Grundrechtlicher Aspekt: Gleichheitsrecht Begründung: Der Art. ermächtigt den Rat, Maßnahmen gegen die Diskriminierung gegen Anhänger einer Religion als solche wegen ihres Bekenntnisses zu treffen. Rechtsakt: Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf 65 Regelungsjahr: 2000 Bereich: Arbeitsrecht (Anti-Diskriminierungsgesetzgebung) Grundrechtlicher Aspekt: Gleichheitsrecht und Freiheitsrecht Begründung: Die Richtlinie richtet sich gerade an Anhänger von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wegen ihrer Religion, um sie vor Diskriminierung zu schützen (Art. 1). Gleichzeitig erlaubt sie Religionsgemeinschaften und Ethos-basierten Organisationen, ihrerseits bestimmte Formen der Ungleichbehandlung aus Gründen des „Ethos der religiösen Organisation“ für ihre eigenen Zwecke durchzuführen (Art. 4 II). Rechtsakt: Art. 27 II Verordnung Nr. 31/1962 (EWG)/Nr. 11/1962 (EAG) über das Statut der Beamten und über die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der EWG und der EAG66 Regelungsjahr: 1962 Bereich: Arbeitsrecht (Anti-Diskriminierungsgesetzgebung; Binnenrecht der EU) Grundrechtlicher Aspekt: Gleichheitsrecht Begründung: Die Vorschrift bezieht sich auf die Beamten der EU gerade unter dem Aspekt ihrer Zugehörigkeit zu einer spezifisch religiösen Überzeugung. In 64 65 66
s. u. Kap. D.IV. ABl. 2000 L 303, S. 16 ff. ABl. 1962 B 045, S. 1385 ff., 1394.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
der Gesamtheit der religionsrechtlich relevanten Vorschriften spielt die Vorschrift allerdings insofern eine Sonderrolle, als es sich um Binnenrecht der Gemeinschaften handelt. Rechtsakt: Anhänge I, II der Verordnung Nr. 723/2004 (EG/EURATOM) zur Änderung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften hinsichtlich der Gleichbehandlung67 Regelungsjahr: 2004 Bereich: Arbeitsrecht (Anti-Diskriminierungsgesetzgebung; Binnenrecht der EU) Grundrechtlicher Aspekt: Gleichheitsrecht Begründung: wie oben; die Vorschriften erweitern und ergänzen den Schutz vor Diskriminierung aus religiösen Gründen für Beamte und Bedienstete auf Zeit der EU. Rechtsakt: Art. 17 Richtlinie 2003/88/EG vom 4.11.2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung68, 69 Regelungsjahr: 2003 Bereich: Arbeitsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschrift enthält eine Abweichung von den Regeln zur Arbeitszeit für Arbeitnehmer, die im liturgischen Bereich von Kirchen oder Religionsgemeinschaften beschäftigt und daher besonderen Arbeitszeitanforderungen unterworfen sind. Rechtsakt: Richtlinie 1994/33/EG vom 22.6.1994 über den Jugendarbeitsschutz70 Regelungsjahr: 1994 Bereich: Arbeitsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Gründe der Richtlinie mahnen an, besonderen religiösen Faktoren in den Mitgliedsstaaten, insbesondere bei der Berücksichtigung des Sonntags als Ruhetag, Rechnung zu tragen. Rechtsakt: Art. 8 III Richtlinie 1994/45/EG vom 22.9.1994 über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen71 Regelungsjahr: 1994 67
ABl. 2004 L 124, S. 1 ff. ABl. 2003 L 299, S. 9 ff. 69 Revision der Richtlinie 1993/104/EG vom 23.11.1993 (ABl. 1993 L 307, S. 18 ff.). Die Sonderregeln für den liturgischen Bereich sind nicht verändert worden. 70 ABl. 1994 L 216, S. 12 ff. 71 ABl. 1994 L 254, S. 64 ff. 68
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Bereich: Arbeitsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Ausnahmeregelung ermöglicht es spezifisch den von der Richtlinie erfassten Unternehmen mit weltanschaulicher Tendenz, Sonderregeln für ihr Verhältnis zu ihren Arbeitnehmern aus religiös-weltanschaulichen Gründen zu genießen (z. B. Idee der Dienstgemeinschaft); Umsetzung in Deutschland: § 34 Gesetz über Europäische Betriebsräte (EBRG) vom 28.10.199672. Rechtsakt: Art. 3 II Richtlinie 2002/14/EG vom 11. März 2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft73 Regelungsjahr: 2002 Bereich: Arbeitsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Ausnahmeregelung in der Rahmenrichtlinie über Informations- und Anhörungsrechte von Arbeitnehmern in der EG zu Gunsten von Unternehmen und Betrieben mit konfessioneller, karitativer etc. Bestimmung auf Grund von religiös-weltanschaulicher Tendenz zum Schutz ihrer Auffassung über ihr Verhältnis zu Arbeitnehmern (z. B. Idee der Dienstgemeinschaft). Rechtsakt: Art. 3 Richtlinie 2000/31/EG vom 8.6.2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt74 Regelungsjahr: 2000 Bereich: Wirtschaftsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Teilhaberecht Begründung: Sonderregel zur Einschränkung des elektronischen Geschäftsverkehrs zum Schutze der öffentlichen Ordnung, insbesondere Bekämpfung der Hetze aus Gründen des Glaubens. Rechtsakt: Art. 8 Richtlinie 1995/46/EG vom 24.10.1995 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr75 Regelungsjahr: 1995 Bereich: Datenschutzrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Eine Schutzvorschrift, die die Verarbeitung personenbezogener Daten untersagt, aus denen u. a. religiöse oder philosophische Überzeugungen erkennbar sind.
72 73 74 75
BGBl. 1996 I S. 1548, ber. S. 2022. ABl. 2002 L 80, S. 29 ff. ABl. 2000 L 178, S. 1 ff. ABl. 1995 L 281, S. 31 ff.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Rechtsakt: Art. 10 Verordnung (EG) Nr. 45/2001 vom 18.12.2000 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr76 Regelungsjahr: 2001 Bereich: Datenschutzrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Eine Schutzvorschrift spezifisch für Anhänger von Religion oder Weltanschauung, deren diesbezügliche Daten einem besonderen Schutz vor Verwertung unterstellt werden. Rechtsakt: Art. 11, 12, 22 Richtlinie 1989/552/EWG vom 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit77 Regelungsjahr: 1989 Bereich: Medienrecht Grundrechtlicher Aspekt: Teilhaberecht und Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschrift schützt spezifisch religiöse Belange, indem sie Fernsehsendungen gerade wegen ihres religiösen Inhalts in Bezug auf Werbeunterbrechungen und Sponsoring besonders behandelt (Anspruch auf werbefreie Sendezeit, Art. 11), religiöse Überzeugungen vor verletzender Werbung schützt (Art. 12) und verbietet, dass Sendungen zum Hass auf Grund der Religion aufhetzen (Art. 22). Rechtsakt: Art. 1 Richtlinie 1997/36/EG vom 30.6.1997 zur Änderung der Richtlinie 1989/552/EWG zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit78 Regelungsjahr: 1997 Bereich: Medienrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht und Teilhaberecht Begründung: Die Vorschrift schützt spezifisch religiöse Belange, indem sie Fernsehsendungen gerade wegen ihres religiösen Inhalts in Bezug auf Werbeunterbrechungen und Sponsoring besonders behandelt (Anspruch auf werbefreie Sendezeit, Art. 11), religiöse Überzeugungen vor verletzender Werbung schützt (Art. 12) und verbietet, dass Sendungen zum Hass auf Grund der Religion aufhetzen (wie oben). Rechtsakt: Art. 5 Richtlinie 2001/29/EG vom 22.5.2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft79 Regelungsjahr: 2001 Bereich: Urheberrecht Grundrechtlicher Aspekt: Teilhaberecht 76 77 78 79
ABl. ABl. ABl. ABl.
2001 1989 1997 2001
L L L L
008, 298, 202, 167,
S. S. S. S.
1 ff. 23 ff. 60 ff. 10 ff.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
53
Begründung: Art. 5 lässt Sonderregeln für urheberrechtliche Schutzgegenstände religiösen Inhalts oder die Nutzung von Schutzgegenständen bei religiösen Veranstaltungen zu, und privilegiert somit gezielt religiöse Veröffentlichungen und Veranstaltungen in urheberrechtlicher Hinsicht. Rechtsakt: Protokoll Nr. 33 zum Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 2.10.1997 über den Tierschutz und das Wohlergehen der Tiere80 Regelungsjahr: 1997 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Das Protokoll ist rechtsverbindlicher Bestandteil des Vertrages von Amsterdam. Es verankert den Tierschutz unter Berücksichtigung der religiösen Riten. Rechtsakt: Art. 4 Richtlinie 1974/577/EWG vom 18.11.1974 über die Betäubung von Tieren vor dem Schlachten81 Regelungsjahr: 1974 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschrift sieht eine Ausnahme vom Gebot des Betäubens vor der Schlachtung bei einem religiösen Ritus vor. Rechtsakt: Art. 2, 5 Richtlinie 1993/119/EG vom 22.12.1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung82 Regelungsjahr: 1993 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschriften sehen Sonderregeln für das Schlachten und Töten von Tieren nach religiösen Riten vor. Rechtsakt: Art. 12, 14 Richtlinie 1969/349/EWG vom 6.10.1969 zur Änderung der Richtlinie 1964/433/EWG über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das In-Verkehr-Bringen von frischem Fleisch83 Regelungsjahr: 1969 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschriften sehen Sonderregeln für das Schlachten und Töten von Tieren nach religiösen Riten vor. Bemerkenswert ist unter dem Aspekt der wachsenden Bedeutung religionsrechtlicher Fragen in der Gesetzgebung der EU, dass die dieser Änderungsrichtlinie zu Grunde liegende Richtlinie 1964/433/ EWG84 aus dem Jahre 1964 bei der Behandlung desselben Gegenstandes den religiösen Aspekten noch keinerlei Aufmerksamkeit widmet. 80 81 82 83
ABl. ABl. ABl. ABl.
1997 1974 1993 1969
C 340, S. 110 ff. L 316, S. 10 ff. L 340, S. 21 ff. L 256, S. 5 ff.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Rechtsakt: Richtlinie 1983/90/EWG vom 7.2.1983 zur Änderung der Richtlinie 1964/433/EWG über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das Inverkehrbringen von frischem Fleisch (Anhang I, Kapitel VI, Nr. 32, 33)85 Regelungsjahr: 1983 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschriften sehen Sonderregeln für das Schlachten und Töten von Tieren nach religiösen Riten vor. Bemerkenswert ist unter dem Aspekt der wachsenden Bedeutung religionsrechtlicher Fragen in der Gesetzgebung der EU, dass die dieser Änderungsrichtlinie zu Grunde liegende Richtlinie 1964/433/ EWG86 aus dem Jahre 1964 bei der Behandlung desselben Gegenstandes den religiösen Aspekten noch keinerlei Aufmerksamkeit widmet. Rechtsakt: Art. 1 Richtlinie 1995/23/EG vom 22.6.1995 zur Änderung der Richtlinie 1964/433/EWG über die gesundheitlichen Bedingungen für die Gewinnung und das In-Verkehr-Bringen von frischem Fleisch87 Regelungsjahr: 1995 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: wie oben. Rechtsakt: Art. 16 Richtlinie 1975/431/EWG vom 10.7.1975 zur Änderung der Richtlinie 1971/118/EWG zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim Handelsverkehr mit frischem Geflügelfleisch88 Regelungsjahr: 1975 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die speziell für religiöse Belange eingefügten Sonderregeln gestatten die Beachtung religiöser Vorschriften beim Schlachten von Geflügel. Auch hier hatte die Ausgangsrichtlinie89 aus dem Jahre 1971 die religionsrechtlichen Aspekte noch nicht berücksichtigt, sondern formuliert: „Schlachttiere, die in die Schlachträume verbracht werden, müssen betäubt und sofort geschlachtet werden.“ Dem wurde nun die Ergänzung hinzugefügt: „Die Betäubung braucht jedoch nicht durchgeführt zu werden, wenn eine religiöse Vorschrift dies verbietet.“90
84 85 86 87 88 89 90
ABl. 1964 P 121, S. 2012 ff. ABl. 1983 L 059, S. 10 ff. ABl. 1964 P 121, S. 2012 ff. ABl. 1995 L 243, S. 7 ff. ABl. 1975 L 192, S. 6 ff. ABl. 1971 L 055, S. 23 ff. Anhang I, Kapitel V, Nr. 20.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Rechtsakt: Richtlinie 1992/116/EWG vom 17.12.1992 zur Änderung und Aktualisierung der Richtlinie 1971/118/EWG zur Regelung gesundheitlicher Fragen beim Handelsverkehr mit frischem Geflügelfleisch91 Regelungsjahr: 1992 Bereich: Tierschutz und Lebensmittelrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Eine weitere Änderung der o. g. Richtlinie zur Berücksichtigung spezieller religiöser Riten beim Schlachten von Geflügel. Rechtsakt: Art. 13 Sechste Richtlinie 1977/388/EWG vom 17.5.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem92 Regelungsjahr: 1977 Bereich: Steuerrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschrift enthält eine Steuerbefreiung speziell für die Gestellung von Personal aus religiösen und weltanschaulichen Einrichtungen für bestimmte Zwecke geistigen Beistandes, sowie für bestimmte Dienstleistungen und Lieferungen von Gegenständen, die kirchliche und weltanschauliche Einrichtungen gegenüber ihren Mitgliedern erbringen. Diese werden vom europäischen Gesetzgeber als dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten anerkannt. Dies ist ein bemerkenswertes Indiz zur Bestimmung des Verhältnisses der EU zu den Religionsgemeinschaften, das auf eine wohlwollende Kooperationsbereitschaft anstelle einer ablehnenden Laizität schließen lässt. Rechtsakt: Art. 78 Richtlinie 1983/181/EWG vom 28.3.1983 zur Festlegung des Anwendungsbereichs von Art. 14 I d) der Richtlinie 1977/388/EWG hinsichtlich der Mehrwertsteuerbefreiung bestimmter endgültiger Einfuhren von Gegenständen93 Regelungsjahr: 1983 Bereich: Steuerrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die Vorschrift enthält eine Mehrwertsteuerbefreiung für Materialien, die zur Teilnahme u. a. an religiösen Veranstaltungen in fremden Ländern veranlassen sollen (insb. Wallfahrten). Rechtsakt: Art. 3 Richtlinie 1989/104/EWG vom 21.12.1988 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Marken94 Regelungsjahr: 1989 Bereich: Markenrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht 91 92 93 94
ABl. ABl. ABl. ABl.
1992 1977 1983 1989
L L L L
062, 145, 105, 040,
S. S. S. S.
1 ff. 1 ff. 38 ff. 1 ff.
56
B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Begründung: Es handelt sich um eine Vorschrift, die spezifisch für religiöse Symbole eine Ausnahme vom Anspruch auf Eintragung einer Marke vorsieht, um die Symbole vor kommerziellem Missbrauch zu schützen. Rechtsakt: Verordnung (EG) Nr. 2201/2003 vom 27. November 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten95 (ersetzt ab 1.3.2005 VO EG/1347/2000 vom 29.5.200096) Regelungsjahr: 2003 (2000) Bereich: Vollstreckungsrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Die EU achtet die Entscheidungen in Ehesachen kirchlicher Gerichte, die in den Mitgliedsstaaten Spanien, Portugal, Italien und Malta auf Grund von Konkordaten dieser Staaten mit dem Heiligen Stuhl staatlich als verbindlich anerkannt werden (Art. 63 VO EG/2201/2003; Art. 40 VO EG/1347/2000; Erwägungsgrund Nr. 20). Erwägungsgrund Nr. 9 VO EG/1347/2000 erläutert den Anwendungsbereich der Verordnung und schließt die Entscheidungen in Ehesachen in gerichtlichen und außergerichtlichen Verfahren ein, mit Ausnahme der Verfahren, die nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft gelten. Dieser Erwägungsgrund gewährt den Religionsgemeinschaften zwar keine Rechtsposition. Der grundrechtliche Bezug zur korporativen Religionsfreiheit ist dennoch bemerkenswert und besteht darin, dass hier auf EU-Ebene die innerkirchliche Gerichtsbarkeit und ihre Selbständigkeit anerkannt wird. Würde sie von der EU prinzipiell nicht anerkannt, so müsste sie nicht ausdrücklich vom Anwendungsbereich der Verordnung ausgeschlossen werden. Rechtsakt: Art. 6 III Richtlinie 2002/91/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2002 über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden97 Regelungsjahr: 2002 Bereich: Umweltrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht Begründung: Mitgliedsstaaten können Gebäude, die für Gottesdienste und andere religiöse Zwecke genutzt werden, von den Anforderungen der Richtlinie an die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden ausnehmen. Dies ist eine Regelung, die final-spezifisch auf Gebäude abzielt, die von Religionsgemeinschaften genutzt werden. Erfasst sind Kirchen, Moscheen und andere Gottesdiensträume; fraglich ist, ob auch Pfarr- und Gemeindezentren erfasst sind. Diese werden oft gemischt religiös-weltlich genutzt. Entscheidend ist aber, ob eine regelmäßige und typische Nutzung für religiöse Zwecke stattfindet, auch wenn diese nicht die einzige oder ausschließliche Nutzung ist. Daher können die nationalen Umsetzungsakte auch solche Gebäude ausnehmen. 95 96 97
ABL. 2003 L 338, S. 1 ff. ABl. 2000 L 160, S. 19 ff. ABl. 2003 L 1, S. 65 ff.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Nicht-final – unspezifische Betroffenheit Rechtsakt: EG-Vertrag Art. 39, 43, 49, 56 (Grundfreiheiten des Binnenmarktes) Regelungsjahr: 1986 Bereich: Wirtschaftsrecht Begründung: die wirtschaftlichen Grundfreiheiten können religionsrechtliche Relevanz aufweisen, da sie bisher national geregelte und oft mit Sonderregeln für Kirchen ausgestattete Bereiche dem Binnenmarkt öffnen. Dabei sind sie nicht final an Kirchen gerichtet, und ihre Auswirkungen betreffen den religiösen Bereich nur unspezifisch. Allerdings können sekundärrechtliche Rechtsakte, die die Grundfreiheiten zu verwirklichen suchen, eine andere Qualität der Betroffenheit verursachen. Rechtsakt: Art. 1 i. V. m. Anhang A.2 Verordnung Nr. 3911/92 (EWG) vom 9.12. 1992 über die Ausfuhr von Kulturgütern98 Regelungsjahr: 1992 Bereich: Kulturgüterrecht Begründung: Die Vorschrift ist als nicht-final – unspezifisch einzuordnen, da sie Religionsgemeinschaften als Sammler oder Besitzer von Kulturgut betrifft, ohne sie gerade als Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen. Die Richtlinie bezieht sich auch nicht spezifisch auf die Gegenstände gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen liturgischen oder zeremoniellen Bedeutung. Rechtsakt: Art. 1, 7, Anhang A.2 Richtlinie 1993/7/EWG über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates verbrachten Kulturgütern99 Regelungsjahr: 1993 Bereich: Kulturgüterrecht Begründung: Die Vorschrift ist als nicht-final – unspezifisch einzuordnen, da sie Religionsgemeinschaften als Sammler oder Besitzer von Kulturgut betrifft, ohne sie gerade als Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen. Die Richtlinie bezieht sich auch nicht spezifisch auf die Gegenstände gerade unter dem Gesichtspunkt ihrer möglichen liturgischen oder zeremoniellen Bedeutung (wie oben VO Nr. 3911/92 (EWG)). Rechtsakt: Art. 3 Verordnung Nr. 1659/1998 (EG) vom 17.7.1998 über die dezentralisierte Zusammenarbeit100 Regelungsjahr: 1998 Bereich: Verhältnis zur Zivilgesellschaft Begründung: Die Verordnung definiert Partner in der Zivilgesellschaft, mit denen die EU bei Initiativen zur nachhaltigen Entwicklung zusammenarbeitet. Dazu werden auch Kirchen in der Reihe der Partner genannt, allerdings nicht in spezifischer Anknüpfung an religiöse Aspekte, sondern als organisierte Teile der Zivil98
ABl. 1992 L 395, S. 1 ff. ABl. 1993 L 074, S. 74 ff. 100 ABl. 1998 L 213, S. 6 ff. 99
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
gesellschaft. Diese Partner können auch finanzielle Unterstützung erhalten. Dies ist mit Blick auf die Frage nach der Trennung von Kirche und Staat bemerkenswert. Diese Vorschrift könnte ein Indiz sein, dass die EU keine ablehnende Laizität gegenüber Kirchen und Religionsgemeinschaften beabsichtigt, sondern einen Ansatz der Kooperation bevorzugt, indem sie die Kirchen und Religionsgemeinschaften als Teile der Zivilgesellschaft einordnet101. Rechtsakt: Richtlinie 98/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 zur Änderung des Artikels 12 der Richtlinie 77/780/EWG des Rates über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, der Artikel 2, 5, 6, 7 und 8 sowie der Anhänge II und III der Richtlinie 89/647/EWG des Rates über einen Solvabilitätskoeffizienten für Kreditinstitute und des Artikels 2 sowie des Anhangs II der Richtlinie 93/6/EWG des Rates über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten102 Regelungsjahr: 1998 Bereich: Steuerrecht Begründung: Die Vorschrift fügt der Richtlinie von 1977103 eine Regelung hinzu, die die Einstufung von Kirchen und Religionsgemeinschaften steuerrechtlich in bestimmter Hinsicht staatlichen Stellen gleichstellt, wenn sie in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert sind. Die Richtlinie von 1977 hatte diesen Aspekt nicht berücksichtigt. Die Betroffenheit ist nicht-final – unspezifisch, da die Religionsgemeinschaften hier in ihrer Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts Objekt der Regelung sind und nicht als Träger von Religion wahrgenommen werden. Rechtsakt: Art. 46 Richtlinie 2000/12/EG vom 20.3.2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute104 Regelungsjahr: 2000 Bereich: Steuerrecht Begründung: Die Betroffenheit ist nicht-final – unspezifisch, da die Religionsgemeinschaften hier in ihrer Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts und der damit verbundenen Bonitätsbewertung Objekt der Regelung sind und nicht als Träger von Religion wahrgenommen werden. Rechtsakt: Durchführungsbestimmungen für die von Europol geführten Arbeitsdateien zu Analysezwecken105 Regelungsjahr: 1999 Bereich: Datenschutzrecht Grundrechtlicher Aspekt: Freiheitsrecht 101 102 103 104 105
Vgl. dazu auch Art. I-52 III VVE, s. u. Kap. D.III. ABl. 1998 L 204, S. 29 ff. ABl. 1977 L 322, S. 30 ff.; außer Kraft. ABl. 2000 L 126, S. 1 ff. ABl. 1999 C 26, S. 1 ff.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
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Begründung: Die (binnenrechtlichen) Durchführungsbestimmungen erlauben es der europäischen Polizeibehörde Europol, Analyse- und Fahndungsdateien nach dem Personenerkennungsmerkmal der Religionszugehörigkeit zu strukturieren und ihre Datensätze mit den entsprechenden Informationen zu versehen. Diesen Bestimmungen kommt insbesondere mit der Bekämpfung von religiös-fundamentalistischen Terrornetzwerken wachsende Bedeutung zu. Die Betroffenheit ist nicht-final – unspezifisch, weil die Bestimmungen an formale Merkmale der Religionszugehörigkeit anknüpfen, nicht aus inhaltlichen Gründen der Religion (nicht die religiöse Dimension ist der Anknüpfungspunkt, sondern die religionssoziologische Dimension).
Gruppe B („soft law“) Eine Unterteilung in final-spezifische und nicht-final – unspezifische Materie kann nicht vorgenommen werden, da das soft law als unverbindliche Äußerungen sich solchen Kategorien entzieht. Es ergibt sich folgendes Bild: Materie: Erklärung Nr. 11 zur Schlussakte des Vertrages von Amsterdam betreffend den Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften vom 2.10.1997106 Jahr: 1997 Begründung: Die Erklärung betont die Achtung der EU vor dem innerstaatlichen Status (Sonderrechte und -pflichten) der Religionsgemeinschaften. Die damit verbundenen Fragen werden unten aufgegriffen107. Materie: Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte vom 9.12.1989108 Jahr: 1989 Begründung: Die Sozialcharta mahnt in ihrer Präambel, gegen Diskriminierung auf Grund von Glauben vorzugehen. Sie fügt sich somit in die Anti-Diskriminierungsmaßnahmen der Union ein. Bereich: Arbeitsrecht Materie: Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes zum Dialog zwischen den Religionen109 106
ABl. 1997 C 340, S. 133. s. u. Kap. D. 108 BR-Drucks. 717/89. 109 Schlussfolgerungen des Vorsitzes zum Europäischen Rat von Brüssel, I.11, Rn. 27 ff., Bulletin EU 12-2003: „27. Die Staats- und Regierungschefs wurden über die Ergebnisse der Konferenz über den Dialog zwischen den Religionen, die am 30. und 31. Oktober 2003 in Rom stattfand, informiert und nahmen die von den Innenministern angenommene Erklärung über den Dialog zwischen den Religionen und den sozialen Zusammenhalt mit Befriedigung zur Kenntnis. In dem Bewusstsein der Bedeutung dieses Themas fordern sie die zuständigen Minister auf, einen kontinuierlichen, offenen und transparenten Dialog mit den verschiedenen Religionen 107
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Jahr: 2003 Begründung: Der Ministerrat nimmt in den Schlussfolgerungen zum EU-Gipfel von Brüssel die Veranstaltung einer Konferenz der EU-Innenminister und die von diesen abgegebene Erklärung zum interreligiösen Dialog zur Kenntnis und bekräftigt das Ziel, einen kontinuierlichen, offenen und transparenten Dialog mit den verschiedenen Religionen und weltanschaulichen Gemeinschaften im Rahmen des EU-Ministerrates zu unterstützen. Diese Formulierung greift die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam und Art. I-52 VVE auf.
Die Aufnahme zeigt, dass der Bestand an religionsrechtlich relevanter Materie sich auf die folgenden Themenbereiche erstreckt: Tierschutz und Lebensmittelrecht
8 Vorschriften
Arbeitsrecht
6 Vorschriften110
Wirtschaftsrecht
5 Vorschriften
Steuerrecht
4 Vorschriften
Datenschutzrecht
3 Vorschriften
Grundrechte
3 Vorschriften
Medienrecht
2 Vorschriften
Kulturgüterrecht
2 Vorschriften
Anti-Diskriminierungsgesetzgebung
1 Vorschrift
Urheberrecht
1 Vorschrift
Markenrecht
1 Vorschrift
Vollstreckungsrecht
1 Vorschrift
Umweltrecht
1 Vorschrift
Verhältnis zur Zivilgesellschaft
1 Vorschrift.
Die betrachteten Vorschriften lassen sich folgendermaßen schwerpunktmäßig den grundrechtlichen Dimensionen zuordnen: Freiheit:
25 Vorschriften
Gleichheit:
5 Vorschriften
Teilhabe:
5 Vorschriften.
und weltanschaulichen Gemeinschaften als Instrument des Friedens und des sozialen Zusammenhalts in Europa und an seinen Grenzen zu unterstützen. 28. Die Staats- und Regierungschefs bekräftigen, dass die EU fest entschlossen ist, gegen jede Form von Extremismus, Intoleranz und Fremdenfeindlichkeit vorzugehen, die die friedliche und demokratische Koexistenz untergräbt, und dass sie jede Art von Gewalt und Terrorismus verurteilt. 29. Die Staats- und Regierungschefs weisen darauf hin, dass sie über die Zunahme der Fälle antisemitischer Intoleranz sehr besorgt sind, und sie verurteilen alle Erscheinungsformen des Antisemitismus, einschließlich Übergriffen auf religiöse Stätten und Personen, auf das Schärfste.“ 110 Die Revision des Beamtenstatuts 2004 wurde nicht gesondert gezählt.
III. Die Entstehung religionsrechtlicher Fragen
61
2. Auswertung der Bestandsaufnahme Die so erstellte, nicht erschöpfende, aber indikative Bestandsaufnahme der Materie lässt folgende Schlussfolgerungen zu: – Auf der Ebene des EU-Rechts existiert eine eigene, mit genuin religionsrechtlichen Fragen befasste Rechtsmaterie. Man kann von einem religionsrechtlichen acquis communautaire sprechen. – Dieser religionsrechtliche acquis communautaire formt kein in sich geschlossenes Rechtsgebiet auf der Grundlage einer eigenständigen Kompetenz. – Die Materie ist nicht auf ein bestimmtes, fest umgrenztes Sachgebiet beschränkt, sondern kommt in unterschiedlichen Sachgebieten vor. – Teilweise handelt es sich um unverbindliches „soft law“, ein wesentlicher Teil ist jedoch verbindliches Recht der EU. – Final – spezifische Regelungen häufen sich in den Jahren seit 1992, also seit dem Vertrag von Maastricht. Es liegt daher nahe, sie auf die sich vertiefende Integration des europäischen Rechts- und Wirtschaftsraums zurückzuführen. Dies entspricht der oben geschilderten Integrationsdynamik der EU hin zu einer Wertegemeinschaft, die sich auch nicht-wirtschaftlichen Fragen zuwendet. – Ein wesentlicher Teil dieses verbindlichen Rechts nimmt final – spezifisch auf religiöse Aspekte Bezug, knüpft also gerade speziell und bewusst an religionsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit dem jeweiligen Sachgebiet an. – Das Religionsrecht der EU hat einen inzidenten Charakter. Religionsrechtliche Regeln der EU werden geschaffen, wenn die legislatorische Bearbeitung eines Kompetenzbereichs der EU einen Berührungspunkt mit religionsrechtlichen Fragen erreicht. In diesen Sachgebieten treten religionsrechtliche Regeln daher inzidenter auf. Das bedeutet, sie sind anlässlich und im Zusammenhang mit anderen Regelungsvorhaben geschaffen worden, wenn es erforderlich war, zur umfassenden und wirkungsvollen Regelung eines Bereichs religionsrechtliche Aspekte in das Konfliktlösungsprogramm (ein solches ist eine rechtliche Regelung ihrer Natur nach) aufzunehmen. Europäisches Religionsrecht ist daher eher thematisches und inhaltliches Konfliktlösungsprogramm, kein institutionell-organisatorisches Ordnungsrecht. – Die Zusammenschau der inzidenten Regelungen lässt erkennen, dass die religionsrechtlichen Regelungen in den verschiedenen Sachgebieten bestimmte Ähnlichkeiten hinsichtlich ihres Existenzgrundes und ihres Kon-
62
B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
fliktlösungszieles aufweisen. Sie folgen insoweit bestimmten, wiederkehrenden Mustern. Erkennbare, wiederkehrende Muster sind: (a) die Vermeidung von Diskriminierung auf Grund religiöser und weltanschaulicher Kriterien, insbesondere im Bereich der Grundrechte, des Arbeitsrechts und des Beamtenbinnenrechts, (b) die Gestattung von Diskriminierung auf Grund religiöser und weltanschaulicher Kriterien, wenn sie aus einem religiös-weltanschaulichen Ethos begründet ist und das religiös-weltanschauliche Merkmal einer Person angesichts des Ethos eine wesentliche Anforderung darstellt, (c) die Toleranz gegenüber religiös motivierten Verhaltensweisen, die mit säkular motivierten Verhaltensweisen in Widerspruch stehen können, insbesondere im Tierschutz- und Lebensmittelrecht, aber auch im Medienrecht, (d) die Achtung der Privatsphäre und informationellen Selbstbestimmung, insbesondere im Datenschutzrecht, (e) der Respekt vor religiös besetzten Zeichen und Symbolen und religiösen Zwecken gewidmeten Gegenständen, insbesondere im Markenund Kulturgüterrecht. Wenn sich solche Konfliktlagen abzeichnen, hat der EU-Gesetzgeber die religiösen Belange im Blick und nimmt sie in sein Konfliktlösungsprogramm auf. – Aus der Erkenntnis, dass die religionsrechtlichen Regeln im EU-Recht bestimmten, wiederkehrenden Mustern folgen, ergibt sich, dass es tatsächlich ein eigenes EU-Religionsrecht gibt, das im Entstehen begriffen ist und das sich gemäß bestimmter, definierbarer Regeln entwickelt. Es geht über zufällige und sporadische Regelungen hinaus. Dies bestätigt die These von Robbers, dass sich ein neues, eigenes Religionsrecht der Europäischen Union, unter Wahrung der Vielfalt der mitgliedsstaatlichen Rechte und Traditionen entwickelt111. Daraus entstehen vor allem die Fragen, in welche Richtung sich dieses Recht entwickelt (Ziel), und worin und inwiefern sich dieses von den nationalen Religionsrechten/vom deutschen Religionsrecht unterscheidet. – Es existiert weiterhin ein Grundbestand an Religionsverfassungsrecht. Dieses baut auf dem Grundrecht der Religionsfreiheit sowie auf weiteren verfassungsrechtlichen Grundsätzen auf. – Das Grundrecht der Religionsfreiheit entfaltet zumindest ansatzweise die drei grundrechtlichen Dimensionen von Freiheit (abwehrrechtlicher 111
Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 10.
IV. Die religionsrechtliche Kompetenzstruktur der EU
63
Aspekt), Gleichheit und Teilhabe (leistungsrechtlicher Aspekt). Wie die oben aufgeführten Rechtsakte zeigen, strahlt es in diesen drei Dimensionen auf die relevante sekundärrechtliche Materie aus.
IV. Die religionsrechtliche Materie in der Kompetenzstruktur der EU Zur Ausleuchtung des religionsrechtlichen Problemfeldes gehört die Untersuchung der Kompetenzstruktur der EU und die Frage, wie sich das Religionsrecht in diese einfügt. Dies ist mit Blick auf die Rechtslage unter dem EU-/EG-Vertrag und unter dem VVE zu betrachten. 1. Die Kompetenzstruktur unter dem EU-/EG-Vertrag Die Kompetenzen der EU werden in ausdrückliche Kompetenzen, die Vertragsabrundungskompetenz (Art. 308 EGV), ungeschriebene Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs (implied powers) und ungeschriebene Annexkompetenzen eingeteilt. Diese Kategorien haben für religionsrechtlich relevante Regelungen unterschiedliche Bedeutungen. a) Ausdrückliche Kompetenzen Die EU verfügt über die geschriebenen Kompetenzen, die ihr durch den EU- und den EG-Vertrag zugewiesen werden. Gemäß dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV, Art. 5 I EGV)112 beruhen die Kompetenzen der Union darauf, dass die Mitgliedsstaaten eigene Kompetenzen abgeben, oder genauer: deren Ausübung aufgeben, und der Union gewähren, in diesen Feldern ihr eingeräumte Kompetenzen auszuüben. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung begrenzt somit die Zuständigkeiten der EU auf die ihr übertragenen Kompetenzen und schließt eine Kompetenz-Kompetenz der Union, also die selbsttätige Schaffung oder Aneignung weiterer Kompetenzen aus. Eine Kompetenz zur Regelung des Staatskirchenrechts ist der EU von den Mitgliedsstaaten nicht eingeräumt worden. Rechtsakte mit dem einzigen oder primären Ziel, staatskirchenrechtliche Regelungen zu treffen, sind damit nicht möglich. Die derzeitige Konstitution der EU schließt somit auch die Schaffung eines einheitlichen, umfassenden europäischen Staatskirchenrechts aus113. 112 Koenig/Haratsch, Rn. 57 ff.; Bleckmann, Rn. 380; Schweitzer/Hummer, Rn. 335; Emmert, S. 168; Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EUV, Rn. 3; Jarass, AöR 121 (1996), S. 173 ff.; BVerfGE 89, 155, 188, 191 ff., 209 f.
64
B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
b) Die Vertragsabrundungskompetenz (Art. 308 EG-Vertrag) Art. 308 EGV (sog. Vertragsabrundungskompetenz) ist eine Ausnahme vom Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und sieht vor, dass die Union ermächtigt ist, in unvorhergesehenen Fällen in Materien ohne ausdrückliche Kompetenzzuweisung regelnd tätig zu werden, wenn dies zur Verwirklichung der Ziele des EG-Vertrages erforderlich ist. Die Vertragsabrundungskompetenz hat in der Praxis erhebliche Bedeutung erlangt114. Eine umfassende Regelung des Staatskirchenrechts ist hiermit aber nicht möglich, weil bislang jedenfalls nicht ersichtlich ist, dass dessen Regelung zur Verwirklichung vertraglicher Ziele notwendig wäre. Die Vertragsabrundungskompetenz besitzt wegen ihrer ergänzenden Natur auch nicht die erforderliche Tragfähigkeit zur Schaffung eines europäischen Staatskirchenrechts; sie vermittelt lediglich Kompetenzen, die in Ergänzung der ausdrücklich zugewiesenen Einzelkompetenzen zur Erreichung der Vertragsziele benötigt werden115. Eine Kompetenz-Kompetenz vermittelt Art. 308 EGV jedenfalls nicht; vielmehr hat er sich als Ausnahmebestimmung in das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung einzufügen116. Die Schaffung eines umfassenden europäischen Religionsrechts auf der Kompetenzgrundlage des Art. 308 EGV würde zu einer Überdehnung seines Ausnahmecharakters und einer Verletzung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung führen, indem eine eigenständige Gesamtmaterie auf der Grundlage einer lediglich für unvorhergesehene Lücken gedachten Kompetenzsonderregel geregelt würde. Die Abwesenheit eines einheitlichen Religionsrechts aus den Vertragszielen und den Einzelermächtigungen zeigt gerade den Willen der Vertragsstaaten, diese Materie nicht als eigenständige Kompetenz der EU zuzuweisen. Damit ist nicht gesagt, dass die EU keine religionsrechtlich relevanten Regelungen treffen dürfte. Die in der Bestandsaufnahme genannten, „inzidenten“ Regeln des Religionsrechts, etwa die Diskriminierungsverbote aus Gründen der Religion und Weltanschauung in der Richtlinie 2000/78/EG zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, oder zum Feiertagsrecht in der Arbeitszeitrichtlinie, werden von der EU meist anlässlich und im Zusammenhang mit ihrer wirtschaftspolitischen Gesetzgebung getroffen117. Primärer kompetentieller Anknüpfungspunkt ist somit 113 Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 19 f.; Mückl, Religionsfreiheit, S. 21 ff. 114 Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 6 f. 115 Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 13. 116 Koenig/Haratsch, Rn. 63 ff.; Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 2; EuGH Gutachten, 1/1994, Slg. 1994, I-5267, Rn. 16; EuGH Gutachten, 2/1994, Slg. 1996, I-1759, Rn. 25; unentschieden Schweitzer/Hummer, Rn. 340.
IV. Die religionsrechtliche Kompetenzstruktur der EU
65
die ausdrücklich zugewiesene Kompetenz wirtschaftlicher Art zur Verwirklichung der Grundfreiheiten und des Binnenmarktes. Es ist jedoch offensichtlich, dass Regelungsgegenstände nie nur einen Aspekt aufweisen, also etwa ausschließlich wirtschaftlicher Natur sind. Es ist geradezu der Normalfall, dass nicht-wirtschaftliche Aspekte mitbetroffen sind, zumal die wirtschaftliche Betätigung eine der Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist und somit viele gesellschaftliche Aktivitäten wirtschaftliche Implikationen aufweisen. Nimmt man die wirtschaftliche Betätigung zum kompetentiellen Aufhänger von Regelungen, so sind jeweils die anderen Aspekte eines von der wirtschaftlichen Seite geregelten Gegenstandes zwangsläufig mitbetroffen. Fraglich ist, wie die Tatsache, dass andere, nicht von den EU-Kompetenzen explizit erwähnte Bereiche zwangsläufig von ihren Regelungen mitbetroffen sind, sich auf das Dürfen, auf die Ermächtigung zu einer bestimmten Regelung auswirkt. Die bloße Mitbetroffenheit einer außerhalb der Kompetenz liegenden Materie kann nicht dazu führen, dass eine Regelung unzulässig wird und eine bestimmte Kompetenz nicht wahrgenommen werden kann118. Dann würden geringe Mitbetroffenheiten anderer Bereiche die Ausübung eingeräumter Kompetenzen verhindern und die europäische Integration zum Stillstand bringen; gewisse Mitbetroffenheiten anderer, nicht-wirtschaftlicher Bereiche sind fast durchgängig bei allen wirtschaftlichen Materien zu verzeichnen. Ein wirtschaftliches Regelungsvorhaben der EU kann also nicht daran scheitern, dass religionsrechtliche Aspekte mitbetroffen sind. Die Lösung ist vielmehr in der richtigen Zuweisung einer Materie zu einer Kompetenz zu suchen. Als Kriterium bietet sich 117 Vgl. Erwägungsgrund Nr. 11 f. der Richtlinie 2000/78/EG, ABl. 2000 L S. 16 f.: „(11) Diskriminierungen wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung können die Verwirklichung der im EG-Vertrag festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. (12) Daher sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen gemeinschaftsweit untersagt werden.[. . .]“. Die Erwägungsgründe begründen die Richtlinie aber auch mit der Gleichheit als Menschenrecht (Erwägungsgrund Nr. 4), was auf das Bewusstsein der Wertegemeinschaft hindeutet. 118 Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 191, und Mückl, Religionsfreiheit, S. 22. Mückl formuliert allerdings missverständlich: „Richtig ist, dass die Gemeinschaft die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht in dieser Eigenschaft in den Blick nimmt“. Das tut sie wie oben gezeigt jedoch, z. B. wenn sie die Diskriminierung an Hand der Religion verbietet und Ausnahmen für Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften aus Gründen des Ethos der religiösen Organisation vorsieht (Richtlinie 2000/78/EG, Art. 4 II). Zutreffend ist, dass die Religion oder Weltanschauung nicht primärer kompetentieller Anknüpfungspunkt sein darf.
66
B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
die Beurteilung nach dem Schwerpunkt des Vorhabens an: liegt der Schwerpunkt im wirtschaftlichen Bereich und ist er somit einer der EU eingeräumten Kompetenz zuzuordnen, so hindert die Mitbetroffenheit religionsrechtlicher Aspekte nicht die Wahrnehmung der Kompetenz. Vielmehr gewährt die Kompetenz dann auch die inzidente Mitregelung religionsrechtlicher Aspekte in dem Rahmen, in dem die Mitregelung als notwendig erachtet wird. Ist andererseits der Schwerpunkt ein religionsrechtlicher und die wirtschaftlichen Bezüge nur marginal, untergeordnet oder inzident, so verfügt die EU nicht über eine ausreichende Kompetenz für das Regelungsvorhaben. Somit sind religiöse Aspekte, die bei aus wirtschaftlicher Perspektive geregelten Gegenständen typischerweise mitbetroffen sind, kein Hinderungsgrund für EU-Regelungen. Auf diese Weise entsteht dann die mitunter konstatierte „kirchenindifferente“ oder „kirchenblinde“ Haltung der EU119. c) Sachzusammenhang, Implied Powers Kraft ihrer „implizierten Ermächtigungen“ (implied powers) darf die EU Materien regeln, die mit einer ihr ausdrücklich zugewiesenen Kompetenz in so enger, untrennbarer Abhängigkeit stehen, dass die sinnvolle Ausübung der zugewiesenen Kompetenz ohne die Mitregelung der in Sachzusammenhang stehenden Gegenstände nicht möglich ist120. Die Lehre von den implied powers deckt sich weitgehend mit der deutschen Lehre von den Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs121. Sie ist im Kompetenzgefüge des EU-/EG-Vertrages als ungeschriebener Bestandteil des vertraglichen Gesamtwerkes anwendbar122. Die Lehre von den implied powers überschneidet sich nicht mit dem Anwendungsbereich des Art. 308 EGV, sondern grenzt an diesen an123. Auch vermittels der implied powers bzw. der Kompetenz kraft Sachzusammenhangs sind religionsrechtlich relevante Regelungen aus wirtschaftlichem Ansatzpunkt möglich. d) Annexkompetenz Annexkompetenzen sind Regelungsbefugnisse für Bereiche, die einer ausdrücklichen Kompetenzmaterie vor- oder nachgelagert sind124. Sie vermit119
Robbers, in: HdbStKirchR, 2. Aufl., S. 318. Bleckmann, Rn. 797; EuGH Rs. 8/55, Slg. 1955–56, S. 297, 312; ständige Rechtsspr., vgl. EuGH Rs. C-287/85, Slg. 1987, S. 3203. 121 Bleckmann, Rn. 799. 122 Koenig/Haratsch, Rn. 65; Nicolaysen, EuR 1966, S. 169 ff. 123 Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV, Rn. 44. 124 Bleckmann, Rn. 800. 120
IV. Die religionsrechtliche Kompetenzstruktur der EU
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teln die Befugnis, zwangsläufig sich stellende Folgefragen, etwa bei der Umsetzung einer auf ausdrücklicher Ermächtigung beruhenden Regelung, ebenfalls mitzuregeln. Auch hier sind religionsrechtlich relevante Einzelregelungen denkbar. 2. Die Kompetenzstruktur unter dem VVE Der Verfassungskonvent hat sich intensiv mit der Kompetenzstruktur der Union befasst. In einer Arbeitsgruppe des Konvents wurde ein Kompetenzkapitel des VVE geschaffen125, das sich inhaltlich weitgehend an der bisherigen Kompetenzstruktur orientiert, diese aber klarer fasst und systematisiert. Nach wie vor gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung; der EU wird keine Kompetenz-Kompetenz zugewiesen (Art. I-11 I, II VVE). Alle nicht der EU zugewiesenen Kompetenzen verbleiben bei den Mitgliedsstaaten (Art. I-11 II S. 2 VVE). Die Kompetenzen der EU werden durch die Kompetenzausübungsschranken des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips begrenzt (Art. I-11 I, III, IV VVE in Verbindung mit dem dem VVE beigefügten SubsP VVE). Neu ist am VVE, dass die Arten der Kompetenzen der Union systematisiert und festgeschrieben werden (Art. I-12 VVE). Der VVE benennt in Art. I-13 – I-17 ausdrücklich die ausschließlichen, die geteilten und die unterstützenden/koordinierenden Kompetenzen. Der Umfang der Kompetenz ergibt sich jeweils aus ihrer Art in Verbindung mit den Bestimmungen zu den einzelnen Sachbereichen in Teil III des VVE (Art. I-12 VI VVE). a) Ausschließliche Zuständigkeiten (Art. I-13 VVE) Für die in Art. I-13 VVE aufgelisteten Zuständigkeiten besitzt die EU die alleinige Kompetenz. Wie zuvor ist selbstverständlich das Religionsrecht nicht aufgeführt. Die genannten Bereiche legen auch keine religionsrechtliche Relevanz in Randbereichen nahe. b) Geteilte Zuständigkeiten (Art. I-14 VVE) In diesem Bereich teilen sich die EU und die Mitgliedsstaaten die Befugnis, legislativ tätig zu werden. Soweit die Union ihre Kompetenz nicht aus125 Vgl. Abschlussbereicht der Arbeitsgruppe „Ergänzende Zuständigkeiten“, VK, Dok.-Nr. CONV 375/1/02, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00375r1d2.pdf.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
übt, dürfen die Mitgliedsstaaten tätig werden. Die Kompetenzliste des Art. I-14 VVE ist nicht erschöpfend, wie sich dem im Text gewählten Begriffe „Hauptbereiche“ entnehmen lässt; dieser impliziert, dass an anderen Stellen des VVE weitere Nebenbereiche geteilter Zuständigkeit eingefügt sind. Die in Art. I-14 VVE genannten Zuständigkeiten enthalten nicht ausdrücklich den Bereich des Religionsrechts. Die Mitgliedsstaaten teilen ihre Zuständigkeit insofern nicht mit der Union. Doch umfasst die Kompetenzliste Bereiche, vor allem den Bereich des Binnenmarktes, in denen es zu religionsrechtlicher Relevanz der Handlungen der EU kommen kann, wenn religionsrechtliche Fragen im Zusammenhang mit EU-Rechtsakten aufgeworfen und mitgeregelt werden. c) Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen (Art. I-17 VVE) Die Befugnisse der EU zur Unterstützung, Koordination und Ergänzung der Mitgliedsstaaten vermitteln der Union keine eigenständigen Kompetenzen in diesen Bereichen, sondern ermächtigen nur zu den genannten koordinierenden Maßnahmen. Hier wird der Bereich der Kultur genannt, der oftmals dem Religionsbereich nahe steht. Dennoch lässt sich hier keine Befugnis der EU herleiten, nationale religionsrechtliche Regeln zu koordinieren. Wie die Koordinierungskompetenz der Kultur auszuüben ist, ergibt sich aus der entsprechenden Vorschrift in Art. III-280 VVE im „operativen“ Teil III des VVE; eine Befugnis für religionsrechtliche Fragen lässt sich daraus nicht herleiten126. Im Ergebnis bedeutet die Neuordnung der EU-Kompetenzen somit keinen spezifischen Kompetenzgewinn der Union für Maßnahmen im Bereich des Religionsrechts.
V. Fragen der Terminologie: Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“ für den europäischen Kontext Die exakte Begriffsarbeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Erlangung juristisch tragfähiger Analyseergebnisse; dies gilt insbesondere für Untersuchungen in Bereichen, die erst im Entstehen und in der Ausprägung begriffen sind und in denen die Begrifflichkeit noch nicht gefestigt ist. Die Fragen um Religion und Recht in der EU sind ein solcher Bereich. 126
s. u. Kap. J.
V. Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“
69
1. Der Kontext der terminologischen Diskussion Die begriffliche Diskussion um den Terminus „Staatskirchenrecht“ wird in der deutschen Rechtswissenschaft seit langem geführt127. Wegen der Neuartigkeit der Materie muss eine solche Diskussion auch im europäischen Kontext stattfinden. Wenn es aber um eine Bezeichnung für religionsrechtlich relevante Normen im EU-Recht geht, muss diese Diskussion unter europäische Vorzeichen gestellt werden, denn es geht inhaltlich um eine andere Materie als das deutsche Staatskirchenrecht. Die religionsrelevanten Regelungen im Recht der EU sind Teil einer autonomen Rechtsordnung. Erforderlich ist dementsprechend eine spezifische europarechtliche Perspektive. Diese stellt bestimmte Anforderungen an den gesuchten Terminus: es muss ein europarechtlicher Begriff in die deutsche Rechtssprache eingeführt werden, der geeignet ist, ein gesamteuropäisches Phänomen zu bezeichnen. Das EU-Recht erfordert also eine Terminologie, die den gesamten EURechtsraum integrierend abdeckt. Nicht die Rechtsverhältnisse in einem der Mitgliedsstaaten dürfen Maßstab der Terminologie sein, denn es ist systematisch unzulässig, in der Hierarchie von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht „von unten nach oben“ zu folgern; dies würde auch die inhaltliche Diskussion auf eine falsche Spur lenken. Es geht daher darum, einen gesamteuropäischen Begriff zu finden. Hollerbach128 setzt sich mit der Terminologiefrage „Staatskirchenrecht oder Religionsrecht“ mit Bezug auf die deutsche Rechtsmaterie auseinander und stellt fest, dass der Begriff „Staatskirchenrecht“ ein spezifisch christlich-deutsches Profil trägt. Dann erklärt er, dass dieses Profil es verdiene, in das „europäische Konzert eingebracht“ zu werden und „Staatskirchenrecht“ dabei als Markenzeichen dienen kann. Dadurch verknüpft er das Schicksal des Begriffs „Staatskirchenrecht“ als europarechtlichen Terminus mit dem Vorschlag, die deutsche Gestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses als Modell auf die europäische Ebene emporzuheben. Dabei geht es mehr um die inhaltliche Gestaltung der neuen unionsrechtlichen Materie, in die unter dem Markenzeichen „Staatskirchenrecht“ als bewährt empfundene Strukturen des deutschen Kooperationsmodells eingeführt werden sollen. Durch die enge Verknüpfung des Begriffs „Staatskirchenrecht“ mit dem spezifisch deutschen Inhalt versperrt man aber gleichzeitig die offene Nutzung dieses Begriffs im neuen, unionsrechtlichen Sinne. Es handelt sich auf der EU-Ebene um eine neue, autonome und an anderen Gegebenheiten gebildete Rechtsmaterie. Wenn der Begriff „Staatskirchenrecht“ auf die spezi127 Vgl. Hollerbach, in: FS Schmitz, S. 869 ff.; Conring, S. 9 m. w. N.; Hense, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 9 ff. 128 Hollerbach, KuR 1997, S. 1; Conring, S. 9 ff.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
fisch deutsche Rechtsmaterie begrenzt wird, muss für die europäische Materie ein neuer Terminus gefunden werden. Lecheler greift die in den Essener Gesprächen 1992 aufgeworfene Frage nach der Übertragbarkeit des Begriffs Staatskirchenrechts auf die Union auf und stellt lapidar fest: „Staat ist [die Union] nicht und soll sie [. . .] auf absehbare Zeit nicht werden. Damit verbietet sich an sich der Gebrauch dieses Begriffes.“129 Er wählt daher den Begriff „Unions-Kirchen-Recht“130. Streinz weist darauf hin, dass es ein europäisches Religionsverfassungsrecht, aber kein europäisches Staatskirchenrecht gebe; die EU brauche keine eigenes Staatskirchenrecht, wohl aber ein Religionsrecht131. Turowski132 sieht in der EG einen „Staat in Gründung“133 und erkennt die neue Materie bereits als eine „individuelle Formatierung des Verhältnisses der Kirchen zu dieser neuen Art von Staatlichkeit“. An eine Begriffsfindung wagt er sich jedoch noch nicht und stellt fest: „[. . .] mag man [bei der Entwicklung der Materie] nun in Anlehnung an den Begriff des Staatskirchenrechts von den Grundstrukturen eines EG-Kirchen-Rechts sprechen oder es sonst wie benennen.“134 Interessanterweise greift Turowski in seinem Beitrag mehrfach auf die Wendung „Religionsrecht“ bzw. „religionsrechtliche Fragen“ zurück. Darin kommt zumindest der Bedarf für einen zutreffenden Begriff zum Ausdruck. Vachek135 geht ebenfalls von einer spezifisch deutschen Prägung des Inhalts des Begriffs „Staatskirchenrecht“ aus und folgert daraus die Ungeeignetheit des Terminus für den europäischen Kontext. Außerdem sei der Begriff wegen der Anknüpfung an Staat und Kirche zu eng, und daher irreführend und inkorrekt. Festzuhalten ist zunächst, dass es hier nicht um den Austausch des deutschen Begriffs „Staatskirchenrecht“ als Bezeichnung der deutschen Rechtsmaterie geht; daher hat die bislang geführte deutsche Diskussion auch nur begrenzten Aussagewert für die hier zu klärende Frage. Aber die Argumente dieser Diskussion können sich auch für die Frage nach einem „europa-tauglichen“ Begriff als fruchtbar erweisen. Denkbar ist durchaus, dass die beiden Diskussionen zu unterschiedlichen terminologischen Ergebnissen 129
Lecheler, in: FS Leisler, S. 47. Lecheler, in: FS Leisler, S. 47; zur Problematik dieses Vorschlages s. Kap. B.V.2.a)(2). 131 Streinz, EssGespr. 31 (1996), S. 59. 132 Turowski, KuR 1995, S. 13. 133 Turowski, KuR 1995, S. 13, 14. 134 Turowski, KuR 1995, S. 13, 18. 135 Vachek, S. 16. 130
V. Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“
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führen. Dann könnte für die europarechtliche Materie zum Beispiel der Begriff „Religionsrecht“ als zutreffend ermittelt werden und für den spezifisch deutschen Bereich der herkömmliche Begriff „Staatskirchenrecht“. Entscheidend ist, dass die jeweils dahinter stehende Materie zutreffend reflektiert wird. 2. Die Ungeeignetheit des Begriffes „Staatskirchenrecht“ für die europarechtliche Materie Fraglich ist nach dem oben Gesagten, ob der Begriff „Staatskirchenrecht“ den Anforderungen an die europarechtliche Terminologie gewachsen ist. Das ist der Fall, wenn er die europarechtliche Materie zutreffend beschreiben kann. Gerade unter europarechtlichem Blickwinkel stellt sich die Frage, ob der Begriff „Staatskirchenrecht“ eine funktional adäquate Beschreibung der zu betrachtenden Rechtsmaterie leistet136. a) Die Untersuchung nach dem Wortlaut des Begriffes „Staatskirchenrecht“ (1) Die Begriffskomponente „Staat“ Die Europäische Union ist weder unter dem Vertrag von Nizza noch unter dem neuen VVE ein Staat im staatsrechtlichen Sinne. Zur Erlangung der Staatsqualität ist es erforderlich, dass eine Einheit über originäre Hoheitsgewalt und über originäre Souveranität verfügt. Die EU verfügt aber lediglich über Kompetenzen, die ihr von ihren Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in den Verträgen übertragen werden. An diesem Prinzip hat sich auch nach dem EU-Verfassungskonvent und in der Perspektive des VVE nichts geändert. Somit ist die EU weiterhin ein staatsrechtliches Gebilde sui generis, das weitgehend zwischenstaatlichen Charakter aufweist, und daher auch nicht über einer Verfassung im technischen Sinne, sondern über einem zwischen den Mitgliedsstaaten geschlossenen Verfassungsvertrag errichtet ist. Erwägenswert ist aber, ob für die terminologischen Zwecke des Untersuchungsgegenstandes die staatsrechtlichen Überlegungen in den Hintergrund treten können zu Gunsten einer funktionellen Betrachtungsweise. Möglicherweise tritt die EU im Bereich des Untersuchungsgegenstandes wie ein Staat auf, so dass in dieser Hinsicht der Begriff tauglich wäre. Eine solche Rolle „wie ein Staat“ lässt sich jedoch nicht feststellen. Zwar gibt es 136 Ähnlich fragend für die Diskussion um die deutsche Materie: Hense, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 37.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
europaweit betrachtet nicht ein typisches Staatsverhalten gegenüber Kirchen; im Gegenteil existieren unterschiedliche Modelle, die von institutioneller Verflechtung einer Staatskirche bis zur strikten Trennung der Laizität reichen. Aber die zu beobachtende Distanz der EU zum religiösen Bereich lässt sich nicht als Laizität beschreiben. Denn einer mit „Laizität“ beschriebenen Kirchenferne des Staates liegen staatsrechtliche Erwägungen zu Grunde, nämlich eine bestimmte Auslegung des Prinzips der Trennung von Kirche und Staat. Solche staatsrechtlichen Prinzipien beschreiben aber nicht zutreffend das Verhältnis der EU zu den Kirchen, da die EU sich von den Kirchen nicht auf der Grundlage des verfassungsrechtlichen Trennungsprinzips fern hält. Vielmehr mangelt es ihr als supra-nationaler Struktur an ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen, um institutionelle „staatskirchenrechtliche“ Fragen zu regeln. Daher trifft es nicht zu, dass die EU sich dem religiösen Bereich gegenüber wie ein Staat verhält, der diese Kompetenz in originärer Weise hat. Zudem trägt gerade der Begriff „Staatskirchenrecht“ aus der deutschen Tradition die Implikation eines bestimmten (kooperativen) Verhaltens des Staates gegenüber den Kirchen in sich137. Der Wortbestandteil „Staat“ bezieht sich also nicht nur auf irgendeinen Staat im staatsrechtlichen Sinne, sondern impliziert auch ein bestimmtes Verhalten des Staates. Auch diese historische Bedeutung spricht dagegen, den Begriff für die EU-Materie zu verwenden. (2) Die Begriffskomponente „Kirche“ Ebenso ungeeignet erscheint die Begriffskomponente „Kirche“. Sie führt in zweifacher Hinsicht in die Irre. Zum einen betont sie in herausgehobener Weise die Organisationen der großen christlichen Glaubensrichtungen. Zur Erfassung der EU-Rechtsmaterie ist dies eindeutig zu eng gefasst und daher nicht geeignet. Die großen christlichen Kirchen spielen dort rechtlich keine besonders herausgehobene Rolle gegenüber anderen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und genießen keine Privilegien. Die zweite Irreführung rührt daher, dass der Begriffsbestandteil „Kirche“ auf einen in bestimmter Form institutionalisierten Glauben hinweist und sich der Materie über einen institutionell-organisatorischen Ansatz zu nähern versucht. Die Berührungspunkte zwischen der EU und der Religion liegen jedoch – wie noch genauer zu zeigen ist – nicht hauptsächlich in institutionalisierten Beziehungen, sondern in der inzidenten Betroffenheit der religiösen Sphäre durch EU-Rechtsakte. Religiöse Institutionen und Träger der Glaubensrichtungen sind meist inzidenter betroffen durch EU-Normen, die an der religiösen Materie anknüpfen und nicht die institutionellen Be137
Hollerbach, KuR 1997, S. 1.
V. Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“
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ziehungen zu religiös-weltanschaulichen Organisationen regeln. Auch die Erklärung Nr. 11 bzw. Art. I-52 I, II VVE schaffen kein primär institutionelles Religionsrecht, sondern sollen die bestehenden Statusrechte religiöser Gemeinschaften vor der Aushöhlung anlässlich inhaltlicher unionsrechtlicher Regelung schützen (lediglich die Dialogverpflichtung des neuen Art. I-52 III VVE weist Ansätze einer institutionellen Dimension auf). Somit ist der Begriffsbestandteil Kirche ebenfalls nicht geeignet, die zu untersuchende EU-Rechtsmaterie zu erfassen. Die Wortlautuntersuchung des Begriffs „Staatskirchenrecht“ legt daher nahe, von ihm für die zu untersuchende Materie Abstand zu nehmen.
b) Die Untersuchung nach den begriffs- und problemimmanenten Bedeutungen des Begriffs „Staatskirchenrecht“ Auch wenn der Wortlaut, wie oben gezeigt, nicht geeignet ist, die fragliche Materie zutreffend zu beschreiben, so kann der Begriff dennoch brauchbar sein, wenn er sich vom Wortlaut entfernt hat und eine andere, die Materie korrekt beschreibende inhaltliche Bedeutung angenommen hat. Dann müsste der Begriff „Staatskirchenrecht“ seine Bedeutung der materienformenden Situation auf EU-Ebene angepasst haben. Ein solcher Bedeutungswandel, bzw. eine solche Bedeutungserweiterung ist für den Begriff „Staatskirchenrecht“ aber nicht ersichtlich. Die Diskussion um die Geeignetheit für die deutsche Materie zeigt gerade, dass der Terminus in Bezug auf die Bestandteile „Staat“ und „Kirche“ noch sehr wortgenau verstanden wird. Eine gesamteuropäische Bedeutungsperspektive konnte er bisher gerade nicht entwickeln. Da sein Wortlaut zu eng ist, bietet er auch keinen geeigneten Ausgangspunkt für eine europarechtliche Weiterentwicklung. Daher ist für die europarechtliche Materie nach einem besser geeigneten Begriff zu suchen. 3. Die Geeignetheit des Begriffs „Religionsrecht“ bzw. „Religionsverfassungsrecht“ Als naheliegende Alternative bietet sich der Begriff „Religionsrecht der Europäischen Union“ an. Fraglich ist, ob dieser von seinem Bedeutungsgehalt geeignet ist, die Materie zutreffend zu bezeichnen. Die hin und wieder vorgeschlagene Einführung des Begriffs Religionsrecht in die deutsche Diskussion als Ersatz des herkömmlichen Terminus „Staatskirchenrecht“ sperrt nicht a priori die Verwendung für die EU-Rechtsmaterie, da der Begriff nicht mit dem deutschen Modell identifiziert wird.
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B. Religionsrechtliche Fragen im europäischen Einigungsprozess
Für den Begriff „Religionsrecht“ spricht, dass er den Gegenstand nicht mittels religiöser Institutionen beschreibt. Er geht nicht von institutionalisierten Trägern von Religion aus, da er sich der Materie weder über den „Staat“ noch über die „Kirchen“ nähert. Sein Ansatz ist weniger institutionell, sondern eher materiell-inhaltlich orientiert, d.h. thematisch an der Regelungsmaterie selbst ausgerichtet. Deswegen reflektiert er exakter die Tatsache, dass ein großer Teil der fraglichen Rechtsmaterie Religionsgemeinschaften zwar betrifft, aber nicht primär das institutionelle Verhältnis zwischen ihnen und dem Staat zum Regelungsziel hat. Zugleich berücksichtigt er stärker die EU-weite Vielfalt an institutionalisierten und nicht-institutionalisierten Religionserscheinungen. So besehen erweitert der Begriff den Blickwinkel auf den zu beschreibenden Sachbereich und bringt damit auch im Bereich der EU-Ebene den von Hense konstatierten „heuristischen Zugewinn“138. Vorteilhaft ist auch, dass der Terminus „Religionsrecht“ erweitert werden kann in „konstitutionelles Religionsrecht“ bzw. „Religionsverfassungsrecht“. Dies ermöglicht eine präzise Abgrenzung und Zuordnung der Rechtsmaterie im künftigen Gefüge von EU-Recht mit Verfassungsrang und einfachem subkonstitutionellen Unionsrecht. Möglich ist auch die Begriffserweiterung in „primäres“ und „sekundäres Religionsrecht“139. Problematisch bleibt bei dem Begriff „Religionsrecht“, dass der Begriffsbestandteil „Religion“ zu eng sein könnte, um den Komplex aus Religion, Glauben, Weltanschauung etc. zu umfassen. Hier handelt es sich um ein terminologisches Parallelproblem zu der Frage, was inhaltlich unter Religion zu verstehen ist. Jedoch ist es aus terminologischer Sicht weder erforderlich noch möglich, die Phänomene von Religion, Glauben, Weltanschauung etc. hier einer exakten inhaltlichen Definition zuzuführen, und dafür dann einen umfassenden Begriff zu finden. Aus terminologischer Sicht muss es ausreichen, dass ein Begriff von der ihm beigemessenen Bedeutung her so exakt ist, dass er in der Lage ist, seine Materie im Wesentlichen zutreffend zu beschreiben. Fragen der inhaltlichen Definition wie das Erfordernis eines Transzendenzbezuges, die Verbindlichkeit der Überzeugung oder das Selbstverständnis muss hier nicht nachgegangen werden. Auch wenn der terminologische Ansatz darin besteht, den Begriff vom zu bezeichnenden Inhalt herzuleiten, reicht es terminologisch aus, wenn der Begriff eine Art zutreffende Kurzformel darstellt. Als eine solche Kurzformel scheint der Begriff „Religionsrecht“ einerseits weit genug, um auch die Differenzierungen und 138
Hense, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 39 f. Hense, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 43 f., schlägt weitere gut brauchbare Differenzierungen vor, die auch Denkanstöße für eine Binnenstruktur des beschriebenen Feldes geben. 139
V. Die Geeignetheit des Begriffes „Religionsrecht“
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Unterschiede von Religion, Glauben und Weltanschauung einzuschließen, und andererseits eng genug, um das Spezifische der Materie nicht aus den Augen zu verlieren. Weiterhin ist der Begriff „Religionsrecht“ auch nicht vom nationalsozialistischen Rechtsdenken belastet oder geprägt, auch wenn er im Zusammenhang mit dem 1938 an der Akademie für deutsches Recht gebildeten „Ausschuss für Religionsrecht“ genutzt wurde140. Er ist keine nationalsozialistische Schöpfung, sondern kann eine weitaus längere Existenz vorweisen141, an die angeknüpft werden kann. Auch ist er seither ohne ideologische Vorbelastung in der wissenschaftlichen Diskussion um die deutsche Materie des „Staatskirchenrechts“ präsent und verwendet worden ist142. Schließlich greifen auch Bedenken über Fehlentwicklungen der Materie nicht durch, die der Begriff „Religions(-verfassungs-)recht“ verursachen könnte. Es wird gelegentlich befürchtet, dass dieser Terminus einer Trennungsideologie Vorschub leisten könnte, da er in besonderer Weise auf die Religionsfreiheit ausgerichtet sei143. Unbeschadet der deutschen Diskussion ist dazu mit Blick auf die europarechtliche Materie zu sagen, dass es hier eine traditionelle kirchlich-staatliche Kooperation nicht gibt, die es zu bewahren gälte. Die Materie befindet sich gerade erst in der inhaltlichen Ausgestaltung. Dabei können nationale Erfahrungen und Modelle herangezogen werden, und es ist legitim, in diesen Prozess die Vorzüge des deutschen Modells unter der „Marke Staatskirchenrecht“ einbringen, wenn eine „Trennungsideologie“ vermieden werden soll. Doch die Debatte um die zukünftige Konzeption der unionsrechtlichen Materie sollte nicht durch die Verwendung eines mit deutschen Inhalten besetzten Begriffes verkürzt werden. Folgt man der Prämisse, dass das Wesen der Materie den Begriff bestimmen sollte, bietet sich der Terminus „Religionsrecht“ an: er trifft das Wesen der Materie und ist offen genug, um die künftigen Entwicklungen aufzunehmen. Demnach ist der Begriff „Religionsrecht (der Europäischen Union)“ geeignet, um die zu untersuchende Rechtsmaterie zu beschreiben und für die Zwecke der folgenden Analyse zu erfassen144. 140 Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 216; Hollerbach, KuR 1997, S. 1, m. w. N. 141 So verweist Hense, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 21, darauf, dass der Begriff Religionsrecht 1768 von Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayer in Anmerkungen über den Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, Fünfter Teil, 20. Cap („Von dem Religionsrecht“) verwendet wird. 142 Mikat, HdbStKirchR, Bd. 1, 1. Aufl., S. 107; Häberle, DÖV 1976, S. 73, 75. 143 Hollerbach, KuR 1997, S. 1; Walter, Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht, S. 217 f. 144 I. E. so auch Vachek, S. 19.
C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der Europäischen Union Die Europäische Union verfügt über einen Bestand von Grundrechten als Teil ihrer autonomen Rechtsordnung. Zu diesen Grundrechten gehört die Religionsfreiheit. Die als ungeschriebenes Grundrecht existierende Religionsfreiheit wurde vom Grundrechtekonvent in der rechtsunverbindlichen Europäischen Grundrechtecharta „sichtbar“ gemacht und ist mit der EGRC in den Europäischen Verfassungsvertrag aufgenommen worden. Jedoch ist sie sowohl als ungeschriebenes Grundrecht gemäß Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 II EMRK wie auch nach In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages – dort als Art. II-70 I VVE – verbindliches Recht der Europäischen Union. Da der Grundrechtekonvent und der Verfassungskonvent das Grundrecht der Religionsfreiheit inhaltlich nicht geändert haben, ist eine gesonderte Untersuchung der Religionsfreiheit vor und nach dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages nicht erforderlich. Die folgende Untersuchung wählt daher die Religionsfreiheit in der „sichtbar“ gemachten Form des Art. 10 I EGRC zum Gegenstand der Darstellung. Damit wird das Untersuchungsobjekt sowohl unter EUV/EGV als auch unter dem VVE abgedeckt. Wo sich aus der Aufnahme der Religionsfreiheit in das geschriebene verbindliche Recht der Europäischen Union Unterschiede zur Rechtslage unter dem EUV/EGV ergeben können, wird in der Untersuchung an der jeweiligen Stelle darauf eingegangen. Der folgende Abschnitt untersucht zunächst die Entwicklung der Religionsfreiheit als Grundrecht der EU. Er analysiert sodann die unionsrechtliche Religionsfreiheit als Individualgrundrecht. Daraufhin wird eingehend untersucht, ob die unionsrechtliche Religionsfreiheit eine korporative Dimension aufweist und welchen Umfang diese hat. Als Sonderfall der korporativen Religionsfreiheit wird Existenz und Umfang eines Selbstbestimmungsrechtes analysiert. Abschließend wird das Verhältnis des in diesen Facetten herausgearbeiteten Grundrechtes zu den unionsrechtlichen Grundfreiheiten analysiert und die Problematik der Drittwirkung des Grundrechts geprüft.
I. Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der EU
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I. Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der EU 1. Die historische Entwicklung im Überblick Geschichtlich hat sich die Grundrechtsgewährleistung im EU-Recht positiv entwickelt, auch wenn der Europäische Gerichtshof nicht auf einen ausformulierten Grundrechtskatalog zurückgreifen konnte. Anfangs weigerte sich der EuGH, gegenüber Rechtsakten der EG Grundrechtsschutz zu gewähren. Er hielt die Grundrechte für nationales Verfassungsrecht der Mitgliedsstaaten und sah sich nicht ermächtigt, nationales Recht zu prüfen1, 2. Supranationale Grundrechte als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts wurden anfänglich nicht in Betracht gezogen, da die Verträge von Rom noch eher in völkerrechtlichen Kategorien begriffen wurden. Die so verstandenen Römischen Verträge konnten daher wegen des völkerrechtlichen Grundsatzes der Mediatisierung der Person nicht dem einzelnen Bürger unmittelbare Freiheits- oder Gleichheitsrechte vermitteln3. Dieser Situation wurde in den 1960er Jahren abgeholfen, als man dazu überging, wegen der fortschreitenden Integration in den EG-Verträgen nicht reines Völkerrecht zu sehen, sondern in ihnen eine Rechtsordnung sui generis erkannte, die zwischen der völkerrechtlichen und nationalstaatlichen Ebene angesiedelt ist und durchaus unmittelbare Wirkung für den einzelnen Bürger entfalten kann4. Im Jahre 1969 stellte der EuGH fest, dass die Grundrechte der Person zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung gehören (Entscheidung Stauder5). Diese Aussage wurde aber nur als obiter dictum gegen Ende der Entscheidung getroffen; es wurde auch nicht näher erläutert, wie dieses Ergebnis normativ hergeleitet worden war. Ein Jahr später berief sich der EuGH dann zur Konkretisierung der neuen Grundrechtsrechtsprechung erstmalig auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten6; und er erweiterte die Herleitungsgrundlagen der Grundrechte im Jahre 1974 auf die internationalen Verträge der Mitgliedsstaaten über den Schutz der Menschenrechte7, womit in erster Linie die 1 EuGH, Rs. 1/58, Slg. 1958/59, S. 43, 64 (Stork ./. Hohe Behörde der EGKS); verb. Rs. 37/58, 36/59, 38/59, 40/59, Slg. 1960, S. 885, 921 (Ruhrkohlenverkaufsgesellschaft ./. Hohe Behörde der EGKS); EuGH, Rs. 40/64, Slg. 1965, S. 312 (Sgarlata). 2 Diese Ansicht wurde auch in der deutschen Literatur jener Zeit häufig vertreten, vgl. bei Pernice, Grundrechtsgehalte S. 212 ff.; ebenso: BVerfGE 37, 271, 279 ff. 3 Ipsen, Völkerrecht, § 7, Rn. 1 ff.; Kluth, AöR 122 (1997), S. 568. 4 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 ff. (van Gend & Loos); EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, S. 1251 ff. (Costa/ENEL). 5 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7 (Stauder ./. Ulm). 6 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
EMRK gemeint ist, die alle damaligen EG-Mitglieder ratifiziert hatten. Damit waren die beiden Rechtserkenntnisquellen gefunden, auf die sich auch noch der Vertrag von Nizza in Art. 6 II bezieht. Im Vertrag von Nizza enthält Art. 6 I EUV die Formulierung, dass die Union auf rechtsstaatlichen Grundsätzen, unter anderem auf der Achtung der Menschenrechte, beruht. Art. 6 II EUV schreibt fest, dass die Union die Grundrechte achtet, wie sie in der EMRK gewährleistet werden, und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die dogmatische Bedeutung der Rechtserkenntnisquellen blieb ungeklärt. Vertreten wurden Ansichten, die von einer unmittelbaren Geltung der EMRK8, einer wenigstens faktischen Bindung9 oder einer Bindung durch Sukzession der EU an die Stelle der Mitgliedsstaaten in den Bereichen der übertragenen Kompetenzen10 ausgingen, bis zur deutlich zurückhaltenderen Formulierung der „Berücksichtigung der leitenden Grundsätze der Konvention im Rahmen des Gemeinschaftsrechts“11. Auch das Verhältnis der Rechtserkenntnisquellen zueinander konnte nicht endgültig ermittelt werden. Hier wurde meistens die prinzipielle Gleichrangigkeit angenommen12. Praktisch wurde jedoch wegen der leichteren Handhabbarkeit vorwiegend auf die EMRK rekurriert, während der echte Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen wohl eher dann erfolgte, wenn die EMRK ein Grundrecht nicht enthielt, z. B. die Berufsfreiheit13. Die charakteristische Kürze der EuGH-Entscheidungen auch im Grundrechtsbereich lässt jedoch einen Rückschluss auf die tatsächliche Gewichtung der Erkenntnisquellen oftmals nicht zu14. Die Europäische Grundrechtecharta steht in der Fortentwicklung dieses Ansatzes, insbesondere der gemeinsamen Verfassungstraditionen, da sie als das auf die Strukturen des Gemeinschaftsrechts zugeschnittene Konzentrat der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten begriffen werden kann15. Gleichzeitig schließt sie sich eng an die EMRK an, übernimmt sie 7
EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 (Nold ./. Kommission). Kugelmann, S. 51. 9 Winkler, EuGRZ 2001, 23 ff.; Kühling, EuGRZ 1997, S. 297. 10 Pescatore, in: FS Wiarda, S. 45 f. 11 EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, S. 1651, Rn.18 (Johnston ./. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary). 12 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 40; Rengeling, in: FS Rauschning, S. 225, 232; EuGH, verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, S. 2859, 2923 (Hoechst). 13 EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 17 (Hauer ./. Land RheinlandPfalz); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 34. 14 Kritisch zum Mangel an „Methodentransparenz“ Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 384. 15 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 40b. 8
I. Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der EU
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teilweise sogar wörtlich und schlägt somit eine Brücke zwischen den beiden Erkenntnisquellen des Art. 6 II EU-Vertrag. Der Europäische Rat von Nizza proklamierte die Charta der Grundrechte der Europäischen Union am 7. Dezember 200016. Diese erlangte bislang keine rechtliche Verbindlichkeit. Doch auch ohne Rechtsverbindlichkeit besitzt die EGRC Rechtserheblichkeit17, da der EuGH in jüngerer Zeit argumentativ auf sie rekurriert. Der Konvent zur Zukunft Europas, der vom Europäischen Rat von Nizza mit der Erarbeitung eines Entwurfs eines Europäischen Verfassungsvertrages beauftragt war, hat die Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Teil II in den Entwurf des Verfassungsvertrages aufgenommen. Damit erlangt die EGRC mit dem In-Kraft-Treten des VVE die Rechtsverbindlichkeit. 2. Der Geltungsgrund und die formale Stellung der Grundrechte im Gemeinschaftsrecht In der Gemeinschaftsrechtsordnung ist lange unklar geblieben, warum die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte geltendes Recht seien. Die oben genannten Entscheidungen des EuGH, die den Grundrechtsschutz durch Gemeinschaftsgrundrechte eingeführten, haben die Frage nach dem Grund der Geltung von Grundrechten in der autonomen Rechtsordnung der EU vermieden. Sie und alle weiteren Urteile des EuGH postulieren bloß, dass die Grundrechte der Person in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung enthalten seien. Die Aussage in der Rechtssache Internationale Handelsgesellschaft, die Grundrechte auf Gemeinschaftsebene seien von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen getragen18, bietet keine zufrieden stellende Antwort, weil sie nicht erklärt, wieso ein gewisser gemeinsamer Bestand nationaler Grundrechtsverbürgungen in einer übergeordneten, autonomen Rechtsordnung gelten solle. Wenn man dies aber unterstellt, bleibt andererseits unklar, wieso sich dieser geltende Bestand dann in Struktur und Zielen dem Gemeinschaftsrecht anpassen müsste, was das genannte Urteil ebenfalls fordert. In der späteren Rechtssprechung wurde die Frage nicht wieder aufgegriffen, weil der EuGH kurzerhand dazu überging, sich auf seine eigene Rechtssprechung zu berufen. Eine dogmatisch zufrieden stellende Antwort hat er somit nie entwickelt. Eine dogmatisch begründete Lösung ist aber geboten, wenn man die Geltung der Grundrechte, ihr systematisches Verhältnis zu anderen Normen des 16
ABl. 2000 C 364, S. 1. Robbers, in: FS Maurer, S. 425. 18 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide). 17
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Gemeinschaftsrechts und ihr Gewicht in Abwägungen zutreffend beurteilen will. Dies gilt besonders für ein Grundrecht wie die Religionsfreiheit, das durch eine gewisse Weichheit und Konturenlosigkeit gekennzeichnet ist und daher hinter den „harten“, eher fassbaren wirtschaftlichen Grundrechten und -freiheiten zurückzufallen droht. In der Zeit vor Art. 6 EUV sind in der Literatur verschiedene Meinungen zum Geltungsgrund der Gemeinschaftsgrundrechte vertreten worden. Zunächst wurde darauf hingewiesen, die Anerkennung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte beruhe auf dem Richterrecht des EuGH19. Dies bietet jedoch noch keine Erklärung für die der Anerkennung vorgelagerte Frage, warum die Grundrechte gelten, deren Geltung anerkannt wird. Daher wurde vertreten, die Grundrechte seien seit jeher inhärenter Bestandteil des EG-Rechts20. Eine greifbare Klärung über den Geltungsgrund auch für die ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte ergab sich erst mit der Aufnahme des Art. F II in den EU-Vertrag von Maastricht (jetzt Art. 6 II EUV), der gebietet, dass die Union die Grundrechte gemäß der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen achte. Hiermit ist eine Verankerung im Primärrecht der Union geschaffen worden. Was die formale Stellung der Grundrechte anbelangt, ist demnach seit Maastricht klar, dass diese auf der obersten Ebene des Gemeinschaftsrechts rangieren. Die Grundrechte stehen damit formal auf der gleichen Stufe wie die Grundfreiheiten. Allerdings werden die Grundrechte im EU-Vertrag „geachtet“. Dies könnte eine Einschränkung der Geltung nahe legen, wenn das Wort „Achten“ eine weiche Formulierung sein sollte, die den Geltungsanspruch der Grundrechte im Vergleich zu möglichen Formulierungen wie „Die EU erkennt die Grundrechte an [. . .]“ oder „Die Grundrechte binden die EU“ reduziert. Werden Grundrechte „nur“ geachtet, so dürfen sie zwar nicht missachtet werden, aber könnten in einem konkreten Konfliktfall in einer Abwägung leichter hinter konfligierenden Rechten zurücktreten. Somit besteht die Gefahr, dass in Abwägungen das Grundrecht der Religionsfreiheit deswegen als nachrangig aufgefasst wird, weil das Erfordernis des Achtens als ein relativ geringes Geltungsgebot gegenüber den konkreten Grundfreiheiten ausgelegt wird. Das In-Kraft-Treten der EGRC im VVE wird diese Unklarheit beseitigen. Die Grundrechte der Charta einschließlich der Religionsfreiheit werden sichtbar als geltende Grundrechte in das Primärrecht aufgenommen. Gemäß Art. I-9 I VVE erkennt die Union die Rechte an, die in der EGRC als dem 19
Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 13, Rn. 7; Kugelmann, S. 22; Kokott, AöR 121 (1996), S. 602. 20 Pernice, NJW 1990, S. 2410 f.; zu Herleitungsmöglichkeiten der Grundrechte aus dem EGV vgl. vor allem Bleckmann, EuGRZ 1981, S. 257 ff.
I. Grundlagen des Grundrechtsschutzes in der EU
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Teil II der Verfassung enthalten sind. Die verbindliche Aufnahme der EGRC in den Verfassungsvertrag bedeutet daher mehr als eine Kodifizierung bereits geltenden Rechts, weil die formale Stellung der Grundrechte über die vorherige Vertragslage hinaus dadurch geklärt und aufgewertet wird, dass diese Rechte nicht mehr bloß „geachtet“, sondern als Rechte anerkannt werden. Deswegen bedeutet die rechtsverbindliche EGRC eine Verbesserung der Stellung der Religionsfreiheit im Kontext des Gemeinschaftsrechts. Dies dürfte sich in Konfliktfällen in den erforderlichen Abwägungen auswirken. 3. Die Gewichtung des Grundrechtsschutzes in der Rechtssprechung des EuGH Der Grundrechtsschutz, den der EuGH gewährt, erscheint in Rechtssprechung und Literatur in einem zwiefältigen Lichte. Einerseits wird dem EuGH bescheinigt, den Grundrechtsschutz im Gemeinschaftsrecht erfunden und vorangetrieben zu haben. Das deutsche Bundesverfassungsgericht stellte sogar fest, der EuGH habe im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften einen Grundrechtsschutz geschaffen, der dem des deutschen Grundgesetzes im Wesentlichen gleich zu achten sei21. Andererseits wird dem EuGH immer wieder vorgeworfen, seine Grundrechtssprechung sei konturenlos, dogmatisch unterentwickelt und auf eine bloße Wesensgehalts-, Evidenz- und Verhältnismäßigkeitsprüfung reduziert22. Die Gründe für diese auf den ersten Blick paradoxen Bewertungen analysiert überzeugend Schindler23. Er belegt, dass der EuGH die Grundrechte dann sorgfältig entwickelt und ausführlich prüft, wenn sie als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten wirken und die Ausnahmen zu den Grundfreiheiten begrenzen. Oberflächlich bleibt die Grundrechtsprüfung jedoch, wenn die Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten wirken. Im ersten Falle, wenn die Grundrechte als Schranken-Schranke auftreten, wirken sie als Verstärkung der Grundfreiheiten, da sie dann den Kernbereich der Grundfreiheiten definieren, in den die (nationalen) Ausnahmeregelungen nicht eingreifen dürfen. Die Rechte der Mitgliedsstaaten, über nationale Ausnahmeregelungen die Grundfreiheiten zu beschränken24 und die integrationsfördernden Wir21
BVerfGE 73, S. 339, 383 ff. („Solange II“). Vgl. nur Kokott, AöR 121 (1996), S. 638; von Bogdandy, CMLRev 37 (2000), S. 133 f.; Schindler, S. 121 ff.; Gramlich, DÖV 1996, S. 804 ff.; Nettesheim, EuZW 1995, S. 106; an Hand eines konkreten Beispiels: Everling, CMLRev 33 (1996), S. 413 ff. 23 Schindler, S. 125 ff. 24 Aus der Perspektive der Bindung der Mitgliedsstaaten an EU-Grundrechte auch „Einschränkungskonstellation“ genannt, Scheuing, EuR 2005, S. 163 f. 22
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
kungen zu hemmen, werden beschränkt. Die Grundrechte haben dann also eine Binnenmarkt fördernde, integrationsfreundliche Wirkung. Dies lässt sich insbesondere zeigen an den Urteilen Nold25, Hauer26, Rutili27, ERT28 und Familiapress29, die jeweils ausführliche Erwägungen zu den Grundrechten als Schranken-Schranken enthalten. Wirken Gemeinschaftsgrundrechte dagegen als Beschränkungen der Grundfreiheiten, so begnügt sich der EuGH mit einer reduzierten Prüfung; wie in jüngerer Zeit die Urteile SMW30, Bosman31, Erdbeerstreit32 und Deliège33 zeigen. Die Urteilsgründe in der Rechtssache SMW beschränken den Maßstab der Prüfung kollidierender Grundrechte auf „offensichtlich unverhältnismäßige“ Grundrechtseingriffe. In der Rechtssache Bosman wird lediglich festgestellt, dass die strittige Transferregel nicht erforderlich sei für die Vereinigungsfreiheit. Diese Beispiele aus der Rechtssprechung zeigen, dass der Grundrechtsschutz, den der EuGH hier gewährt, noch unterentwickelt ist. Eine bloße Verhältnismäßigkeitsprüfung sagt nichts darüber aus, wie weit der Schutzbereich eines Grundrechts geht. Eine Evidenzprüfung geht am Kern der Sache vorbei, da die fehlende Offensichtlichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht bedeutet, dass keine Verletzung vorliegt. Schindler konstatiert daher eine Schieflage bei der Berücksichtigung der Grundrechte in der Rechtssprechung des EuGH je nach ihrer Funktion34: einer ausgereiften Prüfung der Grundrechte als Schranken-Schranken steht eine unterentwickelte Prüfung als Schranken gegenüber. Dies ist zum einen auf die weiche Formulierung in Art. 6 II EUV zurückzuführen, dass die Union die Grundrechte „achtet“. Diese Formulierung kann, wie soeben dargelegt, zu einer Untergewichtung der Grundrechte im konkreten Einzelfall führen. Dessen ungeachtet ist aber nicht die formale Stellung der Grundrechte oder ihr materieller Gehalt problematisch, sondern der Umgang des EuGH mit ihnen. Die mitunter sehr pauschale Behandlung der Grundrechte durch den EuGH, wenn sie als Schranken der Grundfreiheiten auftreten, wird auch dem „Achtensgebot“ des Art. 6 II EUV nicht immer gerecht. Die Unterbelich25
EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491 (Nold ./. Kommission). EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 17 (Hauer ./. Land RheinlandPfalz). 27 EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, S. 1219, Rn. 26 ff. (Rutili). 28 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. 2951, Rn. 43 (ERT ./. Pliroforisis und Kouvelas). 29 EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, 3709 (Familiapress). 30 EuGH, Rs. C- 306/93, Slg. 1994, I-5061, Rn. 24 ff. (SMW ./. RheinlandPfalz). 31 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (Bosman). 32 EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6961 (Kommission ./. Frankreich). 33 EuGH, verbundene Rs. C-51/96 & C-191/97, Slg. 2000, I-2549 (Deliège). 34 Schindler, S. 126. 26
II. Die Entwicklung bis zum Verfassungsvertrag
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tung der Grundrechte in der Schrankenprüfung entspricht somit nicht der Gleichrangigkeit de jure von Grundfreiheiten und Grundrechten. Sie stellt eine an dieser Stelle unrichtige Überbetonung des Integrationsmomentes des Gemeinschaftsrechts dar. Die Prinzipien der Integrationsförderung und des Grundrechtsschutzes im EU-Recht sind seit dem Vertrag von Maastricht gleichrangig. Das Einfügen der Grundrechte in Struktur und Ziele des Vertrages kann nicht durch eine prinzipielle Zurückdrängung des Grundrechtsschutzes erfolgen, wenn dieser in Konflikt mit der Integration treten sollte, sondern durch eine Abwägung der widerstreitenden Ziele im Einzelfalle. Erst in jüngster Zeit zeigt die EuGH-Rechtssprechung nun Ansätze einer ausgewogeneren und dogmatisch ausgereifteren Behandlung der Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten (EuGH-Entscheidungen Schmidberger35, Omega36). Unter der Geltung des Verfassungsvertrages wird der EuGH seine verkürzte Behandlung der Grundrechte in der Schrankenfunktion nicht fortführen können. Entgegen der Ansicht Schindlers, der hinter der Schieflage ein strukturelles Problem der Aufgabenvermischung des EuGH sieht, dürfte sich die Schieflage nämlich verringern, wenn ein rechtsverbindlicher Grundrechtekatalog im Unionsrecht seine Wirkung entfaltet. Art I-9 I VVE formuliert erstens stärker als bisher, dass die Union die Grundrechte aus der EGRC „anerkennt“. Zweitens wird die EGRC – ganz entsprechend der Intention des Grundrechtekonvents – die Grundrechte sichtbarer machen und durch den sichtbaren Einschluss in das Primärrecht ein offensichtliches Gleichgewicht zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten herstellen, dem der EuGH in seinen Prüfungen Rechnung tragen muss37. Da Grundfreiheiten und Grundrechte im Unionsrecht gleichrangig sind, wird der EuGH nicht umhin können, im Kollisionsfalle zu einer echten Abwägungslösung zu kommen, in der er praktische Konkordanz herzustellen versuchen muss.
II. Die Entwicklung der Religionsfreiheit bis zum Verfassungsvertrag Wie oben gezeigt, ist die Existenz gemeinsamer Grundrechte im Gemeinschaftsrecht seit den EuGH-Entscheidungen „Stauder“38 und „Internationale Handelsgesellschaft“39 anerkannt. Aus dem Fehlen eines Grundrechtskatalo35
EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 ff. (Schmidberger). EuGH, Rs. C-36/02 (Omega). 37 Von daher erübrigt sich Schindlers Forderung nach einem gesonderten Verfassungsgericht der EU. Vgl. im Übrigen zur Grundrechtsentwicklung durch den EuGH unter dem VVE Scheuing, EuR 2005, S. 181 ff. 38 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rn. 7 (Stauder ./. Ulm). 36
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
ges ergab sich dann die Frage, welche Grundrechte im Einzelnen auf der Gemeinschaftsebene existieren. Für die Religionsfreiheit wurde diese Frage im Jahre 1976 relevant, als der EuGH die Rechtssache Prais40 entschied und dort die Existenz der Religionsfreiheit als Grundrecht im Gemeinschaftsrecht unterstellte. Nach dieser Einzelfallentscheidung fiel es leichter, die Existenz der EU-Religionsfreiheit auf Grund der jeweiligen Vertragslage methodisch herzuleiten. Seit dem Vertrag von Maastricht von 1992 gelang dies über Art. 6 II EU-Vertrag in Verbindung mit Art. 9 EMRK und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten. Als die EGRC im Dezember 2000 vom EU-Gipfel in Nizza feierlich proklamiert wurde, sollte sie keinen Neuanfang der Grundrechteentwicklung in der EU darstellen, sondern eine Bekräftigung und Sichtbarmachung dieser Rechtslage41 auf Grund des erreichten gemeinsamen Bestandes. Wegen dieser Fortführung des Bestandes, und weil die EGRC gerade im Kapitel II (die klassischen Freiheitsrechte) apodiktisch knapp formuliert ist, wirft die Rechtslage bezüglich der Religionsfreiheit auch unter dem Verfassungsvertrag eine Vielzahl von Fragen auf, deren Lösung auch die Betrachtung der vorherigen Rechtslage erfordert. Zudem verweist die EGRC in Art. 52 III auf die EMRK. Insofern ist die Untersuchung der bisherigen Rechtslage und der EMRK auch nach dem In-Kraft-Treten des rechtsverbindlichen Grundrechtekataloges nicht obsolet. 1. Das Urteil Prais Im Jahre 1976 äußerte sich der EuGH soweit ersichtlich zum ersten Male zu einer genuin religionsrechtlichen Problematik des Gemeinschaftsrechts42. Gegenstand des Verfahrens war die Klage einer Jüdin aus England, die am Auswahlverfahren für eine beim Ministerrat zu besetzende Stelle teilgenommen hatte und zur schriftlichen Prüfung nach Brüssel geladen worden war. Diese schriftliche Prüfung war jedoch auf einen jüdischen Feiertag angesetzt worden, an dem ihr Glaube der Bewerberin verbot, zu reisen und zu schreiben. Die Bewerberin beantragte daraufhin, ihren Prüfungstermin zu verlegen. Diese Bitte wurde abgewiesen, da der Rat darauf bestand, dass 39
EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide). 40 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat). 41 EGRC, Präambel. 42 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat); die Rechtssache ist in der deutschsprachigen Literatur vielfach dargestellt und erörtert worden, vgl. vor allem Pernice, JZ 1977, S. 777 ff.; aus neuerer Zeit: Bausback, EuR 2000, S. 261, 269; Conring, S. 377; Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 188 f.
II. Die Entwicklung bis zum Verfassungsvertrag
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alle Kandidaten die Prüfung am selben Tage am selben Ort absolvierten. Im Verfahren begründeten beide Parteien ihre Ansichten mit Art. 27 II des Beamtenstatuts der EG, der eine Diskriminierung aus religiösen Gründen verbietet. Beide legten die Vorschrift aber unterschiedlich aus. Die Klägerin war der Ansicht, das Diskriminierungsverbot enthalte die Verpflichtung des Rates, das Auswahlverfahren so zu gestalten, dass alle Bewerber teilnehmen können, ohne dass einzelne in Konflikt mit ihren Glaubensvorschriften geraten und dadurch gegenüber anderen benachteiligt seien. Der Rat fasste Art. 27 II dahingehend auf, dass er die Religionszugehörigkeit der Bewerber in keiner Weise zu beachten bzw. sogar zu ignorieren habe. Im Grunde standen sich hier eine Auslegung der Vorschrift als formales Differenzierungsverbot (seitens des Rates) und als materielles Gleichbehandlungsgebot (seitens der Klägerin) gegenüber43. Das Urteil des EuGH zeichnet sich durch eine knappe und pragmatische Lösung aus. Das Gericht wägt die unterschiedlichen Interessen ab und folgt einem Mittelweg. Das Beamtenstatut verpflichte den Rat, alle sachgerechten Maßnahmen zu treffen, um religiöse Konflikte der Bewerber zu vermeiden. Andererseits sei er nicht gehalten, von sich aus potentielle Konflikte zu ermitteln; daher bestehe ein Anspruch auf solche Maßnahmen nur, wenn ein Bewerber rechtzeitig auf den Konflikt aufmerksam mache. Es sei lediglich wünschenswert, dass der Rat sich aus eigenem Antriebe über problematische Prüfungstermine informiert und sie zu vermeiden sucht. Dieses Urteil ließ erstmals gewisse Strukturen des Grundrechts der Religionsfreiheit im gemeinschaftsrechtlichen Kontext erkennen44. Die vom Gericht offen gelassenen dogmatischen und methodischen Fragen sind dennoch erheblich. Bemerkenswerterweise beinhaltet die Entscheidung gar nicht die ausdrückliche Aussage, dass ein gemeinschaftsrechtliches Grundrecht der Religionsfreiheit existiere. In Anbetracht der Bedeutung der Sache hätte man durchaus eine Aussage in einem der Urteilsleitsätze erwarten dürfen. Zu dem Ergebnis, der EuGH habe in der Rechtssache Prais die Religionsfreiheit in den Kanon der Gemeinschaftsgrundrechte erhoben45, gelangt man nur durch eine Interpretation der Urteilsgründe. Diese Interpretation ist aber überzeugend und zwangsläufig. Sie wird erstens gestützt durch die (hermeneutische) Betrachtung der Aussagen der Interessensabwägung im Urteil. Eine Interessensabwägung, die von einem Anspruch des Klägers auf alle sachgerechten Maßnahmen zur Vermeidung religiöser Konflikte ausgeht, muss auf der Annahme basieren, diesem Kläger stehe ein hochstehendes (d.h. im Primärrecht angesiedeltes) Recht auf behördlichen Respekt sei43 44 45
Pernice, JZ 1977, S. 77 f. Robbers, EssGespr. 27 (1992), S. 84. Bausback, EuR 2000, S. 269; Robbers, in: Robbers (Hrsg.), S. 356.
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ner religiösen Überzeugungen zu. Dies kann aber nur ein Ausfluss der Religionsfreiheit sein. Daraus muss man schließen, dass der EuGH von einem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht der Religionsfreiheit ausgeht und dies seiner Interessensabwägung zu Grunde gelegt hat. Ferner fügt sich die Entscheidung auch ein in die zu beobachtende Tendenz der behutsamen Fortentwicklung der Grundrechtsjudikatur durch den EuGH; eine „Politik“, die den sensiblen Integrationsprozess verschiedener Mitgliedstaaten zu schützen versucht, indem sie „Paukenschläge“ der Rechtssprechung soweit als möglich vermeidet, und möglicherweise deshalb die oben angedeutete „Leitsatzlösung“ umgeht. (Eine leitsätzliche Anerkennung der Religionsfreiheit, die in dem Fall sachlich durchaus denkbar gewesen wäre, hätte beispielsweise gerade in den Mitgliedsstaaten mit Staatskirche für erhebliche Diskussion und Verunsicherung führen können.) Naheliegend und nachvollziehbar ist die Interpretation auch deswegen, weil der EuGH seine Grundrechtssprechung aus den Quellen der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten nährt und richtigerweise davon ausgehen muss, dass alle diese Quellen die Existenz des Grundrechts der Religionsfreiheit bejahen. Daraus ergibt die überzeugende Schlussfolgerung, dass der EuGH im Urteil Prais die Existenz des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts der Religionsfreiheit bejaht hat. Da das Urteil aber darauf verzichtet, die dogmatischen Grundlagen der Interessensabwägung und die Methoden der Herleitung zu nennen, lassen sich ihm kaum Aussagen zu Detailfragen entnehmen. Aufschlussreich ist auch die Reaktion und Kommentierung, die das Urteil erfahren hat, insbesondere in Deutschland. Dort wurde es allenthalben begrüßt. So formulierte Pernice: „So sehr es [im Urteil] an einer dogmatischen Herleitung fehlen mag, so weitreichend sind doch die Perspektiven, die dieses Urteil [. . .] für die Entwicklung eines „Religionsrechts“ in der EG aufzeigt“46. Diese Reaktion deutet auf eine bestimmte Erwartungshaltung der deutschen Religionsrechtslehre an die EG. Dies wiederum zeigt, dass das zunächst so EU-fern erscheinende Thema durchaus das Potential hat, erhebliche Empfindungen in den Mitgliedsstaaten auszulösen. Das lässt die oben festgestellte Zurückhaltung des EuGH in der Formulierung dieser zunächst unkontrovers anmutenden Rechtssache angebracht erscheinen. Möglicherweise auch aus diesen Erwägungen hat der EuGH in anderen Entscheidungen, die sich durch potentiellen Religionsbezug auszeichneten, eine Lösung unter ausdrücklicher Berufung auf die Religionsfreiheit vermieden47 und sich auf weniger kontroverse Ansatzpunkte wie das Verhältnis 46 47
Pernice, JZ 1977, S. 777, 778. Muckel, DÖV 2005, S. 193.
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von Freizügigkeit und öffentlicher Ordnung48 oder die Nichtbeeinträchtigung des grenzüberschreitenden Handels durch Sonntagsruhe49 beschränkt, obwohl durch diese Beschränkungen möglicherweise berechtigte religionsrechtliche Aspekte der Rechtssachen ausgeblendet worden sind. Dies hat dazu geführt, dass das Urteil Prais bislang singulär geblieben ist. 2. Art. 6 II EU-Vertrag i. V. m. Art. 9 EMRK Art. F II des EU-Vertrages von Maastricht (jetzt Art. 6 II EUV in der Fassung des Vertrages von Nizza) führte 1992 über die Rechtserkenntnisquellen der EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten auch die Religionsfreiheit in das EU-Recht ein. Mit dem „Konventionsgrundrecht“ der Religionsfreiheit nahm die EU Bezug auf eine Norm, die in ihrem Ursprungsrechtskreis mehrfach Gegenstand von Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bzw. der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) war50 und auch wissenschaftlicher Untersuchung51 unterzogen worden ist. Die dort gewonnenen Erkenntnisse sind wertvolle Erkenntnisquellen für die Gemeinschaftsrechtslage. Sie konnten und können – mutatis mutandis – zur Klärung gemeinschaftsrechtlicher Fragen herangezogen werden. Dabei ist im Einzelfalle zu prüfen, inwieweit eine Heranziehung der Erkenntnisse aus dem Rechtskreis der EMRK für das Umfeld des Unionsrechts tragfähig ist. Hier ist etwa zu bedenken, ob die unterschiedliche Entstehung und der verschiedenartige Hintergrund der relevanten Bestimmungen sich auf die historische, systematische und teleologische Auslegung auswirken. Hierauf wird im Einzelnen bei der Untersuchung zu Art. 10 I EGRC zurückzukommen sein52.
48
EuGH, Rs. 41/1974, Slg. 1974, 1337 ff. (Van Duyn ./. Home Office). EuGH, Rs. C-145/88, Slg. 1988, S. I-3851 ff. (Torfaen Borough Council et al. ./. B&Q Plc.). 50 Vgl. Nachweise bei Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9; Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 65 ff. 51 Vgl. in der deutschsprachigen Literatur vor allem Blum, Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention, Berlin 1990, m. w. N.; Conring, Korporative Religionsfreiheit in Europa, zugleich ein Beitrag zu Art. 9 EMRK, Frankfurt a. M. 1998; Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union im Spannungsfeld zwischen mitgliedsstaatlichen Kompetenzreservaten und Art. 9 EMRK, Frankfurt a. M. 2000; Evans, Freedom of Religion under the European Convention on Human Rights, Oxford 2001. 52 s. u. Kap. C.III. 49
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3. Religionsfreiheit als Ergebnis der Herleitung aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten Die zweite Rechtserkenntnisquelle des Art. 6 II EU-Vertrag steht nicht nur vor den allgemeinen Schwierigkeiten, die sich stellen, wenn die Verfassungen von fünfzehn Mitgliedsstaaten und die dazugehörigen Auslegungen miteinander verglichen werden müssen. Bei der Religionsfreiheit kommt hinzu, dass das Verständnis dieses Grundrechts in den einzelnen Mitgliedsstaaten in besonderer Weise von landesspezifischen historischen Entwicklungen abhängig ist53. Wegen des hohen Aufwandes, den eine methodisch korrekte und vollständige rechtsvergleichende Vorgehensweise in diesem Zusammenhang erforderte, kann davon ausgegangen werden, dass diese Rechtserkenntnisquelle im Verhältnis zu Art. 9 EMRK in der Praxis subsidiär geblieben wäre – auch wenn man von formellem Gleichrang der Rechtserkenntnisquellen des Art. 6 II EU-Vertrages ausgeht54. Dies gilt umso mehr, als der zusätzliche Erkenntnisgewinn einer solchen rechtsvergleichenden Untersuchung für die gemeinschaftsrechtliche Perspektive begrenzt bleiben muss, da bereits Art. 9 EMRK und die Grundzüge der nationalen Gewährleistungen der Religionsfreiheit in Europa auf einer wechselwirksamen Entwicklung beruhen, in der einerseits Art. 9 EMRK das Ergebnis einer Auswertung des nationalen europäischen Verfassungsbestandes ist, andererseits die nationalen Verfassungsüberlieferungen inzwischen wiederum durch die EMRK und die zugehörige Rechtssprechung geprägt sein dürften55. Dennoch ist es unverzichtbar, die nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme bei der Untersuchung eines europäischen Grundrechts der Religionsfreiheit im Blick zu behalten. Die Verfassungsüberlieferungen der Religionsfreiheit sind von den jeweiligen religionsrechtlichen Systemen beeinflusst. So verbergen sich hinter der formellen Existenz der Religionsfreiheit national unterschiedliche Inhalte in Abhängigkeit vom jeweiligen religionsrechtlichen System. In einem System mit Staatskirche muss zunächst fraglich sein, ob die Religionsfreiheit als korporatives Grundrecht bekannt ist, da es widersprüchlich erscheint, einer Kirche, die Teil des Staates ist, ein Abwehrrecht gegen diesen zukommen zu lassen. In einem System der Trennung von Kirche und Staat ist es denkbar, dass den Religionsgemeinschaften die kollektive oder korporative Religionsfreiheit zuerkannt wird. Anders kann die Lage jedoch wiederum sein, wenn der Staat die Anerkennung von Religionsgemeinschaften generell verweigert und das Gebot der Trennung 53
Blum, S. 44. So etwa Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 288; Ress/Ukrow, EuZW 1990, S. 501 (str.). 55 Mückl, Religionsfreiheit, S. 54. 54
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als bewusste „Religionsblindheit“ interpretiert. Auch dann ist eine korporative Religionsfreiheit fraglich, da religiöse Vereinigungen als solche nicht wahrgenommen würden und sich auf eine allgemeine Vereinigungsfreiheit zurückziehen müssten56. So dürfte der besondere Wert der Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Religionsfreiheit in erster Linie darin liegen, den Blick des gemeinschaftsrechtlichen Beobachters dafür zu schärfen, dass die Religionsfreiheit aus europaweiter Perspektive über einen einheitlichen Kern verfügt, aber in besonderer Weise auch unter Berücksichtigung unterschiedlicher national-historischer Systeme interpretiert werden muss. In anderen Worten, die Auslegung des europäischen Grundrechts der Religionsfreiheit darf nicht dadurch verkürzt werden, dass sie auf eine hermeneutische Betrachtung des Art. 9 EMRK oder Art. 10 I EGRC reduziert wird. Damit ist nicht gesagt, dass Art. 9 EMRK oder Art. 10 I EGRC nicht den europaweit bzw. EU-weit gültigen Grundrechtsbestand enthalten, oder dass nationale Besonderheiten gegen ein einheitliches Konzept der Religionsfreiheit auf Gemeinschaftsebene sprechen. Es bedeutet vielmehr, dass bei der Religionsfreiheit ganz besonders die Tatsache beachtet werden muss, dass unterschiedliche national-historische Hintergründe und Verständnisse das Konzept des gemeinsamen Grundrechts auf EU-Ebene beeinflussen. Diese tragen einerseits zum Verständnis des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechts bei; andererseits drohen sie es auch zu verdunkeln, wenn sie nämlich nicht als nationale Besonderheiten erkannt werden und als solche fälschlicherweise auf die europäische Ebene empor gehoben werden. Um dieser Gefahr bei Auslegung und Anwendung des Grundrechts zu begegnen, ist es wichtig, die unterschiedlichen Traditionen der Religionsfreiheit im Blick zu behalten. Darauf weist auch die Präambel und Art. 54 IV EGRC sowie die Erläuterungen des Präsidiums des Grundrechtekonventes zu Art. 54 IV EGRC hin. Die Charta-Rechte sollen nicht dem kleinsten ge56
A. A. Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 206 f. und Mückl, Religionsfreiheit, S. 51, der im Trennungssystem den Bedarf für ein Selbstbestimmungsrecht bezweifelt, da staatliche Ingerenz systembedingt ausgeschlossen sei. Mag auch im Trennungssystem im Prinzip eine Separation der zugewiesenen Bereiche herrschen, so folgt daraus m. E. nicht zwingend, dass eine Religionsgemeinschaft eine justiziable Rechtsposition innehat, auf Grund derer sie sich gegen Übergriffe des Staates in den Bereich ihrer inneren Angelegenheiten verteidigen kann. Die prinzipielle Anerkennung der unterschiedlichen Sphären verhindert nicht den Streit darüber, welcher Sphäre bestimmte Materien zugewiesen werden. Um diesen Streit auszutragen, muss sich eine Religionsgemeinschaft entweder auf ein ihr zuerkanntes (eben nicht selbstverständliches) Selbstbestimmungsrecht berufen, oder sie muss sich auf allgemeine (nicht religionsspezifische) Grundsätze zurückziehen. Dies beeinflusst im Endeffekt die Frage, ob die Sphäre der Religionsgemeinschaft als genuin religiös erkannt wird, oder nur als staatsfern, wie etwa der innere Bereich eines weltlichen Vereins.
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meinsamen Nenner der Mitgliedsstaaten folgen, aber auch nicht von den gemeinsamen Überlieferungen abgekoppelt werden. Sie sind so auszulegen, dass sie ein hohes Schutzniveau bieten, das im Einklang mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen steht. a) Die Lehre von den drei Systemen in Europa Die hergebrachte Erkenntnis der vergleichenden Staatskirchenrechtslehre geht von der Existenz dreier Systemtypen des Staatskirchenrechts in den europäischen Nationalstaaten aus. Dieses Phänomen ist mehrfach untersucht worden57 und soll hier nur so kurz wie erforderlich ausgeführt werden. Kurze Länderbeispiele verdeutlichen Eigenschaften des jeweiligen Systems, ohne allgemeine Gültigkeit zu beanspruchen. Typ 1 trägt Züge des Staatskirchentums. Es findet sich heute in Dänemark, Finnland, England und Griechenland. In diesen Ländern besteht eine institutionelle Beziehung zwischen dem verfassten Staat und einer verfassten Kirche. Staatliche Organe sind gleichzeitig kirchliche Organe, oder sie üben Entscheidungsbefugnisse über die Angelegenheiten der Kirche aus. Sie können über Organisationshoheit und Personalhoheit verfügen. Man muss hier mit Blick auf die nationalen Unterschiede innerhalb des Typs von einer engen Verflechtung von Kirche und Staat bis hin zu einer Einheit von Staat und Staatskirche sprechen. In Dänemark etwa ist die Dänische Volkskirche dem Folketing (Parlament) und dem Minister für Kirchenangelegenheiten unterstellt; ihre Mitgliedschaft wird durch staatliches Gesetz geregelt58. In England sind Bischöfe der Anglikanischen Kirche Mitglieder des Oberhauses; das sie betreffende (kanonische) Recht ist staatliches englisches Recht; die Königin von England ist gleichzeitig Kirchenoberhaupt59. 57 Robbers, Staat und Kirche in der Europäischen Union, in: Robbers (Hrsg.), S. 352; European Consortium for Church-State Research/Consortium européen: Rapports religions-Etat – Le statut constitutionnel des cultes dans les pays de l'Union européenne – The Constitutional Status of Churches in the European Union Countries; für die Beitrittsstaaten der EU-Osterweiterung 2004: Ferrari/Durham/ Sewell (Hrsg.), Law and Religion in Post-Communist Europe, Löwen 2003; Lecheler, in: FS Leisner, S. 39, 42; Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 210; Mückl, Religionsfreiheit, S. 58; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 3 ff.; zu den unterschiedlichen Modellen der Kirchenfinanzierung vgl. Kiderlen, in: Informationes Theologiae Europae 1996, S. 171 ff. 58 Dübeck, Staat und Kirche in Dänemark, in: Robbers (Hrsg,), S. 39, 43; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 77 ff. 59 McClean, Staat und Kirche im Vereinigten Königreich, in: Robbers (Hrsg.), S. 333 ff.; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 123 ff.
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Typ 2 stellt ein striktes Trennungsmodell dar. Es existiert in Frankreich (mit Ausnahme Elsass-Lothringens), in Irland und den Niederlanden. Dieses Modell ist ebenfalls keineswegs homogen, da auch in formeller Hinsicht erhebliche Unterschiede in der Ausgestaltung der Trennung bestehen. Frankreich kennt die strikte Trennung nach dem Grundsatz der Laizität: die Trennung geht soweit, dass der Staat blind ist für jegliche religiösen Phänomene. Traditionell wird „Religion“ nicht zur Kenntnis genommen, religiöse Vereinigungen können dann a priori nicht als solche anerkannt werden. Die Entwicklung geht aber zu einer wohlwollenderen Einstellung des Staates gegenüber der Religion („positive Laizität“)60. In Irland, einem Staat mit traditionell sehr starkem katholischen Einfluss, gilt das Recht der Römisch-Katholischen Kirche als ausländisches Recht61; die Verfassung ist aber keineswegs „religionsblind“, sondern bezieht sich in der Präambel auf den „Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeit“ und enthält einen Religionsartikel. Der Staat erkennt die Existenz von Religionsgemeinschaften an, weist ihnen allen aber den Status freiwilliger Vereinigungen zu62. In den Niederlanden wird die Trennung von Kirche und Staat betont, der Staat wird aber als verpflichtet angesehen, die tatsächliche Nutzung klassischer Freiheitsrechte positiv zu gewährleisten; dies kann in Einzelfällen auch die Unterstützung von Religionsgemeinschaften bedeuten63. Typ 3 wird mit der Bezeichnung „Kooperationsmodell“ beschrieben. Ihm folgen Deutschland, Belgien, Luxemburg, Österreich, Italien, Portugal und Spanien. Dieses Modell ist gekennzeichnet durch eine grundsätzliche Trennung von Kirchen und Staat, in der beide Sphären aber in vielfältiger Weise einander anerkennen und miteinander Aufgaben wahrnehmen. So vielfältig wie Kooperation denkbar ist, sind auch ihre tatsächlichen Erscheinungsformen in diesen Ländern. Schon die exemplarischen Hinweise auf die Länderregelungen zeigen, dass die abstrakte Kategorisierung nach historischen oder verfassungsrechtlichen Merkmalen in drei Gruppen durch vielfältige praktische und einfachgesetzliche Phänomene durchbrochen wird. Im alltäglichen Funktionieren des Miteinanders von Kirche und Staat weisen Staaten, die zu verschiedenen Kategorien gehören, häufig größere Affinität zueinander auf als Staa60 Basdevant-Gaudemet, Staat und Kirche in Frankreich, in: Robbers (Hrsg.), S. 130 ff.; Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 21; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 95 ff. 61 Oberster Gerichtshof von Irland in: O’Callaghan v. O’Sullivan (1925) 1 I.R. 90. 62 Casey, Staat und Kirche in Irland, in: Robbers (Hrsg.), S. 159 ff.; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 101 ff. 63 Van Bijsterveld, Staat und Kirche in den Niederlanden, in: Robbers (Hrsg.), S. 229 ff.; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 113 ff.
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ten innerhalb derselben Gruppe. So droht die dreiteilige Typisierung zu trügerischen Schlussfolgerungen zu verleiten. Es ist bereits festgestellt worden, dass die Tripartition der europäischen Staatskirchenrechtslandschaft die formelle Analyse überhöht und die inhaltliche Ausgestaltung des Verhältnisses vernachlässigt64. Daher ist die Aussagekraft der Kategorisierung begrenzt. b) Ermittlung gemeinsamer Strukturprinzipien der Religionsfreiheit Um eine gesamteuropäisch tragfähige Grundlage für die Ermittlung gemeinschaftsrechtlicher Ansätze eines Religionsrechts zu schaffen, erscheint es erfolgversprechender, einen gemeinsamen Bestand von Regelungsmodellen für Staats-Religions-Beziehungen in den europäischen Staaten herauszuarbeiten (gemeinsame Strukturprinzipien), von diesem gemeinsamen Bestand als Grundlage auszugehen und vor diesem Hintergrund die nationalen Unterschiede als Ausdruck einer Vielfältigkeit zu behandeln. Diese Vielfalt ist bei der Auslegung europäischen Rechts zu berücksichtigen und stellt so sicher, dass nationale Besonderheiten nicht verwischt und nicht missachtet werden. In den Fällen, in denen nationale Verschiedenheiten nicht miteinander zu vereinbaren sind, zeigen sie die Grenzen des gemeinsamen Bestandes an Religionsrecht auf. Diese Herangehensweise entspricht auch der vom EU-Primärrecht vorgesehenen Dialektik von gemeinsamem Bestand und Achtung nationaler Besonderheiten. (1) Individuelle Religionsfreiheit Die Religionsfreiheit als Individualgrundrecht wird überall anerkannt und gewährleistet65. Dies umfasst die Grundsätze der Neutralität und Toleranz der Staaten gegenüber dem forum internum und dem forum externum ihrer Bürger. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen hier so signifikant von einander abweichen, dass grundsätzliche Fragen aufgeworfen würden. Dies kann auch deswegen nicht mehr in Frage stehen, da die individuelle Religionsfreiheit ein Kernbestand der gemeinsamen europäischen Grundrechtsentwicklung ist, die in der überall ratifizierten EMRK garantiert ist66. Unabhängig vom traditionellen Staats-Kirchen-Modell sind hier alle Mitgliedsstaaten durch gemeinsame homogene Verfassungsüberlieferungen verbunden67. 64 Ferrari, EJCSR 1995, S. 149; Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 210; Mückl, Religionsfreiheit, S. 58. 65 Vgl. nur Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 204 f., Mückl, Religionsfreiheit, S. 46 ff. 66 Vgl. oben Kap. B.II.; Kap. C.II.2.
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(2) Korporative Religionsfreiheit Diffuser wird das Bild im Blick auf die korporative Religionsfreiheit. Hier wirken sich die verschiedenen Staats-Kirchen-Modelle stärker aus, denn diese Modelle regeln jeweils das institutionelle Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaft. Fraglich ist also, inwieweit die korporative Dimension der Religionsausübung unter den verschiedenen Modellen gemeinsame Strukturen aufweist. Die korporative Religionsfreiheit als Institut ist durchgängig gewährleistet68. Mückl weist darauf hin, dass sie in zwei Arten gewährleistet wird: entweder durch die direkte Verbürgung als Korporationsrecht, oder als Schlussfolgerung aus der Bündelung der Rechte der individuellen Grundrechtsträger. Die korporative Religionsfreiheit findet sich auch in den Staaten mit Staatskirche. Dort wird nicht ausschließlich die Staatskirche anerkannt, sondern steht es Gläubigen anderer Anschauungen überall frei, sich zur gemeinsamen Ausübung ihres Glaubens zusammenzuschließen. Da also in diesen Staaten Kirchen und Religionsgemeinschaften neben der Staatskirche existieren und toleriert werden, kann überall auf den Grundsatz der kollektiven Religionsfreiheit geschlossen werden. Die Überlegung, dass eine Staatskirche sich als Teil des Staates nicht auf ein Grundrecht als Abwehrrecht gegen den Staat berufen kann, verliert damit bezüglich der kollektiven Religionsfreiheit ihre Relevanz. (3) Rechtspersönlichkeit Gemeinsames Strukturprinzip ist auch, dass allen Religionsgemeinschaften jeweils rechtliche Instrumente zur Verfügung gestellt werden, um als solche am Rechtsverkehr teilzunehmen. Sehr unterschiedlich ist lediglich die nationale Ausgestaltung im Detail69. Diese kann von privatrechtlichen Vereinsstrukturen zu juristischen Personen des öffentlichen Rechts reichen, von der Wahrnehmung kirchlicher Rechtsgeschäfte durch Treuhänder (in England und Irland), durch Kultus- und Diözesanvereine (in Frankreich) bis zur Zuerkennung von öffentlichem Körperschaftsstatus in Deutschland.
67
Ferrari, EJCSR 1995, S. 149, 150; Duffar, S. 1 ff. Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 20 f., Mückl, Religionsfreiheit, S. 50, mit Hinweisen auf die jeweiligen Verfassungsbestimmungen. 69 Robbers, in: Robbers (Hrsg.), S. 354. 68
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(4) Selbstbestimmungsrecht Fraglich ist, ob die Anerkennung eines Selbstbestimmungsrechts der verfassten Religionsgemeinschaften ein gemeinsames Strukturprinzip darstellt. Zunächst ist zu fragen, ob eine Autonomie der Religionsgemeinschaften zur selbstbestimmten Regelung innerer Angelegenheiten dem Grunde nach als gemeinsames Prinzip gefunden werden kann. Problematisch könnte dies in den Staaten sein, die dem Modell der Staatskirche folgen: die Staatskirche selbst wird durch den Staat verwaltet; eigene kirchliche Angelegenheiten sind damit begrifflich immer staatliche Angelegenheiten. Ein Selbstbestimmungsrecht könnte somit ausgeschlossen und auch vom Grundsatz her unbekannt sein, was gegen ein gemeinsames Strukturprinzip spräche70. Diese Annahme lässt sich aber in zweifacher Argumentation widerlegen. Für die Staaten des Staatskirchenmodells ist nämlich wiederum zu unterscheiden zwischen den Staatskirchen und anderen (freien) Kirchen und Religionsgemeinschaften. Den Religionsgemeinschaften, die neben der Staatskirche existieren, ist die vom Staat unabhängige Verwaltung eigener Angelegenheiten gewährleistet, zumindest im Rahmen allgemeiner privatrechtlicher Autonomie71. Der Grundsatz der Selbstbestimmung ist demnach auch dort bekannt. Gleichzeitig zeigt sich eine Tendenz, auch den Staatskirchen in theologisch-religiös beeinflussten weltlichen Fragen Autonomie einzuräumen72. Art. 3 § 1 der griechischen Verfassung bestimmt, dass die östlich-orthodoxe (Staats-)Kirche sich selbst verwaltet. In Finnland wird die Autonomie der Lutherischen Staatskirche dadurch hergestellt, dass nur sie selbst eine Änderung des (staatlichen) Kirchengesetzes vorschlagen kann73. In England konnte die Anglikanische Staatskirche auf Grund des Church of England Assembly Powers Act im Jahre 1992 die Frauenordination beschließen. Diese Neuerung musste zwar dem staatlichen Parlament vorgelegt werden; dies durfte aber den von der Kirchensynode beschlossenen Wortlaut nicht verändern, sondern lediglich dazu Stellung zu nehmen, ob die Maßnahme „tunlich“ sei. So zeigt sich, dass auch in den Staatskirchen ein gewisses Maß an Autonomie herrscht, die aus einem grundsätzlich anerkannten Freiraum religiös motivierten Handelns in weltlichen Fragen resultiert. Diese Autonomie ist dann auch staatlich-rechtlich anerkannt und damit im Grundsatz justiziables Selbstbestimmungsrecht. 70
Ausführlich: Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 43 ff. I. E. richtig Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 206; Mückl, Religionsfreiheit, S. 50 f.; vgl. die auch hier verwendeten Länderbestandsaufnahmen bei Robbers (Hrsg.); Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 33 ff.; Conring; und in den Heften des EJCSR seit 1994. 72 Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 206; Mückl, Religionsfreiheit, S. 51 f. m. w. N.; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 44. 73 Heikkilä/Knuutila, Staat und Kirche in Finnland, in: Robbers (Hrsg.), S. 310. 71
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Von den Trennungssystemen erkennt Frankreich wegen seiner negativen Laizität Religion nicht an und kann daher den Kultusvereinen kein religiös begründetes Selbstbestimmungsrecht zuerkennen; Autonomie genießen diese Vereine nur im Rahmen der allgemeinen Vereinsfreiheit. Anders ist es aber schon wieder im Trennungssystem Irlands, wo Art. 44 II Nr. 5 Verf. jeder religiösen Konfession das Recht gewährleistet, ihre eigenen Angelegenheiten selbst zu regeln, sowie das Recht auf den Besitz, den Erwerb und die Verwaltung beweglichen und unbeweglichen Eigentums und auf die Unterhaltung von Einrichtungen zu religiösen oder wohltätigen Zwecken. Die Konfessionen haben freie Hand in der Gestaltung ihrer internen Verfassungen und anderer Regeln; behördliche Aufsicht durch den Staat in diesen Angelegenheiten ist ausgeschlossen; auch die Zahl der Diözesen und Geistlichen geht den Staat nichts an74. Im Trennungssystem der Niederlande ist das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften im Zivilgesetzbuch anerkannt; die Gestaltung ihrer inneren Rechtsordnung ist ausschließlich Sache der Kirchen, die als juristische Personen des Privatrechts sui generis gelten. Sie sind von den für sonstige juristische Personen geltenden Bestimmungen über die innere Struktur freigestellt75 (Art. 2 Buch 2 Burgerlijk Wetboek). Auch unter dem Trennungsmodell ist die Selbstbestimmung demnach als Grundsatz bekannt. Die Staaten mit Kooperationssystem gestehen den Religionsgemeinschaften ebenso im Grundsatz ein Selbstbestimmungsrecht zu. Kooperation führt nicht zur Einmischung staatlicher Stellen in innere Angelegenheiten der Kirchen. In Belgien bestimmt Art. 21 der Bundesverfassung, dass es dem Staate verwehrt ist, sich in die Ernennung von Geistlichen einzumischen oder innerkirchliche Korrespondenz zu behindern. Diese Norm wird gemeinhin als Verbürgung des Selbstbestimmungsrechts ausgelegt; der Staat führt keine Aufsicht über die Kirchen und sie sind in der Gestaltung ihrer inneren Struktur frei76. In Deutschland ordnen und verwalten Religionsgemeinschaften ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes; Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV. In Italien gewährt Art. 7 I Verf. die Souveranität und Unabhängigkeit der römisch-katholischen Kirche in ihrer eigenen Ordnung; Art. 8 II Verf. gesteht anderen Konfessionen das Recht zu, sich nach eigenen Satzungen zu organisieren, sofern sie nicht der italienischen Rechtsordnung widersprechen. Daraus ergibt sich ein hohes Maß an innerer Autonomie ohne staatliche Intervention. Luxemburg erkennt ebenfalls die innere Autonomie der Reli74
Casey, Staat und Kirche in Irland, in: Robbers (Hrsg.), S. 164, 168 f. Van Bijsterveld, Staat und Kirche in den Niederlanden, in: Robbers (Hrsg.), S. 237. 76 Torfs, Staat und Kirche in Belgien, in: Robbers (Hrsg.), S. 17, 22. 75
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gionsgemeinschaften an (Art. 19 Verf.); die Mitbestimmung des Staates bei der Wahl und Besoldung des Erzbischofs von Luxemburg ist als Ausnahme von diesem Grundsatz zu sehen77. Art. 15 der österreichischen Verfassung garantiert, dass die Religionsgemeinschaften ihre inneren Angelegenheiten selbständig ordnen und verwalten, aber den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen sind. Innere Entscheidungen und Handlungen sind der staatlichgerichtlichen Überprüfung entzogen78. Schließlich enthält Art. 41 der portugiesischen Verfassung die Freiheit der inneren Organisation. Das Recht, innere Angelegenheiten selbst zu regeln, ist also unabhängig von Staat-Kirche-Modellen im Grundsatz überall bekannt79. Das Selbstbestimmungsrecht wird im Kern als Ausfluss des Grundrechts der Religionsfreiheit auch in den Mitgliedstaaten garantiert, die ausdrücklich nur die individuelle Religionsfreiheit gewähren. Dort wird es als Bestandteil der korporativen Religionsfreiheit angesehen, die aus der individuellen Religionsfreiheit abgeleitet wird80. Insgesamt bildet das Selbstbestimmungsrecht somit ein Strukturprinzip des Staats-Kirchen-Verhältnisses, das den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen bekannt ist. (5) Weitere Strukturprinzipien im Zusammenhang mit dem Selbstbestimmungsrecht Vor dem Hintergrund der großen Vielfalt der Regelungen in den europäischen Staaten würde es den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, alle Details zu analysieren. Dennoch lassen sich noch folgende Grundsätze festhalten. In allen Systemen wird den Religionsgemeinschaften zumindest ein Mitspracherecht bei der Frage eingeräumt, was unter den Begriff der inneren Angelegenheiten fallen soll. Neben den diesbezüglichen empirischen Befunden81 lässt sich schon aus dem Begriff der in den Staaten gewährleisteten Autonomie folgern, dass bei der Umschreibung der inneren Angelegenheiten die eigene Einschätzung der betroffenen Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen ist (Einschätzungsprärogative). Der in den einzelstaatlichen Verfassungen mit unterschiedlichen Begriffen (Selbstbestimmungsrecht, Au77
Pauly, in: Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in Luxemburg, S. 217 f. Potz, Staat und Kirche in Österreich, in: Robbers (Hrsg.), S. 262. 79 Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 206; Mückl, Religionsfreiheit, S. 50 f. 80 Dies hat Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 33 ff. rechtsvergleichend gezeigt. 81 Vgl. die auch hier verwendeten Länderbestandsaufnahmen bei Robbers (Hrsg.), Conring, und in den Heften des EJCSR seit 1994. 78
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tonomie, eigenständige Ordnung und Verwaltung innerer Angelegenheiten etc.) bezeichnete, einheitliche Grundsatz wäre nur eine leere Hülle, wenn die religiös-theologischen Werte nicht berücksichtigt würden, zu deren Schutz und Auslebung der interne Freiraum gerade eingerichtet werden soll. Eine (wohl auch ausschlaggebende) Mitentscheidung der Religionsgemeinschaft über die Bereiche, die der Selbstbestimmung unterfallen, dürfte daher auch als gemeinsames Strukturprinzip festzuhalten sein. Andererseits spielen jeweils auch staatsrechtliche und historische Motive eine Rolle, so dass ein Alleinentscheidungsrecht oder eine „Kompetenz-Kompetenz“ der Kirchen zu weit ginge. Überall wird das Selbstbestimmungsrecht auch durch das für alle geltende, allgemeine staatliche Recht beschränkt, so dass auch die prinzipielle Beschränkbarkeit als gemeinsame Struktur anerkannt werden muss. Welche Bereiche konkret vom Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften erfasst sind, lässt sich nicht katalogartig aufführen. Typische Felder, die erfasst sein können und in den Mitgliedsstaaten in unterschiedlicher Weise erfasst werden, sind: Organisationshoheit, Personalhoheit, Finanzhoheit, Verwaltung kirchlichen Eigentums einschließlich kirchlicher wirtschaftlicher Betätigung, kirchliche interne Gerichtsbarkeit, kirchliches Arbeitsrecht, Wohlfahrtspflege und soziale/karitative Betätigung, religiöser Unterricht. In welchem Maße diese Felder autonom verwaltet werden, ist jedoch sehr unterschiedlich. Insoweit sie anerkannt sind, wird im Grundsatz auch jeweils eine innerkirchliche Gerichtsbarkeit über diese Felder akzeptiert. Als gemeinsames Strukturprinzip lässt sich festhalten, dass das Selbstbestimmungsrecht in umso stärkerem Maße zugestanden ist, je stärker und unmittelbarer die religiös-theologischen Glaubensinhalte ein Sachgebiet prägen. Der Staat, der die korporative Religionsfreiheit einer Gemeinschaft anerkennt, respektiert also den aus geistig-religiösen Motiven erhobenen Anspruch auf Selbstbestimmung umso mehr, je drängender der Religionsgemeinschaft die Selbstbestimmung zu ihrer eigenen Verwirklichung ist und je plausibler dem Staat die interne eigenmaßstäbliche Begründung des Anspruchs durch die Religionsgemeinschaft erscheint. So ergibt sich eine Relation, bei der der Anspruch auf Achtung der Selbstbestimmung abhängig ist von der nach religions-internen Maßstäben beurteilten Verbindlichkeit theologisch-religiöser Vorgaben. Diese Funktionalbeziehung stellt ein weiteres Strukturprinzip dar. Es resultiert in die juristische Beurteilungsmaxime, dass bei einem Streit um die Erfassung einer Materie durch das Selbstbestimmungsrecht die Vermutung umso stärker für die Selbstbestimmung spricht, je plausibler (nach objektiv-staatlichen Maßstäben) der Zusammenhang (nach religionsinternen Maßstäben) von religiös-theologischen Vorgaben und weltlicher Gestaltung vorgetragen wird. So lässt sich den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen zwar kein Katalog von Materien
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
entnehmen, die von der Selbstbestimmung erfasst sind, wohl aber als gemeinsames Prinzip die genannte Beurteilungsmaxime. Noch ein weiterer Schritt kann m. E. gegangen werden: die Anwendung dieser Beurteilungsmaxime dürfte regelmäßig dazu führen, dass bestimmte (Kern-)Bereiche jeweils von der Selbstbestimmung erfasst werden. Dazu gehören die Personalhoheit für innerkirchliche Ämter, die Organisationshoheit für innerkirchliche Strukturen und die Entscheidung über die Inhalte kirchlichen Glaubensunterrichts. (6) Privilegierung etablierter Religionsgemeinschaften Schließlich ist noch ein gemeinsames Phänomen auffällig, das sich bei der Betrachtung der nationalen Situationen zeigt: es werden häufig ältere, größere, etabliertere und christliche Religionsgemeinschaften bevorzugt behandelt. Es ist festgestellt worden, dass in europäischen Staaten religiöse Gemeinschaften in eine Struktur aus verschiedenen Ebenen der Behandlung eingeordnet werden82. In formeller Weise tritt dies erwartungsgemäß in den Staaten mit Staatskirche auf. Aber auch Staaten mit Trennungs- und Kooperationsmodell unterscheiden formell zwischen Religionsgemeinschaften: Italien behandelt die römisch-katholische Kirche in Art. 7 Verf. anders als die übrigen Religionsgemeinschaften in Art. 8 Verf. In Spanien wird nur die römisch-katholische Kirche in der Verfassung erwähnt (Art. 16 III S. 2: „Die öffentliche Gewalt [. . .] unterhält die entsprechenden kooperativen Beziehungen zur Katholischen Kirche und den sonstigen Konfessionen.“). Es finden sich viele Erleichterungen für etablierte Religionsgemeinschaften, etwa beim Recht, Religionsunterricht zu erteilen. Staatliche Regeln scheinen noch oft auf solche institutionellen Strukturen abgestimmt zu sein, die typischerweise der christlichen Kirchentradition entsprechen, etwa wenn es um die Tatbestandsvoraussetzungen geht, die erfüllt sein müssen, um einen bestimmten rechtlichen Status zu erlangen oder andere Privilegien auszuüben. Hier seien als Beispiele die institutionellen Anforderungen genannt, die in den deutschen Ländern verlangt werden, damit Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen erteilt werden darf, oder damit Friedhöfe betrieben werden dürfen. Insbesondere islamische Glaubensgemeinschaften treffen dort auf Schwierigkeiten, da sie traditionell nicht wie christliche Kirchen über hierarchisch-institutionelle Strukturen verfügen. Dies wird aber in Deutschland oft als Indiz für das Tatbestandmerkmal der Dauerhaftigkeit einer Gemeinschaft verlangt, das die genannten Rechte voraussetzen.
82
Ferrari, EJCSR 1995, S. 149, 154 f.; Durham, EJCSR 1998, S. 232 ff.
II. Die Entwicklung bis zum Verfassungsvertrag
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c) Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten: Die unterschiedlichen Modelle des Staats-Kirchen-Verhältnisses in den Mitgliedsstaaten sind für die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen kein Hindernis. Der Vergleich der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen gibt vielmehr den Blick frei für die Wahrnehmung gemeinsamer Strukturprinzipien der europäischen Religionsverfassungsrechte. Zu diesen gemeinsamen Strukturprinzipien gehören: • die Anerkennung der individuellen Religionsfreiheit, • die Anerkennung der korporativen Religionsfreiheit, • die Bereitstellung rechtlicher Instrumente, um Religionsgemeinschaften am Rechtsverkehr teilnehmen zu lassen, • die Anerkennung eines inneren Autonomiebereichs (Selbstbestimmungsrecht), • die grundsätzliche Anerkennung einer Einschätzungsprärogative der Religionsgemeinschaft, was in den Autonomiebereich falle, • die Anerkennung der Beurteilungsmaxime, dass bei der Frage um die Erfassung einer Materie durch das Selbstbestimmungsrecht die Vermutung umso stärker für die Selbstbestimmung spricht, je plausibler die Religionsgemeinschaft den Zusammenhang von religiös-theologischen Vorgaben und weltlicher Gestaltung vorträgt, • die regelmäßige Erfassung durch das Selbstbestimmungsrecht mindestens der Bereiche Personalhoheit für innerkirchliche Ämter, Organisationshoheit für innerkirchliche Strukturen und die Entscheidung über die Inhalte kirchlichen Glaubensunterrichts, • eine informelle Mehrebenenstruktur religiöser Gemeinschaften, in der etablierte christliche Kirchen tendenziell besser gestellt werden als neue und außereuropäische Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
III. Das Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC 1. Einleitende Bemerkungen zur Europäischen Grundrechtecharta (EGRC) Die Religionsfreiheit hat mit der Ausarbeitung der Europäischen Grundrechtecharta und deren Aufnahme in den Verfassungsvertrag eine neue zentrale Heimat im Recht der Europäischen Union gefunden. Dennoch gelten die bislang im Rahmen dieser Untersuchung erarbeiteten gemeinsamen Verfassungstraditionen für die Auslegung der europäischen Religionsfreiheit fort. Die EGRC war keineswegs als Bruch mit der bisherigen Rechtslage konzipiert, sondern als ihre Fortentwicklung. Dem Grundrechtekonvent wurde vom Europäischen Rat von Köln zum Ziele aufgegeben, keine neuartigen Grundrechte zu schaffen, sondern – gemäß dem Integrationsprinzip, das auf eine allmähliche und kontinuierliche Entwicklung angelegt ist – die auf Unionsebene existierenden und durch EuGH-Rechtssprechung geformten Grundrechte zusammenzufassen83. Die vorhandenen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechte, die sich insbesondere aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben (gem. Art. 6 II EUV), sollten darüber hinaus durch gewisse wirtschaftliche und soziale Rechte ergänzt werden. Dass der Grundrechtekonvent diese Zielsetzung für sich als maßgeblich empfand, zeigt sich darin, dass er sie einleitend in der Präambel der EGRC aufführt (Abs. IV, V). Dort beschreibt er als Ziel, angesichts gewisser sozial-technologischer Fortschritte die Grundrechte zu stärken, indem sie zunächst in einer Charta sichtbarer gemacht und der bisher erworbene Bestand bekräftigt wird. Die als Auslegungshilfe fungierende Präambel stellt also explizit auf die behutsam evolutive Fortführung der vorherigen Rechtslage ab. Daraus resultiert das Erfordernis, die Erkenntnisse zum bisherigen Bestand der Grundrechte bei der Auslegung der Charta angemessen zu berücksichtigen. Andererseits ist eine unkritische Übernahme nicht angezeigt. Denn die Ausarbeitung der Charta durch den Grundrechtekonvent war ein wertender und kritischer Prozess, wie sich aus den Materialien ergibt84, und dabei sind Veränderungen der Materie unvermeidlich, trotz und wegen des Zieles der behutsamen Fortentwicklung85. 83 Europäischer Rat von Köln, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Ziff. 44 f., Bull. EU 6/1999, S. 14 u. Anhang IV, S. 39; Magiera, DÖV 2000, S. 1019; zur Entstehung der EGRC: Lord Goldsmith, CMLRev 38 (2001), S. 1201 ff.; Vittorino, RDUE 2001, S. 1 ff. 84 Bernsdorf/Borowsky, S. 1 ff. 85 Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 10; Lenaerts/De Smijter, CMLRev 38 (2001), S. 292 f.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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Der Konvent zur Zukunft Europas („Verfassungskonvent“), der mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für einen Verfassungsvertrag betraut war und von Februar 2002 bis Juli 2003 tagte, modifizierte die Rechte und Grundsätze der EGRC inhaltlich nicht. Er setzte die Arbeitsgruppe II „Charta“ ein und gab ihr das Mandat, zu prüfen, wie sich die Einbeziehung der EGRC in die EU-/EG-Verträge auswirke86. Diese Arbeitsgruppe empfahl in ihrem Abschlussbericht87, die EGRC mit Rechtsverbindlichkeit auszustatten und dabei den Inhalt der Charta nicht zu verändern. Das Arbeitsergebnis des Grundrechtekonventes, der als mit größeren fachlichen Kenntnissen ausgestattet empfunden wurde, sollte respektiert werden88. Neben lediglich redaktionellen Änderungen hat der Verfassungskonvent schließlich, resultierend aus politischem Druck einiger Mitgliedsstaaten, die eine kompetenzansaugende Wirkung der EGRC fürchteten, Hinweise zu den Grenzen der Chartarechte und zur restriktiven Interpretation, insbesondere in den horizontalen Artikeln 51 und 52 EGRC, aufgenommen89. 2. Zur Entstehung und Auslegung des Art. 10 I EGRC a) Der Wortlaut Für die Auslegung des Art. 10 I EGRC ist der Wortlaut maßgeblich, soweit er klar und eindeutig ist. Die Entstehungsgeschichte ist aber hinzuzuziehen, wenn der Wortlaut Auslegungsfragen aufwirft90. Bei einer so 86
VK, Dok.-Nr. CONV 72/02. VK, Dok.-Nr. CONV 354/02; http://www.europa.eu.int/futurum/documents/ offtext/doc221002_de.pdf 88 VK, Dok.-Nr. CONV 354/02, S. 4: „Die Gruppe ist bei ihren Schlussfolgerungen zur Charta in erster Linie von der Tatsache ausgegangen, dass der Inhalt der Charta auf einem Konsens des vorherigen Konvents, eines Gremiums, das über spezielle Fachkenntnisse im Bereich der Grundrechte verfügte und dem derzeitigen Konvent als Vorbild diente, beruht und außerdem vom Europäischen Rat (Nizza) gebilligt wurde. Der jetzige Konvent sollte die gesamte Charta – einschließlich der Erklärungen der Rechte und Grundsätze, der Präambel und (als wichtigstes Element) der ‚Allgemeinen Bestimmungen‘ – beachten und die Beratungen über den Inhalt nicht nochmals eröffnen. Die Gruppe hat daher keinerlei Änderungen der in der Charta enthaltenen Rechte und Grundsätze in Betracht gezogen.“ 89 VK, Dok.-Nr. CONV 354/02, S. 4: „Die Gruppe räumt jedoch ein, dass bestimmte technische redaktionelle Anpassungen der ‚Allgemeinen Bestimmungen‘ der Charta dennoch möglich und sinnvoll sind, wie nachstehend erläutert wird; die Gruppe schlägt dem Plenum daher die in der Anlage zu diesem Bericht wiedergegebenen redaktionellen Anpassungen vor. Es ist wichtig festzuhalten, dass diese von der Gruppe vorgeschlagenen Anpassungen keine inhaltlichen Änderungen darstellen.“; VK, Dok.-Nr. CONV 354/02, Anhang. Kritisch zu den vorgenommenen Änderungen Koukoulis-Spiliotopoulos, REDP 2004, Bd. 16, Nr. 1, 2004, S. 295 ff. 87
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
kurz und knapp formulierten Vorschrift wie Art. 10 I EGRC ist dieser Punkt bald erreicht. Daher ist es erforderlich, die Entstehungsgeschichte des Art. 10 I EGRC im Blick zu behalten. Diese besteht aus zwei Komponenten: Art. 9 I EMRK als entsprechende Vorbildvorschrift, und die Erwägungen des Grundrechtekonventes. Der Wortlaut des Art. 10 I EGRC lässt sich über Art. 9 EMRK auf Art. 18 AEMR von 1948 zurückführen. Die Formulierung des Art. 18 AEMR wurde ohne bedeutsame Veränderungen in Art. 9 I EMRK übernommen. Blum stellt daher fest, dass die eigentliche Entstehungsgeschichte des Art. 9 EMRK die des Art. 18 AEMR ist91. Fraglich ist, ob hier fortgeführt werden kann, dass die eigentliche Entstehungsgeschichte des Art. 10 I EGRC die der Art. 18 AEMR und 9 EMRK ist. Zwischen dem englischen und französischen Wortlaut des Art. 9 EMRK und den entsprechenden Fassungen des Art. 10 I EGRC lassen sich keine Veränderungen feststellen92; die deutsche Übersetzung des Art. 10 I EGRC unterscheidet sich dagegen in Teilbereichen von der offiziellen deutschen Übersetzung des Art. 9 I EMRK von 195293, nicht jedoch von dessen überarbeiteter Fassung von 1998. Der Grundrechtekonvent musste von den authentischen englischen und französischen Fassungen94 der EMRK ausgehen, als er die englischen und französischen Fassungen des Art. 10 I EGRC schuf, die wiederum zu Grundlagen der deutschen Übersetzung des Art. 10 I EGRC wurden. b) Die Debatte im Grundrechtekonvent Neben die Wortlautgleichheit des Art. 10 I EGRC mit der Vorbildvorschrift tritt die zweite Komponente der Entstehungsgeschichte, die Willensbildung des Grundrechtekonvents95. Die historische Auslegung des Art. 10 I EGRC muss im Lichte der Willensäußerungen des Grundrechtekonvents 90 Dabei kann hier offen bleiben, ob Art. 32 WKV als Auslegungsregel auch auf die Grundrechtecharta bzw. den Verfassungsvertrag angewandt werden kann; es handelt sich um allgemeine Auslegungsgrundsätze, die auch ohne besondere Prorogation gelten. 91 Blum, S. 46; zu den Vorbereitungsarbeiten an der Religionsfreiheit unter der EMRK vgl. Russo, in: FS Ryssdal, S. 1247 ff. 92 In diesem Abschnitt wird vom maßgeblichen englischen und französischen Wortlaut des Art. 9 I EMRK ausgegangen. 93 Amtliche deutsche Übersetzung in BGBl. 1952 II, S. 686; Neufassung BGBl. 2002 II S. 1059. 94 Grabenwarter, EMRK, § 5, Rn. 2. 95 Bernsdorff, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 10 Rn. 5 ff.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
103
als Vorschriftengeber erfolgen96. Zu prüfen ist, inwieweit der Inhalt des Art. 9 EMRK durch den Grundrechtekonvent modifiziert worden ist. (1) Evolution des Art. 10 I EGRC Der Grundrechtekonvent begann die Arbeit am Grundrecht der Religionsfreiheit mit dem Textvorschlag des Präsidiums vom 24. Februar 2000, der dem Art. 9 I EMRK entspricht. In der Begründung wurde jedoch eine Verkürzung auf den 1. HS des Art. 9 I EMRK vorgeschlagen, aus folgenden Erwägungen: „In Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention werden die Auswirkungen dieser Freiheit beschrieben (die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, seine Religion oder Weltanschauung öffentlich zu bekennen . . .). Da es sich um Auswirkungen und nicht um eigenständige Rechte handelt, könnte es sinnvoller erscheinen, sich auf eine Bestätigung des Prinzips zu beschränken und nach dem ersten Teilsatz einzuhalten. Was die Beschränkungen anbelangt, so werden sie sich aus der allgemeinen Beschränkungsklausel ergeben“.97
Dieser Präsidiumsvorschlag war Gegenstand zahlreicher Änderungsanträge. Dies zeigt, dass der Konvent die Vorbildvorschrift nicht unbesehen übernehmen wollte, sondern durchaus Diskussionsbedarf sah. In der Debatte vom 3. März 2000 wurde der Entwurf des Präsidiums diskutiert. Die Materialien des Grundrechtekonventes zeigen, dass der Vorsitzende Roman Herzog eingangs darauf hinwies, dass der vom Konventspräsidium vorgelegte Entwurf zu Art. 10 I EGRC vor allem aus Art. 9 I EMRK hervorgeht, aber dabei auch zahlreiche einzelstaatliche Verfassungen und Art. 4 der Erklärung des Europäischen Parlaments von 1989 berücksichtigt worden seien98. In der folgenden Aussprache im Konventsplenum wurde dann bezüglich der Formulierung des Schutzbereichs erneut vorgeschlagen, eine Kurzfassung 96 Die historische Auslegungsmethode an Hand der Materialien des Grundrechtekonvents und der Erläuterungen des Präsidiums ist in Bezug auf die EGRC eine vollwertige Auslegungsmethode. Die geringere Bedeutung, die der historischen Methode bei der Auslegung des EU-Primärrechts zukommt („Hilfsbegründung“, Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 220, Rn. 12) ist hier nicht angezeigt. Sie resultiert beim herkömmlichen Primärrecht aus dem besonders ausgeprägten Kompromissund Verhandlungscharakter des europäischen Rechtssetzungsprozesses mit oft gegenläufigen Stellungnahmen und einseitigen Erklärungen der Mitgliedsstaaten. Die für die EGRC gewählte Konventsmethode gewährleistet dagegen eine Art parlamentarische Willensbildung unter Leitung des Präsidiums mit fachlicher Unterstützung durch ein Sekretariat. Diese Art gesetzgeberischer Willensbildung eignet sich in herkömmlicher Weise zur Nutzung durch die historische Auslegungsmethode. 97 Vorschlag des Präsidiums vom 24.2.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4137/00). 98 Bernsdorff/Borowsky, S. 158.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
bestehend aus dem 1. HS des Art. 9 I EMRK zu wählen, die lediglich lautete: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“; damit sei der Schutzbereich abschließend umschrieben99. Ferner wurde die explizite Erwähnung der Gedankenfreiheit in Frage gestellt, da die Gedanken ohnehin frei seien und eine ausdrückliche Gewährleistung somit keine Substanz beitrüge100. Der Vorsitzende wies diesen Vorschlag mit dem Hinweis zurück, die Gedankenfreiheit sei eine Grundposition der europäischen Geistesgeschichte101. Der Abgeordnete Friedrich deutete an, dass seiner Ansicht nach die Religionsfreiheit mit Blick auf einen späteren EUBeitritt der Türkei dazu führen würde, dass dort die Errichtung christlicher Kirchen zu gestatten sei102. Andere Abgeordnete mahnten aber zur politischen Vorsicht103. All dies verdeutlicht, dass die Debatte des Konvents von einem kritischen Hinterfragen der überlieferten Texte und deren Bedeutung geprägt war. Das Ergebnis der Debatte vom 3. März 2000 war die oben erwähnte Kurzfassung des Artikels104. Die vom Präsidium vorgelegte Begründung dieses Vorschlags führt aus, dass diese Fassung inhaltlich dem Art. 9 I EMRK entspreche. Die Verkürzung beruhe darauf, dass man sich grundsätzlich für eine knappe Formulierung der Chartarechte entschieden habe. Daher würden die Auswirkungen der Religionsfreiheit nicht aufgeführt (gem. ist Art. 9 I 2. HS EMRK). Dadurch würden diese Bestimmungen aber nicht der Wirksamkeit beraubt werden, denn es handele sich lediglich um Folgewirkungen des allgemeinen Grundsatzes. Die Kurzfassung provozierte jedoch wiederum zahlreiche Änderungsanträge aus dem Plenum, die dazu führten, dass das Präsidium zur Langfassung, also zum vollen Wortlaut des Art. 9 I EMRK, zurückkehrte105. Insbesondere wurde als Defizit der verkürzten Fassung bemängelt, dass der entfallene 2. HS des Art. 9 I EMRK über die individuelle Freiheit hinaus die sozialen Erscheinungen der Religionsfreiheit schütze und somit einen realen Mehrwert habe106. Fehle der 2. HS, drohe das Schutzniveau der 99 Abgeordnete Friedrich (EP, D), Kaufmann (EP, D), Goldsmith (GB); vgl. Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 100 Abgeordneter O’Malley (IRL); vgl. Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 101 Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 102 Abgeordneter Friedrich (EP, D), vgl. Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 103 Abgeordneter Fayot (LUX), vgl. Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 104 Vorschlag des Präsidiums vom 8.3.2000 (nun als Art. 14 in EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4149/00) und vom 5.5.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4284/00). 105 Kompromissvorschlag des Präsidiums vom 4.6.2000 (EGRC-Konvent, Dok.Nr. CHARTE 4333/00); Analyse der Änderungsanträge in Zusammenfassung vom 14.6.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4360/00).
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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EGRC unter dem der EMRK zu liegen. Diese Argumentation hat sich die Mehrheit der Konventsmitglieder zwar nicht zu Eigen gemacht; die Materialien enthalten keine dementsprechenden Hinweise. Sie sah jedoch das Risiko, dass eine Verkürzung des Wortlauts auf das im 1. HS enthaltene Prinzip („Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) die Gefahr des Missverständnisses schafft, der Inhalt des Art. 10 I EGRC sei ebenfalls verkürzt worden. Um eine solche Fehlinterpretation zu vermeiden und auch die äußere Einheit von Art. 18 AEMR, Art. 9 I EMRK und Art. 10 I EGRC zu wahren, kehrte der Konvent zur als bewährt empfundenen Langfassung zurück. (2) Kohärenz von EGRC und EMRK Zur vom Grundrechtekonvent bewusst in die EGRC übernommenen Materie aus der EMRK zählt der gesamte „acquis“ bestehend aus dem Vertragstext der EMRK, den Protokollen und der Rechtssprechung des EGMR bzw. der EKMR. Diese bestimmen zusammen die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte i. S. d. Art. 52 III S. 1 EGRC107. Dies gilt zumindest für den Bestand, der zurzeit der Beratungen des Grundrechtekonvents vorlag. Fraglich ist, ob zeitlich spätere Änderungen der EMRK, spätere Protokolle und Entscheidungen von EGMR und EKMR zur Auslegung des Art. 10 I EGRC herangezogen werden können. Dies ist die Frage nach der zukünftigen Kohärenz von EMRK und EGRC. Der Grundrechtekonvent hat der Übertragbarkeit des EMRK-Bestandes keine zeitliche Grenze gezogen, sondern einen bestimmten Inhalt der EMRK-Rechtssprechung akzeptiert. Soweit spätere Entwicklungen diesem Inhalt nicht widersprechen, sondern mit seinen Grundsätzen übereinstimmen, müssen sie zur Auslegung von Art. 10 I EGRC heranzuziehen sein. Insofern kann man davon sprechen, dass der Grundrechtekonvent sich nicht für einen statischen Verweis auf den EMRK-Bestand zu einem bestimmten Stichtag entschieden, sondern einen dynamischen Verweis gewählt hat, der begrenzt ist durch die Übereinstimmung späterer EMRK-Rechtssprechung mit den Grundsätzen des Bestandes, der dem Grundrechtekonvent vorlag. (3) Debatte über die Schranken Die Schrankenproblematik wurde vom Grundrechtekonvent aus dem religionsspezifischen Kontext herausgelöst und als allgemeines Problem dis106
Bernsdorff/Borowsky, S. 187. Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 III EGRC; vgl. zu Art. 52 III EGRC unten Kap. C.III.4.b). 107
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
kutiert. Anders als in der EMRK, die die Schranken beim jeweiligen Grundrecht regelt, entschied sich der Grundrechtekonvent für eine horizontale Schrankenregelung in Art. 51 ff. EGRC. Damit musste ein direktes Äquivalent des Art. 9 II EMRK in Art. 10 EGRC entfallen108. c) Kritik von außerhalb des Grundrechtekonvents Auch von außerhalb des Grundrechtekonventes wurde Kritik am Wortlaut des Art. 9 EMRK an den Konvent herangetragen. Interessierte Gruppen der Zivilgesellschaft, die sich an der Charta-Diskussion beteiligten, schlugen eigene Formulierungen vor. Zumindest vereinzelt wurde die Formulierung des Art. 9 I EMRK als unbefriedigend empfunden. Kritisiert wurde etwa, dass Art. 9 I EMRK den Schutzbereich zu ausschnittartig beschreibe und nicht an den wesentlichen Merkmalen anknüpfe. So wurde beispielsweise angeführt, nicht der Aspekt des Wechselns der Religion sei der entscheidende, den es zu nennen gelte, sondern es solle weit formuliert werden, dass die Freiheit geschützt werde, die Religion frei zu bestimmen109. Dieselben Autoren schlugen vor, Art. 10 EGRC müsse stärker am Ideal des mündigen Bürgers ausgerichtet werden, der sich seine Gedanken und Urteile im weltanschaulichen Bereich umfassend selbst bilde. Daher solle die ethische Überzeugung und das an ihr orientierte Handeln geschützt werden. Letzteres führe dazu, dass die Gedankenfreiheit als der Oberbegriff der anderen Freiheiten angesehen werden müsse, und ihr neben dem forum internum auch ein forum externum zuerkannt werden müsse. Denn die Mündigkeit dürfe nicht darauf reduziert werden, die Gedankenfreiheit anzuerkennen, während das Handeln in Übereinstimmung mit dem Erkannten verhindert oder auf das Praktizieren von Riten und Bräuchen beschränkt werden könne. Daran ist zu kritisieren, dass eine so verstandene Gedankenfreiheit eine allgemeine Handlungsfreiheit ist, die von allen anderen Grundrechten kaum noch zu unterscheiden wäre. Art. 10 EGRC wäre zu einem „SuperGrundrecht“ ausgebaut worden, dass alle anderen Freiheiten übergriffe. Eine solche Konzeption hat der Grundrechtekonvent nicht aufgegriffen. Es zeigt sich aber daran, dass Art. 10 EGRC auch in der Zivilgesellschaft einer Diskussion und einem gewissen Änderungsdruck ausgesetzt gewesen ist. Auch dies verdeutlicht die bewusste Auseinandersetzung des Grundrechtekonvents mit dem Inhalt des Art. 10 I EGRC.
108 EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4235/00; Bernsdorff/Borowsky, S. 158, 230 ff. 109 Häfner/Strawe/Zuegg, ZRP 2000, S. 366 f.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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d) Zusammenfassung Der Überblick über die Debatte des Grundrechtekonvents zeigt, dass die Religionsfreiheit intensiv diskutiert wurde. Der Konvent ging dabei von einem in der englischen und französischen Version wortlautgleichen Vorschlag aus. Er stellte diesen in Frage, indem er eine Kurzversion erwägte, die aber keine inhaltliche Verkürzung bedeuten sollte. Schließlich entschied er sich bewusst für eine Langversion gemäß Art. 9 I EMRK (englische und französische Version). Diese Entwicklung zeigt: die wortlautgleiche Formulierung des Art. 10 I EGRC enthält durchaus einen eigenen „Grundrechtecharta-spezifischen“ Willen des Chartagesetzgebers und ist keine unreflektierte Wiederholung oder unbesehene Übernahme des Art. 9 I EMRK. Vielmehr handelt es sich um eine bewusste und kritische Auseinandersetzung mit der Norm unter positiver Wahrung des mit Art. 9 I EMRK erreichten Besitzstandes. 3. Die Definition der Rechtsgüter des Art. 10 I EGRC Art. 10 I EGRC schützt die Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit. Diese Rechtsgüter sind dadurch gekennzeichnet, dass erhebliche Schwierigkeiten bestehen, sie definitorisch zu erfassen. Diese Schwierigkeiten haben bereits die Diskussionen zu den jeweiligen Vorbildvorschriften des internationalen Rechts geprägt und treten auch in den Debatten um die entsprechenden nationalen Rechtsverbürgungen auf. Es ist bemerkenswert, dass der gesamte grundrechtliche Schutz dieser Rechtsgüter auf nationaler und internationaler Ebene bislang stattgefunden hat, ohne dass es eine abschließende und allgemein anerkannte Definition dieser Schutzgüter gegeben hätte. Die definitorischen Schwierigkeiten entstammen mindestens drei Ursachen. Erstens sind gerade die Begriffe Religion und Gewissen in besonderer Weise durch kulturelle und historische Hintergründe geprägt, so dass es besonders schwierig ist, ihnen im interkulturellen, supranationalen Kontext eine gemeinsame Bedeutung zuzuerkennen. Zweitens sind die Rechtsgüter in ihrem Wesenskern subjektiver Art, so dass eine belangreiche Freiheit durch das Grundrecht nur dann garantiert werden kann, wenn es im Wesentlichen dem Grundrechtsträger zugestanden ist, für sich selbst zu bestimmen, was für ihn religiöse Bedeutung hat oder eine Gewissensfrage ist. Dadurch wird die Rolle des Staates, die grundrechtlichen Tatbestandsmerkmale zwecks ihres Schutzes zu definieren, in einer gewissen Weise durch den Schutzzweck selbst versperrt. Und drittens sind die Schutzgüter eng miteinander verwoben und voneinander abhängig, so dass eine Abgrenzung für das betroffene Individuum bedeutungslos und für Außenstehende im Einzelfall unmöglich sein kann.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Vor diesem Hintergrund müssen definitorische Ansätze gefunden werden, damit das Grundrecht mit Bedeutung gefüllt werden kann und effektiven Schutz vermittelt. Dazu sollen der Wortlaut und die Rechtssprechung zu Art. 10 I EGRC und Art. 9 EMRK untersucht werden. a) Der Wortlaut Der Wortlaut des Art. 10 I EGRC wie auch der gleichlautende Art. 9 EMRK zählt in S. 1 die Schutzgüter der Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit auf, definiert sie jedoch nicht. S. 2 erwähnt ausdrücklich die von S. 1 umfasste Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln und sie in verschiedener Weise zu bekennen bzw. auszuüben. An diesem Wortlaut fallen drei Dinge auf: erstens das bereits erwähnte Fehlen jeglicher Legaldefinition; zweitens die gesonderte Hervorhebung bestimmter Bereiche der Religions- und Weltanschauungsfreiheit; und schließlich die Tatsache, dass der Begriff der „Weltanschauung“ zuerst in S. 2 in den Text eingeführt wird und somit eine Ergänzung zu S. 1 zu sein scheint, deren Einordnung zunächst nicht ganz klar erscheint. In definitorischer Hinsicht ist der Wortlaut somit nicht ergiebig. Er zeugt von der typischen Schwierigkeit, die Schutzgüter präzise oder auch näherungsweise zu beschreiben. Die Schwierigkeit ist hier sogar gesteigert, da es für Art. 10 I EGRC an einem kohärenten, nationalen historischen Bedeutungskontext fehlt, der als Interpretationshilfe dient. b) Definitionsansätze der Rechtssprechung (1) Religion und Weltanschauung Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs, die die in Art. 10 I EGRC enthaltenen Rechtsgüter zu definieren versucht, liegt soweit ersichtlich bislang nicht vor. In den vorliegenden Urteilen mit Religionsbezug scheint sich vielmehr eine Tendenz zu manifestieren, den Definitionsfragen soweit wie möglich auszuweichen110. Die Rechtssprechung zu Art. 9 EMRK ist ergiebiger. Zwar zeigt sich auch bei der EKMR und dem EGMR die Tendenz, die Definitionsfrage möglichst zu umgehen und nur insoweit zu behandeln, wie es für die Lö110 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat); EuGH, Rs. 300/84, Slg. 1986, S. 3097 ff. (van Roosmalen ./. Bestuur van de Bedrijfsvereniging voor de Gezondheit); EuGH, Rs. 196/87, Slg. 1988, S. 6159 ff. (Steymann ./. Staatssecretaris van Justitie).
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sung des Einzelfalles unumgänglich ist. Grundlegende dogmatische Ausführungen vermeiden EKMR und EGMR. Doch die vorliegenden Einzelentscheidungen geben ein Mosaik an aufschlussreichen Hinweisen. Diese sind gemäß Art. 52 III S. 1 EGRC auf die Sphäre der EGRC übertragbar. Die frühere EKMR hat in einem Fall zur Frage der Definition von Religion entschieden, dass der Grundrechtsträger sich auf eine in sich geschlossene Sichtweise auf grundlegende Fragen der menschlichen Existenz beziehen muss, die über eine Einzelfallaussage hinausgehe111. Dort ging es um den Wunsch des Klägers, dass seine Asche nach seinem Tode über sein Land verstreut werde, anstatt in einem Friedhof bestattet zu werden, der von christlichen Symbolen und Riten geprägt ist. Das deutsche Recht ließ eine Verstreuung der Asche nicht zu, worin der Kläger eine Verletzung seiner Religionsfreiheit sah. Die EKMR stimmte dem nicht zu. Sie erkannte in dem Begehren des Klägers eine starke persönliche Motivation, die aber so wie sie vorgetragen wurde nicht als Religion oder religiöse Auffassung einzustufen sei. Sie entstamme nämlich nicht einer kohärenten Sichtweise auf fundamentale Fragen. Zum Grundpfeiler einer Definition von Religion ist damit der Aspekt der Kohärenz geworden, also des über die einzelne Frage hinausgehenden Zusammenhangs von Ansichten und Auffassungen über grundlegende Fragen der menschlichen Existenz. Dagegen hat die Rechtssprechung zu Art. 9 EMRK nicht auf äußerliche Merkmale einer Religion abgestellt, so dass es nicht auf Mitgliederzahl, Dauer der Existenz, Evolutionsgrad der internen Regeln oder ähnliches ankommt112. Der Aspekt der Kohärenz ist vom EGMR wiederum aufgegriffen worden im Zusammenhang mit dem Begriff der Weltanschauung in Art. 9 I S. 2 EMRK. Dazu führt der EGMR aus, der Begriff der Weltanschauung erfordere ein gewisses Maß an Ernsthaftigkeit, Zwingendheit, Kohärenz und Bedeutung113. Damit betont er die Wichtigkeit der Herleitung einer einzelnen Entscheidung oder Ansicht aus einem zusammenhängenden Gesamtbild von grundsätzlicher Bedeutung, wenn sie als Weltanschauung i. S. d. Art. 9 EMRK angesehen werden soll. Auf der Basis des Merkmals der kohärenten Gesamtsicht haben EKMR und EGMR jedoch einen weiten Ansatz der Subsumtion verfolgt114. Richtigerweise gehen sie davon aus, dass es auf einen Gottes- oder Transzendenzbezug herkömmlicher christlicher Art nicht ankommen kann115. Alle Welt111 So vorsichtig EKMR, BNr. 8741/79, DR 24, S. 137: „some coherent view on fundamental questions“. 112 Evans, S. 58. 113 EGMR, Urteil vom 25.2.1982, Serie A-48, Rn. 36 (Campbell & Cosans ./. Vereinigtes Königreich). 114 Evans, S. 55.
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religionen wurden selbstverständlich als Religionen i. S. d. Art. 9 EMRK anerkannt: Christentum116 in verschiedenen Konfessionen, Islam117, Hinduismus118, Buddhismus119, Judentum120. Auch die Scientology-Bewegung wurde als Religion angesehen121. Als Weltanschauung und somit von Art. 9 EMRK erfasst wurden angesehen der Atheismus122 und der Pazifismus selbst ohne Herleitung aus religiösem Hintergrund123. Ohne weitere Vertiefung hat die EKMR auch unterstellt, dass die Lehren der Druiden124 und der Sekte Divine Light Zentrum125 vom Schutzbereich des Art. 9 EMRK erfasst sein könnten. Der Definitionsansatz der kohärenten Gesamtsicht grundlegender Fragen der menschlichen Existenz für die Einordnung als Religion trägt auch in den Fällen, in denen es um Sekten, Splitterreligionen, sog. Jugendsekten, neue Religionen oder individualistische Religionen und Weltanschauungen geht. Auch diese sind unter diesem Ansatz zu subsumieren. Entscheidend ist, dass die kohärente Gesamtsicht in irgendeiner Weise identifizierbar ist. Dazu ist es hilfreich, wenn sie in einem Bekenntnis, einem Kult oder Lebensregeln zum Ausdruck kommt126. Auf traditionelle Formen kommt es wiederum nicht an. Im Gegensatz zu etablierten Religionen gesellen sich hier jedoch oft noch Probleme der Darlegungslast hinzu. Dies gilt vor allem in den Fällen, in denen der Verdacht besteht, dass unter dem Vorwand der Religion versucht wird, bestimmte Vorteile zu erschleichen. Diese religiös verbrämten, rein weltlich motivierten Verhaltensweisen müssen aus dem Schutzbereich des Art. 10 I EGRC/Art. 9 EMRK ausgeschieden werden, 115 Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 71; Frowein, in: Frowein/Peukert, EMRKKomm., Art. 9, Rn. 5. 116 EKMR, BNr. 11045/84, DR 42 (1985), S. 247 (Knudsen ./. Norwegen). 117 EKMR, BNr. 8160/78, DR 22 (1981), S. 27 ff. (Ahmed ./. Vereinigtes Königreich); EKMR, BNr. 16278/90, DR 74 (1993), S. 93 ff. (Karaduman ./. Türkei). 118 EKMR, BNr. 20490/92, DR 76A (1994), S. 41 ff. (ISKCON et al. ./. Vereinigtes Königreich). 119 EKMR, BNr. 5442/72, DR 1 (1974), S. 41 ff. (X ./. Vereinigtes Königreich). 120 EKMR, BNr. 10180/82, DR 35 (1983), S. 199 ff. (D. ./. Frankreich). 121 EKMR, BNr. 7805/77, DR 16 (1978), S. 68 ff. (X und Church of Scientology ./. Schweden). 122 EKMR, BNr. 10491/83, DR 51 (1986), S. 41 ff. (Angeleni ./. Schweden). 123 EKMR, BNr. 7050/75, DR 19 (1978), S. 5 ff. (Arrowsmith ./. Vereinigtes Königreich). 124 EKMR, BNr. 12587/86, DR 53 (1987), S. 241, 246 (A.R.M. Chappel ./. Vereinigtes Königreich). 125 EKMR, BNr. 8118/77, DR 25 (1981), S. 105 (Omkarananda und Divine Light Zentrum ./. Schweiz). 126 Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 71; Shaw, in: MacDonald/Matscher/Petzold, S. 448.
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um dessen Glaubwürdigkeit zu erhalten. Die EKMR hat in einem Fall entschieden, dass es dem Grundrechtsträger obliegt, darzulegen, dass es sich bei einer von ihm behaupteten Weltsicht um einen Glauben handele127. Hier bestand der Verdacht, dass ein Strafgefangener sich bessere Haftbedingungen sichern wollte, indem er vorgab, er sei Anhänger einer als „Wicca“ bezeichneten Religion. Da der Beschwerdeführer keine weiteren Angaben zu dieser Religion machte, weigerte sich die Gefängnisverwaltung aus Zweifeln an der Existenz des Bekenntnisses, den Häftling als „Wicca“ in ihren Akten zu führen. Die EKMR konnte nicht feststellen, inwiefern der Beschwerdeführer – abgesehen von der Nichteintragung – durch die Haft in der Ausübung seiner Religion behindert wurde, führte aber auch aus, dass der Beschwerdeführer nicht dargelegt habe, dass die behauptete Religion existiere. Die Darlegungs- und Beweislast wies sie damit dem Beschwerdeführer zu. Fraglich ist, wie der Beweis für die Existenz einer Religion zu führen sei. Der Beschwerdeführer muss darlegen, dass er sein Begehren aus einer kohärenten Gesamtsicht grundlegender Fragen der menschlichen Existenz ableitet. Dies muss prinzipiell genügen, um den Verdacht des Missbrauchs auszuräumen und die Existenz einer Religion oder Weltanschauung zu bejahen (es sei denn, andere Gesichtspunkte des Zweifels sind nicht entkräftet). Da es nicht auf äußere strukturelle Merkmale einer Organisation oder auf formelle Merkmale ankommt, ist beispielsweise eine Bescheinigung einer Religionsleitung kein Beweis (aber wohl ein Indiz). Umgekehrt ist auch der Mangel einer solchen Bescheinigung und das Unvermögen, eine solche vorzulegen, kein Beweis für die Nichtexistenz einer Religion. Durch einen Verweis auf eine existierende Religionsgemeinschaft erleichtert sich die Darlegungslast insoweit, als dadurch unstreitig werden kann, dass die Religion existiert; der Beschwerdeführer muss dann nur noch seine Zugehörigkeit darlegen. Wiederum kommt es nicht auf einen förmlichen Beitritt an, sondern auf das individuelle Bekenntnis zur Lehre der Religion. Andererseits können auch Zweifel an der Religionsqualität einer unstreitig existierenden Organisation bestehen, der der Beschwerdeführer angehört. Ähnlich gelagert ist der Fall, in dem der Beschwerdeführer sich als Lichtanbeter bezeichnete und behauptete, als Strafgefangener an der Ausübung dieser Religion gehindert zu sein. Die EMRK stellte nicht in Frage, dass Lichtanbetung eine Religion sein könne, sah es aber als unsubstantiiert vorgetragen an, welche Ansprüche der Beschwerdeführer daraus ableitete bzw. wie er an der Ausübung seiner Religion gehindert würde128. Neben der Darlegung der Existenz der Religion obliegt es demnach dem Beschwerdeführer auch, die konkreten Auswirkungen und Vorgaben der Religion darzulegen, die er ausüben will. 127 128
EKMR, BNr. 7291/75, DR 11, S. 55 f. (Wicca). EKMR, BNr. 4445/70, YB 37 (1970), S. 119, 122 (X ./. BR Deutschland).
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(2) Gedanken Die Gedankenfreiheit schützt den internen Bereich der menschlichen Geistestätigkeit. Die Fähigkeit, sich Gedanken im Sinne des Art. 10 I S. 1 EGRC zu machen, ist ein Charakteristikum und Proprium des Wesens Mensch. Sie besteht im Wesentlichen darin, empfangene Informationen in intelligenter und reflektierender Weise geistig zu verarbeiten; der Gedanke ist das Produkt dieser Verarbeitung und kann verschiedene Formen annehmen (Eindruck, Werturteil; auch Gefühle, zumindest wenn der Mensch sich ihrer bewusst macht, da er sie dann in entsprechenden Gedanken reflektiert; etc.). Die positive Dimension der Gedankenfreiheit betrifft somit nur das forum internum; das Äußern der Gedanken wird von spezielleren Grundrechten (z. B. Meinungsäußerungsfreiheit) geschützt. In ihrer negativen Dimension enthält die Gedankenfreiheit die Gewähr, dass niemandem Gedanken aufgezwungen werden dürfen und schützt damit vor staatlicher Indoktrination129. Wegen ihres traditionell starken Bezugs zum forum internum ist die Gedankenfreiheit traditionell in geringerem Maße Gegenstand staatlicher Einschränkungsversuche gewesen. Aus diesem Grunde wurde im Grundrechtekonvent das Bedürfnis nach Schutz der Gedanken in Frage gestellt: der Abgeordnete O’Malley (IRL) schlug vor, die Gedankenfreiheit nicht ausdrücklich zu schützen. Er begründete dies mit dem Hinweis, die Gedanken seien ohnehin frei; daher könne man ihre Freiheit auch nicht rechtlich gewährleisten. Dies wurde zurückgewiesen mit dem Argument, die Gedankenfreiheit sei eine Grundposition der europäischen Geistesgeschichte, von der nicht ohne Not abgewichen werden dürfe130. (3) Gewissen Die Gewissensfreiheit wird in den Vorbildvorschriften Art. 18 AEMR und Art. 9 EMRK erwähnt, aber nicht erläutert. Auch der EGMR hat bisher keine Definition erstellt131. Die im deutschen Verfassungsrecht gebräuchliche Definition von Gewissen lautet: ein real erfahrbares seelisches Phänomen, dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind. Gewissensentscheidung ist demnach „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte“132. Diese Defini129 130 131
Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9 Rn. 2. Bernsdorff/Borowsky, S. 158. Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9 Rn. 3.
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tion krankt daran, dass sie auf sich selbst bezogen ist, da sie eine Gewissensentscheidung daran ermitteln will, ob jemand in Gewissensnot gerät. Akzeptabel und auf die EGRC übertragbar dürfte aber der Ansatz sein, dass die Betroffenheit des Gewissens durch das Merkmal der (unbedingten) Verpflichtung und Verbindlichkeit der Entscheidung für den Entscheidenden ausgelöst wird. Damit bezweckt die Gewissensfreiheit heute den Schutz des innersten Kerns der geistigen menschlichen Selbstbestimmung133. c) Eigener Ansatz zur Definition des Merkmals Religion Der EGMR hat zur Definition des Merkmals Religion eine kohärente Gesamtsicht auf Fragen mit fundamentalem und existentiellem Bezug gefordert134. Fraglich ist, was darunter zu verstehen ist. An diesen Definitionsansatz dürfen nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. Kohärente Gesamtsicht muss m. E. bedeuten, dass eine als religiös oder weltanschaulich behauptete Auffassung subjektiv für den Inhaber über den Einzelfall hinaus Bestand und Bedeutung hat. Die Auffassung muss für das Individuum eine auctoritas suprema, eine übergeordnete Autorität haben, so dass es sie als anlassunabhängige Quelle von Maßstäben und Werten begreift. Bereits ein vager, inhaltlich unqualifizierter und unspezifizierter Bezug zu fundamentalen Fragen reicht aus. Nicht erforderlich ist ein ausdifferenziertes System von Lehrsätzen. Zum einen hat der EGMR anerkannt, dass sich nicht nur Anhänger entwickelter Religionen auf Art. 9 EMRK berufen können, sondern auch Agnostiker, Freidenker und Uninteressierte, die sich mit religiösweltanschaulichen Fragen nicht auseinandersetzen wollen135. Diese Gruppen können ihre Auffassungen oftmals gerade nicht auf eine ausdifferenzierte, entwickelte Lehre stützen. Zum anderen darf wegen der Subjektivität des Rechtsguts Religion und Weltanschauung die Definition nicht auf ein objektives Kriterium verkürzt werden. Die Definition muss daher zulassen, dass ein subjektiv vorhandenes religiöses oder weltanschauliches Empfinden in Betracht gezogen wird, auch wenn es sich nicht definitorisch fassen lässt. Es ist nicht ausgeschlossen, dass ein Mensch ein schützenswertes religiöses Empfinden hat, auch wenn er dieses nicht auf eine entwickelte Lehre zurückführen kann. Insbesondere besteht die Gefahr, dass bei einer Definition, würde sie zu eng verstanden, besonders die einfachen, naiven oder unausgereiften religiösen Gefühle benachteiligt würden. Eine Bewertung nach dem 132
BVerfGE 12, 45, S. 55. Blum, S. 159; Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 70. 134 EKMR, BNr. 8741/79, DR 24, S. 137: „some coherent view on fundamental questions“. 135 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 37 (Kokkinakis ./. Griechenland). 133
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Wert, der Ausgereiftheit oder dem intellektuellen Anspruch der Religion oder Weltanschauung steht aber dem Staat gerade nicht zu und wäre ihrerseits eine Verletzung von Art. 10 I EGRC bzw. Art. 9 EMRK. Eine exakte Trennlinie zwischen Religion und Weltanschauung zu ziehen ist kaum möglich und für die Anwendung des Art. 10 I EGRC nicht erforderlich. Zum Zwecke der Begriffsklärung dürfte festzuhalten sein, dass im Kern einer Religion typischerweise ein Glaube steht. Glaube ist ein Gedankeninhalt, der nicht dem Beweise offen steht; was hingegen positiv bewiesen ist, ist nicht mehr Gegenstand des Glaubens. Daher bezieht sich Glaube auf ein Objekt, das außerhalb des naturwissenschaftlich beweisbaren Feldes liegt. Statt auf bewiesenem Wissen gründet sich der Glaube auf subjektiv empfundenes Vertrauen, Gefühl oder Ahnung, aus dem bzw. aus der die Zutreffendheit des Geglaubten hergeleitet wird. Zwischen Glaube und Naturwissenschaft muss keine einvernehmliche Zuweisung der Materie existieren; der Glaube kann die Naturwissenschaft subjektiv überlagern und leugnen. Glaubensgegenstand können somit auch Thesen sein, die als naturwissenschaftlich widerlegt und falsch gelten, z. B. die Leugnung der Evolution und die Auffassung von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen. Auch der EGMR hat bislang keine Definition für „Glauben“ gefunden. Die EKMR hat im bereits erwähnten „Wicca“-Fall entschieden, dass es dem Grundrechtsträger obliegt, darzulegen, dass es sich bei einer von ihm behaupteten Weltsicht um einen Glauben handele136. Aus dieser Zuweisung der Darlegungslast lässt sich zumindest folgern, dass die EKMR es abgelehnt hat, eine abschließende Definition von Glauben zu wählen, etwa dergestalt, dass der Glaube etabliert, althergebracht oder von einer bestimmten Anzahl von Anhängern geteilt werden müsse. Auch muss er nicht dem christlichen oder einem anderen etablierten religiösen Kulturkreis zuzurechnen sein. Dies ist auf Art. 10 I EGRC übertragbar. Damit ist auch gesagt, dass es auf einen Gottes- oder Transzendenzbezug herkömmlicher christlicher Art nicht ankommen kann137. Das oben erwähnte subjektive Element des Definitionsansatzes von Religion und Weltanschauung ist aber nicht unbeschränkt. Art. 10 I EGRC bzw. Art. 9 EMRK verlangen m. E. nicht, dass jeder denkbare Sachverhalt, der von einem Menschen mit einem religiösen Empfinden verbunden wird, den Schutz des Art. 10 I EGRC/Art. 9 EMRK genieße. Art. 10 I EGRC/Art. 9 EMRK vermittelt durch seinen Wortlaut einen bestimmten Bedeutungsrahmen, der vor unbegrenzter Beliebigkeit schützt: das Wort „Religion“ trägt eine gewisse, bestimmbare, wenn auch sehr weite Bedeutung in sich, die 136
EKMR, BNr. 7291/75, DR 11, S. 55 f. (Wicca). Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 71; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9, Rn. 5. 137
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aber als Rahmenbedeutung noch definierbar ist. Dieser Bedeutungsrahmen wird ausgefüllt durch den weitest gehenden Konsens der Rechtsgemeinschaft darüber, was der Begriff „Religion“ noch erfassen kann. Die soeben dargestellten Definitionsansätze sind im Grunde Versuche, diesen Bedeutungsrahmen auszuloten und abzustecken. Da sie aber, um dem subjektiven Charakter der Religionsfreiheit gerecht werden zu können, nicht verabsolutiert werden dürfen, muss der Grundrechtsadressat in einen Dialog mit dem Grundrechtsträger über die Definition eintreten. Dies löst das Dilemma der Definitionsmacht im Prinzip nicht, liefert aber praktisch brauchbare Handlungsanweisungen. Es bedeutet praktisch, dass die EU, die mit einer subjektiven Definition von Religion konfrontiert wird (also dem Anspruch eines Menschen, einem bestimmten, von ihm vorgebrachten Sachverhalt den Schutz des Art. 10 I EGRC zuzuerkennen), eine Plausibilitätskontrolle durchführen darf. Deren Inhalt ist es, zu überprüfen, ob bei der weitest denkbaren, noch gehaltvollen Ausdehnung des Religionsbegriffes in Art. 10 I EGRC dem Sachverhalt Schutz gewährt werden muss. Ist die Subsumtion eines Sachverhalts unter den Bedeutungsrahmen „Religion“ unter keinem Blickwinkel plausibel, d. h. mit dem weitest denkbaren Konsens der Rechtsgemeinschaft unvereinbar, so darf der Grundrechtsadressat (EU bzw. Mitgliedsstaaten) dem Sachverhalt die Anerkennung als durch die Religionsfreiheit geschützt verweigern. Über die subjektive Einordnung eines Sachverhalts trifft der Grundrechtsadressat damit kein Urteil; es bleibt jedem Menschen selbst überlassen, jedes Verhalten als für ihn religiös einzuordnen. Tritt das Verhalten jedoch nach außen, muss er die Plausibilitätskontrolle seiner subjektiven Definition hinnehmen. Dies mag ein Beispiel erläutern: subjektiv darf jemand die Flucht aus der rechtmäßigen Strafhaft für eine religiöse Handlung halten. Er muss aber akzeptieren, dass die Rechtsgemeinschaft diesen Sachverhalt nicht als von Art. 10 I EGRC erfasst ansieht, denn es gibt einen Konsens, dass selbst die weitest denkbare noch sinnvolle Auslegung der Religionsfreiheit dieses Verhalten nicht erfasst. Dieses Verhalten ist somit (vorbehaltlich besonderer Umstände) nicht unter den Tatbestand des Art. 10 I EGRC subsumierbar. Eine reine Schrankenlösung entspräche nicht dem Verständnis des Gesetzgebers und der Rechtsgemeinschaft, denn sie zwänge zu der Annahme, dass die Flucht aus der Strafhaft als Religion tatbestandlich erlaubt ist und nur durch die Schranken des Grundrechts verhindert wird.
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4. Die Ausgestaltung des Art. 10 I EGRC als Individualgrundrecht a) Schutzbereich (1) Persönlicher Schutzbereich Art. 10 I EGRC gewährt das Grundrecht jeder Person. Es handelt sich also in der Tradition des Art. 9 EMRK und der gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedsstaaten um ein Menschengrundrecht unabhängig von der Staats- und Unionsbürgerschaft. (2) Sachlicher Schutzbereich Der Inhalt des sachlichen Schutzbereichs stellt sich im Gegensatz zum persönlichen Schutzbereich unklar dar. Der Wortlaut spricht in S. 1 von einem Grundrecht mit den drei Freiheiten der Religion, der Gedanken und des Gewissens. In S. 2 wird die Religionsfreiheit aufgefächert in die Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Zwei Facetten dieser Freiheit werden dann beschrieben: die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, sie auf verschiedene Weise zu bekennen. (a) Religionsfreiheit Sprachlich legt der Wortlaut des S. 2 durch das Prädikat „[Dieses Recht] umfasst [. . .]“ nahe, dass es sich bei Wechseln und Bekennen um Freiheiten handelt, die bereits in dem von S. 1 beschriebenen Schutzbereich der Religionsfreiheit enthalten sind. Der Begriff „umfasst“ zeigt, dass S. 1 und S. 2 gemeinsam einen weiten Schutzbereich konzipieren, dessen Außengrenzen von S. 1 gezogen werden138. Die in S. 2 genannten Freiheiten befinden sich – räumlich dargestellt – innerhalb dieser Außengrenzen; sie werden lediglich deklaratorisch hervorgehoben. Der Grundrechtekonvent ging bei der Diskussion von Art. 10 I EGRC ebenfalls davon aus, dass die vorgeschlagene Kurzfassung bestehend nur aus S. 1 („Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit“) den gesamten Schutzbereich der Vorbildvorschrift Art. 9 I 138 So auch für die englische Fassung des Art. 9 EMRK Evans, S. 67: „Freedom of religion or belief is said in the text of Article 9 to include freedom to change religion or belief and a freedom to manifest one’s religion or belief in certain ways. Yet it is clear both from the text (particularly the use of the non-exclusive term ‚includes‘) and from the decisions of the Court and Commission that these two elements are only part of a broader notion of freedom of religion“.
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EMRK erfasst und S. 2 nur einige Auswirkungen der Religionsfreiheit hervorhebt, jedoch keine eigenständigen Rechte enthält139. Der These, mit S. 1 sei der Schutzbereich abschließend umschrieben, schloss sich die Mehrheit der Konventsmitglieder an140. Lediglich ein Mitglied war der Auffassung, S. 2 habe eigenständige Bedeutung, da der S. 1 die „internen Freiheiten“ (sic) nicht schütze141, und weil S. 2 über die individuelle Freiheit hinaus die sozialen Erscheinungen [der Religionsfreiheit] berücksichtige142. Der Konvent entschied sich dann zwar für die Langversion (in Übereinstimmung mit Art. 9 I EMRK), ausweislich der Änderungsanträge mit Begründungen143 jedoch nicht, weil S. 1 nicht umfassend wäre, sondern weil die deklaratorische Wirkung von S. 2 für erstrebenswert gehalten wurde und Fehlschlüsse aus der Diskrepanz einer Kurzversion zu Art. 9 I EMRK vermieden werden sollten144. Wie bereits Art. 9 I EMRK unterscheidet Art. 10 I EGRC nicht trennscharf zwischen einem internen Bereich der Religionsfreiheit in S.1 und einem externem Bereich in S. 2. Im Ergebnis ist aus dem Wortlaut „Dieses Recht umfasst [. . .]“ und der Entstehung des Art. 10 I EGRC zu schließen, dass S. 1 den Schutzbereich abschließend und umgreifend erfasst. S. 2 ist demgegenüber keine Erweiterung, sondern erläutert vielmehr klarstellend besonders wichtige Lebensbereiche innerhalb dieser Außengrenzen. Allein maßgeblich für die Frage, ob ein Sachverhalt vom Recht des Art. 10 I EGRC erfasst ist, ist demnach Satz 1. Die Erwähnung in Satz 2 ist dafür in positivo ein Indiz, in negativo aber kein Ausschlusskriterium. Um den Inhalt des sachlichen Schutzbereichs zu erschließen, wird nun in einem ersten Schritt der beschriebene Bereich des S. 2 untersucht, der wegen seiner Ausdrücklichkeit besser zugänglich ist. In einem zweiten Schritt wird dann der unbeschriebene Bereich des Art. 10 I EGRC analysiert. Der sperrige Wortlaut des S. 2 enthält eine wenig strukturierte Reihe von Aussagen. Zerlegt man Satz 2 in seine einzelnen Teile, so findet man zuerst zwei sprachlich getrennte (parataktisch nebeneinander gestellte) „Freihei139 Entwurf der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 24.2.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4137/00). 140 Bernsdorff/Borowsky, S. 158. 141 Bernsdorff/Borowsky, S. 158; sinnvoll ist aber nur „externe Freiheiten“. 142 Bernsdorff/Borowsky, S. 187. 143 Änderungsanträge Nr. 252 (Berthu), 254 (van Dam), 255 (Hirsch Ballin/ Patijn), 256 (Voggenhuber/Buitenweg), 257 (Meyer/Leinen/Martin), 258 (Friedrich), 259 (Neisser), 263 (Einem/Holoubek), 264 (Vitorino), 265 (Cisneros), 270 (Tarschys), 271 (Rodotà/Paciotti/Manzella), 272 (Mombaur), vgl. EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4360/00. 144 s. o. Kap. C.III.2.b)(1).
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ten“: (1) die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und (2) die Freiheit, sie in verschiedener Weise zu bekennen. (aa) Das Wechseln der Religion und Weltanschauung Fraglich ist, warum der Aspekt des Wechselns der Religion und Weltanschauung zum besonders hervorgehobenen Bereich des Art. 10 I EGRC genommen wurde. Der zu Grunde liegende Art. 9 I EMRK hebt diese Freiheit ebenfalls hervor, wiederum in der Tradition des Art. 18 AEMR. Der Aspekt des Wechselns ist inhaltlich ohne Schwierigkeiten in der Religionsfreiheit des S. 1 unterzubringen. Die besondere Betonung dürfte zwei Gründe haben: durch die Dimension des Wechselns wird das dynamische Element des Rechts auf Religionsfreiheit erkannt und hervorgehoben. Es ist nicht nur garantiert, in der Religion ungestört zu leben, die jemand bereits angenommen und eventuell amtlich bekannt hat, sondern auch, eine andere Religion oder gar keine Religion zu wählen. Der Wechsel einer Religion setzt ferner das Haben und das Bilden einer Religion und Weltanschauung voraus und betont somit im Rückschluss diesen unbeschriebenen Bereich des Schutzbereichs von S. 1145. Zweitens macht das Recht des Wechselns deutlich, dass auch in Systemen mit Staatskirche garantiert wird, diese verlassen zu können und von ihr unbehelligt zu sein. Eine praktisch relevante Frage ist, wieweit sich das auf die von einer Staatskirche ausgeübten verwaltungsmäßigen Angelegenheiten auswirkt, etwa wenn eine Staatskirche das Register des Zivilstandes verwaltet. Hier muss Art. 10 I EGRC jedenfalls so ausgelegt werden, dass er eine Freiheit garantiert, von jeglicher religiös beeinflusster Entscheidung der Staatskirche unbehelligt zu sein. Beantragt jemand etwa eine Eintragung oder Löschung von Kirchenzugehörigkeit, Taufe oder Eheschließung, so muss die Verwaltungsentscheidung darüber unter rein weltlichen Erwägungen gefällt werden, auch wenn eine staatskirchliche Stelle sie vornimmt. Andererseits ist mit Art. 10 I EGRC vereinbar, dass bestimmte weltliche Formalitäten eingehalten werden, etwa dass der Austritt aus einer Kirche gegenüber Steuerbehörden erklärt werden muss, bevor man in den Genuss von Kirchensteuerfreiheit gelangt146, denn 145 Kritisch zur Formulierung des Art. 10 I EGRC, die diesen Rückschluss erfordert: Häfner/Strawe/Zuegg, ZRP 2000, S. 367; diese Autoren schlagen vor, nicht die Freiheit, die Religion zu wechseln (mit den o. g. Rückschlüssen), zu erwähnen, sondern die Freiheit, die Religion frei zu bestimmen. Dies soll deutlicher werden lassen, dass die EGRC von einem mündigen Bürger ausgeht, der seine Gedanken und Urteile im weltanschaulichen Bereich von Grund auf selbst bilden darf. Im Ergebnis besteht aber kein Unterschied; vgl. Kap. C.III.2.c). 146 So für Art. 9 EMRK: EKMR, BNr. 10616/83, DR 40, S. 284 (Gottesmann ./. Schweiz).
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Art. 10 I EGRC enthält kein Recht auf Freiheit von weltlicher Bürokratie. Die Erklärung ist von den zuständigen Stellen selbstverständlich wertungsfrei entgegen zu nehmen. (bb) Das Bekennen der Religion und Weltanschauung Art. 10 I S. 2 EGRC benennt ausdrücklich das Recht, seine Religion und Weltanschauung zu bekennen. Fraglich ist, wie weit der Begriff des Bekennens zu verstehen ist. Zur Auslegung ist besonderes Augenmerk auf die authentische englische und französische Fassung der Vorbildvorschrift des Art. 9 I EMRK zu legen. Auch hier stellt sich die Frage nach dem Zweck der Hervorhebung des Bekennens. Zum einen soll die deklaratorische Erwähnung wie auch beim Wechseln der Religion den besonderen Stellenwert dieses Aspektes verdeutlichen, da gerade das Bekennen des Glaubens für die meisten Religionen ein Wesensmerkmal ist und sich im Bekennen in besonderer Weise das Erfüllen eines religiösen Auftrages manifestiert. Insofern handelt es sich um einen echten Kernbestand der Religionsfreiheit. Die Entstehungsgeschichte deutet ferner darauf hin, dass ursprünglich eine Unterscheidung zwischen dem forum internum und dem forum externum gemacht werden sollte. In der durch die Aufklärung begründeten Rechtstradition umfasste die Religionsfreiheit zwar jeher neben dem forum internum selbstverständlich auch die Ausübungsfreiheit147. Die Entstehung des Art. 18 AEMR zeigt, dass es dort entgegen dieser Tradition zur Trennung in die Teilbereiche der internen Religionsfreiheit und der Ausübungsfreiheit kam. Damit sollte die differenzierte Beschränkbarkeit des Grundrechts ermöglicht werden: Halbsatz eins sollte die innere Freiheit unbeschränkt gewährleisten, Halbsatz zwei sollte als Ausdruck äußerer Umsetzung der Religionsfreiheit Schranken unterworfen sein. Diese Unterscheidung verlor ihre Stringenz, als man sich für einen allgemeinen Querschnittsschrankenvorbehalt in Art. 29 II AEMR entschied. In Art. 9 EMRK wählte man dann eine Schrankenregelung, die nicht zwingend einen unterteilten Schutzbereich voraussetzt, da in der Schranke selbst geklärt wird, dass sie sich auf die externen Bereiche der Religionsfreiheit erstreckt (maßgeblich Art. 9 II EMRK englisch: „Freedom to manifest one’s religion and beliefs shall be subject only to such limitations [. . .]“ und französisch: „La liberté de manifester sa religion ou ses convictions ne peut faire l’objet 147 Art. 10 der Allgemeinen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 lautet: Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, meme religieuses, pourvue que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public etabli par la loi. Zusatzartikel 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1791 beginnt: Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof [. . .].
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d’autres restrictions [. . .]“; amtliche deutsche Übersetzung148: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen [. . .]“, unklar dagegen die offizielle deutsche Fassung von 1952149: die Formulierung „Die Religionsund Bekenntnisfreiheit [. . .]“ ist nicht klar auf das forum externum begrenzt). Art. 9 I EMRK hält dann seinerseits die strikte Unterscheidung in einen internen Bereich im 1. HS und einen externen Bereich im 2. HS nicht ein, da der 2. HS die Freiheit des Religionswechsels einschließt, was zweifellos auch ein interner Vorgang ist. Bereits die in Art. 10 I S. 2 EGRC genannten Formen des Bekennens zeigen, dass Bekennen nicht nur das Bezeugen einer Glaubenszugehörigkeit durch sprachliche Äußerungen meint. Bekennen durch „Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten“ verdeutlicht, dass es um ein Bekennen durch Wort und durch Handeln geht. Der inhaltlichen Aussage des Art. 10 I S. 2 2. Alt. EGRC nähert man sich durch eine vergleichende Auslegung der Begriffe „manifest“/„manifester“ sowohl in Art. 9 I EMRK und Art. 10 I EGRC. Diese Vorschriften können gleichwertig zur Auslegung herangezogen werden, da der Grundrechtekonvent den Wortlaut übernahm und die Materialien keine Hinweise enthalten, dass eine Bedeutungsänderung beabsichtigt war. „Manifest“/„manifester“ sind in ihren Sprachen jeweils weniger eng als das deutsche Bekennen. Sie bezeichnen das „Äußern“ im Sinne von „Nach-Außen-Tragen“ innerer Vorstellungen, also das Externalisieren des forum internum. Eine Eingrenzung auf ein „Äußern durch Sprache“, wie ein unbefangenes Verständnis des Wortes „bekennen“ suggerieren könnte, liegt ihnen fern. Insofern kommt das Manifestieren der Bedeutung von „Ausüben“ näher als der von „Bekennen“. Die amtliche deutsche Übersetzung des Art. 9 EMRK von 1952150 gebraucht den Begriff des „Ausübens“ der Religion und Weltanschauung. In der deutschen Version des Art. 10 I EGRC wird stattdessen der Begriff „Bekennen“ verwendet, den auch die amtliche deutsche Fassung der EMRK seit der sprachlichen Neufassung der deutschen Übersetzung151 2002 verwendet. Ein Bedeutungswandel kann damit nicht intendiert sein; für eine Bedeutungsänderung gibt Art. 2 des deutschen Gesetzes zur neuen deutschen Fassung der EMRK vom 24. Juli 1995 keine Grundlage, da die authentischen Versionen diesbezüglich unverändert geblieben sind. Der Sinn der Maßnahme, „Ausüben“ in der deutschen Neuübersetzung der englischen/französischen Versionen des Art. 10 I EGRC durch „Bekennen“ zu ersetzen, liegt wohl darin, die ungelenke Formulierung der deutschen Version des Art. 9 I EMRK von 1952 zu 148
BGBl. 2002 II S. 1059. BGBl. 1952 II S. 689. 150 BGBl. 1952 II S. 689. 151 BGBl. 2002 II S. 1054 ff., 1059; sprachliche Neufassung der deutschen Übersetzung auf Grund des Art. 2 des Gesetzes vom 24.7.1995, BGBl. 1995 II S. 578. 149
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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vermeiden. Diese lautet nämlich tautologisch: „[. . .] dieses Recht umfasst [. . .] die Freiheit, seine Religion [. . .] durch die Ausübung [. . .] religiöser Gebräuche auszuüben“152. Der EGMR hat in einem Urteil auf der Basis des französischen Wortlauts des Art. 9 I EMRK („manifester“) festgestellt, dass das Schlachten von Tieren gemäß religiöser Vorschriften ein „Manifestieren“ der Religion durch Bräuche und Riten ist153. Dieses Urteil ist ohne weiteres auf Art. 10 I EGRC übertragbar, da der französische Wortlaut von Art. 9 I EMRK mit Art. 10 I EGRC übereinstimmt. Rituelles Schlachten ist also ein „Bekennen“ der Religion im Sinne von Art. 10 I EGRC. Bekennen ist demnach im umfassenden Sinne von Manifestieren zu verstehen. Art. 10 I S. 2 2. Alt. EGRC/Art. 9 I EMRK zählt sodann vier Arten auf, die Religion und Weltanschauung zu manifestieren: Gottesdienst, Unterricht, Praktizieren von Bräuchen und Riten (Art. 10 I EGRC) bzw. Worship, Teaching, Practice und Observance (engl. Art. 10 I EGRC und Art. 9 I EMRK) und Culte, Enseignement, Pratiques und Accomplissement des Rites (franz. Art. 10 I EGRC und Art. 9 I EMRK). Hier ist zu fragen, ob die Liste beispielhaften Charakter aufweist, oder ob sie eine abschließende Aufzählung ist. Dies ist umstritten. Zur Vorbildvorschrift des Art. 18 AEMR wird vertreten, dass die Aufzählung nicht abschließende Beispiele enthalte. Begründet wird dies mit dem Argument, dass die Erklärung der Menschenrechte zum Ziele habe, alle Religionen und Weltanschauungen zu umfassen. Da aber jede Religion eine andere Art der Ausübung kennt und alle jeweils gleich geachtet und geschützt werden müssen, könne die Liste nicht abschließend sein154. Die Rechtssprechung zu Art. 9 I EMRK scheint zu einer restriktiveren Auslegung zu tendieren. Dies wird jedoch dadurch kompensiert, dass die einzelnen Begriffe der Aufzählung weit ausgelegt werden. Im ArrowsmithUrteil155 standen sich beide Auffassungen unmittelbar gegenüber: die Beschwerdeführerin machte geltend, die Aufzählung sei nicht abschließend; die Beklagte behauptete genau dies und darüber hinaus, dass die Handlungen der Beschwerdeführerin unter keines der Aufzählungsmerkmale zu subsumieren seien. Die EKMR konzentrierte sich ausschließlich auf die Frage, ob die streitgegenständliche Handlung – das Verteilen von pazifistischen Flugblättern an Soldaten – als „practice“ der Weltanschauung Pazifismus 152
Darauf weist auch Blum, S. 67, hin. So für Art. 9 I EMRK: EGMR, Urteil vom 27.6.2000, Reports 2000-VII (Cha’are Shalom Ve Tsedek ./. Frankreich). 154 Evans, S. 105, m. w. N. 155 EKMR, BNr. 7050/75, DR 19 (1978), S. 5 ff. (Arrowsmith ./. Vereinigtes Königreich); für eine ausführliche Diskussion des Arrowsmith-Falles vgl. Evans, S. 111 ff. 153
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
verstanden werden kann. Daraus ist nicht zwingend zu schließen, dass sich die EKMR gegen die Auslegung der Liste als beispielhafte Aufzählung wendet156; es ist auch plausibel, dass die EKMR lediglich den Weg über die weite Auslegung des Begriffs „practice“ als einfacher ansah als Überlegungen zur Natur der Aufzählung anzustellen. M. E. ist es in der Sache überzeugender, die Aufzählung als Aufführung von beispielhaften und typischen Äußerungsformen von Religion und Weltanschauung zu begreifen, aber nicht als numerus clausus. Zwar lässt der Wortlaut beide Interpretationen zu. Doch ist nach der ratio des Art. 10 I EGRC/9 EMRK von einem umfassenden Schutz für Religionen und Weltanschauungen auszugehen. Die entgegengesetzte Position, die Norm böte eben keinen umfassenden Schutz, da sie in Folge der Aufzählung bestimmte Formate bevorzuge, überzeugt als Ansatz nicht. Denn Art. 10 I EGRC/ Art. 9 EMRK bezweckt im Kern den gleichmäßigen Schutz religiöser und weltanschaulicher Empfindungen ungeachtet ihres Inhalts, ihres inneren Entwicklungsgrades und ihrer Traditionen. Diese können für das Individuum gleich zwingend und überzeugend sein, unabhängig von ihren Äußerungsformaten. Der Staat muss sich daher einer Wertung enthalten. Unter dieser Prämisse ergeben sich, wenn man die Liste als abschließende Aufzählung interpretiert, einige kaum erklärbare Unschlüssigkeiten. Die Aufzählung enthält Begriffe, die nicht gleichermaßen auf alle Religionen und Weltanschauungen passen. Eine Vorauswahl der Ausübungsformen, die bestimmte Religionen bevorzugt, wäre ihrerseits ein Verstoß gegen den Geist und Sinn der Norm. Besonders schwierig wäre die Situation für die Weltanschauungen, die gleichberechtigt mit der Religion genannt werden. Sie weisen keine so typischen, ritualisierten Manifestationsformen auf und gerieten ins Hintertreffen, wenn standardisierte religiöse Äußerungsformen bevorzugt würden. Religionen erfordern von ihren Anhängern häufig bestimmte ritualisierte Handlungen, Weltanschauungen sind meist viel informeller und fordern keine standardisierten Handlungen wie Bräuche oder Riten: das Verteilen von Flugblättern mit pazifistischem Inhalt ist kein unabdingbares Gebot des Pazifismus wie etwa das religiöse Gebot, Gottesdienst abzuhalten. Die an sich gleich geschützten Weltanschauungen kämen also zu einem geringeren Schutzstandard, weil ihre Manifestationsarten weniger standardisiert sind, obwohl sie vom Individuum durchaus nicht weniger als bindend oder subjektiv-obligatorisch empfunden werden müssen. Die EMRK kommt in Arrowsmith zu dem Ergebnis, dass das Verteilen der Flugblätter kein Brauch des Pazifismus sei, allerdings mit der Begründung, der Inhalt der Flugblätter beschäftige sich nicht mit dem Pazifismus als solchem, sondern sei eine politische Meinungsäußerung. Dies belässt immerhin 156
So folgert Evans, S. 106.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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die Möglichkeit, dass das Verteilen von Flugblättern grundsätzlich ein Brauch sein kann. Dadurch würde aber der Begriff „practice“ bzw. „pratiques“ sehr weit ausgedehnt. Dies ist für den englischen Begriff „practice“ noch recht unproblematisch, da er einen weltlichen und sehr unbestimmten Inhalt aufweisen kann157. Doch der französische Terminus „pratiques“, der gleich maßgeblich ist, weist einen deutlich religiöseren Beiklang auf und entspricht eher dem deutschen Begriff „(religiöse) Bräuche“. Hier müsste also der maßgebliche französische Begriff übermäßig ausgedehnt werden. Das von der EKMR als Ausdruck der pazifistischen Weltanschauung akzeptierte Verteilen von Flugblättern ist mangels Ritualisierung wohl kaum als „Brauch“ anzusehen, selbst wenn der Inhalt der Flugblätter den Pazifismus als solchen behandelte. Daher gelingt eine beabsichtigte Kompensation der Begrenztheit der Aufzählung durch eine weite Interpretation der einzelnen Aufzählungsmerkmale nicht in plausibeler Weise. Überzeugender ist es daher, die Aufzählung als eine nicht abschließende Liste von typischen Manifestationsformen zu interpretieren158. Doch auch unter dieser Hypothese ist es erforderlich, eine Grenze zu ziehen: nicht jede beliebige Handlung kann als Manifestation einer Religion und Weltanschauung aufgefasst werden. Um einen beliebigen und überdehnten Schutzbereich des forum externum zu vermeiden, muss abgegrenzt werden, welche Handlungen eine durch Art. 10 I EGRC/Art. 9 I EMRK geschützte Manifestation von Religion und Weltanschauung sind, und welche lediglich religiös oder weltanschaulich motivierte Handlungen außerhalb des Schutzbereichs der Religionsfreiheit sind159. Damit verlagert sich die Abgrenzung weg von der Frage nach ritualisierten Ausdrucksformen in den Bereich der Frage, was eine „Manifestation“ und was Religion und Weltanschauung ist. Diese ist ebenfalls sehr schwierig zu beantworten, doch wird sie auf diese Weise in einer offeneren Perspektive untersucht, die nicht bestimmte Religionen und Weltanschauungen ihrer typischen Formate wegen bevorteilt. Für die Abgrenzung, was als geschützte Manifestation zu akzeptieren ist, bietet sich der Arrowsmith-Test an. Dieser Test wurde von der EMRK ursprünglich für die Subsumtion unter das Tatbestandsmerkmal „practice“ i. S. d. Art. 9 I EMRK entwickelt. Die EMRK erkannte in Arrowsmith, dass Flugblätter eine Manifestation einer pazifistischen Weltanschauung sein können, andererseits aber Handlungen, die die Weltanschauung nicht manifestieren, nicht vom Schutzbereich des Art. 9 I EMRK umfasst seien, selbst wenn sie von der Weltanschauung beeinflusst seien160. In späteren Entschei157
Evans, S. 110. So auch Muckel, DÖV 2005, S. 193. 159 EKMR, BNr. 7050/75, DR 8 (1977), S. 123 ff. (Arrowsmith ./. Vereinigtes Königreich; Zulässigkeit). 158
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
dungen wurde der Test auch auf andere Merkmale des Art. 9 I S. 2 2. Alt. EMRK ausgedehnt und zur Frage umgeformt, ob eine Handlung von der Religion oder Weltanschauung geboten sei. Die EKMR entwickelte somit ein Erforderlichkeitskriterium, mit dem sie prüft, ob eine Handlung von einer Religion oder Weltanschauung geboten sei, anstatt lediglich von ihr motiviert oder beeinflusst zu sein. Die Frage, ob eine Handlung erforderlich sei, muss nach dem subjektiven Empfinden des Grundrechtsträgers beurteilt werden, das er darzulegen verpflichtet ist, und nicht nach objektiven Maßstäben. Dies ergibt sich aus der starken individuellen Dimension von Religion und Weltanschauung. Objektive Maßstäbe, etwa die amtlichen Lehren einer Religion, kämen nur bestimmten großen, etablierten Religionen zu Gute, die über intellektuell entwickelte Lehrsätze verfügen, und den Anhängern, die diesen Lehrsätzen gehorsam folgen. Benachteiligt würden kleinere und neuere Religionsgemeinschaften, die noch nicht über solche Lehren verfügen, und Glaubensanhänger, die nicht den etablierten Lehrsätzen folgen, sondern ihre eigenen Ansichten als verbindlich empfinden161. Der Arrowsmith-Test ist seinerseits nicht zwingend und trennscharf162. Er postuliert eine sehr enge, direkte Verbindung zwischen der Handlung und der Religion oder Weltanschauung, kann aber nicht präzisieren, welche Handlungen abstrakt als geschützte Manifestation einer Religion oder Weltanschauung geschützt seien. Während die Grenze bei religiös-weltanschaulich motivierten Handlungen zu weit gezogen erscheint, dürfte es zu strikt sein, nur „zwingend gebotene“ Handlungen zu akzeptieren, denn damit würde die Religionsfreiheit auf die nicht aufgebbaren Mindestgebote einer Religion beschränkt. Die Bedeutung der Religionsfreiheit verlangt aber, dass mehr geschützt wird als der Kern der Lehre, für den ein Anhänger zum Martyrium bereit wäre. Eine Entscheidung ist immer nur im Einzelfalle möglich. Die EKMR hat mit dem Test u. a. entschieden, dass die Ehe eines islamischen Mannes mit einem vierzehnjährigen Mädchen, die gegen britisches Recht verstieß, weil dieses ein Mindestheiratsalter von 18 Jahren vorsieht, keine Ausübung der Religion sei, weil die islamische Religion eine solche Ehe zwar zulässt, aber nicht gebietet163. Die Ehe sei somit lediglich religiös beeinflusst, aber nicht geboten gewesen. Das Begehren ei160
„It is true that public declarations [. . .] may be considered [. . .] as a manifestation of pacifist belief. However, when the actions of individuals do not actually express the belief concerned they cannot be considered to be as such protected under Article 9.1, even when they are influenced by it“, EKMR, BNr. 7050/75, DR 19 (1978), S. 5 ff. (Arrowsmith ./. Vereinigtes Königreich), S. 20. 161 Evans, S. 122 f., 132. 162 Evans, S. 115 ff. 163 EKMR, BNr. 11579/85, DR 48 (1986), S. 253 (Khan ./. Vereinigtes Königreich).
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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nes islamischen Lehrers an einer öffentlichen Ganztagsschule, vom Unterricht freigestellt zu werden, um am Freitagsgebet teilzunehmen, wurde zurückgewiesen, weil der Beschwerdeführer nicht dargelegt habe, dass seine Religion ihm zwingend gebiete, an dem Gebet teilzunehmen164. Art. 10 I S. 2 2. Alt. EGRC/Art. 9 I S. 2 2. Alt. EMRK sind demnach so auszulegen, dass sie eine als verbindlich empfundene und somit religiösweltanschaulich gebotene Manifestation der Religion oder Weltanschauung schützen. Diese kann andere Formen annehmen als die in der nicht abschließenden Aufzählung enthaltenen Formate. Daraus ergibt sich, dass S. 2 2. Alt. die gesamte Bandbreite des forum externum erfasst. Somit enthält und beschreibt Art. 10 I S. 2 2. Alt. EGRC wie Art. 9 I S. 2 2. Alt. EMRK einen umfassenden Schutz für das forum externum der Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Die Definitionen der in S. 2 genannten Merkmale verlieren an Bedeutung, wenn man die Aufzählung als nicht abschließend auffasst. Dennoch ist die Untersuchung wichtig, da über die Beispiele eine verdeutlichende Wirkung dafür gewonnen wird, was vom Manifestieren erfasst sein soll. Das Merkmal „Gottesdienst“ ist in der EMRK-Rechtssprechung nicht definiert worden, sondern wird als selbstverständlich behandelt165. Der Terminus darf nicht in der Art und Weise einer bestimmten Religion oder im Sinne einer bestimmten Liturgie verstanden werden. Auch er ist nach dem dargelegten subjektiven Empfinden eines Grundrechtsträgers zu beurteilen. Daher ist er denkbar weit und kann die gesamte Brandbreite von Handlungen erfassen, die mit der aufrichtigen Absicht vorgenommen werden, dem Gott als Bezugspunkt des individuellen Glaubens zu dienen, also seinem subjektiv aufgefassten Willen zu folgen. Das Recht, seine Religion durch Gottesdienst zu manifestieren, umfasst das Recht, Orte des Gottesdienstes nach den Vorgaben der jeweiligen Religion zu schaffen, und entsprechende Kultgegenstände haben zu dürfen166. Das Merkmal des „Unterrichts“ ist ebenfalls nicht abschließend definiert worden. In der Rechtssprechung zu Art. 9 EMRK ist es in einem weiten Sinne aufgefasst worden, der allgemein das Informieren über einen Glauben und dessen Lehren umfasst167. Vereinzelt wird vertreten, dass „Unterricht“ 164
EKMR, BNr. 8160/78, DR 22 (1981), S. 27 ff. (X ./. Vereinigtes Königreich). Evans, S. 107 f. 166 EGMR, Urteil vom 26.9.1996, Reports 1996-IV, S. 1346, 1361 (Manoussakis et al. ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 9.12.1994, Serie A-301-A, S. 28, 38 (Heilige Klöster ./. Griechenland). 167 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 42 (Kokkinakis ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 24.2.1998, Reports 1998-I, Rn. 43 f. (Larissis ./. Griechenland). 165
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
auf rein informatorische Tätigkeiten ohne missionarische Absichten beschränkt sein müsse, sich nur auf Schulunterricht oder andere formalisierte Vermittlungsansätze beziehe oder jedenfalls nicht Praktiken wie Gehirnwäsche umfasse168. Andere Richter am EGMR verlangen vom Unterrichtenden Offenheit und Aufrichtigkeit, damit seine Handlungen vom Tatbestandsmerkmal Unterricht erfasst seien169. Dem ist nicht zuzustimmen. Eine Beschränkung auf reine Wissensvermittlung ohne missionarische Absichten ist nicht vom Wortlaut gedeckt und widerspricht dem Selbstverständnis der meisten Religionsgemeinschaften, die die Bekehrung Andersgläubiger als Teil ihres göttlichen Auftrages verfolgen. Da dies geradezu das Wesen einer Religion ausmachen kann, ist dies auch von Art. 9 EMRK erfasst. Eine Begrenzung auf formalisierten Unterricht in Schulen ist Art. 9 I EMRK ebenfalls nicht zu entnehmen. Dass das Unterrichten gewissen Grenzen unterworfen sein muss und nicht in Gehirnwäsche oder ähnliche Praktiken ausarten darf, ist selbstverständlich. Da diese Grenzen aber durch die kollidierenden Rechtsgüter Dritter bestimmt werden, sollten sie nicht in den Wortlaut hineingelesen werden, sondern im Rahmen der Schranken ermittelt werden. Auch enthält das Merkmal Unterricht per se keine Anforderung an eine besondere charakterliche Aufrichtigkeit oder Offenheit des Unterrichtenden. Der Begriff des Unterrichts sollte daher m. E. durch das Ziel der Wissensvermittlung und des Missionierens definiert sein; inakzeptable Methoden dieser Tätigkeit sollten über die Schranken ausgeschieden werden. Das Merkmal „Bräuche“ leidet wie bereits dargestellt unter den Diskrepanzen der autoritativen Sprachversionen der EMRK: das französische Wort „pratiques“ hat einen stärker auf den religiösen, ritualisierten Bereich begrenzten Klang als das englische „practice“. Bei der EGRC kommt noch hinzu, dass sie in allen EU-Amtssprachen verbindlich sein wird, in deren Übersetzungen sich diese Diskrepanz fortsetzen wird. Wegen des Verweises des Art. 52 III EGRC auf den Bestand, der an Hand des Art. 9 I EMRK erreicht worden ist, ergibt sich hier die bemerkenswerte Situation, dass ungeachtet des verbindlichen Wortlauts vieler Amtssprachen dem Merkmal die Bedeutung gegeben werden muss, die es in der englischen oder französischen Vorbildvorschrift und der darauf beruhenden Rechtssprechung hat – bei einer ungenauen Übersetzung möglicherweise auch contra litteram legis. M. E. ist das Merkmal so konturenlos, dass jede Definition unter einer erheblichen Unsicherheit leidet und keine Abgrenzung zu leisten in der Lage ist. Der Schwerpunkt sollte daher nicht darauf gesetzt werden, dieses Merkmal zu bestimmen. Entscheidend ist es, auf die Frage abzustellen, ob eine 168
EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, (Kokkinakis ./. Griechenland), Sondervotum des Richters Valticos. 169 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, (Kokkinakis ./. Griechenland), Sondervotum der Richter Foighel und Loizou.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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Handlung eine gebotene Manifestation der Religion oder Weltanschauung ist oder lediglich von ihr motiviert wurde. Dabei hilft näherungsweise der Arrowsmith-Test – ungeachtet der Frage, ob die Handlung ein Brauch, eine „practice“ oder „pratiques“ sein mag. Auch der Terminus „Riten“ (engl. „observance“, franz. „accomplissements des rites“) ist bislang nicht in der EMRK-Rechtssprechung definiert worden. Er suggeriert eine Befolgung von Regeln, die von einer religiösen Autorität festgelegt oder durch eine längere, mit wiederkehrender Regelmäßigkeit befolgte Übung begründet, als dem Gottesdienst besonders förderlich gelten. Der EGMR trennt daher auch nicht zwischen Gottesdienst und Riten170. Die Unbestimmtheit dieser vier Begriffe spricht in der Gesamtbeurteilung dafür, sie nicht als abschließende Liste zu verstehen, da sie eine exakte Beschreibung des Schutzbereichs der Manifestation von Religion und Weltanschauung nicht leisten können. (cc) Der unbeschriebene Bereich des Art. 10 I EGRC Die Ausführungen zu S. 2 machen deutlich, dass S. 2 den gesamten Schutzbereich des Art. 10 I S. 1 EGRC nur ausschnittsweise beschreibt. Er benennt nur den Aspekt des Wechselns der Religion und Weltanschauung und das Manifestieren, dessen Formen aber wiederum nur durch eine beispielhafte Aufzählung erwähnt werden. Andere Bereiche der Religionsfreiheit bleiben demnach unbeschrieben. Dass die unbeschriebenen Bestandteile in Art. 10 I EGRC ebenfalls enthalten sind, zeigt sich einerseits am Wort „umfasst“. Es verdeutlicht, dass S. 2 den Bereich des S. 1 nicht kongruent abdeckt. Der unbeschriebene Bereich zeigt sich auch in der Tatsache, dass sowohl das in S. 2 erwähnte Wechseln als auch das Bekennen als Ausdruck des forum externum ein Haben und Bilden des Glaubens, also ein umfangreiches forum internum voraussetzen. S. 2 liefe sonst leer. Eine abschließende Aufzählung der unbeschriebenen Bestandteile, die das geschützte forum internum bilden, lässt sich zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht aufstellen. Dazu ist nähere Judikatur abzuwarten. Dennoch ist es möglich, die Norm mit Inhalt zu füllen, der als gesichert geltend kann. Die Absicherung dieses Inhalts erfolgt zum einen über die denklogische Erschließung des Inhalts, zum anderen durch Rückgriff auf die vorhan170 Urteil vom 26.9.1996, Reports 1996-IV, S. 1346, 1361 (Manoussakis et al. ./. Griechenland).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
dene und übertragbare Rechtssprechung und Kommentierung der Vorbildvorschrift des Art. 9 I EMRK. Das Bilden und Haben eines Glaubens kann denklogisch als Inhalt des Art. 10 I EGRC erschlossen werden. Eine Methode der denklogischen Erschließung des unbeschriebenen Inhalts des Art. 10 I S. 1 EGRC besteht in dem Modell der konzentrischen Kreise, das eine Schlussfolgerung a maiore ad minus zulässt171. Dies beruht auf der Annahme, das die verschiedenen Inhalte des Art. 10 I EGRC wie konzentrische Kreise um einen innersten Kern gelagert sind. Daraus lässt sich ableiten: setzt eine Aussage, die einem äußeren Kreis zuzuordnen ist, eine andere Aussage zwingend voraus, so kann gefolgert werden, dass der vorausgesetzte Inhalt in einem der inneren Kreise enthalten sein muss. Wenn also der Inhalt des äußeren Kreises gesichert ist, weil er in den in S. 2 beschriebenen Bereich fällt, so ergibt sich daraus gesichert das Vorhandensein des vorausgesetzten Inhalts im unbeschriebenen inneren Kreis. So verhält es sich mit dem Kern der Religionsfreiheit, dem Bilden und Haben eines Glaubens. Im äußeren Kreis des forum externum wird das Bekennen der Religion erwähnt; dessen Schutz ist in S. 2 beschrieben und daher ein gesicherter Inhalt. Auch das Wechseln der Religion wird im beschriebenen Bereich erwähnt. Beides setzt logisch das Bilden und Haben eines Glaubens voraus172. Bilden und Haben einer Religion gehört also gesichert zum inneren Kerngehalt des Art. 10 I EGRC. Dabei kann Bilden und Haben sinnvollerweise nur einen autonomen Vorgang beim Grundrechtsträger meinen; der Grundrechtsadressat (die EU) muss sich also in jeglicher Weise davon fern halten, dass und wie der Mensch einen Glauben bildet und behält. Dies kann relevant werden in Fällen, in denen die Union ihre Bürger vor bestimmten Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften warnen will, die grenzüberschreitend in der EU missionieren. Fraglich ist dann, ob der Schutzbereich des Art. 10 I EGRC bereits zu Ungunsten desjenigen Bürgers betroffen ist, der sich für die werbende Religionsgemeinschaft interessiert. Dieser Bürger könnte behaupten, wenn der Staat eine Missionstätigkeit erschwert oder durch eine Warnung in ein bestimmtes Licht stellt173, sei der freie und „unkommentierte“ Zugang zu religiösen Informationen nicht gewährleistet. Damit sei das freie Bilden eines Glaubens eingeschränkt. Überzeugend ist m. E. aber, den Begriff des „Bildens“ nicht auf den bloßen Zugang zu Informationen auszudehnen. Das Bilden eines Glaubens ist ein innerer Vorgang des Bewertens. Eine staatliche Warnung, die religiösen Informationen beigefügt wird, 171
Vgl. auch Blum, S. 54. Vgl. auch oben Kap. C.III.4.a)(2)a)(aa). 173 Hier geht es nicht um den Schutzbereich zu Gunsten des Missionierenden, der selbstverständlich auch betroffen sein kann. 172
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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behindert das Bilden noch nicht; es ist vielmehr Teil des Bildens eines Glaubens, sich auch mit ablehnenden Ansichten und Warnungen über den Glauben auseinander zu setzen. Betroffen mag der Schutzbereich allerdings sein, falls der Staat den Zugang zu Informationen über eine Religion gänzlich unterbindet, da er dann dem Bewerten die Substanz entzöge. Die negative Religionsfreiheit wird ebenfalls von Art. 10 I EGRC geschützt. Nicht-religiöse und areligiöse Weltanschauungen sind vom Schutzbereich erfasst, ebenso wie das Verschweigen und Nicht-Bekennen einer Religion. Streitig kann sein, ob dieses Recht aus der Religionsfreiheit oder aus der Gedankenfreiheit folgt. In der deutschen Grundrechtslehre wird die negative Religionsfreiheit überwiegend aus der Religionsfreiheit als solcher abgeleitet174, entweder indem man auch das Nicht-Glauben und das Haben nicht-religiöser, areligiöser und atheistischer Auffassungen als Glauben (in einem weiten Sinne) ansieht, oder in dem man dem Grundrecht auch einen negativen Gehalt zuweist. Ein Grund für diese Herleitung ist, dass das Grundgesetz die Gedankenfreiheit nicht ausdrücklich erwähnt. In Art. 10 I EGRC kann das Recht auf nicht-religiöse, areligiöse und atheistische Auffassungen an der Gedankenfreiheit statt an der Religionsfreiheit verankert werden175 – wiederum, ohne dass dies in der Anwendung der Vorschrift eine andere Rechtsfolge nach sich zöge. Dennoch ist es auch erforderlich, dem Art. 10 I EGRC eine negative Bedeutung zuzuweisen im Sinne eines Rechts, sich mit religiösen Gedanken gar nicht befassen zu müssen. Nur dann ist auch der Fall abgedeckt, dass jemand es ablehnt, sich überhaupt mit dem Themenkomplex zu beschäftigen, um sich eben von religiösen oder weltanschaulichen Gedanken völlig frei zu halten – auch das muss ein säkulares Gemeinwesen gestatten. Durch die negative Seite des Art. 10 I EGRC wird ebenfalls die Freiheit gewährleistet, sich nicht zu seinen Auffassungen äußern zu müssen. In der (insofern übertragbaren) Rechtssprechung zu Art. 9 I EMRK ist die negative Religionsfreiheit des Art. 9 I EMRK anerkannt worden. Der EGMR sieht in dem Grundrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit einen Wert, der auch Atheisten, Agnostikern, Skeptikern und den Uninteressierten zu Gute kommt176. Daher hat der EGMR in einem Falle, 174 Morlok, in: Dreier, GG-Komm., Art. 4, Rn. 64; Kokott, in: Sachs, GGKomm., Art. 4, Rn. 26. 175 Vgl. Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9, Rn. 2. 176 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 31 (Kokkinakis ./. Griechenland): „As enshrined in Article 9, freedom of thought, conscience and religion is one of the foundations of a ‚democratic society‘ within the meaning of the Convention. It is, in its religious dimension, one of the most vital elements that go to make up the identity of believers and their conception of life, but it is also a precious asset for atheists, agnostics, sceptics and the unconcerned. The pluralism in-
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
in dem sich Regierungsbeamte in San Marino weigerten, einen christlichen Amtseid für ihr staatlich-weltliches Amt abzulegen, eine Verletzung des Art. 9 I EMRK festgestellt. Er führte aus, dass das Recht des Art. 9 I EMRK die Freiheit mit sich bringe, religiöse Auffassungen zu haben oder nicht zu haben und eine Religion zu praktizieren oder nicht zu praktizieren177. Schon früher hat der EGMR mit Blick auf das forum externum festgestellt, dass Art. 9 I EMRK davor schütze, dass jemand gegen seinen Willen dazu gezwungen wird, an religiösen Aktivitäten teilzunehmen178. (dd) Der status positivus der unionsrechtlichen Religionsfreiheit Fraglich ist, ob dem Art. 10 I EGRC ein status positivus inne wohnt, so dass man der Norm Leistungs- und Teilhaberechte entnehmen kann. Der textliche Befund deutet lediglich auf ein Abwehrrecht hin. Der EuGH hat jedoch im Urteil Prais179 der Religionsfreiheit einen positiven Inhalt beigemessen, indem er die EU-Organe der Pflicht unterworfen sah, ihrerseits im Rahmen des Zumutbaren zu ermitteln, ob religiöse Feiertage eine Rücksichtnahme gebieten. Damit hat er der Religionsfreiheit eine Pflicht der EU entnommen, eine vorbeugende Verhinderung von Verletzungen der Religionsfreiheit zu praktizieren. Diese ist allerdings unter einen weitgehenden Vorbehalt des Zumutbaren gestellt. Die Organe der EU müssen nicht selbst etwaige religiöse Einwände ermitteln, sondern sie lediglich im Rahmen des ihnen Bekannten und durch den Grundrechtsberechtigten zur Kenntnis Gebrachten beachten. Das Urteil belässt den Organen der EU eine beträchtliche Entscheidungsfreiheit, in wie weit sie religiöse Erwägungen in ihre Entscheidungen einbeziehen wollen. Der Anspruch des Grundrechtsberechtigten ist somit nicht sehr stark ausgeprägt, und auch seine Grenzen sind nicht sehr konturiert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, inwieweit dieser Nukleus eines status positivus auf die Sekundärgesetzgebung der EU wirkt. In der Bestandsaufnahme sind Rechtsakte der EU nachgewiesen worden, in denen eine teilhaberechtliche Komponente der Religionsfreiheit aufscheint180. Daran zeigt sich empirisch, dass der status positivus sich auf das Sekundärrecht auswirkt. Er findet dort seinen Niederschlag darin, dass das Sekundärrecht vordissociable from a democratic society, which has been dearly won over the centuries, depends on it“. 177 EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Reports 1999-I, Rn. 34 (Buscarini et al. ./. San Marino): „That freedom entails, inter alia, freedom to hold or not to hold religious beliefs and to practise or not to practise a religion“. 178 EGMR, Urteil vom 23.10.1990, Serie A-187, Rn. 51 (Darby ./. Schweden). 179 EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat). 180 s. o. Kap. B.III.
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beugende Ausnahmen zu Gunsten religiöser Belange vorsieht, wenn der Rechtsakt einen Eingriff in den Schutzbereich der Religionsfreiheit zeitigen kann. Beispiele sind die Fernsehrichtlinien181 und die Datenschutzrichtlinie182. Der status positivus der Religionsfreiheit steht selbstverständlich unter dem Vorbehalt der Kompetenzgrenzen der EU. Da die EU durch die EGRC keine neuen Kompetenzen hinzu gewinnen soll (Art. 51 II EGRC), bleibt sie im Wesentlichen darauf beschränkt, angemessene Ausnahmeregelungen im Sekundärrecht zu schaffen. Darüber hinaus bleibt unter der gegenwärtigen Kompetenzlage wenig Raum für die EU, aktiv dafür zu sorgen, dass ein angemessener Raum besteht für die Ausübung religiösen Lebens183; ganz ausgeschlossen ist dies jedoch nicht. Als ein solcher Raum kommt unter dem VVE vor allem der offene, transparente und regelmäßige Dialog der Union mit den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gemäß Art. I-52 III VVE in Betracht. In Art. I-52 III VVE hat sich die teilhaberechtliche Dimension der unionsrechtlichen Religionsfreiheit sichtbar niedergeschlagen184. (b) Gedankenfreiheit Die Bedeutung der Gedankenfreiheit ist heute eine zweifache. Zum einen ist das forum internum größeren Eingriffsgefahren als früher ausgesetzt, da die Eingriffstechnologien verbessert sind. Praktische Relevanz könnte die Gedankenfreiheit erlangen, wenn sie vor Gehirnwäsche schützt; vor Ausforschung des menschlichen Geistes durch Methoden, die den freien Willen des Grundrechtsträgers nicht respektieren (z. B. Lügendetektor-Tests185); und vor dem ungewollten Einsatz persönlichkeitsverändernder Drogen. Zweitens ist die Gedankenfreiheit Schlüsselvoraussetzung für den Gebrauch 181 Art. 11, 12, 22 Richtlinie 1989/552/EWG vom 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit; ABl. 1989 L 298, S. 23 ff.; Art. 1 Richtlinie 1997/36/EG vom 30.6.1997 zur Änderung der Richtlinie 1989/552/EWG zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit; ABl. 1997 L 202, S. 60 ff. 182 Art. 8 Richtlinie 1995/46/EG vom 24.10.1995 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr; ABl. 1995 L 281, S. 31 ff. 183 So aber Robbers, Informationes Theologiae Europae, S. 16 f.; Robbers, in: FS Maurer, S. 428. 184 Vgl. zu den Schutzpflichten, die sich aus der Religionsfreiheit ergeben können, Kap. C.III.5.h). 185 Die Tatsache, dass diese Thematik in Deutschland unter dem Grundrecht der Menschenwürde problematisiert wird, kann darauf zurückzuführen sein, dass das GG die Gedankenfreiheit als solche nicht erwähnt.
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anderer Grundrechte – deutlich wird dies z. B. bei der Meinungsäußerungsfreiheit, im Grunde aber gilt dies für alle Grundrechte. Daher bekommt sie eine erhebliche Bedeutung, der durch einen expliziten Schutz Rechnung getragen wird, auch wenn die faktischen Gefahren eher gering sind. Anders als die Religions- und Weltanschauungsfreiheit kennt das forum externum der Gedankenfreiheit keine spezifischen Formen des Äußerns der Gedanken. Deren Äußern ist daher nicht explizit in S. 2 erwähnt, sondern je nach Äußerungsform durch andere Grundrechte geschützt. (c) Gewissensfreiheit Zum Inhalt des forum internum der Gewissensfreiheit wurden bereits Ausführungen gemacht186. Das forum externum kennt unspezifische Formen des Äußerns der Gewissensentscheidung, oder als besondere Handlung die Wehrdienstverweigerung, die durch ein gesondertes Grundrecht geschützt ist (Art. 10 II EGRC). (d) Verhältnis der Freiheiten zueinander Eine Annäherung an den Inhalt über den Wortlaut wirft die Frage auf, ob Art. 10 I S. 1 EGRC ein einheitliches Grundrecht oder eine Mehrzahl von Einzelrechten enthält. Zu Art. 9 EMRK werden beide Auffassungen vertreten. Hoffmann-Remy187 geht von einem einheitlichen Grundrecht aus und will lediglich die Prüfung einer möglichen Verletzung des Rechts zweckmäßigerweise bei der Freiheit ansiedeln, bei der der Schwerpunkt der Beschwerde liegt. Bernsdorff188 vertritt dagegen die Ansicht, es handele sich um drei selbständige Grundrechte. In der deutschen Lehre sind die Ansichten, ob die Freiheiten des Gewissens und der Religion eigenständige Grundrechte sind oder Ausprägungen des Schutzbereichs eines einheitlichen Grundrechts, ebenfalls geteilt189. Vom Wortlaut her deutet Art. 10 I S. 1 EGRC zunächst auf ein Recht hin: „Jede Person hat das Recht [. . .]“. Die dann folgende Beschreibung des Inhalts des Rechts erscheint aber aufgespalten: „[. . .] auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit.“ Doch der Wortlaut zwingt nicht zu der An186
s. o. Kap. C.III.3.b)(3). Hoffmann-Remy, S. 146. 188 Bernsdorff, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 10, Rn. 11. 189 Für eigenständige Rechte: Morlok, in: Dreier, GG-Komm, Art. 4, Rn. 53; für unterschiedliche Ausprägungen eines einheitlichen Grundrechts: BVerfGE 32, 98 (106); Mikat, HdbVerfR, § 29, Rn. 7 (arg. praktische Abgrenzungsschwierigkeiten); Kokott, in: Sachs, GG-Komm., Art. 4, Rn. 13 m. w. N. 187
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nahme, dass hier drei separate Rechte gemeint sein könnten, die lediglich sprachlich verkürzt aufgeführt sind. Denn Art. 10 I S. 2 EGRC nimmt das Subjekt des S. 1 singularisch wieder auf: „Dieses Recht umfasst [. . .].“ Die Formulierung des S. 1 und der Blick auf S. 2 sprechen daher für ein einheitliches Recht mit einheitlichem Schutzbereich. Dieses Ergebnis wird auch durch den Blick auf die englische und französische Fassung bestätigt, wo es heißt: „[. . .] the right to freedom of thought, conscience and religion.“ bzw. „[. . .] a droit à la liberté de pensée, de conscience et de religion.“ Die Auffächerung eines einheitlich verstandenen Rechts in Gedanken-, Gewissensund Religionsfreiheit spricht dann dafür, dass der Gesetzgeber den Gesamtumfang des Rechts vergrößern wollte, also den Schutzbereich weit gezogen hat, ohne zu einer Abgrenzung der Innenbereiche zu zwingen190. Gedankenfreiheit und Religionsfreiheit sind zwei verwandte, aber nicht deckungsgleiche Bereiche. Inhaltlich sind Gedanken die Voraussetzung, um über religiöse Fragen zu reflektieren, somit ist die Gedankenfreiheit eine Voraussetzung der Religionsfreiheit. Daraus wurde zeitweise abgeleitet, dass die Gedankenfreiheit der Oberbegriff von Religions- und Gewissensfreiheit sei191. Diese Ansicht überzeugt nicht, da die Religionsfreiheit mit ihrer Ausübungskomponente weit über das forum internum der Gedanken hinausgeht. Nach dem oben Gesagten müsste nach dieser Auffassung dann auch die Meinungsäußerungsfreiheit und prinzipiell jedes Grundrecht als Unterfall der Gedankenfreiheit gewertet werden. Eine solche Folgerung beruht jedoch auf einer Verwechselung eines Oberbegriffs mit einer Voraussetzung. Als Voraussetzung ist die Gedankenfreiheit „im Vorfeld“ an der Religionsfreiheit beteiligt, ohne aber der Oberbegriff zu sein. Sie besetzt einen gesonderten, eigenständigen Bereich. Ähnliches gilt auch für die Gewissensfreiheit. Die Gewissensentscheidung ist gekennzeichnet durch eine Art Einzelfallcharakter: es handelt sich um eine einzelne Entscheidung, die aber notwendigerweise sich einfügt in ein als verbindlich empfundenes Koordinatensystem von Werten. Dessen bedarf sie, um aus ihm ihrerseits ihre empfundene Verbindlichkeit herzulei190
Semantisch bedeutet diese Auslegung, dass „Recht“ und „Freiheit“ begrifflich nicht gleichbedeutend sind. „Recht“ ist dann eine subjektive Position, aus der sich der Schutzbereich ergibt; „Freiheit“ ein objektiver Begriff für einen Lebensbereich. Dasselbe Recht erfasst mehrere Lebens-/Freiheitsbereiche. Dass der Grundrechtekonvent von diesem Verständnis der Begriffe ausgegangen ist, zeigt sich zweifelsfrei in der syntaktischen Struktur des Art. 10 I S. 2 EGRC, wo dem einen Recht mehrere Freiheitsbereiche zugeordnet werden: „Dieses Recht umfasst die Freiheit, [. . .] und die Freiheit, [. . .]“, englisch: „This right includes freedom to [. . .], and freedom to [. . .]“, französisch: „Ce droit implique la liberté de [. . .] et la liberté de [. . .]“. Der Satzbau des S. 1 dagegen lässt in allen drei Sprachen noch das Verständnis von „Recht“ und „Freiheit“ als Synonyme zu. 191 Robinson, Universal Declaration of Human Rights, S. 64.
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ten. Ohne solch ein System wäre die Entscheidung beliebig und unverbindlich. Dieses Wertesystem dürfte in vielen Fällen eine Religion oder Weltanschauung sein, so dass Gewissensentscheidungen oftmals religiös motivierte Entscheidungen sind. Der Gewissensentscheidung mit Einzelfallcharakter ist also oft die Religion als Gesamtsystem mit gewisser Umfänglichkeit von Vorgaben und Werten übergestellt. Andererseits ist heute eine Rückbindung des Gewissens an eine etablierte Religion nicht mehr notwendig, heute sind vielfältige Referenzsysteme als Kontext für Gewissensentscheidungen vorstellbar. In dem Sinne sind Gewissen und Religion inhaltlich als etwas Verschiedenes aufzufassen192. Im Ergebnis ist zu folgern, dass dem Art. 10 I S. 1 EGRC weite Außengrenzen definiert werden sollten, ohne die Rechtsfolgen von trennscharfen Binnengrenzen zwischen Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit abhängig zu machen. Die Binnenbereiche des S. 1 sind daher nur für das strukturelle Verständnis der Norm wichtig: Art. 10 I S. 1 EGRC weist einen zusammengesetzten einheitlichen Schutzbereich auf. Die Binnengrenzen wirken sich aber in rechtlicher Hinsicht nicht aus. In der Konsequenz bedeutet dies, dass im Einzelfalle zu prüfen ist, ob ein Sachverhalt unter den gesamten Schutzbereich subsumiert werden kann, nicht aber, in welchen Freiheitsbereich er fällt; maßgebliches Subsumtionskriterium sind die Außengrenzen des einheitlichen Rechts. Lediglich die – anders gelagerte – Abgrenzung zwischen dem forum internum und dem forum externum des Manifestierens muss mit Blick auf die Schrankenregelung vorgenommen werden193. (e) Der staatliche Zugang zum Schutzbereich – Die Relevanz der Binnengrenzen des Schutzbereichs bei der Grundrechtsanwendung durch weltliche Stellen Art. 10 I EGRC weist nach dem bisher Gesagten inhaltlich verschiedene Regelungsgegenstände („Freiheiten“) auf, die der Wortlaut in einem „Recht“ zusammenfasst. Der Sinn dieser Konstruktion liegt m. E. darin begründet, dass der Staat als Außenstehender keine Differenzierungsanstrengungen vornehmen soll, wenn er mit einem Grundrechtsträger konfrontiert ist. Wenn der Staat dem Grundrechtsträger belangvolle geistige Freiheit garantieren will, dann darf er nicht erforschen, ob aus der subjektiven Sicht 192 H.M. in Deutschland, vgl. Morlok, in: Dreier, GG-Komm., Art. 4, Rn. 52 f.; zur historischen Entwicklung und Trennung der Begriffe Gewissen und Religion vgl. Herdegen, in: HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 481. 193 Zur Schrankenproblematik und zur Frage, wie die Schranken auf die drei Freiheiten anzuwenden sind, vgl. unten Kap. C.III.4.b)(3).
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des Grundrechtsträgers ein Sachverhalt in der Religions-, Gewissens- oder Gedankenfreiheit gründet, da damit bereits ein fremder normierender Maßstab in die zu schützende innerste Geistessphäre des Grundrechtsträgers eindränge. Dass eine trennscharfe Abgrenzung im konkreten Falle ohnehin oft nicht möglich ist, zeigen die vielen Fälle, in denen Gewissensentscheidungen subjektiv religiös motiviert sind. Diese Fälle sind geradezu typisch für die Fälle des Art. 10 I EGRC (und Art. 9 EMRK), da das als verbindliche empfundene Wertesystem, aus dem die Gewissensentscheidung ihre spezifische Qualität gewinnt, oftmals ein religiöses System ist. Das hier beschriebene Phänomen zeigt das Dilemma, vor das die in Rede stehenden Grundrechte den weltlichen Staat stellen: der Staat, der die Rechtsgüter der Religions-, Gedanken- und Gewissensfreiheit garantieren will, darf weitgehend nicht definieren, was der Inhalt dieser Rechtsgüter ist, da jede staatliche, dem Grundrechtsträger vorgegebene Substantiierung bereits einen ungerechtfertigten Eingriff in die Freiheit bedeuten kann. Der Hinweis auf die autonome weltliche Definitionsgewalt des Staates für die von ihm garantierten Schutzbereiche versagt eben in den Fällen, in denen die belangvolle Freiheit des Grundrechtsträgers gerade darin besteht, die Bedeutung des Schutzbereichs weitgehend selbst und subjektiv festzulegen. Art. 10 I EGRC versucht dieses Problem damit zu lösen, dass er einen weiten Schutzbereich durch Zusammenfassung mehrerer Freiheiten schafft, und den Staat damit von der Notwendigkeit entbindet, zur Prüfung der Schutzbereichsbetroffenheit feststellen zu müssen, in welchen der erfassten Freiheitsbereiche ein gegebener Sachverhalt fällt194. Ein wesentlicher Teil des grundrechtlichen Schutzes für den Grundrechtsträger besteht gerade darin, gegenüber dem Staat nicht erklären zu müssen, dass er etwas als religiösen Sachverhalt empfindet, aber nicht als Gewissensentscheidung, oder dass er etwas als Gewissensentscheidung empfindet, obwohl er sich nicht zu einer bestimmten Religion bekennt etc. Eben diese Darlegungen werden dem Grundrechtsträger erlassen, wenn der Staat die drei Freiheiten einheitlich behandelt. Umgekehrt würde die EGRC erhebliche staatliche Untersuchun194 I. E. ebenso für die Auffassung, dass eine Unterscheidung zwischen Weltanschauung, Gedanken und Gewissen nicht notwendig ist: Edge, S. 42 f. Evans, S. 52 vertritt die entgegengesetzte Auffassung, die sie daraus ableitet, dass der Wortlaut die Manifestation von Religion und Weltanschauung unter dem Gesichtspunkt der Schranken anders behandelt. Sie hält daher diese schwierige Abgrenzung für notwendig, auch wenn sie zugesteht, dass dem individuellen Gläubigen die Unterscheidung gar nichts bedeuten mag. Ebenso M. Evans, Religious Liberty, S. 284 f.; van Dijk/van Hoof, S. 542 ff. Diese Folgerung mutet aber sehr legalistisch an, zumal wenn dem Grundrechtsträger damit nicht gedient wird, sondern ihm dadurch ein Weniger an Rechtsschutz zuerkannt wird, weil der Staat tiefer in sein forum internum eindringen muss. Zur Schrankenproblematik s. u. Kap. C.III.4.b)(3).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
gen im geistigen Bereich des Menschen erfordern, wenn sie beispielsweise religiösen Motiven weiteren Schutz zuerkennen würde als Gewissensentscheidungen oder weltanschaulichen Gedanken. Damit würde die grundrechtliche Freiheit des Menschen wesentlich beeinträchtigt. Nicht inhaltlich, sondern unter dem Aspekt der staatlichen Rechtsanwendung und Grundrechtsprüfung sollen damit die Binnengrenzen des Art. 10 I EGRC ihre Bedeutung verlieren, und das Problem der staatlichen Definition wird im Verhältnis von Religion, Gewissen und Gedanken zu einander irrelevant. (f) Zwischenergebnis: Die Konzeption des Schutzbereichs des Art. 10 I EGRC Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Art. 10 I EGRC aus den drei Freiheiten der Gedanken, des Gewissens und der Religion einen einheitlichen Schutzbereich bildet. Dieser wird durch Art. 10 I S. 1 EGRC umschrieben. Art. 10 I S. 2 EGRC erweitert den Schutzbereich nicht, sondern beschreibt deklaratorisch bestimmte Aspekte, lässt aber weite Bereiche unerwähnt. Der Schutzbereich des Art. 10 I S. 1 EGRC besteht also aus einem durch S. 2 beschriebenen und einem unbeschriebenen Teil. b) Schranken (1) Die allgemeine Konzeption der Grundrechtsschranken in der EGRC Für die EGRC wurde eine „horizontale“ Schrankenregelung gewählt, anstatt spezifische Schranken innerhalb der einzelnen Grundrechte zu definieren195. Lediglich in Ausnahmefällen enthalten einzelne Grundrechte individuelle Schranken. Damit unterscheidet sich die EGRC von der Schrankentechnik der EMRK, die grundsätzlich spezifische Schranken aufstellt, und deren Art. 18 mit allgemeinen Schrankengrundsätzen in der Grundrechtsprüfung eher untergeordnete Bedeutung aufweist. Der Grund für diese Entscheidung des Grundrechtekonvents liegt darin, dass die Charta allein durch die Anzahl der in ihr enthaltenen Rechte sehr lang ist und im textlichen Umfang nicht noch weiter ausgedehnt werden sollte196. Eine Unterbringung der Schranken bei den einzelnen Grundrechten hätte die Textlänge der Charta noch einmal erheblich ausgedehnt und die Verständlichkeit stark beeinträchtigt197. Die gewählte Regelungstechnik der horizontalen Schranke198 ist nicht etwa revolutionär neu, wie es gerade aus deutscher 195 196
Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 2; Magiera, DÖV 2000, S. 1026. Bernsdorff/Borowsky, S. 231.
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verfassungsrechtlicher Sicht zunächst den Anschein haben mag. Bereits die AEMR von 1948 hat mit ihrem Art. 29 II diesen Weg gewählt. Er findet sich ferner in nationalen Verfassungen, wie zum Beispiel der schweizerischen Bundesverfassung199. Diese Regelung erinnert auch an den vom EuGH in seiner Grundrechtssprechung herausgebildeten und ständig angewandten Ansatz, Eingriffe in grundrechtliche Schutzbereiche an Hand allgemeiner, „horizontaler“ Schrankenbegriffe zu prüfen, allen voran an dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Auch in der deutschen Verfassungsrechtssprechung wurden trotz detaillierter Schrankenregelungen bei den einzelnen Grundrechten des GG die allgemeinen Prinzipien, besonders der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, zu wesentlichen Beurteilungsmaßstäben für die Rechtmäßigkeit eines Grundrechtseingriffs200. Dem Vorwurf, eine horizontale Schranke sei zu wenig differenzierend, begegnet die Charta zum einen mit dem Verweis auf die spezifischen Schranken der EMRK bei den sich entsprechenden Rechten (Art. 52 III EGRC). Zum anderen ist daran zu erinnern, dass die Rechtsschutzintensität und Kontrolldichte der Grundrechte wesentlich davon abhängt, wie ausführlich und präzise die (Charta-)Rechtssprechung Schutzbereiche und Eingriffsmöglichkeiten definieren wird. Die horizontale Schrankenregelung ist in Art. 52 EGRC enthalten. Abs. I S. 1 unterwirft Einschränkungen der Chartarechte einem Gesetzesvorbehalt und der Wesensgehaltsgarantie. S. 2 stellt den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf, und erfordert die Notwendigkeit der Einschränkung und deren Rechtfertigung durch die von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Ziele sowie dem Schutz der Rechte Dritter. Art. 52 I EGRC tritt allerdings zurück hinter die spezielleren Regelungen des Abs. II (betrifft Rechte, die in den Vertragswerken der EU ausdrücklich anerkannt sind) und des Abs. III. Abs. III ist eine lex specialis für die Chartarechte, die den in der EMRK enthaltenen Rechten entsprechen201. In Bezug auf diese ist geregelt, dass die Chartarechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, wie ihnen in der EMRK verliehen wird. Der Schutz der EGRC kann allerdings darüber hinausgehen (S. 2). 197 Bernsdorff/Borowsky, S. 231: lt. Herzog wäre sie „nur noch für Weise und Astrologen“ verständlich. 198 Zur Kritik daran innerhalb des Grundrechtekonvents vgl. die Materialien bei Bernsdorff/Borowsky, S. 158, 231, 237, 299; Kritik außerhalb vgl. Magiera, DÖV 2000, S. 1026; von Bogdandy, JZ 2001, S. 167 f.; von Bogdandy, CMLRev 37 (2000), S. 1331 ff., der die Kritik als „weitgehend unbegründet“ zurückweist, m. w. N. 199 Die schweizerische Bundesverfassung von 1999 enthält einen Grundrechtekatalog in Art. 7–34 und eine allgemeine Schranke in Art. 36. 200 von Bogdandy, JZ 2001, S. 168; von Bogdandy, CMLRev 37 (2000), S. 1331 f. 201 Grabenwarter, in: FS Steinberger, S. 1135, 1138.
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Die Vorschrift des Art. 52 III S. 1 EGRC kann allerdings nur insoweit den Abs. I verdrängen, wie ihr Anwendungsbereich reicht. Dieser hängt davon ab, wie man die Merkmale „gleiche Bedeutung und Tragweite“ definiert. Insbesondere stellt sich die Frage, ob damit nur der Schutzbereich des Grundrechts gemeint ist, oder Schutzbereich und Schrankenregelung. Dies ist umstritten. Nach einer Ansicht erfasst Art. 52 III S. 1 EGRC nur den Schutzbereich der Grundrechte, ohne die Schranken einzubeziehen202. Dies führt zu dem Ergebnis, dass die spezifischen Schranken der EMRK nicht für die ChartaGrundrechte gälten. Die horizontale Schrankenvorschrift des Art. 52 I EGRC würde nicht verdrängt und bliebe anwendbar. Diese Interpretation hat den Vorteil, dass einige fragwürdige Einschränkungen der EMRK von vornherein nicht in die EGRC übernommen würden. Zu nennen sind beispielsweise Einschränkungen beim Recht auf Leben, das die Charta in Art. 2 I EGRC ohne Einschränkung garantiert (lediglich Art. 52 I gilt), bei dem die EMRK in Art. 2 II EMRK aber Ausnahmen vorsieht in den Fällen von Notwehr, Festnahme, Fluchtverhinderung, Aufruhr und Aufstand. Würden diese unerwünschten Schranken nicht aus der EMRK übernommen, müssten sie nicht umständlich über Art. 52 III S. 2 EGRC korrigiert werden. Dasselbe Problem zeigt sich deutlich am Verbot der Todesstrafe: Art. 2 II EGRC schließt sie aus; nach Art. 2 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK203 ist sie im Kriegsfalle zulässig. Auch der Grundrechtekonvent hat gesehen, dass einige Einschränkungen der EMRK inzwischen fragwürdig sind204. Nach der anderen Ansicht verweist Art. 52 III S. 1 EGRC mit den Worten „gleiche Bedeutung und Tragweite“ auf Schutzbereich und Schranken205. Die Konsequenz ist, dass die spezifischen Schranken der EMRKRechte den Art. 52 I EGRC verdrängen. Diese Auslegung wurde auch vom Präsidium des Grundrechtekonvents in den (nicht rechtsverbindlichen) Erläuterungen zur Charta vertreten206. Unsystematisch und daher unzulässig wäre es, das Merkmal der „gleichen Bedeutung und Tragweite“ in Art. 52 III EGRC je nach Grundrecht und Konsequenz verschieden auszulegen und so selektiv die unerwünschten 202
Philippi, S. 43 f. 6. Zusatzprotokoll vom 28.4.1983, in Kraft seit 1.3.1985. Die Todesstrafe ist in den Staaten, die das 13. Zusatzprotokoll ratifiziert haben, komplett abgeschafft – auch in Kriegszeiten – gem. dem 13. Zusatzprotokoll vom 3.5.2002, in Kraft seit 1.7.2003. 204 Konventsmitglied van den Burg (NL), wiedergegeben in: Bernsdorff/Borowsky, S. 231. 205 Uerpmann, DÖV 2005, S. 155; Dorf, JZ 2005, S. 128; Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 2. 206 Erläuterung des Präsidiums zu Art. 52 EGRC. 203
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Ergebnisse zu vermeiden. Daher darf nicht beim Recht auf Leben der Verweis als nur auf den Schutzbereich gehend verstanden werden, bei der Religionsfreiheit dagegen als auch auf die Schranken bezogen. Die Frage muss somit allgemein geklärt werden. Im Ergebnis ist der zweiten Ansicht zuzustimmen. Art. 52 III S. 1 EGRC bezieht Schutzbereich und Schrankenregelung in die Charta ein. Dafür spricht schon der Wortlaut: der Grundrechtekonvent hat nicht den terminus technicus „Schutzbereich“ gewählt, sondern „Bedeutung und Tragweite“. Er wollte also nicht Schutzbereich sagen. Die gewählte Bezeichnung kann aber, wenn sie nicht Schutzbereich meint, nur ein Zusammenwirken von Schutzbereich und Schranken ausdrücken wollen. Auch die Materialien zur Charta sprechen dafür. Die erwähnten Erläuterungen des Konventspräsidiums sind zwar nur eine unverbindliche Interpretation des Chartatextes, beziehen aber ein besonderes Gewicht aus der Tatsache, dass die Interpretatoren maßgeblicher Teil des Konvents waren. Die Erläuterungen führen daher besonders nahe zum historischen Willen des Chartagebers. Dieser ist zum jetzigen Zeitpunkt noch besonders hoch zu gewichten, da der Chartageber und der Verfassungsgeber gerade erst gesprochen haben. Auch die teleologische Auslegung des Art. 52 EGRC legt nahe, die Schranken der EMRK einzubeziehen: Sinn und Zweck des Art. 52 III EGRC ist es nämlich, die Kohärenz von EGRC und EMRK bezüglich des gewährten Grundrechtsschutzes zu wahren. Im übrigen sind die genannten, unerwünschten Ergebnisse dieser Auslegung zumindest de lege ferenda vermeidbar, da Art. 52 III S. 2 EGRC einen über die EMRK hinausgehenden Schutz durch das Recht der Union zulässt. (2) Die Konzeption der Schranken bei Art. 10 I EGRC Für Art. 10 I EGRC gelten die Schranken gemäß Art. 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK, wenn sich die Rechte aus Art. 10 I EGRC und Art. 9 EMRK entsprechen. Fraglich ist, wie das Tatbestandsmerkmal „entsprechen“ in Art. 52 III S. 1 EGRC zu verstehen ist. Dieses Merkmal wird auch in den Erläuterungen des Präsidiums nicht erklärt, sondern lediglich wiederholt. Bei einer Definition besteht die Gefahr, dass Art. 52 III EGRC tautologisch verstanden wird: wenn man „entsprechen“ als eine Aussage auffasst, die sich auf Inhalt und Umfang der Grundrechte bezieht, so weisen beide Satzteile des Art. 52 III S. 1 EGRC dieselbe Aussage auf: wenn sich die Rechte entsprechen, dann haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite; das wäre gleichbedeutend wie die Umkehrung: wenn Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, entsprechen sie sich. Eine Rechtsfolge und damit ein Nutzen
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
des Abs. III wird so nicht erkennbar. „Entsprechen“ kann also keine vollständige Identität von Inhalt und Umfang der Rechte verlangen207. Eine Norm ist aber immer so auszulegen, dass sie sinnvoll ist. Zu fragen ist daher, welche Rechtsfolge der Chartageber mit dieser Vorschrift setzen wollte. Den Erläuterungen ist zu entnehmen, dass die Rechtsfolge darin bestehen soll, die Kohärenz von EGRC und EMRK dahingehend zu wahren, dass der Schutzumfang der EU-Grundrechte nicht hinter den durch die EMRK gewährleisteten zurückfallen soll, falls ein bestimmter Schutzstandard durch die EMRK überhaupt erreicht ist. Daher ist das Tatbestandsmerkmal „entsprechen“ reduzierend auszulegen: eine Entsprechung liegt vor, wenn ein in der EGRC enthaltenes Recht bereits in der EMRK überhaupt irgendeinen Schutzstandard erfährt, also in seiner Substanz in der EMRK enthalten ist208. Dabei kommt es selbstverständlich nicht auf eine Namensentsprechung an, sondern auf eine Entsprechung im Substanzkern des Rechts. Ist ein in der Charta gewährtes Recht bereits in der EMRK enthalten, verhindert Art. 52 III S. 1 EGRC, dass der durch die Charta vermittelte Schutzstandard hinter der EMRK zurückbleibt. Gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC darf er aber darüber hinausgehen. Mit Art. 52 III EGRC wird somit eine Art „hinkende Verbindung“ von EGRC und EMRK hergestellt. Problematisch ist in diesem Zusammenhang, ob die Verweisung des Art. 52 III S. 1 EGRC statisch oder dynamisch wirkt, ob sie sich also auf die gleiche Bedeutung und Tragweite zum Zeitpunkt der Proklamation der 207
Calliess, in: Ehlers, § 19 Rn. 16. Lenaerts/De Smijter, CMLRev 38 (2001), S. 293 f.; Uerpmann, DÖV 2005, S. 155 will die Norm als Auslegungsregel verstehen, dass Schutzbereiche der EGRC im Zweifel ebenso weit zu ziehen seien wie diejenigen der EMRK; doch auch dies setzt voraus, dass über eine Klärung des Tatbestandsmerkmals „entsprechen“ der Anwendungsbereich der Zweifelsregel ermittelt wird. Die drohende Tautologie macht das Verständnis der Norm schwierig: unklar Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 3: grundsätzlich müsse derselbe Schutzbereich gegeben sein, die Abweichung in einem Tatbestandsmerkmal sei aber für das Entsprechen unschädlich. Das soll m. E. bedeuten, dass geringe Abweichungen unerheblich sind. Aber dies lässt keine Aussage darüber zu, ab wann Abweichungen nicht mehr unerheblich sind; m. a. W., wie viel Übereinstimmung gegeben sein muss. Unklar auch Grabenwarter, in: FS Steinberger, S. 1135 f., der „ungefähres Entsprechen“ fordert, und Calliess, in: Ehlers, § 19 Rn. 16, der eine „ungefähre inhaltliche Überschneidung“ verlangt, die im Wortlaut zum Ausdruck kommen müsse. Wenig hilfreich ist der Ansatz, „entsprechen“ sei so zu verstehen, dass der gleiche Lebenssachverhalt von den jeweiligen Garantien erfasst sein müsse (so Grabenwarter, in: FS Steinberger, S. 1135 f.) – denn die Frage, welcher Lebenssachverhalt erfasst wird, ist wiederum die Frage nach Bedeutung und Tragweite des Rechts, die es zu ermitteln gilt. Dagegen lässt sich feststellen, ob die Substanz eines Grundrechts in der EMRK überhaupt enthalten ist. Durch die geringere Anforderung an das Merkmal „entsprechen“ wird auch im Sinne des Chartagebers ein hohes Maß an Konvergenz von EGRC und EMRK erreicht. 208
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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EGRC209, zum Zeitpunkt der Verabschiedung des VVE durch die Regierungskonferenz oder des In-Kraft-Tretens des VVE bezieht (statisch) oder auf den jeweiligen zukünftigen Stand der EMRK und der zugehörigen Rechtssprechung des EGMR (dynamisch). Eine Ansicht geht von einem dynamischen Verweis aus; begründet wird dies mit der wünschenswerten Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes in Europa210. Die Erläuterungen des Präsidiums deuten auch eher auf einen dynamischen Verweis, indem sie den Ist-Zustand als „derzeitig“ benennen, was impliziert, dass er sich ändern wird211. Gegen einen dynamischen Verweis könnte sprechen, dass EMRK und EGRC zwei verschiedenen, autonomen Rechtsordnungen angehören, und es nicht ersichtlich ist, wieso Fortentwicklungen in der einen automatisch zu Fortentwicklungen in der anderen führen sollten. Es könnte hier an einem „Übertragungstatbestand“ und einer Legitimation für die Übertragbarkeit fehlen, denn die Grundrechtsentwicklung der EMRK wird von den sechsundvierzig Konventionsstaaten und deren Gerichtshof fortgeführt, an der die EU nicht beteiligt ist. Ein Beitritt der EU gilt bislang sogar als versperrt212. Eine Bindung an die EMRK durch einen dynamischen Verweis könnte auch das langfristige Beitrittsziel in Art. I-9 II VVE überflüssig werden lassen. Doch diese Bedenken greifen nicht durch. Der Übertragungstatbestand besteht gerade in der Norm des Art. 52 III S. 1 EGRC, für die die EU sich bewusst entscheidet. Durch diese Norm führt die EU eine Bindung an die EMRK im Innenverhältnis herbei (autonomer Nachvollzug). Sie erklärt, dass der jeweilige Stand der Grundrechteentwicklung der EMRK für sie intern maßgeblich sei, auch wenn ihr ein Beitritt im Außenverhältnis mangels entsprechender Kompetenz derzeit unmöglich ist. Der volle Beitritt zur EMRK im Außenverhältnis bleibt das langfristige Ziel, das Art. I-9 II VVE enthält; daher wird dieser auch nicht durch den dynamischen Verweis überflüssig. Art. 52 III S. 1 EGRC soll auch nach Sinn und Zweck gerade die Funktion einer Übertragungsnorm haben. Er soll so die Kohärenz des Grundrechtsschutzes in Europa wahren. Die dynamische Auslegung wird unterstützt durch den Wortlaut der Norm: Art. 52 III S. 1 EGRC ist im Präsens formuliert („[Die Grundrechte] haben die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der [EMRK] verliehen wird.“). Dadurch wird sprachlich die jeweilige Gleichzeitigkeit von EMRK 209
Am 7.12.2000. Philippi, S. 44. 211 Erläuterung des Präsidiums zu Art. 52: „Die Rechte, bei denen derzeit – ohne die Weiterentwicklung des Rechts der Gesetzgebung und der Verträge auszuschließen – davon ausgegangen werden kann, dass sie Rechten aus der EMRK im Sinne dieses Absatzes entsprechen, sind nachfolgend aufgelistet“ (Hervorhebung vom Autor). 212 Gutachten 2/94 des EuGH v. 28.3.1996, Slg. I-1759. 210
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
und EGRC konstruiert. Ein statischer Verweis hätte lauten müssen „[Die Rechte] haben die gleiche Bedeutung und Tragweite, die ihnen bislang von der EMRK verliehen worden ist“. Auch Art. I-9 III VVE unterstützt diese dynamische Auslegung, indem er verdeutlicht, dass die Grundrechte der EMRK jederzeit zu den Grundsätzen des EU-Rechts gehören. Ein dynamischer Verweis droht auch nicht den EU-Grundrechtsbestand auszuhöhlen, wenn der Grundrechtsschutz der EMRK einmal ohne den Willen der EU gelockert werden sollte. Einen automatischen Nachvollzug eines Rückschritts der Entwicklung verhindert die hinkende Verbindung gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC, denn demnach kann der Grundrechtsschutz der EU über den der EMRK hinausgehen. Was die EU also einmal von der EMRK übernommen hat, muss sie nicht automatisch wieder aufgeben. Bei einer Ausdünnung des Grundrechtsschutzes der EMRK greift der Kohärenzmechanismus nicht; die EU ist eine autonome Rechtsordnung, der die EMRK nicht einfach etwas nehmen kann. Im Ergebnis ist Art. 52 III S. 1 EGRC also als dynamischer Verweis auf die EMRK auszulegen, durch den die EU die Fortentwicklungen des EMRK-Grundrechtsschutzes im Innenverhältnis und im Rahmen ihrer Kompetenzen (Art. 51 II EGRC) mitvollzieht. Für die Religionsfreiheit bedeutet dies: Die Grundrechte aus Art. 10 I EGRC und aus Art. 9 EMRK entsprechen sich, denn die Substanz des Grundrechts aus Art. 10 I EGRC ist bereits in Art. 9 EMRK enthalten: beide garantieren die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Somit haben beide die gleiche Bedeutung und Tragweite213. Da dies nach dem oben Gesagten sowohl den Schutzbereich als auch die Schranken betrifft, gelten die in Art. 9 II EMRK enthaltenen Schranken auch für den Schutzbereich des Art. 10 I EGRC. Fortentwicklungen der EMRK-Religionsfreiheit übernimmt die EU im Rahmen ihrer Kompetenzen durch interne Selbstbindung; Rückschritte wirken sich nicht automatisch aus. (3) Der Geltungsbereich der Schrankenregelung des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK Die Schranke des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK lautet: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“214. 213 So auch Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 Ziffer 1 6. Spiegelstrich EGRC und zu Art. 10 EGRC.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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Der Wortlaut knüpft damit an das Bekennen der Religion im oben erläuterten Sinne des Manifestierens (englisch: manifest, französisch: manifester) an. Die Schranke des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK erstreckt sich folglich nicht auf den gesamten Schutzbereich des Art. 10 I. Sie lässt das forum internum des Schutzbereichs außer Acht. Dies ist demnach nicht auf Grund der in Art. 9 II genannten Zwecke einschränkbar, sondern unbeschränkt gewährleistet. Einschränkbar gemäß Art. 9 II EMRK ist nur das forum externum215. Fraglich ist, ob sich die Anwendbarkeit der Schranke nur auf Fragen der Religion und Weltanschauung erstreckt, und Gedanken- und Gewissensfreiheit außer Acht lässt. Der Wortlaut scheint zunächst eine Begrenzung der Schranke auf Religion und Weltanschauung nahe zu legen. Das würde auf den Schluss deuten, die Aspekte der Gedanken- und Gewissensfreiheit seien vorbehaltlos gewährleistet und höchstens durch immanente Schranken einschränkbar. Dies würde allerdings bedeuten, dass diese Freiheiten weitergehend geschützt sind als die Religionsfreiheit. Eine solche Interpretation würde jedoch auf einem Missverständnis der dem Art. 10 I EGRC zu Grunde liegenden Vorschrift beruhen und daher in die Irre führen. Die Autoren des Art. 9 II EMRK waren noch der Auffassung, dass der Gedankenfreiheit ohnehin kein forum externum zukommt, und dass das Gewissen so eng an die Religion rückgebunden sei, dass keine eigenständige Schranke erforderlich sei216, sondern die Beschränkung mit der der Religionsfreiheit identisch sei. Heute ist allgemein anerkannt, dass die Gewissensfreiheit unabhängig von einer Rückbindung an eine Religion „ausgelebt“ werden kann (z. B. Wehrdienstverweigerung aus Gewissengründen). Daher ist unstreitig, dass eine Beschränkungsmöglichkeit erforderlich ist. Um diese Lücke zu schließen, hat der EGMR die Schranke des Art. 9 II EMRK auch auf alle Freiheiten des Art. 9 I angewandt217, ohne jedoch bislang eine dogmatisch saubere Erklärung zu liefern, wie Art. 9 II EKMR methodisch ausgedehnt werden soll218. Dazu ist vorgeschlagen worden, Art. 9 II EMRK analog auf Gedanken- und Gewissensfreiheit anzuwenden. Dies überzeugt jedoch nicht. Eine analoge Anwendung setzt nämlich zunächst eine Differenzierung durch die staatlichen Stellen voraus. Diese ist im vorliegenden Kontext äußerst problematisch. Dann müsste Verwaltungsbehörden und Gerichten zugebilligt werden, dass sie sich die Beurteilung anmaßen, ob eine Entscheidung eines Grundrechtsträgers für ihn eine Frage der Religion, des Gewis214
Zur Entstehungsgeschichte dieses Schrankenvorbehalts in der EMRK vgl. Blum, S. 109. 215 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9, Rn. 23. 216 Blum, S. 161. 217 EKMR, BNr. 6753/74, DR 2, S. 118; EKMR, BNr. 6084/73, DR 3, S. 62. 218 Blum, S. 160 f.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
sens oder der Gedanken ist. Dies ist abzulehnen, da eine solche externe Entscheidung ihrerseits bereits eine Verletzung des Schutzbereichs darstellen kann. Eine mühsame Differenzierung ist auch sinnlos, da mit ihr im Ergebnis die gleiche Rechtsfolge erreicht werden soll wie bei der Religionsfreiheit. Auch mit Blick auf die Schrankenproblematik ist es somit im Ergebnis befriedigender, von einem einheitlichen Schutzbereich des Art. 9 I EMRK auszugehen und die Schranke des Art. 9 II EMRK teleologisch auf dessen gesamtes forum externum zu erweitern. Dadurch wird die Frage der Beschränkbarkeit an einem objektiv nachprüfbaren Kriterium festgemacht, an dem der Staat und die Allgemeinheit ein Interesse haben: dem Manifestieren (Bekennen) der Freiheiten im forum externum. Für das forum externum gilt dann einheitlich die Schranke des Art. 9 II EKMR. Aus Sicht des Grundrechtsadressaten wird dann im Hinblick auf die Schranken die Differenzierung, ob es sich bei einem Phänomen um Gedanken, Gewissen oder Religion handelt, irrelevant, sofern es sich um eine Manifestierung handelt219. Diese Konzeption ohne externe Differenzierung zwischen Religions-, Gewissens- und Gedankenfreiheit ist kein Rückschritt, sondern ein Fortschritt für die Achtung der inneren Entscheidungsfreiheit eines Menschen durch den Staat. Sie stellt nicht die Errungenschaft der Differenzierung von Religion und Gewissen in Frage, sondern sichert die Zurückhaltung des Staates bei der externen Beurteilung dieser Fragen. Der EGMR/die EKMR haben diese Lösung gewählt, indem sie Art. 9 II EMRK für alle Fälle des Schutzbereichs des Art. 9 I angewandt haben. Diese Lösung gilt über die „Entsprechensklausel“ des Art. 52 III S. 1 EGRC ebenso für Art. 10 I EGRC. Die Bedeutung und Tragweite der EMRK-Rechte schließt auch die Rechtssprechung des EGMR ein220. (4) Die Schranken des Art. 10 I EGRC im Einzelnen Die Bedeutung der Schrankenregelung in Art. 9 II EMRK war bisher in Deutschland gering, da die durch sie bewirkte Einschränkung der Religionsfreiheit weiter ging als die von Art. 4 GG garantierte Freiheit. Art. 9 EMRK blieb also hinter dem Schutzstandard des GG zurück221. Unter der Geltung der EGRC könnte sich dies ändern: gemäß Art. 51 I EGRC gilt die Charta bei der Durchführung des Rechts der Union. Damit bekommt die Charta einen eigenen Geltungsbereich, in dem nicht der Maßstab des Art. 4 GG ange219 220 221
Hoffmann-Remy, S. 14 f.; Edge, S. 42 f. Erläuterung des Präsidiums des Grundrechtekonvents zu Art. 52 EGRC. Blum, S. 108; Morlok, in: Dreier, GG-Komm., Art. 4, Rn. 32.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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legt wird – denn es ist davon auszugehen, dass das BVerfG gemäß der Solange-Rechtssprechung den Grundrechtsschutz der EGRC als im Wesentlichen mit dem des GG gleichwertig ansieht. Die Einschränkbarkeit der Religionsfreiheit bei der Durchführung des Rechts der Union führt zwar potentiell zu einer Verringerung der Gewährleistung. Dennoch dürfte es sich „im Wesentlichen“ um einen gleichwertigen Schutz handeln, so dass dadurch der Vorbehalt des BVerfG, das Europarecht am Maßstab des GG zu prüfen, noch nicht aktiviert wird. Die Schranke des Art. 10 I, 52 III S.1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK dürfte also eine eigene Bedeutung erlangen. Dem steht auch nicht die „Meistbegünstigungsklausel“ des Art. 53 EGRC entgegen, die am Ende klarstellt, dass die Charta nicht als Einschränkung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auszulegen ist, die durch die Verfassungen der Mitgliedsstaaten anerkannt werden. Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK ist nämlich keine Einschränkung des Art. 4 GG, soweit er auf die Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 I EGRC) angewandt wird. Gemäß der Solange-Rechtssprechung handelt es sich beim Unionsrecht um einen Bereich, der eben nicht unmittelbar an Art. 4 GG gemessen wird. Die EGRC stellt eine Ausdehnung des Grundrechtsschutzes in einem Bereich dar, der (wegen der Höherrangigkeit des EU-Rechts) auch bislang nicht vom Grundrechtskatalog des GG erfasst war. Art. 53 EGRC bedeutet lediglich, dass ein geringerer Schutzstandard der EGRC sich nicht auf den Bereich auswirkt, der bisher durch einen höheren nationalen Standard geschützt ist, in casu also auf nationale Rechtsakte, die an Art. 4 GG zu messen sind. Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK ist ein qualifizierter Gesetzesvorbehalt, der sowohl Schranken als auch Schranken-Schranken enthält. Zu den Schranken zählen die gesetzlich vorgesehenen Eingriffe zum Schutze der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral und zum Schutze der Rechte und Freiheiten Dritter. Die Eingriffe werden somit auf bestimmte eingriffslegitimierende Ziele beschränkt (Zweckbindung des Eingriffs)222, 223. Die Grundrechtsschranken werden ihrerseits begrenzt durch die Schranken-Schranke der Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft.
222
Dementsprechend überschreibt der EGMR diese Punkte seiner Prüfungen mit „Legitimate Aim“, vgl. nur EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 111 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 223 Stieglitz, S. 65 f.
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(a) Das Problem des „Gesetzes“-vorbehalts Schwierigkeiten bereitet der Gesetzesvorbehalt (in der deutschen Fassung: „gesetzlich vorgesehen“, englisch: „prescribed by law“, französisch: „prévue par la loi“), weil unklar ist, welche Anforderungen an die Einschränkung damit aufgestellt werden. Die Frage ist, welche Rechtsakte dieser Schranke entsprechen. Art. 9 II EMRK bezieht sich ursprünglich auf Rechtsakte in den EMRKMitgliedsstaaten. Dieselbe Bedeutung kann Art. 9 II EMRK nicht aufweisen, wenn er als Schranke des Art. 10 I EGRC dient, da es dort um die Grundrechte bei der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 I EGRC) geht. Im Zusammenhang mit Art. 10 I EGRC geht es vielmehr um Eingriffsakte aus dem Rechtskreis der EU oder der Mitgliedsstaaten in das Grundrecht des Art. 10 I EGRC. Als entsprechendes Pendant zu den nationalen Rechtsakten in den EMRK-Mitgliedsstaaten kommen im Rahmen des Art. 10 I EGRC Akte der EU und der Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union in Betracht. Nationale Rechtsakte sollen hier aber außer Acht bleiben. Fraglich ist dann, welche Eingriffe der EU „gesetzlich vorgesehen“ sind. Im EU- und EG-Vertrag ist der Begriff Gesetz nicht verwendet; der VVE führt die Begriffe „Europäisches Gesetz“ und „Europäisches Rahmengesetz“ ein. Ausschlaggebend für die Bewertung ist aber nicht der Begriff, sondern der materielle Inhalt. Daher werden zunächst die für die EMRK entwickelten Anforderungen an ein „Gesetz“ i. S. d. Art. 10 I, 52 III EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK zusammengestellt; im zweiten Schritt werden daraus Schlüsse für das EU-Recht gefolgert. Das Tatbestandsmerkmal „gesetzlich vorgesehen“ erscheint in den spezifischen Schrankenbestimmungen der Art. 8–11 EMRK jeweils in den Abs. II. Die Rechtssprechung zur EMRK hat verschiedene Kriterien entwickelt, die das Merkmal definieren. „Gesetzlich vorgesehen“ bedeutet zunächst, dass ein rechtmäßiger Eingriff überhaupt einer Rechtsgrundlage bedarf224. Es reicht jedoch nicht jedes nationale Gesetz aus, sondern es müssen bestimmte qualitative Anforderungen erfüllt werden225. Die einschränkende Rechtsnorm muss ihrerseits mit dem Rechtsstaatsprinzip („rule of law“, „prééminence du droit“ gemäß 224 EGMR, Urteil vom 25.3.1983, Serie A-61, Rn. 86 ff. (Silver ./. Vereinigtes Königreich). 225 Stieglitz, S. 60; Frowein, in: Frowein/Peukert, Vorbem. Art. 8–11, Rn. 5; Evans, S. 138 ff. mit ausführlicher Analyse der relevanten Entscheidungen des EGMR und der EKMR.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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der Präambel der Konvention) vereinbar sein226. Sie muss vom EMRK-Mitgliedsstaat als Rechtsnorm anerkannt sein; verwaltungsinterne Richtlinien ohne Außenwirkung genügen demnach nicht227. Aus der notwendigen Übereinstimmung mit dem Rechtsstaatsprinzip hat die EMRK-Rechtssprechung abgeleitet, dass dem Grundrechtsträger ein gewisser Schutz gegen willkürliche Eingriffe der öffentlichen Gewalt geboten werden müsse; sie fordert damit einen „Schutz durch Verfahrensrechte“228. Weiterhin fließt aus dem Rechtsstaatsprinzip, dass die Rechtsgrundlage den Erfordernissen der Zugänglichkeit und der hinreichenden Bestimmtheit entspricht. Zugänglich ist eine Rechtsnorm, wenn der Bürger in hinreichender Weise erkennen kann, welche Vorschriften in einem konkreten Fall zur Anwendung kommen. Das ist dann der Fall, wenn die Rechtsvorschrift in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu Stande gekommen und in einer amtlichen Gesetzessammlung publiziert worden ist229. Hinreichend bestimmt ist eine Rechtsvorschrift, wenn sie so präzise formuliert ist, dass der Bürger sein Verhalten danach ausrichten kann. Er muss in die Lage versetzt werden, die Folgen seines Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grade an Gewissheit zu erkennen und die Rechtsvorschrift als objektive Richtschnur seines Verhaltens nutzen können230. Der Wortlaut der EMRK, der das Wort „Gesetz“ („law“, „loi“) gebraucht, lässt offen, ob ein Gesetz im materiellen oder im formellen Sinne gemeint ist. Die Rechtssprechung zur EMRK hat sich mit den hier wiedergegebenen Anforderungen dafür entschieden, den Begriff im materiellen Sinne aufzufassen231. Es kommt nicht auf die „Gesetzesform“ an, sondern auf funktionale Kriterien der Einschränkung, die dem Wert des Freiheitsgrundrechts angemessen sind. Somit ist der EMRK gemäß der Rechtssprechung ihrer Organe auch nicht das Erfordernis eines Parlamentsvorbehaltes zu entnehmen. Dieses Erfordernis ist hingegen im Schrifttum gefordert worden232. Andere fordern eine demokratische Legiti226 EGMR, Urteil vom 2.8.1984, Serie A-82, Rn. 68 (Malone ./. Vereinigtes Königreich); Urteile vom 24.4.1990, Serie A-176-A Rn. 35 (Kruslin ./. Frankreich) und Serie A-176-B, Rn. 34 (Huvig ./. Frankreich). 227 EGMR, Urteil vom 25.3.1983, Serie A-61, Rn. 86 ff. (Silver ./. Vereinigtes Königreich); Frowein, in: Frowein/Peukert, Vorbem. Art. 8–11, Rn. 4. 228 EGMR, Urteil vom 2.8.1984, Serie A-82, Rn. 68 (Malone ./. Vereinigtes Königreich). 229 EGMR, Urteil vom 21.2.1975, Serie A-18, Rn. 48 (Golder ./. Vereinigtes Königreich); Urteil vom 25.3.1983, Serie A-61, Rn. 2 f., 8 f. (Silver ./. Vereinigtes Königreich). 230 EGMR, Urteil vom 26.4.1979, Serie A-30, Rn. 49 (Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich); Urteil vom 25.3.1983, Serie A-61, Rn. 86 ff. (Silver ./. Vereinigtes Königreich). 231 Hoffmann-Remy, S. 40; Grabenwarter, EMRK, § 18, Rn. 7 ff. 232 Wildhaber/Breitenmoser, EMRK, Art. 8 Rn. 568 m. w. N.
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mation des einschränkenden Rechtsaktes233. Dies sei gegeben, wenn ein „Gesetz“ von einem demokratisch legitimierten Organ stammt, das in ausreichendem Maße mit Legislativrechten ausgestattet sei234. Gemeint ist also die Delegation legislativer Befugnisse an die Exekutive. Fraglich ist im Rahmen von Art. 10 I EGRC nun, inwieweit diese Grundsätze übertragbar sind und welche Rechtsakte der EU als einschränkendes Gesetz in Betracht kommen235. Das Erfordernis des Rechtsstaatsprinzips ist prinzipiell auf die EU-Sphäre ohne weiteres übertragbar; ebenso die daraus abgeleiteten Anforderungen der Zugänglichkeit und der hinreichenden Bestimmtheit. Die Zugänglichkeit ist gegeben, wenn die Vorschrift im Amtsblatt der EU veröffentlicht ist. Es reicht nicht aus, dass sie etwa gemäß der vielfältigen unverbindlichen Transparenzleitlinien der EU in einer Datenbank der EU enthalten ist. Da die Zugänglichkeit Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ist, reicht eine praktische Zugänglichkeit nicht, da dann das amtliche, verfahrensrechtliche Element fehlt und nur durch die amtliche Veröffentlichung die Zuverlässigkeit der Zugänglichkeit gewährt wird. Für die hinreichende Bestimmtheit muss nach dem oben Gesagten gelten, dass ein Bürger aus der Vorschrift eine Richtschnur für sein Verhalten ableiten und dessen Folgen abschätzen kann. Der EU-Rechtsakt ist im Einzelfalle darauf zu prüfen. Die EMRK-Anforderung des Rechtsschutzes durch Verfahrensrechte, den das Rechtsstaatsprinzip verlangt, ist auf EU-Rechtsakte ebenfalls übertragbar. Er wird im Streit um EU-Rechtsakte durch nationale Gerichte und den EuGH gewährleistet (Art. 230 IV EGV; Art. III-365 IV VVE). Eine Besonderheit ergibt sich bei umsetzungsbedürftigen Rechtsakten (Richtlinien, Art. 249 EGV; Europäische Rahmengesetze, Art. I-33 VVE); diese entfalten rechtliche Wirkung gegen den Grundrechtsträger erst, wenn sie in innerstaatliches Recht transformiert worden sind. Erst der innerstaatliche Umsetzungsakt kann also einen Eingriff darstellen. Problematisch wird jedoch das sogenannte demokratische Defizit der EU, wenn man, wie Stimmen in der EMRK- und EGRC-Literatur236, verlangt, dass die als Eingriffsgrundlage in Frage kommenden Rechtsakte ein Parlamentsgesetz oder vom Parlament delegiertes Recht sein müssten. Das Europäische Parlament ist inzwischen verstärkt mit echten parlamentarischen Rechten ausgestattet worden und übt eine demokratisch legitimierte par233 Stieglitz, S. 64; Furrer, S. 84: „prévu par la loi, à savoir une acte émanant de l’autorité représentative de la légitimité démocratique“. 234 Stieglitz, S. 64. 235 Zur grundsätzlichen Übertragbarkeit der EMRK-Rechtssprechung vgl. oben Kap. C.III.2.b)(2). 236 Für Art. 52 I EGRC verlangt nun ohne Begründung ein formelles Gesetz: Calliess, in: Ehlers, EuGR, § 19, Rn. 15.
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lamentarische Willensbildung aus auf die Rechtsakte, an denen es im Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist. Der EGMR ist in der Rechtssache Matthews237 zu dem Schluss gekommen, dass das EP zumindest nach seiner Aufwertung im Vertrag von Maastricht als gesetzgebende Körperschaft anzusehen ist, da es kein beratendes Organ mehr sei, sondern eine feste Rolle im Rechtssetzungsverfahren der EU spiele. Die wesentlichen Merkmale eines Parlaments seien gegeben, so dass das EP an der von der EMRK geforderten „wahrhaft politischen Demokratie“ beteiligt sei: es sei demokratisch legitimiert durch freie und geheime Wahl seiner Mitglieder; es habe zwar kein Initiativrecht, aber das Recht, von der EU-Kommission Vorschläge für Rechtsakte zu fordern. Allerdings hängt die Rolle des EP von dem vom EGV vorgesehenen Gesetzgebungsverfahren in einer Angelegenheit ab; daher sei auf den konkreten Fall abzustellen. Rechtsakte, die im Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV; Art. III-396 VVE, dort als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ zum Normalfall erklärt, Art. I-34 I VVE) zu Stande gekommen sind, sind geprägt von der Willensbildung des Parlamentes. Sie können als Parlamentsgesetz qualifiziert werden. Problematischer ist dies bei Rechtsakten, die außerhalb des Mitentscheidungsverfahrens zu Stande kommen. Diese können auch gegen den Willen des Europäischen Parlamentes in Kraft treten. Sie hängen entscheidend vom Willen des Ministerrates ab. Der Ministerrat ist weiterhin von seiner Natur und Zusammensetzung her ein exekutivisches Organ, besetzt mit Vertretern der nationalen Exekutiven. Dennoch übt er für die EU legislative Funktionen aus. Die Legitimation dazu bezieht er jedoch nicht von einer Delegation legislativer Befugnisse des Parlaments, sondern aus seiner Stellung als Vertretung der Regierungen der Mitgliedstaaten. Rechtsakte, die maßgeblich durch die Willensbildung des Ministerrates geprägt sind, entstehen nicht auf Grundlage einer Delegation legislativer Befugnisse vom Parlament an die Exekutive, wie sie im Schrifttum zur EMRK gefordert wird. Eine parlamentarische Basis ist diesen Rechtsakten nicht zu eigen. Diese lässt sich auch nicht daraus herleiten, dass die nationalen Regierungen den nationalen Parlamenten verantwortlich sind. Hinreichend konkrete Delegationen gesetzgeberischer Gewalt von den nationalen Parlamenten über die Regierungen an den Ministerrat finden nicht statt. Die nationalen Parlamente stehen hierarchisch unterhalb der autonomen Sphäre des EU-Rechts und können daher keine konkrete Befugnis zur Schaffung von EU-Recht über die nationalen Regierungen an den Ministerrat delegieren. Dennoch kann nicht gefolgert werden, dass nach der gegenwärtigen Rechtslage nur EU-Rechtsakte als Eingriffsgrundlage taugen, die im Mitent237 EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Reports 1999-I (Matthews ./. Vereinigtes Königreich) (= NJW 1999, S. 3107, 3109 f., Rn. 45–54).
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scheidungsverfahren zu Stande gekommen sind. Die Ansicht der Literatur findet keine Stütze in EMRK und EGRC. Die Rechtssprechung zur EMRK hat richtigerweise Anforderungen an Eingriffsgrundlagen entwickelt, die einen Parlamentsvorbehalt nicht erfordern, da er aus der EMRK nicht herzuleiten ist. Die EMRK erfordert keinen Parlamentsvorbehalt, sondern die Prüfung des Gesetzgebungsverfahrens als Ganzem unter der Maßgabe einer „wahrhaft politischen Demokratie“238. Der EU-Gesetzgebungsprozess erfüllt diese Vorgabe einer – wenn auch z. T. mittelbaren – politischen Demokratie. Die EGRC hat die EMRK-Rechtslage bewusst übernommen. Daher muss für das einschränkende Gesetz ein materieller Gesetzesbegriff gelten239. Damit sind potentiell alle Rechtsinstrumente der EU erfasst, die abstrakt-generelle Außenwirkung auf die Grundrechtsträger entwickeln (unbeschadet der weiteren, oben genannten Anforderungen, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben). Als Eingriffsgrundlage taugen demnach rechtsfehlerfrei zu Stande gekommene Verordnungen/Europäische Gesetze und Richtlinien/Europäische Rahmengesetze (soweit national transformiert)240, unabhängig davon, in welchem Gesetzgebungsverfahren sie entstanden sind. Stellungnahmen, Mitteilungen, Leitlinien und Empfehlungen ermangelt es der materiellen Gesetzeseigenschaft, da sie nicht über Außenwirkung verfügen. Eingriffe in die Religionsfreiheit, die auf ihnen basierten, wären demnach nicht „gesetzlich vorgesehen“. Gleiches gilt für Entscheidungen/Europäische Beschlüsse, die kein materielles Gesetz sind, da sie nicht eine allgemein verbindliche Regelung enthalten, sondern nur für die Personen gelten, die in ihnen bezeichnet werden bzw. an die sie gerichtet sind (Art. 249 EGV; Art. I-33 VVE). Sie können zwar Eingriffe darstellen, aber keine Rechtfertigungsgrundlage für einen Eingriff sein241. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Schrankenanforderung „gesetzlich vorgesehen“ grundlegende Mindeststandards des Rechtsstaatsprinzips aufstellt. Ein Parlamentsvorbehalt lässt sich ihr nicht entnehmen. Selbst die mitunter mit verhältnismäßig geringer demokratischer Willensbildung zu Stande gekommenen Rechtsakte der EU erfüllen prinzipiell die Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips. In der Praxis wird es daher wenige Einschränkungen der Religionsfreiheit durch EU-Recht geben, die an diesem Schrankenmerkmal scheitern.
238 EGMR, Urteil vom 18.2.1999, Reports 1999-I (Matthews ./. Vereinigtes Königreich) (= NJW 1999, S. 3107, 3109 f., Rn. 50). 239 Quasdorf, S. 198. 240 Quasdorf, S. 199. 241 Quasdorf, S. 199.
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(b) Öffentliche Sicherheit Diese Schranke erkennt an, dass die Freiheit, seine Religion zu bekennen, eingeschränkt werden darf, um Gefahren für die objektive Rechtsordnung und Individualrechtsgüter zu begegnen. In der Praxis dürfte es sich als schwierig erweisen, hier einen europaweit anlegbaren Maßstab zu finden, der das Erfordernis der öffentlichen Sicherheit (und Ordnung) reflektiert. Die Gegebenheiten in Europa differieren stark. So ist die öffentliche Sicherheit durch Formen der Religionsausübung in Nordirland viel stärker bedroht als in den meisten anderen Regionen der EU. Die frühe EMRK-Rechtssprechung hat sich mit dieser Schranke in mehreren Strafgefangenen-Entscheidungen auseinander gesetzt. Häftlingen wurde mit dem Verweis auf die öffentliche Sicherheit verweigert, buddhistische Bücher mit Anleitungen zur Selbstverteidigung242 oder eine Gebetskette zu besitzen243, oder sich aus religiösen Motiven einen Vollbart wachsen zu lassen, der die Identifizierung erschwere244. In neuerer Zeit hat der EGMR befunden, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung die Stabilität und Unabhängigkeit eines Staates und seinen inneren Frieden umfasst. Ein Staat darf dazu überprüfen, ob eine Religionsgemeinschaft unter dem Deckmantel religiöser Ziele (verfassungsfeindliche) Aktivitäten durchführt, die diese Schutzgüter gefährden245. Die mögliche Weite dieser Schutzgutsdefinition (allgemeine Erwägungen der Staatsräson) wird in der betreffenden Entscheidung durch die Schranken-Schranke der Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft aufgefangen. Der EuGH hat sich in seinen Entscheidungen mit Religionsbezug noch nicht zur Schranke der öffentlichen Sicherheit geäußert. Die EMRK-Rechtssprechung in den Strafgefangenensachen wird für die Rechtssphäre der EU in absehbarer Zeit mangels entsprechender Zuständigkeiten keine Bedeutung entfalten. Hingegen kann der Schutz der inneren Stabilität und des sozialen Friedens relevant werden. Denkbar ist beispielsweise, dass Konflikte zwischen christlichen und islamischen Glaubensüberzeugungen auftreten und sich an Rechtsakten der EU entzünden. Angesichts eines hohen muslimischen Bevölkerungsanteils in manchen Mitgliedsstaaten, einer weiteren Zunahme durch die Osterweiterung und dem möglichen 242
EKMR, EKMR, 244 EKMR, 245 EGMR, nische Kirche 243
BNr. 6886/75, DR 5, S. 100 f. BNr. 1753/63, YB 8, S. 174 (184) (X ./. Österreich). BNr. 1753/63, YB 8, S. 174 (184) (X ./. Österreich). Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 111 ff. (Metropolitavon Bessarabien et al. ./. Moldawien).
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Beitritt der Türkei wird sich dieses Konfliktpotential eher verstärken. Wachsende fundamentalistische Bewegungen, die Religion und Politik vermengen, werden die Bedeutung des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit als Schranke des Art. 10 I EGRC erhöhen. Gleichzeitig ist es äußerst wichtig, das Schutzgut (in Verbindung mit den Schranken-Schranken) klar zu definieren, um staatliche Überreaktionen zu verhindern. (c) Öffentliche Ordnung Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist nur unscharf von der öffentlichen Sicherheit abzugrenzen. In der englischen und französischen Version wird von public order und „la protection de l’ordre“ (was enger zu verstehen ist als der weite Begriff „ordre public“) gesprochen. Typische Fälle der Betroffenheit der öffentlichen Ordnung sind solche, in denen Veranstaltungen von Religionsgemeinschaften große Menschenmengen anziehen, so dass durch die Menge der Teilnehmer die öffentliche Ordnung in Gefahr gerät246. Zulässig ist ein Genehmigungsvorbehalt für die Errichtung von religiösen Gebäuden, um etwaige, von diesen ausgehende Gefahren für die öffentliche Ordnung abwägen zu können247. Der EGMR hat den Begriff auch als recht weiten ordre public aufgefasst248. In zwei neueren Entscheidungen hat der EGMR befunden, dass die öffentliche Ordnung betroffen war, als es innerhalb einer Religionsgemeinschaft zum Streit über die rechtmäßige Inhaberschaft von Ämtern kam, die mit rechtlichen Befugnissen verbunden sind, die auch staatliche Relevanz haben249. Die öffentliche Ordnung umfasst daher die Verlässlichkeit von Rechtsakten, die durch Religionsgemeinschaften vorgenommen werden und im weltlichen Bereich Rechtsfolgen auslösen. Dies betrifft etwa die Entscheidungen kirchlicher Gerichte in Ehesachen in Spanien, Italien, Portugal und Malta, die gem. Art. 63 VO EG/2201/2003250 (bzw. bis 1. März 2005 gem. Art. 40 VO EG/1347/2000) von der EU und ihren Mitgliedsstaaten (mit Ausnahme Dänemarks) anerkannt werden251. Auch der innere und soziale Friede ist als Bestandteil des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung anerkannt worden252. 246 EKMR, BNr. 20490/92, DR 76A (1994), S. 41 ff. (ISKCON et al. ./. Vereinigtes Königreich). 247 EGMR, Urteil vom 26.9.1996, Reports 1996-IV, S. 1346, 1362 (Manoussakis et al. ./. Griechenland). 248 EGMR, Urteil vom 8.6.1976, Serie A-22, S. 41 (Engel). 249 EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX, Rn. 24 ff. (Serif ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 17.10.2002, BNr. 50776/99 & 52912/99, Rn. 37 ff. (Agga ./. Griechenland). 250 ABl. 2003 L 338, S. 1, 17; s. o. Kap. B.III.1.b). 251 ABl. 2000 L 160 S. 19, 28; s. o. Kap. B.III.1.b).
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(d) Öffentliche Gesundheit Der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist ebenfalls ein Aspekt der Gefahrenabwehr. Die Frage nach der Schranke stellt sich hier einmal mit Blick auf Dritte, die ihrerseits nicht Anhänger der Religion sind, von deren Anhängern die Gefahr ausgeht253, oder die sich nicht selbstständig für die Religion entschieden haben, weil sie etwa noch zu jung sind. Typisch sind hier Fälle, in denen Eltern aus Glaubensgründen ihren schwer kranken Kindern die medizinische Behandlung lege artis verweigern254. Solche Fälle können in den Bereich von Art. 10 I EGRC geraten, wenn sich Eltern in einen anderen Mitgliedstaat begeben, um dem Eingreifen ihrer nationalen Behörden zu entgehen, die ihnen das Erziehungsrecht absprechen und das Kind entziehen wollen. Anders gelagert sind die Fälle, in denen Religionsanhänger aus Gründen der öffentlichen Gesundheit gegen ihren religiös begründeten Willen zu bestimmten Verhaltensweisen gezwungen werden sollen, um sie vor sich selbst zu schützen. In der EMRK-Rechtssprechung wurde das Schutzgut der Gesundheit herangezogen, um eine Helmpflicht im Straßenverkehr gegen religiöse Bedenken zu verteidigen255. Mit Blick auf EU-Initiativen zur Verbesserung der Sicherheit auf europäischen Straßen sind ähnliche Fälle im Bereich der EU nicht ausgeschlossen, zumal die britische Regierung die Helmpflicht für Sikhs aus religiösen Motiven wieder aufgehoben hat. Hier lässt sich durchaus vertreten, dass ein Eingriff in ein bewusstes, religiös begründetes Verhalten, das ausschließlich den Betroffenen selbst gefährdet, nicht mit der Schranke der öffentlichen Gesundheit gerechtfertigt werden kann. Im Falle der Helmpflicht scheint es überzeugend, dass die Helmpflicht an sich durch das Rechtsgut der öffentlichen Gesundheit begründet ist, ihre Anwendung auf Sikhs und andere Religionsanhänger, die wegen ihrer Kleidungsvorschriften in der Öffentlichkeit keinen Helm tragen können, aber unverhältnismäßig sei256. Während es schon bedenklich ist, wenn der Staat seine Bürger vor ausschließlich eigener Selbstgefährdung durch ihre eigene Sorglosigkeit schützen will, entfällt dieses Schutzbedürfnis vollends, wenn das selbstgefährdende Verhalten auf einer wohlüberlegten, religiös begründeten Entscheidung beruht. Ferner dürfte die Schranke insbesondere relevant werden für die Fälle, in denen aus religiösen Motiven besondere Regelungen in das Lebensmittelrecht der EU aufgenommen werden sollen oder bestimmte lebensmittel252 253 254 255 256
s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(b). EKMR, BNr. 9813/82. EGMR, Urteil vom 23.6.1993, Serie A-255-C (Hoffmann ./. Österreich). EKMR, BNr. 7992/77, DR 14 (1978), S. 234 ff. Evans, S. 156.
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rechtliche Anforderungen gegen religiöse Vorgaben durchgesetzt werden sollen. Dies ist ein Bereich, in dem sich auch nach der bisherigen Kompetenzstruktur der EU Konflikte zwischen ihrem Gefahrenabwehrrecht und der Religionsfreiheit mit am ehesten anzubahnen scheinen. (e) Öffentliche Moral Der Begriff der öffentlichen Moral ist bislang in der EuGH-Rechtssprechung nicht thematisiert worden. Als Schranke dürfte ihr auf absehbare Zeit keine eigenständige Bedeutung zufallen. Die Herausbildung eines einheitlichen europäischen Moralbegriffs ist nicht absehbar257. (f) Schutz der Rechte und Freiheiten anderer Diese Schranke überschneidet sich teilweise mit den anderen Schutzgütern des Art. 10 I, 52 III EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK, hat aber einen eigenständigen Gehalt. Dieser ist potentiell sehr weit. In der Rechtssprechung zur EMRK wurde die negative Religionsfreiheit Dritter in Gestalt des sehr weitgehenden griechischen Verbots der Glaubenswerbung (Proselytismusverbot) unter dieses Schutzgut gefasst258. Auch zivilrechtliche Ersatzansprüche Dritter sind hier enthalten: ein KFZ-Halter weigerte sich entgegen der Rechtsordnung aus religiösen Gründen, für sein Fahrzeug eine Haftpflichtversicherung abzuschließen259. Die Sicherung möglicher Ersatzansprüche geschädigter Dritter verlangte hier einen Eingriff in die Religionsfreiheit. Ein solcher Fall kann auch unter Art. 10 I EGRC relevant werden, da EU-Richtlinien über die Haftpflichtversicherungen für Kraftfahrzeughalter existieren260. Im EU-Recht fallen unter das Schutzgut der Rechte und Freiheiten anderer die kollidierenden Grundrechte Dritter und die Grundfreiheiten. Das 257
Skeptisch auch der EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Serie A-24, S. 22 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich). 258 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 42 (Kokkinakis ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 24.2.1998, Reports 1998-I, Rn. 4 f. (Larissis ./. Griechenland). 259 EKMR, BNr. 2988/66, YB 10, S. 472; EKMR, BNr. 6753/74, DR 2, S. 118 (ein Sozialarbeiter weigerte sich, aus moralischen Gründen den Aufenthaltsort einer Minderjährigen der Polizei mitzuteilen). 260 Richtlinie 2000/26/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.5.2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung, und zur Änderung der Richtlinien 73/239/ EWG und 88/357/EWG des Rates (Vierte Kraftfahrzeughaftpflicht-Richtlinie), ABl. 2000 L 181, S. 65 ff.
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Konfliktpotential der individuellen Religionsfreiheit mit den Grundfreiheiten erscheint als gering, da bislang kaum ersichtlich ist, wie die Ausübung einer Grundfreiheit mit der individuellen Religionsfreiheit kollidieren könnte. Anders ist die Lage bei der korporativen Religionsfreiheit261. (5) Die Schranken-Schranken des Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK Die Untersuchung der Schranken der Religionsfreiheit hat bisher gezeigt, dass das Erfordernis des materiellen Gesetzes und die Zweckbindung weite Einschränkungsmöglichkeiten zulassen. Um so mehr stellt sich daher die Frage, welches Gewicht den Schranken-Schranken zukommt. Die Schranken-Schranken bestehen gemäß Art. 10 I, 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK darin, dass die Einschränkung notwendig sein muss in einer demokratischen Gesellschaft, und dass der Wesensgehalt der Religionsfreiheit gem. Art. 52 III S. 2 EGRC i. V. m. Art. 52 I EGRC nicht verletzt werden darf. (a) Notwendigkeit Zum Begriff der Notwendigkeit („necessary“/„nécessaire“) hat der EGMR zunächst festgestellt, dass er nicht so streng ist wie „unabdingbar“ („indispensable“), aber über „zulässig“ und „nützlich“ hinausgeht262. Mit dieser Einordnung verbindet der EGMR eine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der EuGH begnügt sich häufig noch selektiv mit Äußerungen zur Legitimität des Eingriffsziels und der nicht offensichtlichen Ungeeignetheit des Eingriffs263. Diese recht geringe Kontrolldichte des Rechtsschutzes kann bei grundlegenden Grundrechten wie der Religionsfreiheit zu nicht tolerierbaren Defiziten führen. Daher ist zu wünschen, dass die Notwendigkeit einer Einschränkung der Religionsfreiheit in Zukunft – mittels einer weiteren Ausdifferenzierung der grundrechtlichen Dogmatik des EuGH, die sich immer stärker an der Methodik des Bundesverfassungsgerichts zu orientieren scheint – durch eine sorgfältige Abwägung des Schutzgutes und des Eingriffszwecks beurteilt werden wird. Über die Bindung der EU-Organe an die Rechtssprechung des EuGH und mittelbar (über Art. 10 I i. V. m. 52 III S. 1 EGRC) an die des EGMR wird diese Abwägungspraxis Eingang in die gesetzgeberische und exekutive Arbeit der EU-Institutionen finden. Bislang 261
Vgl. u. Kap. C.III.5.g). EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Serie A-24, S. 22, Rn. 48 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich). 263 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 13, Rn. 45. 262
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
kann festgehalten werden: wenn „notwendig“ zwischen „unabdinglich“ und „nützlich“ anzusiedeln ist, dürfte es dem Erfordernis sehr nahe stehen, dass kein milderes Mittel zur Erreichung des angestrebten Ziels verfügbar sei. (b) In einer demokratischen Gesellschaft Die Notwendigkeit ist ein relativer Maßstab, der Bedeutung nur durch einen Bezugspunkt erlangt. Als tertium comparationis fungiert in Art. 9 II EMRK der Zusatz „in einer demokratischen Gesellschaft“. Nach EMRKRechtssprechung ist notwendig in einer demokratischen Gesellschaft, was einem dringenden sozialen Bedürfnis (pressing social need) entspricht264. Unzulässig ist demnach ein Eingriff, der über das dringende soziale Bedürfnis nach Einschränkung hinausgeht. Für den EMRK-Bereich gilt dabei ein Beurteilungsspielraum (margin of appreciation), der dazu dient, den unterschiedlichen Demokratiekonzepten und gesellschaftlichen Situationen in den EMRK-Staaten Rechnung zu tragen265. Die letzte Entscheidung über Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit hat sich der EGMR jedoch vorbehalten266. Fraglich ist, wie dieser Bestand auf die Rechtssphäre der EU übertragen werden kann. Hier wäre dann die EU der Raum, in dem die demokratische Gesellschaft existieren müsste. Nach der in der Einleitung dargestellten Entwicklung der Union hin zu einer Wertegemeinschaft kann die EU als eine demokratische Gesellschaft bezeichnet werden. Das lässt sich nicht zuletzt mit der Grundrechtecharta belegen. Zu den Werten der Union gehören neben den Grundrechten auch die Grundfreiheiten, auf denen der wirtschaftliche Kern der EU, der Gemeinsame Binnenmarkt, errichtet ist. Als Besonderheit ist bei der Betrachtung der EU als „demokratischer Gesellschaft“ zu beachten, dass die Union in besonderer Weise eine Agglomeration von nationalen Gesellschaften ist, deren Werte – bei grundlegenden Gemeinsamkeiten – durchaus erheblich divergieren. Für die Beantwortung der Frage, ob und inwieweit ein Eingriff in die Religionsfreiheit einem dringenden sozialen Bedürfnis dieser demokratischen Gesellschaft entspricht, muss also ermittelt werden, welche dringenden sozialen Bedürfnisse den Werten der Union entnommen werden können. Als Ausgangspunkte können die in 264 EGMR, Urteil vom 7.12.1976, Serie A-24, S. 22, Rn. 48 (Handyside ./. Vereinigtes Königreich). 265 EGMR, Urteil vom 26.4.1979, Serie A-30, Rn. 49 (Sunday Times ./. Vereinigtes Königreich); Frowein, in: Frowein/Peukert, Vorbem. Art. 8–11, Rn. 14; Blum, S. 39 ff.; Stieglitz, S. 75 ff. 266 EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 47 (Kokkinakis ./. Griechenland); Urteil vom 22.10.1981, Serie A-45, Rn. 52 (Dudgeon ./. Vereinigtes Königreich); Frowein/Peukert, Vorbem. Art. 8–11, Rn. 16.
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Art. 2, 3 EGV/Art. I-2, 3 VVE aufgeführten Werte und Ziele genommen werden. Der unbestimmte Rechtsbegriff „dringend“ ist dahingehend zu verstehen, dass der fragliche Wert entweder aktuell besonders bedroht ist, oder in besonders herausgehobener Weise bedeutsam ist für das Leitbild der demokratischen Gesellschaft. In Betracht kommen könnten etwa der Grundsatz der Gleichberechtigung (Nicht-Diskriminierung) und der Inhalt der Grundfreiheiten. So könnte in Zukunft die Frage entstehen, ob es in der EU notwendig ist, zur Förderung der Gleichberechtigung und der Nicht-Diskriminierung den „Tendenzschutz“ in kirchlichen Arbeitsverhältnissen einzuschränken, oder ob im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit lebensmittelrechtliche Regelungen aufgestellt werden, die mit religiösen Vorschriften zur Schlachtung von Tieren und Zubereitung von Speisen kollidieren. Diese Fragen dürften häufig um das Verhältnis von Grundrechten und Grundfreiheiten kreisen. Hier ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass eine Nützlichkeit des Eingriffs zur Verwirklichung der Nicht-Diskriminierung und Gleichberechtigung nicht ausreicht, um die Notwendigkeit zu bejahen267. Es darf kein milderes Mittel verfügbar sein, um ein für die demokratische Gesellschaft dringendes soziales Bedürfnis durchzusetzen. (c) Wesensgehaltsgarantie Die Schranken-Schranken des Art. 9 II EMRK wie auch diejenigen der Art. 8–11 EMRK enthalten keinen expliziten Hinweis auf einen Schutz des Wesensgehaltes der Grundrechte. Die Wesensgehaltsgarantie ergibt sich aber aus der Meistbegünstigungsklausel in Art. 52 III S. 2 i. V. m. Art. 52 I EGRC268. Inhaltlich ist sie auch bereits in der Schranken-Schranke der Notwendigkeit der Einschränkung in einer demokratischen Gesellschaft enthalten: es ist nicht denkbar, dass in einer demokratischen Gesellschaft das Grundrecht aus Art. 10 I EGRC so beschnitten werden muss, dass sein innerer Kern verletzt wird. (6) Weitergehender Schutz gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC? Art. 52 III S. 2 EGRC enthält eine Meistbegünstigungsklausel, die es zulässt, dass der Schutz der Grundrechtecharta über den von der EMRK gewährten Schutzstandard hinausreicht. Mit Blick auf die Religionsfreiheit wäre dies in Zukunft denkbar, indem Art. 10 I EGRC ein weiterer Schutzbereich, engere Schranken oder weitere Schranken-Schranken zugewiesen würden. 267 268
s. o. Kap. C.III.4.b)(5)(a). s. u. Kap. C.III.4.b)(6).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Art. 10 I EGRC könnte einen weitergehenden Schutz als Art. 9 EMRK bieten, wenn für ihn die Schranke des Art. 52 I EGRC gilt und diese die zulässigen Eingriffe in die Religionsfreiheit stärker limitiert als die Schranke des Art. 9 II EMRK. Art. 52 I EGRC lässt als Eingriffszweck nur die von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen zu269. Ein Vergleich mit Art. 9 II EMRK zeigt aber, dass die in Art. 9 II genannten Eingriffszwecke präziser formuliert und enger gefasst sind. Art. 9 II bietet daher den weitergehenden Grundrechtsschutz270. Art. 52 I EGRC kommt insoweit nicht über die Meistbegünstigungsklausel zur Anwendung; es bleibt bei den Schranken aus Art. 52 III S. 1 EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK. Eine Erweiterung der Schutzgewährung des Art. 10 I EGRC gegenüber dem Art. 9 I EMRK gelingt der Meistbegünstigungsklausel aber durch die explizite Aufnahme der Wesensgehaltsgarantie in Art. 52 I EGRC. Diese Schranken-Schranke ist in der EMRK nicht ausdrücklich genannt. Die Spezialität des Art. 52 III S. 1 EGRC zu Art. 52 I EGRC für EMRK-Entsprechungen steht insoweit gerade nicht entgegen, als dass Art. 52 I EGRC einen weitergehenden Schutz gewährt271. 5. Die Ausgestaltung des Art. 10 I EGRC als korporatives Grundrecht Das Grundrecht der Religionsfreiheit enthält wie alle materiellrechtlichen Regeln ein Konfliktlösungsprogramm. Der Konflikt, dessen Lösung es sich vornimmt, lässt sich in zwei groben Ausprägungen erkennen. Die eine Ausprägung betrifft den Konflikt zwischen Staat und dem einzelnen Bürger über widersprüchliche Vorgaben weltlichen Rechts und religiöser Norm. Diesen Konflikt sucht die individuelle Religionsfreiheit zu lösen. Die zweite Ausprägung betrifft einen Konflikt zwischen Staat und verfassten Personenmehrheiten, die sich die Beachtung religiöser Verhaltensweisen zum Ziel gesetzt haben. Dieser Konflikt entsteht, wenn der Staat den Reli269
EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, S. 2609, Rn. 18 („Wachauf“). Robbers, in: FS Maurer, S. 428. 271 In der Praxis ist die Relevanz der Wesensgehaltsgarantie allerdings denkbar gering. Die Frage nach ihrem Inhalt stellte auch den Grundrechtekonvent vor Schwierigkeiten. So wurde gefragt, ob damit der harte Kern, die Essenz oder der tiefe Sinn eines Grundrechts gemeint sei. Der Vorsitzende, R. Herzog, erläuterte, dass der Wesensgehalt ursprünglich sehr eng mit dem Verhältnismäßigkeitsgebot verwandt gewesen sei. Herzog wies ferner darauf hin, dass die Wesensgehaltsgarantie nicht viel nütze, aber auch nicht schädlich sei. Ihm sei nur wichtig, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genannt werde (vgl. Bernsdorff/Borowsky, S. 235). 270
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gionsgemeinschaften gewisse Lebensbereiche zur Selbstregelung gemäß religiöser Vorgaben nicht überlässt oder diese nicht klar definiert sind. Hier handelt es sich demnach um einen Konflikt zwischen Staat und Kirche bzw. Religionsgemeinschaft272. Wie in der Einleitung gezeigt, hat die Europäische Union inzwischen eine Kompetenzfülle und Regelungsdichte erreicht, die der eines Staates gleich kommt. Dabei betrifft ihre Regelungstätigkeit in rechtlicher, wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht viele Aspekte, die das Querschnittsthema Religion berühren273. Die oben vorgenommene Bestandsaufnahme des religionsrechtlichen acquis communautaire fördert bereits ein beachtliches Spektrum an Rechtsbereichen zu Tage, in denen es zu Berührungen kommt: von den Grundrechten über das Lebensmittelrecht, Steuerrecht, Datenschutzrecht bis zum Arbeitsrecht seien einige Bereiche in Erinnerung gerufen274. So entstehen auch auf Ebene der EU solche Konflikte wie sie die Relation Staat-Kirche kennzeichnen. Ein Bedarf für ein Konfliktlösungsprogramm für die kollektive und korporative Dimension ist also vorhanden. Fraglich ist, ob Art. 10 I EGRC diese grundrechtliche Dimension enthält und wie sie ausgestaltet ist. a) Untersuchung zur Existenz der korporativen Dimension der Religionsfreiheit Verschiedene Herleitungswege sollen im Folgenden geprüft werden, um die Existenz der korporativen Dimension der Religionsfreiheit zu untersuchen. (1) Wortlaut des Art. 10 I EGRC Art. 10 I EGRC wählt die Formulierung „Jede Person“, um den Kreis der Grundrechtsberechtigten zu beschreiben. Fraglich ist, ob damit über den Kreis der natürlichen Personen hinaus auch juristische Personen in den Schutzbereich einbezogen sein können. Eine vergleichende Betrachtung des Sprachgebrauchs der anderen Artikel der EGRC zeigt: ausdrückliche Erwähnung finden juristische Personen nur in den Artikeln 42 (Recht auf Zugang zu Dokumenten), 43 (Bürgerbeauftragter) und 44 (Petitionsrecht). Eine Klausel in der Art des Art. 19 III GG, die die Geltung der individuellen 272 Vgl. dazu Kimminich, Religionsfreiheit als Menschenrecht, S. 76; Neff, An Evolving Legal Norm of Religious Freedom, S. 577. 273 s. o. Kap. B.I.; Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 242. 274 s. o. Kap. B.III.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Grundrechte bedingt auf juristische Personen ausdehnt, existiert nicht. Gegen die Erwägung, aus dieser Tatsache ein argumentum e contrario abzuleiten, sprechen jedoch mehrere Gründe275. Zum einen erfasst der deutsche juristische Begriff „Person“ und die entsprechenden Begriffe in den anderen Amtssprachen der EU natürliche und juristische Personen. Entscheidend ist aber die Mindeststandardklausel des Art. 53 EGRC: der durch die EGRC gewährte Schutzstandard darf nicht hinter den bereits erreichten Standard des EU-Rechts und der EMRK zurückfallen. Der EuGH hat aber den grundsätzlichen Schutz juristischer Personen im Grundrechtebereich anerkannt276, und auch die EMRK-Rechtssprechung gewährt juristischen Personen prinzipiell grundrechtlichen Schutz277. Da die EGRC nicht weniger gewährleisten soll, kann nicht geschlossen werden, dass juristische Personen vom Schutzbereich der Chartagrundrechte grundsätzlich ausgeschlossen seien. Vielmehr ist das Fehlen einer Wesensmäßigkeitsklausel in der Art des Art. 19 III GG so zu interpretieren, dass der Chartageber die grundsätzliche Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen für heute selbstverständlich gehalten hat und eine solche Klausel daher für überflüssig hielt. Auch mit Blick auf ihre nationalen Verfassungen durften die Abgeordneten des Grundrechtekonvents davon ausgehen, denn diese kennen keine dem Art. 19 III GG entsprechenden Klauseln, gewähren aber juristischen Personen den entsprechenden Schutz278. Zwar ist die Problematik in den meisten EU-Mitgliedsstaaten nicht so ausdifferenziert wie in Deutschland an Hand des Art. 19 III GG, doch wird inhaltlich durchaus vergleichbar geprüft, ob für die juristische Person eine grundrechtstypische Gefährdungslage besteht und das Grundrecht dem Wesen nach auf eine juristische Person anwendbar ist. Die besondere Erwähnung juristischer Personen in den Art. 42, 43, und 44 EGRC ist damit zu erklären, dass der Schutz natürlicher und juristischer Personen dort an unterschiedliche Voraussetzungen geknüpft wird279. Aus diesen Erörterungen zur sprachlichen Kapazität des Art. 10 I EGRC kann allerdings noch nicht abschließend gefolgert werden, ob die inhaltliche Gewährleistung der kollektiven und korporativen Dimension auch dem Willen des Normgebers entspricht. Festzuhalten bleibt, dass die sprachliche Fassung der Norm dem nicht entgegensteht. 275
Muckel, DÖV 2005, S. 193; Philippi, S. 35. EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide); Ehlers, in: Ehlers, EuGR, § 13, Rn. 26, S. 329; Quasdorf, S. 141. 277 Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 25, Rn. 14. 278 Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 28; Dreier, in: Dreier, GG-Komm., Art. 19 III, Rn. 23. 279 Natürliche Personen müssen in einem Mitgliedsstaat ihren Wohnsitz haben, juristische Personen ihren satzungsmäßigen Sitz. 276
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Art. 10 I EGRC formuliert weiterhin, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit „in Gemeinschaft mit anderen“ ausgeübt werden darf. Damit ist der individuelle Schutzbereich (anknüpfend an die – natürliche oder juristische – „Person“) erweitert auf eine Personenmehrheit, also um eine kollektive Dimension ergänzt. Man muss daraus schließen, dass mehrere Individuen ihren Glauben gemeinsam ausleben dürfen, die sprachliche Fassung es aber auch zulässt, dass mehrere juristische Personen (Kirchen und Glaubensgemeinschaften) gemeinsam sich auf Art. 10 I EGRC berufen können, etwa wenn sie einen ökumenischen Gottesdienst oder einen gemeinsamen Kirchentag feiern wollen. (2) Historie unter Berücksichtigung der EMRK-Rechtssprechung, insbesondere das Urteil Hasan & Chaush ./. Bulgarien Zur historischen Untersuchung ist wiederum auf die Vorbildvorschrift des Art. 9 EMRK zu rekurrieren. Art. 9 EMRK wurde in Rechtssprechung und Literatur lange Zeit als rein individuelles Grundrecht natürlicher Personen begriffen. Nur Einzelpersonen und diesen als Mitgliedern einer Religionsgemeinschaft wurde zugestanden, sich auf die Religionsfreiheit zu berufen280: eine juristische Person könne sich nicht auf die Rechte aus Art. 9 EMRK berufen; dies müssten ihre Mitglieder als natürliche Personen tun. Die EKMR weigerte sich, religiösen Organisationen Rechtsschutz zu gewähren, obwohl bereits damals Art. 25 (alt) EMRK galt. Art. 25 (alt) EMRK erweiterte den Kreis der Konventionsrechtsträger auf nichtstaatliche Organisationen und Personenvereinigungen. Daran zeigt sich, dass nach Auffassung der EMRK-Organe nicht die Eigenschaft der juristischen Person an sich Probleme bereitete, sondern gerade Art. 9 EMRK als so individualistisch konzipiert verstanden wurde, dass er Vereinigungen als solchen versperrt schien. Mit den Worten des Grundgesetzes gesagt, erschien die Religionsfreiheit auf juristische Personen nicht als wesensmäßig übertragbar. Die EKMR änderte ihre Ansicht im Jahre 1979, als sie die Klage der Church of Scientology gegen ein Werbeverbot für das „Hubbard-Elektrometer“ zuließ281, nach Auffassung von Scientology ein religiöses Objekt zur Messung des Geisteszustandes. Die Beschwerde der Church of Scientology war gestützt auf Art. 9 EMRK i. V. m. Art. 25 (alt) EMRK. Im Falle Hubbard E-Meter gelangte die EKMR zu der Erkenntnis, dass die individuelle Religion sich zum Teil gerade erst in gemeinsamer Ausübung realisiere. Die EKMR schloss daraus, dass die Differenzierung zwischen einer 280
EKMR, Entscheidung vom 17.12.1968, BNr. 3798/68, YB 12 (1969), S. 306 (Church of Scientology ./. United Kingdom). 281 EKMR, Entscheidung vom 5.5.1979, BNr. 7805/77, DR 16, S. 68 (Hubbard Elektrometer).
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Glaubensgemeinschaft und ihren Anhängern lebensfremd sei. Eine Glaubensgemeinschaft repräsentiere ihre Anhänger; wenn sie Beschwerde erhebt, tue sie dies in Wahrheit im Namen ihrer Mitglieder. Von dieser Entscheidung an behalf sich die EMRK-Rechtssprechung mit dem Rückgriff auf den Repräsentationsgedanken. Eine verfasste Glaubensgemeinschaft könne sich danach auf die Religionsfreiheit berufen „aus eigenem Rechte [aber] als Repräsentantin ihrer Mitglieder“282. In verfahrensrechtlicher Hinsicht läuft dies auf eine Prozessstandschaft der Religionsgemeinschaft für ihre Mitglieder hinaus, da die Religionsgemeinschaft dann ein fremdes Recht im eigenen Namen geltend macht283. Blum folgerte aus dem Repräsentationsgedanken eine korporative Rechtsposition der Religionsgemeinschaften284: diese könnten ihren Bestand unabhängig von der Vertretung individueller Rechte ihrer Mitglieder beanspruchen. Einige deutsche Autoren schlossen sich der Auffassung an285, während sie in der nichtdeutschen Kommentarliteratur – soweit überblickbar – keinen Widerhall fand286. M. E. überzeugt diese Ansicht nicht. Sie differenziert nicht zwischen der materiellrechtlichen Quelle korporativer Rechte und der prozessualen Handlungsbefugnis der Religionsgemeinschaften. Vielmehr folgert sie aus der verfahrensrechtlichen Prozessfähigkeit der Religionsgemeinschaften, dass diesen eigene korporative Rechte zukommen können. Es bleibt jedoch unklar, worin diese begründet sein sollen; aus der prozessualen Befugnis können materielle Rechte jedenfalls nicht stammen. In Wahrheit ist der repräsentationsgedankliche Ansatz unter dem Aspekt des korporativrechtlichen Nutzens sehr beschränkt und nicht sehr ergiebig. Aus ihm lässt sich eine echte korporative Dimension der Religionsfreiheit nicht herleiten. Nach ihm liegt zwar die Prozessführungsbefugnis bei der Kirche, die materiellrechtlich relevante Frage, welche Rechte die Kirche so geltend machen kann, entscheidet sich aber an Hand der Sachbefugnis. Kommt es für die Sachbefugnis nur auf die Mitglieder der Kirche als Mehrzahl von Individuen an, so bleibt die Religionsfreiheit auf (kollektiv wahrgenommene) individuelle Rechte beschränkt287. Es kann kein Recht konstruiert werden, das nur der verfassten Religionsgemeinschaft als solcher zu282 EKMR, Entscheidung vom 5.5.1979, BNr. 7805/77, DR 16, S. 68, 70 (Hubbard Elektrometer); EKMR, Entscheidung vom 8.5.1985, BNr. 10901/84, NJW 1987, S. 1131 (Prüssner ./. BR Deutschland); zuletzt noch EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 101 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 283 Blum, S. 174. 284 Blum, S. 174. 285 Robbers, HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 317. 286 Tempel, in: Kiderlen/Tempel/Torfs (Hrsg.), S. 16. 287 Vachek, S. 210.
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stehen kann, nicht aber einem Individuum. Gemeint sind hier etwa Organisations- und Personalhoheit. Der Ansatz des Repräsentationsgedankens ist demnach in seiner Natur nach wie vor individualistisch, da er als entscheidenden Anknüpfungspunkt den individuellen Religionsanhänger wählt. Er eröffnet nicht den Weg in die echte korporative Dimension der Religionsfreiheit. Dies ist selbst dann unbefriedigend, wenn man der Ansicht folgt, dass die eigentliche ratio der Gewährung grundrechtlichen Schutzes an juristische Personen darin besteht, die dahinter stehenden Individuen zu begünstigen. Denn die Gewährung einer echten korporativen Dimension an eine Religionsgemeinschaft eröffnet dieser Freiheitsrechte, deren Ausübung auf die in ihr versammelten Individuen ausstrahlt. Deren individueller Grundrechtsschutz wird vervollständigt durch die Auswirkungen des korporativen Schutzes der Religionsgemeinschaft. Nur in dieser Zweidimensionalität verwirklicht sich die Religionsfreiheit (des gläubigen Individuums, das sich einer Glaubensgemeinschaft angeschlossen hat) umfassend. Juristisch erreichbar ist die zweite, korporative Dimension nur, wenn an die religiöse Korporation selbst als materieller Rechtsträger angeknüpft wird. Die Beschränkungen der korporativen Dimension der Religionsfreiheit überwand der EGMR in dem Urteil Hasan und Chaush ./. Bulgarien vom 26. Oktober 2000288, 289. Der Fall betraf die Vergabe des Amtes des Obermuftis der bulgarischen Moslems, d.h. des höchsten Amtes der bulgarischen moslemischen Religionsgemeinschaft. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes in Bulgarien führte eine staatliche Behörde, das Direktorat für religiöse Denominationen, eine Aufsicht über die Religionsgemeinschaften auf Grund des Gesetzes über die Religionsgemeinschaften. Diese staatliche Aufsicht wurde u. a. dadurch ausgeübt, dass Religionsgemeinschaften sich, ihre obersten Amtsinhaber und ihre Statuten (Satzungen) bei der Aufsichtsbehörde registrieren lassen müssen. In der moslemischen Religionsgemeinschaft kam es zum Streit darüber, welcher von zwei Konkurrenten der rechtmäßige Inhaber des Amtes des Obermuftis sei. Die Aufsichtsbehörde erklärte die gemeinschaftsinterne Wahl des ersten In288
EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI (Hasan und Chaush ./. Bulgarien). Vgl. dazu auch: Weber, ZevKR 47 (2002), S. 275 f.; Duffar, EJCSR 2001, S. 272, und ders., EJCSR 1998, S. 148 ff. 289 Der von Conring, S. 362, Fn. 134, 137 angeführte Fall EKMR, Entscheidung vom 11.1.1992, BNr. 17522/90, DR 72, S. 256, begründet keine korporativrechtliche Position, da er nicht von „der Kirche“ ausgeht, sondern von einzelnen Gläubigen. Der Satz von Conring, S. 362, Fn. 137 („Die Kirche hat das ‚droit à manifester sa religion en public ou en privé par le culte ou par l’accomplissement des rites‘ “) erscheint daher irreführend, da die EKMR lediglich den Wortlaut des Art. 9 wiederholt, ohne ihn (wie Conring) auf das Substantiv „Kirche“ zu beziehen. Die Intention der EKMR mag aber durchaus in die von Conring vertretene Richtung gegangen sein.
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habers, Gendschew, für nichtig und ordnete seine Entfernung aus dem Amte an. Eine Interimsführung der Kirche organisierte eine neue Wahl, durch die der Kandidat Fikri Hasan zum Obermufti bestimmt wurde. Er wurde von der Aufsichtsbehörde als Obermufti registriert. Herr Gendschew hielt seinen Anspruch auf das Amt jedoch aufrecht. Während der Konflikt einige Jahre andauerte, blieb die Aufsichtsbehörde bei ihrer Auffassung, dass Herr Hasan der rechtmäßige Obermufti sei. Gleichzeitig bemühte sie sich jedoch, der Religionsgemeinschaft bei der Überwindung der inneren Spaltung zu helfen und forderte die Führung auf, Konferenzen zu organisieren, auf denen der Streit beigelegt werden könne. Dies gelang jedoch nicht, bevor im Jahre 1995 eine neue bulgarische Regierung ins Amt kam. Unter dieser Regierung änderte die beim bulgarischen Ministerrat angesiedelte Aufsichtsbehörde ihre Ansicht und unterstützte den Kandidaten Gendschew in seinem Anspruch, rechtmäßiger Inhaber des Amtes des Obermuftis zu sein. Sie registrierte ihn als neuen Obermufti und sandte angeblich Briefe an die Banken, bei denen die moslemische Gemeinschaft ihre Konten führte, um sie über den Machtwechsel in der Religionsgemeinschaft zu informieren. Über diese Entwicklungen wurde Herr Hasan nicht amtlich informiert. Die neue Führung unter Herrn Gendschew besetzte mit Hilfe privater Sicherheitskräfte das Verwaltungsgebäude der Religionsgemeinschaft, nahm es mit allen Dokumenten in Besitz, vertrieb die Führung unter Herrn Hasan und entließ sie aus dem Arbeitsverhältnis mit der Religionsgemeinschaft. Das Hilfegesuch Herrn Hasans an die Polizei und staatliche Justizbehörden wurde von diesen abgelehnt mit der Begründung, nach der Registrierung Gendschews sei dieser rechtmäßiger Obermufti und habe Verfügungsbefugnis über das Vermögen der Religionsgemeinschaft; die vorgenommenen Handlungen seien rechtmäßig. Herr Hasan begehrte daraufhin von der Aufsichtsbehörde, als Obermufti einer neuen (abgespaltenen) moslemischen Religionsgemeinschaft registriert zu werden (die durch die Registrierung Rechtspersönlichkeit erlangt hätte). Er erreichte schließlich einen entsprechenden Beschluss des Obersten Gerichtshofs Bulgariens. Die Regierung lehnte die Registrierung dennoch ab unter Hinweis auf das bulgarische Gesetz über die Religionsgemeinschaften und darauf, dass die bulgarischen Moslems bereits über eine registrierte Kirchenführung verfügten. Sie implizierte damit die Auffassung, dass es der staatlichen Regierung obliege, über die Anzahl der zulässigen moslemischen Religionsgemeinschaften und deren Führung zu entscheiden. Nach einem erneuten Regierungswechsel im Jahre 1997 änderte die Aufsichtsbehörde wiederum ihre Ansicht, unterstützte erneut Herrn Hasan und registrierte einen Kandidaten aus seiner Fraktion als Obermufti, nachdem eine Kirchenkonferenz diesen gewählt hatte. Außerdem nahm die Kirchenkonferenz eine neue Kirchensatzung an, die ebenfalls von der Aufsichtsbehörde registriert wurde. Die Ak-
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tivitäten der Kirchenführung Gendschews wurden rückwirkend für null und nichtig erklärt. Der Sachverhalt ist bemerkenswert, denn er konfrontierte den EGMR mit einer Reihe genuin korporativer Aspekte der Religionsfreiheit: die Registrierung von Religionsgemeinschaften, ihrer Führungspersonen und internen Statuten, Personalhoheit (in Form der Ämtervergabe), Organisationshoheit, Vermögensverwaltung (die Briefe der Aufsichtsbehörde an die Banken der Kirche und die Zuweisung des Eigentums), Rechtspersönlichkeit und der Zugang zu staatlichem Rechtsschutz, und schließlich die kirchlichen Arbeitsverhältnisse. Der EGMR erkannte, dass er diese fundamentalen Fragen der Religionsfreiheit nicht gebührend würde würdigen können, wenn er sich ihr über den Ansatz des Repräsentationsgedanken näherte. Hätte der EGMR über diesen Ansatz nur geprüft, ob die moslemische Religionsgemeinschaft von Bulgarien in eigener Person die Rechte ihrer Mitglieder Hasan und Chaush (ein weiteres Mitglied aus Hasans Führungsmannschaft) vor den Gerichtshof bringen dürfe, so hätte er diese Rechte nur unter dem Aspekt untersuchen können, ob die individuelle Religionsfreiheit der beiden Mitglieder dadurch beschränkt wird, dass der Religionsgemeinschaft die Registrierung versagt, die Ämtervergabe behindert, das Vermögen entzogen wird etc. Die für Hasan und Chaush (und alle Mitglieder der Gemeinschaft) eigentlich entscheidende Dimension des Problems, nämlich die Frage nach der Verletzung eigener (korporativer) Rechte der moslemischen Religionsgemeinschaft, wäre unerörtert geblieben. Ironischerweise mussten Hasan und Chaush gerade in diesem korporativ geprägten Fall als individuelle Kläger vor den EGMR treten, da sie nach bulgarischem Recht von der Kirchenführung und -vertretung ausgeschlossen waren, und gerade dieser Ausschluss die fragliche Verletzung korporativer Rechte begründet. Auf die Erörterung der materiellen Fragen der korporativen Religionsfreiheit hat das jedoch keine Auswirkung. Es führt lediglich dazu, dass der EGMR auf diese Besonderheit des Einzelfalles dadurch reagieren muss, dass er die erörterten, genuin korporativen Aspekte in einem nachgelagerten Gedankenschritt mit den klagenden Individuen verbindet. Diese Rückbindung der entscheidungserheblichen korporativen Aspekte an die individuellen Kläger gelingt dem EGMR, indem er ausführt: „Im vorliegenden Fall scheiden sich die Meinungen der Parteien in der Frage, ob die zu beurteilenden Ereignisse, die alle die Organisation und Führung der moslemischen Glaubensgemeinschaft in Bulgarien betreffen, das Freiheitsrecht der individuellen Kläger berühren, ihre Religion zu manifestieren [. . .]“290, 291. Dieses Prü290 „In the present case the parties differ on the question whether or not the events under consideration, which all relate to the organisation and leadership of the Muslim community in Bulgaria, concern the right of the individual applicants to
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fungsverfahren ähnelt einer actio pro societate, bei der im ersten Schritt nach den korporativen Rechten der Gemeinschaft gefragt wird. Dies ist der aus korporativer Sicht bemerkenswerte Schritt292. Diese Herangehensweise verhält sich geradezu umgekehrt zum Repräsentationsansatz, bei dem aus den individuellen Rechten der Mitglieder die kollektiven Rechte der Gemeinschaft gefolgert werden. Auf den Repräsentationsgedanken stützt sich der EGMR in dieser Entscheidung daher nicht. Die bis dahin seit „Hubbard Elektrometer“293 gängige Formel „in eigener Person als Repräsentantin der Mitglieder“294 wird nicht aufgegriffen. Dies kann nicht allein darauf zurückzuführen sein, dass in casu die Kirche nicht in eigenem Namen geklagt hat. Der EGMR geht in den Urteilsgründen eindeutig davon aus, dass es hier um echte korporative Rechte der Religionsgemeinschaft geht. Hätte er auf dem Repräsentationsgedanken beharrt, so hätte er in der vorliegenden Konstellation fragen müssen, welche Rechte die Kläger Hasan und Chaush quasi als Prozessstandschafter für die Kirche geltend machen, die die Kirche wiederum für ihre Mitglieder geltend macht. Auch diese doppelte Prozessstandschaft hätte am Ende der Kette nur dazu geführt, dass materieller Anknüpfungspunkt der Untersuchung individuelle Rechte einzelner Gläubiger gewesen wären. Eine Analyse der Urteilsgründe zeigt aber, dass der EGMR auf die Rechtssphäre der Religionsgemeinschaft als solcher abstellt, also die Rechte der Korporation als materiellen Anknüpfungspunkt wählt. In das Zentrum seiner Erörterungen stellt er die Religionsgemeinschaft selbst. Dabei bezieht er zu deren Gunsten den Aspekt der Koalitionsfreiheit (Art. 11 EMRK) ein: „Der Gerichtshof erinnert daran, dass Religionsgemeinschaften traditionell und universell in der Form organisierter Strukturen existieren. [. . .] Wo es um die freedom to manifest their religion and, consequently, whether or not Article 9 of the Convention applies.“ (Rn. 61; Übersetzung des Autors). 291 Vgl. auch Rn. 75 zum Prüfungsmaßstab: „The Court must examine whether there has been State interference with the internal organisation of the Muslim community and, consequently, with the applicants’ right to freedom of religion.“ 292 Im vorliegenden Fall werden also die korporativen Aspekte in den Urteilsgründen erörtert. Offen bleibt hier auf Grund der Besonderheit des Einzelfalles hingegen, ob die Glaubensgemeinschaft als solche ihre korporativen Rechte auch einklagen könnte. Dass daran keine Zweifel bestehen, wenn die Religionsgemeinschaft nach den allgemeinen Regeln rechts- und parteifähig ist, wurde oben bereits gezeigt (vgl. nur EKMR, Entscheidung vom 5.5.1979, BNr. 7805/77, DR 16, S. 68, 70 (Hubbard Elektrometer); aus neuerer Zeit: EGMR, Urteil vom 27.6.2000, Reports 2000-VII, Rn. 72 (Cha’are Shalom Ve Tsedek ./. Frankreich); Urteil vom 13.12. 2001, Reports 2001-XII, Rn. 101 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 293 EKMR, Entscheidung vom 5.5.1979, BNr. 7805/77, DR 16, S. 68, 70 (Hubbard Elektrometer). 294 „In its own capacity as a representative of its members“.
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Organisation der Religionsgemeinschaft geht, muss Art. 9 EMRK im Lichte des Art. 11 interpretiert werden, der das korporative Leben gegen ungerechtfertigte Einmischung des Staates schützt“295. Der damit angesprochene Gedanke des Freiraums im korporativen Leben einer Gemeinschaft, der einem Individuum eben nicht zustehen kann, wird noch weiter geführt: „In der Tat ist die autonome Existenz der Religionsgemeinschaften unverzichtbar für den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft und somit ein Kernbestandteil des Schutzes, den Art. 9 gewährt“296. Dieser Satz ist eine Schlüsselstelle zum Verständnis der Entwicklung der EMRK-Rechtssprechung zur Religionsfreiheit: erstens bejaht der EGMR hier die autonome Existenz der Religionsgemeinschaften. „Autonom“ qualifiziert in diesem Kontext die Existenz der Religionsgemeinschaft im Verhältnis zum weltlichen Staat: der Religionsgemeinschaft wird ihre Existenz in einem Freiraum zugesprochen, der ihr unmittelbar zusteht und sich nicht mittelbar aus einer Herleitung aus der Summe der Individualfreiheiten der Mitglieder ergibt. Zweitens weist der EGMR dieser Autonomie auch eine Funktion zu: die Sicherung des Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft, der dadurch gewährleistet werden kann, dass Freiräume bestehen, die der weltliche Staat mangels Herrschaft nicht gleichschalten kann. All dies geht wesensmäßig über eine gebündelte Wahrnehmung individueller Freiheit hinaus. Mit Blick auf den religiösen Aspekt gehen die Erwägungen aber auch über die bloße Anerkennung der weltlichen Vereinigungsfreiheit hinaus, denn der EGMR fügt hinzu: „Der Gerichtshof ist nicht der Ansicht, dass der Fall besser ausschließlich unter Artikel 11 EMRK behandelt würde, wie es die [bulgarische] Regierung vorschlägt. Solch ein Ansatz nähme die Beschwerden der Kläger aus ihrem [scil.: religiösen] Kontext und missachtete ihre Substanz“297. Zum Abschluss seiner Untersuchung einer Schutzbereichsverletzung des Art. 9 EMRK knüpft der EGMR dann wieder an die Organisationshoheit als selbständigen Inhalt korporativen Charakters des Schutzbereichs an (wobei das gleichordnende „und“ die inhaltliche Gleichordnung mit dem individuellen Recht der Kläger deutlich macht): „Es liegt 295 „The Court recalls that religious communities traditionally and universally exist in the form of organised structures. [. . .] Where the organisation of the religious community is at issue, Article 9 of the Convention must be interpreted in the light of Article 11, which safeguards associative life against unjustified State interference.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). 296 „Indeed, the autonomous existence of religious communities is indispensable for pluralism in a democratic society and is thus at the very heart of the protection which Article 9 affords.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). 297 „Further, the Court does not consider that the case is better dealt with solely under Article 11 of the Convention, as suggested by the Government. Such an approach would take the applicants’ complaints out of their context and disregard their substance.“ (Rn. 65; Übersetzung des Autors).
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daher ein Eingriff in die interne Organisation der moslemischen Religionsgemeinschaft und in das Recht der Kläger auf Religionsfreiheit vor, wie sie durch Art. 9 EMRK geschützt wird“298. Fraglich ist nach dieser Feststellung, wie der EGMR die selbständige korporative Dimension der Religionsfreiheit herleitet. Auch dazu enthält das Urteil einige Anhaltspunkte. Diese zeigen einen zweiteiligen Herleitungsansatz. Zum einen zieht der EGMR die Vereinigungsfreiheit (Art. 11 EMRK) hinzu, zum zweiten entwickelt er eine eigenständige korporative Dimension aus der individuellen Religionsfreiheit. Die Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK spielt in den Überlegungen des EGMR eine zweifache Rolle. Zuerst schlägt der EGMR eine Brücke zwischen den beiden Grundrechten, indem er feststellt, dass die Rechte, die einer Vereinigung aus Art. 11 EMRK zukommen, für den mit Art. 9 EMRK umschriebenen und durch ihn geschützten Bereich religiösen Lebens gelten und für diesen fruchtbar gemacht werden können299. Der Art. 11 EMRK, der korporatives Leben gegen ungerechtfertigte staatliche Eingriffe schützt, strahlt auf die Organisation einer Religionsgemeinschaft in der Weise aus, dass bei der Auslegung des Art. 9 EMRK die Vereinigungsfreiheit berücksichtigt werden muss. Die Religionsfreiheit bekommt dadurch eine korporative Dimension, dass der korporative Schutzgehalt des Art. 11 EMRK als mit der Religionsfreiheit kompatibel und komplementär befunden wird. Gleichzeitig wird durch diesen Brückenschlag eine Verbindung der beiden Grundrechte hergestellt, die so eng ist, dass etwas eigenständiges entsteht, das weder isoliert durch Art. 9 noch isoliert durch Art. 11 EMRK in seinem Wesen erfasst werden kann. Denn auf den Ansatz der bulgarischen Regierung, die Problematik alleine durch Art. 11 EMRK zu erfassen, entgegnet der EGMR, dass unter einem solchen Ansatz die Beschwerde aus ihrem Kontext genommen und ihre Substanz missachtet würde300. Diese eigenständige Substanz kann aber nichts anderes sein als gerade die hier betroffene korporative Dimension der Religionsfreiheit. Insofern wird die Vereinigungsfreiheit integraler Bestandteil der Religionsfreiheit. Dadurch wird verhindert, dass in solchen korporativen Fällen der religiöse Wesenskern des Sachverhalts missachtet wird und eine Entscheidung ergeht, die den Sachverhalt auf eine weltliche Dimension reduziert, die ihn nach Auffassung der Grundrechtsträger nur unzureichend beschreibt. Der EGMR zeigt, dass er den wesensmäßigen Unterschied zwischen Religionsgemeinschaften und 298 „There was therefore an interference with the internal organisation of the Muslim religious community and with the applicants’ right to freedom of religion as protected by Article 9 of the Convention.“ (Rn. 82; Übersetzung des Autors). 299 Rn. 62, 65. 300 Rn. 65.
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den rein weltlichen Assoziationen des Art. 11 EMRK wahrnimmt, indem er ausführt: „Religionsgemeinschaften [. . .] in der Form organisierter Strukturen [. . .] folgen Regeln, die von ihren Anhängern oftmals als von göttlichem Ursprung stammend angesehen werden“301. Aus diesem Grunde kann der EGMR zu dem Schlusse gelangen, dass eine isolierte Behandlung des Falles ausschließlich unter Art. 11 EMRK nicht problemadäquat ist und keine eigenständige, über Art. 9 i. V. m. Art. 11 EMRK hinausgehende Substanz aufweist302. Den zweiten Herleitungsansatz der korporativen Dimension der Religionsfreiheit entwickelt der EGMR aus der individuellen Religionsfreiheit. Er stellt fest: „[. . .] Das Recht der Gläubigen auf Religionsfreiheit umfasst die Erwartung, dass es der [Glaubens-]Gemeinschaft gewährt wird, friedlich zu funktionieren, frei von willkürlichem Einschreiten des Staates“303. Der EGMR stellt also zunächst eine Erwartung des individuellen Gläubigen auf den korporativen Schutz fest. Den Grund dafür nennt er im Anschluss: „Wäre das organisatorische Leben der [Religions-]Gemeinschaft nicht durch Art. 9 EMRK geschützt, würden alle anderen Aspekte der Religionsfreiheit des Individuums verwundbar.“304 Diese Ausführungen zeigen, dass der EGMR die Herleitung der korporativen Dimension durch eine ergebnisorientierte Betrachtung des Schutzzweckes der individuellen Religionsfreiheit vornimmt. Ergebnis der individuellen Religionsfreiheit soll der möglichst umfassende Schutz des Gläubigen sein. Dieses Ziel wird nach Auffassung des EGMR nur gewährleistet, wenn die korporative Dimension der Religionsfreiheit gesichert wird. Diese Beziehung von individueller und korporativer Dimension kommt in der Erwägung zum Ausdruck, dass die individuelle Religionsfreiheit ohne korporative Dimension verwundbar bliebe. Aus der Erkenntnis der Verwundbarkeit der individuellen Freiheit beim Fehlen der korporativen Dimension entsteht das Postulat der korporativen Religionsfreiheit. Unter dieser Perspektive wird der eigenständigen korporativen Dimension mit Blick auf die individuelle Freiheit eine die301
„[. . .] Religious communities [. . .] in the form of organised structures [. . .] abide by rules which are often seen by followers as being of divine origin.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). 302 „The Court considers, like the Commission, that no separate issue arises under Article 11 of the Convention. It has already dealt with the complaint concerning State interference with the internal organisation of the Muslim religious community under Article 9 of the Convention, interpreted in the light of Article 11.“ (Rn. 91). 303 „Seen in this perspective, the believers’ right to freedom of religion encompasses the expectation that the community will be allowed to function peacefully, free from arbitrary state intervention.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). 304 „Were the organisational life of the community not protected by Article 9 of the Convention, all other aspects of the individual’s freedom of religion would become vulnerable.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors).
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nende Funktion zugewiesen. Die dienende Funktion besteht konkret darin, anderenfalls auftretende Schutzlücken zu schließen. Die Herleitung der korporativen Dimension aus der individuellen Dimension unter dem Aspekt der dienenden Funktion bietet sich dem EGMR in casu besonders deswegen an, weil er die Rückbeziehung der entscheidungserheblichen korporativen Dimension auf die Individualrechtssphäre der klagenden Individuen herstellen muss. Dabei darf nicht verkannt werden, dass der EGMR von einer vollwertigen (und nicht bloß hilfsweisen) korporativen Dimension ausgeht. Dies ergibt sich aus der bereits dargestellten Art und Weise, die korporativen Aspekte zu erörtern, und aus dem parallelen Herleitungsansatz der Vereinigungsfreiheit. (3) Herleitungsversuch aus der individuellen Religionsfreiheit Die korporative Dimension der Religionsfreiheit kann nach den soeben dargelegten Ausführungen des EGMR305 aus der individuellen Religionsfreiheit hergeleitet werden, da eine selbständige korporative Dimension eine unabdingbare Ergänzung des individualrechtlichen Grundrechtsschutzes ist. Auch mehrere Autoren haben die korporativen Aspekte aus dem Individualrecht abgeleitet306. Bleckmann strukturiert seine Erwägungen in vier Gründen307. Ihnen scheint als roter Faden gemeinsam zu sein, dass sie in verschiedenen Facetten das Bedürfnis nach einer verfassten Einheit aufzeigen, das entsteht, wenn sich Einzelpersonen zusammentun, um einen gemeinsamen (religiösen) Zweck anzustreben. Das gebildete Kollektiv entwickelt eine eigene Dynamik und abstrahiert sich von den teilnehmenden Personen. Es formuliert Bedürfnisse, die jeder einzelne Teilnehmer nicht formulieren müsste und könnte – beispielsweise den Bedarf nach einer regelsetzenden und streitschlichtenden Instanz, die Konflikte löst, die die Verfolgung des gemeinsamen Ziels gefährden. Eine solche Instanz muss gerade dann handlungsfähig sein, wenn Streit über das gemeinsame Ziel oder über die Art und Weise entsteht, in der das gemeinsame Ziel angestrebt werden soll. Das bedeutet, sie muss unabhängig von dem einzelnen Mitglied funktionieren, das eine abweichende Meinung vertritt und den Konflikt auslöst. Entsteht in einem Glaubens-„Kollektiv“ beispielsweise ein Streit darüber, wie der gemeinsame Gottesdienst zu gestalten sei, hängt der Bestand der Gemeinschaft davon ab, ob sie eine Instanz bilden kann (oder gebildet hat), die in der Lage ist, Regeln für den Umgang mit dem Konflikt zu formulieren, sie 305
s. o. Kap. C.III.5.a)(2). Zu nennen sind insbesondere Bleckmann, Religionsfreiheit, m. w. N., und Blum, S. 170 ff. 307 Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 40 ff. 306
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für verbindlich zu erklären und diese durchzusetzen – und dies über den Willen der dissentierenden Mitglieder hinweg. Durch diese Überlegung wird gezeigt, dass eine Norm der Religionsfreiheit, die die Religionsausübung „in Gemeinschaft mit anderen“ (so Art. 10 I EGRC) garantiert, nur dann den individuellen Bedürfnissen der einzelnen Gläubigen gerecht wird, wenn sie ihnen das Recht zumisst, diejenigen Organe zu bilden, derer die Gemeinschaft bedarf. Dies schließt ein, dass die Organe so gestaltet werden dürfen, wie die Gemeinschaft es aus ihren subjektiven, religiös-theologischen Gründen für zweckmäßig oder geboten hält. Ebenso muss die Grundrechtsnorm die internen Regeln respektieren, die diese Organe als für die Gemeinschaft verbindlich formulieren. Und sie muss es den Organen überlassen, die gemeinsamen Ziele mit dem Einsatze der Personen und Sachmittel anzustreben, den sie den Mitgliedern der Gemeinschaft gegenüber verantworten können. Damit ist dann aus der individuellen Religionsfreiheit über die garantierte kollektive Religionsausübung die Notwendigkeit hergeleitet, dass das weltliche Recht solche Institutionen anerkennen muss wie die interne Organisationshoheit, die Personal- und Finanzhoheit und ein verbindliches Konfliktlösungssystem mit Vollzugsgewalt für seine Entscheidungen, d. h. eine interne Disziplinargewalt. Dieser Gedankengang dürfte im Wesentlichen in all den mitgliedsstaatlichen Verfassungen (und damit in der gemeinsamen Verfassungstradition der EU) stecken, die die korporative Religionsfreiheit nicht ausdrücklich erwähnen, sie aber gewährleisten308. Mit den Erwägungen des EGMR im Falle „Hasan und Chaush“ haben diese Überlegungen zur Ableitung der korporativen Religionsfreiheit aus der individuellen Dimension gemeinsam, dass sie insbesondere das dienende und ergänzende Wesen verdeutlichen, das die korporative Religionsfreiheit im Bezug auf die individuelle Dimension aufweist. Damit ist jedoch nach wie vor nicht gesagt, dass die korporative Dimension im juristischen Sinne untergeordnet oder ein streng derivatives Recht sei, das sich in jedem Einzelfall neu aus der individuellen Freiheit legitimieren müsste. Gezeigt ist vielmehr eine Komplementarität der Dimensionen, die letztendlich darin fußt, dass jegliche korporative Gewährleistung eines Grundrechts letztendlich den in der Korporation versammelten Individuen nützen soll309. Zwar wird die Korporation als eigenes Rechtssubjekt (persona moralis) geschützt, doch ergibt sich der Zweck dieses Schutzes mittelbar daraus, dass die Korporation auf einem personalen Substrat, aus schutzbedürftigen Menschen 308
Vgl. Nachweise bei Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 33 ff.; Dreier, in: Dreier, GG-Komm., Art. 19 III, Rn. 23. 309 Vgl. BVerfGE 21, 362 (369); BVerfGE 75, 192 (196); Dreier, in: Dreier, GGKomm., Art. 19 III, Rn. 31.
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besteht. Diese Komplementarität verlangt von der EU, zur Gewährleistung eines vollständigen Grundrechtsschutzes die korporative Religionsfreiheit zu garantieren. (4) Herleitungsversuch aus der Vereinigungsfreiheit Die Vereinigungsfreiheit wird sowohl in Art. 12 EGRC als auch in Art. 11 EMRK geschützt. Wegen Art. 52 III, 53 EGRC darf der Schutzstandard beider Rechte als weitgehend identisch betrachtet werden310. Die Vereinigungsfreiheit gewährt auf europäischer Ebene sowohl die Gründungsfreiheit als auch die Betätigungsfreiheit für Vereinigungen. Die Gründungsfreiheit ist bereits im Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen enthalten. Die Betätigungsfreiheit ist nach Rechtssprechung des EGMR311 und der allgemeinen Ansicht in der Literatur ebenfalls umfasst312. Allerdings ist die Vereinigungsfreiheit dem Schrankenvorbehalt des einfachen Gesetzes unterworfen. Der Staat darf demnach die Tätigkeit und das Binnenrecht der Vereinigung zum Schutze Dritter (Außenstehender oder auch Mitgliedern) beschränken313. Damit ist die Vereinigungsfreiheit u. a. dem ius cogens des allgemeinen Gesellschafts- und Vereinsrechts unterworfen, aber möglicherweise auch recht weitgehenden Antidiskriminierungsvorschriften, die religiösen Bedürfnissen entgegen stehen können – erinnert sei nur an das Bedürfnis von Glaubensgemeinschaften, Andersgläubige von internen Funktionen und Ämtern auszuschließen, obwohl diese Arbeitsverhältnisse durch weltliches Recht ausgestaltet werden sollen. Vor dem Hintergrund, dass sowohl die Religionsfreiheit als auch die Vereinigungsfreiheit im Unionsrecht geschützt sind, stellt sich Frage, in welchem Verhältnis die beiden Grundrechte zu einander stehen. Eine erste Möglichkeit wäre, dass Art. 12 EGRC den Schutz der korporativen Religionsfreiheit in Art. 10 I EGRC verhindert. Das wäre der Fall, wenn Art. 12 EGRC eine abschließende lex specialis für alle Vereinigungen darstellt, einschließlich der religiösen. Für den Bereich von Religion und Weltanschauung enthält aber Art. 10 I EGRC spezifische Regelungen, die 310
Vgl. oben Kap. C.III.2.b)(2); zum Verhältnis der Unionsgrundrechte zur EMRK vgl. Ehlers, in: Ehlers, EuGR, § 13, Rn. 13. 311 EGMR, Urteil vom 27.10.1975, Serie A-19 (Nationale Belgische Polizeigewerkschaft ./. Belgien) (= EuGRZ 1975, S. 562, Rn. 3 f.); EGMR, Urteil vom 13.8. 1981, Serie A-19 (Young, James & Webster ./. Vereinigtes Königreich) (= EuGRZ 1981, S. 559, Rn. 49 ff.). 312 Marauhn, in: Ehlers, EuGR, § 4, Rn. 74, S. 100; Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 11, Rn. 7; Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 60. 313 Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 60.
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Art. 12 EGRC nicht einschließt, so dass Art. 12 EGRC insofern nicht spezieller, sondern weiter ist. Der EGMR wendet Art. 9 EMRK und Art. 11 EMRK parallel an314; dafür spricht sich auch die Literatur aus315. Eine abschließende Regelung durch Art. 12 EGRC ist daher abzulehnen. Überzeugender ist der Ansatz, die Religionsfreiheit als lex specialis gegenüber der Vereinigungsfreiheit aufzufassen. Dabei wird die Vereinigungsfreiheit jedoch gemäß der europäischen Grundrechtsdogmatik nicht von der Religionsfreiheit verdrängt. Die Religionsfreiheit ist speziellere Norm, weil sie die spezifischen religiösen Anliegen und Besonderheiten erkennt und schützt. Dies spricht dafür, sie als „zentrale Norm“ aufzufassen, zu der man die Vereinigungsfreiheit interpretierend hinzu zieht. So gelangt man zu einer Interpretation des Art. 10 I EGRC im Lichte des Art. 12 EGRC. Die Vereinigungsfreiheit übernimmt dann eine flankierende und ergänzende, gewissermaßen auch erweiternde Rolle bei der Auslegung des Art. 10 I EGRC. Eine eigenständige Herleitung der korporativen Religionsfreiheit aus der Vereinigungsfreiheit gelingt auf diese Weise allerdings nicht, weil ihr die spezifische religiös-weltanschaulichen Aspekte fehlen. Daher kann auf die Herleitung der korporativen Dimension nach obigen Muster aus der individuellen Religionsfreiheit316 bei diesem Ansatz nicht verzichtet werden; Voraussetzung ist also, die oben geleistete Herleitung zu akzeptieren. Tut man dies, so kann die Hinzuziehung der Vereinigungsfreiheit die Auslegung und das Verständnis der korporativen Dimension flankieren, unterstützen und erweitern. In der Rechtsanwendung wird dann Art. 10 I EGRC im Lichte des Art. 12 EGRC geprüft317; die isolierte Prüfung der Vereinigungsfreiheit ist dann zwar nicht gesperrt, dürfte aber keinen Mehrwert erbringen318. Lehnt man – entgegen der hier vertretenen Auffassung – die Herleitung der korporativen Dimension aus der individuellen Religionsfreiheit ab, so wird man im Ergebnis die korporativen Erscheinungsformen religiösen Lebens als durch die Vereinigungsfreiheit geschützt ansehen müssen, und zwar in dem Umfang, wie alle anderen Arten von Vereinigungen geschützt sind, da Art. 12 EGRC dem Zweck einer Vereinigung keine Bedeutung beimisst. Damit besteht die Gefahr, dass das religiöse Spezifikum und besondere Schutzbedürfnis verloren geht. Dies wird sichtbar in der EuGH- und früheren EMRK-Rechtssprechung, wo Fälle mit religiösen Besonderheiten 314 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, Rn. 65, 90 f. (Hasan und Chaush ./. Bulgarien). 315 Vgl. speziell zur Religionsfreiheit Conring, S. 360. 316 s. o. Kap. C.III.5.a)(3). 317 Vgl. EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, Rn. 62, 65 (Hasan und Chaush ./. Bulgarien). 318 Vgl. EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, Rn. 90 f. (Hasan und Chaush ./. Bulgarien).
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nur unter etwa vereins- oder steuerrechtlichem Blickwinkel, also thematisch verengt, erfasst wurden319. Nach der hier vertretenen Auffassung – insoweit deckungsgleich mit der heutigen EMRK-Rechtssprechung – kommt der Vereinigungsfreiheit eine ergänzende, bestätigende und erweiternde Funktion bei der Interpretation des Art. 10 I EGRC zu. Im Ergebnis schützt Art. 10 I EGRC, interpretiert im Lichte der Vereinigungsfreiheit, die Gründungsfreiheit religiöser Gemeinschaften und deren Betätigungsfreiheit. Die Berücksichtigung des religiösen Charakters dieser Vereinigungen wird dadurch gewahrt, dass der Schutz durch Art. 10 I EGRC als zentraler Norm gewährt wird. (5) Die Herleitung aus der gemeinsamen Verfassungstradition der Mitgliedsstaaten Ein weiterer Ansatz zur Herleitung der korporativen Dimension der Religionsfreiheit besteht in der Auswertung der nationalen Grundrechtsbestände der Mitgliedsstaaten der Union, die ihren Grundrechtsschutz traditionell320 über die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen in den Grundrechtsbestand der Union eingebracht haben. Nach der Reform der Verträge und dem In-Kraft-Treten des Verfassungsvertrages mit eigenem Grundrechtskatalog wird sich die Frage stellen, welche Rolle die gemeinsame Verfassungstradition für den Grundrechtsbestand auf EU-Ebene noch spielt321. Zwar ist die EGRC dann als rechtsverbindlicher Teil des Primärrechts mit Verfassungsrang eine autonome Rechtsquelle, doch steht sie nicht bezugslos zum bisherigen acquis communautaire und zum Recht der Mitgliedsstaaten. Zum einen bezieht die Präambel der Grundrechtecharta die Charta ausdrücklich auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen. Diese sollen nicht ersetzt oder verändert, sondern bekräftigt werden. Sie verlieren daher keineswegs ihren Rang als wichtige Rechtserkenntnisquelle322. Zweitens gebietet Art. 53 319
Vgl. EKMR, Entscheidung vom 15.10.1981, BNr. 8652/79, DR 26, S. 89 (Moon-Sekte ./. Österreich); EuGH, Rs. 300/84, Slg. 1986, S. 3097, 3123 f. (Van Roosmalen); Vachek, S. 92 ff.; Robbers, EssGespr 27 (1992), S. 82 ff.; Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 189. 320 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft ./. Einfuhr- und Vorratsstelle Getreide); Art. 6 II EUV. 321 Vgl. oben Kap. C.II. 322 Dies wird auch in Zukunft so bleiben, da die Entwicklungen der verschiedenen Ebenen des Grundrechtsschutzes nicht von einander getrennt und auseinander laufen sollen, sondern sich gegenseitig befruchten und in der Rechtssphäre der EU integriert werden müssen. Daher wird auch in Zukunft die Methode der wertenden Rechtsvergleichung der Mitgliedsstaaten ihren Platz in der Grundrechteerforschung der EU haben.
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EGRC ausdrücklich den Erhalt des bestehenden Schutzniveaus, das unter anderem auch durch das Recht der Mitgliedsstaaten gewährt wird. Der Schutz der korporativen Religionsfreiheit in den Mitgliedsstaaten ist mehrfach untersucht worden323. Die Ergebnisse der vorliegenden Analysen stimmen überein und kommen in wertender Rechtsvergleichung zu dem Schluss, dass die korporative Religionsfreiheit grundsätzlich Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ist. Eine erneute rechtsvergleichende Analyse an dieser Stelle ist daher weder nötig noch im Rahmen dieser Untersuchung möglich. S. Ferrari arbeitet den Schutz der korporativen Religionsfreiheit in den Mitgliedsstaaten anschaulich als gemeinsames Muster des Religionsrechts auf EU-Ebene heraus324. Abweichungen in einzelnen Mitgliedsstaaten verhindern diesen Befund nicht, da die wertende Rechtsvergleichung nicht an einen Minimalstandard gebunden ist. Festzuhalten ist der Befund, dass der Schutz der korporativen Religionsfreiheit ein Bestandteil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten und daher Teil des gemeinsamen Grundrechtsbestandes der EU ist. Dieser behält unter dem Verfassungsvertrag seine Relevanz. Die Begründung der korporativen Dimension der Religionsfreiheit aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen stellt somit eine zweite eigenständige Herleitung der korporativen Religionsfreiheit im EU-Recht dar, die gleichberechtigt neben der Herleitung aus der individuellen Religionsfreiheit steht. Dabei ist anzumerken, dass die bei der Herleitung aus der individuellen Religionsfreiheit erwähnte „dienende Funktion“ der kollektiven Religionsfreiheit möglicherweise bei der Herleitung aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen relativiert werden kann. Dies hängt davon ab, ob die nationalen Verfassungen ihrerseits die korporative Freiheit als Instrument zur Ermöglichung der individuellen Freiheit begreifen, oder einen anderen Begründungsansatz wählen. Anhaltspunkte dazu können sich aus der Geschichte der europäischen Staaten ergeben, die die korporative Freiheit entwickelt haben, um die weltliche Sphäre von der geistlichen zu trennen und die geistliche Sphäre den etablierten Kirchen zu überlassen, während sie selbst die weltliche beanspruchten. Bei diesem Prozess hätte dann nicht die Ermöglichung individueller Freiheit im Vordergrund gestanden. An dieser Stelle muss aber offen bleiben, inwieweit dies historisch begründbar ist. Zweifelhaft ist zudem, welche Relevanz diesen Entwicklungen im moder323 Siehe die Länderberichte und Auswertungen bei: Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in der Europäischen Union, Baden-Baden 1995; Bleckmann, Von der individuellen Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK zum Selbstbestimmungsrecht der Kirchen: Ansätze zu einem „Europäischen Staatskirchenrecht“, Köln 1995; EJCSR 1992 bis heute; Mückl, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 203 ff.; Ferrari, EJCSR 1995, S. 150 ff. 324 Ferrari, EJCSR 1995, S. 150 ff.
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nen, pluralistisch-neutralen Grundrecht der Religionsfreiheit der EU noch zukommen kann. Hier fungiert die korporative Religionsfreiheit von ihrem Wesen und Zweck her wohl als Ergänzung und Vervollkommnung der individuellen Freiheit. (6) Ergebnis Die untersuchten Ansätze der Herleitung der korporativen Dimension der Religionsfreiheit in den Grundrechten der Union führen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die korporative Religionsfreiheit im EU-Recht existiert. Dies ist einmal aus der individuellen Religionsfreiheit abzuleiten und ergibt sich gleichfalls aus den nach wie vor als Rechtserkenntnisquellen dienenden gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und der EMRKRechtssprechung. Die von der Grundrechtecharta als maßgebliche Rechtserkenntnisquelle gewählte EMRK hat (spätestens) seit der Entscheidung Hasan und Chaush ./. Bulgarien eine eigenständige korporative Dimension der Religionsfreiheit erkannt. Die Hinzuziehung der Vereinigungsfreiheit ergänzt deren Herleitung, indem sie die Auslegung der zentralen Norm der Religionsfreiheit mit den allgemeinen Aspekten des Schutzes von Vereinigungen anreichert. Der Wortlaut des Art. 10 I EGRC ist weit genug gefasst, um die korporative Religionsfreiheit aufnehmen zu können. Die Herleitungsansätze kollidieren somit weder in der Methode noch im Ergebnis, sondern begründen komplementär die Existenz der korporativen Religionsfreiheit im Recht der EU. (7) Rechtsanwendungsebene Die Erkenntnis von der Existenz der korporativen Religionsfreiheit soll nun auf das Sekundärrecht der EU bezogen werden. Durch diese erste Rückbindung wird versucht zu zeigen, dass das Verbandsgrundrecht für die Rechtsgestaltung und -anwendung relevant ist, und dass es auch schon vor Grundrechtecharta und dem EGMR-Urteil in der Rechtssache Hasan & Chaush – es handelt sich ja nicht um eine Rechtsänderung, sondern eine herausarbeitende Erkenntnis des Bestehenden – ansatzweise als ungeschriebenes Recht gewirkt hat325. Die Bestandsaufnahme des religionsrechtlich relevanten Rechts der EU326 enthält Normen, die korporative Aspekte von religionsrechtlicher Bedeutung 325
Dafür, dass das ungeschriebene Individualgrundrecht der Religionsfreiheit sich im Sekundärrecht niedergeschlagen hat, vgl.: Bausback, EuR 2000, S. 266; Robbers, in: HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 319, 324. 326 s. o. Kap. B.III.1.
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in besonderer Weise behandeln und als Ansätze eines Verbandsgrundrechtsschutzes zu verstehen sind. • Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf327 Erwägungsgrund Nr. 24 nimmt bezug auf die (unverbindliche) Erklärung Nr. 11 zum Vertrage von Amsterdam und folgert aus ihr, dass die Mitgliedsstaaten nach Maßgabe ihrer nationalen Regelungen über den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften spezifische (diskriminierende) Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen vorsehen können, die Voraussetzung für die Ausübung einer diesbezüglichen beruflichen Tätigkeit sein können. Art. 4 II der Richtlinie legt dann die Voraussetzungen für die zulässige Diskriminierung auf Grund der Religion fest: es muss sich um berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen Organisationen, deren Ethos auf religiös-weltanschaulichen Grundsätzen beruht, handeln. Relevant ist also der interne Bereich. Dieser wird nicht näher definiert. Weiterhin darf die Rechtsform sowohl privat- als auch öffentlich-rechtlich sein. Insgesamt räumt die Richtlinie diesen Gemeinschaften ein, von dem Ziel der Anti-Diskriminierungsrichtlinie abzuweichen, soweit nationale Vorschriften ihnen die Ungleichbehandlung aus religiösen Gründen gestatten. Religionsgemeinschaften werden demnach im Umfang ihrer nationalen Rechte vom Ziel der Richtlinie ausgenommen, obwohl die Richtlinie hinsichtlich ihres Zieles verbindlich ist und nationalem Recht im Range vorginge. Somit wird den Religionsgemeinschaften auf der Ebene des europäischen Rechts im Wege einer Sonderbehandlung die religiös motivierte Personalhoheit über ihre Bediensteten gewährt. Der EU-Gesetzgeber erkennt an, dass es einen Bereich gibt, dessen Regelung nicht ihm zusteht, sondern den Religionsgemeinschaften, die allein dafür in den Augen ihrer Mitglieder legitimiert sind. Diese Selbstbeschränkung lässt einen verteidigbaren Freiheitsraum der Kirchen gegenüber der staatsähnlichen EU entstehen, der sich inhaltlich auf ein Grundrecht in Gestalt eines korporativen Freiheitsrechts bezieht. • Richtlinie 93/104/EG vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung328 Art. 17 I lit. c) nimmt von den Regelungen der Richtlinie solche Arbeitnehmer aus, die im liturgischen Bereich von Kirchen oder Religions327 328
ABl. 2000 L 303, S. 16 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b). ABl. 1993 L 307, S. 18 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b).
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gemeinschaften beschäftigt sind. Damit erkennt der EU-Gesetzgeber an, dass im Kernbereich kollektiven religiösen Lebens religiös geprägte Vorgaben herrschen, denen das weltliche Recht nicht gerecht werden kann und denen es daher weicht. Hier gewährt die EU den Religionsgemeinschaften in ihrer Funktion als Arbeitgebern die Organisationsfreiheit. Zu beachten ist, dass die Beschäftigungsverhältnisse üblicherweise mit den Instrumenten des weltlichen Rechts ausgestaltet sind (z. B. Arbeitsverträge). Diese Instrumente werden im Lichte der korporativen Religionsfreiheit besonders behandelt. • Art. 2, 5 Richtlinie 1993/119/EG vom 22.12.1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung329 Art. 2 II der Richtlinie überträgt die Anwendung der besonderen Bestimmungen für religiöse Schlachtungsriten und die Verantwortung für deren Überwachung an die betreffende Religionsgemeinschaft. Der Aspekt der korporativen Religionsfreiheit zeigt sich nicht nur in der Übertragung selbst, sondern vor allem im dahinter liegenden Grund: dem Recht der Religionsgemeinschaft, einen eigenen, vom EU-Lebensmittelrecht abweichenden Schlachtritus zu zelebrieren, weil er religiös geboten ist. • Art. 10 Verordnung (EG) Nr. 45/2001 vom 18.12.2000 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr330 Art. 10 II lit. e) VO enthält eine Ausnahme für die Verarbeitung von Daten durch religiöse Organisationen. • Verordnung (EG) Nr. 1347/2000 des Rates vom 29.5.2000 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung für die gemeinsamen Kinder der Ehegatten331 Erwägungsgrund 9 schließt vom Anwendungsbereich der Verordnung solche Verfahren in Ehesachen aus, die nur innerhalb einer Religionsgemeinschaft gelten. Daraus ergeben sich zwei korporativ-rechtliche Gesichtspunkte: zum einen geht hervor, dass die EU die Existenz einer internen Gerichtsbarkeit der Kirchen und Religionsgemeinschaften anerkennt. Auch die rechtliche Wirksamkeit dieser Entscheidungen wird respektiert; sonst wäre es nicht erforderlich, diese vom Anwendungsbereich der Verordnung auszuschließen. Dass die innerkirchlichen Entscheidun329 330 331
ABl. 1993 L 340, S. 21 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b). ABl. 2001 L 008, S. 1 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b). ABl. 2000 L 160, S. 19 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b).
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gen vom Anwendungsbereich ausgenommen werden, ist die erforderliche und konsequente Anwendung des korporativen Freiheitsrechts: die sakral begründeten Entscheidungen der Religionsgemeinschaften in Ehesachen ihrer Mitglieder sind nicht mit dem Maßstab weltlichen Rechts zu messen. Daher darf die EU ihre Rechtsinstrumente und Organe nicht zu ihrer Vollstreckung zur Verfügung stellen. Zweitens zeigt sich als Ausfluss der korporativen Religionsfreiheit, dass sakrales Eherecht der Religionsgemeinschaften respektiert wird. Es gibt demgegenüber auch Rechtsakte, die zwar Religionsgemeinschaften ausdrücklich erwähnen, in denen aber keine Spuren eines korporativen Grundrechts zu finden sind: • Richtlinie 98/33/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 zur Änderung des Artikels 12 der Richtlinie 77/780/EWG des Rates über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute, der Artikel 2, 5, 6, 7 und 8 sowie der Anhänge II und III der Richtlinie 89/647/EWG des Rates über einen Solvabilitätskoeffizienten für Kreditinstitute und des Artikels 2 sowie des Anhangs II der Richtlinie 93/6/EWG des Rates über die angemessene Eigenkapitalausstattung von Wertpapierfirmen und Kreditinstituten332 Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Rechtsform des öffentlichen Rechts mit Steuererhebungsrecht werden bezüglich des Kreditrisikos wie Gebietskörperschaften eingeschätzt. Dies ist nicht spezifisch religiös geprägt, sondern beruht auf dem rechtlichem Rahmen, in dem diese Kirchen in ihrem Heimatstaat agieren. Dieser Rahmen mag dort zwar durch Aspekte der Religionsfreiheit beeinflusst sein, die EU reagiert jedoch hier nur auf die faktischen Gegebenheiten. • Art. 46 Richtlinie 2000/12/EG vom 20.3.2000 über die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinstitute333 Wie oben. • Art. 3 Verordnung Nr. 1659/1998 (EG) vom 17.7.1998 über die dezentralisierte Zusammenarbeit334 Die dezentrale Zusammenarbeit der EU erwähnt als Partner auch die Kirchen. Diese werden hier allerdings nicht aus religiösen Aspekten erfasst, sondern als gesellschaftlich relevante Gruppen der Zivilgesellschaft. Korporativ-religiöse Momente erscheinen hier nicht. 332 333 334
ABl. 1998 L 204, S. 29 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b). ABl. 2000 L 126, S. 1 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b). ABl. 1998 L 213, S. 6 ff.; s. o. Kap. B.III.1.b).
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b) Die korporative Religionsfreiheit im Kontext des Unionsrechts Die korporative Religionsfreiheit vermittelt den Religionsgemeinschaften bestimmte Handlungsfreiheiten. Das Unionsrecht beurteilt Handlungen in erster Linie aus der Perspektive ihrer wirtschaftlichen Relevanz, insbesondere nach ihren Auswirkungen auf den Gemeinsamen Markt. Aus der Sicht des Unionsrechts sind die Tätigkeiten der Religionsgemeinschaften somit nach ihren wirtschaftlichen Auswirkungen zu kategorisieren. Je nach dem Grade der wirtschaftlichen Auswirkungen lassen sich die Betätigungen der Religionsgemeinschaften in drei Bereiche einteilen335: innere Angelegenheiten, karitative Tätigkeiten und gewerbliche Betätigung. Die Aktivitäten der Religionsgemeinschaften sind vor dem Hintergrund des Unionsrechts somit durch eine „Drei-Bereiche-Struktur“ geprägt, die die unterschiedliche Marktrelevanz der Tätigkeiten reflektiert. Die korporative Religionsfreiheit, die sich in die Strukturen des Unionsrechts einordnen muss, setzt sich in diesen drei Bereichen in unterschiedlicher Intensität gegenüber kollidierenden Normen durch. (1) Primärer Bereich: innere Angelegenheiten Der primäre Bereich umfasst die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften. Das Grundrecht der korporativen Religionsfreiheit entfaltet hier seine volle Wirkung. Zu den inneren Angelegenheiten zählen zum einen nicht-wirtschaftliche Angelegenheiten. Dieser Bereich wird gemäß der Rechtssprechung des EuGH in den Rechtssachen Walrave und Steymann336 von den wirtschaftlichen Angelegenheiten abgegrenzt: demnach sind nichtwirtschaftliche Angelegenheiten jene, denen kein wirtschaftliches Austauschverhältnis zu Grunde liegt. Diese geraten nicht in Konflikt mit dem EU-Wirtschaftsrecht. Hierher zählen Fragen der inneren Organisation und der Glaubens- und Lehrinhalte. Zum Bereich der inneren Angelegenheiten zählen jedoch zum anderen auch Angelegenheiten, die wirtschaftlichen Bezug unter dem EU-Recht aufweisen. Dies sind typischerweise nach innen gerichtete wirtschaftliche Tätigkeiten, etwa wenn Religionsgemeinschaften für ihr eigenes Personal als Arbeitgeber auftreten oder ihr Vermögen verwalten. Diese Angelegenheiten können einen so engen Bezug zur Religionsausübung aufweisen, dass die korporative Religionsfreiheit die Geltung des Wirtschaftsrechts ausschließt oder weitgehend verdrängt. Im Bereich der inneren Angelegenheiten greift ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften, 335
Borchardt, S. 202. EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, S. 1405 (Walrave); EuGH, Rs. 196/87, Slg. 1988, S. 6159 (Steymann). 336
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dessen Inhalt und Umfang an späterer Stelle vertieft untersucht wird337. Das Binnenmarktrecht wird in diesem Bereich durch die korporative Religionsfreiheit darauf beschränkt, die Einhaltung bestimmter Mindestanforderungen und äußerster Grenzen zu beanspruchen, sowohl was den Inhalt als auch den Umfang der inneren Angelegenheiten angeht. Die Darlegungslast, dass eine Aktivität nicht mehr in den primären Bereich der inneren Angelegenheiten fällt, obliegt den Organen der EU. (2) Sekundärer Bereich: karitative Aktivitäten Der sekundäre Bereich erfasst die Tätigkeiten, durch die die Religionsgemeinschaften in Erfüllung ihrer Verkündigung am wirtschaftlichen Leben teilnehmen. Im Gegensatz zu den internen wirtschaftlichen Aktivitäten des primären Bereichs handelt es sich um nach außen gerichtete wirtschaftliche Tätigkeiten. Dies ist in Bezug auf die christlichen Religionsgemeinschaften in erster Linie der karitative Bereich (Wohlfahrtspflege, soziale Wirtschaft). Oftmals haben die Religionsgemeinschaften zur Erfüllung solcher Tätigkeiten untergeordnete selbständige Organisationen geschaffen. Dieser Bereich ist charakterisiert durch eine Zweidimensionalität: er ist Äußerung der kirchlichen Lehre, etwa des Gebots der christlichen Nächstenliebe, und zugleich weltliche Betätigung mit erheblichem wirtschaftlichen Potential. Daher überlagern sich hier das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften und die Vorgaben des Rechts des Gemeinsamen Marktes. Wegen des starken wirtschaftlichen Bezugs ist eine ausschließliche Zuordnung dieses Bereichs zur Sphäre der inneren Angelegenheiten nicht möglich; die korporative Religionsfreiheit schafft hier keine Bereichsausnahme vom Wirtschaftsrecht des Gemeinsamen Marktes. Der EuGH hat festgestellt, dass das Gemeinschaftsrecht insoweit zur Anwendung gelangt, wie eine Tätigkeit dem Wirtschaftsbegriff des EGV unterfällt338. Das Wirtschaftsrecht beabsichtigt nicht, die berechtigten Rechtspositionen der Religionsgemeinschaften auszuhöhlen, sondern die Wirksamkeit und Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts zu wahren339. Soweit Religionsgemeinschaften an den Austauschprozessen des Binnenmarktes teilnehmen, verlangt das Unionsrecht von ihnen die Beachtung der entsprechenden Normen. Konflikte zwischen diesen Normen und dem Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften müssen gelöst werden, indem praktische Konkordanz zwischen der korporativen Religionsfreiheit und dem Recht des Gemeinsamen Marktes, insbesondere der Grundfreiheiten, hergestellt wird. 337
s. u. Kap. C.III.5.e). EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, S. 1405 (Walrave); EuGH, Rs. 196/87, Slg. 1988, S. 6159 (Steymann). 339 Borchardt, S. 45. 338
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Die Abgrenzung des sekundären Bereichs zum primären Bereich erfolgt an Hand der Kriterien der wirtschaftlichen Tätigkeit (EuGH in Walrave, Steymann) und der Grenzen des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. Nichtwirtschaftliche Tätigkeiten sind nicht vom sekundären Bereich erfasst. Wirtschaftliche Tätigkeiten, die wegen des engen, inneren Bezugs vom Selbstbestimmungsrecht umfasst sind, gehören ebenfalls nicht zum sekundären Bereich. (3) Tertiärer Bereich: rein gewerbliche Betätigung Im tertiären Bereich betätigen sich Religionsgemeinschaften oder ihre entsprechenden Organisationen rein wirtschaftlich. Beispiele sind kirchliche Banken, kirchliche Landgüter, Klosterbrauereien, Baghwan-Diskos etc. Das Selbstverständnis und die Verkündigung von Glaubensinhalten spielt keine oder nur eine entfernte Rolle (z. B. Finanzierung der kirchlichen Aktivitäten durch gewerbliche Betätigung). Hier unterliegen die Religionsgemeinschaften vollständig der Geltung des Wirtschaftsrechts. Nur in Ausnahmefällen kann die korporative Religionsfreiheit zu einem Zurücktreten des Wirtschaftsrechts führen. Die Darlegungslast für einen solchen Ausnahmefall liegt bei der Religionsgemeinschaft. c) Der persönliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit Ist die Existenz einer korporativen Dimension der Religionsfreiheit festgestellt worden, stellt sich die Anschlussfrage, welche Korporationen sich auf den Schutzbereich berufen können. Dies ist von entscheidender Bedeutung für die Frage, welchen religiösen Organisationen die europäische Religionsfreiheit als Verteidigungsrecht gegen die vielfältig denkbare Betroffenheit durch Rechtsakte der EU und ihre Durchführung zugestanden wird. Im Einzelnen muss überlegt werden, welche Anforderungen an die Merkmale „Vereinigung“ und „religiös“ gestellt werden. Daran grenzt das Problem, ob sich auch solche Vereinigungen auf die korporative Religionsfreiheit berufen können, die sich nur die Erfüllung einzelner religiöser Aufgaben zum Ziele gesetzt haben, also beispielsweise Organisationen der kirchlichen freien Wohlfahrtspflege in Deutschland. Fraglich ist ebenfalls die Grundrechtsberechtigung religiöser Vereinigungen, die sich in der Rechtsform von Körperschaften des öffentlichen Rechts konstituiert haben. Verwandt mit dieser Frage ist schließlich das Problem der Grundrechtsberechtigung von Staatskirchen.
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(1) Das Merkmal „Vereinigung“ Die Formulierung des Art. 10 I EGRC (wie auch die des Art. 9 EMRK) erwähnt das Tatbestandsmerkmal der religiösen Vereinigung nicht explizit. Die individualistisch formulierten Vorschriften erwähnen lediglich die kollektive Religionsfreiheit als das Recht, die Religionsfreiheit einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen auszuüben. Die Frage nach der Beschaffenheit einer Vereinigung kommt erst in das Blickfeld, wenn die im Grundrecht enthaltene korporative Dimension ausgestaltet wird. Im europäischen Recht werden die Begriffe „Kirche“ und „Religionsgemeinschaft“ zwar verwendet (vgl. Art. I-52 VVE), aber nach wie vor nicht definiert340. Von dieser Seite ist also keine Klärung des persönlichen Schutzbereichs zu erwarten. Eine Antwort könnte ein „Vereinigungsrecht“ auf europäischer Ebene bieten. Selbst wenn die seit langem andauernden Arbeiten an der Rechtsform eines Europäischen Vereins zum Abschlusse gebracht würden, wäre dies nur eine Ergänzung zur Vielfalt der Rechtsformen auf nationaler Ebene ohne Ausschließlichkeitseffekt. Der Schutzbereich des Grundrechts dürfte nicht formell auf die Grundrechtsträger beschränkt werden, die die Rechtsform des Europäischen Vereins wählen. Das EU-Recht knüpft daher an die Rechtsformen an, die juristischen Personen nach dem Recht der Mitgliedstaaten zuerkannt werden. Für Vereinigungen bedeutet dies, dass sie auf europäischer Ebene bezüglich ihrer Rechte und Pflichten voll anerkannt werden, wenn sie nach dem einschlägigen Recht der Mitgliedstaaten zu Stande gekommen sind. Die wirksame Entstehung nach nationalem Recht ist dabei als hinreichendes, aber nicht als notwendiges Kriterium einzuordnen, wenn es um den Genuss des europäischen Grundrechts der Religionsfreiheit geht. Gäbe sich das EU-Recht damit zufrieden, auf die wirksame Entstehung einer Vereinigung nach nationalem Recht abzustellen, so könnten im europäischen Grundrechtsschutz empfindliche Lücken und Ungleichbehandlungen entstehen. Gleichartige Personenmehrheiten könnten dann in Bezug auf EUGrundrechte unterschiedlich behandelt werden, weil für sie in ihren Herkunftsländern unterschiedliche rechtliche Voraussetzungen gälten. Dies würde zu einer versteckten Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit führen. Das Primärrecht der Union ist aber eine autonome Rechtsquelle, deren Wirksamkeit nicht von mitgliedsstaatlichen Voraussetzungen abhängig sein darf. Die Grundrechtecharta darf daher im Rahmen der zulässigen Auslegungsmethoden aus sich selbst heraus definieren, wem sie den Genuss ei340
Blum, S. 172; Robbers, in: HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 324.
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nes Grundrechts zuerkennt. Begrenzt ist sie allerdings dadurch, dass der EU durch sie keine neuen, bisher nicht vorhandenen Kompetenzen zuwachsen dürfen (Art. 51 II EGRC). Das EU-Recht vermittelt daher keinen Anspruch auf bestimmte nationale Rechtsformen. Ebenso darf es keine Rechtsform für religiöse Gruppen auf europäischer Ebene schaffen; dies widerspräche dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und hieße, das europäische Grundrecht unzulässigerweise mit staatskirchenrechtlichen Elementen anzureichern; eine Gefahr, vor der bereits Blum für Art. 9 EMRK gewarnt hatte341. Für die Zuerkennung der korporativen Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC muss man daher mehrere Fälle unterscheiden: ist einer religiösen Gruppe der Status einer Vereinigung nach nationalem Recht gewährt, so knüpft das EU-Recht daran an. Wird einer Gruppe die Rechtspersönlichkeit nach nationalem Recht verweigert, so ist zu prüfen, ob die Gruppe nach autonomen EU-rechtlichen Maßstäben unabhängig vom nationalen Recht und für den Geltungsbereich des EU-Rechts als Vereinigung mit grundrechtlichen Rechten und Pflichten behandelt wird (d. h. im Bezug auf EURechtsakte und deren Durchführung, Art. 51 I EGRC). Dies gebietet m. E. der Grundsatz der Effektivität des EU-Rechts. Der Genuss eines europäischen Grundrechts gegenüber Rechtsakten der Union darf einer Personenmehrheit nicht auf Grund nationalen Rechts verweigert werden; vielmehr müssen gleichwertige Personenmehrheiten bei der Durchführung europäischen Rechts auch in den Genuss eines gleichwertigen europäischen Grundrechtsschutzes gelangen, auch wenn sie nach nationalem Recht unterschiedlich behandelt werden. In dem Falle, in dem eine religiöse Vereinigung Schutz durch den Art. 10 I EGRC gegen europäische Rechtsakte und deren Durchführung sucht, gilt also: es besteht aus Art. 10 I EGRC kein Anspruch auf eine bestimmte Rechtsform, weder gegen die EU noch gegen den Mitgliedsstaat. Andererseits ergeben sich nach bisheriger EuGH-Rechtssprechung aus dem EURecht keine besonderen Anforderungen dergestalt, wann eine Personenmehrheit als Vereinigung mit eigener Rechtspersönlichkeit gelten kann. Für das europarechtliche Grundrecht der Vereinigungsfreiheit – das ja wie gezeigt bei der korporativen Religionsfreiheit in Art. 10 I EGRC hinzugezogen wird342 – hat der EuGH ohne nähere Ausführungen jegliche Personenmehrheiten mit Rechtspersönlichkeit, wie sie nach nationalem Recht existierten, in den persönlichen Schutzbereich einbezogen; so etwa in der Bosman-Entscheidung belgische Sportverbände343. Aus Art. 10 I EGRC i. V. m. Art. 12 EGRC ist die Union daher lediglich verpflichtet, bei Durchführung 341 342 343
Blum, S. 177 f. s. o. Kap. C.III.5.a)(4). EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 77 ff. (Bosman).
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des EU-Rechts Personenmehrheiten als Zusammenschluss mit eigenständiger Rechtspersönlichkeit zu behandeln, die unabhängig vom Mitgliederbestand währt. Ist der Personenmehrheit national ein solcher Status gegeben, so kann das EU-Recht daran anknüpfen. Fehlt er, so muss der EuGH den von Art. 10 I EGRC autonom garantierten Mindeststandard gewähren, soweit EU-Recht durchgeführt wird, auch wenn dem auf nationaler Ebene keine Rechtspersönlichkeit der Personenmehrheit entspricht. Auf diese Weise entstehen keine Schutzlücken bei der Durchführung von EU-Recht, auch wenn ein Mitgliedsstaat den Religionsgemeinschaften die Anerkennung prinzipiell verweigert und ihnen keine Rechtspersönlichkeit verleiht. In den Mitgliedsstaaten, die dem Grundsatz der Laizität folgen und Religionsgemeinschaften nicht als rechtsfähig anerkennen, dürfte aber schon die überall vorhandene Möglichkeit der Religionsgemeinschaften, Kultusvereine zu bilden, eine akzeptable Ersatzlösung sein, die den von der EGRC gebotenen Schutzstandard bei der Durchführung europäischen Rechts wahrt. Dies gilt jedenfalls, soweit diese Konstruktion gewährleistet, dass Religionsgemeinschaften ihre aus europäischem Recht ableitbaren Rechte ausüben können. Das Gebot des effektiven Grundrechtsschutzes unter der EGRC bei der Durchführung des EU-Rechts ist dann erfüllt. (2) Das Merkmal „religiös“ Der Begriff „religiös“ wird im Recht der EU verwendet, aber nicht definiert. Sowohl das Primärrecht wie auch das Sekundärrecht und die Rechtssprechung des EuGH kennt und benutzt ihn. Seit dem Vertrag von Maastricht findet er sich in der Anti-Diskriminierungsklausel des Art. 13 EGVertrag; unter dem VVE hat er mehrfach Eingang in die rechtlichen Grundlagen den Union gefunden (Präambel, Art. 10 EGRC, Art. 21 EGRC, Art. 22 EGRC). Das Sekundärrecht gebraucht den Begriff wie bereits dargestellt in wachsendem Umfange344. Insofern, als dass das EU-Recht den Begriff verwendet, aber nicht definiert, ist die Situation vergleichbar mit der Rechtslage in den Mitgliedsstaaten, die soweit ersichtlich allesamt keine Legaldefinition vorgenommen haben. (a) Kompetenz zur Definition auf EU-Ebene Nähert man sich dem Problem der Bedeutung des Begriffes „religiös“ im EU-Recht, so stellt sich zunächst die Frage nach der Kompetenz der Union. Darf sie den Begriff ausfüllen, da sie doch dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung unterliegt und die Mitgliedsstaaten ihr in den vertraglichen 344
s. o. Kap. B.III.1.a).
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Grundlagen weder eine Zuständigkeit für religiöse Angelegenheiten noch eine Kompetenz-Kompetenz zugewiesen haben? Oder muss die Union für die Ausfüllung des Begriffs auf die Inhalte zurückgreifen, die ihr von den Mitgliedsstaaten vorgegeben werden? Die Antwort liegt in dem Blickwinkel und Umfang begründet, in dem der Terminus auszufüllen ist. Die Union verfügt über die Kompetenz, das Wort „religiös“ als Tatbestandsmerkmal des europarechtlichen Grundrechts der Religionsfreiheit zu definieren. Die Grundrechte inklusive das der Religionsfreiheit sind zum Bestandteil des Unionsrechts geworden. Diese legt die EU autonom an Hand der ihr vorgegebenen Regeln (Art. 6 II EUV; Art. 52 EGRC) aus. Keine Kompetenz hat die Union demgegenüber für eine Interpretation des Begriffs „religiös“ im Hinblick auf eine staatskirchenrechtliche Ordnung, weder als Ausformung der Religionsfreiheit noch als Element des Sekundärrechts. Staatskirchenrechtliche Strukturen dürfen von ihr über den Begriff „religiös“ nicht entworfen oder ausgestaltet werden. (b) Grundsätzliche Definitionsprobleme Die nächste und ungleich schwierigere Frage ist, ob es überhaupt gelingt, den Begriff „religiös“ in seinem grundrechtlichen Umfeld zufrieden stellend zu definieren. Dazu wird zunächst auf die entsprechenden Ausführungen im Rahmen der individuellen Religionsfreiheit verwiesen345. Speziell mit Blick auf die Qualifizierung von Vereinigungen als religiös oder weltanschaulich ergeben sich einige zusätzliche Erwägungen. Das Dilemma des Schutzbereichs der korporativen Religionsfreiheit, der einerseits begrenzt werden muss, um nicht zu einem uferlosen Super-Grundrecht auszuarten, andererseits aber genügend Raum belassen muss, dass sich alle berechtigten Grundrechtsträger nach ihrem eigenen Selbstverständnis subsumieren lassen können, stellt sich in der Grundrechtsordnung der Union wie in jeder Grundrechtsordnung der Mitgliedsstaaten. Es handelt sich sozusagen um ein globales grundrechtliches Problem der Religionsfreiheit. Insoweit kann und muss prinzipiell auf die nationalstaatlichen Diskussionen und Lösungsansätze innerhalb der EU verwiesen werden. Diese sind fast immer strukturell vergleichbar346, da das Bezugssystem des Dilemmas bestehend aus (vagen) rechtlichen Vorgaben, der gebotenen Selbstbeschränkung des Staates und religionsgesellschaftlichen Schutzansprüchen überall gleich ist. Grundsätzlich ist es Aufgabe der weltlichen Rechtsordnung, für die grundrechtliche Gewährleistung der korporativen Religionsfreiheit die erforderlichen 345
s. o. Kap. C.III.3. Vgl. Bock, AöR 123 (1997), S. 444 ff. für einen Überblick über verschiedene Lösungsansätze zur Bestimmung des Schutzbereichs. 346
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Begriffe bereitzustellen. Da der Staat aber gerade die religiöse Freiheit gewährleisten will, anstatt eine staatliche Vorstellung von Religion seinen Bürgern aufzuzwängen, kann die Ausfüllung des Begriffs nur unter Rückgriff auf das Selbstverständnis jeder Religion erfolgen. Der religiös neutrale und pluralistische Staat ist daher darauf beschränkt, weltliche Rahmenbegriffe bereitzustellen. In der Rechtserkenntnisquelle der EMRK-Rechtssprechung ist bislang keine nähere Definition des Begriffs „religiöse/weltanschauliche Vereinigung“ entwickelt worden, die als Vorbild taugen könnte. Im Prinzip gilt daher für die Auflösung des Dilemmas, dem sich die Bestimmung des Schutzbereichs des „Religiösen“ ausgesetzt sieht, auch auf europäischer Ebene die Herangehensweise, die M. Heckel für den deutschen Bereich entwirft, und die wegen ihrer strukturellen Übertragbarkeit für das Unionsrecht exemplarisch sein dürfte: „Die Religionsfreiheitsgarantie muss sich höchst allgemeiner, vom religiösen Inhalt weitestgehend entleerter Begriffe bedienen, damit alle Religionen bzw. Weltanschauungen mit den von ihr verwendeten Begriffen von „Glaube“, „Bekenntnis“, „Religionsausübung“, „Gewissen“, „Weltanschauung“ erfasst werden können. Diese Begriffe sind also – als spezifische Rechtsbegriffe eines religiös neutralen Verfassungsrechts im pluralistischen Staat – in ihrem weiten Rahmenund Mantelcharakter nicht nach dem besonderen Sinnverständnis einer Religion bzw. Konfession und ihren theologischen Lehren zu erfassen. Die einschlägigen juristischen Definitionen sind notwendigerweise blass und hohl.“347
Weber weist darauf hin, dass das deutsche Grundgesetz es vermeidet, in diesem Bereich detaillierte Begriffsbestimmungen vorzunehmen348. Die Begriffsklärung werde deshalb im Streitfalle auf die dritte Gewalt verlagert, wobei es den Richtern obliegt, den von der Verfassung vorausgesetzten Sinngehalt der Begriffe zu ermitteln, nicht jedoch, sie frei mit Bedeutungen anzureichern. In dieser Rolle befindet sich dann entsprechend der EuGH, wobei dessen Rolle bei der Auslegung und Wahrung des EU-Rechts eher noch freier und stärker ist (Art. 220 EGV) als die der meisten nationalen Verfassungsgerichte. Der EuGH steht zurzeit noch im Vorfeld solch grundsätzlicher Äußerungen, wie sie das Bundesverfassungsgericht getätigt hat, als es einerseits feststellte, dass dem Selbstverständnis der jeweiligen Religionsgemeinschaft für die Schutzbereichsdefinition eine entscheidende Rolle zukommt, soweit es in dem Bereich der als unverletzlich gewährleisteten Glaubens- und Bekenntnisfreiheit wurzelt und sich in der Religionsausübung verwirklicht349. Andererseits hat es betont, nicht allein die Behauptung und das Selbstverständnis, eine Gemeinschaft bekenne sich zu einer Religion und sei eine Religionsgemeinschaft, rechtfertige für diese und 347 348 349
Heckel, Religionsfreiheit, S. 679. Weber, ZevKR 45 (2000), S. 122. BVerfGE 24, (247), st. RSpr.
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ihre Mitglieder die Berufung auf die Freiheitsgewährleistung; auch tatsächlich, nach geistigem Gehalt und äußerem Erscheinungsbild muss es sich um eine Religionsgemeinschaft handeln350. Dabei ist aber zu beachten, dass es in dem weiten Kulturraum der Union der 25 noch weniger als in den Nationalstaaten möglich sein wird, auf kulturhistorische oder gar traditionelle Konzepte und Erscheinungsbilder von Religion zu Bestimmungszwecken zurückzugreifen. Wie schon über die letzten Jahrzehnte in den Mitgliedsstaaten das Erscheinen von nicht heimischen Religionen anderer Kulturkreise, Jugendreligionen und neuen Sekten351 den Rückgriff auf herkömmliche institutionelle Merkmale erschwerten, wird es in der EU kaum möglich sein, Religionen vornehmlich an Hand ihrer institutionellen Verfasstheit als solche zu definieren. Genannt seien hier nur die den christlichen Vorstellungen von verfasster Religion völlig abholden Religionen des Islam und des Hinduismus (verbreitet vor allem im Vereinigten Königreich). Die EMRK-Rechtssprechung hat stets großen Wert darauf gelegt, nicht zwischen traditionellen Religionen und Sekten zu differenzieren, da Art. 9 EMRK eine solche Unterscheidung, die unweigerlich eine qualitative Bewertung voraussetzte, nicht rechtfertigt. Beim Vorbringen, es handele sich um eine Religion, haben die Organe der EMRK den Schutz des Art. 9 EMRK niemals a priori vorenthalten, wenn die behauptete Religion oder Religionsgemeinschaft identifizierbar war352. Das EU-Recht und die EuGHRechtssprechung haben noch keine eigenen Ansätze beisteuern können. Gerade auf europäischer Ebene besteht eine Lösung auch in langfristiger Sicht wohl nicht in der Ausarbeitung einer starren Definition an Hand fester Tatbestandsmerkmale – dazu ist die Vielfalt an Erscheinungsformen religiöser Vereinigungen und die erforderliche Offenheit des Grundrechts zu groß –, sondern in der Entwicklung einer Lösungsstrategie, die der EuGH im Rahmen seiner Grundrechtsdogmatik erarbeiten muss. (c) Die Bestimmung des Merkmals „religiös“ vor dem Hintergrund von Sinn und Zweck der korporativen Religionsfreiheit im EU-Recht Vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem der Definition des Schutzbereichs auf EU-Ebene unter einem besonderen Blickwinkel: dem der (schwerpunktmäßigen) Wirtschaftsgemeinschaft. Daraus ergibt sich eine gewisse Zuspitzung der Definitionsfrage auf die Abgrenzung von Religionsgemeinschaften zu wirtschaftlichen Organisationen. Die Europäische Ge350
BVerfGE 83, (Baha’i). Zur Behandlung von Sekten unter der EMRK vgl. Costa, in: FS Ryssdal, S. 273 ff. 352 Costa, in: FS Ryssdal, S. 279 f. 351
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meinschaft ist als Wirtschaftsgemeinschaft geboren worden; die Europäische Union ist zu einer Wertegemeinschaft mit der Dominanz wirtschaftlicher Aspekte und Ziele geworden. Die ordnungsrechtlichen Aktivitäten auf dieser Rechtsebene sind hauptsächlich wirtschaftlicher Natur. Daraus ergibt sich, dass die Religionsgemeinschaften vom Recht der Union hauptsächlich als am Wirtschaftsleben teilnehmende Rechtssubjekte betroffen sind353. Dies zeigt auch die Auswertung der sekundärrechtlichen Betroffenheit354. Die sich hier stellende Frage ist die, wann eine Vereinigung als „religiös“ gilt und als solche unter den persönlichen Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit fällt355. Mit der Frage ist nicht gemeint, dass Religionsgemeinschaften aus dem wirtschaftlichen Bereich ausgesondert werden. Im Gegenteil stellt sich die Frage nach der Abgrenzung einer Religionsgemeinschaft zu einer wirtschaftlichen Organisation, weil auch die Religionsgemeinschaften wirtschaftlich tätig sind. Die Notwendigkeit der Abgrenzung trägt der Tatsache Rechnung, dass die wirtschaftliche Tätigkeit einer Organisation umso stärker anderen inneren Gesetzmäßigkeiten als diejenige kommerzieller Akteure gehorcht, als sie religiös motiviert ist. Die typischen Wirtschaftssubjekte, die der EU-/EG-Vertrag im Blick hat, sind solche, deren primäres Ziel das erfolgreiche Wirtschaften ist, d. h. einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen. Ihr Handeln wird determiniert durch Maßgaben, die sich aus der wirtschaftlichen Motivation ableiten. Das EU-Recht erkennt das Gewinnstreben als ein unterstützenswertes Ziel an, weil und soweit sich aus dem erfolgreichen Wirtschaften des Einzelnen ein gesellschaftlicher Mehrwert ergibt. Daher ist es Aufgabe des EU-Rechts, dem erfolgreichen Wirtschaften in Europa Hindernisse aus dem Weg zu schaffen, indem ein offener Binnenmarkt errichtet wird. Wirtschaftlich tätige Religionsgemeinschaften fügen sich in dieses wirtschaftliche Koordinatensystem nicht passgenau ein. Ihre ökonomische Tätigkeit folgt einer anderen primären Motivation als dem Gewinnstreben. Sie besteht darin, die durch ihren Glauben gebotenen, oft aus göttlichen Regeln hergeleiteten Lebensmaximen umzusetzen. Es ist daher das Wesensmerkmal einer wirtschaftlich tätigen Religionsgemeinschaft, dass sie „nicht nur“ Wirtschaftssubjekt in dem Sinne ist, dass ihr primäres Ziel im erfolgreichen Wirtschaften liegt. Wirtschaftliche Aktivität ist nicht der Hauptzweck ihres Handelns, sondern ein dienender Nebenzweck, der in einen weitergehenden Sinnzusammenhang gestellt wird als den des wirtschaftlichen Erfolges. 353
Link, ZevKR 42 (1997), S. 130 f. s. o. Kap. C.III.5.a)(7). 355 Davon zu unterscheiden ist die Frage, wann die wirtschaftliche Betätigung einer Religionsgemeinschaft unter die Religionsfreiheit fällt; dies ist eine Frage des sachlichen Schutzbereichs. 354
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In dieser Konstellation stellt sich das Schutzbedürfnis der religiösen Gemeinschaften gegenüber dem Handeln der staatsähnlichen Europäischen Union in einem speziellen Blickwinkel dar. Durch die strukturelle Begrenzung des Rechts der EU auf eine primär wirtschaftliche Dimension gerät die eigentlich wesensmäßige Dimension des wirtschaftlichen Handelns der Religionsgemeinschaften aus dem Blick, nämlich die religiöse Motivation der Teilnahme am Wirtschaftsleben. Die freiheitsrelevante Bedrohung der Religionsgemeinschaften durch die EU besteht in der Tendenz, den spezifischen Charakter solchen wirtschaftlichen Handelns zu verkennen. Die Auswirkungen dieses Eingriffs sind nicht deswegen minder gefährlich, weil das EU-Recht konstruktiv auf diese Verkürzung der Mehrdimensionalität angelegt ist (und der einzelne Eingriff daher ohne spezifischen Vorsatz geschieht). Ein effektiver Grundrechtsschutz verlangt eine Reaktion auf eine solche Verkürzung des Wesens einer Vereinigung. Die Religionsfreiheit muss also dort reagieren, wo das EU-Wirtschaftsrecht das Wesen einer religiös-weltanschaulichen Vereinigung verkennt. Die Bedeutung des Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit besteht in dieser Hinsicht dann darin, dass es einer religiösen Vereinigung das Recht vermittelt, sich den Regeln des Wirtschaftsordnungsrechts soweit zu entziehen, wie dieses die Erfüllung des religiösen Hauptzwecks verhindert oder erschwert. Unter diesem Blickwinkel erhält das Tatbestandsmerkmal „religiös“ seine grundrechtliche Relevanz, also seine freiheitsstiftende und -bewahrende Wirkung: sie besteht in der Gewährleistung einer vom Wirtschaftsordnungsrecht der EU ausgeblendeten Dimension des Handelns. Indem das Merkmal den Vereinigungen den Grundrechtsschutz der Religionsfreiheit eröffnet, wahrt es deren spezifisches Wesen in einer anders geprägten Wirtschaftswelt. Zugespitzt formuliert, stellt sich so die Überlebensfrage für die am Wirtschaftsleben teilnehmenden Religionsgemeinschaften. Als solche überleben sie nur dann, wenn sie ihre spezifische Dimension des Handelns im Umfeld des europäischen Binnenmarktes erhalten. Ansonsten werden die von ihnen erbrachten Dienstleistungen (z. B. Altenpflege, Krankenpflege etc.) sich nicht von denen unterscheiden, die ein rein wirtschaftlich orientierter „Pflegekonzern“ erbrächte.356 (d) Der „funktionale Ansatz“ der korporativen Religionsfreiheit Die oben vorgenommene Darstellung vermittelt der korporativen Religionsfreiheit auf EU-Ebene einen ausgeprägt „funktionalen Ansatz“. Sinn 356 Damit sei keine Ablehnung des Binnenmarktgedankens zum Ausdruck gebracht. Anliegen ist es, eine Ausgestaltung des Grundrechts der Religionsfreiheit zu entwickeln, die dessen freiheits- und vielfaltswahrende Wirkung im Binnenmarkt ermöglicht.
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und Zweck des Grundrechts ist es in dieser Hinsicht, religiösen Vereinigungen das Recht zu vermitteln, sich dem Wirtschaftsordnungsrecht der EU zu entziehen, soweit dieses die Erfüllung der selbst gewählten, religiös begründeten Mission der Gemeinschaft verhindert oder erschwert. Dieser funktionale Ansatz ist bereits zum Ausdruck gekommen in der Entscheidung des EGMR zu Art. 9 EMRK in der Rechtssache Hasan & Chaush ./. Bulgarien357. Dort stellt der EGMR fest: „[die Religionsfreiheit] umfasst die Erwartung, dass es der [Glaubens-]Gemeinschaft gewährt wird, friedlich zu funktionieren, frei von willkürlichem Einschreiten des Staates“358. Zum friedlichen Funktionieren einer Religionsgemeinschaft gehört gerade, dass sie ihren Glauben auch dadurch ausleben kann, dass sie nach ihren Geboten und Maßstäben Tätigkeiten erbringt, die nach den Regeln der EU als wirtschaftlich gelten. Kommt es dabei zu einem Konflikt zwischen ordnungsrechtlichen Regeln des Wirtschaftsrechts und den religiösen Maßgaben der Religionsgemeinschaft, so muss der grundrechtliche Schutz dann zur Verfügung stehen, wenn das Funktionieren der Religionsgemeinschaft gefährdet ist. Denkbar sind Fälle, in denen in kirchlichen Pflegeeinrichtungen von Religionsgemeinschaften Personal nach Regeln eingestellt werden müsste, die keinen Tendenzschutz gewähren, oder Fälle, in denen der Betreiber solcher Pflegeeinrichtungen nach wettbewerblichen Ausschreibungsregeln zu ermitteln ist, die keine Auswahl nach religiösen Erwägungen zulassen.
(e) Lösungsstrategie zur Bestimmung des Merkmals „religiös“ Mit dem Hinweis auf den Zweck der korporativen Religionsfreiheit, im wirtschaftlich geprägten Recht der Union die spezifische Dimension religiöser Aktivitäten zu schützen, gelingt eine Annäherung an den Inhalt des Begriffes „religiös“, da klar wird, dass sich nur solche Vereinigungen auf ihn berufen können, die für sich eine Handlungsdimension in Anspruch nehmen, die über die wirtschaftliche Dimension hinausgeht. Dies reicht aber für eine abschließende Bewertung nicht aus. Zum einen kommt nicht jede über das Wirtschaftliche hinausgehende Dimension in Betracht. Auch ist die Gefahr des Missbrauchs nicht gebannt, dass rein wirtschaftliche Vereinigungen eine religiöse Dimension behaupten, um sich dem Wirtschaftsordnungsrecht zu entziehen.
357 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien). 358 „Seen in this perspective, the believers’ right to freedom of religion encompasses the expectation that the community will be allowed to function peacefully, free from arbitrary state intervention.“ (Rn. 62; Übersetzung vom Autor).
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Da aber eine staatliche Definition des Begriffes „religiös“ wie gezeigt weder zulässig noch allumfassend möglich ist, bleibt das Recht der Union darauf beschränkt, vor dem dargestellten Hintergrund eine Lösungsstrategie zu entwickeln. Diese muss im Einzelfalle möglichst zutreffende Subsumtionsergebnisse liefern. Die Struktur einer solchen Strategie ist dadurch vorgezeichnet, dass die Religionsfreiheit einerseits nur dann echte Freiheit garantiert, wenn sie Vereinigungen das Recht der Selbstdefinition gewährt, die EU andererseits aber nicht zulassen kann, dass jedes beliebige Interesse religiös verbrämt wird. Daraus ergibt sich eine Lösungsstrategie aus zwei Stufen. (aa) Lösungsstrategie 1. Schritt: Darlegungslast und -recht Auf der ersten Stufe vermittelt die Religionsfreiheit der selbstbehaupteten Religionsgemeinschaft ein Darlegungsrecht, aber auch eine Darlegungslast dafür, dass eine religiöse Dimension sie prägt. Dieses Darlegungsrecht gepaart mit einer Darlegungslast lässt sich bereits aus dem „Initial-Urteil“ des EuGH zur Religionsfreiheit „Prais“ ableiten359: dort befand der EuGH, dass die Klägerin das Recht hatte, sich gegenüber einem Rechtsakt der Europäischen Gemeinschaft auf ihr Grundrecht der Religionsfreiheit zu berufen. Die nötigen Informationen, die das Gemeinschaftsorgan brauchte, um der Religionsfreiheit Rechnung zu tragen, waren allerdings von diesem nicht von Amts wegen zu prüfen, sondern von der Klägerin beizubringen und glaubhaft zu machen. Dies ist verallgemeinerbar. Auch die EKMR sprach demjenigen, der sich auf Art. 9 EMRK berufen will, Darlegungsrecht und Darlegungslast zu: ein Strafgefangener, der sich als Angehöriger der Religionsgemeinschaft der „Wicca“ bezeichnete, musste glaubhaft machen, dass es sich um eine Religion oder Weltanschauung handele360. Schließlich ergeben sich Darlegungslast und das entsprechende Darlegungsrecht auch aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten: Darlegungslast und -recht ergeben sich aus der Einschätzungsprärogative einer Religionsgemeinschaft bezüglich ihrer Lehre. Diese Einschätzungsprärogative konnte oben als gemeinsames Strukturprinzip der europäischen Religionsrechtsüberlieferungen ermittelt werden361.
359 360 361
EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat). EKMR, BNr. 7291/75, DR 11, S. 55 f. (Wicca). s. o. Kap. C.II.3.c).
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(bb) Lösungsstrategie 2. Schritt: Plausibilitätskontrolle Auf der zweiten Stufe hat die Union das Recht, eine Plausibilitätskontrolle der behaupteten Eigenschaft „religiös“ vorzunehmen. Darin realisiert sich auf europäischer Ebene das Recht eines staatlichen Organs, staatliches Recht anzuwenden362. Dieses vom Bundesverfassungsgericht ausgedrückte allgemeine Prinzip ist durchaus auf die europäische Ebene übertragbar. Bei der Plausibilitätskontrolle ist das Organ der EU wiederum nicht beliebig frei. Wie gezeigt, ist in der EU die Frage nach dem Merkmal „religiös“ im Wesentlichen darauf zugespitzt, ob eine Vereinigung über eine religiöse Dimension verfügt, deren Auslebung durch das eindimensional-wirtschaftliche Recht der EU beeinträchtigt wird. Die Behauptung, das Wesen einer Vereinigung sei religiös, kann betrachtet werden als eine „innere Tatsache“, die von außen nur an Hand von Indizien überprüfbar ist. Benötigt werden also Indizien, die zwischen religiösem Wesen und religiös verbrämten wirtschaftlichem Charakter der Organisation differenzieren. Dabei sind wegen des staatlichen Definitionsverbots nur Indizien zulässig, die die Plausibilität dieser Behauptungen überprüfen können, ohne die Religion als solche zu bewerten. Nicht zulässig sind wegen des staatlichen Definitionsverbotes Kriterien wie Größe, Alter, Tradition, institutionelle Form. Diese würden bestimmte staatliche Vorstellungen von Religionen bevorzugen, die andere Glaubensgemeinschaften benachteiligen. Eine Sonderrolle nehmen Kriterien wie Transzendenz, Gottesbezug oder das Streben nach der Beantwortung grundlegender Fragen der menschlichen Existenz ein. Sie sind zur Plausibilitätskontrolle zulässig, jedoch nicht abschließend aussagekräftig. Als Indizien sind sie hilfreich, da sie religionswissenschaftlich als typisch gesicherte Merkmale einer Religion bzw. Weltanschauung darstellen. Um im wirtschaftlichen Kontext der EU die Plausibilitätskontrolle durchzuführen, bieten sich besonders Indizien an, die aus dem wirtschaftlichen Verhalten einer Organisation Rückschlüsse auf ihre primäre Motivation ziehen: wenn die Vereinigung so handelt, als sei der wirtschaftliche Erfolg alleiniger oder primärer Zweck ihrer Aktivität, entspricht dem kein oder nur eingeschränkter Grundrechtsschutz. Kriterien dafür können sein der Umsatz, der Gewinn oder, besonders aufschlussreich, die Verwendung eines Gewinns. Dies führt die Überlegung hin zur Entwicklung einer Prüfung auf rationales wirtschaftliches Verhalten in der Art des „private investor test“ 362 BVerfGE 83, 341 (Baha’i); Ehlers, ZevKR 45 (2000), S. 204; Weber, ZevKR 45 (2000), S. 121.
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des EuGH363. Mit diesem wird ermittelt, ob ein rationaler gewinnorientierter Unternehmer die entsprechenden wirtschaftlichen Entscheidungen träfe. Hier könnte das Verhalten einer behaupteten religiösen Organisation verglichen werden mit dem Verhalten eines auf Gewinnerzielung ausgerichteten marktwirtschaftlichen Kapitalgebers. Die Übereinstimmung oder Diskrepanz ist objektiv festzustellen und ohne unzulässiges inhaltliches Werturteil nachprüfbar. Verhält sich eine Vereinigung wie ein rationaler gewinnorientierter Investor mit dem primären Ziel der Gewinnmaximierung, so spricht dies für eine rein wirtschaftliche Betätigung, die keines religiösen Grundrechtsschutzes bedarf. Selbstverständlich verwehrt das Unionsrecht einer religiösen Organisation nicht, sich marktwirtschaftlich wie ein gewinnorientierter Investor zu verhalten. Bei einer Religionsgemeinschaft wird dies jedoch immer eine subsidiäre, dienende Funktion haben. Eine Gesamtbetrachtung der Aktivitäten wird somit einen Unterschied zwischen einer Religionsgemeinschaft und einem Marktwirtschaftsteilnehmer ergeben, z. B. bei der Frage, ob der erwirtschaftete Gewinn zur weiteren Gewinnerzielung reinvestiert wird oder zumindest teilweise in die Finanzierung religiös gebotener Aktivitäten fließt. Die Heranziehung des wirtschaftlichen Verhaltens als Indiz birgt aber auch gewisse Gefahren. Zum einen darf wirtschaftlich sinnvolles Verhalten und religiöses Wesen einer Vereinigung nicht als sich ausschließender Gegensatz betrachtet werden. Dies widerspricht der Prämisse der gesamten Prüfung, die gerade davon ausgeht, dass religiöse Vereinigungen sich zu ihren Zwecken wirtschaftlich betätigen und dazu bestimmte Sonderregeln benötigen. Zum anderen droht das Missverständnis, dass den Vereinigungen, die sich wirtschaftlich geschickt zeigen und erfolgreich sind, pauschal das religiöse Wesen abgesprochen wird, während aus wirtschaftlichem Dilettantismus auf religiöse Motive geschlossen wird. Dem kann nur dadurch begegnet werden, dass die Indizien im Einzelfall nicht pauschalisierend angewendet werden und genügend Raum für eine individuelle Betrachtungsweise bleibt. (3) Steht der persönliche Schutzbereich auch Vereinigungen mit einzelnen religiösen Zwecken offen? Problematisch ist, ob sich auch solche Vereinigungen auf das korporative Grundrecht der Religionsfreiheit berufen können, die sich nicht als Kirche, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft verstehen, sondern sich der 363 Der „private investor test“ ist im Beihilfenkontrollrecht entwickelt worden, EuGH, Rs. C-303/88, Slg. 1991, I-1433, Rn. 21 ff. (Italien ./. Kommission); EuGH, Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, Rn. 60 f. (SFEI ./. La Poste); Cremer, in: Calliess/ Ruffert, Art. 87 EGV, Rn. 7.
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Erfüllung einzelner religiöser Aufgaben verschrieben haben. Dies betrifft in erster Linie den Bereich der karitativen Tätigkeiten (sekundärer Bereich364), und dort Vereinigungen aus dem Umfeld der Kirchen, die sich um soziale und karitative Belange kümmern. Diese Vereinigungen nehmen in den Mitgliedsstaaten der EU sehr unterschiedliche Formen an. Für Deutschland typisch sind die karitativ-diakonischen Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Diese nehmen im Geiste der Lehren der großen christlichen Konfessionen die Aufgaben wahr, die die institutionell praktizierte Nächstenliebe gebietet. Damit sind sie als rechtlich selbständige, weltbildlich geprägte Organisationen zu verstehen, die auf der Grundlage und in Ausübung der Lehren der christlichen Kirchen handeln, ohne dass sie selbst dafür zuständig sind, ein geschlossenes System von religiösen Lehren zu entwickeln. Sie sind handelnde und ausführende Vereinigungen und damit – in einem weiten Sinne – Organe der Kirchen. Die Frage, ob sich solche Vereinigungen auf die korporative Religionsfreiheit berufen können, ist in zwei Teilfragen zu unterteilen. Die erste Teilfrage lautet, ob eine solche Vereinigung unter den persönlichen Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit fällt. Die zweite Teilfrage geht dahin, ob eine bestimmte Aktivität dieser Vereinigung den Schutz der korporativen Religionsfreiheit genießt. Dies ist unter dem sachlichen Schutzbereich abzuhandeln365. Für die erste Teilfrage gilt nach dem oben Gesagten, dass der persönliche Schutzbereich dann eröffnet ist, wenn es sich um eine religiöse Vereinigung handelt. Dies ist prinzipiell nach den oben ausgeführten Kriterien zu beantworten. Bei der Beantwortung ist nicht entscheidend, dass es sich um Vereinigungen handelt, die sich nicht auf ein eigenes, autonomes, selbst entwickeltes Konzept von religiösen Vorstellungen berufen, sondern auf ein fremdes. (Berufen sie sich dagegen bei der Ausführung einer Tätigkeit auf ein eigenes, autonomes Konzept, so stellt sich die allgemeine Frage, ob es sich um eine Religionsgemeinschaft handelt.) Vereinigungen, die sich auf fremde Religionskonzepte berufen, sind nicht prinzipiell vom persönlichen Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit ausgeschlossen. Die Religionsfreiheit verlangt kein autonomes, eigenständiges Konzept oder die interne Befugnis, ein solches zu entwickeln. Religiös im Sinne des Schutzbereichs kann eine Vereinigung auch dann sein, wenn sie sich ein fremdes Konzept zu eigen macht und sich die Verwirklichung der religiösen Vorgaben in einer bestimmten ausschnittsmäßigen Weise zur Aufgabe nimmt. Vom persönlichen Schutzbereich erfasst sein können alle Vereinigungen, die sich auf die Konzepte anderer Religionsgemeinschaften beziehen. Dies können beispielsweise christliche 364 365
s. o. Kap. C.III.5.b)(2). s. u. Kap. C.III.5.d).
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Wohlfahrtsverbände oder islamische Kultusvereine sein. Hingegen ist für die Subsumierung unter das Merkmal „religiös“ entscheidend, ob eine solche Vereinigung sich grundsätzlich zu einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Ethos bekennt. Religiös im Sinne des Schutzbereichs ist eine Vereinigung nur, wenn sie sich selbst als auf der Grundlage eines religiösen Konzeptes existierend begreift und ihren Existenzsinn in der – wie auch immer gearteten – Förderung dieses Konzepts sieht. Nicht ausreichend ist demgegenüber, dass eine Vereinigung punktuell oder sporadisch religiös motiviert handelt. Eine Organisation kann sich nicht dadurch den korporativen Schutzbereich eröffnen, dass sie aus religiöser Motivation eine Spende erbringt, da ihr dies noch kein religiöses Wesen oder Ethos vermittelt. Ob ein solches Ethos in einem konkreten Falle vorliegt, ist an Hand des Selbstverständnisses der Vereinigung zu beurteilen, das von ihr – insoweit wie bei einer Religionsgemeinschaft – plausibel darzulegen ist. Als wichtiges Indiz für die weltliche Beurteilung der Plausibilität der Selbstdarstellung steht dabei die institutionelle Nähe der Vereinigung zu der Gemeinschaft, auf deren Lehre sie sich beruft, zur Verfügung; ferner das tatsächliche Handeln und dessen Übereinstimmung mit der Bezugslehre sowie personelle, finanzielle und organisatorische Verflechtungen. (4) Kirchen in der Rechtsform der Körperschaften öffentlichen Rechts oder vergleichbarem Status Bei den Religionsgemeinschaften, die nach den Regeln des öffentlichen Rechts ihrer Mitgliedsstaaten organisiert sind, taucht die Frage auf, ob sie sich als juristische Personen so auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen können wie ihre privatrechtlichen Geschwister, oder ob sie auf Grund ihres Status vielmehr Grundrechtsadressaten sind. Weitaus überwiegend wird die Ansicht vertreten, dass solche Religionsgemeinschaften sich als Grundrechtsträger auf den Schutz der Religionsfreiheit berufen können. Dies wird damit begründet, dass der öffentlich-rechtliche Status zwar mit bestimmten Privilegien verbunden sei, aber keine organisatorische Einbindung in den Staat bedeute366. Zu Grundrechtsadressaten werden Religionsgemeinschaften erst, wenn und soweit ihnen hoheitliche Befugnisse übertragen werden; bei deren Ausübung handeln sie als grundrechtsverpflichtete staatliche Stellen und können sich selbstverständlich als solche nicht auf das Grundrecht berufen367. Aber die sporadische Übertragung hoheitlicher Befugnisse qualifiziert diese Religionsgemeinschaften nicht pauschal zu staatlichen Organen. Im Übrigen können auch privatrechtlich organisierte 366 367
Blum, S. 172; Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 25, Rn. 16. Morlok, in: Dreier, GG-Komm., Art. 4, Rn. 81.
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Religionsgemeinschaften mit der Ausübung hoheitlicher Rechte beauftragt und insoweit zu Grundrechtsverpflichteten werden; auf den öffentlich- oder privatrechtlichen Status kommt es insofern nicht an. Dagegen will Vachek den Religionsgemeinschaften, denen der Status öffentlich-rechtlicher Körperschaften zugestanden ist, die Berufung auf das EU-Grundrecht generell verweigern368. Er ist der Ansicht, diese Religionsgemeinschaften seien gemeinschaftsrechtlich als Teil des Mitgliedsstaates anzusehen, der ihnen den öffentlich-rechtlichen Status verliehen hat. Diese Auffassung begründet er mit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Foster369. Dort führt der EuGH aus, dass eine Richtlinie gegenüber solchen Stellen unmittelbare Wirkung entfalten kann, die dem Staat oder dessen Aufsicht unterstehen oder mit besonderen Rechten ausgestattet sind, die über diejenigen hinausgehen, die nach den Rechtsvorschriften für die Beziehungen zwischen Privatpersonen gelten370. Gemeint sind damit Einrichtungen, die wirtschaftliche Dienstleistungen von allgemeinem Interesse erbringen. Eine solche Einrichtung kann dann als dem Staate zugehörig gelten, wenn sie unabhängig von ihrer Rechtsform kraft staatlichen Rechtsaktes unter staatlicher Aufsicht eine Dienstleistung im öffentlichen Interesse zu erbringen hat, und sie zu diesem Zweck mit besonderen Rechten ausgestattet ist, die über das hinausgehen, was zwischen Privaten gilt371. Die Religionsgemeinschaften in der Form des öffentlichen Rechts lassen sich nicht pauschal unter diese Definition subsumieren. Erstens können sie nicht vom Staat verpflichtet werden, bestimmte Dienste für ihn zu erbringen, weil ihre korporative Religionsfreiheit sie genau davor schützt. Zweitens sind sie generell nicht zu dem Zweck mit den besonderen Rechten einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft ausgestattet worden, Dienstleistungen im öffentlichen Interesse zu erbringen. Das Urteil Foster behandelt den Fall, dass der Staat eine öffentliche Einrichtung beherrscht und benutzt; es setzt also eine organisatorische Einbindung der Körperschaft in den Staat und ein Beherrschung durch ihn voraus. Genau die Einbindung und das Beherrschungsverhältnis fehlt typischerweise zwischen Staat und den Religionsgemeinschaften in der Form öffentlich-rechtlicher Körperschaften. Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass eine solche Konstellation im Einzelfalle existiert und die Religionsgemeinschaft insoweit dann gemeinschaftsrechtlich als grundrechtsverpflichtete Einheit des Staates zu betrachten sein mag. Solche Fälle sind aber die Ausnahmen; das Urteil Foster erfasst nicht den typischen Fall der Religionsgemeinschaft öffentlichen Rechts, die diesen Status an368 369 370 371
Vachek, S. 294 ff. EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313 (Foster). EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313, Rn. 18 (Foster). EuGH, Rs. C-188/89, Slg. 1990, I-3313, Rn. 20 (Foster).
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strebt, um besondere eigene Rechte zu erlangen (Steuererhebungsrecht, Friedhofsrecht etc.). Vacheks Ansicht überzeugt daher nicht. Religionsgemeinschaften in der Rechtsform des öffentlichen Rechts sind nicht in den Staat eingegliedert. Sie können sich auf die korporative Religionsfreiheit des Art. 10 I EGRC berufen. (5) Staatskirchen im Schutzbereich der unionsrechtlichen Religionsfreiheit Nach der herkömmlichen Ansicht zur korporativen Religionsfreiheit der EMRK kann sich eine Staatskirche nicht auf das Grundrecht der Religionsfreiheit berufen, da sie in den Staat eingegliedert und somit Grundrechtsadressat, nicht Grundrechtsträger ist372. Mit Blick auf die Religionsfreiheit in der Rechtsordnung der Union stellt sich die Problematik etwas anders und differenzierter dar. Die Staatskirchen sind Teile der Mitgliedsstaaten, in die sie eingegliedert sind, nicht jedoch der Europäischen Union. Möchte sich eine Staatskirche gegen einen Akt der EU auf die korporative Religionsfreiheit berufen, so ist nicht zwangsläufig der Fall einer Konfusion von Grundrechtsträger und Grundrechtsadressat gegeben. Dass die Staatskirche eines Mitgliedsstaates sich gegenüber der EU auf die unionsrechtliche Religionsfreiheit beruft, ist daher nicht prinzipiell ausgeschlossen. Fraglich ist, in welchen Fällen der Durchführung des EU-Rechts, für die die EGRC gilt (Art. 51 I EGRC), es zu einer Vermischung von Grundrechtsbindung und Grundrechtsschutz bei ein und demselben Rechtssubjekt (der Staatskirche) kommen kann, so dass die Grundrechtsträgerschaft der Kirche ausscheidet. Dazu muss wie folgt differenziert werden. Rechtsakte der Union, die unmittelbare Geltung gegenüber den Rechtssubjekten der Union entfalten (Verordnung, Entscheidung, Art. 249 EG-Vertrag; Europäisches Gesetz, Verordnung, Art. I-33 VVE), ergehen gegenüber einer Staatskirche von der ihr übergeordneten Ebene des Unionsrechts. Am Zustandekommen des Rechtsakts der Union ist die mitgliedsstaatliche Staatskirche nicht beteiligt. Zu einer Konfusion von Grundrechtsadressat und Grundrechtsträger kommt es nicht. Folglich kann sich die Staatskirche bei solchen Rechtsakten gegenüber der Union auf die unionsrechtliche korporative Religionsfreiheit berufen. Da eine Staatskirche nicht über eine vom Mitgliedsstaat unabhängige Rechtspersönlichkeit und nicht notwendigerweise über eine eigenständige Organisation verfügt, muss in verfahrens372
Peukert, in: Frowein/Peukert, Art. 25, Rn. 16; Blum, S. 171.
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rechtlicher Hinsicht der Mitgliedsstaat über die für die Staatskirche zuständigen Organe handeln, um den Rechtsschutz sicherzustellen. Dafür steht einem Mitgliedsstaat die Klagemöglichkeit vor dem EuGH gemäß Art. 230 II EGV/Art. III-365 VVE zur Verfügung. Mit dieser Klage kann der Mitgliedsstaat die Rechtmäßigkeit einer Handlung eines Organs der EU überprüfen lassen und einem Organ der Union Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung des EG-Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder Ermessensmissbrauch vorwerfen. Wie die Staatskirche im Einzelnen vertreten wird, ist eine Frage des innerstaatlichen Rechts. Schwieriger ist die Rechtslage bei Rechtsakten der Union, die der Umsetzung durch die Mitgliedsstaaten bedürfen (Richtlinien bzw. Europäische Rahmengesetze). Hier ist zunächst auf den Zeitpunkt Acht zu geben, zu dem eine Staatskirche Grundrechtsschutz beanspruchen möchte. Nach der Transformation des streitigen EU-Rechtsaktes in mitgliedsstaatliches Recht, d. h. bei der Durchführung des EU-Rechts auf nationalstaatlicher Ebene, kann Konfusion von Grundrechtsbindung und Grundrechtsschutz in der Staatskirche entstehen. Dies kann allerdings nicht pauschal von europäischer Ebene aus beurteilt werden, da der innerstaatliche Grundrechtsschutz einer Staatskirche in den Mitgliedsstaaten durchaus unterschiedlich konzipiert sein kann (die protestantische Volkskirche Dänemarks steht beispielsweise in einem anderen Verhältnis zum Staat als die „vorherrschende“ orthodoxe Kirche in Griechenland). Entscheidend ist, ob und wie den Staatskirchen in den Mitgliedsstaaten Schutz gegen die Akte des Nationalstaates gewährt wird. Vor der Transformation des EU-Rechtsaktes in nationales Recht kann die Staatskirche dagegen gegen den Rechtsakt vorgehen, indem sie (bzw. der Mitgliedsstaat) Klage beim EuGH gemäß Art. 230 II EGV/Art. III-365 VVE erhebt. Der Mitgliedsstaat ist wegen seiner Umsetzungspflicht von der Richtlinie bereits betroffen. Zu diesem Zeitpunkt ist eine Konfusion von Grundrechtsverpflichtung und Grundrechtsträgerschaft auf mitgliedsstaatlicher Ebene noch nicht eingetreten. Die dänische Regierung beispielsweise könnte, nach entsprechender Vorbereitung durch das dänische Kirchenministerium, Klage vor dem EuGH gegen eine an den dänischen Staat gerichtete Richtlinie richten, die die Rechte der dänischen Staatskirche beeinträchtigt.
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d) Der sachliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit (1) Die grundsätzlichen Gewährleistungen des sachlichen Schutzbereichs für Religionsgemeinschaften Der sachliche Schutzbereich des Art. 10 I EGRC ist bereits erörtert worden373. Er beinhaltet die Religions-, Gedanken- und Gewissenfreiheit, Art. 10 I S. 1 EGRC. Die Grundrechtecharta enthält zwar keine Wesentlichkeitsklausel wie den Art. 19 III GG, doch ist der Chartagesetzgeber von der Prämisse ausgegangen, dass juristische Personen prinzipiell Träger von Grundrechten sein können, soweit diese wesensmäßig auf sie anwendbar sind374. Daher ist für Art. 10 I EGRC danach zu fragen, welche Gewährleistungen der individualistisch formulierten Religionsfreiheit einer Religionsgemeinschaft wesensmäßig zukommen können. Religionsgemeinschaften können ihre Glaubensinhalte manifestieren durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten, und sie können ihr gesamtes Verhalten an ihren Glaubensinhalten ausrichten, vorbehaltlich der Schranken des Grundrechts. Die Gedankenfreiheit und die Gewissensfreiheit scheiden aus, da nur Individuen Gedanken und ein Gewissen haben. Die organisierte Willensbildung einer Religionsgemeinschaft und ihre Lehren sind nicht ihre Gedanken, sondern die systematisierte Auswertung vieler individueller Gedanken und als solche gerade Ausdruck der Religionsfreiheit. Die sittlich-moralischen Maßstäbe einer Religion sind nicht ihr Gewissen, sondern Richtschnüre für die Gewissensentscheidungen ihrer Anhänger. Für die Träger der korporativen Religionsfreiheit hat das Grundrecht auch eine negative Dimension: ihnen dürfen keine fremden religiösen Überzeugungen und Verhaltensweisen aufgezwungen werden. Ferner ist daran zu erinnern, dass die Religionsfreiheit in den drei Bereichen korporativ-religiöser Betätigung (innere Angelegenheiten, karitative Tätigkeit, gewerbliche Tätigkeit) in unterschiedlicher Intensität wirkt375. Besonders hervorzuheben ist hier der primäre Bereich mit dem Recht der Religionsgemeinschaften, ihre inneren Angelegenheiten nach ihren eigenen Vorgaben autonom zu regeln. Dieses Selbstbestimmungsrecht wird als ein Schwerpunkt gesondert behandelt376.
373 374 375 376
s. o. s. o. s. o. s. u.
Kap. Kap. Kap. Kap.
C.III.4.a)(2). C.III.5.a)(1). C.III.5.b). C.III.5.e).
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(2) Der objektiv-rechtliche Gehalt der korporativen Religionsfreiheit Den subjektiv-rechtlichen Gewährleistungen des sachlichen Schutzbereichs entsprechen gewisse Anforderungen an die objektive Gestaltung und Durchführung des staatlichen Rechts377. Auch auf europäischer Ebene beinhaltet daher die korporative Religionsfreiheit die Gebote der Neutralität, Parität und Toleranz des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften. Diese Grundsätze sind zwangsläufiges Pendant zur Gewährung individueller und korporativer Freiheitsrechte an die Bürger und die Religionsgemeinschaften in der EU, denn nur in einem neutralen, paritätischen und toleranten Staatsgebilde können alle Grundrechtsträger die ihnen durch Art. 10 I EGRC verbürgten Freiheiten sinnvoll und in gleichem Maße in Anspruch nehmen. Das EU-Recht muss daher notwendigerweise Neutralität, Parität und Toleranz als Gestaltungsprinzipien berücksichtigen. Die Grundsätze ergeben sich auf der Ebene des Unionsrechts aus verschiedenen Herleitungen. Die EGRC enthält die Gebote der Neutralität, Parität und Toleranz in Art. 21 EGRC (Gleichbehandlungsgrundsatz, der ausdrücklich die Religion als verbotenes Differenzierungskriterium erwähnt) sowie in Art. 22 EGRC (der der Union aufgibt, die religiöse Vielfalt zu wahren). Diese Normen sind in Verbindung mit Art. 10 I EGRC zu lesen. Sie regeln, dass die Organe der EU keine Diskriminierung nach dem Kriterium der Religion vornehmen dürfen. Dieses Verbot erstreckt sich gemäß Art. 51 EGRC auch auf die Durchführung des EU-Rechts in den Mitgliedsstaaten. Der EU ist es somit verboten, sich in ihrem Handeln explizit oder implizit auf die Lehre einer bestimmten Religion zu berufen oder diese (positiv oder negativ) zu bewerten (Identifikationsverbot). Das Neutralitätsgebot findet einen besonderen Ausdruck in Art. 22 EGRC, nach dem die religiöse Vielfalt in der EU zu achten ist. Dieser Aspekt beinhaltet, dass das Handeln der EU gegenüber den Religionen nicht eine bestimmte Glaubensgemeinschaft oder eine bestimmte Religion in der Weise bevorzugen darf, dass dadurch der Vielfalt Schaden zugefügt werden könnte. Dadurch ist nicht jede Förderung verboten, zumal diese nicht zwangsläufig die Vielfalt bedroht, sondern diese auch unterstützen und sichern kann, beispielsweise wenn die Restaurierung historischer Kirchen im Rahmen der Strukturfonds einzelnen Religionsgemeinschaften zu Gute kommt. Das Neutralitätsgebot untersagt die inhaltliche Identifizierung der EU mit einer Religion und somit ein bestimmtes Fördermotiv. Die Neutralität findet ihre aktivische Ausprägung als Grundsatz der Parität378. Das Paritätsgebot gebietet, dass alle Religionsgemein377
Morlok, in: Dreier, GG-Komm., Art. 4, Rn. 145. Zur Frage der Schutzpflichten und den positiven Maßnahmen zur Förderung der (religiösen) Vielfalt vgl. Grabenwarter, EMRK, § 22, Rn. 89 f. 378
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
schaften prinzipiell im Handeln der Union gleich berücksichtigt werden. Es sichert ihnen beispielsweise gleiche Teilhabe am Dialog mit den Religionsgemeinschaften gemäß Art. I-52 III VVE. Auch die Rechtssprechung zur EMRK hat die Prinzipien der Neutralität, Parität und Toleranz entwickelt. Der EGMR führt für Art. 9 EMRK aus: „Der Gerichtshof ist der Auffassung, dass Tatsachen, die aufzeigen, dass Behörden nicht neutral geblieben sind, als sie ihre Befugnisse in diesem Bereich [scil. der Registration von Religionsgemeinschaften] ausübten, zu der Schlussfolgerung führen müssen, dass der Staat in die Freiheit der Gläubigen, ihre Religion im Sinne des Art. 9 EMRK auszuüben, eingegriffen hat.“379 In einer weiteren Entscheidung vertieft der EGMR: „Bei der Ausübung seiner Ordnungsgewalt in diesem Bereich und in seinen Beziehungen zu den verschiedenen Religionen, Denominationen und Glauben hat der Staat die Pflicht, neutral und unparteiisch zu bleiben. [. . .] Dementsprechend besteht die Rolle der Behörden unter solchen Umständen [scil. Spannungen zwischen Religionsgemeinschaften] nicht darin, die Ursache der Spannung zu entfernen, indem der Pluralismus eliminiert wird, sondern darin, sicherzustellen, dass die wettstreitenden Gruppen einander tolerieren.“380 Dies ist auf die Rechtssphäre der EU übertragbar. Die Gebote der Neutralität, Parität und Toleranz sind – mit Einschränkungen – ebenfalls Bestandteile der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten381. Die Einschränkungen bestehen zum einen in der Bevorzugung von Staatskirchen in manchen Mitgliedsstaaten382. Diese Staaten behandeln aber prinzipiell die Religionsgemeinschaften gemäß dem Grundsatze der Neutralität. Die Staatskirchen verfügen dort über eine historische Sonderrolle, die im Wesentlichen eine Ausnahme vom Identifikationsverbot bedeutet. Bedenklicher ist die oft faktische Bevorzugung alter, großer, traditioneller oder christlicher Religionsgemeinschaften. Diese Un379
EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien), Rn. 78: „Nevertheless, the Court considers, like the Commission, that facts demonstrating a failure by the authorities to remain neutral in the exercise of their powers in this domain must lead to the conclusion that the State interfered with the believers’ freedom to manifest their religion within the meaning of Article 9 of the Convention.“ (Übersetzung des Autors). 380 EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien), Rn. 116: „However, in exercising its regulatory power in this sphere and in its relations with the various religions, denominations and beliefs, the State has a duty to remain neutral and impartial. [. . .] Accordingly, the role of the authorities in such circumstances is not to remove the cause of tension by eliminating pluralism, but to ensure that competing groups tolerate each other.“ (Übersetzung des Autors). 381 Ferrari, EJCSR 1995, S. 151. 382 s. o. Kap. C.III.5.c)(5).
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gleichbehandlungen sind aber meist nicht von den verfassungsmäßigen Grundsätzen der Staaten geboten, sondern stellen eher die unzulängliche Befolgung der Gebote von Neutralität, Parität und Toleranz dar. Bei einer wertenden Rechtsvergleichung der Verfassungsüberlieferungen für die europäische Ebene sollten diese historischen Ungleichbehandlungen eliminiert werden, denn die wertende Betrachtung muss als Maßstab der Wertung die in den nationalen Verfassungen gewollte Herstellung einer möglichst großen Gleichberechtigung aller Religionen heranziehen. Dies bedeutet für das europäische Sekundärrecht, dass es nicht durch bestimmte Anknüpfungspunkte, wie etwa die Voraussetzung bestimmter institutioneller Strukturen einer traditionellen Kirche, eine bestimmte Religion faktisch bevorzugt. (3) Der sachliche Schutzbereich in Bezug auf die drei Bereiche korporativ-religiöser Betätigung Eingangs wurden die Tätigkeiten der Religionsgemeinschaften drei Bereichen mit unterschiedlicher Relevanz für das Wirtschaftsrecht der EU und unterschiedlicher Schutzintensität der korporativen Religionsfreiheit zugeordnet. Gerade auch im sachlichen Schutzbereich wirkt sich diese Struktur aus. (a) Primärer Bereich Der Bereich der inneren Angelegenheiten genießt den Schutz des sachlichen Schutzbereichs der Religionsfreiheit. Religionsgemeinschaften kommen hier in den Genuss eines Selbstbestimmungsrechts als Ausfluss des unionsrechtlichen Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit383. (b) Sekundärer Bereich Der sekundäre Bereich umfasst wie gezeigt wirtschaftliche Tätigkeiten, durch die Religionsgemeinschaften ihre Religion nach außen ausüben. Dies sind bei den christlichen Religionsgemeinschaften im Wesentlichen karitative Tätigkeiten. Der sachliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit steht grundsätzlich den karitativen Tätigkeiten mit wirtschaftlichem Bezug offen. Der Schutzbereich ist eröffnet, wenn die fragliche Tätigkeit eine Form der Manifestation der Glaubensinhalte ist. Dazu ist zu prüfen, ob die fragliche Tätigkeit in Ausübung desjenigen religiösen Ethos geschieht, auf das sich die Vereinigung beruft. Es obliegt den Religionsgemeinschaften 383
Vgl. unten Kap. C.III.5.e).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
beziehungsweise ihren nachgeordneten Organisationen darzulegen, dass ihre Tätigkeit nach ihrem internen Verständnis die Ausübung eines religiösen Ethos ist. Die von christlichen Kirchen getragene Kranken- und Altenpflege etwa ist von diesem Ethos getragen, soweit sie die institutionelle Praktizierung des christlichen Glaubensgebots der Nächstenliebe ist. Die weltlichen Behörden dürfen im Rahmen der Plausibilitätsprüfung nicht beurteilen, ob die zu Grunde liegenden Glaubenssätze stimmig oder theologisch überzeugend sind; wohl aber, ob die angeführten Glaubenssätze tatsächlich von der Religionsgemeinschaft aufgestellt sind und als Lehren existieren. Die Aktivitäten der freien kirchlichen Wohlfahrtsverbände fallen nicht unter die beschriebenen Manifestationsformen des Art. 10 I S. 2 EGRC (Gottesdienst, Unterricht, Riten und Bräuche). Insbesondere sind sie keine Riten und Bräuche, da dies eine Art liturgische Standardisierung voraussetzt. Dennoch können sie eine unbeschriebene Manifestationsform der Religion sein. Hier kann abstrakt nur festgestellt werden, dass es in der kirchlichen Wohlfahrtspflege eine große Bandbreite an Tätigkeitsformen ergibt, die sich von sehr individueller, von menschlicher Nähe und tiefem Glauben getragener Pflege bis zu hoch professionalisierten und kommerzialisierten Krankenhauskonzernen in kirchennaher Trägerschaft erstreckt. Je weiter sich diese Träger von der glaubensgetragenen Ausübung der Pflegeaktivitäten entfernen und je stärker die Träger am allgemeinen Wirtschaftsleben teilnehmen, desto schwieriger wird es ihnen fallen, ihre Tätigkeit als Glaubensmanifestation darzulegen und den sachlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit für sich zu eröffnen384. Die Berufung auf den sachlichen Schutzbereich der Religionsfreiheit ist umso weniger überzeugend und gerechtfertigt, je mehr kirchliche Träger der freien Wohlfahrtspflege ihre Leistungen selbst als „unternehmerische Tätigkeit“ charakterisieren385. Umso schwieriger wird es dementsprechend, die korporative Religionsfreiheit als Schutzrecht gegen die Auswirkungen des sich entfaltenden Binnenmarktes zu nutzen. Das Kriterium der „Glaubensgeprägtheit“ einer fraglichen Tätigkeit386 ist keine hinreichende Bedingung für eine Bereichsausnahme für eine Tätigkeit, sondern ein Abwägungsposten bei der Herstellung praktischer Konkordanz zwischen Selbstbestimmung und Wirtschaftsrecht.
384 385 386
Lecheler, FS Leisner, S. 44; Weber, ZevKR 47 (2002), S. 229. Vgl. Evangelisch-Katholische Arbeitsgruppe, in: KuR 2000, S. 59, 61. Bleckmann, Religionsfreiheit, S. 48.
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(c) Tertiärer Bereich Im Bereich der rein gewerblichen Tätigkeit ist der Schutz der korporativen Religionsfreiheit schwach ausgeprägt. Gewerbliche Tätigkeiten, die nicht oder nur mittelbar vom Ethos der Religionsgemeinschaft geprägt sind, sind prinzipiell keine Schutzobjekte der Religionsfreiheit. Die hier anzusiedelnden Betätigungen (Banken, Brauereien, Landgüter, Heilprodukte etc.) sind nicht primär Manifestation einer Religion und könnten von jedem Dritten durchgeführt werden, ohne ihren Charakter zu ändern. Allerdings dienen sie oft der wirtschaftlichen Absicherung einer Religionsgemeinschaft. In Ausnahmefällen kann dies zu einem Schutz unter der korporativen Religionsfreiheit führen, wenn das Überleben der Religionsgemeinschaft von dieser Tätigkeit abhängt und daher die Religionsausübung der Gläubigen elementar gefährdet ist. Dies kann aber nur für Fälle gelten, in denen die Existenz der Religionsgemeinschaft und damit die Religionsausübung tatsächlich auf dem Spiel stehen. Bloße wirtschaftliche Schwierigkeiten reichen nicht aus, um den Schutz der Religionsfreiheit zu aktivieren, denn diese soll nicht Schutz vor den Unwägbarkeiten des wirtschaftlichen Lebens bieten. Eine Religionsgemeinschaft, die sich entschließt, sich rein gewerblich zu betätigen, muss grundsätzlich die Chancen und Risiken dieser Betätigung vollumfänglich selbst tragen. e) Ansätze und Umfang eines Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene Die Gewährung der korporativen Religionsfreiheit wirft die Frage auf, ob eine Religionsgemeinschaft aus diesem Grundrecht das Recht ableiten kann, bestimmte Aspekte ihres internen gemeinschaftlichen Lebens ohne Beeinflussung durch externe staatliche Vorgaben zu regeln. Die Abwehrfunktion der korporativen Religionsfreiheit verdichtet sich dann zur Gewährleistung eines Bereiches, in dem die Religionsgemeinschaft zur autonomen Regelung der umfassten Angelegenheiten befugt ist. Wenn ein solcher Bereich der autonomen Selbstverwaltung eigener Angelegenheiten von Art. 10 I EGRC garantiert wird, könnte man die Gewährung eines unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften konstatieren. Die Frage, ob auf europäischer Ebene ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften gewährleistet wird, stellt sich somit zum einen in der Ausprägung, ob ein solches Recht überhaupt existiert, und zum anderen, welchen Umfang es aufweist.
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(1) Die Diskussion in der deutschen Literatur Die Frage, ob auf europäischer Ebene ein Selbstbestimmungsrecht der Kirchen gewährleistet wird oder ob zumindest Ansätze dazu im EU-Recht vorhanden sind, bewegt seit einiger Zeit die Diskussion im einschlägigen Schrifttum. Dass die Debatte insbesondere in der deutschen Literatur geführt wird, verwundert nicht vor dem Hintergrund der prägenden Stellung des Selbstbestimmungsrechts im deutschen Staatskirchenrecht und der sich daher aufdrängenden Frage, welche diesbezüglichen Veränderungen durch die europäischen Entwicklungen wohl anstehen mögen. Das Meinungsbild in der deutschen Literatur erscheint derzeit uneinheitlich. Eine Reihe von Autoren sind der Ansicht, auf der europäischen Ebene sei ein Selbstbestimmungsrecht verankert oder zumindest im Entstehen begriffen, andere sind skeptisch oder verneinen dies. Blum387 ist für Art. 9 EMRK der Ansicht, die korporativ-institutionelle Seite des Grundrechts gewährleiste ein Recht auf Kirchenfreiheit, das sich bis in die organisatorischen und verwaltungsmäßigen Belange erstrecke. Die Religionsfreiheit sei logischer Grund für ein Selbstverwaltungsrecht, das über die Verrichtung der kultisch-liturgischen Angelegenheiten hinausgehe. Vor dem Hintergrund der Ableitung aus der Religionsfreiheit warnt Blum davor, diesen grundrechtlichen Ansatz mit staatskirchenrechtlichen Elementen anzureichern388, die der EMRK fehlen. Blum beruft sich für seine Ansicht auf frühere Stimmen der deutschen Literatur389 und die EKMR-Rechtssachen Rommelfanger390 und „Dänischer Pastor“391. Blum nannte es im Jahre 1989 schwierig, den Umfang des Selbstbestimmungsrechts zu beschreiben392. Inzwischen stellen sich die dazu zur Verfügung stehenden Quellen allerdings umfangreicher dar, so dass eine Neubewertung angezeigt erscheint. Conring393 führt das Selbstbestimmungsrecht – allerdings ohne nähere Untersuchung – auf die europäischen Verfassungsüberlieferungen zurück. Frowein394 bejaht die korporative Religionsfreiheit in Art. 9 EMRK, äußert sich zum Selbstbestimmungsrecht aber nicht. 387
Blum, S. 175. Blum, S. 177. 389 Hollerbach, VVDStRL 26 (1967), S. 57, 60; Hesse, in: HdbStKirchR, Bd. I, 1. Aufl., S. 409, 412 (jetzt Hesse, HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 521 ff.). 390 EKMR, Entscheidung vom 6.9.1989, BNr. 12242/86 (Rommelfanger ./. BRD). 391 EKMR, Entscheidung vom 8.3.1976, BNr. 7374/76, DR 5, S. 157. 392 Blum, S. 175. 393 Conring, S. 386. 388
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Heinig395 geht von der Existenz des Selbstbestimmungsrechts im EGRecht aus, nennt aber den Umfang unsicher. Lecheler396 meint vorsichtig, dass die Anerkennung des kirchlichen Selbstordnungs- und Selbstverwaltungsrechts dadurch impliziert werde, dass Religionsgemeinschaften sich auf das Konventionsgrundrecht der Religionsfreiheit berufen können. Er vermutet, dass dies auch unter zukünftiger EuGH-Rechtssprechung so sein würde. Link397 fragt nach dem Bestand des deutschen Selbstbestimmungsrechts unter dem Einfluss des europäischen Einigungsprozesses und ist skeptisch, ob dessen Schutzstandard auf europäischer Ebene durch Art. 9 EMRK gewahrt bleibt. Muckel398 bejaht ein durch Art. 10 I EGRC gewährtes Selbstbestimmungsrecht und begründet seine Ansicht mit einer Herleitung aus Art. 9 EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten. Inhalt und Grenzen des Rechts seien ungeklärt, doch sei davon auszugehen, dass es enger begrenzt sein werde als das deutsche Selbstbestimmungsrecht. Mückl399 spricht den Religionsgemeinschaften sowohl unter der EMRK als auch unter dem Unionsrecht ein Selbstbestimmungsrecht in ihren Angelegenheiten zu. Müller-Volbehr400 erstreckt den Schutzbereich des Art. 9 EMRK im Grundsatz auf ein Selbstbestimmungsrecht. Rißmann401 ist der Auffassung, dass auch unter europäischem Recht das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gewährt sei. Im Sekundärrecht werden vom Gemeinschaftsgesetzgeber durchaus Regelungen getroffen, die den Erfordernissen der Wahrung der Religionsfreiheit und des Selbstbestimmungsrechts Rechnung tragen. Skeptisch ist Rißmann allerdings mit Blick auf den EuGH: hier sei unsicher, ob sich der Gerichtshof der weitgehenden Rechtssprechung des BVerfG zum Schutz des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts anschlösse, da eine rechtsvergleichende Gesamtschau der mitgliedsstaatlichen Regelungen eine restriktivere Auslegung nahe lege. 394 395 396 397 398 399 400 401
Frowein, in: Frowein/Peukert, Art. 9, Rn. 9; ders., ZaöRV 46 (1986), S. 255 f. Heinig, ZEE 1999, S. 302; ders., ZevKR 46 (2001), S. 450. Lecheler, in: FS Leisner, S. 41. Link, ZevKR 42 (1997), S. 135 f. Muckel, DÖV 2005, S. 195 f. Mückl, Religionsfreiheit, S. 207. Müller-Volbehr, ZevKR 44 (1999), S. 407. Rißmann, EuBl. 1997, S. 56 f.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Robbers402 äußert sich sehr optimistisch in Bezug auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auf europäischer Ebene; sowohl in Bezug auf den sachlichen als auch den personellen Umfang. Dafür führt er mehrere Gründe an. Die EKMR habe die Selbstbestimmung in der Rechtssache Rommelfanger403 der Sache nach in weitem Umfange anerkannt. Aus der Religionsfreiheit der Kirchen folge auch eine institutionell sich auswirkende Gewährung des Selbstbestimmungsrechts. Ferner meint Robbers, bei der Herleitung von Rechten aus der gemeinsamen Verfassungsüberlieferung sei von einem Maximalstandard auszugehen (auch wenn dies in der Praxis nicht genügend beachtet werde), so dass das umfassende deutsche Selbstbestimmungsrecht den Grundrechtsstandard in der EU festlege und als allgemeiner Rechtssatz des Gemeinschaftsrechts anerkannt werden müsse. Schließlich begründet Robbers seine Ansicht mit dem Argument, das Selbstbestimmungsrecht finde aus gemeinschaftsrechtlichen Voraussetzungen heraus seine Begründung in der Sache selbst. Im Selbstbestimmungsrecht der Kirchen erkenne die EU die Möglichkeit der Transzendenz an. Offenbar geht Robbers davon aus, jeder Staat müsse die religiöse Selbstbestimmung der Religionsgemeinschaften anerkennen, um durch negative Abgrenzung gegenüber dem religiösen Bereich den eigenen staatlichen Raum zu schaffen. Die EU müsse daher aus ihrem quasi-staatlichen Charakter heraus das grundsätzliche Anderssein von Kirche und Religionsgemeinschaft respektieren, um Raum für ihre eigene Entwicklung zu schaffen; sie müsse wie jeder Staat ihre staatliche Herrschaft relativieren404. De Wall405 sieht in Art. 9 EMRK und damit im Gemeinschaftsrecht einen Kern kirchlicher Selbstbestimmung und diese insofern vor Rechtsakten der Gemeinschaftsorgane geschützt; er äußert jedoch erhebliche Skepsis bezüglich tatsächlicher Anerkennung und Konturierung. Umfang und Schutzniveau seien alles andere als geklärt. Weber406 sieht in neuerer Zeit ein klares Bekenntnis des EGMR zum kirchlichen Selbstbestimmungsrecht und vermutet, dass sich der EuGH bei Vorliegen eines geeigneten Sachverhaltes dieser Auffassung anschließen würde. Auch Weber warnt allerdings vor einer Überdehnung dieses unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts, indem es mit nicht vorhandenen staatskirchenrechtlichen Elementen versehen wird. 402 Robbers, EssGespr. 27 (1993), S. 85; ders., in: Robbers (Hrsg.), S. 357 ff.; ders., HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 317 ff. 403 EKMR, Entscheidung vom 6.9.1989, BNr. 12242/86 (Rommelfanger ./. BRD). 404 Robbers, HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 322 f. 405 De Wall, ZevKR 45 (2000), S. 167 f.; ders., ZevKR 47 (2002), S. 213. 406 Weber, ZevKR 45 (2000), S. 148 f.; ders., ZevKR 47 (2002), S. 282.
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Hillgruber407 verweist auf den ursprünglich rein individualrechtlichen Charakter des Art. 9 EMRK und interpretiert die Rechtssprechung des EGMR zur Prozessstandschaft408 dahingehend, dass den Religionsgemeinschaften lediglich die Rolle eines Mediums zusammengeschlossener Individuen zukomme. Diese können sich dann auch nur auf kollektiv ausgeübte individuelle Rechte berufen. Eine Verbindung des rechtlichen Status der Religionsgemeinschaft mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit mit der Folge, dass der Status unter Berufung auf das Grundrecht verteidigt werden könne, sei ein Spezifikum des deutschen Verfassungsrechts und dürfe Art. 9 EMRK nicht unterlegt werden. Vachek409 meint, Art. 9 EMRK enthalte ein Selbstbestimmungsrecht, das vom Umfang her auf den innerkirchlichen Bereich beschränkt sei. Dieser Überblick zeigt, dass in der deutschen Literatur überwiegend die Ansicht vorherrscht, dass ein Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften auf europäischer Ebene im Kern gegeben sei. Unklar ist aber dessen Umfang. Die enge Ansicht ist nur bereit, den Religionsgemeinschaften eine selbständige Organisation des liturgischen Bereichs zuzugestehen. Diese Ansicht lässt sich an einem engem Verständnis des Art. 10 I EGRC festmachen, der aufzählt: Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten. Oben410 ist jedoch bereits dargelegt worden, dass diese Aufzählung nur exemplarischen Charakter hat, während der Schutzbereich des Art. 10 I EGRC aber mit dem weiten Begriff der Religionsfreiheit umgrenzt wird, der über die exemplarische Aufzählung hinaus reicht. Das in Art. 10 I EGRC enthaltene Verbandsgrundrecht der Religionsfreiheit kann demnach weiter sein als die Aufzählung. Auf der anderen Seite des soeben dargestellten Meinungsspektrums steht die Maximallösung, vertreten von Robbers, die davon ausgeht, dass der höchste nationale Grundrechtsstandard den EU-Standard vorgibt und somit das deutsche Selbstbestimmungsrecht zum allgemein gültigen Maßstab in der EU wird. Dies ist m. E. heute nicht mehr haltbar. Der EuGH hat seine frühere Rechtssprechung zum Maximalstandard411 aufgegeben und praktiziert nun die differenziertere „wertende Rechtsvergleichung“, deren Ergebnis typischerweise ein Grundrechtsstandard ist, der ein an den Zielen der EU und den gemeinsamen Verfassungstraditionen orientiertes Schutzmaß enthält, das aus deutscher Sicht wiederum im Wesentlichen mit dem durch das GG gewährten Schutz überein407
Hillgruber, DVBl. 1999, S. 1177. EKMR, Entscheidung vom 5.5.1979, BNr. 7805/77, DR 16, S. 68 (Hubbard Elektrometer); vgl. oben Kap. C.III.5.a)(2). 409 Vachek, S. 212. 410 s. o. Kap. C.III.4.a)(2)(a)(bb). 411 EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 (Nold ./. Kommission). 408
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
stimmen muss. Naturgemäß wird damit nicht notwendigerweise ein vom deutschen GG abzuleitender Maximalstandard erreicht412. Im weiten Felde zwischen den extremen Positionen dehnt sich der Bereich, den bereits Blum abstrakt mit den Worten beschrieben hat, die im Kern gewährleistete Kirchenfreiheit erstrecke sich „bis in die organisatorischen und verwaltungsmäßigen Belange“413. Anderthalb Jahrzehnte nach Blums Untersuchung scheint die Zeit gekommen, die Fortschritte in Gesetzgebung und Rechtssprechung auf europäischer Ebene zu nutzen, um den Umfang der Kirchenfreiheit mit dem nun zur Verfügung stehenden Material näher zu bestimmen. Es ist erneut darauf hinzuweisen, dass bei der folgenden Untersuchung das Recht der EU als autonome Rechtsquelle unter Einschluss der anerkannten Rechtserkenntnisquellen heranzuziehen ist. Anknüpfungspunkt ist daher Art. 10 I EGRC unter Heranziehung der EMRK samt einschlägiger Rechtssprechung, deren Standard die EGRC gemäß Art. 53 nicht unterschreitet. (2) Ein „funktionaler Ansatz“ als Grundsatz der Bestimmung von Existenz und Umfang des Selbstbestimmungsrechts Das EGMR-Urteil „Hasan und Chaush ./. Bulgarien“414 vom Oktober 2000 liefert für die Frage nach Existenz und Umfang des grundrechtlichen Selbstbestimmungsrechts einen wesentlichen Beitrag. Unter dem Prüfungsansatz des Art. 9 EMRK im Lichte des Art. 11 EMRK führt der EGMR zur Frage der Organisation des Verbandslebens einer Religionsgemeinschaft aus, die Religionsfreiheit umfasse die Erwartung, „dass es der (Glaubens-)Gemeinschaft gewährt wird, friedlich zu funktionieren, frei von willkürlichem Einschreiten des Staates.“415 Dieses Diktum des EGMR bringt einen Erkenntnisgewinn für die Beantwortung der Frage nach Existenz und Umfang der Selbstbestimmung. Es enthält die Zusage zweier Gewährleistungen: zum einen wird den Religionsgemeinschaften das friedliche Funktionieren garantiert, zweitens der Schutz vor willkürlichen Eingriffen des Staates. 412
EuGH, Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, S. 2859 (Hoechst AG ./. Kommis-
sion). 413
Blum, S. 175. EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien); s. o. Kap. C.III.5.a)(2). 415 „Seen in this perspective, the believers’ right to freedom of religion encompasses the expectation that the community will be allowed to function peacefully, free from arbitrary state intervention.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). Id. EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 118 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 414
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(a) Zur Existenz des Selbstbestimmungsrechts Inhalt des grundrechtlichen Schutzes der korporativen Religionsfreiheit ist es demnach, der Religionsgemeinschaft die Freiheit zu belassen, friedlich zu funktionieren, und dabei vor willkürlichen staatlichen Eingriffen geschützt zu sein. Diese beiden Zusagen beschreiben die Verdichtung des Abwehrrechts der korporativen Religionsfreiheit zur Errichtung eines autonomen Raumes, in dem die Religionsgemeinschaft die Angelegenheiten ihres internen gemeinschaftlichen Lebens selbst verwalten darf. Die Garantie des friedlichen Funktionierens beschreibt den Kerngehalt religionsgemeinschaftlichen Lebens: die autonome Gestaltung des internen Lebensentwurfes der Gemeinschaft gemäß ihren als verbindlich verstandenen religiösen Vorgaben. Dass dieser selbstbestimmte Raum frei von willkürlichen Eingriffen des Staates bestehe, bedeutet, dass er nicht gänzlich ohne Bezug zur staatlichen Rechtssphäre existiert, aber nur den nicht diskriminierenden Vorgaben des allgemeinen Gesetzes ausgesetzt sein darf. Aus diesen Vorgaben des EGMR ist daher zu schließen, dass die Existenz eines Selbstbestimmungsrechts als Ausfluss der korporativen Religionsfreiheit angenommen werden kann.
(b) Zum Umfang des Selbstbestimmungsrechts Mit der Zusage in Hasan & Chaush wählt der EGMR methodisch betrachtet einen funktionalen Ansatz zur Ausfüllung des Selbstbestimmungsrechts mit konkretem Inhalt. Der EGMR schafft zunächst eine methodische Anleitung zur Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts, anstatt unmittelbar einen Katalog von enthaltenen Bestandteilen zu erstellen. Der funktionale Ansatz bietet eine Richtschnur zur Ermittlung dessen, was eine Religionsgemeinschaft an Autonomie braucht, um friedlich zu funktionieren. Grob gesprochen führt der funktionale Ansatz dazu, dass einer Religionsgemeinschaft dasjenige Maß an Selbstbestimmung gewährt werden muss, dessen sie zu ihrer erfolgreichen Existenz, d.h. zu ihrer Zweckerfüllung, bedarf. Unter diesem Ansatz stellt sich als zentrale Frage, wer den Begriff des „(friedlichen) Funktionierens“ definiert (Definitionsmacht), und wie er inhaltlich definiert wird (Definitionsinhalt). Was umfasst das friedliche Funktionieren; wessen bedarf die Religionsgemeinschaft dazu? Der EGMR geht davon aus, dass die betroffenen Religionsgemeinschaften diese Definition aus sich selbst heraus leisten dürfen und müssen. Für diese Auffassung des EGMR spricht seine auffallend sorgfältige, (aus staatlicher Perspektive) zurückhaltende Formulierung: die Religionsfreiheit umfasse die Erwartung, dass der Glaubensgemeinschaft gewährt werde, fried-
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lich zu funktionieren. Auffällig an dieser Formulierung ist ihre passivische Perspektive: der Staat handelt nicht; er gewährt; dies ist ein der Natur nach passives Verhalten. In der aktiven Rolle steht die Religionsgemeinschaft, die das Funktionieren ihres eigenen gemeinschaftlichen Lebensmodells gestaltet. Die aktive Rolle des Inhabers der Definitionsmacht wird somit der Religionsgemeinschaft als Grundrechtsträger zugewiesen. Den Glaubensgemeinschaften (die als konstitutives Merkmal über eine organisierte Willensbildung verfügen) ist es somit überlassen, für sich selbst zu definieren, wessen sie zu ihrem friedlichen Funktionieren bedürfen. Diese Aufgabe fällt nicht dem Staate (und nicht der Europäischen Union) zu. Der funktionale Ansatz erlaubt es also, dass eine Religionsgemeinschaft ihren durch Art. 10 I EGRC/Art. 9 EMRK gewährten Freiraum zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten aus ihrem Selbstverständnis heraus mit Inhalt füllt. Auf diese Weise gewährt das Grundrecht dann der Religionsgemeinschaft bedeutungsvolle Freiheit. In der Garantie der aktiven Selbstdefinitionsmacht der Religionsgemeinschaft und der gewährenden Rolle der EU erschöpft sich aber nicht das Konzept des funktionalen Ansatzes. Dann würde es sich lediglich um einem Freibrief für jegliche (auch für nach allgemeinem Verständnis nicht-religiöse) Tätigkeit handeln. Der funktionale Ansatz muss daher einer Begrenzung unterliegen. Er darf nicht zu einer unbegrenzten Definitionsmacht der Religionsgemeinschaft führen, aber auch nicht zu einem engen Korsett, in das der Staat eine Religionsgemeinschaft zwängen kann. In der Tat kann der funktionale Ansatz so gefasst werden, dass er die Definitionsmacht einem balancierten Dualismus unterwirft, der einen Ausgleich der Interessen des Staates und der Religionsgemeinschaft erlaubt. Der Wortsinn des Begriffes „Funktionieren“ impliziert nämlich nicht nur eine aktive Tätigkeit der Religionsgemeinschaft, sondern ebenso die Existenz eines Ziels, auf dessen Erreichen die Tätigkeit gerichtet ist. M. a. W., ohne ein Ziel als Maßstab könnte man nicht bewerten, ob etwas „funktioniert“, da eben die Zielerreichung das Kriterium für das Funktionieren ist. Die Begrenzung der Definitionsmacht unter dem funktionalen Ansatz liegt nun darin, dass das Ziel ihres Handelns von der Religionsgemeinschaft nicht beliebig selbst definiert werden darf. Dieses Ziel muss innerhalb eines Rahmens verortet sein, den der Staat durch sein weltliches Recht vorgibt. Der Staat schafft den weltlichen Bezugsrahmen, indem er die der Religionsgemeinschaft gewährte Freiheit, ihr gemeinschaftliches Lebensmodell autonom zu gestalten, auf den religiösen Bereich bezieht, und beispielsweise eben nicht auf den primär wirtschaftlichen, gewinnorientierten Bereich. Das weltliche Recht der EU gibt diesen äußeren Bezugsrahmen mit der Chiffre des Art. 10 I EGRC vor: die Religionsfreiheit, insbesondere das äußerliche Bekennen der Religion (im beschriebenen Bereich des Art. 10 I S. 2 EGRC durch Gottes-
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dienst, Unterricht, Bräuche und Riten, aber darüber hinaus auch in dem bereits erwähnten unbeschriebenen Bereich). Bildlich gesprochen entsteht unter dem funktionalen Ansatz (der ja zunächst eine Methode beschreibt) ein Dialog zwischen Religionsgemeinschaft und Staat (hier EU). In diesem Dialog entwickelt die Religionsgemeinschaft eine These, welche Aktivität für das Funktionieren ihres autonomen gemeinschaftlichen Lebensmodells erforderlich sei, und der Staat beurteilt, ob dies in den äußeren Bezugsrahmen des Schutzbereichs einzuordnen ist. Mit dem „funktionalen Ansatz“ ist also noch keine Definition des Inhalts und Umfangs des Selbstbestimmungsrechts gefunden, sondern eine Definitionsmethode. Will man ermitteln, welche Aktivitäten auf Vorschlag einer Religionsgemeinschaft in den äußeren Bezugsrahmen der Religionsfreiheit eingeordnet werden, dürfte sich abstrakt etwa folgendes Ergebnis einstellen: um als solche friedlich zu funktionieren, muss eine Religionsgemeinschaft in der Lage sein, für ihre Mitglieder Lehren und Methoden zu entwickeln, eine Art „höchstes Lebensziel“ zu erreichen. Ferner braucht sie Mittel, um die entwickelten Lehren zu verkünden und die danach gebotenen Handlungen durchzuführen. Beides erfordert den eigenverantwortlichen Einsatz von Sach- und Personalmitteln zur Willensbildung und Willensverkündung. Der funktionale Ansatz wird also als Inhalt des Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene all das akzeptieren, was für ein religiöses, in sich geschlossenes System von Lehrenentwicklung und darauf bezogene Lehrenbefolgung gewährleistet sein muss. Was den Umfang angeht, kann der funktionale Ansatz über das hinausgehen, was unabdingbar erforderlich ist (und sollte dies im Sinne eines möglichst umfangreichen grundrechtlichen Schutzes auch), wird aber nicht alles gewähren, was einer Religionsgemeinschaft wünschenswert erscheinen mag. (Insbesondere gewährleistet der funktionale Ansatz im Unionsrecht nicht per se einen Umfang des Selbstbestimmungsrechts, der dem Umfang des Selbstbestimmungsrechts im deutschen Staatskirchenrecht gleichkommt.) Die dualistische Meinungsbildung zwischen Religionsgemeinschaft und Grundrechtsverpflichtetem (das „Aushandeln“ des Umfangs der Selbstbestimmung) findet unter dem autonomen Regime des Unionsrechts statt und wird von dessen Vorgaben geleitet. Eine genaue Ziehung der abstrakten Grenze des Umfangs lässt der funktionale Ansatz bislang mangels Materialien aus Rechtssprechung und Wissenschaft noch nicht zu. Im Einzelfalle wird es darauf ankommen, inwieweit es einer Religionsgemeinschaft gelingt, überzeugend darzulegen, dass sie eine bestimmte Aktivität zum Zwecke ihres friedlichen Funktionierens ausüben müsse.
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(3) Einzelne Bereiche des Selbstbestimmungsrechts Im Folgenden wird versucht, bestimmte Bereiche des Selbstbestimmungsrechts auf europäischer Ebene abzusichern. Vieles ist hier noch unklar; doch inkrementeller Fortschritt ist zu verzeichnen. Die grundrechtlich gewährleistete Autonomie wird schrittweise erkannt und gesichert. Es gibt bereits hinreichend brauchbare Ansätze, auf die zurückgegriffen werden kann, um konkrete Komponenten der Selbstbestimmung gesichert zu beschreiben. Methodisch geschieht dies durch Rückgriff auf die EMRK-Rechtssprechung, insbesondere die der jüngeren Zeit, die Aussagen zu einzelnen Bereichen trifft. Diese Aussagen werden im Sinne des oben herausgearbeiteten funktionalen Ansatzes interpretiert. Durch diese Kombination von Urteilsaussagen mit der vom EGMR selbst autorisierten Auslegungsperspektive soll es gelingen, die Feststellungen des EGMR vom Einzelfall zu abstrahieren, zu verallgemeinern und in begrenztem Rahmen zu erweitern. Der heutige Bestand, aber auch dessen Grenzen und die noch unbeschriebenen Gebiete des europäischen Selbstbestimmungsrechts werden so sichtbar. (a) Personalhoheit und Ämterfreiheit Das Selbstbestimmungsrecht umfasst die Freiheit einer Religionsgemeinschaft, frei selbst zu bestimmen, nach welchen Maßstäben und an welche Kandidaten interne Ämter vergeben werden. Im Bereich des Personalwesens treten die Religionsgemeinschaften als Arbeitgeber auf, wenn sie ihre Mitarbeiter gegen Entgelt beschäftigen, so dass es sich nach EU-Recht um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt. Daher gewinnt hier die Anti-Diskriminierungsgesetzgebung der EU Relevanz, die die Kandidatenauswahl auf Grund des Geschlechts oder der Religion untersagen könnte. Für Religionsgemeinschaften ist aber diese Art der Diskriminierung oftmals von entscheidender Bedeutung, um nach ihren Maßstäben friedlich zu funktionieren. Der EGMR hat festgestellt: „Religiöse Zeremonien haben ihre Bedeutung und ihren heiligen Wert für die Gläubigen, wenn sie von Amtsinhabern vorgenommen werden, die zu diesem Zwecke in Übereinstimmung mit den Regeln [göttlichen Ursprungs] ermächtigt worden sind. Die Persönlichkeit der religiösen Amtsinhaber ist ohne Zweifel von Bedeutung für jedes Mitglied der Gemeinschaft.“416 416 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien); Rn. 62: „Religious ceremonies have their meaning and sacred value for the believers if they have been conducted by ministers empowered for that purpose in compliance with these rules. The personality of the religious ministers is undoubtedly of importance to every member of the community.“ (Übersetzung des Autors).
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Religionsgemeinschaften können also nur dann friedlich funktionieren, wenn die Persönlichkeitsmerkmale ihrer Amtsinhaber in Einklang zu bringen sind mit den in der betreffenden Gemeinschaft wahrgenommenen Regeln göttlichen Ursprungs, denn nur solche Amtsinhaber können als ermächtigt gelten, die religiösen Zeremonien wirksam vorzunehmen. Hinzu kommt, dass eine Religionsgemeinschaft nur friedlich funktionieren kann, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit gegenüber Gläubigen und Dritten wahren kann. Die Glaubwürdigkeit hängt davon ab, ob Persönlichkeitsmerkmale und Verhalten der Mitarbeiter mit den Lehren der Religionsgemeinschaft in Einklang stehen. Die Wahrung der Glaubwürdigkeit hat eine existentielle Bedeutung für eine Religionsgemeinschaft; nichts betrifft mehr das Wesen einer Glaubensgemeinschaft als ihre „Glaub-Würdigkeit“ in den Augen der Anhänger. Daher muss die Wahrung der Glaubwürdigkeit auch bei Personalentscheidungen zum Kern des geschützten Selbstbestimmungsrechts gehören. Der Begriff „Persönlichkeitsmerkmale“ ist hier nicht eng als „Charakterzüge“ zu verstehen, sondern, um dem funktionalen Ansatz gerecht zu werden, umfassend als „Merkmale der Person“. Dies erfasst geistige wie auch körperliche Merkmale: z. B. der religiöse Glaube, das Geschlecht und die sexuelle Ausrichtung des Amtsinhabers. Die bekannten Diskriminierungsszenarien der Kirchen scheinen somit in grundrechtlicher Hinsicht als akzeptabel und geschützt präjudiziert. Ein lutheranischer Pastor kann keinen Anspruch auf eine katholische Pfarrerstelle geltend machen; eine Frau nicht verlangen, von der katholischen Kirche ordiniert zu werden, und ein homosexueller Priester, der in den Augen der Religionsgemeinschaft den aus göttlichem Ursprunge stammenden Regeln nicht genügt, kann ohne Behinderung durch europäisches Anti-Diskriminierungsrecht aus seinem religiösen Amt entfernt werden. Fraglich ist, wie weit der von dieser Personalhoheit erfasste Personenkreis zu ziehen ist. Die zitierte Äußerung des EGMR bezieht sich auf die Ämtervergabe im liturgischen Bereich. Dies wird deutlich am vom EGMR gewählten Wort „minister“ in der englischen Urteilsfassung417, das im englischen einen stärkeren Klang im Sinne von „Priester“ hat als die deutsche Übersetzung „(religiöser) Amtsinhaber“. Vor allem aber ergibt sich der Bezug auf den liturgischen Bereich aus dem Ausdruck „nach den Regeln göttlichen Ursprungs ermächtigt“. Nach den aus göttlichem Ursprunge stammenden Regeln wird ein liturgisches Amt übertragen, aber kein weltlich geprägtes verwaltendes Amt ohne liturgische Funktion. Grundrechtlich gesichert gegen Gleichstellungsbestrebungen der Union ist damit beispielsweise das Verbot der Frauenordination in der katholischen Kirche. Ebenso ist selbstverständlich gewährt, dass die Religionsgemeinschaften solche Ämter 417
Von lat. „munus“ (Amt) bzw. „ministrare“ (ein Amt verwalten).
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nur an ihre eigenen Glaubensangehörigen verleihen müssen, also nach dem Kriterium der Religion diskriminieren dürfen. Fraglich ist aber, inwieweit Ämter grundrechtlich geschützt sind, die nicht im Kernbereich der Liturgie stehen, sondern in deren weiterem Umkreis. Sind „Liturgiehelfer“ ebenfalls erfasst: Diakone (ein Laienamt, zu dem die katholische Kirche nur Männer zulässt), Lektoren, Pfarrreferenten, Gemeindehelfer und Küster (Berufe, die unter die Vorschriften zur Gleichstellung in Arbeitsplatz und Beruf fallen können)? Nach dem soeben dargestellten, heutigen Stand der Grundrechtsentwicklung ist zur Entscheidung dieser Frage darauf abzustellen, ob mit dem Amt die religiöse Ermächtigung zur Ausübung religiöser Zeremonien einhergeht. Ist das der Fall, so ist das Amt vom Schutzbereich des Selbstbestimmungsrechts erfasst. Nicht erforderlich ist, dass die Durchführung liturgischer Funktionen im Zentrum des Amtes steht. Es reicht, dass nach der Auffassung der betreffenden Religionsgemeinschaft mit dem Amt irgendeine Funktion ausgeübt wird, zu der eine religiöse Ermächtigung nötig ist. Hauptberufliche Pfarrreferenten und Gemeindehelfer, denen beispielsweise schwerpunktmäßig die Organisation der gemeindlichen Sozial- oder Jugendarbeit obliegt, unterfallen dem Schutzbereich jedenfalls dann, wenn ihnen auch das Austeilen der Kommunion obliegt, das Austeilen der Krankenkommunion in den Häusern der Gemeindemitglieder, oder die Vorbereitung von Brautpaaren auf den Empfang des katholischen Sakramentes der Ehe. Hier besteht jeweils die erforderliche Beziehung zur Liturgie, die eine religiöse Ermächtigung voraussetzt. Dies wird bestätigt durch den funktionalen Ansatz des Selbstbestimmungsrechts: nur wenn auch die Mitarbeiter mit Aufgaben im weiteren Umkreis der Liturgie (aber mit innerer Beziehung zu dieser) von der Gemeinde als zu ihren Aufgaben ermächtigt angesehen werden können, kann die Gemeinde als religiöse Gemeinschaft friedlich funktionieren. Ferner setzt auch das Lehren und Vermitteln von Glaubensinhalten eine religiöse Ermächtigung voraus; daher sind auch von einer Gemeinde beschäftigte Lehrkräfte für den Religionsunterricht von der grundrechtlich gesicherten Personalhoheit umfasst. Demgegenüber kann kein grundrechtlicher Schutz nachgewiesen werden für Personalangelegenheiten in Berufen, die von den betreffenden Personen für eine Religionsgemeinschaft ohne religiös-theologische Ermächtigung ausgeübt werden. Berufe, die rein weltliche Tätigkeiten ohne religiöse Autorisierung und ohne Übertragung sakraler Befugnisse an den Inhaber umfassen, enthalten keine religiösen Zeremonien, die ihre Bedeutung aus göttlicher Ermächtigung beziehen. Aus der Rechtssprechung des EGMR zu Art. 9 EMRK kann daher keine Betroffenheit des Schutzbereichs des Selbstbestimmungsrechts abgeleitet werden. Die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, die die Auslegung des Art. 10 I EGRC als Rechtserkenntnisquelle beeinflussen, führen ebenfalls zu dem Ergebnis, da nicht in allen
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Mitgliedsstaaten das Personal der „Tendenzbetriebe“ einer so weitgehenden Personalhoheit unterliegt wie in Deutschland und durch die Methode der wertenden Rechtsvergleichung ein so weitgehender Tendenzschutz als gemeinsamer Rechtsgrundsatz nicht hergeleitet werden kann. Art. 4 II der Richtlinie 2000/78/EG erlaubt zwar den Religionsgemeinschaften, ihrerseits bestimmte Formen der Ungleichbehandlung aus Gründen des „Ethos der religiösen Organisation“ für ihre eigenen Zwecke durchzuführen. Dahinter steht auch das Wirken des Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit im EU-Recht. Doch kann diese Ausnahmebestimmung nicht unbesehen zum Maßstab des Umfangs des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes erklärt werden. Sie ist ein Teil des Sekundärrechts, in dem ein grundrechtlicher Grundsatz seinen Ausdruck gefunden hat; sie ist aber nicht die grundrechtliche Bestimmung selbst. Ihr Regelungsbereich kann über den grundrechtlich gebotenen Schutzbereich hinausgehen. Die These, die Ausnahme des Art. 4 II spiegele sekundärrechtlich exakt den Umfang des Schutzbereichs der grundrechtlich gewährten Personalhoheit wider, bedürfte zumindest weiterer Anhaltspunkte. Diese lassen sich jedoch zurzeit nicht finden. Es kann daher nicht gefolgert werden, dass Art. 4 II der RiLi 2000/78/EG den Maßstab der grundrechtlichen Personalhoheit einer Religionsgemeinschaft sekundärrechtlich abbilde. Das bedeutet, dass das Personal der Religionsgemeinschaften, das für seine Aufgaben keiner religiösen Ermächtigung bedarf, nicht vom grundrechtlich gewährleisteten Selbstbestimmungsrecht erfasst ist. Darunter fallen beispielsweise Verwaltungsbeamte und Handwerker, die für Religionsgemeinschaften und kirchliche Einrichtungen arbeiten. Bei Kindergärtnerinnen und Altenpflegern kommt es darauf an, ob ihre Tätigkeit mit einer religiösen Ermächtigung ausgestattet ist, z. B. einem konfessionellen Erziehungsauftrag oder der Befugnis zur Ausübung religiöser Handlungen (z. B. Kommunionausteilen). Vergleicht man diesen Befund mit dem Umfang des Selbstbestimmungsrechts in Personalangelegenheiten, den das deutsche Staatskirchenrecht gewährt, so ist festzustellen, dass das unionsrechtliche Selbstbestimmungsrecht im Umfang hinter dem deutschen zurückbleibt. Das deutsche Selbstbestimmungsrecht erkennt für die beiden großen Kirchen in der Bundesrepublik die Auffassung von der Dienstgemeinschaft an, nach der alle im Dienste der Kirche Beschäftigten gleichwertige Tätigkeiten verrichten. Danach kommt es nicht darauf an, ob der Beschäftigte ein Amtsinhaber ist, der nach Regeln, die aus göttlichem Ursprunge stammen, zu religiösen Handlungen ermächtigt ist. Während im deutschen Selbstbestimmungsrecht die Zugehörigkeit zur Dienstgemeinschaft entscheidend ist, kommt es für das unionsrechtliche Selbstbestimmungsrecht auf die funktionale Nähe zum Kultusbereich an. Das maßgebliche Kriterium für die Frage, ob ein hinreichend enger Bezug der wirtschaftlichen Tätigkeit der entgeltlichen Per-
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sonalbeschäftigung zur inneren, selbstbestimmten Sphäre einer Religionsgemeinschaft besteht, ist das interne Erfordernis einer religiösen Ermächtigung zur Amtsausübung. Ist eine solche Ermächtigung erforderlich, so stehen interne religiöse Maßstäbe so sehr im Vordergrund, dass die (nach EU-Recht) wirtschaftliche Tätigkeit dem autonomen Rechtskreis der Religionsgemeinschaft zugewiesen und der Wirkung des EU-Wirtschaftsrechts weitgehend entzogen wird. Im Bereich der durch das Selbstbestimmungsrecht geschützten Personalhoheit kann es manchmal zu Überschneidungen von kirchlichen und staatlich-weltlichen Entscheidungen kommen418. Dies ist durch Art. 10 I EGRC bzw. Art. 9 EMRK nicht schlechthin verboten. Die Vorschriften gebieten keine laizistische Trennung von Kirche und Staat; sie verbieten keine Staatskirchen; sie gewähren vielmehr den Kirchen das Recht, sich gegen unerwünschte Einmischung des Staates zu verteidigen. Es ist daher unzulässig, dass staatliche Organe gegen den Willen der betroffenen Religionsgemeinschaft einen religiösen Amtsinhaber installieren, entfernen oder ersetzen. Damit geht einher, dass es unzulässig ist, dass staatliche Stellen über die religiöse Legitimation eines religiösen Amtsträgers entscheiden. Ebenso ist es ausgeschlossen, dass staatliche Stellen mit der ihnen zur Verfügung stehenden weltlichen Macht die religiös begründeten internen Entscheidungen einer Religionsgemeinschaft durchsetzen, sich womöglich in innere Streite einmischen und für eine Seite Partei ergreifen. Ein Staat darf demnach auch nicht in Führungsfragen der Religionsgemeinschaft eingreifen oder dafür sorgen, dass sich eine Gemeinschaft unter eine einheitliche Führung begibt. Der EGMR erinnert daran, dass die Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK „jedwedes Ermessen seitens des Staates ausschließt, darüber zu bestimmen, ob religiöse Glaubensinhalte oder die Mittel der Äußerung dieser Glaubensinhalte legitim sind. Staatliches Handeln, das den einen Führer einer geteilten Religionsgemeinschaft bevorzugt, oder das mit dem Zweck unternommen wird, die Gemeinschaft zu zwingen, sich gegen ihre eigenen Wünsche unter einer einheitlichen Führung zu versammeln, würde ebenso einen Eingriff in die Religionsfreiheit darstellen. In demokratischen Gesellschaften braucht der Staat keine Maßnahmen zu treffen, dass Religionsgemeinschaften unter eine vereinte Führung gebracht werden.“419
418 Beispiele sind etwa die staatlichen Ernennungen der moslemischen Muftis durch die zuständigen Behörden in Griechenland gemäß Gesetz Nr. 1929/1991 (vgl. dazu EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX, Rn. 24 ff. (Serif ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 17.10.2002, BNr. 50776/99 & 52912/99, Rn. 37 ff. (Agga ./. Griechenland); die Mitsprache des Staates Luxemburg bei der Besetzung des Amtes des luxemburgischen Erzbischofs; vgl. Pauly, in: Robbers (Hrsg.), Staat und Kirche in Luxemburg, S. 217 f.
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Im Recht der Europäischen Union (und damit im Anwendungsbereich des Art. 10 I EGRC, Art. 51 EGRC) sind solche konkreten Einflussnahmen auf Einzelfälle nicht a priori mangels Kompetenz ausgeschlossen. Zwar besitzt die Union keine Kompetenz für die Mitsprache in religiösen Fragen. Dennoch können die soeben ausgeführten Grundsätze Bedeutung erlangen. So ist es denkbar, dass es bei der Durchführung der Anti-Diskriminierungsgesetzgebung zum Streit zwischen Religionsgemeinschaften und nationalen Behörden, die das EU-Recht durchführen, kommt. Auch EU-Organe können daran beteiligt sein: die Kommission als Hüterin der Verträge kann auf der Einhaltung der Gleichstellungsrichtlinien bestehen. Auch der EuGH kann mit solchen Fällen beschäftigt werden, in denen er über die Durchführung des Unionsrechts vor dem Hintergrund des Art. 10 I EGRC zu entscheiden hat. Die vom EGMR herausgearbeiteten Grundsätze fänden also Anwendung bei der Interpretation des Art. 10 I EGRC in solchen Fällen, in denen Religionsgemeinschaften sich unter Berufung auf Art. 10 I EGRC gegen Eingriffe in ihre Personalhoheit verteidigen würden, die bei der Durchführung des Rechts der Union entstünden. So könnte beispielsweise der Grundsatz, dass es dem Staat nicht zusteht, über die Legitimität religiöser Auffassungen zu entscheiden, zur Verteidigung der religiös begründeten Position einer Religionsgemeinschaft angeführt werden, Frauen nicht zu bestimmten Ämtern zuzulassen, wenn die mit der Durchführung des EU-Anti-Diskriminierungsrechts betrauten Behörden gegen diese Diskriminierung vorgehen wollen. Gleiches gilt bei der Vergabe religiöser Ämter für andere religiös motivierte Auswahlkriterien, die nach staatlichem Recht unzulässig sind. (b) Organisationshoheit Der EGMR weist auch der Organisationshoheit der Religionsgemeinschaften ausdrücklichen Schutz zu: „Wäre das organisatorische Leben der 419 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien), Rn. 78: „[The Court] recalls that, but for very exceptional cases, the right to freedom of religion as guaranteed under the Convention excludes any discretion on the part of the State to determine whether religious beliefs or the means used to express such beliefs are legitimate. State action favoring one leader of a divided religious community or undertaken with the purpose of forcing the community to come together under a single leadership against its own wishes would likewise constitute an interference with freedom of religion. In democratic societies the State does not need to take measures to ensure that religious communities are brought under a unified leadership.“ (Übersetzung des Autors). Ebenso EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 117 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien); EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX, Rn. 52 (Serif ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 17.10.2002, BNr. 50776/99 & 52912/99, Rn. 5 f. (Agga ./. Griechenland).
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[Religions-]Gemeinschaft nicht durch Art. 9 EMRK geschützt, würden alle anderen Aspekte der Religionsfreiheit des Individuums verwundbar“420. Dieser Schutz der Religionsgemeinschaft als Organisation ergibt sich auch aus Art. 10 I EGRC, der im Lichte des Art. 12 EGRC auszulegen ist, wenn es um Aspekte der Vereinigungsfreiheit geht421. Fraglich ist wiederum, in welchem Umfang die Organisationshoheit gewährt wird. Religionsgemeinschaften unterscheiden sich nach ihrem Selbstverständnis in Bezug auf ihre Organisationsstruktur von anderen Vereinigungen: während weltliche Vereinigungen sich nach säkularen Erwägungen organisieren, insbesondere nach den Vorgaben der weltlichen Rechtsordnung und nach Zweckmäßigkeitserwägungen, stehen bei religiösen Vereinigungen oft theologische Vorgaben hinter ihrer Organisation. Religiöse Vereinigungen sind typischerweise nicht auf die Meinungsbildung ihrer Mitglieder ausgerichtet, sondern auf Empfang und Verständnis eines göttlichen Willens oder einer transzendenten Lehre. Daher sind die weltliche Vereinigungsfreiheit und die einfachgesetzlichen Normen, die die Organisation von Vereinen und anderen Verbänden regeln, nur bedingt für Religionsgemeinschaften geeignet. Zumindest besteht die Gefahr, dass die spezifischen religiösen Belange nicht zum Tragen kommen422. Die EMRK trägt dem Rechnung, indem sie die Vereinigungsfreiheit von Religionsgemeinschaften primär aus Art. 9 EMRK herleitet, der im Lichte des Art. 11 EMRK ausgelegt wird. Somit bleibt der spezifisch religionsrechtliche Ansatz und Inhalt des Rechts gewahrt. Das Recht der religiösen Vereinigung muss unter dem funktionalen Ansatz des Selbstbestimmungsrechts betrachtet werden, der gebietet, dass die Religionsgemeinschaft ihre Organisation so gestalten kann, dass sie nach ihrer eigenen Auffassung friedlich funktioniert. Religionsgemeinschaften dürfen ihre Organisationsstruktur ausrichten an dem Zwecke, Erkenntnis, Verständnis und Ausleben des göttlichen Willens, so wie sie ihn wahrnehmen, zu ermöglichen. Der Staat kann daher nicht verlangen, dass eine Religionsgemeinschaft sich eine bestimmte Organisationsform gibt oder sich unter eine von ihm vorgegebene Führungsstruktur begibt423. Das bedeutet, dass Art. 10 I EGRC i. V. m. Art. 12 EGRC garantiert, dass es staatlicherseits keine Begrenzung auf Organisationsstrukturen gibt, die eine demokratisch legitimierte interne Willensbildung oder die Repräsentation des Mitglieder420 „Were the organisational life of the community not protected by Article 9 of the Convention, all other aspects of the individual’s freedom of religion would become vulnerable.“ (Rn. 62; Übersetzung des Autors). 421 s. o. Kap. C.III.5.a)(4). 422 s. o. Kap. C.III.5.a)(4). 423 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien), Rn. 78; EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 117 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien).
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willens sichern. Eine demokratische interne Organisation kann dem theologischen Selbstverständnis einer Gemeinschaft geradezu widersprechen. Ein Grundrecht, das dieses geböte, wäre für die Religionsgemeinschaft kein Freiheitsrecht. Gerade in der Zulassung auch undemokratisch organisierter Religionsgemeinschaften zeigt sich der „Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft“424: die Gesellschaft ist deswegen pluralistisch-demokratisch, weil sie auch undemokratisch verfasste Religionsgemeinschaften zulässt. Die religiöse Organisationshoheit lässt sich daher letztlich auch mit den Grundsätzen der Freiheit und der Demokratie (Art. 6 I EUV; Art. I-2 VVE) begründen. Die durch Art. 10 I EGRC i. V. m. Art. 12 EGRC gewährte Organisationshoheit muss daher weitgehend sein. Die berechtigten und wesentlichen Interessen des Staates an der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit, die ein gewisses Maß an Transparenz und Überwachung der Religionsgemeinschaften erfordern können, sind über die Schranken des Grundrechts zu wahren425. Ebenso ist ein Konflikt zwischen korporativem Grundrecht und individuellem Grundrecht durch Herstellen praktischer Konkordanz auf Rechtfertigungsebene zu lösen. (c) Mission und Lehrtätigkeit Die Manifestation der Religion durch „Unterricht“ wird im beschriebenen Bereich des Art. 10 I S. 2 EGRC erwähnt. Die Vermittlung von Glaubensinhalten in Mission und Lehrveranstaltungen ist dem primären Bereich der inneren Angelegenheiten zuzuweisen. Glaubensinhalte werden vollumfänglich von der Religionsfreiheit umfasst; eine Regelungskompetenz der Union besteht nicht. In der Organisation der Mission und Lehrtätigkeit ergeben sich jedoch Bezüge zur Personal- und Organisationshoheit. Hier kann es zu Berührungspunkten mit der Grundfreiheit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem Nichtdiskriminierungsrecht der EU kommen. Wie bereits ausgeführt, setzt sich die Religionsfreiheit in diesem Bereich der inneren Angelegenheiten gegen kollidierendes Unionsrecht durch. Um dem primären Bereich zugewiesen zu werden, muss die Lehrtätigkeit die Inhalte des religiösen Ethos vermitteln.
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EGMR, Entscheidung vom 25.5.1993, Serie A-260-A, S. 17, Rn. 37 (Kokkinakis ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 118 (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 425 s. u. Kap. C.III.5.f).
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(d) Rechtspersönlichkeit und Registrierung Der funktionale Ansatz gebietet es, dass Religionsgemeinschaften die Möglichkeit eingeräumt wird, Rechtspersönlichkeit zu erlangen. Die Erlangung der Rechtspersönlichkeit kann eine Voraussetzung dafür sein, dass eine Religionsgemeinschaft friedlich funktionieren kann. Erst die Befähigung, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, ermöglicht einer Religionsgemeinschaft, als Korporation den Schritt aus der rein religiösen Sphäre in die weltliche Sphäre des staatlich-gesellschaftlichen Lebens zu tun. Diese Teilnahme am gesellschaftlichen Leben außerhalb der eigenen Sphäre kann gleichzeitig eine dienende und sinnerfüllende Funktion haben. Die dienende Funktion zeigt sich, wenn eine Gemeinschaft Sachmittel für ihren Bedarf erwirbt, Räume für Gottesdienste mietet, etc., sich also die faktischen Voraussetzungen schafft, ihren Glauben zu praktizieren. Die sinnerfüllende Funktion verwirklicht sich, wenn eine Gemeinschaft in Erfüllung ihres internen Missionsauftrages Veranstaltungssäle bucht, Schriften verkauft oder die Genehmigung für eine Prozession beantragt. Hier ergeben sich leicht Berührungspunkte mit dem EU-Recht: durch die Rechtspersönlichkeit können Religionsgemeinschaften zu Arbeitgebern werden und von Rechtsakten betroffen sein, die sich aus dem Anti-Diskriminierungsrecht der EU ableiten. Die Aufsicht über die Anwendung und Einhaltung religiöser Schlachtriten kann den Religionsgemeinschaften übertragen werden (Art. 2, 5 Richtlinie 1993/119/EG vom 22.12.1993 über den Schutz von Tieren zum Zeitpunkt der Schlachtung oder Tötung)426. Wegen möglicher Konflikte kann es für Religionsgemeinschaften relevant werden, als Partei Zugang zum Europäischen Gerichtshof zu erlangen. Dies verdeutlicht, dass auch unter dem Blickwinkel des Europäischen Rechts das Recht auf die Erlangung der Rechtspersönlichkeit gewährleistet sein muss, wenn das Funktionieren der Religionsgemeinschaft gesichert sein soll. Der EGMR hat bestätigt, dass die Möglichkeit einer Religionsgemeinschaft, am weltlichen Rechtsleben teilzunehmen, ein unabdingbares Mittel darstellt, ihre Religion zu manifestieren. Damit gehört die Möglichkeit, die Rechtspersönlichkeit zu erlangen, zum Schutzbereich des Art. 9 EMRK: eines der Mittel, das Recht auszuüben, seine Religion zu bekennen, ist die Möglichkeit, gerade für eine Religionsgemeinschaft, sich juristischen Schutz zu sichern, und zwar für die Gemeinschaft selbst, ihre Mitglieder und ihr Vermögen427. Beachtenswert ist hier auch, dass der EGMR ausdrücklich un426
s. o. Kap. C.III.5.a)(7). EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien), Rn. 118: „[. . .] one of the means of exercising the right to manifest one’s religion, especially for a religious community, in its collective dimension, is the possibility of ensuring judicial protection of the commun427
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terscheidet zwischen dem juristischen Schutz für die Gemeinschaft und dem für ihre Mitglieder. Hier wird die selbständige korporative Dimension der Religionsfreiheit noch einmal hervorgehoben. Begründet wird der Zugang zum Rechtsschutz durch die Auslegung des Art. 9 EMRK im Lichte des Art. 6 EMRK. Dies zeigt wiederum, dass zentraler Anknüpfungspunkt des Grundrechts der korporativen Religionsfreiheit der Art. 9 EMRK (bzw. Art. 10 I EGRC) ist, der im Auslegungswege um weitere Aspekte aus anderen Grundrechten angereichert wird. Religionsgemeinschaften müssen sich nicht, wie weltliche Vereinigungen, auf den „religionsblinden“ Art. 6 EMRK allein berufen; Art. 9 EMRK bietet ihnen ein spezielles korporatives Freiheitsrecht (was besondere Bedeutung im Bereiche der Schrankenregelung entwickeln kann)428. Diesem Ansatz des EGMR steht die gemeinsame Verfassungsüberlieferung der Mitgliedsstaaten der EU nicht entgegen. Zwar gewähren manche laizistische Mitgliedsstaaten den Religionsgemeinschaften nicht unmittelbar den Körperschaftsstatus, doch kennen diese dann gleichwertige Hilfskonstruktionen, wie z. B. Kultusvereine. Die Rechtspersönlichkeit wird den Religionsgemeinschaften nach Maßgabe des jeweils einschlägigen nationalen Rechts vermittelt. Bezüglich der konkreten Ausgestaltung macht das Recht der EU keine Vorgaben. Ob die Religionsgemeinschaft eine öffentliche oder private Rechtsform bekommen kann, ist aus europäischer Sicht unerheblich, wenn der grundrechtlich gebotene Schutzstandard gewährleistet werden kann. Daher reicht es unter dieser Prämisse auch aus, wenn eine Religionsgemeinschaft den Rechtsschutz und die Teilnahme am Rechtsleben nicht dadurch erlangt, dass der Staat ihr unmittelbar die Rechtspersönlichkeit zuerkennt, sondern diese einer zweiten Organisation, etwa einem Kultusverein, gewährt, der als „weltlicher Arm“ der Religionsgemeinschaft agiert. Entscheidend ist, ob damit die rechtlichen Interessen der Religionsgemeinschaft im grundrechtlich gebotenen Maße gesichert sind und sie somit friedlich funktionieren kann. Von der entgegengesetzten Seite stellt sich das Problem, wenn Religionsgemeinschaften gezwungen würden, sich registrieren zu lassen. Auch die negative korporative Religionsfreiheit wird von Art. 10 I EGRC gewährleistet und wirkt sich auf das Selbstbestimmungsrecht aus. Eine Registrierungspflicht besteht, wenn Religionsgemeinschaften sich bei staatlichen Stellen anmelden und einen Hoheitsakt beantragen müssen, der ihnen erst erlaubt, ity, its members and its assets, so that Article 9 must be seen not only in the light of Article 11, but also in the light of Article 6.“; vgl. auch EGMR, Urteil vom 10.7.1998, Reports 1998-IV, Rn. 40 (Sidiropoulos et al. ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 16.12.1997, Reports 1997-VIII, Rn. 33, 4 f. (Katholische Kirche von Canea ./. Griechenland). 428 Vgl. dazu zum Verhältnis von Art. 9 EMRK zu Art. 11 EMRK oben Kap. C.III.5.a)(4).
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ihre Religion öffentlich zu praktizieren. Die EMRK und das Unionsrecht verbieten eine solche Registrierungspflicht nicht schlechthin. Der EGMR hat offen gelassen, ob eine formelle Registrierungspflicht per se gegen das Grundrecht der Religionsfreiheit verstößt429; er hat jedoch angedeutet, dass eine routinemäßig durchgeführte Pflichtregistrierung keine Verletzung des Grundrechts darstellt, wenn sie sich einer inhaltlichen Bewertung der Religion enthält430. Ist die verpflichtende Registrierung also bloß eine formalrechtliche Prozedur, auf deren Durchführung ein Anspruch besteht, so dürfte dies mit Art. 10 I EGRC vereinbar sein. Die Grenze der Unbedenklichkeit muss dort gezogen werden, wo staatliche Willkür bei der Entscheidung darüber droht, ob, wer, wie und wann registriert wird und somit in den Genuss der Privilegien des Registrationsaktes kommt. Das Willkürverbot und das Gebot der Neutralität (Art. 21 EGRC) verbieten, dass bei der Entscheidung über die Registrierung eine inhaltliche Bewertung der Glaubensgemeinschaft eine Rolle spielt. (e) Eigentumsrecht, Vermögens- und Finanzhoheit Das Recht, Eigentum zu haben und nach eigenem Willen zu verwalten, ergibt sich bereits als Rechtsfolge aus der Erlangung der Rechtspersönlichkeit. Die Verwendung und Verwaltung des Vermögens dient in Religionsgemeinschaften oft der Verwirklichung religiös motivierter Ziele und erlangt dadurch den Charakter des Bekennens und Ausübens der Religion. Da der Einsatz von Eigentum und Vermögen also religiös geboten sein kann, muss das Recht einer Glaubensgemeinschaft, Eigentum zu haben und nach eigenen Maßstäben zu verwenden, aus Art. 10 I EGRC hergeleitet werden können. Damit ist in den Fällen, in denen der Staat in Eigentum und Vermögen einer Religionsgemeinschaft eingreift, der Schutzbereich der Religionsfreiheit betroffen. Der Sachverhalt ist dann nicht nur unter dem Aspekt des Eigentumsrechts zu prüfen, sondern wiederum unter der Zentralnorm des Art. 10 I EGRC i. V. m. Art. 17 EGRC. Der funktionale Ansatz des Art. 10 I EGRC, der der Religionsgemeinschaft ihr Funktionieren garantiert, gebietet dann, dass zu unterscheiden ist zwischen (a) Vermögen, das im sakralen Bereich verwendet wird, beispielsweise liturgische Geräte oder 429
EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien), Rn. 77: „The Court does not deem it necessary to decide in abstracto whether acts of formal registration of religious communities and changes in their leadership constitute an interference with the rights protected by Article 9 of the Convention.“ 430 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, Reports 2000-XI, (Hasan und Chaush ./. Bulgarien), Rn. 82: „[. . .] the refusal [. . .] to recognise the existence of the organisation [. . .] were more than acts of routine registration [. . .].“
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Räume für den Gottesdienst, (b) solchem, das in weltlicher Weise zur Erfüllung des religiösen Auftrages eingesetzt wird, z. B. ein Krankenhaus oder Missionsliteratur, und schließlich (c) solchem, das von der Religionsgemeinschaft ohne spezifischen Bezug zur Religionsausübung verwaltet wird. Das zur ersten Kategorie gehörige Vermögen fällt in besonderer Weise unter den Schutz des Art. 10 I EGRC, wenn es von der Durchführung von EU-Sekundärrecht betroffen wird. Solche oft liturgisch genutzten Sachmittel sind religiös betrachtet auch nicht durch wirtschaftlich-funktional gleichwertige Mittel ersetzbar, da sie einen sakralen, transzendenten Charakter aufweisen, aus dem sie eine einzigartige Bedeutung beziehen, und der sie der Beurteilung mit wirtschaftlichen Kriterien entzieht. Vermögen, das in die zweite Kategorie fällt, beispielsweise Sachmittel, die zur religiös motivierten Krankenpflege eingesetzt werden oder zur Missionsarbeit, unterfällt ebenfalls dem Schutz des Art. 10 I EGRC, unterliegt aber in stärkerem Maße dem weltlichen Eingriffsmaßstab des Art. 17 EGRC, da nicht dieses Vermögen seinem Wesen nach religiös ist, sondern der Zweck, dessen Ausübung es dient. Durch einen Eingriff wird aber die Religionsausübung nicht unmöglich, sondern es steht nur ein bestimmtes Sachmittel nicht mehr dazu zur Verfügung. Vermögen, das ohne spezifischen Bezug zur Religion verwaltet wird, ist solches, das der rein weltlichen Geschäftsführung und der Finanzierung der Gemeinschaft dient. Auch hier ist ein allgemeiner Bezug zur Religionsausübung nicht ausgeschlossen, weil durch einen erwirtschafteten Gewinn etwa religiöse Aktivitäten (quer-)finanziert werden können. Doch besteht kein innerer Bezug zwischen der Verwaltung dieser Mittel und den Glaubenssätzen der Gemeinschaft. Daher betrifft ein Eingriff in dieses Vermögen die Religionsfreiheit erst, wenn er in die religiöse Sphäre der Gemeinschaft durchschlägt. Das ist der Fall, wenn religiöse Aktivitäten behindert werden oder der Gemeinschaft die nötigen finanziellen Grundlagen entzogen werden431.
431 Vermögen der Religionsgemeinschaften, insbesondere das der zweiten und dritten Kategorie, kann in Zukunft auch mittelbar durch EU-Recht und durch dessen Durchführung in den Mitgliedsstaaten betroffen sein. Die der EU aufgegebene Verwirklichung des Binnenmarktes führt zu Liberalisierungsbestrebungen in bisher nicht wirtschaftlich geordneten Sektoren. In Zukunft wird davon auch der Kulturund Sozialbereich erfasst werden (vgl. die Ankündigung einer Mitteilung der EUKommission zu den sozialen Dienstleistungen in der EU für das Jahr 2005, im Weißbuch zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse, KOM (2004) 374 endg., Rn. 4.4).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
(4) Zwischenergebnis Aus Art. 10 I EGRC bzw. Art. 9 I EMRK kann die Existenz eines Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften hergeleitet werden. Dessen Umfang ist noch nicht präzise bestimmt; man nähert sich ihm mittels eines funktionalen Ansatzes, den der EGMR mit den Worten umrissen hat, die korporative Religionsfreiheit gewähre das friedliche Funktionieren der Religionsgemeinschaft frei von willkürlichen staatlichen Eingriffen. Die Garantie des friedlichen Funktionierens beschreibt den Kerngehalt religionsgemeinschaftlichen Lebens: die autonome Gestaltung des internen Lebensentwurfes der Gemeinschaft gemäß ihren als verbindlich verstandenen religiösen Vorgaben. Damit wird den Religionsgemeinschaften aus Art. 10 I EGRC das korporative Recht gewährt, einen Raum autonomer Selbstbestimmung für innere Angelegenheiten zu konstruieren. Dieser Raum umfasst nicht-wirtschaftliche, aber auch (nach EU-Recht) wirtschaftliche Tätigkeiten. Von den wirtschaftlichen Tätigkeiten können solche binnengerichteten Angelegenheiten umfasst sein, die für das interne Funktionieren der Religionsgemeinschaft erforderlich sind. Aus dem Selbstbestimmungsrecht ergibt sich das Recht einer Religionsgemeinschaft, darzulegen, welche inneren Angelegenheiten einer autonomen Selbstverwaltung bedürfen, damit das friedliche Funktionieren nach eigenen Maßstäben gewährleistet ist. Aus der EMRK-Rechtssprechung ist derzeit ableitbar, dass Aspekte der Personal-, Organisations- und Vermögenshoheit erfasst sind. Die Personalhoheit ist auf Bereiche bezogen, die nach den Regeln der betreffenden Religionsgemeinschaft für die Amtsinhaber eine religiöse Ermächtigung verlangen. Das Erfordernis einer religiösen Ermächtigung ist demnach das maßgebliche Kriterium zur Entscheidung der Frage, ob die (nach EU-Recht) wirtschaftliche Aktivität der entgeltlichen Personalbeschäftigung dem autonomen Selbstbestimmungsrecht einer Religionsgemeinschaft zugewiesen und damit dem EU-Wirtschaftsrecht weitgehend entzogen wird. f) Schranken der korporativen Religionsfreiheit Art. 10 I EGRC gewährleistet die korporative Religionsfreiheit im Rahmen der vorgesehenen Schranken. Hier kann im Wesentlichen auf die Ausführungen zur Schrankenregelung der individuellen Religionsfreiheit verwiesen werden; sodann sind Besonderheiten der korporativen Religionsfreiheit darzustellen.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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(1) Parallelen zur individuellen Religionsfreiheit Bezüglich der Konstruktion der Schrankensystematik kann hier auf die Ausführungen zur individuellen Religionsfreiheit verwiesen werden432. Die Frage, ob auch die Gedanken- und Gewissensfreiheit von der Schranke erfasst wird, stellt sich bei der korporativen Religionsfreiheit nicht, da nur natürliche Personen über Gedanken und ein Gewissen verfügen433. Es gilt die horizontale Schrankenregelung des Art. 52 EGRC. Da sich die Religionsfreiheit der EGRC und die der EMRK im Sinne des Art. 52 III EGRC entsprechen, gilt für die korporative Religionsfreiheit als Schranke gemäß Art. 10 I, 52 III EGRC i. V. m. Art. 9 II EMRK: „Die Freiheit, seine Religion und Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Auch für die Auslegung und Bedeutung der Schranke kann weitgehend auf die Ausführungen zur individuellen Religionsfreiheit verwiesen werden. Die korporative Religionsfreiheit – einschließlich des Selbstbestimmungsrechts – kann somit zweckgebunden zum Schutze der Rechtsgüter der öffentlichen Sicherheit, der öffentlichen Ordnung, Gesundheit und öffentlichen Moral eingeschränkt werden, wie auch zum Schutze der Rechte und Freiheiten Dritter. Es handelt sich um einen qualifizierten Schrankenvorbehalt, da die Schranke gesetzlich vorgesehen sein muss434. (2) Die Schutzgüter des Art. 9 II EMRK im Rahmen der korporativen Religionsfreiheit (a) Öffentliche Sicherheit Diese Schranke erkennt an, dass die Freiheit, seine Religion zu bekennen, eingeschränkt werden darf, um Gefahren für die objektive Rechtsordnung und Individualrechtsgüter zu begegnen435. Ein Konfliktpotential zwischen korporativer Religionsfreiheit und öffentlicher Sicherheit in der EU deutet sich insbesondere mit Blick auf Religionsgemeinschaften an, die in fundamentalistischer Tendenz religiöse und 432 433 434 435
s. o. s. o. s. o. s. o.
Kap. Kap. Kap. Kap.
C.III.4.b). C.III.5.d)(1). C.III.4.b)(4)(a). C.III.4.b)(4)(b).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
politische Ziele miteinander verquicken. Solche Organisationen operieren in Europa grenzüberschreitend und sind damit von der Zuständigkeit der EU in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Polizei- und Sicherheitsfragen erfasst. Die Grundrechte der Union gelten selbstverständlich im Rahmen ihrer Kompetenzen auch für die Zusammenarbeit in Belangen des Inneren und der Justiz436. Die erforderlichen polizeirechtlichen Instrumente für diese Zuständigkeit werden auf EU-Ebene geschaffen werden müssen, um bei grenzüberschreitenden Gefahrenlagen europaweit gleichermaßen die öffentliche Sicherheit gewährleisten zu können. Zu Art. 9 II EMRK hat bislang der EGMR entschieden, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung die Stabilität und Unabhängigkeit eines Staates und seinen inneren Frieden umfasst. Ein Staat darf dazu überprüfen, ob eine Religionsgemeinschaft unter dem Deckmantel religiöser Ziele (verfassungsfeindliche) Aktivitäten durchführt, die diese Schutzgüter gefährden437. In der Übertragung auf Art. 10 I EGRC bedeutet dies, dass die EU Einschränkungen der Religionsfreiheit vornehmen darf, um bei grenzüberschreitenden Gefahren ihre Stabilität und ihren inneren Frieden zu schützen. Die mögliche Weite dieser Schutzgutsdefinition (allgemeine Erwägungen der Staatsräson) wird in der betreffenden Entscheidung des EGMR durch die Schranken-Schranke der Erforderlichkeit in einer demokratischen Gesellschaft aufgefangen. Problematisch ist, dass die korporative Religionsausübung in den verschiedenen Regionen der Europäischen Union sehr unterschiedliche Gefährdungspotentiale für die öffentliche Sicherheit und Ordnung birgt. Das öffentliche Bekenntnis der Religion durch Religionsgemeinschaften in Nordirland kann dort zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen. In Griechenland und den südosteuropäischen Staaten, denen mittelfristig eine EUMitgliedschaft in Aussicht gestellt worden ist (Bulgarien, Rumänien, Türkei), stellt sich die Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung bei religiösen Prozessionen und religiösen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit ganz anders dar als etwa in Bayern in Mitteleuropa. Die Lebensverhältnisse und kulturellen Bedingungen in der (erweiterten) EU sind sehr verschieden; dementsprechend unterschiedlich ist das Konfliktpotential der Religionsausübung. Dadurch widersetzt sich das Konfliktpotential einem einheitlichen Ausgleich zwischen den Interessen der organisierten Religionsausübung und denen der öffentlichen Sicherheit, der überall gleichermaßen funktioniert. Die hier entstehenden Konflikte können durchaus die europarechtliche Religionsfreiheit betreffen, wenn sie bei der Durchführung europäischen Rechts in den Mitgliedsstaaten (Art. 51 EGRC) auftreten. Ausgleichsmechanismen, 436
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 55. EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 111 ff. (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 437
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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die ihrem Zweck gerecht werden sollen und überall inneren Frieden bei der Religionsausübung gewährleisten sollen, dürften europaweit einem großen Spannungsbogen ausgesetzt sein. Die praktische Konkordanz, die der EuGH in einer Rechtssache mit einem bestimmten regionalen Hintergrund herzustellen vermag, mag auf juristisch ähnlich gelagerte Fälle anderer geographischer Herkunft kaum übertragbar sein; dennoch ist der EuGH gemäß Art. 220 EGV bzw. Art. I-29 I VVE der Aufgabe verpflichtet, die Einheitlichkeit der Rechtssprechung sicherzustellen. Dies zeigt, dass die korporative Religionsfreiheit in einer erweiterten und rechtlich vertieften Union keineswegs ein konfliktarmes Grundrecht sein dürfte. Der EuGH hat sich in seinen Entscheidungen mit Religionsbezug noch nicht zur Schranke der öffentlichen Sicherheit geäußert. (b) Öffentliche Ordnung Hier kann auf die Ausführungen im Rahmen der individuellen Religionsfreiheit Bezug genommen werden438. In den dort erwähnten Entscheidungen hat der EGMR befunden, dass die öffentliche Ordnung betroffen war, als es innerhalb einer Religionsgemeinschaft zum Streit über die rechtmäßige Inhaberschaft von Ämtern kam, die mit rechtlichen Befugnissen verbunden sind, die auch staatliche Relevanz haben439. Die öffentliche Ordnung umfasst daher die Verlässlichkeit von Rechtsakten, die durch Religionsgemeinschaften vorgenommen werden und im weltlichen Bereich Rechtsfolgen auslösen. Die Betroffenheit des Art. 10 I EGRC würde allerdings voraussetzen, dass Religionsgemeinschaften mit der Durchführung von EU-Recht betraut sind, so wie sie in manchen Mitgliedsstaaten mit der Durchführung nationalen Rechts betraut sind. Dies ist zurzeit nicht ersichtlich. Auch der innere und soziale Friede ist als Bestandteil des Schutzgutes der öffentlichen Ordnung anerkannt worden440. Religionsgemeinschaften bekennen ihre Religion typischerweise durch die Organisation von religiösen Veranstaltungen wie Gottesdiensten, Prozessionen etc. Diese können große Mengen von Gläubigen anziehen, so dass durch die Größe der Veranstaltung die öffentliche Ordnung in Gefahr gerät. Laut EGMR-Rechtssprechung darf in solchen Fällen in die Religionsfreiheit 438
s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(c). EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX, Rn. 24 ff. (Serif ./. Griechenland); EGMR, Urteil vom 17.10.2002, BNr. 50776/99 & 52912/99, Rn. 37 ff. (Agga ./. Griechenland). 440 EGMR, Urteil vom 13.12.2001, Reports 2001-XII, Rn. 111 ff. (Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien). 439
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
eingegriffen werden441. Solche Fälle können in der EU auch grenzüberschreitenden Charakter aufweisen. Zulässig ist laut EGMR auch ein Genehmigungsvorbehalt für die Errichtung von religiösen Gebäuden, um etwaige, von diesen ausgehende Gefahren für die öffentliche Ordnung abwägen zu können442. (c) Öffentliche Gesundheit Hier ist auf die bei der individuellen Religionsfreiheit gemachten Ausführungen zu verweisen443. (d) Öffentliche Moral Hier ist auf die bei der individuellen Religionsfreiheit gemachten Ausführungen zu verweisen444. Zu berücksichtigen ist insbesondere die Problematik der sehr unterschiedlichen Lebensverhältnisse und kulturellen Gegebenheiten in Europa, die bereits bei der öffentlichen Sicherheit angesprochen wurde445. (e) Rechte und Freiheiten anderer Auch hier gelten die bei der individuellen Religionsfreiheit gemachten Ausführungen446. Eigenständiges Gewicht erhält hier allerdings die Problematik des Verhältnisses der korporativen Religionsfreiheit zu den Grundfreiheiten. Dies wird daher in einem gesonderten Abschnitt der Prüfung untersucht447. (3) Das Problem der fehlenden europaweit gültigen Beurteilungsmaßstäbe Das Herstellen praktischer Konkordanz zwischen dem Grundrecht der Religionsfreiheit und den mit den Eingriffszielen geschützten Rechtsgütern 441
EKMR, BNr. 20490/92, DR 76A (1994), S. 41 ff. (ISKCON et al. ./. Vereinigtes Königreich). 442 EGMR, Urteil vom 26.9.1996, Reports 1996-IV, S. 1347, 1362 (Manoussakis et al. ./. Griechenland). 443 s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(d). 444 s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(e). 445 s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(b). 446 s. o. Kap. C.III.4.b)(4)(f). 447 s. u. Kap. C.III.5.g).
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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steht vor dem Problem, dass das Konfliktpotential bei der Ausübung der Religionsfreiheit in den verschiedenen Regionen Europas sehr unterschiedlich ist. Dies wurde oben besonders deutlich bei dem Schutzgut der öffentlichen Sicherheit, die durch religiöse Veranstaltungen wie etwa Prozessionen in Nordirland sehr viel stärker gefährdet ist als in Mitteleuropa. Auch ein europaweit einheitlicher oder ähnlicher Moralbegriff hat sich bis heute nicht herausgebildet; nach der Osterweiterung dürften die Moralvorstellungen innerhalb der EU eher wieder weiter divergieren. Entsprechendes gilt für die anderen Eingriffsziele. Damit wird es auf absehbare Zeit unmöglich, europaweit einheitliche Maßstäbe für das Herstellen der praktischen Konkordanz aufzustellen. Das bedeutet praktisch, dass die Lösung, die der EuGH für einen aus Nordirland stammenden Fall gefunden haben mag, nicht oder nur eingeschränkt übertragbar sein wird auf religiöse Konfliktlagen etwa aus Mittel- oder Südosteuropa. Unter dem Blickwinkel der Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes aller EU-Bürger durch die europäische Grundrechtecharta ist dies ein bedenklicher Zustand. Fraglich ist, ob und wie diesem Problem abgeholfen werden kann. Die EMRK, die vor einem ähnlich gelagerten Problem steht, hat dazu die Lehre vom Beurteilungsspielraum (margin of appreciation/marge d’appréciation) entwickelt448. Der Beurteilungsspielraum ist ein Instrument, mit dem die EMRK-Grundrechte länderspezifisch so ausgelegt werden können, wie die rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten des Konventionsstaates es erfordern. Diese Lösung führt nicht zu einem einheitlichen Beurteilungsmaßstab, sondern entlastet den Spannungsbogen, unter dem die Grundrechtssprechung zur EMRK steht, indem lokale Freiräume gewährt und akzeptiert werden. Fraglich ist, ob diese Lösung auch für die Auslegung der EUGrundrechte in Betracht kommt. Rechtstechnisch ist dies denkbar: Art. 52 III EGRC ordnet an, dass den in der EGRC gewährten Grundrechten, wenn sie den in der EMRK gewährleisteten Grundrechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite zukommt wie jenen. Dies ist wie gezeigt für die Religionsfreiheit der Fall449. Dieser Verweis schließt die in der Rechtssprechung zur EMRK entwickelten Lehren und damit auch die Lehre vom Beurteilungsspielraum ein450. Dagegen wird die Auffassung vertreten, dass ein Beurteilungsspielraum auf die Schrankenebene der EU-Grundrechte nicht übertragbar sei451. Diese Meinung wird damit begründet, dass die Grundrechte der EGRC nicht an lose verbundene Konventionsstaaten, sondern entweder an die Organe der EU oder an die EU-Mitgliedsstaaten 448 449 450 451
Blum, S. 120 ff. m. w. N.; Evans, S. 142 ff. m. w. N. s. o. Kap. C.III.4.b)(2). Vgl. auch die Erläuterung des Präsidiums zu Art. 52 EGRC. Mückl, Religionsfreiheit, S. 44.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
adressiert seien. Nähme man einen Beurteilungsspielraum an, so würde dies im ersten Falle dazu führen, dass die Grundrechte der Unionsbürger gegenüber den Unionsorganen ungebührlich eingeschränkt würden; im zweiten Falle müsste die einheitliche Anwendung und Durchsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedsstaaten Schaden nehmen. Dennoch spricht die Regelung, mit der der Verfassungsvertrag das Verhältnis von EMRK und Unionsgrundrechten ausgestaltet hat, für einen Beurteilungsspielraum bei den Unionsgrundrechten. Zwar ist die EGRC Teil einer autonomen Rechtsordnung; sie verweist aber als solche auf die EMRK. Der Verweis des Art. 52 III EGRC vermittelt den Unionsgrundrechten, die den in der EMRK gewährleisteten Grundrechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite. Da mit diesem Verweis sowohl Schutzbereich als auch Schrankenregelung der EMRK-Grundrechte gemeint sind452, ist auch die Lehre vom Beurteilungsspielraum als Teil der Schrankenkonzeption umfasst. Die Erläuterungen zu Art. 52 III EGRC verweisen als Auslegungshilfen ebenfalls auf die EMRK-Rechtssprechung, die die Lehre vom Beurteilungsspielraum entwickelt hat. Gegen die Anwendung eines Beurteilungsspielraums spricht die einheitliche Anwendung und Durchführung des Unionsrechts. Die Anwendung eines Beurteilungsspielraums ist für die EGRC auch nicht zwingend geboten. Das Recht der Union kann gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC einen weitergehenden Schutz als die EMRK gewähren. Über diese Vorschrift besteht die Möglichkeit, dass die Lehre vom Beurteilungsspielraum eingeschränkt wird, denn durch eine Einschränkung würde die Rechtssicherheit des Grundrechtsschutzes erhöht. Deshalb und wegen der anzustrebenden Einheitlichkeit des Grundrechtsschutzes im Recht der EU sollte von der Lehre vom Beurteilungsspielraum so restriktiv wie im Einzelfalle möglich Gebrauch gemacht werden. Die Ansicht, die einen Beurteilungsspielraum bei den EU-Grundrechten ablehnt, kann daher insgesamt nur teilweise überzeugen. Gewisse Beurteilungsspielräume sind bei der EU-Grundrechtsauslegung unvermeidlich, da die kulturellen Gegebenheiten in der EU divergieren. Das Primärziel der (Grund-)Rechtssprechung ist es, Rechtsfrieden durch gerechte, ausgewogene und den Verhältnissen angemessene Entscheidungen herzustellen. Demgegenüber ist die Einheitlichkeit der Rechtssprechung ein Sekundärziel, das dem Erreichen dieses obersten Zieles dienen soll. Steht die Einheitlichkeit also der ausgewogenen Lösung eines Konfliktes entgegen, weil sie die konkreten Verhältnisse nicht berücksichtigt, so erweist sie sich als kontraproduktiv für den Rechtsfrieden und muss zurücktreten. In einem solchen Falle 452
s. o. Kap. C.III.4.b)(2).
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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ist es sinnvoller, Abstriche an der Einheitlichkeit der Rechtssprechung zu machen als Abstriche an der Friedensfunktion und Akzeptanz der Rechtssprechung. Dass die Auslegung europäischen Rechts wegen der unterschiedlichen Gegebenheiten in der Union differenziert sein darf, berücksichtigt auch das Primärrecht der EU. Art. I-5 VVE verpflichtet die Organe der Union, die nationale Identität der Mitgliedsstaaten zu achten. Dies gilt auch für den EuGH in seiner Grundrechtssprechung. Auch an anderer Stelle ist im Primärrecht angelegt, dass der EuGH Beurteilungsspielräume gewährt. Das Vorabentscheidungsverfahren dient genau diesem Zweck: der EuGH gibt eine einheitliche Auslegung nur bis zu einem gewissen, abstrakten Grad vor; es ist Sache des nationalen Gerichts, diese Grundsätze bei der Auslegung des national umgesetzten EU-Rechts nach örtlichen Gegebenheiten zu konkretisieren. Daraus ergibt sich, dass bei den EU-Grundrechten weder Einheitlichkeit der Rechtssprechung um jeden Preis hergestellt werden muss, noch die EMRK-Lehre vom Beurteilungsspielraum uneingeschränkt übernommen werden kann. Vielmehr müssen beide Bedürfnisse angemessen berücksichtigt werden. Die Einheitlichkeit der Rechtssprechung wird umso stärker ins Gewicht fallen können, je einheitlicher die zu Grunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse sind. Die Übernahme der EMRK-Lehre vom Beurteilungsspielraum wird von Art. 52 III S. 1 EGRC angeordnet; auf sie darf jedoch gemäß Art. 52 III S. 2 EGRC verzichtet werden, um einen weitergehenden Grundrechtsschutz zu gewähren, wo möglich. Dies spricht zur derzeitigen Entwicklungsstufe der Union für folgende Regel: in dem Falle, dass das Grundrecht der Religionsfreiheit direkt gegenüber einem Unionsorgan geltend gemacht wird, besteht kein Beurteilungsspielraum. Beim Handeln der EU-Organe besteht ein überragendes Interesse an Rechtssicherheit durch einheitliche Handlungsmaßstäbe gegenüber allen Unionsbürgern. Wird die europäische Religionsfreiheit gegenüber den Organen von Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts geltend gemacht, so ist diesen ein den örtlichen Verhältnissen angemessener Beurteilungsspielraum, der die regionalen Besonderheiten bei der Durchsetzung des national transformierten Unionsrechts berücksichtigt, zu gewähren. g) Das Verhältnis der korporativen Religionsfreiheit zu den Grundfreiheiten Unionsgrundrechte und Grundfreiheiten können in unterschiedlicher Weise auf einander treffen453. Grundrechte können den Kernbereich der Grundfreiheiten gegen deren Ausnahmen schützen – sie wirken dann als 453
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 78 ff.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Schranken-Schranken und weisen die gleiche Schutzrichtung auf wie die Grundfreiheiten454. Sie können aber auch ein anderes Schutzobjekt haben und mit den Grundfreiheiten kollidieren – dann treten sie als Schranken der Grundfreiheiten in Erscheinung455, und es wird erforderlich, den Konflikt der widerstreitenden Rechte aufzulösen. Im einzelnen ist hier noch manches ungeklärt, weil der EuGH die Grundrechte in den Fällen, in denen sie als Schranken der Grundfreiheiten fungieren, bisher meist nur im Rahmen einer Evidenz-, Wesensgehalts- oder Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt hat456. Dadurch hat er es vermieden, sich den dogmatischen Fragen zu stellen, die sich aus einer Kollision ergeben. Dass es durch das EU-Recht geboten ist, sich diesen Fragen zu stellen anstatt sie zu umschiffen, ergibt sich bereits daraus, dass Grundfreiheiten und Grundrechte seit dem Maastrichter Vertrag formal den gleichen primärrechtlichen Rang aufweisen457. Eine Beschränkung der Grundrechtsprüfung auf eine Verhältnismäßigkeits-, Wesensgehalts- oder gar Evidenzkontrolle in den Fällen, in denen die Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten auftreten, verkennt die Stellung der Grundrechte im EU-Recht und ist daher systematisch unzureichend. Die Reduzierung der Schrankenprüfung auf die Frage, ob ein von einem Grundrecht geschütztes Verhalten erforderlich sei458, oder eine Grundrechtsverletzung evident459, vermittelt nicht den vom EU-Recht gebotenen Grundrechtsschutz. Der EuGH steht hier noch vor der Aufgabe, eine dogmatisch korrekte Prüfung der Grundrechte als Schranken der Grundfreiheiten zu entwickeln und den den Grundrechten vom Unionsrecht zugewiesenen systematischen Rang in der Rechtssprechungspraxis umzusetzen. Eine solche Verbesserung der Dogmatik wird auch der Religionsfreiheit zu Gute kommen.
454 Vgl. die Rechtssachen EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 13 (Nold ./. Kommission); Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727, Rn. 15 (Hauer ./. Land RheinlandPfalz); Rs. 36/75, Slg. 1975, S. 1219, Rn. 26 ff. (Rutili); Rs. C-260/89, Slg. 1991, S. I-2951, Rn. 43 (ERT ./. Pliroforisis und Kouvelas); Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, 3709, Rn. 24 ff. (Familiapress). 455 Vgl. die Rechtssachen EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 79 (Bosman); verb. Rs. C-51/96 & C-191/97, Slg. 2000, I-2549 (Deliège). 456 Erste Anzeichen einer verbesserten Grundrechtsdogmatik nun in EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, (Schmidberger), Rs. C-36/02 (Omega). 457 Vgl. oben Kap. C.I.2. 458 So EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 79 (Bosman). 459 So EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555, Rn. 27 (SMW ./. RheinlandPfalz).
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(1) Grundfreiheiten und Grundrechte im lex-specialis-Verhältnis Grundfreiheiten sind einerseits Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes des Unionsrechts460 und gehen diesem daher als lex specialis vor. Die Grundfreiheiten schützen aber nicht ausdrücklich vor Diskriminierung aus religiösen Gründen und erlangen daher mit Blick auf dieses Rechtsgut keine Bedeutung. Seit der Leitentscheidung Dassonville461 sieht der EuGH in den Grundfreiheiten auch Beschränkungsverbote und damit Freiheitsrechte462. Auch in ihrer Funktion als Freiheitsrechte sind die Grundfreiheiten spezielle Ausprägungen der Grundrechte463. Die Spezialität gründet sich auf die detailliertere inhaltliche Ausgestaltung der Grundfreiheiten und ihren speziellen Anwendungsbereich im Wirtschaftsrecht. Die Grundfreiheiten können die Grundrechte aber auch nur soweit verdrängen, wie sie ihnen gegenüber speziellere Regelungen enthalten. Dies setzt voraus, dass Grundfreiheit und Grundrecht dasselbe Rechtsgut schützen sollen. Bei dem Rechtsgut Religion tritt diese Konstellation nicht auf, da keine Grundfreiheit die Religion als Schutzgut aufweist. Als leges speciales haben die Grundfreiheiten somit für die Religionsfreiheit keine Bedeutung. (2) Grundfreiheiten und Grundrechte in Idealkonkurrenz Nach der Rechtssprechung des EuGH müssen die Schranken der Grundfreiheiten im Lichte der Grundrechte der EU ausgelegt werden464. Damit agieren die Grundrechte als Schranken-Schranke der Grundfreiheiten und unterstützen somit die Schutzwirkung der Grundfreiheiten, indem sie diese vor zu starker Aushöhlung bewahren. In der Literatur ist diese Auffassung nicht unbestritten; es wird vertreten, dass die Schranken der Grundfreiheiten mitgliedsstaatliche Kompetenzreservate darstellen und somit die Unionsgrundrechte aus kompetentiellen Gründen nicht herangezogen werden dürfen, um die Schranken auszulegen465. Mit Blick auf die Religionsfreiheit 460
Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 19 ff. EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 (Dassonville). 462 Den freiheitsrechtlichen Gehalt hat der EuGH erst nach und nach entwickelt: für die Waren- und Dienstleistungsfreiheit Rs. 8/74, Slg. 1974, S. 837 (Dassonville), für die Arbeitnehmerfreizügigkeit Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 92 ff. (Bosman), für die Niederlassungsfreiheit Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663, Rn. 16 f. (Kraus). 463 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 24 ff. 464 EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress) für immanente Grundfreiheitsschranken; EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2951, Rn. 43 (ERT) für geschriebene Schranken; vgl. oben Kap. C.I.3. 461
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kann dies dahingestellt bleiben. Da keine Grundfreiheit die Religionsfreiheit zum Schutzgut hat, kann auch die Religionsfreiheit nicht den Garantiekern einer Grundfreiheit ausmachen, der durch die Schrankenschranke gewahrt bleibt. Eine solche Konstellation scheidet daher aus. (3) Kollision von Grundfreiheit und Grundrecht Zu einer Kollision von Grundfreiheit und Grundrecht kann es kommen, wenn das Schutzgut eines Grundrechts mit einem anderen Schutzgut einer Grundfreiheit widerstreitend aufeinander trifft. Diese Konstellation ist mit Blick auf die Religionsfreiheit denkbar, wenn die Religionsfreiheit in Widerspruch mit den wirtschaftlichen Schutzgütern der Grundfreiheiten geraten kann. (a) Kein Exklusivitätsverhältnis zwischen Religionsrecht und Grundfreiheiten Die Tätigkeiten von Religionsgemeinschaften sind nicht durch eine Pauschalausnahme vor der Geltung des EU-Wirtschaftsrechts geschützt. Die religiöse Prägung von Tätigkeiten verdrängt nicht starr das Wirtschaftsrecht, weil das Wirtschaftsrecht der EU nicht in einem Exklusivitätsverhältnis zu anderen Bereichen steht. Beide Bereiche überlagern sich vielmehr teilweise: Tätigkeiten von Religionsgemeinschaften können religiös motiviert und gleichzeitig wirtschaftlich geprägt sein. Damit sind auch Kollisionen der Religionsfreiheit und der Grundfreiheiten vorprogrammiert. Die früher verbreitete These, das Rechtsregime eines Bereiches werde allein durch seinen Schwerpunkt determiniert, und dieser Schwerpunkt könne das Wirtschaftsrecht von der Geltung ausschließen, ist spätestens seit der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Bosman466 nicht mehr haltbar. Dort ging es um die Frage, ob der Bereich des Sports primär durch einen kulturellen Schwerpunkt geprägt sei, und ob diese Prägung dazu führe, dass das Wirtschaftsrecht kategorisch verdrängt werde. Der Berufsfußballspieler Bosman berief sich gegenüber dem belgischen Fußballverband auf seine Arbeitnehmerfreizügigkeit, weil er zu einem Arbeitgeber in Frankreich wechseln wollte; die Satzung des Fußballverbandes verhinderte einen solchen Wechsel jedoch im konkreten Falle. Das Königreich Belgien und die Bundesrepublik Deutschland, die als Streithelferin auftrat, argumentierten u. a., der Bereich des Sports sei primär ein kultureller Bereich und weise nur sekundär wirtschaftliche Aspekte auf. Daraus folgerten sie, dass der Bereich des 465 466
Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 60 f. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (Bosman).
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Sports nicht den Grundfreiheiten unterliege. Der EuGH wies diese pauschale Schlussfolgerung zurück. Er legte dar, dass der Sport gerade insoweit den Grundfreiheiten unterfalle, wie er Teil des Wirtschaftslebens sei. Daher könne sich der Kläger Bosman insoweit auch auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen. Diese Argumentation des EuGH ist insoweit auf den Bereich der Religion übertragbar467: soweit Religionsgemeinschaften wirtschaftliche Tätigkeiten ausüben, können sie prinzipiell dem Wirtschaftsrecht unterfallen. Dies tun Religionsgemeinschaften schon dadurch, dass sie Mitarbeiter beschäftigen. Eine pauschale Bereichsausnahme der Religion, d. h. des wirtschaftlichen Handelns der Religionsgemeinschaften, vom Wirtschaftsrecht der EU lässt sich unter dem geltenden EU-Vertragswerk nicht konstruieren. (b) Gleichrangigkeit von Grundfreiheiten und Grundrecht Das Grundrecht der Religionsfreiheit kann nur als Schranke der Grundfreiheiten fungieren, wenn beide Normen gleichrangig sind. Eine Schranke kann sich nur aus gleichrangigem Recht ergeben468. (aa) Das Rangverhältnis von Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten (Religionsfreiheit) unter dem EU-Vertrag Unter dem EU-Vertrag stellt sich die Frage, ob die Religionsfreiheit wie auch die Gemeinschaftsgrundrechte allgemein den Grundfreiheiten gleichgeordnet sind, oder ob sie systematisch unterhalb der Grundfreiheiten rangieren. Die Literatur beantwortet diese Frage im Sinne der Gleichordnung469. Die Grundrechte seien Teil des Primärrechts und damit auf derselben Ebene wie die Grundfreiheiten angesiedelt, auch wenn sie ungeschrieben existieren. In der Rechtssprechung des EuGH lässt sich dieses Ergebnis nicht mit aller Sicherheit feststellen. Der EuGH vermeidet hier bisher eine klare Antwort, indem er seine Ausführungen zu den Grundrechten als Schranken kurz hält. Zweifel an der Gleichrangigkeit in der Auffassung des EuGH entstehen einerseits gerade durch die Knappheit der Ausführungen470, die meist in einem Missverhältnis zum Umfang der Darlegungen zu den Grundfreiheiten stehen. Schindler argumentiert zudem, dass das vom 467 So auch die staatskirchenrechtliche Literatur: Streinz, in: EssGespr. 31 (1997), S. 70 f.; Link, ZevKR 42 (1997), S. 134 f.; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 169; de Wall, ZevKR 47 (2002), S. 215. 468 Gramlich, DÖV 1996, S. 805; Schindler, S. 145 ff. 469 Gramlich, DÖV 1996, S. 805. 470 Schindler, S. 146.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
EuGH betonte Einfügungsgebot der Grundrechte in die Ziele und Strukturen des Gemeinschaftsrechts471 darauf schließen lasse, dass die Grundrechte nicht als gleichrangig gelten. Diese Zweifel erscheinen begründet, besagen aber nur etwas über die tatsächliche Behandlung der Grundrechte in der Rechtssprechungspraxis des EuGH. In der Dogmatik des Unionsrechts lässt sich seit der Einfügung des Art. 6 II EUV kein Anhaltspunkt für die Nachrangigkeit der Grundrechte finden. Der EU-Vertrag sieht keine Normenebene zwischen dem Primärrecht und dem Sekundärrecht vor. Die Grundrechte sind laut Art. 6 II EUV nicht Teil des Sekundärrechts, sondern durch ihre Erwähnung in dieser Norm Teil des Primärrechts. Das in der Rechtssprechung bemühte Einfügungsgebot entstand in der Rechtssache Nold lange vor der Erwähnung der Grundrechte im Vertrag von Maastricht und wurde nicht in Art. 6 II EUV übernommen. Der Vertrag von Maastricht schuf somit für die Grundrechte kein „Primärrecht zweiten Ranges“. Das Einfügungsgebot kann somit keine Aussage über eine Nachrangigkeit der Grundrechte treffen, da die erforderliche systematische Voraussetzung einer nachrangigen Normebene im EU-Vertrag fehlt. Das Einfügungsgebot dient lediglich dazu, die aus den nationalen Rechtsordnungen hergeleiteten Grundrechteüberlieferungen bruchlos in die autonome Unionsrechtsordnung einzupassen und sorgt somit für die Geschmeidigkeit der Überleitung. Dogmatisch betrachtet sind die Grundrechte damit unter dem EU-Vertrag den Grundfreiheiten gleichrangig und für die Abwägung geeignet. In der Rechtssprechungspraxis des EuGH wird dieser Gleichrangigkeit dagegen faktisch nicht immer Rechnung getragen, sondern werden die Grundrechte auf ihren Wesensgehalt reduziert. Doch deutet sich eine Verbesserung der EuGH-Rechtssprechung an. In einem neueren Urteil erkennt der EuGH an, dass die Unionsgrundrechte unmittelbar dem Unionsrecht zu entnehmende immanente Schranken der Grundfreiheiten sind, und er nimmt sie als gleichrangiges Recht wahr472. Er stellt dann fest, dass weder Grundfreiheiten noch Grundrechte unbeschränkt gelten. Sie seien im Einzelfalle gegen einander abzuwägen, so dass das rechte Gleichgewicht zwischen ihnen hergestellt werden kann473. Damit macht der EuGH einen bedeutenden Schritt in Richtung einer Dogmatik des Verhältnisses von Grundfreiheiten und Grundrechten, die dem EU-Vertrag und erst recht dem VVE gerecht wird474. Davon wird auch die Religionsfreiheit profitieren, wenn sie in Konflikt mit den Grundfreiheiten gerät.
471 472 473 474
EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rn. 4 (Nold ./. Kommission). EuGH, Rs. 112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 75 (Schmidberger). EuGH, Rs. 112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 81 (Schmidberger). Vgl. Kadelbach/Petersen, EuGRZ 2003, S. 693, 694 f.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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(bb) Das Rangverhältnis von Grundfreiheiten und Unionsgrundrechten (Religionsfreiheit) unter dem VVE Die systematische Gleichrangigkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten schon unter dem EU-Vertrag ist im VVE beibehalten und durch die Aufnahme der Grundrechtecharta sichtbarer gemacht worden. Die „Sichtbarmachung“ der Unionsgrundrechte könnte in Zukunft verhindern, dass der EuGH in seiner Rechtssprechungspraxis diese Rechte als Schranken der Grundfreiheiten nicht ausreichend würdigt. Sowohl unter dem EU-Vertrag als auch unter dem VVE stehen sich Grundfreiheiten und Unionsgrundrechte, mithin auch die Religionsfreiheit, gleichrangig gegenüber. Daher kann die Religionsfreiheit als Schranke der Grundfreiheiten fungieren, die eine Abwägungslösung verlangt. (c) Konstellationen der Kollision Im Folgenden wird zunächst analysiert, in welcher Konstellation Kollisionen auftreten können. Sodann wird eine Abwägungslösung untersucht. (aa) Mittelbare belastende Drittwirkung der Grundfreiheiten In Betracht kommt zum Einen die Konstellation, in der ein Rechtsakt der EU das wirtschaftliche Schutzgut einer Grundfreiheit fördert und dabei gleichzeitig, quasi als Reflex, in die Religionsfreiheit eines Dritten eingreift. Auch Konkurrentenbeschwerden können im Endeffekt zu Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit führen. So ist beispielweise ein Tätigwerden der EU auf die Beschwerde eines Wirtschaftsteilnehmers (Konkurrentenbeschwerde) denkbar, der behauptet, eine Religionsgemeinschaft oder eine karitative bzw. diakonische Organisation, die sich im Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit mit Binnenmarktrelevanz betätigt, verhalte sich gemeinschaftsrechtswidrig. Eine solche Konkurrentenbeschwerde kann dazu führen, dass die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleitet. Dieses richtet sich gegen den Mitgliedsstaat, in dem die Vertragsverletzung eintritt, erfasst aber indirekt auch den individuellen Wirtschaftsteilnehmer, da die Kommission den Mitgliedsstaat anweist, den europarechtswidrigen Zustand zu beenden. Gegen den Mitgliedsstaat stehen ihr auch Zwangsmittel (Zwangsgeld) zur Verfügung. Die Religionsgemeinschaft muss also mit belastenden Maßnahmen rechnen, die der Mitgliedsstaat in Durchführung der Anweisung der Kommission vornimmt. In diesem Zusammenhang könnten sich die Religionsgemeinschaft oder die karitative bzw. diakonische Organisation in ihrer korporativen Religionsfreiheit betroffen sehen. Sie
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
könnte vortragen, ihr Handeln sei so von religiösem Charakter geprägt, dass es unter den Schutzbereich des Art. 10 I EGRC falle und dass das Binnenmarktrecht zurücktreten müsse. Ein solcher Vorrang kann allerdings im sekundären Bereich der korporativen Religionsfreiheit (Religionsausübung in der Form einer nach außen gerichteten wirtschaftlichen Tätigkeit) nicht pauschal gelten. Je stärker der wirtschaftliche Charakter einer Tätigkeit in den Vordergrund tritt, umso stärker muss sich der Betreiber auch dem Wirtschaftsrecht unterwerfen475. In einem solchen Konflikt muss der Fall durch das Herstellen praktischer Konkordanz gelöst werden. Der soeben konstruierte Fall ist auch in der Abwandlung denkbar, dass eine Religionsgemeinschaft als Dritter betroffen ist. So könnte sich die Konkurrentenbeschwerde gegen eine karitative bzw. diakonische Organisation richten, deren Trägerin eine Religionsgemeinschaft ist. Diese kann sich dann als Dritter betroffen sehen, eben weil sie Trägerin der karitativen/diakonischen Organisation ist und ihren religiösen Auftrag durch diese Einrichtung ausübt. Hier ist der Maßstab anzulegen, ob die (Dritt-) Betroffenheit schwer und unerträglich ist. Dies dürfte in vielen Fällen zu verneinen sein, da ein Eingriff in eine nur mittelbar (durch eine andere Organisation) und zumindest teilweise wirtschaftlich betriebene Tätigkeit eine Religionsgemeinschaft kaum unerträglich beeinträchtigen dürfte. Dies ist aber eine Frage des Einzelfalles. (bb) Unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten Zur Kollision von Religionsfreiheit und Grundfreiheiten kommt es, wenn den Grundfreiheiten unmittelbare Drittwirkung zuerkannt wird. Dies ist der Fall, wenn Grundfreiheitsberechtigte sich auf ihre Grundfreiheit unmittelbar gegenüber anderen privaten Rechtssubjekten berufen können. Private werden damit unmittelbar aus den Grundfreiheiten verpflichtet; sie werden zu Grundfreiheitsadressaten. Der EuGH hat die unmittelbare Drittwirkung in seiner Rechtssprechung zuerst für die Dienstleistungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit, später auch für die anderen Grundfreiheiten entwickelt476. Dass die unmittelbare Drittwirkung als Teil der Grundfreiheitendogmatik existiert, dürfte heute einen festen Bestandteil des acquis communautaire darstellen, auch wenn sie in der Literatur kritisiert wird477. Unge475
Vgl. oben Kap. C.III.5.b). EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, S. 1405, Rn. 16 ff. (Walrave) zur Dienstleistungsfreiheit; EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 84 (Bosman) zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; EuGH, Rs. 58/80, Slg. 1981, S. 181, Rn. 17 ff. (Dansk Supermarked) zur Warenverkehrsfreiheit; EuGH, Rs. 90/76, Slg. 1977, S. 1091, Rn. 28 (van Ameyde) zur Niederlassungsfreiheit. 477 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 43, m. w. N. 476
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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klärt ist jedoch, ob die unmittelbare Drittwirkung auf Fälle beschränkt sein soll, die sich dadurch auszeichnen, dass der grundfreiheitenverpflichtete Private eine Stellung im Verhältnis zum anderen Privaten hat, die eine solche Machtüberlegenheit bedeutet, dass das Verhältnis der beiden Privaten weniger der für Privatrechtskonstellationen typischen Gleichordnung entspricht, sondern eher der vertikalen Über-Unterordnung ähnelt, die typischerweise im Verhältnis des Staates zum Privaten herrscht. Angesichts solcher Machtungleichgewichte hat der EuGH begonnen, die Lehre von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten zu entwickeln. Ratio dieses Ansatzes war es einerseits, Mitgliedsstaaten daran zu hindern, die ihnen auferlegten binnenmarktfördernden Diskriminierungssverbote dadurch zu umgehen, dass sie die Integrationshindernisse auf ihnen nahe stehende Private verlagern, durch die sie einen der staatlichen Macht ähnlichen Druck auf grundfreiheitenberechtigte Personen ausüben können. Die unmittelbare Drittwirkung ist demnach ursprünglich ein Mittel, um Versuchen der Mitgliedsstaaten entgegen zu treten, die Gebote der Grundfreiheiten zu umgehen. Aus der Natur als Umgehungsverbot ergäbe sich eine logische Beschränkung der unmittelbaren Drittwirkung auf solche Fälle, in denen eine quasi-staatliche Umgehung der Grundfreiheiten droht. Später hat der EuGH die Drittwirkung auch auf Fälle ausgedehnt, in denen Privaten eine der staatlichen Rechtssetzung vergleichbare Möglichkeit zur Rechtssetzung eröffnet ist, auch unabhängig von staatlichen Umgehungsabsichten478. In der Literatur wird versucht, diese Fälle näher zu definieren: als Anwendung auf Fälle, an denen intermediäre Gewalten beteiligt sind, oder Fälle, in denen durch Kollektivregelungen Macht über andere Private ausgeübt wird. In den Fällen, an denen intermediäre Gewalten beteiligt sind, soll die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten nach EuGH-Rechtssprechung und einer Ansicht in der Literatur gerechtfertigt sein. Intermediäre Gewalten sind definiert als gesellschaftliche Institutionen mit besonderen Machtbefugnissen479. Darunter fallen Verbände, die in ihrem Bereich in staatsähnlicher Weise Rechtsetzung gegenüber anderen Privaten betreiben. Auch hier kommt es nicht auf die Rechtsform an: eine Religionsgemeinschaft ist nicht schon deshalb staatsähnlich, weil sie die Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts angenommen hat. Entscheidend ist eine funktionale Betrachtungsweise: Staatsähnlichkeit besteht, wenn die für das Staat-BürgerVerhältnis typische vertikale Über-Unterordnung herrscht. Dies ist bei Religionsgemeinschaften gegenüber ihren Mitgliedern oftmals der Fall. Innerhalb eines gewissen staatlich anerkannten Bereichs kann eine Religions478 EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 84 (Bosman); EuGH, verb. Rs. C-51/96 & C-191/97, Slg. 2000, I-3313 (Deliège). 479 Ehlers, JURA 2001, S. 274.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
gemeinschaft autonomes Recht setzen und ist daher als intermediäre Gewalt einzustufen. Auch in den Fällen, in denen Private durch Kollektivregelungen ein Machtübergewicht über andere Private gewinnen, soll nach einer Ansicht die unmittelbare Drittwirkung gelten. Auch dort liege eine Gefährdung der Entwicklung des Binnenmarktes vor. Kollektivregeln treten vor allem im Arbeitsrecht auf. Im Arbeitsrecht verfügt der Arbeitgeber typischerweise über mehr Marktmacht als der Arbeitnehmer und kann daher die Vertragsfreiheit so ausnutzen, dass er Rechtspositionen, die der Arbeitnehmer aus der Arbeitnehmerfreizügigkeit herleiten könnte, beschränken kann480. Der EuGH hat die unmittelbare Drittwirkung für solche Fälle fruchtbar gemacht, um eine Aushöhlung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu verhindern481. Religionsgemeinschaften und andere religiöse Organisationen treten in vielfältiger Weise als Arbeitgeber auf und sind daher in diesem Bereich von der unmittelbaren Drittwirkung betroffen. Zu einer Kollision mit der Religionsfreiheit dieser Organisationen kann es durchaus kommen. Sie ist schon denkbar, wenn eine Religionsgemeinschaft eine zu vergebende Arbeitsstelle nur für Angehörige eines bestimmten Mitgliedsstaates zugänglich macht, oder – als mittelbare Diskriminierung – nur Sprechern einer bestimmten Muttersprache. Zu einem solchen Verhalten könnte eine Religionsgemeinschaft dadurch motiviert werden, dass sie sich von einer solchen Stellenbesetzung eine bessere Akzeptanz des Stelleninhabers in der Gemeinschaft verspricht, oder eine bessere Erledigung der Aufgabe. Beispielsweise könnten für eine griechisch geprägte orthodoxe Religionsgemeinschaft nur Griechen als Seelsorger akzeptabel sein, oder für eine Gemeinde italienischer Katholiken in Brüssel nur ein Italiener, jeweils mit der Begründung, nur ein „Landsmann“ werde von den Gemeindemitgliedern akzeptiert oder zumindest gewünscht. Ähnliches kann für eine Kindergärtnerin in einem Kindergarten einer Religionsgemeinschaft gelten, weil die Gemeinschaft der Auffassung ist, eine Mitarbeiterin aus dem Heimatland sei besser in der Lage, den Kindern eine entsprechende religiöse Erziehung zu vermitteln. Der EuGH hat festgestellt, dass Arbeitsverträge mit Kirchen und Religionsgemeinschaften den Status des Arbeitnehmers im Sinne des Art. 39 EGV begründen und somit der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterfallen482. Mit Blick auf die diakonischen/karitativen Dienstleistungen kommt auch die 480 Das angesprochene Ungleichgewicht zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer hatte auch die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit dazu verleitet, einen Ausgleich über die unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten zu suchen, auch wenn dies später wieder aufgegeben wurde; BAG NJW 1986, S. 85 ff. 481 EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (Roman Angonese ./. Sparkasse Bozen); Müller-Graff, in: Streinz, Art. 49 EGV, Rn. 67. 482 EuGH, Slg. 1986, S. 3097, Rn. 18 ff. (van Roosmalen).
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Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) in Betracht; im Prinzip sind auch die anderen Grundfreiheiten denkbar, je nach dem Maße, in dem Religionsgemeinschaften in deren Schutzbereichen aktiv sind. In seiner neueren Rechtssprechung deutet der EuGH an, dass er auch das Erfordernis einer kollektiven Regelung fallen lassen will, um die Bindung Privater an Art. 39 EGV im Anwendungsbereich des Vertrages herzuleiten. Im Urteil Clean Car Autoservice spricht der EuGH nur von „Verträgen oder sonstigen Akten, die von Privatpersonen geschlossen bzw. vorgenommen wurden“483, ohne auf eine durch Kollektivregelungen begründete Machtstellung abzuheben. Im Urteil Angonese führt er schlicht aus, dass das in Art. 39 EGV ausgesprochene Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit auch für Privatpersonen gelte484. Würde der EuGH diese Rechtssprechung auf Religionsgemeinschaften anwenden, ohne die korporative Religionsfreiheit zu berücksichtigen, so würden auch die Religionsgemeinschaften, die nicht über eine kollektive Machtstellung verfügen, in vielen Akten von der unmittelbaren Drittwirkung der Grundfreiheiten betroffen sein. Vor einer Bindung an die Grundfreiheiten wären die Religionsgemeinschaften dann nur noch durch Kriterien wie die Spürbarkeit ihrer Handlungen im Binnenmarkt geschützt485. Die Schwelle für die Binnenmarktrelevanz wird jedenfalls im Wettbewerbsrecht vom EuGH äußerst niedrig angesetzt. Auch rein innerstaatliche Sachverhalte können sich auf den innergemeinschaftlichen Handel auswirken486. Dies dürfte dann ebenfalls auf die Grundfreiheiten übertragen werden, die in ihrer Bedeutung für den Binnenmarkt nicht hinter den Art. 81 ff. EGV zurückstehen. Auch mit Blick auf die Schwelle der Binnenmarktrelevanz ist das erwähnte Urteil Angonese bemerkenswert: es betrifft einen rein innerstaatlichen Sachverhalt, in dem ein italienischer Staatsangehöriger gegen ein italienisches Unternehmen klagt, das einen bestimmten italienischen Sprachnachweis verlangt. Die unmittelbare Drittwirkung dürfte Religionsgemeinschaften also schon bereits dann berühren, wenn sie für eine innerstaatliche Stellenbesetzung von einem Bewerber aus ihrem Mitgliedsstaat einen bestimmten innerstaatlichen Sprachennachweis verlangen.
483 EuGH, Rs. C-350/96, Slg. 1998, I-2521, Rn. 24 (Clean Car Autoservice ./. Landeshauptmann von Wien). 484 EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139, Rn. 36 (Roman Angonese ./. Sparkasse Bozen). 485 Vgl. Wernicke, S. 219 ff. 486 EuGH, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747, Rn. 77 ff. (Altmark Trans GmbH).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
(cc) Insbesondere: die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV) Der EuGH hat, wie bereits erwähnt, festgestellt, dass Arbeitsverhältnisse privater Arbeitnehmer zu Kirchen und Religionsgemeinschaften der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterfallen können487. Das bedeutet, dass die kollektiven Regelungen, die Religionsgemeinschaften für ihre Arbeitsverhältnisse schaffen, dem Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit unterliegen. Falls kollektive Regeln dagegen verstoßen, sind sie nichtig gemäß Art. 7 IV der VO 1612/68/EWG, die Art. 39 EGV insoweit sekundärrechtlich umsetzt. Einzelne Maßnahmen, die gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit verstoßen, sind direkt wegen Art. 39 II EGV nichtig. Das Gleichbehandlungsgebot beinhaltet für die Unionsbürger das Recht auf gleichen Zugang zur Beschäftigung bei den Religionsgemeinschaften ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit (Art. 1–6 VO 1612/68/EWG). Daraus ist zu schließen, dass beispielsweise eine Kirche in Deutschland Arbeitsstellen nicht nur für deutsche Staatsangehörige ausschreiben darf. Andere Unterscheidungskriterien wie z. B. die Beherrschung der deutschen Sprache bleiben von der Arbeitnehmerfreizügigkeit dagegen unberührt488. (dd) Keine Ausnahmen durch Art. 39 IV, 45 I, 55 EGV Fraglich ist, ob die Ausnahme der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung (Art. 39 IV EGV) dazu führt, dass die Beschäftigten von Staatskirchen und von Religionsgemeinschaften in der Rechtsform der Körperschaft des öffentlichen Rechts vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgenommen sind. Der Begriff der Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung ist ein autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts489 und daher unabhängig von der jeweiligen mitgliedsstaatlichen Ausgestaltung kirchlicher Beschäftigungsverhältnisse zu definieren; diese sind vielmehr unter die europarechtliche Definition zu subsumieren. Der Begriff ist, wie alle Ausnahmen der Grundfreiheiten, eng auszulegen490 und auf den Umfang zu beschränken, der notwendig ist, um die Interessen der Mitgliedsstaaten, die Art. 39 IV EGV zu berücksichtigen erlaubt, zu schützen. 487
EuGH, Rs. 300/84, Slg. 1986, S. 3097, Rn. 18 ff. (van Roosmalen). Vgl. dazu aber Art. 13 EGV, s. u. Kap. F.I. 489 EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, S. 3881, Rn. 18 f. (Kommission ./. Belgien); EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 26 (Kommission ./. Luxemburg); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 99; Druesne, R.T.D.E. 1981, S. 288 ff. 490 EuGH, Rs. 225/85, Slg. 1987, S. 2625, Rn. 7 (Kommission ./. Italien); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 99. 488
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In der Literatur wird vereinzelt vertreten, die Ausnahme des Art. 39 IV EGV greife generell bei Kirchen ein, zumindest dann, wenn diese öffentlich-rechtliche Körperschaften darstellen491. Gegen diese pauschale Beurteilung spricht, dass der EuGH den Begriff der öffentlichen Verwaltung funktional auslegt und eine institutionelle Sichtweise verworfen hat492. Eine pauschale Erstreckung der Ausnahme auf alle Beschäftigten im staatskirchenrechtlichen Bereich eines Mitgliedsstaates und auf alle Mitarbeiter von Religionsgemeinschaften in der Form des öffentlichen Rechts ist mit dem funktionalen, aufs Notwendige zu beschränkenden Ansatz des Art. 39 IV EGV nicht zu vereinbaren. Art. 39 IV EGV kann sich nur auf konkrete, mit bestimmten Funktionen verbundene Stellen der öffentlichen Verwaltung erstrecken. Welche sind dies im staatskirchenrechtlichen Bereich? Nach der Rechtssprechung des EuGH erfordert Art. 39 IV EGV eine Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse des Staates durch Aufgaben, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und anderer öffentlich-rechtlicher Körperschaften gerichtet sind493. Erforderlich ist nach Ansichten in der Literatur zudem als subjektives Merkmal, dass der Beschäftigte ein besonderes Treueverhältnis zum Staat aufweist494. Diese Merkmale sind nach EuGH-Rechtssprechung und nach in der Literatur umstrittener, aber vorzugswürdiger Ansicht kumulativ anzuwenden495; nur dies gewährleistet die enge Anwendbarkeit der Ausnahmevorschrift und die gebotene effektive Wirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit. In Staatskirchen können deren Beschäftigte mit der Ausübung hoheitlicher Befugnisse kraft ihres Amtes betraut sein. So obliegt ihnen etwa die Führung des Zivilstandsregisters (in Dänemark); in England sitzen Bischöfe der anglikanischen Kirche kraft ihres Amtes im Oberhaus des Parlaments und sind somit Teil der Legislative und – in der Funktion des Oberhauses als Oberstem Gerichtshof – der Judikative496. Damit üben sie hoheitliche Befugnisse aus. Auch außerhalb von Staatskirchen können Kirchenamtsinhaber mit staatlichen Funktionen betraut sein. So haben Muftis in islamischen Gemeinden Griechenlands lokal exekutive und judikative Funktionen inne; sie richten in Familien- und Erbrechtsstreitigkeiten nach islamischem 491
Bleckmann, Europarecht, 6. Aufl., Rn. 759. EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 27 (Kommission ./. Luxemburg). 493 EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 27 (Kommission ./. Luxemburg); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 101. 494 Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV , Rn. 106, m. w. N. 495 EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207, Rn. 27 (Kommission ./. Luxemburg); Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 104 ff. m. umfangreichen Nachweisen. 496 Der Begriff der öffentlichen Verwaltung in Art. 39 IV EGV umfasst auch die Legislative und Judikative, Brechmann, in: Calliess/Ruffert, Art. 39 EGV, Rn. 99. 492
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Recht497. Solche Funktionen wie Teilnahme an der Legislative oder Judikative, oder exekutive Funktionen wie das Führen des Zivilstandsregisters sind auch auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates gerichtet. Die so Beschäftigten der Staatskirchen weisen aus ihrer Funktion heraus auch das subjektive Merkmal eines besonderen Treueverhältnisses zum Staat auf. Insoweit und für vergleichbare Funktionen greift daher für Kirchenbeschäftigte die Ausnahmeregel des Art. 39 IV EGV ein. Bei ihnen darf nach der Staatsangehörigkeit differenziert werden. Für Beschäftigte von Religionsgemeinschaften mit dem Status von Körperschaften des öffentlichen Rechts ist nach dem gleichen funktionalen Ansatz zu prüfen. Auch sie üben nicht generell, sondern nur abhängig von ihrer Funktion im Einzelfalle hoheitliche Befugnisse aus. Dies kommt in Betracht für Pfarrer, die im Religionsunterricht an staatlichen Schulen eingesetzt werden (und dort versetzungsrelevante Noten geben). Allerdings ist hier fraglich, ob dies eine Tätigkeit ist, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates gerichtet ist. Die Lehrtätigkeiten im staatlichen Bildungswesen sind laut EuGH nicht generell unter Art. 39 IV EGV den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten498. Der Religionsunterricht ist auch gerade kein Bereich des Bildungswesens, in dem es besonders auf nationale Belange ankommt. Daher ist bei der gebotenen kumulativen Anwendung der beiden objektiven Voraussetzungen des Art. 39 IV EGV hier keine Ausnahme gegeben. Auch in anderen Bereichen der Tätigkeit von Religionsgemeinschaften in Gestalt von Körperschaften des öffentlichen Rechts ist eine durch Art. 39 IV EGV begründbare Ausnahme von der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht in Sicht. Schließlich scheitert die Anwendung des Art. 39 IV EGV in solchen Fällen wohl auch an der subjektiven Voraussetzung eines besonderen Treueverhältnisses der Beschäftigten zum Staat. Besondere Treueverhältnisse haben sie gerade nicht zum Staat, sondern zu ihrer Religionsgemeinschaft, die aber auch als Körperschaft des öffentlichen Rechts nicht Teil des Staates ist. Gleiches gilt für die dem Art. 39 IV EGV ähnlichen Ausnahmevorschriften der Art. 45 I EGV, 55 EGV. Hier ist als Tatbestandsmerkmal erforderlich, dass eine Tätigkeit mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden ist. Auch dieser Begriff ist funktional und autonom europarechtlich auszulegen499, so dass es nicht darauf ankommt, ob eine Tätigkeit in einem Mit497 Vgl. nur EGMR, Urteil vom 14.12.1999, Reports 1999-IX, Rn. 24 ff. (Serif ./. Griechenland). 498 EuGH, Rs. C-4/91, Slg. 1991, I-5627, Rn. 7 (Bleis); EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, S. 2121, Rn. 28 (Lawrie-Blum); EuGH, Rs. C-473/93, Slg. 1996, Rn. 34 (Kommission ./. Luxemburg). 499 EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, S. 631, Rn. 44 f. (Reyners); Tietje, in: Ehlers, EuGR, § 10, Rn. 44.
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gliedsstaat formal in öffentlich-rechtlicher Rechtsform ausgestaltet ist500. Entscheidend ist, ob eine Tätigkeit notwendigerweise mit staatlichen Zwangsbefugnissen oder typischen Hoheitsprivilegien versehen ist. Das ist bei Tätigkeiten von Religionsgemeinschaften typischerweise gerade nicht der Fall. Lassen sich Religionsgemeinschaften in anderen Mitgliedsstaaten nieder und erwerben dort öffentlich-rechtlichen Status, so erhalten sie dadurch keine Zwangsbefugnisse oder Hoheitsprivilegien. Denkbar ist beispielsweise der Fall, dass Religionsgemeinschaften auf Grund ihrer Niederlassungsfreiheit (Privat-)Schulen oder Bildungsinstitute in einem fremden Mitgliedsstaat eröffnen. Dies kann eine wirtschaftliche Tätigkeit im Rahmen des Art. 43 EGV sein. Dadurch wird aber nicht automatisch die Ausnahme des Art. 45 I EGV aktiviert, da die bloße Gründung und der Betrieb von Privatschulen nicht notwendigerweise mit Zwangsbefugnissen verbunden ist501. (4) Lösung der Kollision von Religionsfreiheit und Grundfreiheiten Kommt es zu einer Kollision zwischen der Grundfreiheit einer Person und der korporativen Religionsfreiheit einer Religionsgemeinschaft, stellt sich die Frage, wie dieser Konflikt aufgelöst werden kann. (a) Unzulänglichkeit der bisherigen EuGH-Rechtssprechung Fraglich ist, ob das Bosman-Urteil, das einen parallel gelagerten Konflikt zwischen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Vereinigungsfreiheit zum Gegenstand hat, einen Lösungsweg aufzeigen kann. Der EuGH erkannte die Vereinigungsfreiheit als in Art. 11 EMRK verankerten Grundsatz an, der sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten ergibt. Er arbeitete dann jedoch nicht den Schutzbereich und die Schranken der Vereinigungsfreiheit heraus, sondern sprang auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor, in der er knapp feststellte, dass die vom Sportverband aufgestellten kollektiven Arbeitsregelungen nicht erforderlich seien, um die Ausübung der Vereinigungsfreiheit zu gewährleisten. Auch stellten diese Regelungen keine unausweichliche Folge der Vereinigungsfreiheit dar. Schließlich wies er das aus dem Subsidiaritätsprinzip zu Gunsten des Sportverbandes hergeleitete Argument zurück mit der Aussage, die Anwendung des Subsidiaritätsgrundsatzes dürfe nicht zu einer Einschränkung der dem Einzelnen durch den Vertrag verliehenen Rechte führen. Mit diesen Ausführungen hat der EuGH eine Abwägung zwischen den widerstreitenden Rech500 501
Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 45 EGV, Rn. 4. EuGH, Rs. 147/86, Slg. 1988, S. 1637, Rn. 9 (Kommission ./. Griechenland).
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ten umgangen. Vielmehr hat er die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Grundfreiheit dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit schematisch vorgezogen, indem er davon ausging, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit eine grundlegende Bedeutung für die Entwicklung des Binnenmarktes habe. Die Lösung, die der EuGH im Bosman-Urteil entwickelt, wird dem Konflikt von korporativer Religionsfreiheit und Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht gerecht, weil der Gerichtshof die Bedeutung des Grundrechts nicht vertieft untersucht und daher keine begründete Abwägung der widerstreitenden Rechtsgüter anbietet. (b) Kein pauschaler Vorrang der Religionsfreiheit Eine Lösung der Kollision könnte darin bestehen, dass der Religionsfreiheit pauschal ein überragender Wert beigemessen wird. Die Religionsfreiheit wird ein für den demokratischen Staat grundlegendes Freiheitsrecht genannt502. Daraus könnte man ableiten, dass in Fällen, in denen sich Religionsfreiheit und wirtschaftliche Rechte im Konflikt gegenüber stehen, die Religionsfreiheit den Vorrang hat. Die notwendige Differenzierung zur Bosman-Rechtssprechung läge darin, dass man der Religionsfreiheit eine höhere Bedeutung gegenüber den Grundfreiheiten zumäße als der Vereinigungsfreiheit. Doch ist eine solch pauschale Lösung nicht überzeugend. Zum einen weist eine solche Argumentation genau dieselbe methodische Schwäche auf wie die soeben kritisierten EuGH-Entscheidungen. Die den widerstreitenden Rechtspositionen zukommenden Schutzbereiche würden nicht untersucht und nicht dem Einzelfalle angemessen in die Abwägung eingebracht. Eine pauschale Lösung würde auch nicht zu einem echten Ausgleich von Religionsfreiheit und Grundfreiheiten führen, sondern lediglich eine letztlich subjektive Wertung zu Gunsten der Religionsfreiheit reflektieren. Als subjektive Wertung fehlte dieser Lösung ihre argumentative Begründung und sie bliebe ohne Überzeugungskraft für diejenigen, die die Bedeutung der wirtschaftlichen Integration Europas für gewichtiger halten. Daher würde sich ein solcher Vorschlag realistisch betrachtet auch nicht durchsetzen, zumal gerade der EuGH tendenziell die Integrationswirkung der Grundfreiheiten sehr hoch gewichtet.
502 Vgl. EGMR, Urteil vom 25.5.1993, Serie A-260-A, Rn. 37 (Kokkinakis ./. Griechenland): „As enshrined in Article 9, freedom of thought, conscience and religion is one of the foundations of a ‚democratic society‘ within the meaning of the Convention. [. . .] The pluralism indissociable from a democratic society, which has been dearly won over the centuries, depends on it“.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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(c) Lösung der Kollision durch Herstellung praktischer Konkordanz Eine verhältnismäßige Zuordnung der durch Grundfreiheiten und Grundrechte gewährten Rechtspositionen muss im Kollisionsfall allen Parteien ein Optimum ihrer Rechte zuweisen. Dies bedeutet die Anwendung des Prinzips der Herstellung praktischer Konkordanz. Um zu einer differenzierten Lösung zu gelangen, bietet es sich an, die oben herausgearbeiteten Bereiche der Aktivitäten der Religionsgemeinschaften im Kontext des EU-Wirtschaftsrechts in der Abwägung zu unterscheiden. (aa) Primärer Bereich Der primäre Bereich umfasst wie gezeigt503 den Bereich der inneren Angelegenheiten der Religionsfreiheit einschließlich der nach innen gerichteten Tätigkeit wirtschaftlicher Art. Diese Sphäre wird weitgehend durch ein Selbstbestimmungsrecht ausgefüllt, welches der Religionsgemeinschaft grundrechtlich garantiert, friedlich nach ihren eigenen Maßstäben zu funktionieren, frei von willkürlichen Eingriffen des Staates. Hier handelt es sich um innere Dinge, die für das Wesen der Religionsgemeinschaft unabdingbar sind (Auswahl der eigenen Amtsträger etc.), mithin den Kern dessen, was eine Religionsgemeinschaft ausmacht und ihr Identität und Sinn vermittelt. Dementsprechend ist das Interesse der Religionsgemeinschaft in diesen Angelegenheiten sehr hoch zu gewichten. Das Gemeininteresse am Funktionieren des Gemeinsamen Marktes ist demgegenüber insoweit typischerweise in geringem Maße betroffen. Die Beeinträchtigungen, die der Binnenmarkt durch die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften in deren inneren Angelegenheiten erfährt, sind sowohl qualitativ als auch quantitativ gering. Weder betreffen sie quantitativ große Segmente des Marktes oder ganze Sektoren, noch beeinträchtigen sie die Qualität dieses Marktes oder seiner Produkte und Dienstleistungen. Die Spürbarkeit der Einschränkung in Bezug auf den gesamten Markt oder wichtige abgrenzbare Teilmärkte ist gering. Daher überwiegt hier das Interesse der Religionsgemeinschaft an der autonomen Ordnung der inneren Angelegenheiten das Interesse der Allgemeinheit am Funktionieren des Gemeinsamen Marktes. Auch das Individualinteresse eines Einzelnen, der durch die unmittelbare Drittwirkung von Grundfreiheiten begünstigt sein mag, ist im Vergleich mit den inneren Angelegenheiten der betroffenen Religionsgemeinschaften weniger intensiv berührt, da nicht dessen Identität oder existentieller Sinn in Frage gestellt ist. Dessen Interesse muss daher typischerweise weichen. 503
s. o. Kap. C.III.5.b)(1); Kap. C.III.5.d)(3)(a).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
(bb) Sekundärer Bereich Der sekundäre Bereich504 ist geprägt durch die Religionsausübung mittels der nach außen gerichteten Tätigkeit wirtschaftlicher Art. Typischerweise sind hiervon karitative und diakonische Aktivitäten der Wohlfahrtspflege erfasst. Tendenziell sind hier die drohenden Beeinträchtigungen der Religionsausübung durch das Wirtschaftsrecht geringer als im primären Bereich, weil sie nicht den innersten Kernbereich einer Religionsgemeinschaft betreffen. Dennoch können sie erheblich sein. Demgegenüber haben die Aktivitäten in diesem Bereich eine deutlich höhere Binnenmarktrelevanz, sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht. Das Individualinteresse der Religionsgemeinschaft und das Allgemeininteresse am Binnenmarkt stehen hier in einem ausgewogeneren Kräfteverhältnis als im primären Bereich, so dass eine Abwägungsentscheidung schwerer fällt. Daher ist hier eine pauschalisierte Entscheidung nicht sachgerecht. Es hängt vom Einzelfalle ab, wie die in Konflikt stehenden Interessen im Sinne der praktischen Konkordanz zu vereinbaren sind. Hier müssen alle Abwägungspunkte in die Gesamtschau eingestellt werden. Auf Seiten der Religionsgemeinschaft umfasst das die Bedeutung, die der Aktivität nach eigenen Maßstäben und der als verbindlich empfundenen Lehre für das Funktionieren der Gemeinschaft beigemessen wird. Ferner ist zu beurteilen, wie eng die Beziehung der wirtschaftlichen Tätigkeit zum Kernbereich der Religionsgemeinschaft ist. Auf Seiten des Interesses an der Funktionsfähigkeit des Binnenmarktes muss das ökonomische Gewicht der Aktivität, der Marktanteil, den die Religionsgemeinschaft inne hat, eine etwaige marktbeherrschende Stellung, die Auswirkung auf andere Marktteilnehmer und auf das Preisniveau im Markt berücksichtigt werden. Außerdem hat der EuGH aus dem EG-Vertrag objektive Grundsätze für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes hergeleitet, deren Gewährleistung ebenfalls in die Abwägung einfließen muss. Dies sind die Grundsätze der Offenheit, Transparenz, Nichtdiskriminierung und gegenseitigen Anerkennung der nationalen Standards505. Die wirtschaftlichen Tätigkeiten der Religionsgemeinschaften sind soweit wie möglich in Einklang mit diesen Grundsätzen zu bringen. Ferner kann es sein, dass karitative Dienstleistungen als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse i. S. d. Art. 86 II EGV erbracht werden. Wenn die dazu erforderlichen Voraussetzungen gegeben sind – dies hängt von der Ausgestaltung nach mitgliedsstaatlichem Recht ab, da es den Mitgliedsstaaten obliegt, die Dienstleistungen zu definieren, zu finanzieren und zu organisieren –, entscheidet auch Art. 86 II EGV mit über das Verhältnis der Dienstleistung zum Binnenmarkt. Art. 86 II EGV 504 505
s. o. Kap. C.III.5.b)(2); Kap. C.III.5.d)(3)(b). EuGH, Rs. C-324/98, Slg. 2000, S. I-10745 (Telaustria).
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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(Art. III-166 II VVE) wirkt als eine Art Scharnier zwischen Gemeinwohlverpflichtung und Marktgrundsätzen und bezweckt, die Geltung der Binnenmarktregeln dann auszusetzen, wenn sie die Erbringung der gemeinwohlorientierten Dienstleistungen gefährden. Voraussetzung ist jedoch immer ein Betrauungsakt der Religionsgemeinschaft seitens des Staates. Umstritten ist, ob Religionsgemeinschaften, die in der freien Wohlfahrtspflege tätig sind, mit der Erbringung dieser Dienstleistungen i. S. d. Art. 86 II EGV betraut sind. Dies ist im Einzelfalle zu prüfen. Nicht sachgerecht für die Abwägung im sekundären Bereich ist eine Zweifelsregel (weder „in dubio pro religionis societate“ noch „in dubio pro commercio“); diese darf die Abwägung nicht ersetzen. Doch gilt: je weiter eine Religionsgemeinschaft den innerkirchlichen Bereich verlässt und als Rechtssubjekt am wirtschaftlichen Leben teilnimmt, desto stärker ist sie dem allgemeinen Wirtschaftsrecht unterworfen – insoweit im Einklang mit den Ausführungen des EuGH in Bosman –, und desto mehr Gewicht bekommen die Grundfreiheiten in der praktischen Konkordanz. Noch vielschichtiger wird die Abwägung, wenn ein privater Dritter aus einer Grundfreiheit ein Individualrecht ableitet und sich von der Aktivität der Religionsgemeinschaft in seiner Grundfreiheit beeinträchtigt sieht. Die in den Fällen der unmittelbaren Drittwirkung auftretende Kollision von Grundfreiheit mit der Religionsfreiheit weist zwei Dimensionen auf. Zum einen kollidieren konkrete individuelle Rechtspositionen mit einander. Der Konflikt verfügt jedoch auch über eine weitere, abstraktere Dimension. Diese ergibt sich daraus, dass Grundfreiheiten und Grundrechte unterschiedliche primäre Schutzrichtungen haben506. Grundfreiheiten beziehen ihre grundsätzliche Bedeutung aus ihrer Orientierung an dem Ziel der Herstellung und Erhaltung eines geeinten, barrierefreien Binnenmarktes507. Sie sind Instrumente zur Herstellung des Binnenmarktes als Institution und sind damit primär institutionelle Gewährleistungen. Ihr primäres Schutzziel ist ein außerhalb ihrer selbst liegendes (externes) Gut des Allgemeinwohls. Die individuellen Rechte, die die Grundfreiheiten gewähren, sind in dem Sinne abgeleitete Rechte, denn sie beziehen sich auf das primäre Ziel und legitimieren sich durch dessen Erreichung. Grundfreiheiten enthalten also deswegen individuelle Rechte, weil dadurch das Allgemeinwohlinteresse gefördert wird, das in der Herstellung des Binnenmarktes liegt. Somit stehen die hergeleiteten individuellen Rechte unter dem Vorbehalt der Förderung des Allgemeininteresses am Binnenmarkt. Diese Koppelung von institutionellem Allgemeinwohl und individuellem Interesse ergibt sich gleichsam aus der Natur der Grundfreiheiten und ist somit unauflöslich. 506 507
Kluth, AöR 122 (1997), S. 574; Schindler, S. 150. Schindler, S. 148; Zuleeg, BB 1994, S. 584.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
Das bedeutet, dass es unzulässig ist, aus den Grundfreiheiten individuelle Rechte herzuleiten, die nur individuelle Interessen fördern, nicht aber das Allgemeinwohl. Die institutionelle und objektive Wirkweise hat sachlogisch Vorrang vor der Verbürgung individueller Rechte. Ein Ausfluss dieser Konstruktion ist die effet-utile-Rechtssprechung des EuGH, die diesen Zweck der Grundfreiheiten mittels einer möglichst nutzbringenden Auslegung derselben fördern soll. Die Grundrechte verfolgen keinen in diesem Sinne externen Zweck. Ihre primäre Schutzrichtung ist die Gewährung der in ihnen enthaltenen Freiheit selbst. Sie sind primär individuelle Gewährleistungen und legitimieren sich aus sich selbst heraus, indem sie eine individuelle Freiheit gewähren, ohne eines externen sinngebenden Bezuges zu bedürfen. Die Garantie der individuellen Freiheiten darf ihrerseits nicht grenzenlos sein; dies wird mittels der Schrankensystematik gesichert. Das Verständnis der beiden unterschiedlichen Gewährleistungsebenen und ihrer Funktionen ist von großer Bedeutung für den Fall einer Kollision der Religionsfreiheit mit den Grundfreiheiten unter Berücksichtigung der unmittelbaren Drittwirkung. Wägt man die kollidierenden Rechte gegeneinander ab, so ist zu beachten, dass die Grundfreiheiten primär das institutionelle Ziel des Binnenmarktes und somit das Allgemeinwohl schützen und sekundär ein daran gekoppeltes Individualinteresse. Ein Grundrecht schützt primär ein originär individuelles Interesse. Daraus folgt für die Abwägung des Grundrechts mit der Grundfreiheit: nur wenn die Ausübung des Grundrechts in das individuelle Interesse eines privaten Dritten eingreift und dadurch gleichzeitig den Binnenmarkt und das Allgemeininteresse zu beeinträchtigen geeignet ist, ist es erforderlich, dass das Grundrecht zurücktritt. Nicht jede Ausübung des Grundrechts zu Ungunsten des individuellen Rechts eines Privaten aus einer Grundfreiheit beeinträchtigt gleichzeitig den Binnenmarkt, da ein Einzelfall oftmals im Verhältnis zur Größe des Binnenmarktes keine spürbaren Auswirkungen auf den Binnenmarkt nach sich zieht. Somit gelangt man zu einem Spürbarkeitserfordernis. Daraus folgt, dass die Ausübung eines Grundrechts nur dann die Grundfreiheiten verletzt, wenn sie eine Eingriffsintensität aufweist, die den Binnenmarkt und das daran bestehende Allgemeininteresse spürbar beeinträchtigt. Im Falle einer Kollision ergibt sich vor diesem Hintergrund für die Abwägung von Grundfreiheit und Grundrecht die folgende Untersuchungsreihenfolge. Zunächst ist das individuelle Rechtsgut des Grundrechts gegen das individuelle Recht, das der Dritte aus der Grundfreiheit herleitet, abzuwägen. Wird dabei die Religionsfreiheit bereits höher gewichtet, tritt die Grundfreiheit zurück. Geht der individuelle Gehalt der Grundfreiheit vor, bedeutet dies noch nicht, dass die Religionsfreiheit zurücktreten muss. Die Grundfreiheit setzt sich nur durch,
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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wenn ihr primäres Ziel, die Gewährleistung des Binnenmarktes als Allgemeingut, durch die Religionsfreiheit spürbar beeinträchtigt wird. Die Beeinträchtigung der sekundären individuellen Gewährleistung und des primären Schutzziels müssen kumulativ vorliegen, damit die Grundfreiheit Vorrang vor dem Grundrecht der Religionsfreiheit erlangen kann. In einem zweiten Schritt ist daher zu prüfen, ob die Ausübung der Religionsfreiheit die Realisierung des Binnenmarktes und damit das Allgemeinwohl spürbar gefährdet. Diese Spürbarkeitsgrenze kann überschritten sein, wenn eine erhebliche Zahl von Binnenmarktteilnehmern in ihren Freiheiten eingeschränkt wird, oder wenn der freie Austausch von Waren und Dienstleistungen erheblich eingeschränkt wird. Dies wird in aller Regel nicht schon bei dem individuellen Verhalten einer Religionsgemeinschaft gegeben sein. Denkbar ist es aber bei planmäßigem Verhalten großer Religionsgemeinschaften, die in erheblichem Umfang wirtschaftlich tätig sind. Die Spürbarkeitsschwelle kann auch überschritten sein, wenn ein an sich unerhebliches Verhalten eine solche Vorbildwirkung aufweist, dass Nachahmungseffekte erhebliche Auswirkungen auf den Binnenmarkt zeitigen. Auch durch eine Vielzahl unkoordinierter Einzelfälle kann der Binnenmarkt erodiert werden. Die Überschreitung der Spürbarkeitsschwelle für sich allein bedeutet aber noch nicht, dass dann die Religionsfreiheit gegenüber den Grundfreiheiten zurücktreten muss. Dies wäre keine Abwägung, sondern ein starrer Mechanismus, der große Religionsgemeinschaften allein wegen ihrer Marktmacht benachteiligen würde. Ist die Überschreitung der Spürbarkeitsschwelle festgestellt, muss vielmehr eine echte Abwägung zwischen dem Allgemeininteresse am Binnenmarkt und dem Individualinteresse an der Religionsfreiheit stattfinden. (cc) Tertiärer Bereich Im tertiären Bereich508, der die gewerblichen Tätigkeiten einer Religionsgemeinschaft umfasst, tritt die Religionsfreiheit typischerweise hinter die Binnenmarktregeln zurück. Die gewerblichen Tätigkeiten sind nicht in sich selbst Religionsausübung, sondern dienen mittelbar der Ermöglichung der Religionsausübung, indem sie diese finanzieren helfen. Das religiöse Leben der Gemeinschaft ist also nur indirekt betroffen. Demgegenüber fallen die Tätigkeiten von ihrem Charakter und ihrem Umfang her meist klar in den Bereich des Binnenmarktes (z. B. Betrieb landwirtschaftlicher Güter, Brauereien, kirchliche Banken, kirchliche Immobiliengesellschaften etc.). Hier überwiegt typischerweise das Interesse der Allgemeinheit an der Funktionsfähigkeit des Marktes; die Religionsgemeinschaft, die sich wirtschaftlich 508
s. o. Kap. C.III.5.b)(3); Kap. C.III.5.d)(3)(c).
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
betätigt, muss das sich daraus ergebende Marktrisiko tragen. Nur im Einzelfalle könnte das Interesse der Religionsgemeinschaft zu einem Zurückweichen der Marktregeln als ultima ratio führen, wenn etwa die Existenz der Religionsgemeinschaft und damit die gesamte Ausübungsmöglichkeit der Religion durch die Anwendung der Marktregeln akut und unausweichlich gefährdet ist. h) Der Schutz vor Eingriffen in die Religionsfreiheit durch Private Die ungestörte Praktizierung der Religion kann nicht nur durch staatliche Eingriffe, sondern auch durch das Verhalten Privater beeinträchtigt werden. Ist eine Beeinträchtigung privaten Ursprungs, stellt sich die Frage, ob der Beeinträchtigte in irgendeiner Weise Schutz aus dem Grundrecht der Religionsfreiheit herleiten kann. Dazu kommen zwei Wege in Betracht. Erstens ist denkbar, das Grundrecht der Religionsfreiheit unmittelbar zwischen Privaten zur Geltung kommen zu lassen. Zweitens können Schutzpflichten des Staates (hier der Union) konstruiert werden, deren Inhalt es wäre, zu Gunsten des beeinträchtigten Privaten einzuschreiten und die Beeinträchtigung durch den privaten Störer zu unterbinden. (1) Unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte Beruft sich ein Nichtmitglied einer bestimmten Religionsgemeinschaft dieser gegenüber auf seine Religionsfreiheit, stellt die Frage der unmittelbaren Grundrechtsgeltung zwischen Privaten509. Beispielsweise könnte ein deutscher Lehrer an einer katholischen Privatschule in Italien zum protestantischen Glauben wechseln und daher von der Kündigung seines Arbeitsverhältnisses bedroht sein; er könnte versuchen, sich dagegen auf seine unionsrechtliche Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC zu berufen. Die Frage, ob die Grundrechte der EGRC unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten entfalten, ist in Rechtssprechung und Literatur noch ungeklärt. Der Grundrechtekonvent hat diese Diskussion bewusst ausgeklammert und der dogmatischen Entwicklung durch den EuGH und die Jurisprudenz überlassen510. Für eine solche Drittwirkung lässt sich anführen, dass der EuGH in seiner Rechtssprechung eine unmittelbare Drittwirkung der wirt509
Ist die Religionsgemeinschaft eine Staatskirche, so handelt es sich nicht um eine Frage der Drittwirkung, sondern des klassischen Grundrechtsverhältnisses zwischen Privaten und dem Staat. Unter Art. 10 I EGRC wäre dies allerdings nur relevant, soweit eine mitgliedsstaatliche Staatskirche an der Durchführung des Rechts der Union (Art. 51 I EGRC) beteiligt ist. 510 Borowsky, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 51, Rn. 31.
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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schaftlichen Grundfreiheiten bejaht511. Dies könnte auch für die Grundrechte der Union gelten, da die Grundfreiheiten als spezielle Ausprägungen der Grundrechte angesehen werden können512. Zwingend ist dieser Schluss jedoch nicht, da die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten gerade der Inbegriff ihrer Spezialität sein könnte und somit ein besonderes Merkmal gerade der Grundfreiheiten wäre, über das nur diese verfügen, um ihrer besonderen Funktion gerecht zu werden, die Vollendung des Binnenmarktes zu fördern513. Außerdem ließe dieser Rückschluss eine unmittelbare Aussage nur über die Unionsgrundrechte zu, die zu Grundfreiheiten spezialisiert worden sind, nicht jedoch über die Religionsfreiheit. Gegen eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte generell sprechen mehrere Argumente. Der Wortlaut des Art. 51 I EGRC benennt als Adressaten der Grundrechte nur die Union und die Mitgliedsstaaten, nicht aber Private. Zwar lässt sich hiergegen wiederum einwenden, dass Art. 51 EGRC eine lex generalis sein könnte, über die hinaus einzelne Grundrechte spezialgesetzliche Drittwirkung entfalten514; der Wortlaut des Art. 10 I EGRC deutet jedoch nicht auf eine Drittwirkung hin. Auch ist zuzugeben, dass der EuGH von einer Drittwirkung der Grundfreiheiten ausgeht, obwohl die Formulierungen der Grundfreiheiten in Tatbestand und Schranken so gewählt sind, dass sie vom Wortlaut her nur gegenüber staatlichem Handeln eingreifen. Trotz dieser Einwände spricht die Gesamtbetrachtung dafür, eine unmittelbare Drittwirkung der Unionsgrundrechte, zumindest jedoch der Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC, abzulehnen. Neben dem Wortlaut spricht auch die klassische Grundrechtskonzeption in allen Mitgliedsstaaten, nach der die Grundrechte Abwehrrechte im Verhältnis der Bürger zum Staat sind, dagegen. Da die Unionsgrundrechte ursprünglich aus der Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen abgeleitet sind, gilt die klassische Konzeption auch für das Verhältnis der Unionsbürger zur Union und zu den Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts. Auch die zweite Rechtserkenntnisquelle der Unionsgrundrechte, die EMRK, lehnt 511
EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, S. 1405, Rn. 16 ff. (Walrave) zur Dienstleistungsfreiheit; EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 84 (Bosman) zur Arbeitnehmerfreizügigkeit; EuGH, Rs. 58/80, Slg. 1981, S. 181, Rn. 17 ff. (Dansk Supermarked) zur Warenverkehrsfreiheit; EuGH, Rs. 90/76, Slg. 1977, S. 1091, Rn. 28 (van Ameyde) zur Niederlassungsfreiheit. 512 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 15; § 13, Rn. 12; a. A. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 81. 513 Durch die unmittelbare Drittwirkung kann verhindert werden, dass Beschränkungen, die den Mitgliedsstaaten untersagt sind, durch Handlungen Privater in Ausnutzung ihrer Privatautonomie aufrecht erhalten werden, vgl. Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 42. 514 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 63; Borowsky, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 51, Rn. 31.
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
eine unmittelbare Drittwirkung ab515. Es ist nicht ersichtlich, wieso bei der EGRC nun eine Konzeptionsveränderung hin zur unmittelbaren Drittwirkung eintreten soll, zumal ein spezifischer Grund, anders als bei den Grundfreiheiten, hier nicht ersichtlich ist. Auch in rechtsteleologischer Hinsicht ist eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte nicht wünschenswert, da sie zu einer weitreichenden Einschränkung der Privatautonomie führen müsste516. Daher ist davon auszugehen, dass die Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC keine unmittelbare Drittwirkung entfaltet. (2) Unionsrechtliche Schutzpflicht zu Gunsten der Religionsfreiheit Der Schutz Privater vor Handlungen anderer Privater, die die Religionsfreiheit beeinträchtigen, findet jedoch auch ohne unmittelbare Drittwirkung durch Schutzpflichten des Staates zu Gunsten eines Grundrechtsträgers statt, die sich aus dem Grundrecht ergeben. Auch die Unionsgrundrechte sind nach allgemeiner Grundrechtsdogmatik in einer solchen leistungsrechtlichen Dimension ausgeprägt517. Der EuGH hat in der Rechtssache „Gouda“ zum Grundrecht der Meinungsfreiheit ausgeführt, dass es den Mitgliedsstaaten obliegen könne, Maßnahmen zu treffen, die die Vielfalt im Medienbereich sichern518 und dass insofern – mitgliedsstaatliche – Schutzpflichten aus den Unionsgrundrechten entstehen können. Begründen die Unionsgrundrechte aber mitgliedsstaatliche Schutzpflichten, ist daraus zu schließen, dass sie prinzipiell auch Schutzpflichten der Union begründen können519. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit ist dem der Religionsfreiheit verwandt; in der Rechtssache Gouda ging es sogar ausdrücklich um die kulturelle und religiöse Meinungsvielfalt, so dass die Rechtssprechung auf die Religionsfreiheit übertragbar ist. Das bedeutet, dass ein Mitgliedsstaat oder die EU unter Umständen verpflichtet sein könnte, Maßnahmen zu treffen, die die religiöse Vielfalt sichern. Der EuGH hat zur Religionsfreiheit noch nichts derartiges entschieden. Diesbezüglich liegt aber Rechtssprechung der EKMR vor. In einer Entscheidung zu Scientology hat die EKMR ausgeführt, dass eine Religionsgemeinschaft zwar aus Art. 9 EMRK keinen 515
Ehlers, JURA 2000, 377 f. Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 13, Rn. 32. 517 EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007, Rn. 23 (Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ./. Commissariaat voor de Media); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 47; Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 13, Rn. 12, 20. 518 EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007, Rn. 23 (Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ./. Commissariaat voor de Media), kritisch zur Auslegung des Urteils: Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 47a. 519 Zur Kompetenzproblematik vgl. sogleich. 516
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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Schutz vor Kritik beanspruchen könne. Wenn aber diese Kritik eine solche Intensität erreicht, dass die Ausübung der Religionsfreiheit gefährdet wird, so könne der Staat verpflichtet sein, zum Schutze der Religionsfreiheit der Glaubensgemeinschaft einzugreifen520. Die Schutzintensität liegt bei dieser leistungsrechtlichen Ausformung des Freiheitsrechtes allerdings recht niedrig. Nach der vorhandenen Rechtssprechung löst nicht jede Beeinträchtigung eines Grundrechts durch einen Privaten eine staatliche Schutzpflicht aus – dies käme im Ergebnis einer unmittelbaren Drittwirkung und der Aushöhlung der Privatautonomie gleich, und es würde den Staat seiner Einschätzungsprärogative berauben521 –, sondern erst die erhebliche Beeinträchtigung, die ein Freiheitsrecht in seinem Kern gefährdet522. Damit bietet die staatliche Schutzpflicht einen Wesentlichkeitsschutz523. Wegen der Transferklausel des Art. 52 III EGRC gilt diese Rechtssprechung zu Art. 9 EMRK auch für das entsprechende Grundrecht des Art. 10 I EGRC. Schutzpflichten der EU aus Art. 10 I EGRC gegenüber Religionsanhängern und Religionsgemeinschaften können sich also prinzipiell ergeben, wenn die Religionsausübung durch das Verhalten Privater in ihrem wesentlichen Kern gefährdet ist. Schutzpflichten der Europäischen Union, die aus den Unionsgrundrechten abgeleitet werden, stehen allerdings unter dem Vorbehalt einer entsprechenden Kompetenz der EU. Die Union darf nur insoweit zum Schutze eines Grundrechts tätig werden, wie ihr eine entsprechende Kompetenz zugewiesen worden ist. Eine grundrechtliche Schutzpflicht vermittelt keine Kompetenz, sondern setzt eine solche voraus524. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verlangt eine bestimmte Kompetenzzuweisung an die EU (Art. 5 EUV, Art. 5 EGV; Art. I-11 VVE). Die EGRC ist zwar so formuliert, dass die Parallelität zwischen Grundrechtsschutz und Kompetenz nicht immer beachtet zu sein scheint. Doch stellt Art. 51 II EGRC klar, dass die Grundrechtecharta die Zuständigkeiten der Union nicht ausdehnt und der EU keine neuen oder zusätzlichen Zuständigkeiten vermittelt. Die in der Charta enthaltenen Grundrechte werden nur im Rahmen der ohnehin vom EUV bzw. Verfassungsvertrag bestimmten Zuständigkeiten wirksam525. Durch diese Vorschrift soll gerade verhindert werden, dass die EGRC auf lange Sicht eine kompetenzansaugende Wirkung entfaltet, etwa 520
EKMR, DR 21, S. 109, 111 (Scientology). Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 47. 522 EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007, Rn. 23 (Stichting Collectieve Antennevoorziening Gouda ./. Commissariaat voor de Media); EKMR, DR 21, S. 109, 111 (Scientology). 523 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 47. 524 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 13, Rn. 20. 525 Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 51 EGRC. 521
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C. Das Grundrecht der Religionsfreiheit im Recht der EU
indem aus abwehrrechtlich konzipierten Grundrechten Schutzpflichten hergeleitet werden526. Das bedeutet, dass die EGRC manche Grundrechte und die entsprechenden Schutzpflichten quasi „auf Vorrat“ enthält527, ihre Aktualisierung aber mangels Kompetenzzuweisung gesperrt ist. Diese können dann bei Bedarf – etwa bei einer Änderung oder Erweiterung des Kompetenzkatalogs der EU – aktiviert werden. Im Bereich des Religionsrechts verfügt die EU gerade über keine ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen. Wie gezeigt528 ergeben sich die vielfältigen Regelungen des EU-Religionsrechts nicht aus gezielter religionsrechtlicher Gesetzgebung, sondern „gelegentlich“ bei der Regelung anderer kompetentieller Materie (inzidentes Religionsrecht). Vor diesem Hintergrund darf keine religionsrechtliche Kompetenz der Union über Schutzpflichten aus Art. 10 I EGRC konstruiert werden, die dem Primärrecht der EU widerspricht. Auch die Transferklausel des Art. 52 III EGRC, die prinzipiell die Rechtssprechung zu den Schutzpflichten aus Art. 9 EMRK auf Art. 10 I EGRC überträgt, stößt hier an ihre Grenze. Denn die Grundrechte der EGRC sind Bestandteil einer autonomen Unionsrechtsordnung, in die sich der übertragene EMRK-Acquis strukturell einordnen muss. Doch es sind Schutzpflichten der EU zur Religionsfreiheit unter der jetzigen Rechtslage vorstellbar, die die Kompetenzgrenzen der EU nicht überschreiten. Denkbar sind Fälle, in denen ein Privater unter Ausnutzung seiner Binnenmarktfreiheiten die Religionsausübung anderer Privater (einschließlich Religionsgemeinschaften) in anderen Mitgliedsstaaten beeinträchtigt. Er könnte dies z. B. durch die Ausstrahlung von Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen, den Versand von Post oder e-Mails oder durch Internetinhalte tun, die sich gegen Religionsgemeinschaften richten und eine solche Intensität erreichen, dass diese in ihrem Wesenskern beeinträchtigt werden. Diese grenzüberschreitenden Tätigkeiten werden – ungeachtet ihres Inhalts – durch das Binnenmarktrecht ermöglicht. Der Mitgliedsstaat, in dem sich das Ziel dieser Aktivitäten befindet, kann nicht auf den Verursacher zugreifen, da dieser sich außerhalb seines Hoheitsgebietes befindet. Er kann seinen Bürger also nicht schützen; seine mitgliedsstaatliche Schutzpflicht versagt529. Da die Beeinträchtigung in der Folge des Binnenmarktrechts möglich wird, ist zu überlegen, ob eine unionsrechtliche Schutzpflicht aktiviert werden muss. Das Instrumentarium der EU ist hier noch sehr begrenzt. Möglich ist aber eine Klage vor dem EuGH gegen den Mitgliedsstaat, in 526
Borowsky, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 51, Rn. 37. Borowsky, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 51, Rn. 42. 528 s. o. Kap. B.III.2. 529 Die Wahrnehmung von Rechten aus internationalen Abkommen oder die Anrufung internationaler Gerichtshöfe soll hier außer Acht bleiben. 527
III. Grundrecht der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 I EGRC
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dessen Hoheitsbereich sich der Störer befindet. Die Vorschrift des Art. 12 der Fernsehrichtlinie530, die Religionsgemeinschaften vor verletzender Werbung schützt, und des Art. 22 Fernsehrichtlinie, der Sendungen verbietet, die zum religiösen Hass aufrufen, kann als eine erste sekundärrechtliche Ausgestaltung einer grundrechtlichen Schutzpflicht der Religionsfreiheit begriffen werden. Eine solche Ausübung von Schutzpflichten, die keine primär religionsrechtlichen Regelungen darstellt, widerspricht auch nicht den der EU gesetzten Kompetenzgrenzen. (3) Sonderfall: Schutzpflicht bei innerkirchlichen Sachverhalten Die Frage, ob ein Mitglied einer Religionsgemeinschaft gegenüber seiner Religionsgemeinschaft einen Anspruch auf Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC geltend machen kann, betrifft im Verhältnis dieser beiden Rechtssubjekte zu einander eine rein innerkirchliche Problematik. Die Frage kann innerkirchlich nur an Hand der jeweiligen Glaubens- und Lehrsätze der Gemeinschaft beurteilt werden. Da viele Religionen einen Ausschließlichkeitsanspruch ihrer Lehre vertreten, gewähren sie ihren Mitgliedern aus theologischen Gründen oft keinen Anspruch auf Religionsfreiheit und oftmals sogar kein Recht auf einen Kirchenaustritt. Dieser Bereich der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Glaubensgemeinschaft und Gläubigen ist theologisch determiniert und somit dem Zugang des staatlichen Rechts entzogen. Es handelt sich um einen Kernbereich der kirchlichen Selbstbestimmung. Im Falle Prüssner hat die EKMR entschieden, dass Art. 9 EMRK nicht dazu verpflichtet, dass eine Kirche innerhalb ihres Herrschaftsbereichs ihren Mitgliedern Religionsfreiheit gewähre531. Dennoch steht ein Mitglied gegenüber seiner Religionsgemeinschaft nicht schutzlos dar. Aus der staatlichen Verbürgung der Religionsfreiheit ergibt sich, dass ihm ein staatlich anerkanntes Austrittsrecht zusteht532. Insofern gewährt das Freiheitsrecht eine staatliche Schutzpflicht. Deren Wirkung bleibt allerdings auf den weltlichen Bereich begrenzt; innerkirchliche Geltung kann nicht hergeleitet werden. Gegen einen Versuch des Staates, dieses Recht innerkirchlich durchzusetzen, könnte die Religionsgemeinschaft wiederum ihr Recht auf korporative Religionsfreiheit entgegenhalten.
530 Richtlinie 1989/552/EWG vom 3.10.1989 zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit; ABl. 1989 C 289, S. 23 ff. 531 EKMR, Entscheidung vom 8.5.1985, BNr. 10901/84, NJW 1987, S. 1131 (Prüssner ./. BR Deutschland). 532 EKMR, DR 40, S. 284, 286 (Gottesmann).
D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften gemäß Art. I-52 VVE Der „Kirchenartikel“ I-52 VVE ist die erste Erwähnung von Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in der Sphäre des Primärrechts der EU. Er ist aus der unverbindlichen Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften hervorgegangen1. Der Verfassungskonvent hat die Erklärung fast wörtlich als Absätze I und II des Art. I-52 VVE übernommen und um einen neuen Absatz III ergänzt. Gemäß Art. I-52 I, II VVE achtet die Union den Status der Kirchen und der religiösen und weltanschaulichen Vereinigungen, den diese nach dem Recht ihrer Mitgliedsstaaten genießen. Art. I-52 III VVE sieht einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog der Europäischen Union mit diesen Gemeinschaften vor.
I. Die Entstehungsgeschichte des Art. I-52 VVE 1. Die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam Der Vorläufer des heutigen Art. I-52 VVE war die dem Vertrag von Amsterdam beigefügte Erklärung Nr. 112. Die Reaktion auf diese Erklärung war geteilt. Einerseits wurde es als Erfolg angesehen, dass die Kirchen und Religionsgemeinschaften erstmals im Zusammenhang mit dem Vertragsrecht der EU erwähnt wurden, wenn auch lediglich in einer unverbindlichen Erklärung. Andererseits war jedoch das erklärte Ziel der beiden großen Kirchen in Deutschland, die die treibenden Kräfte hinter der entsprechenden Initiative waren, verfehlt worden. Ihnen lag nämlich daran, in einer verbindlichen primärrechtlichen Norm den Schutz und die Nichtbeeinträchtigung der bestehenden nationalstaatlichen Strukturen des Staatskirchenrechts zu garantieren3. Die Ansichten über die genaue Bedeutung der Erklärung 1 Vgl. dazu ausführlich Vachek, S. 125 ff.; Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 284 ff. m. w. N.; Heintzen, in: FS Listl, S. 33 ff. 2 Zu deren Entstehungsgeschichte einschließlich alternativer Entwürfe vgl. Vachek, S. 125 ff.; Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 285 ff.; Heinig, Öffentlichrechtliche Religionsgesellschaften, S. 415 ff. 3 Vgl. Kirchenamt der EKD, Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union.
I. Die Entstehungsgeschichte des Art. I-52 VVE
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gingen auseinander. Während einige Stimmen der Erklärung bindende rechtliche Wirkung als völkerrechtlicher Vertrag zuerkennen wollten4, wurde sie überwiegend und zutreffend als rechtsunverbindlicher Akt („soft law“) gesehen, der lediglich als Auslegungshilfe bei der Interpretation des EU-Rechts (etwa durch den EuGH) hätte Relevanz erlangen können5. Gelegentlich wird versucht, die Bedeutung der Erklärung Nr. 11 zu erhöhen, indem sie in Zusammenhang mit Art. 6 III EUV gebracht wird, nach dem die EU die nationale Identität der Mitgliedsstaaten zu achten hat6. Art. 6 III EUV enthält zwar kein soft law, sondern eine Rechtspflicht des Achtens. Aber daraus kann keine Unantastbarkeit des nationalen Staatskirchenrechts in seiner Gesamtheit hergeleitet werden. Denn erstens bedeutet Achten nicht, dem nationalen Recht unbedingten Vorrang einzuräumen, sondern nur, ihm den gebührenden Platz im Gefüge des Unionsrechts zu gewähren7. Zweitens erfasst die nationale Identität i. S. d. Art. 6 III EUV nicht das gesamte Staatskirchenrecht, sondern nur dessen Grundzüge, soweit es nämlich charakterisierender Ausdruck der nationalen Identität ist8. Obwohl die Erklärung Nr. 11 rechtsunverbindliches soft law ist, blieb sie nicht ohne Wirkung: der europäische Gesetzgeber hat sich auf sie bezogen, um die Ausnahme des Art. 4 II der Gleichbehandlungsrichtlinie 2000/78/EG zu Gunsten von Kirchen und Ethos-basierten Organisationen zu rechtfertigen9. Die Kirchenerklärung klingt auch an in der Richtlinie 2002/14/EG über die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft10. Zweckdienlich war die Erklärung aber auch darin, die institutionelle „Sichtbarkeit“ der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften auf europäischer Ebene zu erhöhen. Zusammen mit einem gewissen Gewöhnungseffekt an die Erwähnung religiöser Strukturen11 – eine solche Erwähnung löste bei Staaten mit striktem Trennungssystem zunächst Gemeinsame Stellungnahme zu Fragen des europäischen Einigungsprozesses, in: Gemeinsame Texte 4, 1995. 4 Robbers, HK 1997, S. 624. 5 Heintzen, in: FS Listl, S. 47; Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 298; de Wall, ZevKR 47 (2002), S. 212, m. w. N. 6 Heintzen, in: FS Listl, S. 47; Weber, ZevKR 47 (2002), S. 283; Robbers, in: VVDStRL 59 (2000), S. 257 f.; Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 298. 7 Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 217; s. u. Kap. D.II.1.d). 8 Vgl. dazu ausführlich unten Kap. G. 9 Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, Erwägungsgrund Nr. 24; ABl. 2000 L 303, S. 16 ff.; s. u. Kap. K.I. 10 Richtlinie 2002/14/EG vom 11.3.2002 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft, Erwägungsgrund Nr. 24, ABl. 2002 L 80, S. 29 ff.; s. u. Kap. K.II.2. 11 Vgl. unten Kap. K.II.2.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Unbehagen aus – dürfte die Erklärung erfolgreich als „Türöffner“ und Ausgangsbasis für die Bemühungen fungiert haben, den Art. I-52 VVE zu schaffen. 2. Die Arbeiten des Verfassungskonvents an Art. I-52 VVE In der 16. Plenarsitzung vom 27./28. Februar 2003 hatte Konventspräsident Giscard d’Estaing anlässlich der Vorstellung der Artikel 1–16 des Verfassungsentwurfs angekündigt, dass das Konventspräsidium zu einem späteren Zeitpunkt vorschlagen würde, die Erklärung Nr. 11 in den Verfassungstext zu übernehmen12. Daraus entsponn sich die erste längere Debatte im Verfassungskonvent über die Rolle einer ausdrücklichen Vorschrift zum Verhältnis der EU zu den Religionsgemeinschaften. Die Positionen waren breit verteilt. Einige Abgeordnete lehnten jeglichen Hinweis auf die Religion im Verfassungsvertrag ab, während andere die Bedeutung der Religionsfreiheit oder der Säkularität des Staates abstrakt betonten. Der Abgeordnete Follini unterstützte in seinem Redebeitrag ausdrücklich die Notwendigkeit einer Regelung über institutionalisierte Beziehungen zwischen Union und Religionsgemeinschaften und begründete seine Ansicht damit, dass diese Klausel es gerade erlaube, die Trennung von Union und Kirche zu bekräftigen13. Um die Weltlichkeit des Staates und seine Trennung von der Religion zu gewährleisten, müsse eine ausgleichende Regelung zwischen den gesellschaftlichen Bereichen von Staat und Religion geschaffen werden. Daher sei es erforderlich, Religion unter ihrem institutionellen Aspekt und als Teil der Zivilgesellschaft in die Verfassung aufzunehmen. Der Verfassungskonvent befasste sich in den Plenarsitzungen vom 3./4. April 2003 (18. Sitzung) und vom 24./25. April 2003 (19. Sitzung) in Brüssel mit dem „Kirchenartikel“, der am 3. April 2003 zunächst als Art. 37 Verfassungsentwurf vom Konventspräsidium dem Plenum zur Debatte vorgelegt wurde. Dieser war Teil des Titels VI des Verfassungsentwurfs „Das demokratische Leben der Union“14. Auch zu diesem Zeitpunkt enthielt Art. 37 bereits einen Absatz III. Dieser lautete ursprünglich: „Die Union pflegt in Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags dieser Kir12 VK, Dok.-Nr. CONV 601/03. Vgl. zu den Beratungen im Verfassungskonvent auch die Berichte der Beobachter von CEC, COMECE und EKD in: CEC, COMECE, EKD (Hrsg.), The European Convention – The Evolution of a Constitution for Europe (Reports on the Plenary Sessions of the European Convention). 13 Follini (I, Parl.), ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 27.2.2003: http://www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030227.htm; CEC, COMECE, EKD (Hrsg.), The European Convention – The Evolution of a Constitution for Europe (Reports on the Plenary Sessions of the Convention), S. 114 f. 14 VK, Dok.-Nr. CONV 650/03.
I. Die Entstehungsgeschichte des Art. I-52 VVE
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chen und Gemeinschaften einen regelmäßigen Dialog mit ihnen.“15 Der Kommentar des Konventspräsidiums zu Art. 37 enthält keine Substanz; er weist lapidar auf die Erklärung Nr. 11 hin und wiederholt im Wesentlichen den Wortlaut des Absatzes III16. Bei der Vorstellung des Präsidiumsvorschlags im Plenum erläuterte der Vizepräsident des Konvents Dehaene, dass der Dialog der europäischen Institutionen mit den in der Vorschrift genannten Organisationen klar zu unterscheiden sei von dem Dialog mit den Organisationen der Zivilgesellschaft gemäß Art. 34 Verfassungsentwurf17. Die Ergänzung zur Endfassung „[. . .] einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog [. . .]“ geht zurück auf einen Änderungsantrag der finnischen Abgeordneten Tiilikainen, Peltomäki, Kiljunen, Vanhanen und Korhonen. Diese Abgeordneten – sie standen dem Kirchenartikel durchaus kritisch gegenüber – begründeten ihren Antrag damit, dass der Dialog nach Art. 37 III Verfassungsentwurf auf denselben Prinzipien beruhen solle wie der Dialog mit der Zivilgesellschaft gemäß Art. 34 III Verfassungsentwurf18. Die Ergänzung beruht somit auf einer Abgleichung des Textes mit der Vorschrift zum Dialog mit der Zivilgesellschaft. Die Debatte über den Präsidiumsvorschlag wurde auf der 19. Plenarsitzung am 24./25. April 2003 geführt. Nach der Vorstellung des Präsidiumsentwurfs wurden aus dem Plenum etwa vierzig Änderungsanträge vorgebracht, die jedoch oftmals weitgehend deckungsgleich waren und daher in Kategorien zusammengefasst werden können. In der Debatte äußerten sich die Abgeordneten entsprechend ihren Änderungsanträgen. Die Debatte 15 Engl.: „The Union shall maintain a regular dialogue with these churches and organisations, recognising their identity and their specific contribution.“/franz.: „L’Union maintient un dialogue régulier avec ces églises et organisations, en reconaissance de leur identité et leur contribution spécifique.“ 16 VK, Dok.-Nr. CONV 650/03; zu Art. 37: „Comments: 1. Paragraphs 1 and 2 take over in full the text of Declaration 11 annexed to the Amsterdam Treaty, on the status of churches and non-confessional organisations. 2. Paragraph 3 specifies that the Union is to maintain a dialogue with the churches and organisations referred to in paragraphs 1 and 2 (as with the associations and civil society; see Article 34).“ 17 CEC, COMECE, EKD (Hrsg.), The European Convention – The Evolution of a Constitution for Europe (Reports on the Plenary Sessions of the Convention), S. 127. 18 Die Begründung im Änderungsantrag lautet: „We take a critical view as regards the need for a separate article in the Constitution concerning churches and non-confessional organisations. In our view, these could well be included in Article 34 paragraph 3, together with representative associations and civil society. If, however, the Convention should choose to retain the provision, the dialogue envisaged in paragraph 3 should be based on the same principles as the dialogue in Article 34 paragraph 3.“
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
war durchaus lebhaft und fand die Beteiligung einer recht großen Anzahl von Abgeordneten. Eine Anzahl von Abgeordneten sprach sich gegen Art. I-52 I, II VVE aus und verlangten dessen Streichung. Teilweise hielten sie die Vorschrift für überflüssig, da sie der Ansicht waren, dass die EU ohnehin keine Kompetenz zur Regelung des Verhältnisses Staat-Kirche in den Mitgliedsstaaten habe. Manche meinten, dass Art. I-52 I, II VVE redundant sei, da sein Inhalt sich bereits aus Art. 10 I EGRC ergebe19. Eine Abgeordnete warnte vor unvorhergesehenen Konsequenzen, wenn eine unverbindliche Erklärung in verbindliches Primärrecht umgewandelt wird20. Das im Vertrag von Amsterdam gefundene Gleichgewicht über das Statut der Kirchen solle nicht angetastet werden; dies könne aber geschehen, wenn die Erklärung Rechtsstatus erhalte. Juristische Probleme könnten auftreten, wenn Rechte für bestimmte weltanschauliche Organisationen geschaffen werden. Eine präzise juristische Analyse sei zu diesem Punkt erforderlich. Andere Abgeordnete warnten vor den Gefahren bestimmter Organisationen oder der Religion generell. So wurde befürchtet, dass Scientology oder andere zweifelhafte Organisationen durch die Klausel in den Mitgliedsstaaten begünstigt werden könnten21, oder es wurde auf die Vielzahl von Kriegen verwiesen, die in Europa im Namen der Religion geführt worden seien22. Die Gruppe von Abgeordneten, die sich für die Aufnahme des Art. I-52 I, II VVE aussprachen, taten dies unter Rückgriff auf folgende Argumente: es sei notwendig, die Achtung der Union für die verschiedenen staats-kirchenrechtlichen Systeme in der EU in der Verfassung zu verankern23; dies wurde zum Teil auch mit dem Hinweis auf Subsidiarität24 und dem Schutz der nationalen Identität25 begründet. Art. I-52 I, II VVE verdeutliche, dass die EU eine Wertegemeinschaft sei26 und bekräftige die Relevanz der dort genannten Organisationen für die Gesellschaft27. Die Norm sei nicht nutzlos 19 Demiralp (TR, Reg.), ÄA; Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 20 Andreani (F, Reg.), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4. 2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 21 de Rossa (IRL, Parl.), ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 22 Helle (FIN, Parl.), ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 23 Fischer (D, Reg.), Olesky (PL, Parl.), Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424. htm. 24 Boesch (Ö, EP), Figel (SK, Parl.), Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 25 Brok (EP), Haenel (F, Parl.), Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm.
I. Die Entstehungsgeschichte des Art. I-52 VVE
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neben Art. 10 I EGRC, sondern komplementär zu diesem; ein Dialog zwischen Politik und den Religionen sei eine Notwendigkeit, für die die Voraussetzungen geschaffen werden müssen; daher enthielten so gut wie alle mitgliedsstaatlichen Verfassungen besondere Vorschriften betreffend Religion, Kirchen und ähnliche Organisationen. Der vorgeschlagene Artikel sei Ausdruck eines authentischen demokratischen Ansatzes der EU28. Die Debatte wurde in Ansätzen auch um den Umfang des Art. I-52 I, II VVE geführt. Einige Abgeordnete machten Vorschläge, Art. I-52 I, II VVE noch zu ergänzen, um bestimmte Partikularinteressen einzufügen oder zu betonen. So wurde vorgeschlagen, auch die kirchlichen Schulen ausdrücklich zu erwähnen, um sie vor europarechtlichem Einflusse zu schützen29. Manche Abgeordnete wollten die Toleranz für weltanschauliche Gemeinschaften daran binden bzw. darauf beschränken, dass diese die Werte der EU-Verfassung respektieren30 oder die Unverletzlichkeit der menschlichen Person achten, da verhindert werden müsse, dass sich diese Organisationen der Klausel bedienen, um illegale und kriminelle Aktivitäten zu rechtfertigen31. Ein Abgeordneter regte an, die Geltung des Art. I-52 I, II VVE zumindest in der Auslegung auf Aktivitäten zu beschränken, die der Förderung des Glaubens dienen; die Klausel solle aber die Religionsgemeinschaften nicht vor den Auswirkungen des europäischen Arbeitsrechts schützen32. Gerade der letztere Vorschlag würde zu einer erheblichen Einschränkung der Achtungsklausel führen und zeigt, dass es im Konvent durchaus 26 Fischer (D, Reg.), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 27 Fischer (D, Reg.), Olesky (PL, Parl.), Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424. htm. 28 Figel (SK, Parl.), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4. 2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 29 Heathcoat-Amory (UK, Parl.), ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 30 Muscardini (I, EP), ÄA. 31 Lequiller (F, Parl.), ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 32 De Rossa (IRL, Parl.), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: „I am also concerned about Article 37 (1), which seeks not to prejudice the status under national law of churches and religious associations or communities in the Member States. I have no problem with that if all it means is that there would be no interference in their activities in relation to promoting their faith. However, in my own country the national law actually precludes them from having to comply with labour law. Recently, in the European Parliament we have dealt with a specific instance of that in the UK. We should not give a blanket exclusion for religious orders or churches enabling them to get out of European labour law.“ www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Vorstellungen gab, die keine reine Schutzklausel für nationale staatskirchenrechtliche Systeme favorisierten, sondern die Achtung dieser Systeme ausdrücklich unter europarechtliche Bedingungen stellen wollten. Unabhängig von der Frage, in wie weit nationale Systeme trotz des Art. I-52 VVE vom Unionsrecht betroffen werden, haben sich die Vorschläge für eine „konditionale Achtungsklausel“ im Konvent nicht durchgesetzt. Die Dialogklausel des Art. I-52 III VVE war oft Gegenstand gesonderter Argumentation. Die Kritiker verwiesen in Änderungsanträgen und Redebeiträgen darauf, dass eine besondere Erwähnung des Dialogs mit den Religionsgesellschaften überflüssig sei, weil diese Teil der Zivilgesellschaft seien und somit schon der Vorschrift über den allgemeinen Dialog mit deren Organisationen unterfielen (Art. I-46 II VVE), außerdem bedeute eine gesonderte Erwähnung eine ungerechtfertigte Privilegierung33. Die Befürworter betonten hingegen drei Argumente für eine besondere Erwähnung des Dialoges: den besonderen Beitrag der religiösen Organisationen zur europäischen Einigung (wobei ungesagt blieb, worin dieser bestehe)34, den besonderen Charakter des Dialogs35, und das Phänomen, dass die Gesetzgebung der Union in vielen Bereichen die Belange religiöser Gemeinschaften berührt, auch wenn sie sie nicht primär zum Regelungsziel nimmt, sondern inzidenter betrifft. Es wurde argumentiert, dass die Akzeptanz der EURechtsakte und Politiken seitens dieser Gemeinschaften bedeutend steigen könne, wenn sie in einem strukturierten Dialog mit diesen Organisationen entstünden36. Im Ergebnis hat sich der Verfassungskonvent ausführlich mit Art. I-52 VVE befasst und in einer breiten und engagierten Debatte die Endform des „Kirchenartikels“ erarbeitet. Dabei standen allerdings politische Fragen wie die nach der Union als Wertegemeinschaft oder der Notwendigkeit einer gesonderten Erwähnung des Dialogs im Vordergrund. Juristische Fragen, die 33 Demiralp (TR, Reg.), Fayot (L, Parl.), Fontelles Borell (E, Parl.), McAvan (EP), de Rossa (IRL, Parl.), ÄA, Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 34 Teufel (D, Parl.), Wittbrodt (PL, Parl.), Redebeiträge gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_ 030424.htm. 35 Brok (EP), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm. 36 Serracino-Inglott (MT, Reg.): ÄA, Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: „[. . .] there are many areas where European laws have touched on religious issues in ways which do not belong strictly and exclusively to the competence of the Member States. The structured dialogue would make the policies of the Union much more generally acceptable.“ www.europarl.eu.int/europe2004/tex tes/verbatim_030424.htm.
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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sich aus der Übernahme der Erklärung Nr. 11 in das Primärrecht ergeben, wurden nur vereinzelt gestreift37.
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE Gemäß Art. I-52 I VVE achtet die Union den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Art. I-52 II VVE erstreckt diese Achtung in gleicher Weise auf den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften. 1. Tatbestandsmerkmale Um Inhalt und Bedeutung des Art. I-52 I und II VVE genauer zu bestimmen, sollen die einzelnen Tatbestandsmerkmale untersucht werden. a) Union Die Vorschrift verpflichtet die Europäische Union. Damit bezieht sich die Norm auf das gesamte staatsähnliche Gebilde, das gemäß Art. I-1 VVE geschaffen wird. Art. I-52 VVE gilt somit für die Union als ganzes; er hat Bedeutung für sämtliche Organe und sämtliche Handlungen der Union und ist nicht auf bestimmte Institutionen, Politikfelder oder Tätigkeitsbereiche beschränkt. Jedes Organ hat bei jeder für die Union vorgenommenen Rechtshandlung die Vorschrift zu beachten; sie gilt für die Ausübung der ausschließlichen Zuständigkeiten (Art. I-13 VVE) ebenso wie für die Ausübung der geteilten Zuständigkeiten (Art. I-14 VVE). Sie gilt gleichermaßen für die Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen gemäß Art. I-17 VVE. Auf letzteres hinzuweisen ist von besonderer Bedeutung, da diese Maßnahmen oftmals als Einfallstor angesehen werden, durch das die Union auch in Bereichen, in denen sie über keine Kompetenz verfügt, in das Recht der Mitgliedsstaaten hineinzuwirken versucht. Zu dem Bereich, in dem die Union nach Art. I-17 II Spiegelstrich 4 VVE unterstützend, koordinierend und ergänzend wirken darf, gehört auch der der Kultur. Dieser weist oftmals eine besondere Nähe zum religionsrechtlichen Bereich auf. Daher kann die Achtungsklausel des Art. I-52 I, II VVE hier eine spezifische Relevanz entwickeln. Art. I-52 VVE ist im Übrigen parallel zu Art. I-45 VVE formuliert, der die Geltung des Grundsatzes der demokrati37 Andreani (F, Reg), Redebeitrag gem. Protokoll der Plenarsitzung vom 24.4.2003: www.europarl.eu.int/europe2004/textes/verbatim_030424.htm.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
schen Gleichheit aller Bürger der Union bekräftigt. Die Parallelität mit diesem hochwertigen Rechtsgut zeigt die Bedeutung, die der religionsrechtlichen Achtungsklausel im VVE zukommt. b) Kirchen, religiöse Vereinigungen und Gemeinschaften, weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten Mit diesen Begriffen werden die Organisationen und Personenmehrheiten beschrieben, die Nutznießer der Achtungsklausel sind. Die lange Reihung der Begriffe zeugt von der Schwierigkeit, einen umfassenden Oberbegriff für die Erscheinungsformen organisierten religiösen Lebens innerhalb der Europäischen Union zu finden. Sie ersetzt den fehlenden Oberbegriff und ist daher nicht als abschließende Aufzählung zu verstehen. Durch die Bandbreite der Begriffe von Kirchen bis zu Gemeinschaften wird ausgesagt, dass der Schutz der Achtungsklausel allen korporativen und kollektiven Organisationsformen religiösen Lebens zuerkannt wird. Allerdings kann es sich bei den aufgezählten Termini nicht um autonome Begriffe des Unionsrechts handeln38. Zum einen verfügt die Union über keine Kompetenz, die Begrifflichkeiten des Staatskirchenrechts zu regeln, da ihr für ein institutionelles Staatskirchenrecht keine Kompetenzen zuerkannt sind. Die Achtungsklausel des Art. I-52 VVE selbst gewährt gerade keine Kompetenz dafür, sondern soll das Entstehen eines Unions-Kirchenrechts, das die nationalen Staatskirchenrechte verdrängt, verhindern. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. I-11 I, II VVE) kann nur die ausdrückliche Übertragung einer entsprechenden Kompetenz die autonome unionsrechtliche Ausfüllung der Begriffe mit staatskirchenrechtlichem Inhalt ermöglichen; eine solche Übertragung existiert jedoch nicht. Außerdem spricht die Klarstellung, dass die religiösen Gruppierungen ihren Status nach den mitgliedsstaatlichen Rechtsvorschriften genießen, gegen die Annahme autonomer unionsrechtlicher Begriffe. Eine solche Bezugnahme auf nationale Normen macht nur Sinn, wenn das nationale Recht gerade nicht durch 38 A. A. Vachek, S. 142 ff. Vachek geht schon bei der Erklärung Nr. 11 von „gemeinschaftsrechtlichen Begriffsprägungen“ aus, die eine autonome, gemeinschaftsrechtliche Auslegung ermöglichen. Diese Auffassung ist möglicherweise durch das Anliegen Vacheks motiviert, den Schutz von kleinen Religionsgemeinschaften und Sekten, den er in den Mitgliedsstaaten als defizitär wahrnimmt, durch eine Religionsrechtsentwicklung auf europäischer Ebene zu stärken (vgl. Vachek, S. 8). Eine solche Entwicklung wäre allerdings – unabhängig von einem Urteil über ihre Wünschenswertigkeit – eine Beeinflussung des nationalen Staatskirchenrechts, die gerade nicht vom Zweck der Achtungsklausel erfasst ist. Im Ergebnis wertet Vachek die Erklärung dann auch lediglich als Versuch einer Festschreibung des nationalen Staatskirchenrechts, vor deren Gefahren er allerdings warnt (S. 152).
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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unionsrechtliche Begriffsdefinitionen überlagert und in der Anwendung verdrängt wird. Die in Art. I-52 I, II VVE gebrauchten Begriffe enthalten demnach keine autonome unionsrechtliche Bedeutung, sondern beziehen ihren Gehalt aus den nationalen staatskirchenrechtlichen Regelungen. Die Achtungsklausel schützt damit alle Regelungsobjekte, die nach nationalen Rechtsvorschriften unter die gebrauchten Begriffs-„Hülsen“ subsumiert werden können. Sie erfasst folglich die Vielfalt der mitgliedsstaatlichen staatskirchenrechtlichen Organisationsformen. Im Ergebnis bedeutet dies, dass der Rechtskreis einer Personenmehrheit, die nach dem Recht eines Mitgliedsstaates als Religionsgemeinschaft eingestuft wird und demnach auf nationaler Ebene bestimmte Rechte eingeräumt bekommt, in den Anwendungsbereich des Art. I-52 I, II VVE fällt; wird eine gleichartige Personenmehrheit in einem anderen Mitgliedsstaat nicht als religiöse Vereinigung o. ä. anerkannt, so bleibt Art. I-52 I, II VVE insoweit für diese bedeutungslos. Die Bezugnahme auf nationale Rechtsvorschriften zur Ausfüllung der Begriffe steht nicht in einem Widerspruch zur Feststellung, dass die Berechtigten aus dem korporativen Grundrecht der Religionsfreiheit des Art. 10 I EGRC autonom unionsrechtlich bestimmt werden39. Bei Art. 10 I EGRC wird ein eigenes unionsrechtliches Grundrecht definiert. Es geht dort somit um eine genuin unionsrechtliche Materie. In Art. I-52 VVE hingegen geht es um die unionsrechtliche Rücksichtnahme auf Rechtspositionen, die sich aus dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten ergeben. c) Status Gegenstand der Achtung, die Art. I-52 I, II VVE gewährt, ist der Status der Religionsgemeinschaften, den die mitgliedsstaatlichen Rechtsvorschriften diesen gewähren. Fraglich ist, was mit dem Begriff Status gemeint ist40. Eine Legaldefinition fehlt. Die Wahl des Begriffs „Status“ legt nahe, dass keine pauschale Bereichsausnahme für alle religionsrechtlich relevanten Regelungen der Mitgliedsstaaten beabsichtigt ist41; wäre dies bezweckt worden, wäre es naheliegender gewesen, an Stelle von „Status“ den Ausdruck „die Rechte [der Religionsgemeinschaften]“ zu benutzen, oder zu erklären, dass religionsrechtliche Regelungen vom EU-Recht unberührt bleiben. Der Begriff „Status“ deutet also auf einen reduzierteren Gehalt der Norm hin. Sinn und Zweck des Art. I-52 I, II VVE wie auch der vorhergehenden Erklärung Nr. 11 ist es, die institutionelle Struktur des Verhältnisses zwischen 39
s. o. Kap. C.III.5.c)(2)(a). Vgl. Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 294; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 158; Muckel, DÖV 2005, S. 198 f. 41 Muckel, DÖV 2005, S. 199. 40
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Religionsgemeinschaften und Staat in den Mitgliedsstaaten vor verändernden Eingriffen des EU-Rechts zu sichern. Beispiele für die institutionelle Struktur des Staat-Kirche-Verhältnis sind etwa: die Arrangements zwischen Kirchen und dem Staat zur Erteilung kirchlichen Religionsunterrichtes in staatlichen Schulen; in manchen Mitgliedsstaaten gewährt ein bestimmter staatskirchenrechtlicher Status einigen Religionsgemeinschaften Teilhaberechte in Gremien, die über die Programmgestaltung des öffentlichen Rundfunks mitbestimmen; Teilhaberechte für kirchliche Amtsträger an Legislativorganen des Staates (beispielsweise Parlamentssitze kraft kirchlichen Amtes im britischen Oberhaus), sowie die staatliche Beteiligung an den nationalen Modellen der Kirchenfinanzierung. Dementsprechend ergibt sich der „Status“ aus dem Bestand an rechtlichen Normen, die das Staatskirchenrecht der Mitgliedsstaaten jeweils bereitstellt, um diese institutionelle Struktur zu gestalten. Indem er diesen Bestand achtet, wählt Art. I-52 I, II VVE einen institutionellen Ansatz. Ein solcher entspricht dem Ansatz der mitgliedsstaatlichen staatskirchenrechtlichen Systeme mehr als dem typischerweise dynamischen, funktionalen Regelungsansatz des Unionsrechts. Auch dies verdeutlicht, dass es hier um den Schutz vorgefundener nationaler Strukturen geht. Indem die Achtung der nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme gewährleistet wird, ist ein direkter Eingriff seitens der EU in das nationale Staatskirchenrecht ausgeschlossen. Art. I-52 I, II VVE versperrt daher den Weg zu einem institutionellen Unions-Kirchenrecht, das im Wege des Anwendungsvorrangs nationalem Staatskirchenrecht vorginge. Fraglich ist aber, ob der Schutz des Art. I-52 I, II VVE sich auf die Gesamtheit der Rechte bezieht, die der Status einer Religionsgemeinschaft in einem Mitgliedsstaat mit sich bringt. Die an den Status geknüpften Rechte gehen oft über die institutionelle Gestaltung des Staat-Kirche-Verhältnisses hinaus. Manche nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme leiten aus dem besonderen institutionellen Status von Religionsgemeinschaften teilweise besondere funktionale Rechte für diese her, beispielsweise besondere arbeits- und wirtschaftsrechtliche Regeln. Fasst man das gesamte Staatskirchenrecht eines Mitgliedsstaates unter den Begriff Status, steht man vor einem Dilemma. Im Ergebnis käme man dann über Art. I-52 I, II VVE zu einer je nach Mitgliedsstaat sehr weitreichenden Bereichsausnahme für die gesamten rechtlichen Beziehungen von Religionsgemeinschaften42. Diese 42 Sehr weitgehend Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 11 f., der Kirchen auflistet, wenn sie als Arbeitgeber Krankenhäuser, Kindergärten oder Banken betreiben, und Ordensgemeinschaften, die ihren Unterhalt aus Landwirtschaft oder Gärtnereien beziehen. Soweit für diese Bereiche besondere religionsrechtliche Bestimmungen in den Mitgliedsstaaten bestehen, müsse die EU die daraus resultierende Stellung der Religionsgemeinschaften achten und dürfe sie nicht beeinträchtigen; zurückhaltender Muckel, DÖV 2005, S. 199.
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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These ist jedoch mit Hinweis auf den Wortlaut bereits zurückgewiesen worden. Art. I-52 I, II VVE bezweckt wie die Erklärung Nr. 11 einen Schutz des institutionellen Gefüges zwischen den Mitgliedsstaaten und ihren religiösen Gemeinschaften vor Eingriffen durch den europäischen Gesetzgeber. Allerdings erscheint es nicht überzeugend, den von Art. I-52 I, II VVE gewährten Schutz auf das rein institutionelle staatskirchenrechtliche Gefüge der Mitgliedsstaaten zu beschränken. Ein solcher Schutz ist zwar symbolisch wertvoll, inhaltlich jedoch mit Blick auf die ohnehin fehlende Kompetenz der Union zur Schaffung institutioneller staatskirchenrechtlicher Regeln redundant. Trotz des Fehlens einer staatskirchenrechtlichen Kompetenz konstatieren gerade die etablierten Religionsgemeinschaften einen europarechtlich induzierten Veränderungsdruck in ihren nationalen religionsrechtlichen Gefügen; auch die Bestandsaufnahme der religionsrechtlich relevanten EU-Rechtsakte weist darauf hin. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die inzidente Betroffenheit von Religionsgemeinschaften in ihren Mitgliedsstaaten durch Rechtsakte der EU einen mittelbaren Veränderungsdruck auf die nationalen staatskirchenrechtlichen Strukturen verursacht. Solch ein mittelbarer Effekt wurde beispielsweise an Hand des Vorschlages einer Datenschutzrichtlinie sichtbar, die das deutsche Verfahren des Kirchensteuereinzugs in Frage zu stellen schien. Auswirkungen dieser Art waren es, die die Religionsgemeinschaften dazu bewogen, auf die Erklärung Nr. 11 zu drängen, in der der Begriff „Status“ gewählt wurde. Dieser Hintergrund legt nahe, dass mit der Norm bezweckt wurde, über das institutionelle Gefüge hinaus den Veränderungsdruck auf die etablierten staatskirchenrechtlichen Strukturen aufzufangen. Aus dieser ratio legis ist zu schließen, dass die Norm mit dem Begriff „Status“ eine struktursichernde Wirkung erzielen soll. Daraus ist abzuleiten, dass der in Art. I-52 I, II VVE enthaltene Schutz des „Status“ neben dem institutionellen staatskirchenrechtlichen Gefüge die strukturgebenden nationalen religionsrechtlichen Normen umfassen soll. Diese bestehen in denjenigen Regelungen, die für das nationale Religionsrecht wesentlich sind, weil sie einen identitätsbegründenden, charakteristischen, grundsätzlichen oder das nationale System etablierenden Inhalt haben. Darunter können z. B. Teilhaberechte in staatlichen Institutionen, Regelungen der Finanzierung der Religionsgemeinschaften und besondere arbeitsrechtliche Regeln fallen. Andererseits werden so nicht alle religionsrechtlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten von Art. I-52 I, II VVE erfasst. Somit bietet Art. I-52 I, II VVE keinen umfassenden Schutz vor einer Inzident-Betroffenheit der Religionsgemeinschaften durch das Unionsrecht, wie sie sich in vielfältiger Weise durch sektorale oder Querschnitts-Gesetzgebung oder andere Rechtsakte der Union ergibt, sondern schützt das institutionelle staatskirchenrechtliche Gefüge und die strukturgebenden Regelungen des nationalen Religionsrechts. Das bedeutet, dass Art. I-52 I, II VVE
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
einen beschränkten Schutzansatz verfolgt, der nicht zu einer Bereichsausnahme für die Religionsgemeinschaften und ihre rechtlichen Beziehungen ausgedehnt werden kann. d) Achten und Nicht-Beeinträchtigen Art. I-52 I, II VVE verpflichtet die Union, den so definierten Status zu achten und nicht zu beeinträchtigen. Fraglich ist, welche Bedeutung die beiden Verben konkret enthalten. Das Wort „achten“ findet sich oft in Verfassungen (z. B. Art. I-45 VVE; Art. 1 GG), ohne definiert zu sein. Sein Bedeutungsgehalt ist so flexibel, dass die Schutzintensität erst im Zusammenspiel mit dem Gewicht des zu achtenden Rechtsgutes entsteht (eine hohe Schutzintensität beispielsweise bei der Achtung der Menschenwürde). Damit wird klar, dass Achten die Bildung eines Werturteils verlangt, auf dessen Grundlage dem zu schützenden Rechtsgut dann der ihm gebührende Platz zugewiesen wird. Das Gebot des Achtens enthält damit auch eine verfahrensrechtliche Komponente, denn es setzt einen Abwägungsprozess voraus, in dessen Rahmen die Tätigkeit des Achtens einen Platz findet. (Im Gegensatz zum Begriff „Achten“ wäre etwa die Wortwahl „garantiert“ in dem Sinne stärker gewesen, als dass dabei das Ergebnis der Wertbeimessung prädeterminiert wäre in dem Sinne, dass der Status in jedem Falle zu wahren sei, egal, welcher Wert dem konkurrierenden Ziel zukommt). Nicht beeinträchtigen meint, dass keine verschlechternden Rechtsakte und Handlungen vorgenommen werden, die den Umfang des Status verringern. Die (Nicht-)Beeinträchtigung ist dabei in dem Sinne statisch, dass sie durch einen Vergleich der Rechtslage ohne den fraglichen EU-Rechtsakt mit der hypothetischen Rechtslage mit dem EU-Rechtsakt festgestellt werden kann; sie hängt im Gegensatz zum Achten nicht von einer Abwägung ab43. Fällt die Bilanz der Statusrechte der Religionsgemeinschaften unter dem EURechtsakt im Vergleich zu ihren Rechtspositionen ohne EU-Rechtsakt negativ aus (d.h., hat eine Religionsgemeinschaft unter dem hypothetischen EURechtsakt weniger oder weniger umfangreiche Statusrechte), liegt eine Beeinträchtigung vor. Dabei ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass sich das Verb „beeinträchtigen“ auf den oben definierten Status bezieht und dessen Verschlechterung verhindern soll, aber nicht das gesamte nationale Religionsrecht im Sinne einer Bereichsausnahme von Eingriffen freistellt. Eine inzident-Betroffenheit wird daher nicht ausgeschlossen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich für die Achtungsklausel drei Kategorien unterschiedlicher praktischer Bedeutung. In Bezug auf das institutionelle Staatskirchenrecht der Mitgliedsstaaten bekräftigt die Achtungsklausel, dass 43
Zur Bedeutung dieses Unterschiedes vgl. unten Kap. D.II.2.
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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die Union nicht eingreifen darf. Dies ergibt sich allerdings nicht erst aus Art. I-52 I, II VVE, sondern daraus, dass der Union keine Kompetenz zugewiesen ist, primär staatskirchenrechtliche Fragen zu regeln. Insoweit ist die Achtungsklausel also deklaratorisch. In Bezug auf inzidente Betroffenheit der Religionsgemeinschaften durch Rechtsakte der EU, für die diese Kompetenz besitzt, bietet Art. I-52 I, II VVE keinen Schutz im Sinne einer Bereichsausnahme, da lediglich der Status der Religionsgemeinschaften geschützt wird, aber nicht ihre gesamten Rechtsbeziehungen von der Geltung des EU-Rechts ausgenommen werden. Praktische Bedeutung entwickelt Art. I-52 I, II VVE aber dort, wo die inzidente Betroffenheit auf nationalrechtlich gewährte institutionelle Rechtspositionen oder strukturprägende Regeln des nationalen Religionsrechts übergreift. Ist die Betroffenheit von der Art, dass institutionelle Positionen oder strukturprägende Regelungen durch EU-Recht beeinträchtigt werden, so lässt sich aus Art. I-52 I, II VVE die Pflicht der Union ableiten, ihren Rechtsakt so zu fassen, dass eine Verringerung der Statusrechte der Religionsgemeinschaft vermieden wird. Nur dann wird nämlich deren statusrechtliche Position geachtet und nicht beeinträchtigt. Dies kann etwa durch Ausnahmeregelungen im EU-Rechtsakt gestaltet werden. Ein Beispiel dafür ist die Datenschutzrichtlinie44. Diese stammt zwar aus der Zeit vor der Geltung des Art. I-52 I, II VVE und sogar vor der Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam, zeigt aber modellhaft, wie sich der Schutz, den Art. I-52 I, II VVE bietet, auswirkt. Die Datenschutzrichtlinie ist ein allgemeiner Rechtsakt der EU, der zu einer inzidenten Betroffenheit derjenigen deutschen Religionsgemeinschaften geführt hätte, die durch das deutsche System des Kirchensteuereinzugs profitieren. Hier geht es um eine strukturprägende Rechtsposition bestimmter Religionsgemeinschaften im deutschen Staatskirchenrecht. Die inzidente Betroffenheit hätte im Falle der ursprünglich geplanten Datenschutzrichtlinie auf eine wesentliche Rechtsposition der Religionsgemeinschaften übergegriffen und hätte die strukturprägende Regelung des deutschen Staatskirchenrechts (das staatliche Kirchensteuereinzugsverfahren) verändert. Art. I-52 I, II VVE hätte in dieser Situation die EU verpflichtet, eine Ausnahmeregelung in das Richtlinienvorhaben aufzunehmen, die diese Art der Betroffenheit vermeidet. 2. Subjektiv-rechtlicher Gehalt des Art. I-52 I, II VVE Fraglich ist, ob die Vorschrift lediglich objektiv-rechtlichen Gehalt hat oder ob aus ihr auch subjektiv-öffentliche Rechte herzuleiten sind. Fasst 44 Art. 8 Richtlinie 1995/46/EG vom 24.10.1995 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. 1995 L 281, S. 31 ff.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
man die Norm als rein objektiv-rechtlich auf, so enthält sie einen Handlungsauftrag an die Union mit dem Inhalt, bei allen ihren Handlungen, darunter insbesondere bei ihrer gesetzgeberischen Tätigkeit, den Status der Religionsgemeinschaften zu wahren. Leitet man jedoch subjektiv-rechtlichen Gehalt aus ihr her, so versetzt man dadurch die aus der Norm Berechtigten in die Lage, die Gewährleistung gerichtlich einzuklagen und durchzusetzen. Art. I-52 I, II VVE würde dadurch justitiabel. a) Subjektive Rechte im Unionsrecht Der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts, wie er aus dem deutschen Recht bekannt ist, wird im EU-Recht nicht verwendet. Doch stellt sich auch in diesem Rechtskreis die Frage, ob eine Norm dem einzelnen Rechtssubjekt die Rechtsmacht verleiht, aus ihr individuelle, klagbare Ansprüche herzuleiten. Im Recht der EU wird dieses Problem meist unter der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm erörtert. Diese Frage bedeutet nach ursprünglichem Verständnis die Möglichkeit des einzelnen Rechtssubjekts, sich auf eine Norm des EU-Rechts vor den nationalen Gerichten zu berufen und die aus der Norm resultierenden Rechte geltend zu machen, ohne sich dazu auf einen Umsetzungsrechtsakt eines Mitgliedsstaates stützen zu müssen45. Im Kern geht es damit um die Frage nach dem subjektivrechtlichen Gehalt einer Norm, versetzt mit der Frage nach dem Umsetzungsrechtsakt. Der EuGH hat bereits früh – in der Rechtssache van Gend & Loos46 – festgestellt, dass Normen des Primärrechts unmittelbare Wirkung entfalten können, dass also Normen des Primärrechts Private unmittelbar verpflichten und berechtigen können, auch wenn sie nicht mitgliedsstaatlich umgesetzt worden sind. Auch Art. I-52 I, II VVE könnte also, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind, den vorgesehenen Rechtssubjekten individuelle Rechtsmacht verleihen. Festzuhalten ist, dass es sich bei Art. I-52 I, II VVE um eine Norm handelt, die – wie die Unionsgrundrechte – nur die Union bindet und keiner nationalen Umsetzung bedarf. Sie kann daher niemals vor nationalen Gerichten eingeklagt werden. Deshalb stellt sich die Frage nach dem subjektiv-rechtlichen Gehalt der Norm nicht unter der deutschen Systematik des Art. 42 VwVfG, nach dem der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz schon prozessual von der Individualberechtigung abhängt. Für die Gewährung individuellen Schutzes aus Art. I-52 I, II VVE wäre der EuGH gem. Art. III-365 VVE berufen. Diese Frage nach dem subjektiv-rechtlichen Gehalt einer Norm löst der EuGH nach einer Methode, die der aus dem deutschen Recht bekannten 45 46
Triantafyllou, DÖV 1997, S. 193; Emmert, Europarecht, S. 153 ff. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, S. 1 ff. (van Gend & Loos).
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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Schutznormtheorie sehr ähnelt47. Hier fragt er, ob die betreffende Rechtsnorm die Verleihung von Individualrechten bezweckt48 und ob der Rechtsschutzsuchende im Schutzbereich der Norm steht49. Diese beiden Voraussetzungen sind also auch für Art. I-52 I, II VVE zu prüfen. b) Untersuchung des Art. I-52 I, II VVE auf subjektiv-rechtlichen Gehalt Ob Art. I-52 I, II VVE subjektive Rechte der Religionsgemeinschaften zu schützen bezweckt, ist an Hand einer Auslegung der Norm selbst zu ermitteln50. Hierzu sind Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Systematik und Regelungszweck zu untersuchen51. Fraglich ist, ob der Wortlaut für oder gegen einen Individualschutz spricht. Die Formulierung „achtet“ und „beeinträchtigt nicht“ ist insofern nicht eindeutig. Einerseits ist sie nicht so klar formuliert wie z. B. Art. I-51 VVE, der formuliert „Jeder Mensch hat das Recht [. . .]“. So hätte Art. I-52 I, II VVE auch gefasst werden können als „Religionsgemeinschaften haben das Recht auf Achtung und Nicht-Beeinträchtigung“, um den subjektiven Gehalt herauszustellen. Aber der tatsächlich gewählte Wortlaut schließt nicht aus, dass Individualrechtsschutz möglich ist. Recht von Verfassungsrang bedarf oftmals der Konkretisierung durch einfaches Recht, aus dem dann subjektive Rechte hergeleitet werden. Aber für den Fall, dass eine Norm von Verfassungsrang nicht sekundärrechtlich umgesetzt wird oder gar nicht zur Umsetzung vorgesehen ist, kann auch aus Verfassungsrecht und EU-Primärrecht direkt ein subjektives Recht hergeleitet werden52 – so z. B. aus den Grundfreiheiten und Grundrechten53. Daher spricht auch der verfassungsrechtliche Rang von Art. I-52 I, II VVE nicht gegen einen Individualrechtsschutz. Nach Sinn und Zweck soll Art. I-52 I, II VVE die gesamte Tätigkeit der Union daran hindern, unzulässigerweise in den vom nationalen Staatskir47
Triantafyllou, DÖV 1997, S. 195 f.; EuGH, Rs. 31/87, Slg. 1988, S. 4635, Rn. 42 ff. (Beentjes); EuGH, Rs. C-433/93, Slg. 1995, I-2303, Rn. 19 (Kommission ./. Deutschland). 48 Z. B. EuGH, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 22, 40 (Francovich). 49 Z. B. EuGH, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 50 ff. (Brasserie du Pêcheur). 50 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 7. 51 Triantafyllou, DÖV 1997, S. 196 f. 52 Triantafyllou, DÖV 1997, S. 197. 53 Ehlers, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 7, Rn. 7 f.; ebd. § 13, Rn. 25 f.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
chenrecht gewährten Status einzugreifen. Insbesondere zielt die Norm aber auf den gesetzgeberischen Prozess der Union ab, dessen Ergebnisse die eigentliche Gefahr für den Status darstellen können. Im legislativen Prozess verfügt der Gesetzgeber über ein Initiativrecht und eine Einschätzungs- und Gestaltungsprärogative. Zudem ist der Gesetzgebungsprozess nicht aus einer Hand planbar, da jedes beteiligte Organ seine bestimmten Rechte hat und politische Faktoren erhebliche Rollen spielen. Ob sich Kommission, Ministerrat und Parlament für eine bestimmte Ausnahmeregelung in einem Sekundärrechtsakt zu Gunsten betroffener Religionsgemeinschaften aussprechen, hängt von der Willensbildung dieser Organe ab, die nicht einklagbar ist. Von daher könnte es schwierig sein, ein subjektives Recht in diesen Prozess einzuführen. Eine Lösung wie oben angedeutet, in Gestalt einer Ausnahmeregelung für den Fall einer drohenden Statusverletzung, ist nicht im Gesetzgebungsprozess justitiabel. Dies könnte dafür sprechen, dass Art. I-52 I, II VVE nur eine Handlungsmaxime für die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe ist, dem aber kein subjektiv-öffentliches Recht entspricht. Allerdings ist auch der Gesetzgeber an Recht und Gesetz gebunden. Grenzen seiner Willensbildung werden vor allem durch Kompetenzregeln und Grundrechte gesetzt. In ähnlicher Weise kann auch Art. I-52 I, II VVE wirken. Bei einer Inzident-Betroffenheit des national-staatskirchenrechtlich gewährten Status einer Religionsgemeinschaft setzt Art. I-52 I, II VVE dem Gesetzgeber eine materielle Grenze. Zwar enthält die Norm keine Kompetenzregelung, denn die Union besitzt ohnehin keine Kompetenz für Staatskirchenrecht, so dass Art. I-52 I, II VVE diese auch nicht begrenzen kann. Vielmehr enthält die Vorschrift eine Regel, wie eine der EU zustehende Kompetenz auszuüben ist, wenn damit ein Konflikt mit dem Status einer Religionsgemeinschaft verbunden ist. Diese Situation ist vergleichbar mit derjenigen, in der ein Staat eine Kompetenz so ausübt, dass er in Grundrechte seiner Bürger eingreift. Somit ist Art. I-52 I, II VVE ein grundrechtsähnliches Recht. Durch diese Einordnung wird deutlich, dass von der Systematik nichts dagegen spricht, ihm einen subjektiv-rechtlichen Gehalt zu entnehmen, auch wenn die Norm primär auf das Gesetzgebungsverfahren wirken soll. Es ist nicht erforderlich, nach subjektiven Rechten im Gesetzgebungsverfahren zu fragen, da der subjektiv-rechtliche Gehalt der grundrechtsähnlichen Norm am Ergebnis des Gesetzgebungsverfahrens anknüpft (während der objektivrechtliche Gehalt sich als Handlungsauftrag bereits im Gesetzgebungsverfahren an die beteiligten Organe richtet). Der subjektivrechtliche Gehalt wirkt dann wie die Abwehrfunktion eines Grundrechts, mit der der Schutzberechtigte sich gegen verfassungswidrige gesetzliche Regeln verteidigen kann. Spricht also nach der bisherigen Auslegung nichts dagegen, Art. I-52 I, II VVE einen subjektivrechtlichen Gehalt zu entnehmen, so bleibt zu fragen,
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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ob die Vorschrift die positiven Voraussetzungen dafür erfüllt. Um in subjektivrechtlicher Hinsicht unmittelbar anwendbar zu sein, muss eine Norm hinreichend klar, vollständig und unbedingt gefasst sein54. Hinreichend bestimmt und vollständig ist eine Norm, wenn ihr Adressat, Berechtigter und der Regelungsinhalt entnommen werden können. Nach der oben vorgenommenen Untersuchung der Tatbestandsmerkmale ist dies bei Art. I-52 I, II VVE möglich. Dagegen spricht auch nicht, dass die Berechtigten und der Status auf Grund der jeweiligen nationalen Regelungen ermittelt werden müssen, denn eine Norm ist auch hinreichend klar und vollständig, wenn sie einen Verweis enthält. Der jeweilige nationale Hintergrund kann jeweils als Vorfrage zur Prüfung des Art. I-52 I, II VVE ermittelt werden. Eines weiteren Umsetzungsaktes bedarf Art. I-52 I, II VVE deswegen nicht. Fraglich ist aber, ob Art. I-52 I, II VVE unbedingt gefasst ist. Dies ist problematisch, soweit die Norm als Regelungsinhalt das „Achten“ enthält. Achten meint, wie oben dargelegt, einen Vorgang des Abwägens und Wertens, in dem der Status in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen ist, aber nicht um jeden Preis unberührt gelassen werden muss. Veränderungen und Einwirkungen auf den Status sind auch bei dessen Achtung nicht ausgeschlossen. In Bezug auf dieses Tatbestandsmerkmal könnte höchstens geltend gemacht werden, dass ein Abwägungsvorgang überhaupt nicht stattgefunden hat oder der Wert des Status in erheblicher Weise missachtet oder verkannt wurde. Grundsätzlich ist aber die Stellung des Status im Abwägungsvorgang des „Achtens“ bedingt durch den Wert des konkurrierenden Abwägungsgutes und daher nicht unbedingt. Somit ist die Bewahrung des Status auf Grund des Gebotes des Achtens nicht subjektiv-rechtlich einklagbar. Anders allerdings verhält es sich mit dem Tatbestandsmerkmal des Nicht-Beeinträchtigens. Die Nicht-Beeinträchtigung hängt im konkreten Falle nicht von der Bewertung eines konkurrierenden Rechtsgutes ab. Sie ist daher unbedingt und feststellbar an Hand einer Überprüfung der nationalen staatskirchenrechtlichen Vorschriften vor und nach dem Erlass des EU-Rechtsaktes. Damit erfüllt Art. I-52 I, II VVE die Voraussetzungen einer hinreichend bestimmten, vollständigen und unbedingten Norm insoweit, als es um das Tatbestandsmerkmal des Nicht-Beeinträchtigen geht. Daher ist festzuhalten, dass das Tatbestandsmerkmal des Achtens lediglich objektivrechtlichen Charakter aufweist und im Gesetzgebungsverfahren der EU als Kompetenzausübungsregel wirkt, das Tatbestandsmerkmal des Nicht-Beeinträchtigens hingegen subjektiv-rechtlichen Gehalt entfaltet. Erforderlich ist im Rahmen des unionsrechtlichen Schutznormansatzes schließlich, dass die Rechtsschutzsuchenden im Schutzbereich des subjektiven Rechts stehen. Dies ist wegen der Bezugnahme auf die mitgliedsstaat54
Emmert, Europarecht, S. 153; Triantafyllou, DÖV 1997, S. 195.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
liche Ebene in Art. I-52 I, II VVE durch Untersuchung des nationalen Staatskirchenrechts zu bestimmen. Behauptet eine religiöse Gruppierung, in ihrem subjektiv-rechtlich geschützten Status verletzt zu sein, so kann sie diese Verletzung des Art. I-52 I, II VVE vor dem EuGH geltend machen. Prozessual muss sie dabei über Art. III-365 IV VVE vorgehen. c) Unterschiedliche Rechte für religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften? Die oben gewonnene Interpretation könnte zu dem Dilemma führen, dass religiöse Gemeinschaften in den Genuss eines subjektiven Rechtes kommen können, weltanschauliche jedoch nicht, weil Art. I-52 I VVE für religiöse Gemeinschaften das Tatbestandsmerkmal des Nicht-Beeinträchtigens erwähnt, Art. I-52 II VVE dies jedoch für weltanschauliche Gemeinschaften nicht wiederholt. Nach dem Wortlaut ist dieses Ergebnis zweifelsfrei zulässig. Dennoch ist dieses Ergebnis m. E. nicht hinnehmbar. Vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes wäre es nur vertretbar, wenn religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften etwas ungleiches wären, oder wenn sie zwar etwas Gleiches wären, aber die Ungleichbehandlung sachlich gerechtfertigt wäre. Ersteres setzt eine zuverlässige Abgrenzung voraus, die bisher definitorisch nicht gelingt. Eine sachliche Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung ist auch nicht erkennbar. Daher ist Art. I-52 II VVE erweiternd auszulegen und das Tatbestandsmerkmal des Nicht-Beeinträchtigens in diesen Absatz hinein zu interpretieren. Dies gelingt, indem man den Zusatz „in gleicher Weise“ nicht nur eng auf das Wort „achten“ bezieht, sondern umfassend auf den gesamten Absatz I. Somit kommen dann auch weltanschauliche Gemeinschaften gegebenenfalls in den Genuss des subjektiven Rechtes der Nicht-Beeinträchtigung. d) Zusammenfassung Dem Art. I-52 I, II VVE ist ein objektiv-rechtlicher Gehalt zu entnehmen, der sich als Handlungsauftrag an die EU auswirkt. Gleichzeitig ist mit Bezug auf das Tatbestandsmerkmal „nicht beeinträchtigen“ ein subjektiv-rechtlicher Gehalt herleitbar. Dieser kann sich auf Grund der Wirkungsstruktur der Norm nur auswirken in dem oben definierten Bereich, in dem eine einschlägige Kompetenz der EU ein Tätigwerden ermöglicht, das sich inzident auf den Status einer Religionsgemeinschaft auswirkt. Für weltanschauliche Gemeinschaften gilt in Folge einer erweiternden Auslegung des Absatzes II dasselbe. Art. I-52 I, II VVE bietet keine Bereichsausnahme für die gesam-
II. Die Achtungsklausel des Art. I-52 I und II VVE
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ten Regelungen der nationalen Staatskirchenrechte, sondern schützt mit seinem Tatbestandsmerkmal „Status“ institutionelle Rechtspositionen und strukturprägende Regelungen des nationalen Religionsrechts. Insgesamt ist der Ansatz der Norm daher eng. In ihrem Wirkungskreis ist sie aber ein effektives Instrument gegen eine Statusbeeinträchtigung, da der Schutz des nationalen, staatskirchenrechtlich gewährten Status justitiabel ist. 3. Zusammenspiel mit Art. 10 I EGRC Fraglich ist nun, wie Art. 10 I EGRC und Art. I-52 I, II VVE miteinander zusammenwirken. Im Verfassungskonvent herrschten dazu wie gezeigt unterschiedliche Auffassungen. Manche Abgeordnete meinten, Art. I-52 I, II sei lediglich eine Wiederholung des Schutzes aus Art. 10 I EGRC und daher redundant, andere gingen von einer notwendigen Ergänzung aus55. Eine genauere Untersuchung zeigt, dass sich die beiden Normen ergänzen und komplementäre Bestandteile eines europarechtlichen Schutzkonzeptes für Religionsgemeinschaften darstellen. Beide Bestimmungen weisen denselben Normbezug auf: sie bieten Schutz für Religionsgemeinschaften vor Rechtsakten der Europäischen Union. Dabei wirkt Art. 10 I EGRC vom unionsrechtlichen Ausgangspunkt in die Sphäre nationalen Rechts hinein (Art. 51 I EGRC; bei der Durchführung des Rechts der Union), während Art. I-52 I, II VVE nationale Normvorgaben in das EU-Recht hineinwirken lässt. Beide Normen wählen einen grundrechtlichen Schutzansatz, der sich über einen persönlichen und einen sachlichen Schutzbereich erschließen lässt. Die Inhalte dieser Schutzbereiche sind jedoch jeweils unterschiedlich definiert. Für den persönlichen Schutzbereich bestimmt Art. 10 I EGRC autonom europarechtlich, welche Rechtssubjekte Träger des Grundrechts sind. Art. I-52 VVE rekurriert dafür auf die nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme. Im sachlichen Schutzbereich ist das Bild ähnlich: Art. 10 I EGRC hat einen autonom europarechtlichen Bedeutungsgehalt (der sich zum Teil mittelbar aus den gemeinsamen nationalen Verfassungsüberlieferungen ergibt) und bietet genuin europarechtlichen Schutz. Art. I-52 I, II VVE macht dagegen nationale materielle Regelungen zum Schutzobjekt vor europarechtlichen Rechtsakten und entwickelt seinen Schutzgehalt daher über vorgefundene nationale Regelungen. Daher sind die Schutzbereiche der beiden Normen nicht deckungsgleich. Sie lassen sich vielmehr wie zwei Kreise beschreiben, die sich teilweise überschneiden. Somit ergibt das Zusammenwirken von Art. 10 I EGRC und 55
Vgl. oben Kap. D.I.2.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Art. I-52 I, II VVE ein unionsrechtliches Schutzregime mit drei Bereichen unterschiedlichen Schutzes56. Im ersten Bereich bietet allein das Grundrecht aus Art. 10 I EGRC den oben beschriebenen Schutz. Dieser Bereich enthält alle religionsgrundrechtlich relevanten Rechtsakte der Union, die den von Art. I-52 I, II VVE erfassten Status der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nicht berühren. Der Bereich, in dem nur Art. I-52 I, II VVE seinen Schutz entfaltet, ist definiert als der Bereich, der außerhalb des Schutzbereichs von Art. 10 I EGRC liegt, aber von dem Schutzbereich erfasst ist, auf den sich eine Religionsgemeinschaft über Art. I-52 I, II VVE gemäß ihrem nationalen Status berufen kann. Eine Überlagerung (Schnittmenge) tritt auf in dem Bereich, in dem sowohl der Schutzbereich des Art. 10 I EGRC als europäisches Grundrecht eröffnet ist als auch der nationale Status einer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaft betroffen ist. Eine Religionsgemeinschaft kann sich im Bereich der Schnittmenge sowohl auf Art. 10 I EGRC als auch auf den Schutz aus Art. I-52 I, II VVE i. V. m. ihrem nationalen Status berufen. Wegen der unterschiedlichen Schutzgehalte sind die Normen nicht redundant. Beide Normen wirken hier parallel und stehen somit im Verhältnis der Idealkonkurrenz. Der Verlauf der Trennungslinie zwischen dem Bereich des Art. I-52 I, II VVE und Art. 10 I EGRC kann jedoch nur abstrakt beschrieben werden, da der Schutzbereich des Art. I-52 I, II VVE abhängig ist von dem nationalen Status einer Religionsgemeinschaft. Je nach nationalem Status einer Religionsgemeinschaft wächst oder schrumpft die Größe der Schnittmenge von Art. 10 I EGRC und Art. I-52 I, II VVE. Der Schutzbereich des Art. I-52 I, II VVE ist variabel in Abhängigkeit vom nationalen Status einer Religionsgemeinschaft. Seine Grenze und damit das konkrete Verhältnis von Art. I-52 I, II VVE und Art. 10 I EGRC kann nur im Einzelfalle konkret bestimmt werden. Tendenziell kann (mit der gebotenen Vorsicht angesichts der Brüchigkeit der Systemeinteilung) festgehalten werden, dass Art. I-52 I, II VVE auf europäischer Ebene nur ein geringes Maß an Schutz bieten kann, wenn eine Religionsgemeinschaft in ihrem Heimatstaat in einem Trennsystem existiert, da dort der Status der Religionsgemeinschaft wenig mit ausgeprägten Statusrechten versehen ist. Religionsgemeinschaften, die aus einem Kooperationssystem stammen, genießen über die Statusverlängerung des Art. I-52 I, II VVE auf EU-Ebene einen ausgeprägteren Schutz. Auf das Verhältnis von Staatskirchen zu Art. 10 I EGRC ist oben bereits eingegangen worden, sie dürften durch Art. I-52 I, II VVE einen umfangreichen 56 Ein konkretes sekundärrechtliches Beispiel für das Zusammenwirken und Ineinandergreifen der unionsrechtlichen Religionsfreiheit (Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK; Art. 10 I EGRC) und der Erklärung Nr. 11/Art. I-52 VVE bietet Art. 4 der Richtlinie 2000/78/EG (Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf); vgl. unten Kap. K.I.
III. Die Dialogverpflichtung des Art. I-52 III VVE
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Schutz geltend machen können, da bei ihnen die nationalen Statusrechte am ausgeprägtesten sind. Somit ergibt sich, dass Art. 10 I EGRC und Art. I-52 I, II VVE zueinander „variabel komplementär“ sind. Sie ergänzen sich in unterschiedlicher Weise, abhängig vom nationalrechtlich prädeterminierten Status einer Religionsgemeinschaft, der sich über Art. I-52 I, II VVE auf unionsrechtlicher Ebene auswirkt. Art. I-52 I, II VVE ist somit nicht redundant und keine überflüssige Wiederholung des Art. 10 I EGRC, wie es vereinzelt im Verfassungskonvent vertreten worden ist. Vielmehr kann er eine wertvolle Ergänzung des Schutzes durch Art. 10 I EGRC sein, denn er leistet (wiederum in Abhängigkeit vom nationalen Status) die Ergänzung des grundrechtlichen Schutzes mit institutionellen staatskirchenrechtlichen Elementen, deren Fehlen bei Art. 9 I EMRK bereits Blum konstatiert hat57. Blum warnte davor, diese Elemente quasi aus Wunschdenken in Art. 9 I EMRK hinein zu interpretieren. Mit Art. I-52 I, II VVE gelingt ein Ansatz, der diese Anreicherung auch mit der gebotenen Sensibilität auf nationale Unterschiede leistet. Die unvermeidliche Kehrseite dieser Lösung ist es, dass auf EU-Ebene keine einheitliche Schutzintensität aller Religionsgemeinschaften besteht. Die Schutzintensität bleibt mit Blick auf Art. I-52 I, II VVE vom jeweiligen nationalen Status der Religionsgemeinschaft abhängig.
III. Die Dialogverpflichtung des Art. I-52 III VVE Gemäß Art. I-52 III VVE pflegt die Union mit den in Art. I-52 I, II VVE genannten Organisationen einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrages58. Diese Norm ist neu in das Primärrecht der EU aufgenommen worden und ohne Vorläufer. Sie findet sich nicht in der Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam. 1. Tatbestandsmerkmale a) Kirchen und Gemeinschaften Zur Bestimmung der Berechtigten bezieht sich Art. I-52 III VVE auf die in Abs. I, II genannten Organisationen. Daher gilt auch für Abs. III, dass es sich hier nicht um autonome Begriffe des Unionsrechts handelt, sondern um Begriffshülsen, die gemäß dem jeweiligen nationalen Recht ausgefüllt 57 58
Blum, S. 177 f. Vgl. Muckel, DÖV 2005, S. 197 f.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
werden müssen. Das bedeutet, dass der Zugang einer Organisation zum Dialog im Rahmen des Art. I-52 III VVE davon abhängig ist, ob sie nach ihrem nationalen Recht den Status einer religiösen oder weltanschaulichen Organisation innehat. b) Dialog Mit Art. I-52 III VVE werden die genannten religiösen Organisationen als Gesprächspartner der Union anerkannt. Art. I-52 III VVE ist vom Wortlaut und im Ansatz vergleichbar mit Art. I-47 II VVE, der einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog zwischen den Organen der Union und den repräsentativen Verbänden und der Zivilgesellschaft vorsieht. Art. I-47 II VVE ist Teil des Verfassungsartikels, der den Grundsatz der partizipativen Demokratie für die Union aufstellt. Art. I-52 III VVE ist eine lex specialis zu Art. I-47 II für den Dialog mit den Gemeinschaften im religiös-weltanschaulichen Bereich. Es handelt sich somit um eine spezialgesetzliche Ausformung des Grundsatzes der partizipativen Demokratie aus Art. I-47 VVE. Als Ausformung des Prinzips der partizipativen Demokratie ist die in Art. I-52 III VVE enthaltene Verpflichtung, einen Dialog zu führen, in institutionellem Sinne zu verstehen. Gemeint sind nicht individuelle Gespräche, sondern ein Dialog als Institution, d.h. im Sinne eines beständigen und geregelten Gedankenaustausches. Dieser nimmt vielfältige Formen an: Gespräche, Kongresse, gemeinsame Arbeitskreise (z. B. im Rahmen der BEPA59, des politischen Beraterstabes des Kommissionspräsidenten, oder ad hoc zu spezifischen Anlässen), Konsultationen im Internet etc. c) Pflegen Selbstverständlich kann und darf die Union die Religionsgemeinschaften nicht verpflichten, an einer solchen Plattform des Austausches teilzunehmen. Art. I-52 III VVE enthält nur die Verpflichtung der Union, zu einem solchen Dialog bereit zu sein, ihn anzubieten, an ihm fördernd mitzuwirken und ihren Teil zum Zustandekommen eines solchen Austausches beizutragen. Art. I-52 III VVE als Ausprägung der partizipativen Demokratie gibt keinen Anspruch im Sinne eines subjektiven Rechts einer einzelnen Religionsgemeinschaft, an einem bestimmten Treffen oder einer bestimmten Gesprächsrunde teilzunehmen, oder zu einer bestimmten Frage konsultiert zu werden. Wenn die Union allerdings solche Gespräche führt, so ist sie aus dem 59
s. o. Kap. A.I.
III. Die Dialogverpflichtung des Art. I-52 III VVE
283
Diskriminierungsverbot (Art. I-2 VVE, 21 f. EGRC, III-118 VVE) heraus verpflichtet, alle interessierten Religionsgemeinschaften gleich zu behandeln. d) Eigenschaften des Dialogs Der Dialog muss von der Union offen, transparent und regelmäßig gestaltet sein. Offen bedeutet, dass der Gedankenaustausch allen Religionsgemeinschaften im Sinne des Art. I-52 I, II VVE zugänglich ist. Hier greift der Gleichheitsgrundsatz (Art. I-2 VVE, 21 f. EGRC, III-118 VVE) ein. Der Gedankenaustausch darf nicht bestimmten Religionsgemeinschaften vorbehalten, sondern muss ein freies Angebot an alle sein. Weder Größe noch theologische Ausrichtung darf a priori ein Kriterium sein. Andererseits muss die EU die Möglichkeit haben, den Dialog effizient und effektiv zu gestalten. Kapazitätsbeschränkungen sind nach dem allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzip zu rechtfertigen. Die EU muss im Rahmen der Verhältnismäßigkeit für einen offenen Zugang zum Dialog sorgen; d.h., sie muss nicht jedem interessierten Teilnehmer einen Platz bereitstellen (kein Anspruch auf Kapazitätserweiterung), aber sie muss für eine der Bedeutung der Veranstaltung angemessene Kapazität sorgen. Die Entscheidung über den Zugang zu Dialogveranstaltungen mit Kapazitätsbeschränkung muss auf Grundlage von formalen Kriterien (z. B. Zeitpunkt der Anmeldung) ergehen, nicht auf Grund inhaltlicher Bewertung der Religion oder Weltanschauung. Der Zugang zu Dialogveranstaltungen muss allen Religionsgemeinschaften unter den gleichen Kriterien gewährt werden; eine Platzreservierung für große Religionsgemeinschaften ist m. E. auch nicht mit dem Hinweis gerechtfertigt, dass diese einen größeren Teil der Bevölkerung repräsentieren. Die Entscheidung über Gewicht und Bedeutung ist der neutralen EU vorenthalten; es obliegt den Religionsgemeinschaften, sich so zu organisieren, dass sie sich in den angebotenen Dialog einbringen können. Eine der demographischen Bedeutung angemessene Repräsentation der Religionsgemeinschaften wird sich dabei en passant ergeben, da größere Religionsgemeinschaften über bessere Möglichkeiten der politischen Interessenvertretung verfügen. Rein formale Auswahlkriterien werden andererseits dafür sorgen, dass auch kleinen Religionsgemeinschaften der Zugang zu Dialogveranstaltungen offen steht und sie nicht von den großen verdrängt werden. Ein wichtiger Teil des gesamten Dialogs wird ohnehin im schriftlichen Verfahren stattfinden (Stellungnahmen, Internetkonsultationen), wo Kapazitätsgrenzen eine geringe Rolle spielen. Das Gebot der Offenheit gebietet es der EU, Dialogformen, deren Offenheit durch Kapazitätsgrenzen eingeschränkt werden, durch Alternativen mit geringeren Kapazitätseinschränkungen zu ergänzen. Konferenzen und Veranstaltungen mit begrenz-
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
ter Teilnehmerzahl sollten z. B. durch parallele Internetkonsultationen begleitet werden. Transparent ist der Dialog, wenn er vom Öffentlichkeitsprinzip beherrscht wird. Die interessierten Kreise (sog. Stakeholder) werden von den Veranstaltungen im Rahmen des Dialogs in Kenntnis gesetzt; die Inhalte des Gedankenaustausches sind für Dritte prinzipiell zugänglich (z. B. durch Einstellung in Datenbanken der EU im Internet). Regelmäßig heisst, dass der Gedankenaustausch unabhängig von spezifischen Anlässen stattfindet und somit nicht nur auf ad-hoc-Basis, sondern als beständiges Angebot konzipiert ist. e) In Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags Der Zusatz der Anerkennung der Identität und des besonderen Beitrags der genannten Organisationen bedeutet, dass die Union anerkennt, dass der Bereich des organisierten religiösen Lebens eine Sonderstellung einnimmt im Vergleich mit den anderen gesellschaftlich-politischen Akteuren, die sich im Dialog mit der Union befinden. Dies reflektiert das Bewusstsein der Union über die Tatsache, dass Religionsgemeinschaften sich ihrem Eigenverständnis nach in einer Rolle sehen, die das staatlich-weltliche Leben überschreitet. Damit stellt dieser Zusatz in Art. I-52 III VVE einen wichtigen Beleg dafür da, dass die EU Religion und ihre Organisationen in ihrer Eigenart dezidiert wahrnimmt und nicht (mehr) religionsblind ist. Keine Bedeutung hat die Formulierung hingegen für das politische Gewicht der Äußerungen, die die Religionsgemeinschaften im Rahmen des Dialogs tun. Dessen Bedeutung ist nicht über die Bedeutung des Dialogs mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren hervorgehoben. Dies ist nicht zulässig, da die Union ein säkulares staatliches Gebilde ist, in dem religiös-weltanschauliche Ansichten nicht per se ein erhöhtes Gewicht haben. Ferner wird die Auffassung vertreten, die Anerkennung der Identität bedeute, dass die Union die jeweilige Identität und Individualität der Religionsgemeinschaften zu berücksichtigen habe60. Auch dies kann der Vorschrift entnommen werden. Die Union darf den Bereich des organisierten religiösen Lebens folglich nicht als undifferenzierte, homogene Größe begreifen und behandeln. Sie darf beim Dialog und der Berücksichtigung religiöser Belange keine „Zwangsökumene“ organisieren, etwa indem sie davon ausgeht, dass eine protestantische Religionsgemeinschaft verwandte Gemeinschaften mitrepräsentiert. 60 Robbers, ZSE 2003, S. 396 f.; Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 13 f.
III. Die Dialogverpflichtung des Art. I-52 III VVE
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Die Anerkennung des besonderen Beitrags unterstreicht die spezifische Rolle, die den Religionsgemeinschaften auf Grund ihres Selbstverständnisses eingeräumt wird. Ihr religiöser Beitrag zur Errichtung des geeinten Europas wird mit dieser Formulierung honoriert; gleichzeitig wird damit verdeutlicht, warum der Dialog mit den Kirchen eine eigene Erwähnung neben dem Dialog mit der Zivilgesellschaft erhalten hat.
2. Bewertung des Art. I-52 III VVE Die ersten Bewertungen der Dialogverpflichtung fallen bereits kontrovers aus. Eine Ansicht meint, dass Art. I-52 III VVE den Religionsgemeinschaften eine ungünstige Sonderrolle innerhalb des zukünftigen Gefüges der partizipativen Demokratie in der EU zuweise61. Es handele sich um eine Ausklammerung des Religionsdialogs aus dem allgemeinen Mechanismus der partizipatorischen Demokratie, die im Dialog mit der Zivilgesellschaft (Art. I-47 VVE) ihre Gestalt annimmt. Diese Ausklammerung reduziere die Bedeutung der Religionsgemeinschaften als Dialogpartner und dränge diese an den Rand des „Demokratischen Lebens der Union“ (so der Titel VI des ersten Teils des VVE). Der allgemeine Dialog gemäß Art. I-47 VVE enthalte nicht nur eine Dialogverpflichtung, sondern auch die Vorgabe, umfangreiche Konsultationen (Art. I-47 III VVE) durchzuführen. Dies fehle in Art. I-52 III VVE. Dieser Nachteil werde nicht aufgewogen durch einen vagen Hinweis auf eine nutzlose Anerkennung eines „besonderen Beitrages“. Außerdem stehe Art. I-52 III VVE in einem offensichtlichen Widerspruch zu den ersten beiden Absätzen des Artikels. Da Abs. I, II die traditionellen Inhalte des Staatskirchenrechts dem nationalen Recht zuweise, sei unklar, was der Gegenstand des Dialogs unter Art. I-52 III VVE sein solle. Die Gegenmeinung sieht in der Sonderstellung des Dialogs mit den Religionsgemeinschaften keinen Ausdruck einer beabsichtigten Laizität der EU, sondern eine positive Anerkennung der tatsächlichen Besonderheiten62. Religionsgemeinschaften seien nicht Verbände unter Verbänden und nicht lediglich partikulares Interesse unter anderen partikularen Interessen. Die be61
Broglio, in: God in the European Constitution, S. IV f. Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 13; vgl. auch die Bewertung des VVE durch die COMECE: COMECE (Hrsg.), Vertrag über eine Verfassung für Europa, Elemente für eine Evaluierung, vom 11.3.2005, S. 16, 22 (www. comece.org/upload/pdf/pub_const_treaty_050311_DE.pdf), die in Art. I-52 III VVE ein Zeugnis der freundlichen und positiven Einstellung der Union gegenüber den Kirchen sieht, und die als Themen des Dialogs beispielsweise Wirtschaft und Soziales, Außen- und Sicherheitspolitik, Asyl und Migration, Bildung und Kultur sowie den Schutz der Religionsfreiheit in ihrer korporativen Dimension vorschlägt. 62
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
sondere Erwähnung sei folgerichtiger Ausdruck einer Besonderheit im Vergleich zu säkularen gesellschaftlichen Organisationen. Die letztgenannte Ansicht erscheint zu sehr getragen von einer Selbstgewichtung der Religionsgemeinschaften und ihrer besonderen Beiträge, und scheint die besondere Bedeutung des Religionsdialogs mit selbst empfundenen theologischen Bedeutungsansprüchen begründen zu wollen. Eine Verobjektivierung der subjektiven Einschätzung der Daseinsberechtigung der Religionsgemeinschaften darf das säkulare Recht der EU jedoch nicht vornehmen. Deshalb lässt sich mit solcherart Überlegungen die Sonderrolle des Art. I-52 III VVE nicht begründen, und auf diese Weise gewinnt sie auch keinen besonderen Wert. Doch erscheint auch der Pessimismus der ersten Ansicht nicht angebracht. Art. I-52 III VVE ist in der Tat eine lex specialis gegenüber dem allgemeinen Dialog gemäß Art. I-47 VVE. Die Sonderrolle lässt sich mit rein weltlichen, der EU zustehenden Erwägungen begründen. Religionsgemeinschaften unterscheiden sich von den Verbänden der Zivilgesellschaft dadurch, dass sie ihre Ziele aus theologischen, nur subjektiv begründbaren Auffassungen herleiten. Dadurch unterscheidet sich oft auch die Art ihrer Willensbildung von derjenigen weltlicher Verbände. Sie vertreten Positionen, die sich nicht in Partikularinteressen erschöpfen, sondern stellen ihre Willensbildung in einen umfassenden Bedeutungskontext. Dessen vollständige Bedeutung erschließt sich zwar nur ihnen subjektiv, doch überträgt sich diese Tatsache in das weltlich wahrnehmbare Verhalten und Auftreten der Religionsgemeinschaften wie auch in die von ihnen vorgebrachten Beiträge und Ansichten. Im Rahmen der Grundsätze der Neutralität, Parität und Toleranz steht es der EU frei, diese faktisch wahrnehmbare Sonderrolle der Religionsgemeinschaften im Unionsrecht zu reflektieren. Praktisch bedeutet dies beispielsweise, dass den Religionsgemeinschaften deswegen eine besondere Rolle zuerkannt wird, weil sie etwa als ethisch-moralische Instanzen auftreten und respektiert werden, und die EU dies anerkennt, weil sie sich davon eine Bereicherung des öffentlichen Lebens verspricht. Eine so begründete Sonderrolle ist auch keine nutzlose Sonderbehandlung, sondern kann für die Gesellschaft Frucht bringend gestaltet werden. Art. I-52 III VVE bedeutet für die Religionsgemeinschaften auch keine faktische Benachteiligung wegen einer fehlenden Konsultationsklausel in der Art des Art. I-47 III VVE. Art. I-52 III VVE steht nicht in einem Exklusivitätsverhältnis zu Art. I-47 VVE. Sinn und Zweck der lex specialis ist, die soeben begründete Sonderrolle zu honorieren. Daher ist es sinnwidrig, Art. I-52 III VVE als Beschränkung oder Benachteiligung der Religionsgemeinschaften auszulegen. Art. I-47 VVE bleibt daher neben Art. I-52 VVE anwendbar. Religionsgemeinschaften sind daher im Rahmen des
IV. Die Achtung religiöser Riten im Tierschutz der EU
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Art. I-47 III VVE zu konsultieren, wenn die allgemeinen Voraussetzungen einer Konsultation gegeben sind63. Schließlich steht Art. I-52 III VVE auch nicht im Widerspruch zu den Absätzen I und II. Diese weisen zwar die Statusangelegenheiten der Religionsgemeinschaften der Sphäre der Mitgliedsstaaten zu. Doch bleiben vielfältige Gegenstände für den Dialog der EU mit den Religionsgemeinschaften. All die Berührungspunkte im inzidenten Religionsrecht der EU, die die Bestandsaufnahme aufgeführt hat, sowie gerade die diffizilen Abgrenzungsfragen zwischen den Kompetenzbereichen von EU und Mitgliedsstaaten, sind potentielle Gegenstände des Dialogs. Hinzu kommen Diskussionen über ethisch-moralische Fragen – z. B. über die Behandlung des Klonens von Embryonen im EU-Recht –, die die Sonderstellung des Art. I-52 III VVE gerade ermöglichen und begünstigen soll. An möglichen Themen für Art. I-52 III VVE dürfte kein Mangel herrschen.
IV. Die Achtung nationaler religiöser Riten im Tierschutz der EU gemäß Art. III-121 VVE Art. III-121 VVE ist eine Ausdehnung des Gedankens des Art. I-52 I, II VVE auf den Bereich des Tierschutzes in der Union. Die Norm gibt der EU auf, bei der Festlegung und Durchführung der Politik in aufgezählten Kompetenzbereichen dem Wohlergehen der Tiere als fühlende Wesen im vollen Umfang Rechnung zu tragen. Bei der Umsetzung dieses Tierschutzes hat die Union die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedsstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten zu berücksichtigen. 1. Normgenese Art. III-121 VVE wurde erst von der Regierungskonferenz zur Unterzeichnung des VVE am 29. Oktober 2004 eingefügt; im Konventsentwurf vom 18. Juni 2003 war er nicht enthalten. 2. Regelungsgehalt Art. III-121 VVE bezieht sich auf den potentiellen Konflikt, der zwischen Tierschutzgebot und der staatlichen Achtung religiöser Riten entstehen kann. Die Norm beauftragt die Union, bei Festlegung und Durchführung ihrer Politik die Belange der Tiere als fühlende Wesen zu wahren. Dieser 63
Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 14.
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D. Der Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften
Auftrag erstreckt sich auf enumerierte Politikfelder, in denen der EU Kompetenzen zugewiesen sind. Die Aufzählung erfasst annähernd das gesamte Kompetenzspektrum der Union und deckt somit, zumal mit der Nennung der weiten Zuständigkeitsfelder Landwirtschaft (Haltung und Schlachtung von Tieren), Binnenmarkt (Handel), Verkehr (Tiertransport) und Forschung die Bereiche ab, in denen Tierschutz üblicherweise besondere Bedeutung erlangt. Insbesondere im Bereich der Schlachtmethoden, die Gegenstand des EU-Lebensmittelrechts sind und deren Einhaltung Voraussetzung für die Einführung tierischer Erzeugnisse in den Binnenmarkt ist, können sich Konflikte mit religiösen Vorgaben ergeben. Das EU-Recht, das bei den Vorschriften zur Schlachtung neben Hygiene und Lebensmittelsicherheit auch den Tierschutz vorschreibt, könnte mit religiösen Schlachtriten unvereinbar sein. Zur Auflösung dieses Konfliktes gebietet Art. III-121 VVE der Union, die Rechts- und Verwaltungsvorschriften und die Gepflogenheiten der Mitgliedsstaaten insbesondere in Bezug auf religiöse Riten zu berücksichtigen. Dem Berücksichtigungsgebot des Art. III-121 VVE liegt der Gedanke des Art. I-52 I, II VVE zu Grunde, der hier auf den Bereich der Tierschutzpolitik ausgedehnt wird. Gemäß Art. I-52 I, II VVE achtet die EU den Status der Religionsgemeinschaften unter nationalem Recht, und beeinträchtigt ihn nicht. Fraglich ist, ob Art. III-121 VVE neben dieser Norm nicht redundant ist. Dies ist nicht der Fall, da er über den Bereich des Art. I-52 VVE einerseits hinaus geht und diesen erweitert, andererseits aber im Erweiterungsbereich keinen subjektiv-rechtlichen Schutz vermittelt. Eine Erweiterung des Art. I-52 I, II VVE stellt Art. III-121 VVE dar, weil er die religiösen Riten schützt, die in den mitgliedsstaatlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften und Gepflogenheiten enthalten sind. Art. I-52 I, II VVE erfasst dagegen nur den Status der Religionsgemeinschaften unter nationalem Recht, also einen Bereich, der deutlich enger definiert ist64 und nicht die religiösen Riten erfasst. Diese Erweiterung ist jedoch, anders als Art. I-52 I, II VVE, nicht als grundrechtsähnliches Recht mit subjektiv-rechtlichem Gehalt ausgestaltet. Zu Art. I-52 VVE wurde festgestellt, dass das Tatbestandsmerkmal „achten“ lediglich einen objektiven Gehalt hat, das Tatbestandsmerkmal „nicht beeinträchtigen“ dagegen einen subjektiv-rechtlichen Charakter aufweist65. Art. III-121 VVE verlangt, dass die Union die nationalen Vorschriften und Gepflogenheiten „berücksichtige“. Berücksichtigen hat eine ähnliche Bedeutung wie Achten, so dass mit denselben Erwägungen wie oben gefolgert werden muss, dass dieses Tatbestandsmerkmal keinen subjektiv-rechtlichen Gehalt aufweist. Dagegen wird das Merkmal „Nicht-beeinträchtigen“ in Art. III-121 VVE nicht aufgegriffen. Daraus ist zu schließen, dass das Be64 65
s. o. Kap. D. II.1.c). Vgl. Kap. D.III.
IV. Die Achtung religiöser Riten im Tierschutz der EU
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rücksichtigungsgebot objektiv-rechtlichen Charakter hat. Dafür spricht auch, dass die Norm mitgliedsstaatliche Rechtspositionen Einzelner und solche der Religionsgemeinschaften nicht erwähnt. Sie knüpft an die Normen und Gepflogenheiten der Mitgliedsstaaten an und schützt somit höchstens mittelbar das Recht Einzelner oder einer Religionsgemeinschaft auf Vornahme religiöser Riten. Individualrechte werden ersichtlich nicht gewährt, denn die Norm erwähnt nur das Verhältnis der Union zu den Mitgliedsstaaten und nennt keine individuell berechtigten Personen. 3. Bewertung Die Berücksichtigung religiöser Riten, wie sie in Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten enthalten sind, im Rahmen der Tierschutzpolitik der Union belegt die Funktionsweise des inzidenten Religionsrechts: anlässlich der Gewährleistung des Tierschutzes in ausdrücklichen Kompetenzfeldern der Union entsteht der Bedarf, europäische Normen zu schaffen, die potentielle Konflikte zwischen Tierschutz und grundrechtlich geschützten religiösen Praktiken regeln. Das Berücksichtigungsgebot wirkt somit unmittelbar zu Gunsten der Mitgliedsstaaten, deren Rechts- und Verwaltungsvorschriften sowie Gepflogenheiten Eingriffen durch EU-Rechtsakte ausgesetzt sind, jedoch nur mittelbar zu Gunsten einzelner Religionsgemeinschaften. Religionsgemeinschaften, deren Riten betroffen sind, müssen die in Art. III-121 VVE gewährleistete Berücksichtigung bei ihrem Mitgliedsstaat reklamieren, der sie wiederum auf EU-Ebene geltend machen müsste. Daneben können sich Religionsgemeinschaften, die in der Ausübung ihrer Riten durch EU-Rechtsakte zum Tierschutz beeinträchtigt werden, jedoch unmittelbar auf die Religionsfreiheit aus Art. 10 I EGRC berufen, der ausdrücklich das Bekennen der Religion durch Bräuche und Riten gewährleistet. Für betroffene Religionsgemeinschaften ist somit die Berufung auf ihr subjektives Recht aus Art. 10 I EGRC der direktere und effektivere Weg.
E. Die Achtung der Vielfalt der Religionen gemäß Art. 22 EGRC Nach Art. 22 EGRC achtet die Union die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen.
I. Entstehung der Vorschrift Das Präsidium des Grundrechtekonvents legte am 14. September 2000 dem Konventsplenum den Formulierungsvorschlag zu Art. 22 EGRC vor, der dann unverändert in die Grundrechtecharta aufgenommen wurde1. Vorausgegangen waren Forderungen des Plenums nach einem Artikel der Grundrechtecharta zum Minderheitenschutz. Das Präsidium ging auf Forderungen nach einem ausdrücklichen Schutz für Minderheitssprachen, -religionen und -kulturen nicht unmittelbar ein. Statt einer Formulierung zum Schutz von Minderheiten wählte es eine Formulierung zur Wahrung der Vielfalt. Dahinter steht wohl die Überlegung, dass Vorschriften zum Minderheitenschutz in einigen EU-Mitgliedsstaaten nicht akzeptabel sein würden. Insbesondere zentralistische Staaten mit separatistischen Bewegungen wie Spanien (Baskenland), Frankreich (Korsika) oder das Vereinigte Königreich (mit dem Religionskonflikt in Nordirland) sperrten sich gegen Vorschriften im europäischen Recht, die den Minderheitenbewegungen rechtliche oder politische Legitimation vermitteln könnten. Der Grundrechtekonvent wollte aber die Charta von vorneherein so formulieren, dass sie rechtlich verbindlich in Kraft würde treten können. Das Präsidium befürchtete, dass die Charta politisch nicht annehmbar sein würde, wenn sie mögliche Anknüpfungspunkte für Forderungen der Autonomiebewegungen enthielte. Vermutlich als Mittelweg zwischen Forderungen des Konventsplenums und den Bedenken der Mitgliedsstaaten wurde die Vielfaltsformulierung gewählt. Das Thema der Religionsvielfalt bezieht sich vor allem auf die Erklärung Nr. 11 des Amsterdamer Vertrages zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften, den diese nach den jeweiligen Vorschriften der Mitgliedsstaaten genießen2. Die Erklärung Nr. 11 soll damit in Art. 22 1
Vorschlag des Präsidiums vom 14.9.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4470/00 CONVENT 47). 2 Erläuterung des Präsidiums des Grundrechtekonvents zu Art. 22 EGRC, übernommen in die Erläuterung des Präsidiums des Verfassungskonvents zu Art. 22
II. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 22 EGRC
291
EGRC wie in Art. I-52 VVE eine primärrechtliche Umsetzung finden3. Auch hier zeigt sich, wie die unverbindliche Erklärung Nr. 11 erfolgreich als Türöffner und Ausgangsbasis für spätere religionsrechtliche Vorschriften des Primärrechts der EU fungiert4.
II. Die Tatbestandsmerkmale des Art. 22 EGRC Die folgende Untersuchung der Tatbestandsmerkmale des Art. 22 EGRC konzentriert sich auf den Bereich der Vielfalt der Religionen. 1. Union Das Tatbestandsmerkmal „Union“ ist wie in Art. I-52 VVE zu verstehen, da die Begrifflichkeit innerhalb des geplanten VVE einheitlich ist5. 2. Achten Auch für dieses Tatbestandsmerkmal kann auf die Ausführungen zu Art. I-52 VVE verwiesen werden6. Achten bedeutet, dass der Vielfalt als Rechtsgut ein bestimmter Wert beigemessen und ihr auf Grund dessen der gebührende Platz in Abwägungen mit anderen Zielen zugewiesen wird. Bei vorzunehmenden Abwägungen ist die Ermessenausübung der Unionsorgane in dem Sinne intendiert, dass sie im Zweifel für den Erhalt der Vielfalt zu entscheiden haben. Damit wirkt das Achtungsgebot als eine Kompetenzausübungsschranke. Übt die Union eine Kompetenz zur Rechtsangleichung aus, so muss sie dabei soweit wie möglich die Vielfalt der Religionen wahren und diese so wenig wie möglich beeinträchtigen, wenn sie eine Ermessensentscheidung trifft und eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vornimmt7. 3. Religion Das Tatbestandsmerkmal der Religionen ist etwas unscharf formuliert. Es meint nicht nur religiöse Lehren, Anschauungen und Glaubensinhalte, sonEGRC; Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 2.; Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 299 f.; Robbers, in: FS Maurer, S. 431. 3 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 299 f.; Heinig, ZevKR 46 (2001), S. 453 f.; Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 6; Mückl, Religionsfreiheit, S. 14 f. 4 Grzeszick, ZevKR 48 (2003), S. 300; Heinig, ZevKR 46 (2001), S. 454. 5 s. o. Kap. D.II.1.a). 6 s. o. Kap. D.II.1.d). 7 Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 17.
292
E. Die Achtung der Vielfalt der Religionen
dern vor allem das auf diesen basierende organisierte religiöse Leben, in erster Linie also Religionsgemeinschaften. Das forum internum der Religion entzieht sich ohnehin weitgehend dem Zugriff der Union. Art. 22 EGRC gewinnt Bedeutung daher mit Blick auf das geäußerte religiöse Leben in organisierten Religionsgemeinschaften, die am rechtlichen Leben teilnehmen. Dafür spricht auch, dass eine Quelle des Art. 22 EGRC die Erklärung Nr. 11 ist, deren Anliegen der Schutz des nationalen staatskirchenrechtlichen Status der Religionsgemeinschaften ist. Daher ist es im Rahmen des Art. 22 EGRC zunächst nicht erforderlich, zu definieren, was Religion ist, sondern was eine Religionsgemeinschaft ist. Für diese schwierige Frage kann auf die Ausführungen zur korporativen Religionsfreiheit bei Art. 10 I EGRC verwiesen werden8. Die Abgrenzung zwischen Religionsgemeinschaften und bloß religiös verbrämten Organisationen zu treffen ist im Rahmen des Art. 22 EGRC schon deswegen wichtig, da Art. 22 EGRC eben nur die Vielfalt der Religionen wahren will, nicht aber die Vielfalt anderer Bewegungen unter religiösem Deckmantel (z. B. politisch-separatistischer Bewegungen, die sich in die Nähe bestimmter Religionen stellen). Ebenfalls unter den Begriff der Religionen bzw. Religionsgemeinschaften sind hier die weltanschaulichen Gemeinschaften zu zählen. Dies ergibt sich zum einen aus dem Bezug des Art. 22 EGRC auf die Erklärung Nr. 11, die auch die weltanschaulichen Organisationen erwähnt, sowie aus dem Vergleich mit Art. 10 I EGRC und Art. I-52 VVE, hinter denen Art. 22 EGRC nicht zurückbleiben soll9. 4. Vielfalt Vielfalt bedeutet, dass Art. 22 EGRC die Existenz mehrerer und unterschiedlicher Religionsgemeinschaften und ihrer Organisationsformen schützt. Nicht geschützt werden dagegen einzelne Religionsgemeinschaften10. Schutzgut des Art. 22 EGRC ist die Vielfalt der Religionen, nicht jedoch konkrete Religionsgemeinschaften; dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut. Wohl der wichtigste Anwendungsfall dieses Vielfaltsschutzes ist die Vielfalt der nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme der EU-Mitgliedsstaaten. Der Erhalt dieser Vielfalt bei der Ausübung und Durchführung von Unionsrecht kann unter Art. 22 EGRC subsumiert werden11. Die Vielfalt der nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme ist eine bedeutende Voraussetzung für die Vielfalt der Religionsgemeinschaften, die unter ihren 8
s. o. Kap. C.III.5.c). Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 22. 10 Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 16. 11 Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 6. 9
III. Kein subjektiv-rechtlicher Gehalt
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jeweiligen nationalen Rechtsregimen in Europa existieren. Übt die Union also ihr zustehende Kompetenzen aus und berührt dabei nationale staatskirchenrechtliche Systeme, so hat sie deren Vielfalt in ihre Überlegungen als Abwägungsposition einzustellen und ihr das gebührende Gewicht zuzumessen. Somit wirkt Art. 22 EGRC als Schutz vor der inzidenten Vereinheitlichung nationaler staatskirchenrechtlicher Systeme. Allerdings bedeutet Achten der Vielfalt nicht, dass eine vereinheitlichende Wirkung kategorisch versperrt wäre; Art. 22 EGRC fordert eben eine angemessene Abwägung der Vielfalt im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern. Vielfalt bedeutet schließlich nicht nur traditionelle Vielfalt, also nicht nur die Bandbreite der existierenden Religionsgemeinschaften zu achten. Es bedeutet auch, das Unionsrecht so zu gestalten, dass sich neue Vielfalt entwickeln kann. Neue Religionsgemeinschaften müssen entstehen können, bestehende Religionsgemeinschaften müssen ihre Existenz weiterentwickeln können. Art. 22 EGRC verpflichtet die Union, ihre Rechtsausübung auf diese Weiterentwicklungsmöglichkeit zu überprüfen.
III. Kein subjektiv-rechtlicher Gehalt Art. 22 EGRC weist nur objektiv-rechtlichen Gehalt auf; er ist ein an die EU gerichteter Programmsatz, jedoch keine Schutznorm für einzelne Religionsgemeinschaften. Das ergibt sich aus dem Wortlaut, der die Vielfalt als Schutzgut der Norm ausweist, nicht einzelne Religionen. Einzelne bedrohte Religionsgemeinschaften können daher aus Art. 22 EGRC keinen Anspruch auf Unterstützung durch die EU herleiten, auch wenn ihr Verschwinden die Vielfalt vermindert; die Vorschrift besitzt keinen leistungsrechtlichen Gehalt. Dies zeigt sich auch im Vergleich mit Art. I-52 VVE: während Art. I-52 VVE einen subjektiven Gehalt über das Tatbestandsmerkmal „Nicht-Beeinträchtigen“ aufweist12, fehlt dieses Merkmal bei Art. 22 EGRC. Daran wird deutlich, dass die Vorgabe der Erklärung Nr. 11 bei den beiden Normen unterschiedlich ausgestaltet wurde, nämlich einmal mit subjektivrechtlichem Gehalt, einmal ohne. Da Art. 22 EGRC nicht die einzelne Religion schützt, vermittelt er auch der einzelnen Religion keinen grundrechtlichen Gleichbehandlungsanspruch13. Er ist damit streng genommen systematisch fehl plaziert, da er in Titel III der Grundrechtcharta erscheint, der mit „Gleichheit“ überschrieben ist14. 12
s. o. Kap. D.II.1.d). Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 6; Philippi, S. 24. 14 Zweifelnd an der Grundrechtsqualität des Art. 22 EGRC auch Grabenwarter, DVBl. 2001, S. 6: „[s]ind Grundrechtsqualität und [. . .] Konnex zum Gleichheitsgrundsatz – um es vorsichtig auszudrücken – nicht ohne weiteres erkennbar“. 13
294
E. Die Achtung der Vielfalt der Religionen
IV. Verhältnis zu anderen religionsrechtlichen Vorschriften Art. 22 EGRC – soweit er die Religion betrifft – und Art. I-52 VVE gehen beide auf die Erklärung Nr. 11 zurück15. Daher stimmt ihre Regelungsmaterie insoweit überein. Art. 22 EGRC ist breiter angelegt als Art. I-52 VVE, da er die Vielfalt der Religionen als Schutzgut des Unionsrechts vorsieht. Er setzt damit einen Kontrapunkt16 zum „Vereinheitlichungsprogramm“ des EU-Rechts, wie es in den Präambeln zum EU-Vertrag und zur EGRC („eine immer engere Union“) zum Ausdrucke kommt. Dem Vereinheitlichungsprogramm stellt das EU-Recht ein „Vielfaltswahrungsprogramm“ gegenüber, das ebenso in den Präambeln, aber auch in konkreten Vorschriften seinen Ausdruck findet; Art. 22 EGRC ist ein Ausfluss dessen. Die Vielfalt der nationalen staatskirchenrechtlichen Systeme kann unter den Vielfaltsbegriff des Art. 22 EGRC subsumiert werden und ist somit ein Unterfall desselben. Da aber Art. I-52 VVE die Achtung und Nicht-Beeinträchtigung des Status der Religionsgemeinschaften nach den nationalen staatskirchenrechtlichen Systemen ausdrücklich vorsieht, ist er insoweit lex specialis zu Art. 22 EGRC. Ein subjektives Recht einer bestimmten Religionsgemeinschaft lässt sich ohnehin nur aus Art. I-52 VVE herleiten. Art. 22 EGRC ergänzt den objektiv-rechtlichen Gehalt des Art. 10 I EGRC um den ausdrücklichen Aspekt der Vielfalt der Religionsgemeinschaften. Eine Ergänzung des subjektiv-rechtlichen Gehalts der Religionsfreiheit kann Art. 22 EGRC mangels entsprechender Ausgestaltung nicht leisten. Somit ergänzt er das Freiheitsrecht des Art. 10 I EGRC auch nicht um einen Gleichbehandlungsanspruch, obwohl er im Titel III „Gleichheit“ der EGRC angesiedelt ist.
15
Erläuterung des Präsidiums des Grundrechtekonvents zu Art. 22 EGRC, übernommen in die Erläuterung des Präsidiums des Verfassungskonvents zu Art. 22 EGRC; Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 2. 16 Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 22, Rn. 14.
F. Primärrechtliche Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion Das Kapitel untersucht zunächst Art. 13 EGV, sodann Art. 21 EGRC und Art. III-118 i. V. m. Art. III-124 VVE und vergleicht schließlich das AntiDiskriminierungsrecht unter dem EGV und dem VVE.
I. Die Bekämpfung der Diskriminierung auf Grund der Religion in Art. 13 EGV Der Vertrag von Amsterdam führte Art. 13 I EGV in das Vertragsrecht ein1; der Vertrag von Nizza fügte den Abs. II hinzu. Mit der Aufnahme des Art. 13 I EGV verfügte das Primärrecht erstmals über eine Vorschrift, die explizit die Religion erwähnt2. Dies führte zu einer lebhaften Diskussion, die Art. 13 EGV möglicherweise zum Status der meistbesprochenen religionsrechtlich relevanten Norm des EU-Rechts verhalf3. 1
Zur Entstehungsgeschichte vgl. Bell, MJ 1999, S. 6 ff. Robbers, in: FS Listl, S. 205. 3 Vgl. zum Schrifttum: Bell, Anti-Discrimination Law and the European Union, Exploring Article 13, S. 121 ff.; Bell, The New Article 13: A Sound Basis for European Anti-Discrimination Law, MJ 1999, S. 5 ff.; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 84 ff.; ders., ZEE 1999, S. 294, 299; ders., Art. 13 EGV und die korporative Religionsfreiheit nach dem Grundgesetz, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 215 ff.; ders., Vom deutschen Staatskirchenrecht zum europäischen Religions(verfassungs)recht, in: Fauth/Satter (Hrsg.), Staat und Kirche, S. 71, 76 ff.; ders., Die Stellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in der europäischen Rechtsordnung, in: Müller-Graff/Schneider (Hrsg.), Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Europäischen Union, S. 125, 132 ff.; ders., Das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes und die europäische Integration, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), Religionen und Recht, S. 91, 93 ff.; Jochum, Der neue Art. 13 EGV oder „political correctness“ auf Europäisch, ZRP 1999, S. 279 ff.; Mückl, Religionsfreiheit, S. 6 ff.; Vachek, S. 242 ff.; Robbers, Das Verbot religiöser und weltanschaulicher Diskriminierung im Recht der Europäischen Union, KuR 1999, S. 55 ff.; Schuck, ZEE 2002, S. 270, 277; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 157, 169 f.; ders., ZevKR 47 (2002), S. 205, 215 f.; Zuleeg, Manfred, Der Inhalt des Artikels 13 EGV in der Fassung des Vertrages von Amsterdam, in: Bekämpfung der Diskriminierungen – Orientierungen für die Zukunft, Deutsche Dokumentation der am 3./4. Dezember 1998 abgehaltenen Europäischen Konferenz, 1999, S. 104 f.; Whittle, ELRev 23 (1998), S. 50 ff.; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EGV; Holoubek, in: Schwarze, Art. 13. 2
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F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
1. Rechtsnatur des Art. 13 EGV Art. 13 EGV ist eine Vorschrift, die der Bekämpfung der Diskriminierung wegen der Religion und Weltanschauung oder anderer Unterscheidungsmerkmale dient und diese Bekämpfung vorantreiben soll. Als Teil des AntiDiskriminierungsrechts der EU ergänzt er Art. 12 EGV, der die Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet. Die Staatsangehörigkeit als ungerechtfertigtes Unterscheidungskriterium auszuschließen ist ein grundlegendes Anliegen einer supranationalen Einheit, wie sie die EU darstellt, und folglich eines der Leitmotive des EG-Rechts4. Die Eliminierung anderer Differenzierungskriterien wie der Religion erscheint dagegen unter dem Aspekt der supranationalen (Markt-)Einheit nicht zwingend erforderlich. Sie ist ein weiteres Zeugnis für die Entwicklung der EU von einer Wirtschafts- zu einer Werteunion, die ihre Bürger (Art. 17 EGV) mit Gleichheitsrechten ausstattet, die noch primär, aber bei weitem nicht mehr ausschließlich darauf gerichtet sind, ihnen die gleichberechtigte Teilnahme an wirtschaftlichen Austauschprozessen zu garantieren. Durch den weitgehenden Ausschluss von Unterscheidungskriterien in Art. 13 EGV seit 1997 gewährt die EU den Menschen in ihrem Rechtsraum ein Anti-Diskriminierungsrecht mit sozialpolitischem Ansatz statt eines streng wirtschaftlich-zweckgerichteten Ansatzes. Die Gleichheit aller Menschen als Bürger unter dem Unionsrecht gewinnt an Gewicht gegenüber einer bloßen Gleichheit als Wirtschaftssubjekte, die bislang auf Grund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert wurden. Bell spricht insofern von „post-market integration“ und weist darauf hin, dass die durch Art. 13 EGV eingeführten Unterscheidungskriterien sich auf die klassischen Felder nationalstaatlicher Sozialpolitik beziehen5. Doch bemerkt er zu Recht, dass die Bindung des Anti-Diskriminierungsrechts an den Markt durch Art. 13 EGV zwar verringert wird, aber nicht gänzlich durchbrochen6. Eine Abstufung der Wichtigkeit zwischen den Diskriminierungskriterien der Staatsangehörigkeit und der Religion bleibt im EGV durchaus erhalten. Der Vergleich der Formulierungen von Art. 12 EGV und Art. 13 EGV zeigt, dass Art. 12 EGV als unmittelbares Verbot gefasst ist, während Art. 13 EGV eine kann-Vorschrift darstellt. Bei Art. 13 EGV handelt es sich folglich nicht um ein aus sich heraus operationelles Verbot der Religion als Unterscheidungskriterium. Vielmehr ist Art. 13 EGV als eine Rechtsgrundlage konzipiert, die akzessorisch im Rahmen der Kompetenzen wirkt, die der EG durch den Vertrag übertragen sind. Art. 13 EGV kann somit als eine „Befähigungs-Norm“ (enabling 4
Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 1. Bell, S. 143 f. 6 Bell, S. 144 „[. . .] the link with the market is diminished rather than broken altogether.“ 5
I. Die Bekämpfung der Diskriminierung
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norm) beschrieben werden, die zu ihrer Wirksamkeit weiterer Sekundärrechtsakte bedarf. Wie auch die Formulierung „Diskriminierung bekämpfen“ verdeutlicht, handelt sich um einen Auftrag an den europäischen Gesetzgeber, der mit einer Maßnahmenkompetenz für eine gesellschaftliche Anti-Diskriminierungspolitik der EU7 verbunden ist. Ob aber diese Maßnahmenkompetenz in einem zu schaffenden Sekundärrechtsakt aktiviert wird, muss zunächst gemäß dem Wortlaut des Art. 13 EGV in einer einstimmigen Entscheidung des Ministerrates beschlossen werden. Dabei gilt für die Beteilung des Europäischen Parlaments (lediglich) das Anhörungsverfahren. Daraus ergibt sich, dass Art. 13 EGV, anders als Art. 12 EGV, nicht unmittelbar anwendbar ist, so dass sich Einzelne nicht auf ihn berufen können8. Er entfaltet keine Drittwirkung, und er bindet und berechtigt Private nicht9. Da dem Art. 13 EGV somit keine subjektiven Rechte entnommen werden können, ist er kein Gleichheitsgrundrecht und keine grundrechtsähnliche Norm10. Hingegen lässt sich zu Recht feststellen, dass das normative Ziel der Vorschrift grundrechtsgerichtet ist11. Dies gilt in dem Sinne, dass Art. 13 EGV die Rechtsgrundlage für Sekundärrechtsakte bietet, die den allgemeinen Gleichheitssatz des Unionsrechts (Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 14 EMRK)12 mit Blick auf die in Art. 13 EGV genannten Unterscheidungskriterien verwirklichen sollen. 2. Der Anwendungsbereich des Art. 13 EGV Fraglich ist, was die von Art. 13 EGV verwendete Formulierung „im Rahmen der durch den Vertrag auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten“ genau besagt. Zuständigkeit könnte entweder Aufgabe im Sinne der Art. 2, 3 EGV oder Befugnis/Kompetenz im Sinne des Art. 5 EGV meinen. Dies ist ein Unterschied, da die Aufgaben der EU weiter formuliert sind als die begrenzten Befugnisse nach dem Prinzip der Einzelermächtigung. Ein Blick in die anderen Sprachfassungen des Vertrages bringt keine Klärung. In der englischen Fassung des Vertrages wird in Art. 13 EGV von „powers“ gesprochen, in der französischen von „compétences“. In Art. 5 II EGV verwendet die englische Fassung jedoch für Zuständigkeit den Begriff 7
Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 218 (Fn. 12). Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EGV, Rn. 1; Heinig, ZEE 1999, S. 300; ders., in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 218; Robbers, KuR 140, S. 55; Vachek, S. 244. 9 A. A. Cirkel, NJW 1998, S. 3333. 10 Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 17, Rn. 3. 11 Robbers, KuR 140, S. 55. 12 EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, S. 3005, Rn. 7 (Hochstrass). 8
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F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
„competences“ (franz. „compétences“). Dafür wird „Befugnisse“ in Art. 5 I EGV mit dem englischen „powers“ übersetzt (franz. „compétences“)13. Angesichts dieser Uneinheitlichkeit muss die Auslegung an Hand des Inhaltes erfolgen. Eine weite Auslegung im Sinne von Aufgaben könnte bedeuten, dass die EG gegen jegliche Diskriminierung vorgehen darf, die im Bereiche ihrer Aufgaben gemäß Art. 2, 3 EGV liegen. Diese Aufgaben berühren jedoch faktisch so gut wie jeden Lebensbereich. Damit wüchse der EG über Art. 13 EGV ein beinahe unbegrenztes Instrument gegen Diskriminierungen zu. Gegen eine solch extensive Auslegung spricht, dass damit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung über die akzessorische Vorschrift des Art. 13 EGV ausgehebelt würde, zumal über Anti-Diskriminierungsrecht erhebliche Veränderungen bisher mitgliedsstaatlich geregelter Bereiche initiiert werden können. Demgegenüber könnte eine sehr restriktive Auslegung verlangen, dass Art. 13 EGV jeweils ein spezifisches Diskriminierungsverbot voraussetzt, an das die Befugnis zur Bekämpfung dieser Diskriminierung anknüpft14. Dagegen spricht jedoch, dass diese Verbote als eigene Rechtsgrundlagen nicht des Art. 13 EGV bedürften und dieser überflüssig wäre15. Auch besteht etwa für das Kriterium der Religion kein sonstiges Diskriminierungsverbot, so dass Art. 13 EGV insoweit inhaltsleer wäre. Dies lässt als sinnvolle Auslegungsvariante offen, dass Art. 13 EGV die Rechtsgrundlage zur Bekämpfung von Diskriminierungen in den Bereichen bietet, in denen der Gemeinschaft nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung Kompetenzen zugewiesen worden sind, ohne dass diese Bereiche über eigene Diskriminierungsverbote verfügen16. Art. 13 EGV sattelt also auf alle Kompetenzen der EU eine Rechtsgrundlage auf, die dem Vorgehen gegen in diesen Feldern fortwährende Diskriminierung dient, die sich der Kriterien des Art. 13 EGV bedient. Für das Religionsrecht ist der EU keine Kompetenz zugewiesen. Art. 13 EGV stellt jedoch der EU ein Instrument bereit, mit dem sie gegen Diskriminierungen auf Basis von Religion und Weltanschauung in den Bereichen vorgehen kann, in denen ihr Kompetenzen zugewiesen sind und in denen sich in gewohnter Weise inzidenter religionsrechtliche Fragen auftun. Art. 13 EGV ist dabei ein zweischneidiges Schwert. Einerseits fördert er die Religionsausübung, indem er hindernde Diskriminierungen abzubauen 13 Vgl. die Zusammenstellung bei Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 387, und ders. in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 220. 14 Jochum, ZRP 1999, S. 280; Zuleeg, Art. 13, S. 105; Holoubek, in: Schwarze, Art. 13, Rn. 9; Whittle, ELRev 23 (1998), S. 53. 15 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EGV, Rn. 1, 8. 16 Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EGV, Rn. 4; Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 389; ders., ZEE 1999, S. 300.
I. Die Bekämpfung der Diskriminierung
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verspricht. Dies kommt insbesondere der individuellen Religionsfreiheit zu Gute, kann aber auch das Betätigungsfeld von Religionsgemeinschaften erheblich erweitern, und zwar dort, wo ihnen bislang eine Tätigkeit auf Grund ihrer bestimmten Religion verwehrt war. Doch überall dort, wo Religionsgemeinschaften ihrerseits die Konfessionszugehörigkeit von Menschen als Auswahlkriterium verwenden, erzeugt das Diskriminierungsverbot einen Konflikt mit ihrer korporativen Religionsfreiheit. Die Auswirkungen können sich vor allem im Arbeitsrecht zeigen, wenn es um die Auswahl von Mitarbeitern in kirchlichen und kirchennahen Einrichtungen (Kindergärten, Krankenhäusern, Einrichtungen der Wohlfahrtspflege) geht. Ebenso kann der konfessionsgebundene Zugang zu Ausbildungsverhältnissen und Studiumsplätzen, zu Promotions- und Habilitationsrechten betroffen sein17. 3. Die Kollision des Gleichheitsgebots mit der korporativen Religionsfreiheit Eine Kollision von Art. 13 EGV und Freiheitsgrundrechten im technischen Sinne kann es nicht geben, da Art. 13 EGV kein Grundrecht oder grundrechtsähnliches Recht ist. Als bloße Maßnahmenkompetenz ohne unmittelbare Wirkung kann Art. 13 EGV nicht in Freiheitsrechte hineinreichen. Art. 13 EGV kann also nicht in den grundrechtlich geschützten Bereich einer Religionsgemeinschaft eingreifen, ihre Mitarbeiter nach dem Merkmal der Konfessionszugehörigkeit auszuwählen. Das Recht der Europäischen Union kennt einen allgemeinen grundrechtlichen Gleichheitssatz18. Dieser verbietet es, gleiche Sachverhalte unterschiedlich zu behandeln, soweit dafür keine objektive Rechtfertigung vorliegt. Er ist allerdings vor der Einführung des Art. 13 EGV für die Diskriminierung aus Gründen der Religion nicht ausgestaltet worden19. Betrachtete man nur das geschriebene Primärrecht, fehlte es daher an einem unionsrechtlichen Verbot von Religion und Weltanschauung als Unterscheidungskriterium. Somit wäre es zulässig gewesen, das Kriterium der Religion und Weltanschauung als differentia specifica, als zulässiges Unterscheidungskriterium, auszuwählen. Menschen unterschiedlicher Konfession konnten daher im unionsrechtlichen Sinne als „ungleich“ gelten mit der 17
Robbers, KuR 140, S. 55, 57; Heinig, ZEE 1999, S. 300. Der allgemeine Gleichheitssatz des Unionsrechts lässt sich herleiten aus Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 14 EMRK; vgl. dazu Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 17, Rn. 10; vom EuGH wird dieser Gleichheitssatz in st. RSpr. anerkannt, vgl. EuGH, verb. Rs. 117/76 und 16/77, Slg. 1977, S. 1753 ff. (Ruckdeschel); EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, S. 3005, Rn. 7 (Hochstrass); EuGH, Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 ff. (Karlsson). 19 Ausnahme: Art. 27 II Beamtenstatut der EG. 18
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Konsequenz, dass das Unionsrecht es nicht allgemein gebietet, sie gleich zu behandeln. Anders gesagt: werden sie ungleich behandelt, bedürfte es dafür keiner Rechtfertigung nach dem geschriebenen EU-Recht. Ein Diskriminierungsverbot auf Grund der Religionszugehörigkeit kann allerdings aus Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 14 EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten hergeleitet werden. Art. 14 EMRK verbietet die willkürliche Diskriminierung auf Grund von Religion und Weltanschauung im Geltungsbereich der EMRK-Grundrechte. Soweit ersichtlich, verbieten die Verfassungen aller Mitgliedsstaaten der EU die religiöse Diskriminierung. Aus diesen Rechtserkenntnisquellen ergibt sich auch für die Union der Rechtssatz, dass Religion und Weltanschauung keine zulässigen Differenzierungskriterien sind. Die Maßnahmenkompetenz des Art. 13 EGV ermächtigt die EU nun ausdrücklich zu Rechtsakten, die das Unterscheidungskriterium der Religion und Weltanschauung in bestimmten Zuständigkeitsbereichen der EU sekundärrechtlich verbieten. Im Geltungsbereich dieser Sekundärrechtsakte wäre eine Diskriminierung auf Grund der Religion und Weltanschauung dann – in Ausgestaltung des allgemeinen Gleichheitssatzes des Unionsrechts – unzulässig. Diese Sekundärrechtsakte können unmittelbare Wirkung gegenüber Privaten entfalten. Dadurch kann die Unterscheidung nach der Konfessionszugehörigkeit auch für Religionsgemeinschaften und verwandte Organisationen, die sie bislang praktiziert haben, unzulässig werden. Daraus kann sich ein Eingriff in deren korporative Religionsfreiheit ergeben. Bislang sind auf Grund des Art. 13 EGV zwei Richtlinien20 ergangen, von denen eine (RiLi 2000/78/EG) das Unterscheidungskriterium von Religion und Weltanschauung in der Arbeitswelt verbietet. Die hier entstehende Kollision zwischen dem auf Art. 13 EGV beruhenden Sekundärrechtsakt und der (korporativen) Religionsfreiheit kann auf zwei Wegen gelöst werden. Zum einen muss zwischen dem mit Diskriminierungsverbot ausgestalteten Gleichheitssatz und dem Grundrecht der Religionsfreiheit ein Ausgleich im Wege der praktischen Konkordanz hergestellt werden. An dieser Stelle kommt das Selbstbestimmungsrecht ins Spiel. In dem Bereich, in dem die korporative Religionsfreiheit zum Selbstbestimmungsrecht verdichtet ist und der Religionsgemeinschaft gewährt, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln, ist der Religionsgemeinschaft im Rahmen ihrer Personal20 Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf; ABl. 2000 L 303, S. 16 ff. (s. u. Kap. K.I.); Richtlinie 2000/43/EG zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft; ABl. 2000 L 180, S. 22 ff.
I. Die Bekämpfung der Diskriminierung
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hoheit auch zugestanden, ihre Mitarbeiter nach dem Merkmal der Konfessionszugehörigkeit auszuwählen. Das Selbstbestimmungsrecht schützt das ungestörte interne Funktionieren einer Religionsgemeinschaft nach ihren eigenen, oft theologisch begründeten Regeln; mit Blick auf die Mitarbeiter gilt dies vor allem unter dem Aspekt ihrer Loyalität. Fraglich ist dann nur der Umfang des Selbstbestimmungsrechts: ist es auf den inneren liturgischen Bereich beschränkt, oder gilt es für sämtliche Mitarbeiter einer Religionsgemeinschaft, ungeachtet ihres Dienstgrades und ihrer Funktion (Idee der Dienstgemeinschaft, in der alle hierarchischen Stufen gleichwertigen Dienst tun)21. Insgesamt bedeutet dies, dass das Verbot des Differenzierungsmerkmals der Religion und Weltanschauung zumindest dort nicht gelten darf, wo das Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss der europäischen Religionsfreiheit Raum greift. Des Weiteren ist auf die Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag zurückzugreifen. Diese ist zwar rechtsunverbindlich, bietet aber eine Auslegungsregel für den EU-Vertrag. Im Zweifel sind die primärrechtlichen Bestimmungen danach so auszulegen, dass der Status von Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten der EU so unangetastet bleibt, wie er nach nationalen Rechtsvorschriften gewährleistet wird. Dies wirkt sich auf die Gestaltung des Sekundärrechts aus, das auf der Basis des Art. 13 EGV geschaffen wird. Durch die Schaffung des Sekundärrechts zur Bekämpfung der Diskriminierung wird das Primärrecht, insbesondere der allgemeine Gleichheitssatz, nämlich interpretiert und konkretisiert. Konkretisierungen, die den nationalen Status der Religionsgemeinschaften beeinträchtigen würden, sind gemäß der Erklärung Nr. 11 zu vermeiden. Zum Status i. S. d. Erklärung Nr. 11 gehören die strukturprägenden nationalen Rechtspositionen der Religionsgemeinschaften22, zu denen nach Maßgabe des jeweiligen nationalen Religionsrechts auch die Personalhoheit zählen kann. Dies ergänzt den oben erwähnten Ansatz des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts der Religionsgemeinschaften. Der nationale Status einer Religionsgemeinschaft kann über das europarechtlich gewährte Selbstbestimmungsrecht hinausgehen, wenn das nationale Religionsrecht den Religionsgemeinschaften eine weitergehende Personalhoheit gewährt (sehr weitgehend z. B. in Deutschland die Auffassung von der Dienstgemeinschaft). Dem entsprechend kann die Erklärung Nr. 11 darauf hinwirken, dass das zu schaffende Sekundärrecht Ausnahmen enthält, die spezifisch den Schutz bestimmter nationaler Besonderheiten gewährleisten. Art. 10 I EGRC und Erklärung Nr. 11 zusammen gewährleisten in der Theorie einen recht hochwertigen Schutz der Religionsgemein21 22
Vgl. oben Kap. C.III.5.e)(2) f. Vgl. dazu die Ausführungen zu Art. I-52 VVE, s. o. Kap. D.II.1.c).
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schaften vor der Aushöhlung ihres Rechts, in ihrem Bereich nach dem Merkmal der Religionszugehörigkeit zu differenzieren. Nachteilig ist, dass eine Missachtung der Erklärung Nr. 11 bei der Ausgestaltung des Sekundärrechts nicht justitiabel wäre, wegen der Unverbindlichkeit der Erklärung. In der Praxis zeigt sich jedoch am Beispiel der Richtlinie 2000/78/EG, dass der den Religionsgemeinschaften gewährte Schutz in diesem Falle effektiv wirkt. In der Richtlinie wurde die Ausnahmevorschrift des Art. 4 II geschaffen, die das Interesse der Religionsgemeinschaften an der Differenzierung nach der Konfessionszugehörigkeit wahrt23.
II. Verbote der Diskriminierung auf Grund der Religion im VVE: Art. 21 I EGRC, Art. III-118, III-124 VVE Der VVE enthält drei Normen, die Religion und Weltanschauung als Differenzierungskriterium ausschließen: den mit „Nichtdiskriminierung“ betitelten Art. 21 EGRC, Art. III-118 sowie den Art. III-124 VVE im Kapitel „Nichtdiskriminierung und Unionsbürgerschaft“. 1. Art. 21 I EGRC Art. 21 EGRC ist ein Gleichheitsgrundrecht und enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot in Abs. I sowie, in Abs. II gesondert ausgeführt, ein Verbot der Diskriminierung auf Grund der Staatsangehörigkeit. Die Merkmale der Religion und Weltanschauung erscheinen als zwei von insgesamt siebzehn Differenzierungskriterien in Abs. I. a) Entstehungsgeschichte Gleichheitsrechte sind ein zentraler Bestandteil eines umfassenden Grundrechtsschutzes, und so war es selbstverständlich, dass sich der europäische Grundrechtekonvent auch mit einem Artikelvorschlag befasste, der die Gleichheit gewährleisten soll, indem er unzulässige Differenzierungen verbietet. Das Präsidium des Grundrechtekonvents stellte in der Plenarsitzung vom 27./28. März 2000 einen Entwurf für ein Diskriminierungsverbot vor24, der zu dem Zeitpunkt als Art. 19 I erschien. Er wies schon weitgehend die Formulierung auf, die der spätere Art. 21 I EGRC enthält, und verbot die Differenzierungskriterien der Religion und Weltanschauung. Al23
Einzelheiten zu Art. 4 II RiLi 2000/78/EG s. u. Kap. K.I. Vorschlag des Präsidiums vom 24.2.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4137/00 CONVENT 8). 24
II. Verbote der Diskriminierung
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lerdings verfügte er nicht über das Wort „insbesondere“, so dass die Differenzierungskriterien als eine Liste konstitutiver und abschließender Verbote erschienen. Ein überarbeiteter Präsidiumsvorschlag lag für die Plenarsitzung am 28.–30. Juni 2000 vor25. Dieser wandelte die konstitutive Aufzählung verbotener Merkmale in eine beispielartige Auflistung unzulässiger Unterscheidungskriterien, indem er ihnen die Worte „vor allem“ voran stellte. Dadurch gewann die Norm den Charakter eines umfassenden Diskriminierungsverbotes. Die Aufzählung verdeutlicht lediglich beispielhaft unzulässige Diskriminierungskriterien, unter ihnen Religion und Weltanschauung. Auf Grundlage der Beratungen ersetzte der Präsidiumsvorschlag vom 28. Juli 2000 die Worte „vor allem“ durch „insbesondere“26, was aber am Charakter des umfassenden Verbots mit beispielartiger Aufzählung nichts ändert. Die somit gefundene Formulierung wurde sodann unverändert in die Schlussversion der EGRC übernommen27. Das Verbot von Religion und Weltanschauung als Differenzierungskriterium war als solches nicht Gegenstand der Debatten im Grundrechtekonvent. Es wurde offenbar als Selbstverständlichkeit akzeptiert, ohne dass Diskussionsbedarf gesehen wurde. Dadurch unterblieb die Auseinandersetzung mit den nachgelagerten Fragen, ob es berechtigte Ausnahmen zu diesem besonderen Differenzierungsmerkmal geben mag. Die Problematik der gerechtfertigten Diskriminierung auf Grund der Religion und Weltanschauung konnte der Grundrechtekonvent vermutlich schon wegen seiner Arbeitsweise und Zeitknappheit nicht lösen. Außerdem bestand der Arbeitsauftrag des Grundrechtekonventes darin, den grundrechtlichen Bestand zu sichten, zusammenzufassen und zu systematisieren; nicht jedoch europarechtlich ungelöste Rechtsfragen zu klären28. Die Austarierung zwischen unzulässiger Diskriminierung und religiös gebotener und damit zulässiger Differenzierung war auf europarechtlicher Ebene noch keiner Lösung zugeführt worden, auf die der Grundrechtekonvent zurückgreifen konnte. Eine neue rechtspolitische Lösung zu entwickeln empfand er vermutlich als nicht von seinem Mandat umfasst.
25 Präsidiumsvorschlag vom 14.6.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4360/00 CONVENT 37). 26 Präsidiumsvorschlag vom 28.7.2000 (EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4422/00 CONVENT 45). 27 EGRC-Konvent, Dok.-Nr. CHARTE 4487/00 CONVENT 50 vom 28.9.2000. 28 Europäischer Rat von Köln, Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Bull. EU 6/1999, Ziff. 44 f.; s. o. Kap. C.III.1.
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F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
b) Die rechtliche Ausgangslage zu Art. 21 I EGRC Der Grundrechtekonvent fand für seine Arbeiten zu Art. 21 I EGRC bestimmte Vorgaben vor, an die er anknüpfen konnte. Art. 6 II EUV verwies bereits auf die Rechtserkenntnisquelle des Art. 14 EMRK, der ein allgemeines Diskriminierungsverbot enthält, das als besondere und beispielhafte Merkmale Religion und Weltanschauung anführt. Durch die Anbindung des Diskriminierungsverbots in Art. 14 EMRK an den Genuss der EMRKRechte29 gewinnt die Norm des Art. 14 EMRK einen akzessorischen Charakter. Ein solch akzessorischer Charakter in Bezug auf die anderen Rechte der EGRC wurde für das EGRC-Diskriminierungsverbot nicht als angemessen erachtet; Art. 21 I EGRC wurde vielmehr (unbeschadet der Beschränkung durch den Anwendungsbereich der Charta in Art. 51 EGRC) als betont offenes, umfassend geltendes Diskriminierungsverbot gefasst. Seine Kernaussage lautet „Diskriminierungen [. . .] sind verboten“, angereichert durch besonders hervorgehobene Differenzierungsverbote. (Der akzessorische Charakter des Art. 14 EMRK soll nun durch Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls zur EMRK vom 4.11.2000 überwunden werden30; bislang nicht ratifiziert). Im Primärrecht der EG bestand Art. 13 EGV, der als Maßnahmenkompetenz für die Bekämpfung der Diskriminierung auf Grund der Religion und Weltanschauung im Unionsrecht fungierte31. Drittens enthalten alle Verfassungen der EU-Mitgliedsstaaten Gleichheitssätze und Diskriminierungsverbote; etwa die Hälfte derer führen explizit Religion und Weltanschauung als unzulässige Differenzierungskriterien auf32. Auch diese wirken als Rechtserkenntnisquellen über Art. 6 II EUV in das Unionsrecht hinein; der Grundrechtekonvent konnte und musste darauf zurückgreifen, um seinem Mandat, die Grundrechtslage der EU sichtbar zu machen und zu systematisieren, zu entsprechen. c) Schutzbereich Auch Art. 21 I EGRC kann in einen persönlichen und sachlichen Schutzbereich unterteilt werden.
29 Art. 14 EMRK lautet: „Der Genuss der in der vorliegenden Konvention gewährleisteten Rechte und Freiheiten ist ohne Benachteiligung zu gewährleisten [. . .]“; zur Akzessorietät vgl. Uerpmann in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 3, Rn. 65 f. 30 Uerpmann, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 3, Rn. 65. 31 s. o. Kap. F.I. 32 Vgl. Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 4, 11, m. w. N.
II. Verbote der Diskriminierung
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(1) Persönlich Im persönlichen Schutzbereich des Art. 21 I EGRC befinden sich, auch wenn er unpersönlich formuliert ist, alle natürlichen Personen. Da juristische Personen religiöse und weltanschauliche Überzeugungen vertreten können, ist die Norm wesensmäßig auf sie anwendbar; sie sind ebenfalls potentielle Opfer von religiöser und weltanschaulicher Diskriminierung. Sie sind daher in Bezug auf die Diskriminierungsmerkmale Religion und Weltanschauung ebenfalls Grundrechtsträger33. (2) Sachlich Art. 21 I EGRC schützt die Rechtssubjekte des persönlichen Schutzbereichs vor Diskriminierung durch die EU und durch die Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts (Art. 51 I EGRC)34. Religion und Weltanschauung sind zwei von insgesamt siebzehn Differenzierungskriterien, die in Art. 21 I EGRC besonders erwähnt und verboten werden. Sie sind auf Grund des Wortes „insbesondere“ hervorgehobene Aspekte eines einheitlichen, umfassenden Diskriminierungsverbotes. Die Aufzählung ist demnach beispielhaft und nicht konstitutiv. Ob die Hervorhebung von Religion und Weltanschauung in dieser Liste erforderlich ist, etwa um die Sensibilisierung der Bürger zu fördern, ist angesichts der Omnipräsenz dieser Merkmale in bestehenden Diskriminierungsverboten zweifelhaft; vielmehr folgt die Hervorhebung aus dem grundlegenden und hohen Wert der in den Merkmalen enthaltenen Güter sowie aus der Notwendigkeit, in der Formulierung des Art. 21 I EGRC nicht hinter den Kriterienkatalogen anderer Diskriminierungsverbote zurückzustehen, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Die Erwähnung reflektiert die Selbstverständlichkeit, dass im säkularen Staatswesen nach diesen Kriterien nicht willkürlich differenziert werden darf. Nicht deren Erwähnung ist Aufsehen erregend; ihre Nichterwähnung wäre es; auch wenn die Umfassendheit des Art. 21 I EGRC vor solcher Diskriminierung schützen würde. Art. 21 I EGRC schützt vor Diskriminierung, die daran anknüpft, eine Religion oder Weltanschauung sowohl zu haben oder nicht zu haben, als auch sie zu äußern oder nicht zu äußern (forum internum und externum, positive und negative Religionsfreiheit)35. Ohne die Freiheit, die Religion oder Weltanschauung auch äußern zu können, ginge ein wesentlicher Teil 33 34 35
Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 30. Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 31. Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 38.
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F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
des Gleichbehandlungsanspruchs verloren, denn in der Reaktion des Staates auf die wahrnehmbare Äußerung liegt die eigentliche Gefahr der Ungleichbehandlung. Art. 21 I EGRC schützt sowohl vor unmittelbarer als auch mittelbarer Diskriminierung. Unmittelbare Diskriminierungen auf Grund der Religion sind solche, die an dieses Tatbestandsmerkmal explizit anknüpfen und aus ihm folgern, dass eine Person deswegen eine ungünstigere Behandlung erfährt als eine Person anderer Religion (oder anderer Religionsäußerung) in einer vergleichbaren Situation. Mittelbare Diskriminierungen aus Gründen der Religion und Weltanschauung sind solche Formen der Behandlung, bei denen nicht formal an diese Kriterien angeknüpft wird, sondern an andere Merkmale, die typischerweise zu einer ungünstigen Andersbehandlung auf Grund von Religion oder Weltanschauung führen, oftmals auf Grund faktischer Gegebenheiten36. Mittelbare Diskriminierung auf Grund der Religion kann vorliegen, wenn Aufnahmeprüfungen oder Einstellungstests auf religiöse Feiertage gelegt werden, so dass Angehörigen bestimmter Religionen die Teilnahme erschwert oder unmöglich ist. Ein solcher Sachverhalt lag dem EuGH-Verfahren in der Rechtssache Prais zu Grunde37. Ein weiteres denkbares Beispiel für mittelbare Diskriminierungen auf Grund der Religion wäre folgender Sachverhalt in der EU-Regionalpolitik: dort könnten beispielsweise bestimmte Regionen von Strukturfördermaßnahmen ausgenommen werden, die vorwiegend von Anhängern bestimmter Religionsgemeinschaften bevölkert werden. Diese Regionen würden dabei in den Strukturförderprogrammen nicht an Hand der Religionszugehörigkeit ihrer Bevölkerung beschrieben, sondern an Hand anderer Kriterien, die jedoch auf Grund ihrer Struktur zu der gewünschten religiösen Unterscheidung führen. Wollte die EU beispielsweise dem manchmal erhobenen Vorwurf gerecht werden, ein „christlicher Club“ zu sein, so könnte sie die Regionen in den östlichen Gebieten der EU (Griechenland, Zypern; bei etwaigem späteren Beitritt auch Rumänien, Bulgarien und die Türkei), die christlich-orthodox geprägt sind, unterstützen, und die islamisch geprägten Regionen benachteiligen. Fördermittel könnten so regional oder bevölkerungsgruppenspezifisch zur Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Religionsgemeinschaften eingesetzt werden. Mittelbar diskriminierende Strukturförderprogramme könnten z. B. so zugeschnitten sein, dass sie Finanzmittel für Restaurierungen für sakrale Gebäude aus einer bestimmten historischen Epoche bereit stellen –, wobei die dadurch förderberechtigten Gebäude typischerweise orthodoxe Kirchen sein könnten, die gerade in dieser Epoche errichtet wurden, nicht jedoch islamische Moscheen, die typischerweise einer anderen Epoche ent36 37
Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 28. EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, S. 1589 (Prais ./. Rat).
II. Verbote der Diskriminierung
307
stammen. Diese Gefahr dürfte sich verstärken, wenn die Entscheidungen über Einsatz und Verteilung der EU-Fördermittel oder deren Kontrolle renationalisiert werden sollten, wie es auf EU-Ebene hin und wieder erwogen wird. Die Verteilung der Fördermittel gemäß Rahmenvorgaben der EU wäre eine Durchführung des Rechts der Union im Sinne des Art. 51 I EGRC. Tendenzen zur (mittelbaren) Diskriminierung sind in manchen der östlichen Mitgliedsstaaten noch in nicht unerheblichem Maße vorhanden. Religionsgemeinschaften, die durch solche Praxis benachteiligt werden, können sich auf Art. 21 I EGRC berufen. d) Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung Ungleichbehandlungen können gerechtfertigt sein, auch wenn sie auf den besonderen Kriterien beruhen, die in Art. 21 I EGRC genannt sind38. Dies ergibt sich aus Art. 52 I, III EGRC, der eine horizontale Schranke für die Chartagrundrechte darstellt. Art. 52 III EGRC verweist für Chartarechte, die auch in der EMRK geschützt sind, auf die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie diese Rechte in der EMRK haben. Dies trifft hier zu, da der Gleichbehandlungsgrundsatz mit dem Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion und Weltanschauung in Art. 14 EMRK enthalten ist. Daher gilt auch für die Einschränkbarkeit des Differenzierungsverbots im Rahmen der EGRC der durch die EMRK-Rechtssprechung entwickelte Rahmen. Die Akzessorietät des Art. 14 EMRK, die Art. 21 I EGRC nicht kennt, spielt an dieser Stelle keine Rolle, da sie lediglich eine Art Eintrittsschwelle in den Schutzbereich darstellt, die hier bereits überwunden ist. Die EMRK hat allerdings für die Rechtfertigungsdogmatik des Art. 14 EMRK noch keine besonders ausdifferenzierten Lehren entwickelt39. Somit gilt Art. 52 I EGRC, nach dem eine Einschränkung des Diskriminierungsverbots gerechtfertigt ist, wenn damit ein legitimer Zweck verfolgt wird und die Einschränkung unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit notwendig ist, um den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer zu entsprechen. Dann ist die Ungleichbehandlung nicht willkürlich. Außerdem muss eine solche Einschränkung gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt des Diskriminierungsverbotes wahren. 2. Art. III-118, Art. III-124 VVE Art. III-118 VVE enthält den verfassungsrechtlichen Auftrag, bei Festlegung und Durchführung der Politik der Union Diskriminierungen u. a. aus 38 39
Hölscheidt, in: Meyer, EGRC-Komm., Art. 21, Rn. 29; Art. 20, Rn. 16. Uerpmann, in: Ehlers (Hrsg.), EuGR, § 3, Rn. 68.
308
F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
Gründen der Religion zu bekämpfen. Der diesen Auftrag aufgreifende Art. III-124 VVE entspricht dem Art. 13 EGV40. Es handelt sich nicht um ein Grundrecht, sondern um eine Maßnahmenkompetenz, die der Union die Rechtsmacht vermittelt, Diskriminierungen im Rahmen der ihr übertragenen Zuständigkeiten zu bekämpfen. Formell geschieht dies durch Europäische Gesetze (Art. I-33 I VVE; entspricht Verordnungen) und Europäische Rahmengesetze (Art. I-33 I VVE; entspricht Richtlinien). In verfahrensrechtlicher Hinsicht wurde das Einstimmigkeitserfordernis des Ministerrates wie bei Art. 13 EGV beibehalten. Geändert wurde die Beteiligung des Europäischen Parlaments. Ist bei Art. 13 EGV lediglich eine Anhörung des Parlaments vorgesehen, ist bei Maßnahmen nach Art. III-124 VVE die Zustimmung des EP erforderlich. Damit sind im Bereich der Diskriminierungsbekämpfung die Mitspracherechte des Europaparlaments gestärkt worden. Politisch betrachtet ist dies nicht unerheblich, da gerade Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Lage sind, bei Maßnahmen, die das Religionsrecht betreffen, Einfluss über die Abgeordneten des EP auszuüben. Art. 21 I EGRC und Art. III-118, Art. III-124 VVE sind in gewisser Weise zwei Seiten derselben Medaille. Während Art. 21 I EGRC gleichheitsrechtlich Ungleichbehandlungen durch die Union oder Mitgliedsstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts verbietet, kann auf Art. III-118, III-124 VVE eine Politik gestützt werden, die aktiv gegen solche Ungleichbehandlungen vorgeht – auch im nichtstaatlichen Bereich, in den Rechtsbeziehungen zwischen Privaten. Es ist daher wie bei Art. 13 EGV denkbar, dass auf Art. III-124 VVE Maßnahmen gestützt werden sollen, die mit dem Grundrecht der korporativen Religionsfreiheit (Art. 10 I EGRC) in Konflikt geraten. Hier stehen sich dann Rechtspositionen gegenüber, die sich einerseits auf eine Umsetzung des Gleichbehandlungssatzes stützen, andererseits auf das Freiheitsrecht der Religionsfreiheit. Auch hier ist der Konflikt nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen. In den inneren kirchlichen Bereich, der durch das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften vor staatlicher Reglementierung geschützt ist, dürfen Maßnahmen der Anti-Diskriminierungspolitik der EU daher nicht eingreifen. Art. 10 I EGRC bietet hiergegen ein grundrechtliches Abwehrrecht. Gegen Maßnahmen gemäß Art. III-124 VVE, die in die Statusrechte von Religionsgemeinschaften gemäß dem nationalen Staatskirchenrecht eingreifen, können sich die Religionsgemeinschaften auf den subjektiven Gehalt des Art. I-52 VVE berufen41. In objektiv-rechtlicher Hinsicht ist die EU aus Art. I-52 VVE verpflichtet, bei der Gestaltung ihrer Anti-Diskriminierungspolitik die über Art. I-52 VVE garantierten Statusrechte zu wahren und sie 40 41
Zu Art. 13 EGV vgl. Kap. F.I. s. o. Kap. D.II.2.
III. Veränderungen des Rechts der Diskriminierung
309
nicht zu beeinträchtigen. Dem kann in der Praxis dadurch Rechnung getragen werden, dass die Sekundärrechtsakte, die auf Art. III-124 VVE gestützt werden, entsprechende Ausnahmen enthalten, die die Statusrechte der Religionsgemeinschaften wahren. Vorbild ist der Art. 4 II der Richtlinie 2000/ 78/EG für den Tendenzschutz in religiösen Organisationen42.
III. Veränderungen des Rechts der Diskriminierung aus Gründen der Religion und Weltanschauung unter EUV/EGV und dem VVE Ein Vergleich zwischen den Regeln des Diskriminierungsrechts unter dem EUV/EGV mit den entsprechenden Regeln unter dem VVE soll nun ermitteln, ob die festzustellenden Defizite in der Rechtsposition der Religionsgemeinschaften unter dem Vertrag von Nizza eine Verringerung erfahren. Dazu werden zunächst die oben ermittelten Defizite unter der gegenwärtigen Rechtslage zusammengestellt, dann die erforderlichen bzw. wünschenswerten Verbesserungen daraus abgeleitet. Schließlich wird untersucht, ob der VVE diese Verbesserungen leisten kann. 1. Zum Schutz vor ungerechtfertigter Diskriminierung Im Bereich des Diskriminierungsrechts enthält der EUV/EGV kein ausdrückliches Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Religion und Weltanschauung. Ein solches muss hergeleitet werden aus Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 14 EMRK und i. V. m. den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen. Materiell existiert ein solches Verbot daher im Unionsrecht, es ist aber nicht ohne weiteres sichtbar. Dies erschwert die Position von Individuen und Religionsgemeinschaften, die sich bei der Durchführung des Rechts der Union aus religiösen Gründen diskriminiert sehen (Bsp.: Einstellungstests an Feiertagen; mittelbare Diskriminierung bei der Vergabe von Fördermitteln). 2. Zum Recht auf Differenzierung aus religiös-weltanschaulichen Motiven Gravierend ist ebenso, dass in diesem Zusammenhang keine ausdrücklichen Regeln existieren, aus denen das für Religionsgemeinschaften essentielle Recht auf Diskriminierung herzuleiten ist. In der (genauer zu definierenden) Sphäre ihrer inneren Angelegenheiten haben sie ein berechtigtes In42
s. u. Kap. K.I.
310
F. Anti-Diskriminierungsregeln auf Grund der Religion
teresse daran, aus religiös motivierten Erwägungen nach Religions- und Konfessionszugehörigkeit zu unterscheiden. Dieses Recht leitet sich aus der Religionsfreiheit und dem darin enthaltenen Recht auf Selbstbestimmung in eigenen Angelegenheiten ab. Das Recht auf (korporative) Religionsfreiheit ist zwar als Rechtssatz im acquis communautaire unter dem Vertrag von Nizza enthalten, jedoch ebenfalls nicht sichtbar, sondern lediglich aus der EMRK und den Verfassungsüberlieferungen herleitbar. Die Maßnahmenkompetenz des Art. 13 EGV weist potentiell große Bedeutung für die Stellung von Religionsgemeinschaften im Unionsrecht auf. Als defizitär ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass bei so bedeutsamen Rechtsgrundlagen, die ein gesamtes und weit in die Mitgliedsstaaten hineinwirkendes Politikfeld wie das Anti-Diskriminierungsrecht betreffen, der direkt demokratisch legitimierten Institution des Europäischen Parlamentes nur ein Anhörungsrecht eingeräumt wird. Mit dieser geringen Einflussnahmemöglichkeit wird dem Europaparlament lediglich eine Nebenrolle zugewiesen. Schließlich ist auf der Grundlage des Art. 13 EGV eine Rechtssetzung zur Bekämpfung der Diskriminierung denkbar, die in die Rechtspositionen hineingreift, die Religionsgemeinschaften in ihren Mitgliedsstaaten auf Grund des nationalen Staatskirchenrechts haben. Die gegenwirkende, Rechte wahrende Erklärung Nr. 11 ist jedoch rechtsunverbindlich und nicht justitiabel. Hier besteht eine mögliche Unausgeglichenheit des Unionsrechts, die eine offene Flanke für die Rechte von Religionsgemeinschaften darstellen kann. 3. Verbesserungsbedarf Eine verbesserte Rechtslage für die Religionsgemeinschaften mit Blick auf die Anti-Diskriminierungsregeln des EU-Rechts müsste demnach dadurch hergestellt werden, dass die Union erstens über ein ausdrückliches Diskriminierungsverbot aus Motiven der Religion und Weltanschauung verfügt. Zweitens muss die Ausgewogenheit der Diskriminierungsregeln verbessert werden, indem ausdrückliche Regeln in das Unionsrecht aufgenommen werden, aus denen hergeleitet werden kann, dass und in welchem Umfang Religionsgemeinschaften ihrerseits berechtigt sind, Differenzierungen vorzunehmen. Dazu gehört das ausdrückliche Recht auf Religionsfreiheit und die Wahrung der national staatskirchenrechtlich eingeräumten Rechtspositionen. Auch eine Verbesserung der demokratischen Legitimation des Anti-Diskriminierungsrechts und der Einflussnahme der gesellschaftlichen Akteure (inkl. Religionsgemeinschaften) auf dessen Gestaltung ist wünschenswert.
III. Veränderungen des Rechts der Diskriminierung
311
4. Beurteilung Fraglich ist, ob und inwieweit der VVE diese Verbesserung leistet. Zum einen enthält der VVE in Art. 21 I EGRC ein grundrechtlich ausgestaltetes Verbot, aus Gründen der Religion und Weltanschauung zu diskriminieren. Hier schafft der VVE ein ausgewogenes Zusammenspiel verschiedener Regeln: das allgemeine Grundrecht auf Gleichbehandlung in Art. 20 EGRC wird ergänzt durch das Verbot, aus religiösen und weltanschaulichen Motiven zu diskriminieren. Dem wird Art. 22 EGRC gegenüber gestellt, der das Rechtssetzungsprogramm der religiösen Vielfalt der Union betont; er begegnet somit einer Überdehnung des Gleichbehandlungsprogramms. Die Maßnahmenkompetenz des Art. 13 EGV findet sich in Art. III-118, III-124 VVE wieder und ermächtigt die Union, religiöse Diskriminierungen zu bekämpfen. Sie wird allerdings in ein ausgewogenes Geflecht expliziter rechtlicher Regeln gestellt, die die berechtigten Interessen der Religionsgemeinschaften in diesem Politikfeld schützen. Den berechtigten Interessen der Religionsgemeinschaften, ihrerseits aus Gründen der Religions- oder Konfessionszugehörigkeit zu unterscheiden, wird ein verfassungsrechtlicher Rahmen gegeben, indem einerseits das Recht auf (korporative) Religionsfreiheit ausdrücklich in das Unionsrecht aufgenommen wird (Art. 10 I EGRC), und damit auch das Selbstbestimmungsrecht eine verfassungsrechtliche Verankerung findet. Die berechtigten Statusrechte der Religionsgemeinschaften, die sich aus dem nationalen Staatskirchenrecht herleiten und dort Diskriminierungspraktiken rechtfertigen können, werden durch Art. I-52 VVE verbindlich in das Unionsrecht übernommen. Schließlich wird auch die demokratische Legitimation des zu schaffenden Anti-Diskriminierungsrechts verbessert, indem Maßnahmen nach Art. III-124 VVE nun der Zustimmung des Europäischen Parlamentes bedürfen (anstatt dass dessen Anhörung ausreicht). Hier bleibt allerdings eine der Kommission und dem Ministerrat gleichberechtigte Mitbestimmung des EP im Mitbestimmungsverfahren weiterhin unerreicht.
G. Schutz des nationalen Religionsrechts durch den Grundsatz der Wahrung der nationalen Identität Das Recht der Europäischen Union wird durch den Dualismus zweier unionsrechtlicher Programme geprägt: dem Vereinheitlichungs- oder Integrationsprogramm steht ein Vielfaltswahrungsprogramm gegenüber. Beide finden an vielfältigen Stellen des Unionsrechts ihre Ausformungen. Der Integration mit dem Ziel einer „immer engeren Union der Völker Europas“ (Art. 1 II EUV) steht die Wahrung der nationalen Identität (Art. 6 III EUV, Art. I-5 I VVE) gegenüber. Hier sollen also bestimmte Bestandteile der Nationalstaaten in der Integration bewahrt werden. Fraglich ist, ob dadurch auch religionsrechtliche Strukturen der Mitgliedsstaaten vom Integrationsprozess ausgenommen sind, und wenn ja, wie weit gehend dieser Schutz nationaler religionsrechtlicher Strukturen wäre. Erforderlich ist dafür, dass solche Strukturen von der nationalen Identität i. S. d. Art. 6 III EUV bzw. Art. I-5 VVE umfasst sind. Daran schließt sich die Frage an, ob und wie sich ein solcher Schutz unter dem VVE im Verhältnis zur Rechtslage unter dem EUV/EGV verändert. Die Untersuchung wird daher abgeschlossen durch einen Vergleich der Schutzregime nationaler religionsrechtlicher Strukturen als nationale Identität unter dem EUV und dem VVE.
I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV Art. 6 III EUV bestimmt kurz: „Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten.“ Die fast lapidare Kürze dieser Norm überrascht, sind doch je nach Auslegung der Bestimmung erhebliche, wesentliche Auswirkungen auf Umfang und Fortgang der Entwicklung der Union denkbar. Der Begriff der nationalen Identität wird im EUV nicht definiert1. Betrachtet man nur vordergründig den Wortlaut, so könnte eine extensive Auslegung des Begriffs der nationalen Identität den europäischen Integrationsprozess zum Erliegen bringen, zumal die Norm nicht als Ausnahmevorschrift formuliert ist, die als solche restriktiv auszulegen wäre. So stellt sich die Frage, ob nicht jeder Mitgliedsstaat einfach die ihm wichtigen Bereiche zum Bestandteil seiner Identität erklären und sie so vor der Integrationspoli1
Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 213.
I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV
313
tik der Union in Sicherheit bringen könnte. Beispielsweise könnten kurzerhand alle Normen des Staatskirchenrechts zum Teil der nationalen Identität deklariert werden, so dass eine effektive Bereichsausnahme für die Rechtsgebiete des Staatskirchenrechts entsteht, die ansonsten inzidenter vom Unionsrecht beeinflusst sind. Eine zu weit gehende Integrationsverhinderung kann unter Berücksichtigung von Geist und Zweck des EU-Vertrages jedoch nicht gewollt sein. Allein diese Überlegungen machen deutlich, dass es nicht alleinige Sache eines Mitgliedsstaates sein kann, den Begriff der nationalen Identität auszufüllen. Auch dies überrascht zunächst, denn wer soll denn entscheiden, was zur nationalen Identität gehört, wenn nicht die betreffende Nation selbst? Als Teil der autonomen europäischen Rechtsordnung muss der Begriff jedoch aus der Unionsrechtsordnung heraus strukturiert und quasi als Rahmen bereit gestellt werden. Gemäß der so vorgegebenen Grundsätze können die Mitgliedsstaaten ihn dann jeweils mit nationalem Gehalt auffüllen. 1. Die europarechtlichen Vorgaben für den Begriff der „nationalen Identität“ und die nationale Ausfüllung Der schwammige, unklare Begriff der nationalen Identität in Art. 6 III EUV darf aus den soeben genannten Erwägungen nicht völlig frei den Mitgliedsstaaten zur Ausfüllung anheim gestellt werden. Eine autonom europarechtliche Auslegung muss ermitteln, welche inhaltlichen Anforderungen an die Materie zu stellen sind, mit der die Mitgliedsstaaten den Begriff dann ausfüllen. Für die Auslegung stehen als Instrumente der Wortlaut, die Entstehungsgeschichte und der Zweck der Norm bereit. Dem Wortlaut nach kann man Identität definieren als die Gesamtheit der Ideengehalte, mit denen sich die in Mitgliedsstaaten organisierten Nationen identifizieren2. Diese Ideengehalte bestehen aus einem gemeinsamen Lebenskontext (z. B. Sprache, Geschichte, Kultur), der von einem identitätsbildenden Willen getragen wird; d.h. dem kollektiven Willen, den gemeinsamen, geteilten Lebenskontext als die kollektive Identität zu begreifen. Der Zweck des Art. 6 III EUV ist die Bewahrung der Mitgliedsstaaten im Prozess der europäischen Integration als Ebene zwischen der EU und den Regionen. Die Mitgliedsstaaten wollen sich einen materiellen Bedeutungsgehalt bewahren, der über ihre formelle Funktion als notwendig Beteiligte am Gesetzgebungsverfahren in der EU (Ministerrat) hinausgeht3. Sie wollen, um nicht langfristig durch Verlagerung ihrer Gehalte auf die EU zu leeren Hierarchiehülsen mit bloß formeller Bedeutung zu werden, materiellen Gehalt behalten, und zwar 2 3
Bleckmann, JZ 1997, S. 265 f. Bleckmann, JZ 1997, S. 266; Vachek, S. 272.
314
G. Schutz durch Wahrung der nationalen Identität
den sie prägenden Wesensgehalt. Aus diesem Telos ergibt sich für die Frage, welche Inhalte als Identität zu qualifizieren sind, dass es sich jeweils um Materie handeln muss, die einen genuinen Bezug zum Wesen des Mitgliedsstaates hat. Um Identität stiftend zu sein, muss die Materie dazu beitragen, dass der Mitgliedsstaat so ist, wie er ist; sie muss ihn charakterisieren und konstituieren. Dies schließt Veränderungen im Wesen der Staaten nicht aus4; durch Veränderungen ihres Wesens verlören sie nicht zwingend ihre geschützte Identität, nur muss das Neue an ihnen ebenfalls als Identität stiftend empfunden werden, damit es über Art. 6 III EUV geschützt wird. Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte der Norm bestätigt: sie wurde durch den Vertrag von Amsterdam in das Unionsrecht eingeführt, als absehbar wurde, dass die Union weit über eine Wirtschaftsgemeinschaft hinaus gewachsen war und über kurz oder lang eine eigene Identität bilden würde. Gleichzeitig entwickelte sich das Modell vom „Europa der Regionen“, und in der Frage der Verteilung der Identität stiftenden Faktoren an die jeweiligen Ebenen wollten die Mitgliedsstaaten nicht von beiden Seiten bedrängt werden und schließlich leer ausgehen5. Diese Auslegung zeigt, dass der Begriff der nationalen Identität europarechtlich restriktiv ausgelegt werden muss. Die europarechtliche Auslegung gebietet, dass die Gehalte, die die Mitgliedsstaaten der Norm zumessen dürfen, bestimmten Anforderungen genügen. Diese sind, dass nur wesentliche, einen Mitgliedsstaat charakterisierende und konstituierende Inhalte von den Mitgliedsstaaten unter Art. 6 III EUV subsumiert werden dürfen. Details, die nicht das Wesen eines Mitgliedsstaates charakterisieren, können nicht als nationale Identität deklariert werden. Der Grundsatz der Wahrung der nationalen Identität darf also nicht zur Schutznorm für dem Staat lieb gewordene Regelungen instrumentalisiert werden, die nicht sein Wesen ausdrücken. Daher taugt er auch nicht als Instrument zur Schaffung von beliebigen Bereichsausnahmen vom Unionsrecht. Die für den Begriff qualifizierten Wesensgehalte der Mitgliedsstaaten dürften sich wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für den Staat oft in dessen Verfassung finden, so dass der Inhalt der nationalen Verfassung ein wichtiges Indiz für die nationale Identität sein dürfte. Doch ist der europarechtliche Begriff der nationalen Identität nicht synonym mit der Verfassungsidentität eines Mitgliedsstaates6; er kann nach der obigen autonom europarechtlichen Auslegung über das hinausgehen oder hinter dem zurück bleiben, was eine nationale Verfassung regelt. Daher kommt es nicht auf den formellen Rang der Regelung einer 4
Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 215. Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 212. 6 Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 6 EUV, Rn. 191; Mückl, Religionsfreiheit, S. 25. 5
I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV
315
Materie im mitgliedsstaatlichen Recht an, sondern auf ihre Identität stiftende, prägende Wirkung für das Selbstverständnis einer Nation. Auch einfachgesetzliche oder gewohnheitsrechtliche Regelungen können demnach die nationale Identität ausdrücken. Ein weiteres wichtiges Indiz für eine charakterisierende Prägung der nationalen Identität dürfte das kollektive Bewusstsein einer historischen Bedeutung der betreffenden Regelung sein, da die historische Verwurzelung typisch ist für eine die nationale Identität prägende Idee. 2. Bedeutung der nationalen Identität für das Religionsrecht Vereinzelt wird vertreten, dass das gesamte Staatskirchenrecht eines Mitgliedsstaates ein Ausdruck der nationalen Identität sei, die durch Art. 6 III EUV vor europarechtlichem Einflusse geschützt sei7. Die Kirchen und ihre Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten seien aus Sicht der Gemeinschaft Teil der nationalen Identität der Mitgliedsstaaten. Dem kann nicht gefolgt werden, wenn damit gesagt werden soll, dass die Gesamtheit der nationalen staatskirchenrechtlichen Regeln ein unantastbarer Ausdruck der nationalen Identität sei. Aus den soeben herausgearbeiteten europarechtlichen Vorgaben an die Auslegung des Begriffs der nationalen Identität ergibt sich, dass nur solche Elemente des nationalen Religionsrechts unter die nationale Identität i. S. d. Art. 6 III EUV subsumiert werden können, die für das Wesen des Mitgliedsstaates charakterisierend und konstituierend sind. Dies sind die Kernstrukturen der nationalen mitgliedsstaatlichen Religionsrechte8. Detailregelungen des Religionsrechts ohne Identität stiftende Funktion können nicht unter Art. 6 III EUV subsumiert werden9. Dies ergibt sich auch aus der Tatsache, dass Art. 6 III EUV anders als die Erklärung Nr. 11 oder das Grundrecht der Religionsfreiheit keine europarechtliche Norm ist, die das Religionsrecht der Mitgliedsstaaten unmittelbar zu schützen beabsichtigt. Der Schutz ergibt sich nur mittelbar insoweit, als dass Religion oder Religionsrecht Ausdruck der nationalen Identität ist. Will man die Identität stiftende religionsrechtliche Materie ermitteln, stellt sich zunächst die Frage, ob es heutzutage überhaupt noch religionsoder staatskirchenrechtliche Materie gibt, die die Identität eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union konstituiert oder charakterisiert10. Die meisten Mitgliedsstaaten der EU sind weitgehend weltlich geprägt. Sicherlich 7 Winter, in: Müller-Graff/Schneider (Hrsg.), S. 166; Weber, ZevKR 47 (2002), S. 283. 8 Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 22. 9 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 423 f. 10 Zweifelnd Vachek, S. 275.
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G. Schutz durch Wahrung der nationalen Identität
war die Identität stiftende Wirkung der Religion für einen Staat früher stärker als heute. Sie hat abgenommen in dem Maße, wie die nationale Kultur und der Staat säkularisiert wurden. Dennoch ist sie immer noch gegeben. Dafür spricht das wohl in allen Mitgliedsstaaten vorhandene Bewusstsein der historischen Bedeutung des Staat-Kirche-Verhältnisses für die heutige Nation. Zudem hat neben der Säkularisierung auch eine Pluralisierung stattgefunden. Diese hat dazu geführt, dass nun nicht mehr eine bestimmte Religion oder Konfession in dem Maße wie früher für einen Staat prägend ist, sondern die Strukturen, in denen ein Staat seine Beziehung zu Religion und Religionsgemeinschaften generell gestaltet. Diese werden auch nach wie vor vom Staatsvolk als charakterisierend und prägend empfunden, selbst wenn der einzelne Bürger der Religion oder Religionsgemeinschaft keine prägende Rolle in seinem privaten Leben gibt. Dass die Strukturen zwischen Staat und Religion nach wie vor als wesentlich und identitätsrelevant empfunden werden, zeigen die engagiert, manchmal vehement geführten Debatten um Gesetze und Rechtssprechung, die das Verhältnis von Staat und Religion gestalten. Genannt seien hier die Kruzifix- und KopftuchUrteile des Bundesverfassungsgerichts, der Streit um das Tragen von Kopftüchern an den Schulen in Frankreich und die Reform des Staat-Kirche-Verhältnisses in Schweden. Zweifellos wird die Laizität in Frankreich von den Bürgern als Identität stiftend für ihren Staat empfunden. Der Widerstand Frankreichs gegen die Aufnahme einer invocatio dei in den VVE zeigt paradigmatisch, wie Franzosen ihre Laizität als Ausdruck ihrer nationalen Identität verstehen, die in der europäischen Integration bewahrt werden soll. Ähnliches gilt mit umgekehrten Vorzeichen für die Mitgliedsstaaten, die einen Gottesbezug des VVE wünschen; sie sehen durch einen laizistischen VVE nach französischem Modell ihre nationale Identität in der europäischen Integration gefährdet, und zwar jeweils unabhängig von der persönlichen Relevanz der Religion. Fraglich ist nun, welche religionsrechtlichen Phänomene als jeweils Identität stiftend unter Art. 6 III EUV subsumiert werden können. Eine abschließende Benennung ist hier nicht möglich, da dies von Mitgliedsstaat zu Mitgliedsstaat unterschiedlich ist und bereits die Lage in einem Mitgliedsstaat kontrovers sein dürfte. Möglich ist daher nur eine generelle Beschreibung. a) Die nationalen Staat-Kirche-Modelle Die oben genannten Erwägungen verdeutlichen bereits, dass die grundlegenden Systemstrukturen des Staat-Kirche-Verhältnisses11 zur nationalen Identität gehören dürften12: Staatskirchentum, Trennungssystem/Laizität 11
s. o. Kap. C.II.3.a).
I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV
317
und Kooperationsmodell sind in ihrer strukturgebenden Wirkung für die Identität prägend. Sie sind nämlich, das zeigen die genannten Kontroversen, wichtige Maßstäbe für die wesentlichen, einen Mitgliedsstaat charakterisierenden Ideengehalte, mit denen die Menschen ihren Staat identifizieren. Ansonsten würde etwa die Frage nach religiösen Symbolen in staatlichen Schulen nicht in dem Maße unter Verweis auf die Laizität oder das Kooperationsmodell polarisieren. Winter stellt daher fest: das Selbstbild eines Staates entscheidet sich nicht zuletzt an der Frage, wie er sein Verhältnis zur Religion und den Religionsgemeinschaften definiert13. Auch die Indizien der historischen Verwurzelung und der verfassungsrechtlichen Fundierung sind hier gegeben. Diese Staat-Kirche-Modelle sind somit als Grundpfeiler der historisch gewachsenen, verfassungsrechtlich normierten Ausgleichsordnung von Kirche und Staat Bestandteil der nationalen Identität14. Dies gilt auch für die ehemals sozialistischen neuen Mitgliedsstaaten, die zum 1. Mai 2004 in die Union aufgenommen worden sind. Sie waren zwar offiziell jahrzehntelang religionsfern, doch gewannen gerade durch den totalitären Anspruch des Staates die etablierten Kirchen eine wichtige politische Bedeutung als Opposition. Das Verhältnis des polnischen Staates zur römisch-katholischen Kirche ist sicherlich prägend für die nationale Identität Polens. Gerade nach der jahrzehntelangen totalitären Erfahrung dürfte die Gestaltung eines pluralistischen Verhältnisses von Staat und Religion in den osteuropäischen Beitrittsländern als jeweils charakteristisch für die neue, heutige Identität nach dem Sozialismus empfunden werden. Gegen die Identität stiftende Bedeutung der Staat-Kirche-Modelle spricht auch nicht, dass jedes Modell von jeweils mehreren Mitgliedsstaaten vertreten wird15. Das mehrfache Vorkommen eines Systems bedeutet nicht, dass dieses Staat-Kirche-Modell unfähig wäre, eine nationale Identität zu beschreiben, sondern nur, dass die Identitäten mehrerer Mitgliedsstaaten von ähnlichen Modellen geprägt sind. Ein Merkmal der nationalen Identität im Sinne des Art. 6 III EUV ist nichts, was jeweils nur einmal an einen Mitgliedsstaat vergeben werden könnte. Dieser Auffassung läge ein falsches Verständnis von Art. 6 III EUV zu Grunde. Art. 6 III EUV besagt nichts über die Ähnlichkeit nationaler Identitäten untereinander, und er enthält kein Gebot, dass alle Mitgliedsstaaten untereinander verschieden sein müssten. Er besagt lediglich etwas über das Verhältnis der supranationalen Ebene 12 Heintzen, in: FS Listl, S. 47; Hillgruber, DVBl. 1999, S. 1178; Mückl, Religionsfreiheit, S. 26 ff.; Robbers, EssGespr 27 (1993), S. 88; Robbers, HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 323; Starck, EssGespr 31 (1997), S. 21 ff.; de Wall, ZevKR 45 (2000), S. 159. 13 Winter, in: FS Hollerbach, S. 895. 14 Link, ZevKR 42 (1997), S. 131. 15 A. A. Vachek, S. 274.
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G. Schutz durch Wahrung der nationalen Identität
zu den Mitgliedsstaaten, nämlich dass die EU die bestehenden nationalen Identitäten zu achten habe. Mehrere Mitgliedsstaaten können durchaus ähnliche Identitäten haben; diese müssen dann gemäß Art. 6 III EUV von der EU respektiert werden. Aus diesen Erwägungen spricht auch die These von der Konvergenz16 der großen staatskirchenrechtlichen Systeme in Europa nicht gegen die Identität stiftende Wirkung dieser Systeme17. Das Gebot des Art. 6 III EUV ist so lange sinnvoll, wie es verschiedene nationale Identitäten in der EU gibt, und dass ist der Fall, so lange nationale Ideengehalte eine die Nationen prägende Wirkung haben. Mit Bezug auf das Religionsrecht im Prozesse der Konvergenz bedeutet dies: so lange es verschiedene religionsrechtliche Strukturmodelle innerhalb der EU gibt und diese Modelle eine die Nationen prägende Wirkung haben, entfaltet Art. 6 III EUV das Achtungsgebot. b) Religion im staatlichen Bildungswesen Neben den grundlegenden Staat-Kirche-Modellen wird in vielen Mitgliedsstaaten auch der Rang der Religion in staatlichen Schulen als Identität prägend angesehen. Regelungen über Religion in staatlichen Schulen können Verfassungsrang aufweisen. Die Debatten über religiöse Symbole in staatlichen Schulgebäuden in Frankreich und Deutschland wurden bereits erwähnt. Die Regelungen über Religionsunterricht in staatlichen Schulen können daher Bestandteil der nationalen Identität sein; in Deutschland finden sie verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 7 III GG. c) Kirchliche Wohlfahrtspflege Modelle der freien kirchlichen Wohlfahrtspflege, die in Kooperation mit staatlicher Wohlfahrtspflege soziale Aufgaben übernimmt, sind in der Lage, eine nationale Identität mitzudefinieren. Solche Modelle sind im Bewusstsein der Bevölkerung verankert, weil die Bevölkerung in vielfältiger Hinsicht mit den Akteuren und Leistungen dieser Dienste in Berührung kommt (in Deutschland z. B. Caritas, Diakonisches Werk). Diese Modelle sind auch Ausfluss verfassungsrechtlicher Prinzipien wie dem Sozialstaatsprinzip, das die nationale Identität z. B. der Bundesrepublik Deutschland prägt. Sollte die EU durch die Anwendung ihres Wettbewerbsrechts das System grundlegend verändern18, könnte dies einen Konflikt mit Art. 6 III EUV bedeuten.
16 17
Vgl. Robbers, in: Informationes Theologiae Europae 2003, S. 21. A. A. Vachek, S. 274.
I. Der Schutz der nationalen Identität im EUV
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d) Die Finanzierung der Kirchen und Religionsgemeinschaften Zweifelhaft erscheint m. E., ob die Art der Finanzierung der Religionsgemeinschaften als ein Ausdruck der nationalen Identität angesehen werden kann19. Auch wenn es hier mitgliedsstaatliche Besonderheiten gibt, die geschichtlich gewachsen und verfassungsrechtlich abgesichert sind, scheint von Finanzierungsmodellen für Kirchen eine eher geringe prägende Wirkung für die nationale Identität auszugehen. Finanzierungsmodelle für Religionsgemeinschaften dürften typischerweise nicht als wesentliche, einen Mitgliedsstaat charakterisierende und konstituierende Ideengehalte begriffen werden20. Dies gilt mit Sicherheit für konkrete Ausgestaltungen des Finanzierungssystems wie der Kirchensteuereinzug über staatliche Finanzämter und das in Deutschland praktizierte Lohnsteuerabzugsverfahren. Aus Art. 6 III EUV kann m. E. kein Schutz für das deutsche Kirchensteuersystem hergeleitet werden. Sollte die deutsche Kirchensteuer von der EU als binnenmarktrelevante direkte Steuer aufgefasst werden und im Rahmen von Harmonisierungsbestrebungen direkter mitgliedsstaatlicher Steuern in Frage gestellt werden21 – was allerdings aus Gründen der mangelnden Kompetenz der EU als sehr unwahrscheinlich erscheint –, so müsste bis zum In-KraftTreten des Art. I-52 VVE wohl allein die Erklärung Nr. 11 zu Gunsten des deutschen Verfahrens in die Waagschale geworfen werden, auch wenn sie unverbindlich ist. e) Kirchliches Arbeitsrecht Umstritten ist, ob das deutsche kirchliche Arbeitsrecht durch Art. 6 III EGV geschützt ist. Es wird vertreten, dass die Besonderheit des kirchlichen Arbeitsrechts in Deutschland Bestandteil und Ausdruck nationaler Identität sei22. Doch die Einräumung von Tendenzschutz, die Anerkennung der Idee der Dienstgemeinschaft und andere Besonderheiten im kirchlichen Arbeitsrecht werden nicht als wesentliche, einen Mitgliedsstaat charakterisierende und konstituierende Ideengehalte begriffen und sind daher nicht Ausdruck 18 Vgl. die Ankündigung einer Mitteilung zu den sozialen Dienstleistungen in der EU, Weißbuch zu den Dienstleistungen von allgemeinem Interesse vom 12.5.2004, Dok.-Nr. KOM (2004) 374 endg., Rn. 4.4. 19 So aber Weber, ZevKR 47 (2002), S. 232 f. 20 Dagegen können die nationalen Finanzierungsmodelle durchaus den von Art. I-52 I, II VVE geschützten Status betreffen, vgl. Kap. D.II.1.c). 21 Vgl. zu möglichen europarechtlichen Auswirkungen auf das deutsche System der Kirchensteuer Weber, ZevKR 47 (2002), S. 230 ff. 22 Richardi, Arbeitsrecht, § 1, Rn. 32, der in Art. 6 III EGV daher eine Schranken-Schranke für Eingriffe des Gemeinschaftsrechts in das deutsche kirchliche Arbeitsrecht sehen will; Bleckmann, JZ 1997, S. 269.
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G. Schutz durch Wahrung der nationalen Identität
der nationalen oder kulturellen Identität eines Mitgliedsstaates. Wegen der mangelnden Prägungswirkung auf die nationale Identität betrifft die Privilegierung von Kirchen und Religionsgemeinschaften im Arbeitsrecht (Tendenzschutz) nicht den Art. 6 III EUV23. 3. Die Schutzwirkung des Art. 6 III EUV für das nationale Religionsrecht Die effektive Schutzwirkung des Art. 6 III EUV für die nationalen religionsrechtlichen Regelungen stellt sich nach dem oben Gesagten als eher gering dar24. Zwar können grundlegende Bereiche des Religionsrechts als Bestandteil der nationalen Identität erscheinen, doch verfügt die EU in diesen Materien ohnehin nicht über die erforderlichen Kompetenzen für grundlegende Eingriffe in die nationalen Regelungen25. Sie kann etwa die Staat-Kirche-Systeme schon mangels einer ihr zugewiesenen Befugnis nicht verändern. Auch das staatliche Bildungswesen ist eine Kompetenzmaterie der Mitgliedsstaaten. Die praktische Nutzbarkeit des Art. 6 III EUV ist schließlich erheblich dadurch reduziert, dass die Norm nicht justitiabel ist; gemäß Art. 46 EUV ist die Zuständigkeit des EuGH auf Art. 6 II EUV beschränkt. Ferner dürfte äußerst zweifelhaft sein, ob Art. 6 III EUV Religionsgemeinschaften ein subjektives Recht vermittelt, da die Mitgliedsstaaten selbst, nicht aber die Religionsgemeinschaften im Schutzbereich der Norm stehen. Art. 6 III EUV ist daher als eine reine Programmnorm aufzufassen, die im politischen Prozess der Interessenvertretung der Kirchen und Religionsgemeinschaften genutzt werden kann, nicht jedoch als juristischer Ansatzpunkt.
II. Der Schutz der nationalen Identität unter dem VVE Im VVE findet sich Art. 6 III EUV in Art. I-5 I VVE wieder, allerdings mit einem Zusatz: „Die Union achtet die nationale Identität der Mitgliedsstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt [. . .]“. Dieser Zusatz wirkt als eine Qualifikation des Tatbestandsmerkmals „nationale Identität“. Es kann nur noch so ausgelegt werden, dass die Inhalte der nationalen Identität in den politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten fundiert sein müssen. 23 24 25
Vachek, S. 275. I. E. so auch Vachek, S. 275. Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 424.
II. Schutz der nationalen Identität unter dem VVE
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Die weite Definition der nationalen Identität als die Summen der Ideengehalte mit prägender Wirkung auf eine Nation, die bei der nicht qualifizierten Formulierung des Art. 6 III EUV möglich war, ist mit dem Wortlaut des Art. I-5 I VVE nicht mehr vereinbar. Er ist auf die politisch-verfassungsrechtlichen Aspekte verengt worden und hat dabei die eher kulturellen Aspekte verloren. Zwar haben auch nationale religionsrechtliche Strukturen in den Mitgliedsstaaten verfassungsrechtlichen Niederschlag gefunden – u. a. die Staat-Kirche-Systeme in den Mitgliedsstaaten und teilweise die Stellung der Religion im staatlichen Schulsystem sind verfassungsrechtlich geregelt –, doch verlangt Art. I-5 I VVE auch, dass diese Normen grundlegend für die nationale Verfassung seien. Für Art. 7 III GG dürfte diese Eigenschaft wohl eher zu verneinen sein; sie ist im verfassungsrechtlichen Kontext betrachtet eine Detailregelung und keine grundlegende verfassungsrechtliche Struktur. Wie unter dem EUV besitzt die EU unter dem VVE keine Kompetenz für einen Eingriff in die Staat-Kirche-Modelle, so dass dieser Aspekt der nationalen Identität keiner Schutzklausel bedarf. Im Verfassungskonvent hatte noch die Arbeitsgruppe „Ergänzende Zuständigkeiten“ in ihrem Abschlussbericht an das Konventsplenum vermerkt, dass die Achtung der nationalen Identität ein Grundsatz für die Ausübung der EUKompetenzen sei, und dass die nationale Identität den rechtlichen Status der Kirchen und Glaubensgemeinschaften umfasse. Die Arbeitsgruppe empfahl daher dem Konvent, die Bestimmung des Art. 6 III EUV transparenter zu gestalten, indem präzisiert wird, dass die wesentlichen Bestandteile der nationalen Identität unter anderem die grundlegenden Strukturen und wesentlichen Aufgaben der Mitgliedstaaten umfassen, insbesondere ihre politische und verfassungsrechtliche Struktur, einschließlich regionaler und kommunaler Selbstverwaltung, ihre Entscheidungen hinsichtlich Sprachen, Staatbürgerschaft, Hoheitsgebiet, und des rechtlichen Status der Kirchen und Glaubensgemeinschaften26. Die Norm wurde dann jedoch in der Endfassung um die genannten Elemente einschließlich des rechtlichen Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften entlastet. Auch das erweiternde Wort „insbesondere“ wurde gestrichen; erhalten blieb lediglich die Referenz an die kommunale Selbstverwaltung. Mit Bezug auf die Kirchen und Religionsgemeinschaften wurde dies durch die Aufnahme des Art. I-52 VVE zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften kompensiert. Art. I-5 I VVE ist daher für Religionsgemeinschaften in der Endfassung juristisch betrachtet von keiner und unter dem Aspekt der politischen Interessenvertretung kaum von Bedeutung. Soweit durch die Verengung des Art. I-5 I VVE gegenüber Art. 6 III EUV eine Verschlechterung gegenüber der Rechtslage unter dem EUV für die Religionsgemeinschaften eintreten 26 Abschlussbericht der Arbeitsgruppe „Ergänzende Zuständigkeiten“, VK, Dok.Nr. CONV 375/1/02, http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00375-r1d2.pdf.
322
G. Schutz durch Wahrung der nationalen Identität
sollte, wird diese aber durch Art. I-52 I VVE (die zur Rechtsverbindlichkeit erstarkte Erklärung Nr. 11) ausgeglichen.
III. Vergleich EUV/VVE Der Grundsatz der Achtung der nationalen Identität hat bereits unter Art. 6 III EUV nur eine geringe Bedeutung für den Schutz nationaler religionsrechtlicher Regeln, die unter dem Veränderungsdruck des Unionsrechts stehen. Art. 6 III EUV erfasst nur sehr grundsätzliche religionsrechtliche Strukturen, die bislang keinen Veränderungen durch das Unionsrecht ausgesetzt waren. Er ist für Religionsgemeinschaften nicht juristisch, sondern nur in der politischen Argumentation einsetzbar. Der Nutzen des Art. I-5 I VVE ist für Religionsgemeinschaften noch geringer, da der Begriff der nationalen Identität dort auf die grundlegenden politischen und verfassungsrechtlichen Strukturen der Mitgliedsstaaten eingegrenzt ist. Staatskirchenrechtliche Aspekte sind hiervon nur erfasst, soweit sie auch grundlegende politische und verfassungsrechtliche Strukturen des Mitgliedsstaates darstellen. Dies betrifft wohl nur das jeweilige Staat-Kirche-Modell, das der Mitgliedsstaat gewählt hat. Dies steht aber mangels entsprechender Kompetenz der EU ohnehin nicht unter europarechtlichem Veränderungsdruck. Staatskirchenrechtliche Materien einschließlich und unterhalb der grundlegenden Strukturen der Mitgliedsstaaten werden im VVE effektiver als früher durch Art. I-52 VVE geschützt, so dass auch der Bedarf eines Schutzes aus Art. I-5 I VVE als geringfügig angesehen werden kann.
H. Schutz des nationalen Religionsrechts durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Grundprinzip des Unionsrechts. Es soll den angemessenen Ausgleich zwischen Zentralismus und Dezentralisation sichern und die Bürgernähe der Union fördern. Während die Subsidiaritätsidee früher im Recht der Union nicht vorkam, begann mit dem Vereinheitlichungsschub der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986 die Ausgestaltung der Subsidiarität als Instrument, um die Aufgaben im europäischen Mehrebenensystem den verschiedenen Ebenen unter Berücksichtigung der Rechte unterer Ebenen zuzuweisen. Mit dem Vertrag von Maastricht 1992 wurde das Subsidiaritätsprinzip im Primärrecht der Union verankert. 1993 schlossen die europäischen Institutionen EP, Kommission und Ministerrat die interinstitutionelle Vereinbarung zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips ab1. Im Vertrag von Amsterdam wurde das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 II EGV aufgenommen und in einem Subsidiaritätsprotokoll ausgestaltet. Dieses Protokoll Nr. 21 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit2 ist Teil des Primärrechts (Art. 311 EGV) und für die Anwendung der Subsidiarität maßgeblich. In den VVE hat das Subsidiaritätsprinzip in Art. I-11 III VVE Aufnahme gefunden. Es wird von einem weiterentwickelten Subsidiaritätsprotokoll begleitet. Die folgende Untersuchung analysiert, ob das Subsidiaritätsprinzip in der Ausgestaltung des Art. 5 II EGV einen Beitrag für das Religionsrecht der EU mit Blick auf die Verteilung entsprechender Kompetenzen auf die verschiedenen staatlichen Ebenen leistet und fragt nach etwaigen Defiziten. Sie untersucht sodann die Ausgestaltung der Subsidiarität im VVE. Im abschließenden Schritt wird erörtert, ob die festgestellten Defizite der Subsidiarität im EGV in Bezug auf das Religionsrecht unter dem VVE behoben werden.
1
Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Rat, der Kommission und dem Europäischen Parlament über die Verfahren zur Anwendung des Subsidiaritätsprinzips v. 28.10.1993, ABl. 1993 C 329, S. 135 ff. 2 ABl. 1997 C 340, S. 105 ff.
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H. Schutz durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip
I. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des EGV 1. Die Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips und seine Wirksamkeit Art. 5 II EGV definiert das Subsidiaritätsprinzip an Hand von zwei Kriterien. Danach wird die Gemeinschaft nur tätig, soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf der Ebene der Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erreicht werden können (s. g. Effektivitätskriterium) und sie daher wegen des Umfangs oder der Wirkungen der Maßnahmen auf Gemeinschaftsebene besser erreicht werden können (s. g. Mehrwertkriterium). Dies gilt für Materien, die nicht in die ausschließliche Zuständigkeit der EU fallen. Das Subsidiaritätsprinzip gilt als Grundsatz des EGV (Titel des Ersten Teils des EGV) für die gesamte Tätigkeit der Union (Art. 2 II EUV) und begünstigt die Mitgliedsstaaten sowie nach deren innerstaatlichem Recht ihre innerstaatlichen Untergliederungen3. Zur Erläuterung, praktischen Handhabung und Kontrolle des Subsidiaritätsprinzips dient das Subsidiaritätsprotokoll des EGV (SubsP EGV). Demnach verpflichtet das Subsidiaritätsprinzip alle Organe der Union (Nr. 1 SubsP EGV). Es formuliert als Ziel, ein Gleichgewicht von acquis communautaire, gemeinschaftlichen und mitgliedsstaatlichen Befugnissen und berechtigten nationalen Interessen zu wahren (Nr. 2, 3 SubsP EGV). Zur Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes errichtet das SubsP EGV formelle und materielle Erfordernisse. In formeller Hinsicht stellt es einen Begründungszwang für die Union auf, nach dem diese mit qualitativen und soweit möglich quantitativen Kriterien rechtfertigen muss, warum ihr Rechtssetzungsvorschlag erforderlich ist (Nr. 5 SubsP EGV). Nr. 9 SubsP EGV sieht im Regelfall umfassende Anhörungen vor der Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften vor, wie auch die Veröffentlichung von Konsultationsunterlagen. Umfassend bedeutet, dass die Anhörung sich auf alle Aspekte bezieht, die in Zusammenhang mit dem betreffenden Rechtssetzungsvorschlag stehen. Die Anhörung darf nicht auf die erwünschten Folgen des Rechtssetzungsvorschlages verengt werden, auch Nebenfolgen sind zu berücksichtigen. Wenn ein Vorschlag mit dem primären Ziel der Harmonisierung binnenmarktrechtlicher Vorschriften also Auswirkungen auf nationale staatskirchenrechtliche Regelungen hat, so müssen auch diese Nebenwirkungen zum Gegenstand der Anhörung gemacht werden können. Nr. 9 SubsP EGV verlangt die Vorlage eines jährlichen Subsidiaritätsberichts der Kommission an das Europäische Parlament und den Ministerrat, den diese 3
Streinz, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 5 EGV, Rn. 32 ff.
I. Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des EGV
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beiden Organe gemäß Nr. 11 SubsP EGV zu prüfen haben. In materieller Hinsicht wiederholt Nr. 5 SubsP EGV die beiden Tatbestandsmerkmale der Effektivität und des Mehrwertes aus Art. 5 II EGV sowie deren kausales Verhältnis zu einander („daher“). Nr. 5 SubsP EGV interpretiert diese Tatbestandsmerkmale durch Leitlinien zur Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind. Trotz der recht umfangreichen Bestimmungen des Subsidiaritätsprotokolls ist die Effektivität des Subsidiaritätsprinzips, gemessen am Ziel, seit dem Vertrag von Amsterdam gering geblieben. Subsidiarität ist eher ein (häufig gebrauchtes) Schlagwort denn ein Instrument der effektiven Kontrolle der Rechtssetzungstätigkeit der Union. Als Kompetenzausübungsschranke ist das Subsidiaritätsprinzip gegenüber dem Initiativrecht der Kommission ein schwaches Instrument geblieben. Eine kompetentielle Selbstbeschränkung der Kommission findet kaum statt, weil die Kommission ein starkes Interesse daran hat, ihre aus dem EGV abgeleiteten integrationsfördernden Ziele voranzutreiben. Die Schranken des Subsidiaritätsprotokolls sind dagegen weich formuliert (vgl. in den Erwägungsgründen: „Richtschnur“ für das Handeln der Gemeinschaftsorgane, somit kein ius cogens, sondern Leitlinien für den Regelfall). In der Praxis ist es zudem leicht, die formellen Anforderungen der Begründungs- und Anhörungspflicht zu erfüllen. Hinzu kommt, dass eine wirksame Kontrolle, ob die Schranken des Subsidiaritätsprotokolls eingehalten worden sind, kaum stattfindet. Bei Verstößen sind keine Sanktionen vorgesehen. Bemerkenswerterweise liegt die Kontrolle auch nicht in den Händen der Begünstigten, also der Mitgliedsstaaten, sondern ist den Gemeinschaftsorganen Parlament und Rat (Nr. 11, 12 SubsP EGV) zugewiesen, also Stellen, die selbst Teil der zu beschränkenden Ebene EU sind und daher tendenziell eher an der Stärkung als an der Begrenzung der Kompetenzen der Union interessiert sein dürften. Das EP als noch nicht vollwertiges Parlament verfolgt zuvörderst seine eigene Aufwertung als EG-Institution, und auch der Rat als „Staatenkammer“ vertritt laut EGV die Ziele der Gemeinschaft (Art. 202 EGV) und nicht nur die Interessen der Mitgliedsstaaten. Das Subsidiaritätsprinzip ist unter dem EUV/EGV ist also nicht effektiv ausgestaltet. Es setzt der Rechtssetzungstätigkeit der Union bislang kaum erkennbare Grenzen, sondern hat höchstens politische Wirkung im Sinne einer Mahnung an die EU, mit ihren Kompetenzen behutsam und restriktiv umzugehen.
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H. Schutz durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip
2. Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für das Religionsrecht Abgesehen vom generellen Effektivitätsdefizit des Subsidiaritätsprinzips stellt sich die Frage, ob dieser Grundsatz in seiner derzeitigen Ausgestaltung überhaupt geeignet ist, den Schutz des nationalen Religionsrechts zu gewährleisten. Das nationale Staatskirchenrecht ist, soweit ersichtlich, bislang nicht durch die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips geschützt worden. Die Anwendung des Art. 5 II EGV und des Subsidiaritätsprotokolls hat bisher nicht ergeben, dass EU-Maßnahmen wegen einer Missachtung der Subsidiaritätskriterien mit Blick auf nationales Staatskirchenrecht unzulässig seien. Auch findet das nationale Religionsrecht, soweit ersichtlich, bislang keine Erwähnung in den seit dem Amsterdamer Vertrag jährlich vorgelegten Subsidiaritätsberichten (Nr. 9, 10 SubsP EGV). Dem könnte eine strukturelle Ungeeignetheit des Subsidiaritätsprinzips zum Schutz des nationalen Staatskirchenrechts zu Grunde liegen. Das Subsidiaritätsprinzip findet Anwendung in dem Bereich, für den konkurrierende Kompetenzen der EU und der Mitgliedsstaaten bestehen, Art. 5 EGV4. Da nationales Staatskirchenrecht keine Materie aus dem Bereich der konkurrierenden Kompetenz ist, gerät diese Materie nicht als solche in den Wirkungsbereich des Subsidiaritätsprinzips. Dagegen reguliert die Union kraft ihrer konkurrierenden Zuständigkeit viele Bereiche, in denen staatskirchenrechtliche Aspekte der Mitgliedsstaaten inzidenter mitbetroffen sind5. Als Beispiele seien hier nur erneut das Arbeitsrecht und das Datenschutzrecht genannt. In diesen Bereichen kommt das Subsidiaritätsgebot des EGV zur Anwendung. Hier müssen die Organe der Union folglich prüfen, ob die Aufgabe durch die Mitgliedsstaaten nicht ausreichend erfüllt werden kann (Effektivitätskriterium), und ob die Union sie daher besser erfüllen kann (Mehrwertkriterium). Doch die Prüfung des Subsidiaritätsgebotes ist nur auf die Frage gerichtet, ob die Ziele der europäischen Integration (gemäß EUV/EGV, z. B. die Schaffung des Binnenmarktes oder die Verwirklichung des Umweltschutzes) bereits ausreichend auf der Ebene der Mitgliedsstaaten verfolgt werden können. Die Subsidiaritätsprüfung erfasst somit nur Ziele, die Bestandteil der Zielvorgaben des EUV/EGV sind. Ausschließlich nationale Ziele, wie z. B. Aspekte des nationalen Staatskirchenrechts, gelangen von vorneherein nicht in den Bereich des Prüfungsansatzes des Effektivitätskriteriums, da ihre Zuweisung an die EU-Ebene gar nicht vorgesehen und daher auch nicht zu prüfen ist, ob eine Erfüllung auf EU-Ebene effektiver wäre. Mangels ihrer Erfassung durch 4 5
s. o. Kap. H.I.1. Mückl, Religionsfreiheit, S. 24.
I. Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des EGV
327
den Prüfungsansatz kann das Subsidiaritätsprinzip die Zuweisung solcher Ziele an die nationale Ebene folglich auch nicht bestätigen. Den Fall der inzidenten Mitbetroffenheit eines rein nationalen Aspektes erfasst das Subsidiaritätsprinzip nicht. Auch in die Prüfung des Mehrwertkriteriums können spezifisch staatskirchenrechtliche Aspekte der Mitgliedsstaaten nicht mehr eingeführt werden, denn das Mehrwertkriterium bezieht sich ebenso wie das Effektivitätskriterium ausschließlich auf Ziele des EUV/EGV. Außerdem schließt es sich kausal an die Bejahung des Effektivitätskriteriums an („daher“). Es darf also nur geprüft werden, ob Ziele, die die Mitgliedsstaaten nicht ausreichend selbst erfüllen können, wegen dieses Versagens der Mitgliedsstaaten von der Union besser erbracht werden können. Die Prüfungsfrage stellt sich also gemäß Art. 5 II EGV nicht in der Form, ob die Aufgabe vom Mitgliedsstaat oder von der Union besser erbracht werden kann, sondern nur in der Form, ob wegen nicht ausreichender Erfüllung der Mitgliedsstaaten die Union besser erfüllen kann. Daher kann die stringente Antwort auf die Prüfung des Mehrwertkriteriums nicht lauten, dass der Mitgliedsstaat eine Aufgabe der konkurrierenden Zuständigkeit deshalb besser als die Union erfüllt, weil bei eigener Erfüllung der Aufgabe das nationale Staatskirchenrecht unangetastet bleibt6. Diese Erwägungen zeigen, dass unter dem Entscheidungs- und Zuweisungsraster des Art. 5 II EGV und SubsP EGV die Aspekte des nationalen Staatskirchenrechts keinen spezifischen und primären Platz finden. Dennoch kann es zu Schutzwirkungen des Subsidiaritätsgebotes zu Gunsten des nationalen Staatskirchenrechts kommen. Diese Schutzwirkung begünstigt das nationale Staatskirchenrecht aber nur inzidenter und quasi als Nebeneffekt. Sie stellt sich ein, wenn die Prüfung des Subsidiaritätsprinzips zu Gunsten einer nationalen Regelung ausfällt, die inzidenter auch Aspekte des Staatskirchenrechts in sich birgt7. So kann die Subsidiaritätsprüfung ergeben, dass Belange des Datenschutzrechtes auf nationaler Ebene ausreichend geregelt werden können. Davon könnten dann wiederum in diesem Zusammenhang befindliche Regelungen des Staatskirchenrechts Schutz erfahren. Diese Regelungen werden dann aber nicht geschützt, weil die Subsidiarität spezifisch zu Gunsten des nationalen Staatskirchenrechts gewirkt hat, sondern weil sie zu Gunsten des nationalen Datenschutzrechts gewirkt hat, das inzidenter Regelungen des Staatskirchenrechts enthält. Nur in diesem Rahmen des inzident-Schutzes entfaltet sich die Bestimmung des Nr. 7 S. 2 SubsP EGV, der gebietet, unter Einhaltung der ge6
Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 421; ders., ZEE 1999, S. 305. 7 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 421; ders., ZEE 1999, S. 305.
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H. Schutz durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip
meinschaftlichen Rechtsvorschriften bewährte nationale Regelungen sowie Struktur und Funktionsweise der Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten zu achten. Dieser Satz gebietet die Rücksichtnahme auf solche Regelungen, setzt aber voraus, dass die mitgliedsstaatlichen Regeln vom Raster der Subsidiaritätsprüfung erfasst werden. Daher ermöglicht er es nicht, staatskirchenrechtliche Regelungen über den Subsidiaritätsgedanken als spezifische Schutzobjekte der Subsidiarität aufzufassen, sondern ermöglicht deren Schutz nur im Rahmen der inzident-Wirkung. Es bleibt daher festzuhalten, dass die Subsidiaritätsprüfung des Art. 5 II EGV und des SubsP EGV das nationale Staatskirchenrecht als solches nicht schützt, da es nicht als Ziel des EUV/EGV im Prüfungsraster des Subsidiaritätsprinzips erscheint. Der mögliche inzident-Schutz ist gering, weil die faktische Wirksamkeit und Effektivität des Subsidiaritätsprinzips des Art. 5 II EGV gering ist8.
II. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des VVE Fraglich ist, ob die oben festgestellten Defizite des Subsidiaritätsprinzips unter dem VVE behoben oder verringert werden. Die Subsidiarität ist vom Verfassungskonvent überarbeitet und teilweise neu ausgestaltet worden9. Das Subsidiaritätsprinzip wird nun in Art. I-11 III VVE aufgeführt und im neu gefassten Subsidiaritätsprotokoll des VVE (SubsP VVE) ausgestaltet. Auch dieses Protokoll ist Teil des Primärrechts (Art. IV-6 VVE). Art. I-11 III VVE erwähnt nun die innerstaatlichen Ebenen und verweist ausdrücklich auf das SubsP VVE, dem gemäß das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden sei. Ferner erwähnt es die neue Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle der Subsidiarität. Das oben dargelegte strukturelle Problem beim Schutz des nationalen Staatskirchenrechts vor unionsrechtlichen Veränderungen verbleibt unter der Ausgestaltung der Subsidiarität im VVE unverändert bestehen. Der insoweit unveränderte Wortlaut des Art. I-11 III VVE sieht für die Subsidiaritätsprüfung weiterhin ein zweistufiges Verfahren vor, bestehend aus dem Effektivitätskriterium und dem Mehrwertkriterium. Beide fragen nach wie vor nach der Verwirklichung der Ziele des VVE (früher EUV/EGV), zu denen das Staatskirchenrecht selbstverständlich nicht zählt. Es bleibt daher dabei, dass das nationale Staatskirchenrecht wie oben dargestellt keinen spezifischen 8
Mückl, Religionsfreiheit, S. 24. Vgl. die Schlussfolgerungen der Arbeitsgruppe I des Verfassungskonventes „Subsidiaritätsprinzip“ vom 22.9.2002, VK, Dok.-Nr. CONV 286/02, http://www. europa.eu.int/futurum/documents/offtext/doc230902_en.pdf. 9
II. Religionsrecht unter dem Subsidiaritätsprinzip des VVE
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primären Platz im Aufgabenverteilungs- und Zuweisungsraster des Subsidiaritätsprinzips findet. Auch unter dem VVE leistet das Subsidiaritätsgebot nur inzidenter Schutz für nationale staatskirchenrechtliche Regeln, soweit sich diese nämlich in Vorschriften befinden, die spezifisch vom Subsidiaritätsgebot profitieren, weil sie Zielen der konkurrierenden Zuständigkeiten dienen und die Subsidiaritätsprüfung zu deren Gunsten ausgegangen ist. Der inzident-Schutz litt aber wie gezeigt unter dem EGV darunter, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht effektiv ausgestaltet war und in der Rechtspraxis kaum zu einer Beschränkung der Rechtssetzungstätigkeit der Unionsebene geführt hat. Dieses Problem war dem EU-Gipfel von Nizza im Dezember 2000 bewusst. Er verabschiedete eine Erklärung in der Schlussakte des Vertrages von Nizza, in der die Union aufgefordert wurde, Voraussetzungen für eine effektivere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips zu entwickeln10. Der Verfassungskonvent überarbeitete daraufhin den Vertragsartikel zur Subsidiarität wie auch das Subsidiaritätsprotokoll. Beide zusammen sollen nun als ein Frühwarnsystem fungieren, das den Mitgliedsstaaten vor Beginn des EU-Rechtssetzungsverfahrens eine Möglichkeit zur Stellungnahme bietet. Das neue Subsidiaritätsprotokoll des VVE stellt nun stärker auf förmliche Kontrollverfahren ab und weniger auf die inhaltliche Erläuterung des Subsidiaritätsprinzips. Daher fehlen nun die beschreibenden Ausführungen zum Inhalt der beiden Kriterien des Subsidiaritätsprinzips sowie die „Leitlinien“ zur Prüfung dieser Voraussetzungen (Nr. 5 SubsP EGV). Auch die Ausformulierung des Gebotes, bewährte nationale Regelungen soweit möglich zu achten (Nr. 7 S. 2 SubsP EGV) ist entfallen. Die Begründungspflichten der Kommission über die Notwendigkeit ihrer Initiative sind mit dem Verfahren des „Subsidiaritätsbogens“ formalisiert worden (Nr. 4 SubsP VVE). Die Anhörungs- und Konsultationsschritte des SubsP EGV sind ausdifferenziert worden. Dazu sollen die einzelstaatlichen Parlamente eingebunden werden (Art. I-11 III S. 3 VVE, Nr. 2,3 SubsP VVE); diese haben ein Stellungnahmerecht (Nr. 5 SubsP VVE). Die EU-Organe sind gehalten, diese Stellungnahmen zu berücksichtigen (Nr. 6 SubsP VVE). Durch ein Stimmenzählverfahren können die einzelstaatlichen Parlamente eine Überprüfung und weitere Begründung des Kommissionsvorschlages erzwingen (Nr. 6 II–IV SubsP VVE), wobei die Überprüfungspflicht der Kommission dann eintritt, wenn sie von den nationalen Parlamenten durch eine Stellungnahme aufgefordert wird, die von mindestens einem Drittel der Gesamtzahl der Stimmen unterstützt wird. Mit Blick auf staatskirchenrechtliche Regelungen bleibt die Effektivität dieses Verfahrens jedoch zweifelhaft. Gerade weil die staatskirchenrechtlichen Regelungen in den Mitgliedsstaaten der EU so unterschiedlich sind und sie von EU-Initiativen oft so 10
ABl. 2001 C 80, S. 70 ff.
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H. Schutz durch das unionsrechtliche Subsidiaritätsprinzip
unterschiedlich betroffen sind, dürfte es eine Ausnahme bilden, wenn ein Drittel der Gesamtzahl der Stimmen der mitgliedstaatlichen Parlamente zusammenkommt, um die Kommission zu zwingen, aus nationalen staatskirchenrechtlichen Erwägungen eine Rechtssetzungsinitiative zu überprüfen. Selbst die Staaten mit Staatskirche sind nicht zahlreich genug, um über dieses Verfahren eine Überprüfung eines Gesetzgebungsaktes zu erreichen, der die Staatskirchen (und damit meist die Parlamente in eigenen Rechten) betrifft. Wahrscheinlicher sind auch an dieser Stelle Fälle des „inzident-Schutzes“, wo religionsrechtliche Regeln davon profitieren, dass die Rechtssetzungsvorhaben aus anderen subsidiaritätsrelevanten Gründen abgelehnt werden. Selbst wenn in einem Falle eine Überprüfung erzwungen wird, so hat die Kommission die Wahl, an ihrem Vorschlag festzuhalten oder ihn nur teilweise abzuändern (Nr. 6 IV SubsP VVE). Immerhin sind nicht nur die Mitgliedsstaaten, sondern auch der Ausschuss der Regionen und (über die Mitgliedsstaaten) die einzelstaatlichen Parlamente gemäß Nr. 7 SubsP VVE mit einem Klagerecht vor dem EuGH ausgestattet worden, um Subsidiaritätsverletzungen zu rügen. Damit ist das Subsidiaritätsprinzip einer praktisch bedeutsamen Justitiabilität näher gekommen (auch unter dem EGV ist der EuGH für die Überprüfung von Art. 5 II EGV zuständig11), die sich aber in materieller Hinsicht erst noch bewähren muss.
III. Vergleich zwischen EUV/EGV und dem VVE Mit den neuen Regeln des VVE dürfte die Effektivität des Subsidiaritätsgebotes allgemein gesteigert worden sein. Der erwähnte inzident-Schutz nationaler staatskirchenrechtlicher Regeln dürfte davon in geeigneten Einzelfällen profitieren. Das strukturelle Problem, dass nationale staatskirchenrechtliche Regeln nicht vom Prüfungsschema des Subsidiaritätsprinzips erfasst werden, bleibt allerdings nach wie vor bestehen, da der VVE die strukturelle Funktionsweise der Subsidiarität nicht verändert. Bedenken mit Blick auf die neuen Subsidiaritätsregeln ergeben sich aus der Tatsache, dass das neue SubsP VVE stärker auf formalisierte Verfahrensregeln (Schutz durch Verfahren) setzt als auf die materielle Kommentierung und Ausgestaltung der Subsidiaritätsmerkmale. So entfällt der für den Schutz staatskirchenrechtlicher Regelungen fruchtbar zu machende Satz der Nr. 7 S. 2 SubsP EGV, nach dem bewährte nationale Regelungen sowie Struktur und Funktionsweise des Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten geachtet werden 11 Der EuGH hat aber seine Kontrolldichte des Subsidiaritätsprinzips und des Verhältnismäßigkeitsprinzips bislang auf eine Evidenzkontrolle beschränkt, vgl. EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 55 ff. (Vereinigtes Königreich ./. Rat), dazu Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 66; Streinz, in: Streinz, EUV/ EGV, Art. 5 EGV, Rn. 43.
III. Vergleich zwischen EUV/EGV und dem VVE
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sollen. Dessen Entfallen aus dem SubsP VVE darf allerdings nicht dahin gehend gedeutet werden, dass der Satz als Richtschnur nicht mehr gelten soll. Dies widerspräche dem erklärten Ziel der Schlussakte des Nizza-Vertrages wie auch dem des Verfassungskonventes, das Prinzip der Subsidiarität zu stärken und als Aufgabenzuweisungsprinzip operabel zu machen. Das Schutzgebot zu Gunsten der bewährten nationalen Regelungen ist nach wie vor zentraler Bestandteil des unionsrechtlichen Subsidiaritätsgedankens und kommt, wo möglich, den staatskirchenrechtlichen Regelungen zu Gute. Insgesamt ist ein nur eingeschränkter Zuwachs an Schutz für nationale staatskirchenrechtliche Normen durch die Neugestaltung des Subsidiaritätsprinzips zu erwarten, da zwar bei der allgemeinen Effektivität Verbesserungen zu erwarten sind, doch das strukturelle Problem bestehen bleibt.
I. Schutz der Religionsgemeinschaften durch den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz In engem Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip kommt das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip zum Tragen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist wie die Subsidiarität ein Grundpfeiler des Gemeinschaftsrechts und von grundlegender Bedeutung für das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedsstaaten. Der EuGH hat ihn bereits entwickelt und als gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz anerkannt1, bevor er explizit in das Primärrecht aufgenommen worden ist. Geregelt ist er seit dem Vertrag von Amsterdam in Art. 5 III EGV und dem bereits erwähnten Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (SubsP EGV)2. Der VVE enthält das kompetentielle Verhältnismäßigkeitsprinzip im Grundsätzeartikel I-11 I, IV VVE sowie im überarbeiteten Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit (SubsP VVE). In der folgenden Untersuchung wird – wie oben für das Subsidiaritätsprinzip – ermittelt, welche Bedeutung der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Ausprägung, die er im EGV gefunden hat, für die religionsrechtlichen Regelungen der EU hat, und wie er dementsprechend eine Schutzwirkung für nationale staatskirchenrechtliche Regelungen entfaltet. In einem zweiten Schritt wird untersucht, ob und wie sich die Verhältnismäßigkeit unter dem VVE ändert und ob Auswirkungen auf das Religionsrecht zu erwarten sind. Gefragt wird, ob etwaige Schutzdefizite durch die im VVE geplanten Veränderungen behoben oder verringert werden können.
1 Erstmals EuGH, Rs. 8/55, Slg. 1956, S. 302, 311 (Fédération charbonnière de Belgique ./. Hohe Behörde). 2 Vgl. oben Kap. H.I.1.
I. Religionsrecht unter dem Grundsatz des EGV
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I. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz des EGV 1. Die Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips und seine Wirksamkeit Der EGV regelt den kompetentiellen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Art. 5 III EGV und dem zugehörigen SubsP EGV, das gemäß Art. 311 EGV Bestandteil des Primärrechts ist. Die in diesen Vorschriften enthaltene kompetentielle Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgebotes betrifft das Verhältnis der Union zu den Mitgliedsstaaten3. Es entfaltet eine Schutzwirkung zu Gunsten der Mitgliedsstaaten4, indem es einen Maßstab für die Regelungsintensität der Gemeinschaftsmaßnahme bietet. Wie das Subsidiaritätsprinzip stellt das Verhältnismäßigkeitsprinzip eine Kompetenzausübungsschranke der Union gegenüber den Mitgliedstaaten dar. Beide Prinzipien sind mit einander verknüpft: das Subsidiaritätsprinzip regelt, ob die Gemeinschaft handeln soll; wenn dies bejaht wird, regelt das Verhältnismäßigkeitsprinzip, in welcher Art und in welchem Umfange das Handeln der Gemeinschaft stattfinden soll5. Daher erfolgt die Prüfung des Subsidiaritätsprinzips denklogisch in einem ersten Schritt, dem bejahenden Falls die Prüfung der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit folgt6. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt für jegliches Handeln der EU einschließlich der Bereiche, in denen sie über eine ausschließliche Kompetenz verfügt. Insoweit unterscheidet es sich vom Subsidiaritätsgrundsatz, den Art. 5 II EGV logisch notwendigerweise von den ausschließlichen Kompetenzen ausschließt. Art. 5 III EGV gestaltet das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Erforderlichkeitsprüfung aus: die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das Maß hinaus, das erforderlich ist, um die Ziele des Vertrags zu erreichen. Darin liegt die kompetenzbegrenzende Wirkung: eine vorhandene Kompetenz darf nur insoweit ausgeübt werden, wie es die Ziele der EU erfordern. 3 Das unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsprinzip erscheint in zwei Ausprägungen: als grundrechtliches Prinzip (als das es grundrechtsberechtigte Personen schützt) und als kompetentielles Prinzip. In der zweiten Ausprägung ist im vorliegenden Kontext von Interesse. 4 EuGH, verb. Rs. C-36/97 und C-37/97, Slg. 1998, I-6337, Rn. 33 ff. (Kellinghusen). 5 Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 45; Streinz, in: Streinz, EUV/ EGV, Art. 5 EGV, Rn. 45. 6 EuGH, Rs. C-84/94, Schlussanträge des GA Léger, Slg. 1996, I-5755, S. 5783, Rn. 126 (Vereinigtes Königreich ./. Rat).
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I. Schutz durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Das SubsP EGV7 gestaltet neben der Subsidiarität auch die Anwendung der Verhältnismäßigkeit aus. Gemäß Nr. 1 S. 2 SubsP EGV gewährleistet jedes Organ die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Das SubsP EGV sieht formelle und materielle Maßnahmen vor, um die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgebotes zu sichern. Nr. 4 SubsP EGV enthält eine Begründungspflicht für alle Vorschläge gemeinschaftlicher Rechtsvorschriften auch mit Blick auf die Verhältnismäßigkeit. In Nr. 9 1. Spiegelstrich sind umfassende Anhörungen der Mitgliedsstaaten vor der Unterbreitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften vorgesehen wie auch die Veröffentlichung von Konsultationsunterlagen. Die Kommission wird verpflichtet, einen jährlichen Bericht über die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit dem Rat und dem Europäischen Parlament vorzulegen (Nr. 9 4. Spiegelstrich, Nr. 10, 11). Materielle Vorgaben zur Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsgebotes enthält Nr. 7 SubsP EGV. Die „soll“-Vorschrift sieht vor, dass bei Maßnahmen der Gemeinschaft so viel Raum für nationale Entscheidungen bleibt wie bei der Erreichung der Vertragsziele möglich ist. Bei Maßnahmen der Gemeinschaft „sollten“ bewährte nationale Regelungen sowie die Struktur und Funktionsweise der Rechtssysteme der Mitgliedsstaaten geachtet werden. In den Gemeinschaftsmaßnahmen „sollten“ den Mitgliedsstaaten Alternativen zur Erreichung der Ziele der Maßnahmen angeboten werden. Die „sollte“-Regelungen indizieren diese Vorgaben für den Regelfall, von dem nur im Wege der Ausnahme bei begründetem Bedarf abgewichen werden darf. 2. Die Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsprinzips für das Religionsrecht Da die EU keine spezifische Kompetenz für die Schaffung von Religionsrecht hat, kommt das Verhältnismäßigkeitsgebot dort zum Tragen, wo anlässlich der Regelung anderer Materien religionsrechtliche Regelungen geschaffen oder verändert werden. Hier ist einmal der Fall denkbar, dass der europäische Gesetzgeber Regelungen mit religionsrechtlichem Bezug schafft; für diesen Fall gibt es inzwischen viele Beispiele, wie die Auswertung der EU-Rechtsmaterie zeigt8; genannt sei hier beispielsweise die Richtlinie über die Arbeitszeitgestaltung mit der Sondervorschrift für Arbeitnehmer im liturgischen Bereich von Religionsgemeinschaften9. Der 7
Vgl. oben Kap. H.I.1. s. o. Kap. B.III. 9 Art. 17 Richtlinie 1993/104/EG vom 23.11.1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung, ABl. 1993 L 307, S. 18 ff. 8
I. Religionsrecht unter dem Grundsatz des EGV
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zweite Fall besteht darin, dass Regelungsvorgaben der EU, die auf EURechtsebene zunächst keinen religionsrechtlichen Gehalt aufweisen, auf der mitgliedsstaatlichen Ebene zu Änderungen des nationalen Staatskirchenrechts zwingen. Arbeitsrechtliche Vorgaben und Anti-Diskriminierungsgesetzgebung der EU können Auswirkungen auf nationale Sonderregelungen für kirchliche Arbeitgeber haben, z. B. im Bereiche der Arbeitnehmermitbestimmung. Oftmals sind beide Konstellationen mit einander verbunden. Hier sind viele Konstellationen denkbar; ein Beispiel ist die Datenschutzrichtlinie in ihrer ursprünglichen Entwurfsform10, die zu einer Änderung des deutschen staatlichen Kirchensteuereinzugssystems hätte führen können. In diesen Fällen kann das kompetentielle Verhältnismäßigkeitsgebot seinen Schutz entfalten. Bei religionsrechtlich relevanten Maßnahmenvorhaben verlangt es vom Gemeinschaftsorgan eine Prüfung der Erforderlichkeit und der Angemessenheit. In der Ausgestaltung als Erforderlichkeitsgebot (Art. 5 III EGV) gebietet es dem europäischen Gesetzgeber die Prüfung, ob und inwieweit europarechtliche religionsrechtliche Regelungen erforderlich sind, um die Ziele des Vertrages zu erreichen (die erste der soeben erwähnten Konstellationen), wie auch die Prüfung, ob und inwieweit europarechtliche Regelungen (nicht-religionsrechtlicher Art) erforderlich sind, wenn sie Auswirkungen auf nationale religionsrechtliche Vorgaben zeitigen (die zweite der soeben erwähnten Konstellationen). In gemeinschaftsrechtlichen Maßnahmen lässt das Verhältnismäßigkeitsprinzip religionsrechtliche Regelungen – vor dem Hintergrund des Fehlens einer religionsrechtlichen Kompetenz – nur zu, wenn sie für die Erreichung der gemeinschaftsrechtlichen Ziele erforderlich sind. Dies ist beispielweise der Fall, wenn das Ziel der Bekämpfung unzulässiger Diskriminierung in der Arbeitswelt angestrebt wird und daher die Religion als unzulässiges Differenzierungskriterium aufgeführt wird11. Ebenso dürfen die Maßnahmen nicht in Regelungsintensität und -umfang über das zur Zielerreichung erforderliche Maß hinausgehen. Gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen, die die Religionsausübung ermöglichen, erleichtern oder fördern wollen – hierunter fallen z. B. zahlreiche Ausnahmeregelungen in Sekundärrechtsakten, die Nichtdiskriminierungsklausel in Art. 27 des Beamtenstatuts der EG12, die grundrechtliche Gewährleistung der Religions10
Art. 8 Richtlinie 1995/46/EG vom 24.10.1995 zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. 1995 L 281, S. 31 ff. 11 Art. 13 EGV; Richtlinie 2000/78/EG vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 L 303, S. 16 ff.; vgl. unten Kap. K.I.
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I. Schutz durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
freiheit –, ohne in die religionsrechtlichen Systeme der Mitgliedsstaaten einzugreifen, sind unter dem Gesichtspunkt der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit unproblematisch13. Gemeinschaftsrechtliche religionsrechtliche Regelungen und gemeinschaftsrechtliche Regelungen nicht religionsrechtlicher Art, die sich auf nationale religionsrechtliche Regelungen auswirken, dürfen nur soweit in mitgliedsstaatliche religionsrechtliche Regelungen einwirken, wie es für die Erreichung der Ziele der Union erforderlich ist. Erforderlich sind solche Regelungen nur, wenn kein milderes, gleich effektives Mittel zur Verfügung steht, um die Ziele der Union zu erreichen. Maßnahmen sind immer dann milder, aber gleich effektiv, wenn sie die Ziele der Union in gleichem Maße erreichen, ohne in das nationale Religionsrecht einzuwirken. Stehen nationale religionsrechtliche Regelungen den gemeinschaftsrechtlichen Zielen entgegen, ist ein verändernder Eingriff nur insoweit zulässig, wie er unumgänglich ist, um die Behinderung zu beseitigen, denn nur insoweit gebietet und legitimiert ihn die Erforderlichkeit. Ist ein verändernder Eingriff in das nationale religionsrechtliche System zur Gemeinschaftszielerreichung erforderlich, so gebietet Nr. 7 S. 3 SubsP EGV, dass das Gemeinschaftsorgan dem Mitgliedsstaat Alternativen einräumt, aus denen er diejenige wählen kann, die er für die seinen Verhältnissen angemessenste hält. Durch diese Technik des Arbeitens mit Alternativen erlaubt das Verhältnismäßigkeitsgebot auch, gemeinschaftsrechtliche Ziele mit Maßnahmen anzustreben, die mitgliedsstaatspezifische Rücksicht auf nationale Besonderheiten nehmen können. Ein Gemeinschaftsziel, das Auswirkungen auf nationale staatskirchenrechtliche Systeme nach sich zieht, könnte somit unter Beachtung des kompetentiellen Verhältnismäßigkeitsgebotes erreicht werden, indem die gemeinschaftliche Maßnahme differenzierte Alternativen anbietet, die etwa jeweils den Bedürfnissen eines Trennungssystems und eines Kooperationssystems entgegen kommt. An die Feststellung der Erforderlichkeit eines Eingriffs schließt sich die Angemessenheitsprüfung an. Diese ergibt sich, auch wenn die Verhältnis12 Art. 27 II Verordnung Nr. 31 (EWG)/Nr. 11 (EAG) über das Statut der Beamten und über die Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der EWG und der EAG, ABl. 1962 B 045, S. 1385 ff.; Verordnung Nr. 723/2004 (EG/ EURATOM) zur Änderung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften hinsichtlich der Gleichbehandlung, ABl. 2004 L 124, S. 1 ff. 13 Die Doppelwirkung solcher Regelungen auf unterschiedliche Betroffene, z. B. die Begünstigung eines Arbeitnehmers durch das Verbot der religiösen Diskriminierung in der Arbeitswelt, die aber gleichzeitig ein Eingriff in die Rechte religionsgebundener Arbeitgeber sein kann, ist eine Frage der grundrechtlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung, die hier außer Acht bleibt.
I. Religionsrecht unter dem Grundsatz des EGV
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mäßigkeit des Art. 5 III EGV schwerpunktmäßig als Erforderlichkeitsprüfung ausgestaltet ist, aus Nr. 7 S. 2 SubsP EGV, der die Achtung der bewährten nationalen Regelungen gebietet. Das Tatbestandsmerkmal des Achtens verlangt, dass den widerstreitenden Gütern der ihnen zukommende Platz in einer Abwägung zugemessen wird14; daher enthält es das Element der Angemessenheit und gebietet dessen Berücksichtigung in der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung muss der EU-Gesetzgeber fragen, ob nicht ein Missverhältnis besteht zwischen gemeinschaftlicher Zielerreichung und sich abzeichnender Eingriffswirkung in bewährte religionsrechtliche Regelungen des Mitgliedstaates, und ob nicht für diesen Fall ein Minus an Gemeinschaftszielerreichung hingenommen werden muss angesichts einer drohenden übermäßigen Eingriffswirkung in das nationale Religionsrecht. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip weist wirkliches Potential auf, Einfluss auf die Gestaltung des Religionsrechts auszuüben und mitgliedsstaatliche Regelungen des Religionsrechts zu schützen. Von der Struktur und Wirkweise ist es darauf ausgelegt, Rechtsgüter zu schützen, die gerade nicht das primäre spezifische Ziel einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung sind, sondern im Kontext der gemeinschaftlichen Maßnahme mitbetroffen sind. Dies trifft typischerweise für religionsrechtliche Fragen zu, die in anderem thematischen Kontext inzidenter mitgeregelt werden. Das Schutzpotential des kompetentiellen Verhältnismäßigkeitsgebotes für das nationale Religionsrecht ist daher größer als das des Subsidiaritätsprinzips, da dieses kategorisch nach der geeigneten Handlungsebene für das beabsichtigte Primärziel einer Maßnahme fragt und über diese Herangehensweise das Religionsrecht als inzidenter betroffene Materie nur schwer erfassen kann. Dem Verhältnismäßigkeitsgebot gelingt es strukturell, einen Ausgleich zu schaffen zwischen zwei Regelungsmaterien, von denen die eine primärer Gegenstand einer beabsichtigten Regelung ist und der andere notwendig mitgeregeltes oder nur gelegentlich mitbetroffenes Objekt. Strukturell ist das Verhältnismäßigkeitsgebot daher ein Prinzip des Europarechts, das dem mitgliedsstaatlichen Religionsrecht Schutz bieten kann. Fraglich ist, ob die Verhältnismäßigkeit einen effektiven Schutz bietet und einer effektiven Kontrolle unterliegt15. Der EuGH hat die Justitiabilität des kompetentiellen Verhältnismäßigkeitsgebotes in drei Entscheidungen anerkannt16. Allerdings beschränkt er sich dabei inhaltlich auf die Prüfung, ob ein offensichtlicher Verstoß gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot vor14
s. o. Kap. D.II.1.d). Zweifelnd Vachek, S. 270. 16 EuGH, verbundene Rs. C-36/97 und C-37/97, Slg. 1998, I-6337, Rn. 33 ff. (Kellinghusen); EuGH, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405 ff. (Deutschland ./. Euro15
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I. Schutz durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
liege (Evidenzkontrolle). Diesen zurückhaltenden Prüfmaßstab rechtfertigt er mit dem Hinweis, er habe in diesen Fällen über komplexe wirtschaftliche oder sozialpolitische Fragen zu entscheiden, deren Beantwortung in erster Linie der Politik zuzuweisen sei17. In der Literatur wird bezweifelt und abgelehnt, dass die bloße Evidenzkontrolle ein verallgemeinerungsfähiger und allgemein gültiger Prüfungsmaßstab für das Verhältnismäßigkeitsprinzip sein soll18. Daher ist denkbar und zu befürworten, dass in einfacher gelagerten Fällen, in denen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit nicht durch die wirtschaftliche Komplexität des Falles oder die sozialpolitische Prärogative der Politik überlagert wird, der EuGH eine höhere Kontrolldichte wählen wird. Die Rechtssicherheit des nationalen Religionsrechts würde davon profitieren.
II. Europäisches und mitgliedsstaatliches Religionsrecht unter dem Verhältnismäßigkeitsprinzip des VVE Der VVE regelt das Verhältnismäßigkeitsprinzip in Art. I-11 I, IV VVE und dem SubsP VVE. Strukturell ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip vom Verfassungskonvent nicht verändert worden, so dass die Ausführungen oben zum strukturellen Schutzpotential des Prinzips zu Gunsten des nationalen Religionsrechts vollumfänglich gelten. Der Verfassungskonvent hat das SubsP EGV überarbeitet19 und dabei die formellen Kontrollmechanismen erweitert. An der Kontrolle des Verhältnismäßigkeitsprinzips sind nun nicht nur die Organe der Gemeinschaft beteiligt, sondern auch die nationalen Parlamente (Nr. 4 SubsP VVE). Der Kommission obliegt eine Begründungspflicht im Rahmen des „Subsidiaritätsbogens“; dieser hat detaillierte Angaben zu enthalten, die die Beurteilung ermöglichen, ob die Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden. Allerdings lässt das SubsP VVE unklar, ob die nationalen Parlamente neben der Subsidiarität auch die kompetentielle Verhältnismäßigkeit überprüfen dürfen und ein Stellungnahmerecht haben (Nr. 5 SubsP VVE), und ob das Verfahren zur Erzwingung einer Überprüfung durch die Kommission auch für die Verhältnismäßigkeit gelten soll (Nr. 6 SubsP VVE). Fraglich ist dies, weil der Wortlaut des SubsP VVE häufig ausdrücklich von den „Grundsätzen päisches Parlament und Rat; „Einlagensicherungssysteme“); EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755 ff. (Vereinigtes Königreich ./. Rat). 17 EuGH, Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-2405 ff., Rn. 56 (Deutschland ./. Europäisches Parlament und Rat; „Einlagensicherungssysteme“); EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755, Rn. 57 f. (Vereinigtes Königreich ./. Rat). 18 Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 66; Streinz, in: Streinz, EUV/ EGV, Art. 5 EGV, Rn. 52 f. 19 Zum überarbeiteten SubsP VVE vgl. oben Kap. H.II.
II. Religionsrecht unter dem Prinzip des VVE
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der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ spricht, in den soeben genannten Nummern jedoch immer nur vom Subsidiaritätsprinzip. Legt man dies so aus, als gälte die Einbindung der nationalen Parlamente nur für den Grundsatz der Subsidiarität, so wäre das Gebot der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit vom SubsP VVE in geringerem Maße durch formelle Verfahren geschützt als das Gebot der Subsidiarität. Dies wäre nachteilig für das Religionsrecht, da dieses vom Verhältnismäßigkeitsprinzip stärker profitiert als vom Subsidiaritätsprinzip. Allerdings kann das SubsP VVE auch so verstanden werden, dass beide Prinzipien in gleichem Umfange durch dieselben Verfahren geschützt seien. In den Nummern, die das formelle Verfahren betreffen, spricht das SubsP VVE nämlich nicht nur vom „Grundsatz der Subsidiarität“, sondern verkürzt vom „Subsidiaritätsprinzip“. Dies mag als Oberbegriff für die sonst umständlich hinter einander aufgeführten „Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“ zu verstehen sein. Es ist auch inhaltlich nicht ersichtlich, wieso die Rolle der nationalen Parlamente bei der Kontrolle der Subsidiarität größer sein soll als bei der Kontrolle der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit, da die Betroffenheit und das berechtigte Kontrollinteresse der nationalen Parlamente in beiden Fällen gleich hoch sind. Die formelle Überprüfbarkeit ist ebenfalls gegeben; der EuGH hat die Überprüfbarkeit wie erwähnt bejaht und die Überprüfung vorgenommen. Auch sonst behandelt der VVE beide Grundsätze als in einander greifend. Ein Grund für eine plötzliche verfahrensmäßige Auftrennung ist daher nicht ersichtlich. Deshalb ist davon auszugehen, dass das Kontrollverfahren der nationalen Parlamente auch für das Verhältnismäßigkeitsgebot greift. Bezüglich der Effektivität stellen sich dann jedoch dieselben Fragen wie beim Subsidiaritätsgebot20. Dass beim Verdacht eines Verstoßes gegen das kompetentielle Verhältnismäßigkeitsgebot ein nationales Parlament im Rahmen seines Stellungnahmerechts auf den ungerechtfertigten Eingriff in das nationale Religionsrecht hinweist (Nr. 5 SubsP VVE), ist durchaus denkbar. Unwahrscheinlich ist dagegen, dass im Bereich des Religionsrechts das Verfahren zur Erzwingung einer Überprüfung der Maßnahme (Nr. 6 SubsP VVE) erfolgreich greift, da die jeweiligen nationalen Betroffenheiten mit Blick auf die unterschiedlichen Staatskirchenrechte oftmals verschieden sein dürften, so dass nicht die erforderliche Anzahl an Stimmen für die Überprüfung zu Stande kommen dürfte. In materieller Hinsicht enthält das SubsP VVE nicht mehr die Vorgaben der Nr. 7 SubsP EGV mit der Mahnung, bewährte nationale Regelungen zu achten und den Mitgliedsstaaten Alternativen zur Erreichung der Gemeinschaftsziele anzubieten. Eine materielle Einschränkung des Verhältnismäßigkeitsgebotes kann damit aber nicht bezweckt sein. Dies widerspräche, 20
s. o. Kap. H.II.
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I. Schutz durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
wie bereits dargelegt, dem erklärten Ziel der Schlussakte des Nizza-Vertrages wie auch dem des Verfassungskonventes, die Prinzipien der Subsidiarität und der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit zu stärken und als Kompetenzausübungsprinzipien operabel zu machen. Das Entfallen dieser Vorgaben der Nr. 7 SubsP EGV dürfte darauf zurückzuführen sein, dass das SubsP VVE stärker auf die Ausgestaltung formeller Verfahren setzt, während die materiellen Inhalte direkt dem Art. I-11 I, IV VVE zu entnehmen sind und der entsprechenden EuGH-Rechtssprechung zur Ausgestaltung überlassen werden. Unter dem VVE ist Art. I-52 I, II VVE eine lex specialis für den Bereich des Status der Religionsgemeinschaften nach nationalem Staatskirchenrecht. Soweit Religionsgemeinschaften durch Art. I-52 I, II VVE geschützt werden, verdrängt diese Norm die Anwendung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsprinzips aus Art. I-11 VVE.
III. Vergleich zwischen EUV/EGV und dem VVE Das Prinzip der kompetentiellen Verhältnismäßigkeit ist unter dem EGV von der Struktur her geeignet, dem nationalen Religionsrecht Schutz vor europarechtlichen Eingriffen zu gewährleisten. Ein struktureller Verbesserungsbedarf ist im Rahmen dieses Prinzips nicht zu erkennen. Die Struktur wird beim Übergang vom EGV zum VVE nicht verändert. Mit Blick auf die Effektivität des Prinzips fallen Defizite unter dem EGV und der entsprechenden EuGH-Rechtssprechung auf. Das SubsP VVE behebt diese Defizite insoweit, als dass die nationalen Parlamente an der Kontrolle der Einhaltung des Prinzips beteiligt werden. Somit sind nicht nur Organe der EU mit der Kontrolle beauftragt, zu deren Lasten die Kontrolle ginge und deren Kontrollinteresse daher gering sein kann, sondern auch Organe der Mitgliedsstaaten, die ein Interesse an der Achtung ihrer Kompetenzsphären haben. Die Effektivität des Verhältnismäßigkeitsgebotes dürfte daher insoweit durch das SubsP VVE generell verbessert werden.
J. Religion unter dem Kulturrecht des EGV und des VVE Die EU hat als Wertegemeinschaft seit dem Vertrag von Maastricht zum Ziele, einen Beitrag zur Entfaltung des Kulturlebens in den Mitgliedstaaten (Art. 3 I lit. q EGV) zu leisten. Zur Erreichung dieses Zieles enthält der EGV einen Titel „Kultur“ mit dem einzigen Art. 151 EGV. Der VVE führt in Art. I-3 III S. 5 VVE den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas als Ziel auf. Art. III-280 VVE enthält die dem entsprechende operative Bestimmung. Fraglich ist, welche Bedeutung die Vorschriften zur Kultur für den Bereich der Religion und des Religionsrechtes haben und ob sie sich von EGV zu VVE unterscheiden.
I. Religion unter dem Kulturrecht des EGV Art. 3 I lit. q und Art. 151 EGV bestimmen die Rolle, die die EU im Bereich der Kultur spielen soll; Art. 151 EGV ist die operative Norm zur Zielbestimmung des Art. 3 I lit. q EGV. Religion wird in diesen „Kulturbestimmungen“ nicht ausdrücklich erwähnt. Ob die Vertragsnormen zur Kultur für Religion und Religionsrecht bedeutsam sind, hängt davon ab, ob Religion und Religionsrecht unter den europarechtlichen Begriff der Kultur fallen. Kultur und kulturelles Erbe werden im EGV nicht legaldefiniert. Eine abschließende Definition von Kultur ist für die vorliegenden Zwecke auch nicht erforderlich; hier genügt es, den Kulturbegriff des Art. 151 EGV zu erfassen. Art. 151 EGV spricht im Plural von den Kulturen der Mitgliedstaaten und dem gemeinsamen kulturellen Erbe. Daraus wird deutlich, dass die EU die Kulturen der Mitgliedsstaaten als Anknüpfungspunkt begreift. Sie sind zu respektieren; sie werden nicht ersetzt, sondern so wie sie sind unterstützt. Art. 151 EGV stellt demnach kein Vereinheitlichungsprogramm, sondern Teil des Vielfaltswahrungsprogramms des EGV dar. Wie die Unterstützung gestaltet wird, geht aus Art. 151 III EGV näher hervor. Die Spiegelstriche enthalten Maßnahmen, mit denen die EU ihren Beitrag leisten kann. Diese zielen auf kulturellen Austausch, kulturelle Förderung und auf Erhaltung von Kunstwerken (2. Spiegelstrich). Dieser Punkt ist mit Blick auf Religionsbezug durch die in der obigen Bestandsaufnahme1 ent1
s. o. Kap. B.III.
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J. Kulturrecht des EGV und des VVE
haltenen sekundärrechtlichen Vorschriften der Verordnung Nr. 3911/92 (EWG) vom 9. Dezember 1992 über die Ausfuhr von Kulturgütern2 und Richtlinie 1993/7/EWG über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates verbrachten Kulturgütern3 umgesetzt. Zu untersuchen ist, ob Art. 151 EGV eine gemeinschaftsrechtliche Regelung der Religion als solcher ist und ob die EU damit eine primäre spezifische (Teil-)Kompetenz für die Regelung von Religion hat (nämlich für den kulturell ausgestalteten Bereich der Religion), oder ob gemeinschaftsrechtlich die Begriffe der Kultur und der Religion in einem aliud-Verhältnis stehen4. Die Literatur geht davon aus, dass der Begriff Kultur im EGV in zwei Facetten verwendet wird: in der Präambel des EGV habe Kultur eine weite Bedeutung und erfasse das „Kulturverfassungsrecht“ der Mitgliedsstaaten; in Art. 151 EGV sei er dagegen aus dem Wortlaut der Norm heraus eng auszulegen und erfasse etwa Denkmalschutz, Literatur, Architektur etc5. Der Kulturbegriff des Art. 151 EGV lasse sich auf typische Kulturformen beschränken, die sich maßgeblich im Begriff der „Kunst“ verdichten lassen6. Sicher ist, dass das Europarecht keinen umfassenden abschließenden Begriff der Kultur kennt. Kultur und Religion betreffen häufig ein und denselben Gegenstand, d.h. ein und derselbe Gegenstand weist sowohl religiöse wie auch kulturelle Aspekte auf. Dies ist sogar der Regelfall, da die Kultur stark von der Religion geprägt und die Religion ein kulturbedingtes Phänomen ist. Doch Regelungen, die die kulturellen Aspekte eines Gegenstandes betreffen, sind nicht schon deswegen auch religionsrechtliche Bestimmungen. Sie sind solange rein kulturrechtlich, wie sie einen Gegenstand eben nur als Zeugnis der Kultur (auch als Kulturprodukt einer Religion) betrachten (kulturelle Dimension des Gegenstandes). Religiöser Charakter entsteht in diesem Zusammenhang erst, wenn der Gegenstand von einem Individuum oder einer Personenmehrheit mit religiöser, theologischer Bedeutung versehen wird, die nicht nur intellektuell, sondern aus einem religiösen Glauben heraus hergeleitet wird (religiöse Dimension des Gegenstandes). Ein kunstvolles liturgisches Gerät kann demnach sowohl religiöse als auch kulturelle Aspekte in sich vereinen. Zum Objekt des Religionsrechts wird es dadurch, dass es als Instrument einer als religiös-theologisch bedeutungsvollen Handlung erkannt wird. Solange es nur materiell-intellektuell als Ausdruck einer 2
ABl. 1992 L 395, S. 1 ff. ABl. 1993 L 074, S. 74 ff. 4 So Vachek, S. 252. 5 Robbers, EssGespr. 27 (1992), S. 96 ; Robbers, HdbStKirchR, Bd. I, 2. Aufl., S. 326 ff. 6 Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaften, S. 383. 3
I. Religion unter dem Kulturrecht des EGV
343
künstlerischen Betätigung oder als Zweckgegenstand einer (fremden) Religion gesehen wird, ist es als solches ein Objekt des Kulturrechts. Art. 151 EGV, der an der Kultur und nicht an der Religion anknüpft, erfasst somit nur diese kulturelle Dimension eines Gegenstandes, nicht die religiöse Dimension. Soweit sich in diesem Zusammenhang genuin religiöse Aspekte ergeben, kommt es auf die Einschlägigkeit der anderen religionsrechtlichen Normen des Unionsrechts an. Diese Unterscheidung trifft auf alle Spiegelstriche des Art. 151 II EGV zu. Unter den ersten Spiegelstrich (Verbesserung der Kenntnis und Verbreitung der Kultur und Geschichte der europäischen Völker) fällt z. B. die Unterweisung in der Religionsgeschichte sowie in der Religionssoziologie Europas als Kulturphänomen. Nicht erfasst ist jedoch der Religionsunterricht als verbindliche Lehre über die Glaubenssätze einer Religion. Art. 151 II EGV enthält damit keine religionsrechtliche Regelung über den Religionsunterricht in Europa. Gleiches gilt für den dritten und vierten Spiegelstrich (Kulturaustausch, künstlerisches und literarisches Schaffen). Dies betrifft auch religiös motivierte und inspirierte Kunstwerke (z. B. Kirchenfenster) und Texte, jedoch nur in ihrer kulturellen Dimension, nicht das Kunstschaffen als Betätigung und Äußerung einer persönlichen Religionsüberzeugung. In besonderer Weise steht der zweite Spiegelstrich im Schnittpunkt der Dimensionen Kultur und Religion, da er Schutz und Erhaltung des kulturellen Erbes von europäischer Bedeutung erfasst. Hierunter fallen bauliche religiöse Kunstwerke (z. B. Kirchen, Synagogen, Moscheen) und viele andere Kunstwerke, aber nicht in ihrer religiösen Dimension und damit nicht als Gegenstand des Religionsrechts. Soweit Akte des Sekundärrechts den europäischen Umgang mit religiös relevanten Kulturgütern betreffen, werden diese Kulturgüter in ihrer kulturellen Dimension, nicht in ihrer religiösen Dimension erfasst. Da die Religionsgemeinschaften hier aus kulturrechtlicher Perspektive betroffen sind, handelt es sich nicht um eine Ausübung einer primären spezifischen religionsrechtlichen Kompetenz (die wegen der Unterscheidung von Kultur und Religion eben nicht aus Art. 151 EGV herzuleiten ist), sondern um eine inzidente Betroffenheit der Religionsgemeinschaften ähnlich der Situation in wirtschaftsrechtlichen Angelegenheiten. Ferner stellt sich die Frage, ob das deutsche Religionsrecht als Teil der Kultur im Sinne des Art. 151 EGV gilt. Dies ist in der deutschen Literatur umstritten7. Nach dem oben Gesagten lässt sich der Kulturbegriff des Art. 151 EGV aus der Konkretisierung in den Spiegelstrichen des Art. 151 7 Bejahend Streinz, EssGespr 31 (1997), S. 73; ablehnend Vachek, S. 252; Robbers, EssGespr 27 (1992), S. 96.
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J. Kulturrecht des EGV und des VVE
II EGV verdeutlichen8. Keine dieser Regelungen ist jedoch so gefasst, dass Vorschriften des nationalen Rechts darunter subsumierbar sind. Das deutsche Staatskirchenrecht ist weder kulturelles Erbe von europäischer Bedeutung (2. Spiegelstrich; zumindest die Schwelle der europäischen Bedeutung, die die europarechtliche Kompetenz des Art. 151 EGV rechtfertigt, fehlt angesichts der nationalen Begrenzung des deutschen Staatskirchenrechts), noch fällt es in den Bereich des Kulturaustausches oder künstlerisch-literarischen Schaffens (3. und 4. Spiegelstrich). Der nach deutschem Staatskirchenrecht erteilte Religionsunterricht in staatlichen Schulen mag zwar auch die Kenntnis und Verbreitung der (religiösen) Kultur und Geschichte der europäischen Völker fördern (1. Spiegelstrich), aber sein primäres Ziel ist nicht diese kulturelle Dimension, sondern die religiöse Unterweisung. Da aber Art. 151 EGV nur die kulturelle Dimension betrifft, erfasst er vom Regelungszweck her nicht die religiöse Dimension in den Regelungen zum Religionsunterricht im deutschen Staatskirchenrecht. Die EU erlangt daher keinen Einfluss auf den religiös motivierten Religionsunterricht. Anderes gilt für Unterricht, der auf die Vermittlung kultureller Inhalte zielt und auch im Rahmen des Religionsunterrichts angesiedelt sein kann. Hier kann Art. 151 EGV als Grundlage für fördernde Maßnahmen genutzt werden. Art. 151 EGV betrifft somit nicht das deutsche Staatskirchenrecht als Ganzes als nationale Kultur. Soweit es Ausdruck einer nationalen Besonderheit ist, ist vielmehr auf den Schutz der nationalen Identität (Art. 6 III EUV; Art. I-5 VVE) zu verweisen. Winter betont, dass das Verhältnis eines Staates zur Religion und zu den Religionsgemeinschaften eine prägnant kulturverfassungsrechtliche Materie sei9. Gerade die Idee des Christentums sei ein zentrales Element der abendländischen Kultur10. Da sich die staatskirchenrechtlichen Verhältnisse in den europäischen Staaten unterschiedlich entwickelt hätten, konstituieren diese Verhältnisse heute zum Teil die nationale Identität der Mitgliedsstaaten, die die EU zu respektieren hat. Winter entwickelt aus diesem Ansatz die Theorie, dass die nationalen Besonderheiten des Staatskirchenrechts als kulturverfassungsrechtliche Materie vor einer europäischen Nivellierung zu schützen seien. Hier ist aber wiederum vor einer Überdehnung des Schutzes der nationalen Identität zu warnen11.
8
So auch Vachek, S. 250. Winter, in: FS Hollerbach, S. 893, unter Berufung auf Häberle, Kulturverfassung im Bundesstaate, Wien 1980, S. 21. 10 Winter, in: FS Hollerbach, S. 895. 11 Vgl. zum Umfang des Schutzes der nationalen Identität der Mitgliedsstaaten mit Blick auf das Religionsrecht oben Kap. G.I.2. und Kap. G.II. 9
II. Religion unter dem Kulturrecht des VVE
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II. Religion unter dem Kulturrecht des VVE und Vergleich zum EGV Der VVE erklärt den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas zu einem Ziel der Union (Art. I-3 III S. 5 VVE). Art. III-280 VVE übernimmt ohne inhaltliche Änderungen den acquis communautaire des Art. 151 EGV. Daher ändert sich in dieser Hinsicht beim Übergang zum VVE nichts.
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht – Auswirkungen des primärrechtlichen Religionsrechts auf die sekundärrechtliche Ebene an Hand ausgewählter Bereiche Bislang wurden schwerpunktmäßig die primärrechtlichen Vorgaben des Religionsrechts der Europäischen Union untersucht. Nun stellt sich die Frage, wie sie sich auf das Sekundärrecht auswirken. Die religionsrechtlichen Vorschriften des Sekundärrechts sind zahlreich und thematisch breit gefächert1. Es würde den Umfang dieser Arbeit bei weitem übersteigen, jeden Rechtsakt des Sekundärrechts, der religionsrechtlichen Bezug aufweist, zu untersuchen. Die Frage, wie sich die bislang untersuchten Vorgaben des Primärrechts auf die unionsrechtliche Rechtssetzung im Sekundärrecht auswirken, soll daher an einigen ausgewählten Rechtsakten geprüft werden. Dabei wird, anschließend an die bisherige Prüfungsstruktur, ein besonderes Augenmerk auf die Frage gelegt, ob sich die religionsrechtliche Rechtssetzung unter dem VVE im Vergleich zum EUV/EGV ändert. Auswahlkriterien für die folgenden Untersuchungsgegenstände waren die Aktualität der gesetzgeberischen Tätigkeit, die besondere Aufmerksamkeit, die diese Bereiche in der Diskussion erfahren, sowie, im Falle der Richtlinie 2000/78/EG, die besondere didaktische Geeignetheit des Rechtsaktes, um das Zusammenspiel von unionsrechtlicher Religionsfreiheit und „verlängerten“ mitgliedsstaatlichen Rechten (Erklärung Nr. 11/Art. I-52 VVE) aufzuzeigen.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt (RiLi 2000/78/EG) Mit der Richtlinie zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf2, vorgelegt am 27. November 2000, hat die EU-Kommission das Thema der Diskriminierung auf Grund der Religion in der Arbeitswelt aufgegriffen. Dies geschah als Teil einer umfassenden Strategie zur Bekämpfung der Diskriminierung im Berufsleben, die den von der Kommission auch als Politikauf1 2
Vgl. oben die Bestandsaufnahme, Kap. B.III. Richtlinie 2000/78/EG, ABl. L 303, S. 16 ff.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
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trag verstandenen Art. 13 EGV („Maßnahmenkompetenz“3) umsetzt. Die Anti-Diskriminierungs-Strategie beruht hauptsächlich auf zwei Richtlinien: neben der hier behandelten hatte die Kommission bereits am 29. Juni 2000 die Richtlinie 2000/43/EG verabschiedet, die Maßnahmen gegen die Diskriminierung wegen der Rasse oder ethnischen Herkunft bei allen öffentlichen Leistungen verbietet4. Die Kommission plante also nicht aus religionsrechtlichen Absichten heraus, sich mit dem Thema zu befassen – hätten primär religionsrechtliche Absichten im Vordergrund gestanden, hätte sich die Frage nach einer entsprechenden Kompetenz der EU aufgedrängt –, sondern sie sah sich inzidenter im Rahmen ihrer Arbeiten am Auftrag, ein Anti-Diskriminierungs-Recht zu schaffen, mit den religiösen Aspekten konfrontiert. Dieser Aspekt scheint aber im Verlaufe der Arbeiten eine größere Dynamik entfaltet zu haben als von der Kommission ursprünglich erwartet. Die RiLi 2000/43/EG – beide Richtlinien entstammen ursprünglich einem einheitlichen Gesetzgebungsprojekt zur Umsetzung des Art. 13 EGV, wurden dann aber im Verlaufe der Arbeiten getrennt5 – enthält keine Sonderregel für Religionsgemeinschaften. Religionsgemeinschaften unterfallen also uneingeschränkt dem Verbot, aus Gründen der Rasse oder ethnischen Herkunft zu differenzieren – vorbehaltlich einer Ausnahme auf Grund des höherrangigen Selbstbestimmungsrechts aus der europarechtlichen Religionsfreiheit6. RiLi 2000/78/EG enthält dagegen die Ausnahmeklausel des Art. 4 I und II7. 3
s. o. Kap. F.I. Richtlinie 2000/43/EG, ABl. L 180, S. 22 ff. Zu den beiden Richtlinien gibt es umfangreiche Literatur, vgl. nur Thüsing, ZfA 32 (2001), S. 397 ff., m. w. N. 5 Thüsing, JZ 2004, S. 172. 6 Weber, ZevKR 47 (2002), S. 238. 7 Art. 4 I lautet in der Endfassung der Richtlinie 2000/78/EG: „Ungeachtet des Art. 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedsstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.“ Art. 4 II lautet in der Endfassung der Richtlinie 2000/78/EG: „Die Mitgliedsstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der 4
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K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
1. Die Normgenese der Ausnahmevorschrift des Art. 4 Der erste Entwurf der Richtlinie 2000/78/EG aus der Generaldirektion Beschäftigung und Soziales der EU-Kommission enthielt bereits eine Tendenzklausel, die allerdings noch einheitlich-umfassend gefasst war und die Aspekte der Religion und Weltanschauung nicht explizit aufgriff8, 9. Diese Vorschrift erinnert an die Tendenzschutzklausel der Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates vom 22. September 199410. Nach dieser Fassung wäre die Frage gewesen, ob und inwieweit man religiöse Diskriminierungserfordernisse unter „wesentliche berufliche Anforderungen“ subsumieren könnte. Dass aus primärrechtlichen Gründen überhaupt eine Ausnahmeregelung zumindest in Form einer Tendenzschutzklausel erforderlich sein würde, musste die Kommission bereits aus der Entscheidung der EKMR in der Rechtssache Rommelfanger11 ableiten12. Dort hatte die EKMR entschieden, dass Religionsgemeinschaften das Recht zusteht, von ihren Beschäftigten bestimmte Verhaltenspflichten zu verlangen, und sie im Falle von Zuwiderhandlungen der Beschäftigten auch arbeitsrechtliche Schritte einleiten dürfen. Im Hintergrund wirkt hier die korporative Religionsfreiheit des Art. 9 EMRK in Gestalt von Loyalitätsanforderungen an Arbeitnehmer im religiös-weltanschaulich geprägten Bereich. Dies galt zurzeit Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedsstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im Übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“ 8 „Ungeachtet der Bestimmungen des Artikels 2 Absätze 1 und 2 können die Mitgliedsstaaten vorsehen, dass eine Ungleichbehandlung aufgrund eines bestimmten Umstandes, der im Zusammenhang mit einem der in Artikel 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen, unter denen diese Tätigkeit ausgeübt wird, dieser eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt.“ 9 Vgl. zur Entstehungsgeschichte auch Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 237 ff. 10 Richtlinie 1994/45/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit agierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen, vom 22.9.1994, ABl. 1994 L 254, S. 64 ff. 11 EKMR, Entscheidung vom 6.9.1989, BNr. 12242/86 (Rommelfanger ./. BRD). 12 Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 237.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
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der Ausarbeitung des Richtlinienentwurfs zu RiLi 2000/43/EG über Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK auch für das Recht der Europäischen Union. Der endgültige Entwurf für die spätere Richtlinie 2000/78/EG enthält einen Passus, der die Interessen von Religionsgemeinschaften, aus berechtigten Gründen an Hand eines religionsbezogenen Charakteristikums unterscheiden zu dürfen, wahren sollte13. Während des Gesetzgebungsverfahrens äußerten sich die beteiligten EUInstitutionen, insbesondere das EP (das gem. Art. 13 EGV im Anhörungsverfahren beteiligt war), allerdings kritisch dahingehend, dass diese Fassung der Ausnahme einerseits zu weit gehend sein und zur Folge haben könnte, dass religiös verbrämte Diskriminierungen aus anderen Gründen legalisiert werden könnten. Nach dem Kommissionsentwurf wäre beispielsweise die Diskriminierung an Hand der sexuellen Ausrichtung (Homosexualität) zulässig gewesen, wenn diese ein bestimmtes Merkmal darstellt, das mit der Religion zusammenhängt. Das Parlament verengte die zulässigen Diskriminierungsgründe auf die bloße Religionszugehörigkeit der fraglichen Person und fügte hinzu, dass eine Diskriminierung auf Grund anderer Umstände unzulässig sei. Ferner wurde sowohl im Kommissionsentwurf als auch in der Stellungnahme des Parlamentes14 ausdrücklich eine Abstufung der Tätigkeiten innerhalb einer Organisation nach dem Religionsbezug verlangt. Dies ist mit der Idee der Dienstgemeinschaft in den deutschen Organisationen der christlichen Kirchen nicht vereinbar. Andererseits schien die Ausnahme für berechtigte religiöse Diskriminierung durch den Bezug auf die Tätigkeit der Organisationen (Erziehung, Berichterstattung, Meinungsäußerung) zu eng gefasst, so dass eine Ausdehnung befürwortet wurde, die die Kommission in die Fassung des überarbeiteten Richtlinienentwurfs unter Berücksichtigung der Stellungnahmen der beteiligten EU-Institutionen aufnahm15. Am Ende des Gesetzgebungsverfahrens stand dann die erneut überarbeitete Fassung des heutigen Art. 4 I, II. 13 Richtlinien-Entwurf KOM (1999) 565 endg., ABl. 2000 C 177 E, S. 42 ff., dort Art. 4 II: „ Mitgliedsstaaten können in Bezug auf öffentliche oder private Organisationen, die in den Bereichen der Religion oder des Glaubens, im Hinblick auf Erziehung, Berichterstattung und Meinungsäußerung unmittelbar und überwiegend eine bestimmte weltanschauliche Tendenz verfolgen, und innerhalb dieser Organisationen hinsichtlich spezieller beruflicher Tätigkeiten, die unmittelbar und überwiegend diesem Zweck dienen, vorsehen, dass eine unterschiedliche Behandlung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn sie durch ein bestimmtes Merkmal begründet ist, das mit der Religion oder dem Glauben zusammenhängt und wenn auf Grund der Eigenschaft dieser Tätigkeiten dieses bestimmte Merkmal eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt.“; vgl. dazu Winter, in: FS Hollerbach, S. 897. 14 ABl. 2001 C 178 S. 262. 15 Richtlinien-Entwurf KOM(2000) 652 endg., vom 12.10.2000, ABl. 2001 C 62, S. 152 ff., Art. 4 II: „Ungeachtet des Absatzes 1 können die Mitgliedsstaaten in
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K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
Die endgültige Fassung der Richtlinie reflektiert in den Erwägungsgründen die Pole, zwischen denen sich die Problematik der Diskriminierung aus religiösen Gründen bewegt und zwischen denen die Richtlinie einen Ausgleich finden musste. Erwägungsgrund Nr. 11 weist darauf hin, dass auch Diskriminierungen aus Gründen der Religion und Weltanschauung die Verwirklichung der im EGV festgelegten Ziele unterminieren, insbesondere die Erreichung eines hohen Beschäftigungsniveaus und eines hohen Maßes an sozialem Schutz, die Hebung des Lebensstandards und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen Zusammenhalt, die Solidarität sowie die Freizügigkeit. Daher, so Erwägungsgrund Nr. 12, sollte jede unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung wegen der Religion oder der Weltanschauung in den von der Richtlinie abgedeckten Bereichen gemeinschaftsweit untersagt werden. Andererseits erkennt die Kommission dann die Tatsache, dass eine religiös begründete Diskriminierung gerechtfertigt sein kann: Erwägungsgrund Nr. 23 begründet vorsichtig, dass unter sehr begrenzten Bedingungen eine unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt sein könne, wenn ein Merkmal, das mit der Religion und Weltanschauung zusammenhängt, eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. In Erwägungsgrund Nr. 24 weist die Kommission darauf hin, dass sie gemäß der Erklärung Nr. 11 in der Schlussakte zum Vertrag von Amsterdam den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu achten habe. Hier entfaltet somit die rechtsunverbindliche Erklärung eine bemerkenswerte gestalterische Wirkung auf die religionsrechtlich relevante Gesetzgebungstätigkeit der EU. Im Jahre 2004 hat die EU-Kommission ein Grünbuch zur Gleichstellungspolitik16 veröffentlicht, in dem sie eine positive Bilanz der Richtlinien zur Bekämpfung der Diskriminierung zieht und gleichzeitig die Frage nach der Fortentwicklung dieser Politik stellt. Die religionsrechtlichen Sonderregeln werden in diesem Konsultationsdokument nicht erneut zur Disposition gestellt. Daraus ist zu schließen, dass die Kommission mit dem status quo zufrieden ist und die bestehenden Regelungen aufrechterhalten will. Bezug auf religiöse oder weltanschauliche öffentliche oder private Organisationen, die unmittelbar oder überwiegend mit Religion oder Weltanschauung zusammenhängen, vorsehen, dass eine unterschiedliche Behandlung aufgrund der Religion oder Weltanschauung dann keine Diskriminierung darstellt, wenn Religion oder Weltanschauung aufgrund der Art der Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche berufliche Anforderung darstellen. Diese unterschiedliche Behandlung rechtfertigt jedoch keine Diskriminierungen aus den übrigen in Artikel 13 EGV genannten Gründen.“ 16 Grünbuch der Kommission „Gleichstellung sowie Bekämpfung von Diskriminierungen in einer erweiterten Europäischen Union“ vom 28.5.2004, KOM(2004) 379 endg.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
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2. Inhalt und Umfang der Ausnahme des Art. 4 Fraglich ist, welchen Inhalt und Umfang die Ausnahmen des Art. 4 I, II haben und wie die beiden Ausnahmen sich zu einander verhalten.
a) Ausnahme des Art. 4 I Art. 4 I räumt den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit ein, in ihrem nationalen Recht vorzusehen, dass eine Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals, das im Zusammenhang mit einem der in Art. 1 genannten Diskriminierungsgründe steht, keine Diskriminierung darstellt, wenn das betreffende Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt. Unter den in Art. 1 genannten Merkmalen befindet sich neben den Kriterien Alter, Behinderung und sexuelle Ausrichtung auch die Religion und Weltanschauung. Mit Blick auf religiöse Motive darf also unter bestimmten Umständen eine Differenzierung vorgenommen werden. Während Art. 4 II eine spezielle Sonderregelung für berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und Ethos-basierten Organisationen ist, betrifft Art. 4 I eine allgemeinere Ausnahme für die genannten Differenzierungskriterien. Art. 4 I trägt dem Umstand Rechnung, dass Differenzierungen auf Grund der verbotenen Merkmale in bestimmten Fällen zulässig sein müssen, weil Vorgaben des Primärrechts dies gebieten. Art. 4 I ist in Bezug auf das Differenzierungsmerkmal der Religion ein Ausdruck der unionsrechtlichen Religionsfreiheit (zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Richtlinie: Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK und unter Berücksichtigung der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen). Die Religionsfreiheit erscheint hier als ein Rechtsgut, das mit dem durch die Richtlinie geschützten Grundrecht der Gleichbehandlung in Kollision gerät. Daher muss ein Ausgleich herbeigeführt werden. An der sprachlichen Fassung des Art. 4 I ist bereits ablesbar, dass zwei kollidierende Grundrechtsgüter zum Ausgleich gebracht werden sollen: das Grundrecht auf Gleichbehandlung des Individuums tritt zurück, soweit der Eingriff im Namen der Religionsfreiheit des Arbeitgebers einen rechtmäßigen Zweck verfolgt, in qualifizierter Weise geeignet und erforderlich ist („eine wesentliche und entscheidende Anforderung“) und er verhältnismäßig („angemessen“) ist. Auf diese Weise strebt Art. 4 I an, zwischen den unionsrechtlichen Grundrechten der Gleichbehandlung und der Religionsfreiheit praktische Konkordanz zu schaffen. Erwägungsgrund Nr. 23 erläutert dies in gleicher Weise. Für den Umfang der Aus-
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nahme des Art. 4 I in Hinblick auf die Religionsfreiheit gilt das zum persönlichen und sachlichen Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit oben Gesagte17. Kritisch ist die von Art. 4 I verwendete Formulierung „können“ zu bewerten. Die unionsrechtliche Religionsfreiheit ist nicht durch das Recht der Mitgliedsstaaten abdingbar; korrekt wäre eine imperative oder indikativische Formulierung gewesen. Sähe ein Mitgliedsstaat in seinem Umsetzungsakt die grundrechtlichen Belange nicht vor, so könnte sich ein betroffener Arbeitgeber unmittelbar auf seine unionsrechtliche Religionsfreiheit berufen. Hier wird deutlich, dass der europäische Gesetzgeber die Vorgaben der Religionsfreiheit nicht in ihrer vollständigen Tragweite erkannt hat. b) Die Ausnahme des Art. 4 II Während Art. 4 I die Vorgaben der unionsrechtlichen Grundrechte umsetzt, greift Art. 4 II die europarechtlich zu berücksichtigenden Besonderheiten des Religionsrechts der Mitgliedsstaaten auf. Wie Erwägungsgrund Nr. 24 erläutert, wird damit die Erklärung Nr. 11 umgesetzt. Dies zeigt, dass das europäische Religionsrecht (im weiteren Sinne einschließlich des soft law) ein Entstehungsgrund der Ausnahme des Art. 4 II war. Art. 4 II ist somit ein Beleg dafür, wie das primärrechtliche Religionsrecht das Sekundärrecht formt. Auch Art. 4 II ist kein unmittelbar geltendes Recht zu Gunsten von Religionsgemeinschaften, sondern bedarf der Umsetzung durch Rechtsnormen der Mitgliedsstaaten18. Art. 4 II setzt keinen europaweit einheitlichen Standard für zulässige Diskriminierungen fest, sondern bezieht sich auf die Standards, die das Recht der Mitgliedsstaaten jeweils vorsieht. Gleichzeitig werden jedoch erkennbar bestimmte Mindestanforderungen an die Rechtfertigungsgründe vorgeschrieben, die von den Mitgliedsstaaten nicht unterschritten werden dürfen19. Bemerkenswert ist, dass Art. 4 II keine präzise sekundärrechtliche Umsetzung der Erklärung Nr. 11 ist. Wie dargelegt, hat die EU in der Erklärung Nr. 11 anerkannt, dass sie den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, achtet und nicht beeinträchtigt. Der Status erfasst aber nicht alle Rechte, sondern nur die statusbezogenen Sonderrechte. 17
s. o. Kap. C.III.5.c), d). Zur – nicht rechtzeitigen – Umsetzung in Deutschland vgl. Thüsing, JZ 2004, S. 172 ff., der auch einen Formulierungsvorschlag für den deutschen Gesetzgeber entwickelt. 19 Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 240. 18
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Art. 4 II geht darüber hinaus; er lässt recht weitgehend nationale Bestimmungen zu, die „einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln“ und ermöglicht individuell- und kollektivarbeitsrechtliche Ausnahmen vom Nichtdiskriminierungsgrundsatz, die nicht auf dem rechtlichen Status der Kirchen und Ethos-basierten Organisationen beruhen müssen20. Der europäische Gesetzgeber nutzt hier die Erklärung Nr. 11 als Ausgangspunkt, gewährt aber die Möglichkeit, noch über ihren Gehalt hinausreichende nationale Rechte europarechtlich aufrecht zu erhalten. Dies ist bei der Erklärung Nr. 11 unproblematisch, weil sie rechtsunverbindlich ist. Auch unter Art. I-52 VVE stößt ein solches Vorgehen nicht auf Bedenken, da die Vorschrift einen Mindestschutz der nationalen Vorschriften bezweckt, über den der EU-Gesetzgeber hinausgehen kann. Eine Grenze wird ihm dabei durch die unionsrechtlichen Rechte Dritter gesetzt. (1) Der persönliche Anwendungsbereich von Art. 4 II Der persönliche Schutzbereich des Art. 4 II ist so weit gefasst, dass alle Religionsgemeinschaften und alle Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht, sich darauf berufen können. Entfallen ist damit die in früheren Entwurfsstadien vorgesehene Zweckbindung der fraglichen Organisationen, wie beispielsweise Erziehung, Berichterstattung und Meinungsäußerung im Kommissionsentwurf vom 25. November 199921. Der nationale Gesetzgeber ist daher ermächtigt, auch alle Organisationen bei der Umsetzung zu berücksichtigen, die ein bestimmtes religiöses Ziel anstreben, etwa die karitative und diakonische Wohlfahrtspflege, aber auch islamische Kultusvereine, die aus ihrem Selbstverständnis heraus keine Kirchen sind. Andererseits muss der Erlaubnis zur Diskriminierung auch eine Grenze gezogen werden. Begünstigt werden dürfen ausweislich des Wortlauts des Art. 4 II nur solche Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen beruht. Mit Ethos ist das Selbstverständnis in Bezug auf Daseinszweck, Auftrag und Verkündigung gemeint. „Beruhen“ muss so verstanden werden, dass der selbsterkannte Daseinszweck der Organisation die Ausübung religiöser oder weltanschaulicher Gebote ist und sich ihre gesamte Tätigkeit daraus herleitet und darauf gründet. Die Religionsausübung muss Existenzgrund und Primärmotiv des Handelns sein. Davon abzugrenzen sind Organisationen, die ein weltliches Primärziel anstreben, dessen 20
Durand, in: Burton/Weninger (Hrsg.), S. 30: „[Art. 4 II] setzt die Erklärung Nr. 11 in Achtung des rechtlichen Status des Unternehmens um, und sie geht, vom juristischen Standpunkt aus betrachtet, sogar etwas weiter, weil es als gerechtfertigt angesehen wird, dass der Faktor Religion ein entscheidendes Element ist, das es zu berücksichtigen gilt.“ 21 KOM (1999) 565 endg., ABl. 1999 C 177 E, S. 42 ff.
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Verfolgung sie im Einklang mit religiösen Lehren betreiben. Diese Organisationen gelangen nicht in den Genuss der Ausnahmeregelung, da bei ihnen die religiös-weltanschaulichen Motive zum weltlichen Primärziel akzessorisch sind, und ihr Ethos daher nicht auf ihnen beruht. Zu nennen sind hier vor allem Wirtschaftsunternehmen, deren Primärziel die weltliche Gewinnerzielung ist, die sie aber im Rahmen von religiös oder weltanschaulich begründeten ethischen Prinzipien erstreben. Diese bedürfen nicht der Diskriminierungsmöglichkeit, da sie keinem theologisch begründeten Zwang unterliegen, nur Personen ihres eigenen Glaubens zu beschäftigen (sie sind ja gerade keine „Instrumente“ eines bestimmten Glaubens), und daher auch solcher Anforderungen nicht bedürfen, um in einem Verkündigungsauftrag glaubwürdig zu bleiben. So ist es nicht von Sinn und Zweck des Art. 4 II erfasst, solchen Organisationen eine Ausnahme zu gewähren. Die Darlegungspflicht für die Berufung auf die Ausnahme des Art. 4 II liegt beim Arbeitgeber, der diskriminieren will, da er sich auf eine für ihn günstige Ausnahme beruft, deren Voraussetzungen – dass nämlich die Diskriminierung gegen den Arbeitnehmer Konsequenz des Ethos und der religiösen Lehre sei22 – schlüssig vorzutragen ihm obliegt. (2) Die sachlichen Anforderungen des Art. 4 II Art. 4 II gewährt den Mitgliedsstaaten, bestehende Bestimmungen beizubehalten oder zukünftig zu schaffen, die in Bezug auf Kirchen und Ethosbasierten Organisationen23 bestehende mitgliedsstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder Weltanschauung dieser Person nach Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Diese Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten; sie rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grunde24. Der sperrige Wortlaut enthält somit eine Vielzahl einzelner Merkmale.
22 23 24
Thüsing, JZ 2004, S. 177. s. o. Kap. K.I.2.b)(1). Zu diesem letzten Merkmal s. u. Kap. K.I.2.b)(3).
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(a) Einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln Einzelstaatliche Gepflogenheiten sind alle Auffassungen und Verhaltensweisen, die solchen mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften zu Grunde liegen, die den Religionsgemeinschaften und Ethos-basierten Organisationen das Recht einräumen, auf Grund der Religion oder Weltanschauung individualarbeitsrechtlich zu differenzieren. Dabei dürfte es sich in der Regel um religionsbasierte Ausnahmen zum nationalen Anti-Diskriminierungsrecht handeln. (b) Keine Diskriminierung Es dürfen solche Bestimmungen beibehalten oder geschaffen werden, wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung keine Diskriminierung darstellt. Mit Blick auf das Ziel des Art. 4 II, die mitgliedstaatlichen Sonderregeln zu schützen, ist die Formulierung nicht in einem engen technischen Sinne zu verstehen. Es geht hier also nicht um Bestimmungen, die im regelungstechnischen Sinne mit Fiktionen arbeiten, sondern um solche Bestimmungen, die die Differenzierung aus den genannten Gründen zulassen. (c) Wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung Die bislang beschriebene Ausnahme wird allerdings eingeschränkt. Sie gilt nur, soweit die Religion oder Weltanschauung der Person nach Art der Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Fraglich ist, ob durch diese Schranke gemeinschaftsrechtliche Rechtfertigungsanforderungen an religiös-weltanschauliche Differenzierungspraktiken der berechtigten Organisationen gestellt werden, die ihnen einen weltlichen Wertungsmaßstab vorgeben, der mit ihren inneren Wertungskriterien in Widerspruch stehen könnte. Insbesondere stellt sich die Frage, ob eine Abstufung nach der Nähe der Tätigkeit zum Kern der Verkündigung oder nach theologischer Relevanz geboten sei. Eine solche Abstufung liegt gerade mit Blick auf die bei deutschen christlichen Kirchenorganisationen vorherrschende Idee der Dienstgemeinschaft fern, die nach ihrer Lehre von der Kirche als eines Leibes mit vielen Gliedern von einer Dienstgemeinschaft aller Mitglieder, jeder nach den ihm verliehenen Fähigkeiten, ausgehen. Diese Auffassung ist eine deutsche „mitgliedsstaatliche Gepflogenheit“, die vom deutschen Staatskirchenrecht widergespiegelt wird und die demnach von der Regelung des Art. 4 II erfasst sein könnte. Aus der Per-
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spektive der Richtlinie 2000/78/EG könnten die vom deutschen Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV hergeleiteten Maßstäbe und Freiheitsräume der kirchlichen Arbeitgeber hinsichtlich der Personalauswahl, der Binnengestaltung der Arbeitsverhältnisse und der Spezifika der Kündigungsgründe, die ihnen das deutsche Arbeitsrecht zubilligt, erhöhten gemeinschaftsrechtlichen Rechtfertigungsgründen unterliegen25. Entsprechendes gälte für vergleichbare Regelungen in anderen Mitgliedstaaten. Eine Berufung auf das unionsrechtliche Selbstbestimmungsrecht aus Art. 10 I EGRC (über Art. 4 I der Richtlinie) hilft hier nicht weiter, da dieses auch im primären Bereich der korporativen Religionsausübung im Wesentlichen nur den kultisch-liturgischen Bereich erfasst, in dem die Amtsinhaber einer Religionsgemeinschaft nach deren Lehre mit einer religiösen Ermächtigung ausgestattet sein müssen26. In der Tat bestimmt Art. 4 II für die nationale Umsetzung, dass Anforderungen, die an religiös-weltanschauliche Merkmale anknüpfen, in Bezug auf die konkrete Tätigkeit des Arbeitnehmers wesentlich und gerechtfertigt sein müssen, damit die Ungleichbehandlung keine Diskriminierung darstellt. Entscheidend für eine Wesentlichkeits- und Angemessenheitsprüfung ist jedoch immer der Prüfungsmaßstab. Art. 4 II gibt hier keinen staatlich-weltlichen Prüfungsmaßstab vor, sondern bezieht die Wesentlichkeit, Rechtmäßigkeit und Rechtfertigung auf den jeweils einschlägigen innerkirchlichen Maßstab. Die Anforderungen müssen nämlich wesentlich, rechtmäßig und gerechtfertigt sein „angesichts des Ethos der Organisation“. Bezugspunkt der Prüfung ist also der jeweilige innere Maßstab der Organisation, kein staatlich vorgegebener weltlicher Maßstab27. Dies erlaubt den Organisationen, ihre theologisch-weltanschaulichen Wertungen, z. B. die Dienstgemeinschaft, auch in der Perspektive der Richtlinie aufrechtzuerhalten. Dabei wird der weltliche Staat nicht bedeutungslos; er muss sich jedoch an den in Art. 4 II vorgegebenen Prüfungsmaßstab halten. Das bedeutet, er kann nicht an Hand eigener Wertungen feststellen, ob die Erfordernisse der Wesentlichkeit und Rechtmäßigkeit erfüllt sind. Staatliche Gerichte dürfen aber überprüfen, ob die kirchlichen Arbeitgeber schlüssig darlegen, dass die Erfordernisse der Wesentlichkeit, Rechtmäßigkeit und Gerechtfertigtheit angesichts ihres innerkirchlichen Ethos erfüllt sind. In arbeitsrechtlichen Streitigkeiten weist Art. 4 II qua der nationalen Umsetzungsvorschriften den staatlichen Gerichten somit die Aufgabe zu, die kirchlichen Wertungen auf Schlüssigkeit, offensichtliche Fehlwertungen und die Einhaltung äußerer Grenzen zu überprüfen. 25 26 27
Droege, in: Klinkhammer/Frick, S. 227. s. o. Kap. C.III.5.e)(3)(a). Dies vernachlässigt Droege, in: Klinkhammer/Frick, S. 227.
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(d) Beachtung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Art. 4 II S. 2 verlangt für die religiös-weltanschauliche Ungleichbehandlung die Beachtung der verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten und der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts. Dies bestätigt die oben gefundene Einschätzung, dass die Prüfung der Wesentlichkeit, Rechtmäßigkeit und Gerechtfertigtheit angesichts des innerkirchlichen Ethos nach den eigenen Wertungsmaßstäben der Organisationen vorzunehmen ist. Wären die Prüfungsmaßstäbe nämlich ohnehin staatliche anstatt interne religiös-weltanschauliche, so wäre die Anordnung der staatlichen Grundsätze überflüssig, da sie ohnehin gälten. Der EU-Gesetzgeber sah aber hier die Notwendigkeit, in gemeinschaftsrechtlicher Perspektive auf die Grenzen der Ungleichbehandlung hinzuweisen, die das mitgliedsstaatliche Recht und das Unionsrecht der Ungleichbehandlung setzt. Damit kann der deutsche Transformationsgesetzgeber den im europäischen Vergleich zu Gunsten der Religionsgemeinschaften weiten staatlichen Rechtsrahmen mit Blick auf die Ungleichbehandlung aus Gründen der Religion in Deutschland erhalten. Die Grenzen der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts sind für den nationalen Gesetzgeber bei der Umsetzung der Richtlinie selbstverständlich ebenfalls bindend. Darunter fallen zwingende Vorgaben wie die Grundfreiheiten, z. B. die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 39 EGV/Art. I-4, III-133 VVE) und alle weiteren allgemeinen Grundsätze des acquis communautaire. So darf z. B. nicht unter Berufung auf die Religion das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit umgangen werden (mittelbare Diskriminierung, wenn durch das Kriterium einer Religion typischerweise gegen Angehörige eines Mitgliedsstaaten diskriminiert werden soll). Es gilt das Gebot der Entgeltgleichheit für Frauen und Männer (Art. 141 EGV/Art. III-214 VVE), sogar mit unmittelbarer Drittwirkung28. Zu beachten ist allerdings, dass auch das Religionsverfassungsrecht der Union (Grundrecht der Religionsfreiheit, Art. 10 I EGRC; Art. I-52 VVE etc.) wiederum auf die Grundsätze des Unionsrechts einwirkt und sie modifizieren kann29. 28 Robbers, in: HdbStKirchR, Bd. I, S. 328 f.; Jeand’Heur/Korioth, Rn. 375; Droege, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), S. 375. 29 Bsp.: wäre es aus theologisch-weltanschaulichen Gründen einer Religionsgemeinschaft zwingend geboten, den Grundsatz der Entgeltgleichheit (Art. 141 EGV/Art. III-108 VVE) im liturgischen Bereich zu missachten, so könnte das aus der unionsrechtlichen korporativen Religions- und Weltanschauungsfreiheit herzuleitende Selbstbestimmungsrecht den Grundsatz der Entgeltgleichheit modifizieren.
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K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
(3) Das Problem der religiös begründeten weiteren Differenzierungskriterien Problematisch ist der Umfang der Ausnahme des Art. 4 II mit Blick auf andere Differenzierungskriterien als der Religion, die jedoch ihrerseits religiös motiviert sind. Art. 4 II S. 2 sagt, dass eine Diskriminierung aus einem anderen Grund als der Religion oder Weltanschauung nicht gerechtfertigt sei. Hier kommen alle in Art. 1 der Richtlinie genannten Kriterien in Betracht, wenn eine Religionsgemeinschaft oder deren Ethos-basierte Organisationen diese Merkmale aus ihrer Lehre heraus ächten oder unterschiedlich behandeln. Als Beispiel angeführt wird vor allem die Homosexualität. Diese Frage ist aktuell Gegenstand der Diskussion30. Aber ebenso würde sich die Problematik etwa auf Behinderungen erstrecken, wenn eine Religionsgemeinschaft beispielsweise der Ansicht wäre, eine Behinderung sei eine Strafe Gottes und der Betroffene müsse abweichend behandelt werden. (a) Die Diskussion in der Literatur In der Literatur ist umstritten, ob eine Diskriminierung an Hand von Merkmalen zulässig sein kann, die über die formale Religionszugehörigkeit des Arbeitnehmers hinausgehen. Heinig ist der Auffassung, dass Art. 4 II restriktiv zu interpretieren sei und folgert mit Blick auf die deutsche Rechtspraxis, dass in Fällen religiös motivierter, aber an anderen Diskriminierungsmerkmalen anknüpfender Ungleichbehandlungen weitergehende europarechtliche Erfordernisse bestehen, d.h. dass die europarechtlichen Vorgaben enger seien als die bisherige verfassungsgerichtliche Praxis in Deutschland31. Auch Weber meint, die anderen in der Richtlinie geregelten Diskriminierungsverbote gelten uneingeschränkt für das kirchliche Arbeitsrecht, auch das Verbot der Diskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung32. Thüsing dagegen ist der Ansicht, die durch Art. 4 II legalisierte Ungleichbehandlung sei weit zu fassen und rechtfertige auch die Diskriminierung der Religionsgemeinschaften gegen Arbeitnehmer, die eine gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft eingehen, wenn diese Diskriminierung religiös begründet sei33. Die europarechtliche Zulässigkeit begründet er unter Zuhilfe30 Vgl. für die Römisch-Katholische Kirche Beschluss des Ständigen Rates der Deutschen Bischofskonferenz vom 24.6.2002, ABl. des Bistums Münster 2002, S. 170; für protestantische Kirchen etwa Urteil des Rechtshofs der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, NJW 1983, S. 2606 und die weltweite Auseinandersetzung um die Berufung des homosexuellen Bischofs Robinson der Episkopalischen Kirche, vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4.11.2003. 31 Heinig, in: Haratsch (Hrsg.), Religion und Weltanschauung, S. 241. 32 Weber, ZevKR 47 (2002), S. 240.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
359
nahme des Art. 4 II S. 3 (Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers), indem er unterscheidet zwischen Homosexualität einerseits und deren Auslebung andererseits. Eine Kündigung wegen homosexueller Praxis sei etwas anderes als eine Kündigung wegen Homosexualität. Erstere sei zulässig, weil ein kirchlicher Mitarbeiter durch das homosexuelle Verhalten gegen seine Loyalitätspflicht gegenüber der so lehrenden Kirche verstoße und diese ein loyales Verhalten gemäß Art. 4 II S. 3 verlangen dürfe. Diese Begründung überzeugt jedoch so nicht. Zum einen erscheint die Differenzierung zwischen Homosexualität und homosexuellem Verhalten gekünstelt und lebensfremd; sie wird der tatsächlichen Situation eines solchen Falles nicht gerecht. Zweitens wäre es widersprüchlich zu behaupten, dass zwar Art. 4 II S. 2 restriktiv auszulegen sei und keine Differenzierung aus anderen Gründen als der Religionszugehörigkeit zulässt, dann aber andererseits gerade diese Differenzierung über S. 3 doch zugelassen wird. Die Loyalitätsklausel des Art. 4 II S. 3 rechtfertigt für sich keine Diskriminierung aus anderen Gründen, sondern erlaubt Religionsgemeinschaften und Ethos-basierten Organisationen, von ihren Arbeitnehmern, die auf Grund der Religionszugehörigkeit gemäß Art. 4 II S. 2 ausgewählt wurden, ein der Lehre konformes Verhalten zu verlangen – aber nur bis zur Grenze anderer, unzulässiger Diskriminierungsgründe. So kann ein katholischer Krankenhausträger auf Grund von Loyalitätspflichten von einem Arzt in einem katholischen Krankenhaus verlangen, das er sich nicht für Schwangerschaftsabbrüche ausspricht (so im Falle Rommelfanger34), nicht aber, dass er sich heterosexuell zu verhalten habe. Drittens löst die von Thüsing vorgeschlagene Differenzierung nicht das Problem der Diskriminierung, sondern verlagert es nur: gegen homosexuelle Mitarbeiter würde dann nicht unmittelbar auf arbeitsrechtlicher Ebene diskriminiert, sondern im privaten Bereich: sie würden, anders als ihre heterosexuellen Kollegen, zu einer sexuell enthaltsamen Lebensweise gezwungen – unter ständiger Androhung arbeitsrechtlicher Konsequenzen im Falle der NichtEnthaltsamkeit. Letztendlich ist diese Differenzierung aber auch gar nicht erforderlich, um zu einer Lösung zu gelangen. (b) Vorschlag einer eigenen Lösung Die Frage, ob eine enge oder weite Auslegung des Merkmals „Diskriminierung aus religiösen Gründen“ im Rahmen des Art. 4 II geboten ist, muss an Hand des Wortlautes, der Genese, der Systematik und des Zwecks der Vorschrift beantwortet werden.
33 34
Thüsing, JZ 2004, S. 179. EKMR, Entscheidung vom 6.9.1989, BNr. 12242/86 (Rommelfanger ./. BRD).
360
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
Für den Bereich des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts35 ergibt sich die Freiheit einer Religionsgemeinschaft, in Bezug auf ihre Mitarbeiter nach der sexuellen Ausrichtung und anderen Kriterien jenseits der formalen Religionszugehörigkeit zu differenzieren, aus der korporativ-grundrechtlichen Freiheit36 (Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK; Art. 10 I EGRC). Dies betrifft, wie soeben ausgeführt, wiederum nur den Bereich, in dem Mitarbeiter nach den Vorgaben der religiösen Lehre über eine religiöse Ermächtigung für ihr Amt verfügen müssen. In diesem kultisch-liturgischen Bereich dürfen Religionsgemeinschaften nach anderen für sie relevanten Kriterien differenzieren als der formalen Religionszugehörigkeit, wenn sich diese Kriterien aus ihrer religiösen Lehre ergeben. Das einfache Sekundärrecht der Richtlinie kann dieses Grundrecht nicht verkürzen. Auch wenn Art. 4 II sich inhaltlich auf die religionsrechtlichen Besonderheiten der Mitgliedsstaaten bezieht, heißt das nicht, dass die Vorgaben der unionsrechtlichen Religionsfreiheit hier keine Rolle spielen. Als Teil des Unionsrechts muss Art. 4 II die unionsrechtlichen Grundrechte berücksichtigen. Es handelt sich hier somit um eine „primärrechtskonforme Auslegung“ des Art. 4 II (und unter dem VVE um eine verfassungs(vertrags)konforme Auslegung). Die unionsrechtliche Religionsfreiheit führt demnach im Rahmen ihres Schutzbereiches dazu, dass eine Religionsgemeinschaft über den Rahmen, den ihr Art. 4 II vorgibt, hinaus nach weiteren religiös motivierten Kriterien differenzieren darf. Außerhalb des Bereichs des Selbstbestimmungsrechts kommt es auf die Auslegung der Richtlinie an. Art. 4 II S. 1 besagt ausdrücklich, dass eine Ungleichbehandlung nur zulässig sein kann, wenn sie wegen der Religion oder Weltanschauung der fraglichen Person (des Arbeitnehmers) stattfindet. Art. 4 II S. 2 fügt hinzu, dass eine Ausnahme keine Diskriminierung aus einem anderen Grunde rechtfertigt. Dieser Wortlaut lässt darauf schließen, dass nur die formale Religionszugehörigkeit als Unterscheidungskriterium erlaubt sei, und nicht alle Differenzierungskriterien erfasst sind, auch wenn sie religiös-weltanschaulich begründet werden. Dies legt auch der Vergleich mit dem Wortlaut im Ursprungsentwurf der Kommission nahe, der weiter gefasst war und eine Diskriminierung an Hand bestimmter Merkmale zuließ, die mit der Religion zusammenhängen37. Dieser Wortlaut wurde, wie oben gezeigt, im Gesetzgebungsverfahren bewusst enger gefasst. Über diesen engen Wortlaut hinausgehen aber die Erwägungsgründe der Richtlinie. Erwägungsgrund Nr. 23 besagt, dass ein Merkmal, das mit der Religion oder der sexuellen Ausrichtung zusammenhängt, unter sehr be35 36 37
s. o. Kap. C.III.5.e)(3)(a). So auch Weber, ZevKR 47 (2002), S. 240. s. o. Kap. K.I.1.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
361
grenzten Bedingungen eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigen kann; das Merkmal muss aber einem rechtmäßigen Zweck dienen und es muss angemessen sein38. Diese Formulierung greift den Wortlaut des ursprünglichen Kommissionstextes wieder auf. Er weist darauf hin, dass nicht nur die formale Religionszugehörigkeit das zulässige Differenzierungskriterium ist, denn Merkmale, die mit der Religion zusammenhängen, gehen über die formale Zugehörigkeit hinaus39. Damit scheinen die Erwägungsgründe in einem Widerspruch zum engeren Gesetzestext zu stehen. Doch die Gesetzgebungstechnik der EU kennt Fälle, in denen der restriktive Wortlaut eines Rechtsaktes durch Hinweise in den Erwägungsgründen in begrenztem Umfang geweitet wird40. Die Erwägungsgründe sind mehr als nur Auslegungshilfen für den Rechtsakt; sie sind Teil des Rechtsaktes und können ihn bei Unklarheit modifizieren. Die deutlichen beschränkenden Formulierungen („Unter sehr begrenzten Bedingungen [. . .]“) im Erwägungsgrund Nr. 23 sprechen zwar dagegen, die sexuelle Ausrichtung einer Person generell als zulässiges Differenzierungsmerkmal zu begreifen. Der Kampf gegen die geschlechtliche Diskriminierung ist ein hochwertiger Topos im Recht der EU, so dass der mit den beschränkten und restriktiven Formulierungen versehene Erwägungsgrund Nr. 23 nicht generell darüber hinweg helfen kann. Unter den engen Bedingungen des Erwägungsgrundes Nr. 23 kann jedoch eine Diskriminierung an Hand eines Merkmals, das mit der Religion oder Weltanschauung zusammenhängt, zulässig sein. Fraglich ist in einem solchen Fall, ob die Heterosexualität eines Mitarbeiters in diesem Kontext eine „wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung“ darstellt, die angemessen ist. Dies muss von der Religionsgemeinschaft nach ihren eigenen Wertmaßstäben beantwortet werden. Diese eigene Bewertung steht ihr aus ihrem unionsrechtlichen Grundrecht auf Religionsfreiheit zu. Daraus ergibt sich, dass die Ausnahme des Art. 4 II so weit zu verstehen ist, dass es der Religionsgemeinschaft selbst überlassen bleibt, ob sie eine religiös begründete Dis38
Erwägungsgrund Nr. 23. Hiervon können z. B. Verhaltensanforderungen erfasst sein. Hierunter fallen Anforderungen wie die Bereitschaft, im Schichtdienst zu arbeiten, auch wenn religiöse Feiertage entgegenstehen, nicht während eines unaufschiebbaren Arbeitseinsatzes die Arbeit für ein Gebet zu unterbrechen oder nicht aus religiösen Gründen Sicherheitsvorschriften zu missachten (z. B. Weigerung, einen Schutzhelm zu tragen wegen des religiösen Gebots bei Sikhs, einen Turban zu tragen). 40 Ein weiteres Beispiel bietet die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. 2004 L 134, S. 114 ff. Nach dem Wortlaut der Richtlinie wären Aufträge zur Beschaffung von Schulbüchern den allgemeinen Bestimmungen des europäischen Vergaberechts unterworfen; gemäß Erwägungsgrund Nr. 47 gilt jedoch eine Sonderregel. 39
362
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
kriminierung aus Gründen der sexuellen Ausrichtung ihrer Mitarbeiter vornimmt; dementsprechend muss Art. 4 II auch national umgesetzt werden. Die in Deutschland aus dem weit gefassten Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV hergeleiteten Ungleichbehandlungsrechte dürften damit in Bezug auf die Richtlinie 2000/78/EG gemeinschaftsrechtlich weitgehend konform sein und kaum erhöhten gemeinschaftsrechtlichen Rechtfertigungsanforderungen unterliegen. (4) Staatskirchen und die Berufung auf Art. 4 II Die in manchen EU-Mitgliedsstaaten existierenden Staatskirchen können sich ebenfalls auf die Ausnahme des Art. 4 II berufen. Art. 4 II berechtigt alle Kirchen und religiösen Organisationen, die die dort genannten Bedingungen erfüllen, unabhängig von ihrem Verhältnis zum Staate. Die Staatskirchen und ihre jeweiligen spezifischen Regelungen sind mitgliedsstaatliche Gepflogenheiten i. S. d. Art. 4 II, die beibehalten oder künftig geschaffen werden können. Ungleichbehandlungen seitens Staatskirchen, die wegen der Religion vorgenommen werden, stellen nach Art. 4 II keine Diskriminierungen dar. Das bedeutet, dass der Staat aus den Gründen der Religion differenzieren darf (!), insoweit er als Staatskirche agiert und das nationale Recht es vorsieht. Allerdings gilt dies gemäß den Vorgaben des Art. 4 II nur, soweit die Religion nach der betroffenen Tätigkeit oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte Anforderung darstellt. Darüber hinaus können sich Staatskirchen, wie oben gezeigt41, in religiösen Angelegenheiten gegenüber der EU auch auf das unionsrechtliche Grundrecht der Religionsfreiheit berufen, da sie nicht mit der EU identisch sind und daher keine Konfusion droht. (5) Das Problem des konfessionellen Staatsamtes Für das konfessionelle Staatsamt (z. B. Lehrer an staatlichen konfessionsgebundenen Schulen, Hochschullehrer an theologischen Fakultäten staatlicher Universitäten, Militär- und Anstaltsseelsorger) findet die Ausnahme des Art. 4 II keine Anwendung, soweit es sich beim Arbeitgeber nicht um eine Kirche oder eine auf religiösem Ethos basierte Organisation handelt42. Die allgemeine Ausnahme in Art. 4 I für berufliche Anforderungen steht dem Staat als Arbeitgeber zwar offen, dürfte aber nur das Differenzierungskriterium der formalen Religionszugehörigkeit bei der Vergabe konfessio41 42
s. o. Kap. C.III.5.c)(5). Weber, ZevKR 47 (2002), S. 240 f.
I. Recht der Nicht-Diskriminierung in der Arbeitswelt
363
neller Staatsämter zulassen. Die Konfessionszugehörigkeit ist dabei nämlich eine wesentliche berufliche Anforderung. Weitere religiös-weltanschaulich begründete Differenzierungsmerkmale (z. B. die sexuelle Ausrichtung) sind gemäß Art. 4 I nicht zulässig, da sie keine wesentlichen beruflichen Anforderungen für das Staatsamt darstellen. Sie sind als Differenzierungskriterien nur wegen des Ethos gemäß Art. 4 II i. V. m. Erwägungsgrund Nr. 23 zulässig; in Art. 4 I kommt es aber auf das Ethos nicht an, da der weltanschaulich neutrale Staat keinem bestimmten religiös-weltanschaulichen Ethos folgen soll. Auch die ungeschriebenen primärrechtlichen Ausnahmen aus der unionsrechtlichen Religionsfreiheit kommen für das konfessionelle Staatsamt nicht in Betracht, da sie die Grundrechtsfähigkeit des Arbeitgebers voraussetzen. Arbeitgeber ist hier aber der nicht grundrechtsfähige Staat. Der Staat muss daher z. B. homosexuelle Lehrer an konfessionsgebundenen staatlichen Schulen zulassen. c) Das Zusammenwirken von Art. 4 I und II Art. 4 I greift – mit Blick auf das Differenzierungsmerkmal der Religion – sekundärrechtlich (neben anderen Einflüssen) die unionsrechtliche korporative Religionsfreiheit auf und verdeutlicht die dadurch begründeten Ausnahmen vom Diskriminierungsverbot für Religionsgemeinschaften und Ethos-basierte Organisationen. Art. 4 II greift die Erklärung Nr. 11 auf und ermöglicht die entsprechenden mitgliedsstaatlichen Ausnahmen, die erforderlich sind, um die besonderen religionsrechtlichen Regelungen der Mitgliedsstaaten unberührt zu lassen. Hier zeigt sich an einer konkreten Regelung des Sekundärrechts, wie die unionsrechtliche Religionsfreiheit und die Erklärung Nr. 11 zusammenwirken. Mit Blick auf das deutsche Staatskirchenrecht und sein Diskriminierungsrecht ergibt sich daraus: Art. 4 I berücksichtigt wie bereits ausgeführt das unionsrechtliche Grundrecht der korporativen Religionsfreiheit und damit auch das unionsrechtliche Selbstbestimmungsrecht. Unter der Sonderregel des Art. 4 II wird das deutsche Selbstbestimmungsrecht in gemeinschaftsrechtlicher Perspektive als Unterfall des unionsrechtlichen Tendenzschutzes geachtet. Im Ergebnis sichert dies die weitgehenden deutschen Sonderregeln. 3. Lage unter dem VVE Unter dem VVE hätten die Anti-Diskriminierungsrichtlinien 2000/78/EG und 2000/43/EG in gleicher Form entstehen können, da sie die religionsrechtlichen Besonderheiten so berücksichtigen, wie der VVE es verlangt.
364
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
Die Ausnahmen, die Art. 4 I und II vorsehen, sowie weitere ungeschriebene Ausnahmen, die aus der unionsrechtlichen Religionsfreiheit herzuleiten sind, kommen unter dem VVE noch deutlicher zur Geltung, da die Erklärung Nr. 11 zum primärrechtlich verbindlichen Art. I-52 VVE wird und die Religionsfreiheit in Art. 10 I EGRC sichtbar verankert wird. Diese beiden Normen führen im VVE die unionsrechtlichen und die mitgliedstaatlichen Aspekte des Religionsrechts ergänzend zusammen.
II. Kollektives Arbeits- und Dienstrecht 1. Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates (RiLi 1994/45/EG) Die Richtlinie über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates oder die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen vom 22. September 199443 betrifft Modelle der Mitbestimmung in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen. Der so genannte Dritte Weg zur Regelung der Mitbestimmung zwischen kirchlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern könnte hiervon betroffen sein44. Laut Art. 1 ist Gegenstand der Richtlinie die Stärkung des Rechts auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen. Dazu wird in allen gemeinschaftsweit operierenden Unternehmungen und Unternehmensgruppen auf Antrag der Arbeitnehmer ein Europäischer Betriebsrat eingesetzt oder ein Verfahren zur Anhörung und Unterrichtung der Arbeitnehmer geschaffen. Der Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst jedoch nur Unternehmen und Unternehmensgruppen, die insgesamt mindestens eintausend Arbeitnehmer haben und mindestens einhundertfünfzig Arbeitnehmer jeweils in mindestens zwei Mitgliedsstaaten (Art. 2 I) beschäftigen. Erbringen kirchliche Einrichtungen entgeltliche Dienstleistungen, so unterfallen sie dem Unternehmensbegriff des EU-Rechts45. Die Problematik dieser Richtlinie für das kirchliche kollektive Arbeitsrecht wird zwar dadurch geringer, dass es wenige kirchliche Arbeitgeber gibt, die die quantita43
ABl. 1994 L 254, S. 64 ff. Vgl. Link, ZevKR 42 (1997), S. 142; Vachek, S. 316; Weber, ZevKR 47 (2002), S. 242; Ehnes, KuR 1997, S. 222 (= KuR 140, 50); vgl. allgemein Dabrowski, Martin/Robbers, Gerhard (Hrsg.), Europa und das deutsche kirchliche Arbeitsrecht, Konfliktpunkte – Reformbedarf – Zukunftsperspektiven, Münster (Westf.) 2003; Müller-Volbehr, Gerd, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen, Heidelberg 1999. 44
II. Kollektives Arbeits- und Dienstrecht
365
tiven Merkmale (Beschäftigtenzahl) erfüllen, um in den Anwendungsbereich der Richtlinie zu gelangen. Entscheidend ist aber, dass ein kirchlicher Arbeitgeber prinzipiell genauso behandelt wird wie ein weltlicher, und er deshalb in seiner religiös-weltanschaulich begründeten Sonderstellung nicht wahrgenommen wird. Die in christlich geprägten Unternehmen etablierte Idee der Dienstgemeinschaft46 würde damit von der Richtlinie nicht zur Kenntnis genommen. Die Idee der Dienstgemeinschaft hindert zwar nicht die Ziele der Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer und spricht sicherlich nicht gegen die Arbeitnehmermitbestimmung. Doch das in der Richtlinie angelegte Modell der adversarialen Interessenvertretung, die letztendlich auf die Austragung eines Arbeitskampfes gerichtet ist, verträgt sich nicht mit der in Deutschland herrschenden Auffassung der Dienstgemeinschaft. Der europäische Gesetzgeber hat daher in Art. 8 III der Richtlinie eine Tendenzschutzklausel eingefügt. Sie erlaubt den Mitgliedsstaaten, für solche Unternehmen Sonderregeln vorzusehen, die in Bezug auf Berichterstattung und Meinungsäußerung eine bestimmte weltanschauliche Tendenz verfolgen, und wenn solche besonderen Bestimmungen im Zeitpunkt der Annahme der Richtlinie bereits im mitgliedsstaatlichen Recht enthalten sind. Der deutsche Gesetzgeber hat davon in § 34 EBRG für Tendenzunternehmen Gebrauch gemacht. Damit scheint der Dritte Weg von der Richtlinie 1994/45/EG unberührt. Für religiös-weltanschaulich geprägte Unternehmen im Binnenmarkt ist die Rücksichtnahme des Sekundärrechts auf nationale Sonderregeln mittels Tendenzschutzklauseln eine gangbare Lösung, ihren besonderen Charakter zu wahren. Eine weitere denkbare Lösung besteht darin, die unionsrechtliche korporative Religionsfreiheit aus Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK bzw. Art. 10 I EGRC fruchtbar zu machen. Dies eröffnet die Perspektive einer Regelung, die dem Ansatz des deutschen BetrVG parallel liegt. Innerdeutsch sind die Kirchen und ihre Unternehmen nicht über die Vorschrift des Tendenzschutzes in § 118 I BetrVG von der betrieblichen Mitbestimmung gemäß BetrVG ausgenommen, sondern ihre Sonderstellung ist in Art. 118 II BetrVG aus dem Selbstbestimmungsrecht als Ausfluss der korporativen Religionsfreiheit geregelt. In § 1 II des neuen Drittelbeteiligungsgesetzes (DrittelbG)47 wird eine vergleichbare Unterscheidung vorgenommen. Eine ähnliche Lösung ist mit Blick auf die unionsrechtliche korporative Religionsfreiheit aus Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK und spätes45 Zum Unternehmensbegriff vgl. EuGH, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979 Rn. 21 (Höfner und Elsner); EuGH, Rs. C-82/01, Slg. 2002, I-9297 Rn. 79 (Aéroports de Paris). 46 s. o. Kap. K.I.2.b)(2)(c). 47 DrittelbG vom 29.5.2005, BGBl. 2004 I S. 974 ff.
366
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
tens unter Art. 10 I EGRC auch auf EU-Ebene denkbar. Dazu müsste allerdings die Reichweite des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 10 I EGRC in Zukunft entsprechend weit gefasst werden. Wie oben dargelegt48, zeichnet sich eine derart extensive Fassung des Selbstbestimmungsrechts derzeit nicht ab. Die EU-Kommission hat eine Revision der Richtlinie 1994/45/EG angekündigt und dazu eine Konsultation durchgeführt. Darin werden religionsrechtliche Aspekte nicht gesondert aufgegriffen. Die Tendenzschutzklausel wird nicht zur Diskussion gestellt. Daraus kann geschlossen werden, dass die Kommission an dieser Regelung unverändert festhalten will. 2. Richtlinie 2002/14/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in der Europäischen Gemeinschaft Diese Richtlinie vom 11. März 200249 zielt darauf ab, Mindeststandards für das Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer von in der Gemeinschaft ansässigen Unternehmen oder Betrieben (Art. 1) einzuführen. Unternehmen und Betrieb sind definiert als Einheiten, die wirtschaftliche Tätigkeiten wahrnehmen; ein Erwerbszweck ist dabei nicht erforderlich (Art. 2). Unternehmen von Religionsgemeinschaften können daher ohne weiteres erfasst sein; erforderlich ist lediglich eine Mindestgröße von 50 bzw. 20 Mitarbeitern gemäß Art. 3. Auch durch diese Vorgaben können die spezifischen Modelle kirchlicher Mitbestimmung betroffen sein. Art. 3 II enthält daher eine Sonderregel, durch die die Mitgliedsstaaten ermächtigt werden, spezifische Bestimmungen für Unternehmen oder Betriebe vorzusehen, die unmittelbar und überwiegend konfessionellen, karitativen, erzieherischen oder künstlerischen Bestimmungen dienen. Dabei ist mit de Wall50 darauf hinzuweisen, dass aus Sicht der kirchlichen Arbeitgeber nicht das Ziel, die Arbeitnehmer zu informieren, problematisch ist, sondern das Problem darin besteht, dass eine Überstülpung rein weltlicher Regeln über die religiös-weltanschaulich geprägten Arbeitsverhältnisse droht, denen die Regeln für weltlich ausgeprägte Arbeitsverhältnisse nicht gerecht werden. Das Bestreben des Europäischen Parlamentes, die Sonderregel des Art. 3 II zu streichen51, ist aus 48
s. o. Kap. C.III.5.e). ABl. 2002 L 80, S. 29 ff. 50 de Wall, ZevKR 47 (2002), S. 210. 51 Stellungnahme des EP vom 14.5.1999, ABl. 1999 C 219, S. 223, und vom 16.9.1999, ABl. 2000 C 54, S. 55. Vgl. auch den Gemeinsamen Standpunkt des Ministerrates, ABl. 2001 C 307, S. 16. 49
III. Der Ansatz des Tendenzschutzes im Sekundärrecht
367
diesem Grunde bedenklich, weil das EP damit seinen eigenen weltlichen Maßstab auf Arbeitsverhältnisse übertragen will, die nach nationalen Gepflogenheiten durch ein religiös-weltanschauliches Selbstverständnis geprägt sind. Im Recht anderer Mitgliedsstaaten wird dies allerdings oftmals nicht als Problem gesehen52. Die Regelung des Art. 3 II der Richtlinie 2002/14/EG erinnert an die Tendenzklausel des Art. 8 III in Richtlinie 1994/45/EG, spricht jedoch bereits deutlicher einen religiösen Aspekt an, indem explizit auf konfessionelle und karitative Bestimmung Bezug genommen wird. Der europäische Gesetzgeber verliert im Jahre 2002 im Vergleich zu 1994 sichtbar die Scheu, Sachverhalte mit religiösem Bezug anzusprechen. In Erwägungsgrund Nr. 24 klingt die Erklärung Nr. 11 an, ohne dass der EU-Gesetzgeber sie ausdrücklich erwähnt, und ohne dass er sich auf die Statusrechte im eigentlichen Sinne beschränkt53. Unter dem VVE wird dann möglicherweise auch der Ansatz der Fruchtbarmachung des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts aus Art. 10 I EGRC in das Blickfeld des Sekundärrechtsgesetzgebers gelangen.
III. Der Ansatz des Tendenzschutzes im Sekundärrecht Die vorhergehenden Beispiele haben gezeigt, wie das (arbeitsrechtliche) Sekundärrecht primärrechtliche Vorgaben mittels der Figur des Tendenzschutzes umsetzt. Tendenzschutzklauseln dienen dem Zweck, grundrechtliche Gewährleistungen auf Seiten der Arbeitgeber zu sichern54. Die Gewährleistungen der unionsrechtlichen korporativen Religionsfreiheit werden vom EU-Gesetzgeber typischerweise mittels Tendenzschutzklauseln in das sekundärrechtliche Arbeitsrecht umgesetzt. Ausdrückliche Bereichsausnahmen für den religiös-weltanschaulichen Bereich kennt das Sekundärrecht dagegen nicht. Auch die Vorgaben des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts werden, soweit sie vom europäischen Gesetzgeber bislang erkannt werden, im europäischen Arbeitsrecht mittels der Figur des Tendenzschutzes umgesetzt. Der Ansatz, grundrechtliche Vorgaben im kirchlichen Arbeitsrecht als Tendenzschutz zu verstehen, stößt dagegen insbesondere im deutschen Staatskirchenrecht überwiegend auf Ablehnung55. Präferiert wird unter Hin52
Vgl. Vachek, S. 400 ff. Vgl. oben Kap. K.I.2. 54 Richardi/Thüsing, in: Richardi, BetrVG, § 118, Rn. 188; vgl. Droege, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), S. 210. 55 Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 6 Rn. 25 f.; Rüfner, HdbStKirchR, Bd. II, 2. Aufl., S. 905. 53
368
K. Religionsrechtliche Aspekte im Sekundärrecht
weis auf Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV der Ansatz einer Bereichsausnahme, die durch das Selbstbestimmungsrecht ausgefüllt wird. Doch auch im deutschen Staatskirchenrecht äußern sich Stimmen dahin gehend, kirchliche Sonderregelungen als Ausdruck eines besonderen Tendenzschutzes zu begreifen56. In Ermangelung einer so eindeutigen Rechtsgrundlage für eine Bereichsausnahme wie Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 III WRV liegt im Unionsrecht der Weg über den Tendenzschutz nahe. Dieser ist qualitativ auch nicht minderwertig gegenüber dem Ansatz einer Bereichsausnahme, und wie gezeigt ist er flexibel genug, um abweichende nationale Ansätze in unionsrechtlicher Perspektive bestehen zu lassen und zu integrieren. Die Einschätzung, dass der Ansatz, primärrechtlich-grundrechtliche Vorgaben mittels Tendenzschutzklauseln in das Sekundärrecht zu überführen, gegenüber dem Ansatz einer direkten Bereichsausnahme nicht minderwertig ist, ergibt sich aus der Überlegung, dass strukturell kein Unterschied besteht, ob die den Tendenzschutz ausfüllenden Wertungen ein umfassendes religiös-weltanschauliches Selbstverständnis zu berücksichtigen haben, oder ob sie „nur“ ein unternehmerisches Ziel wie die Meinungstendenz bei einem Medienunternehmen ermöglichen57. Der strukturelle Rahmen, den das Modell des Tendenzschutzes für die Beachtung dieser Besonderheiten bietet, erlaubt eine den grundrechtlichen Wertungen angemessene Gewichtung der religiös-weltanschaulichen Interessen. Der Tendenzschutz kann demnach die Wertungen eines umfassenden, alle Lebensbereiche erfassenden religiösen Selbstverständnisses eines kirchlichen Arbeitgebers angemessen berücksichtigen und zur Geltung bringen, wenn dieses Selbstverständnis im Konflikt steht mit einem individuellen Grundrecht eines Arbeitnehmers. Der ohnehin unter beiden Modellen notwendige Abwägungsvorgang zwischen Selbstverständnis des Arbeitgebers und dem Individualinteresse eines betroffenen Arbeitnehmers, den letztendlich staatliche Gerichte zu leisten haben, findet im europäischen Religionsverfassungsrecht innerhalb des Kontextes des tendenzschutzrechtlichen Ansatzes statt58. Entscheidend für das Ergebnis der Abwägung ist aber nicht ihre Verortung, sondern der Gehalt und die Gewichtung der gegenüberstehenden grundrechtlichen Positionen, und damit die materiell-inhaltliche Ausgestaltung des Selbstbestimmungsrechts im Rahmen der unionsrechtlichen korporativen Religionsfreiheit. Daher ergibt sich auch aus dem Tendenzschutzansatz nicht etwa zwangsläufig, dass kirchlich-weltanschauliche Arbeitsverhältnisse an Hand abgestufter Loyalitätserfordernisse zu werten sind, anstatt der Idee der 56 Droege, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), S. 209; Dieterich, in: Dieterich (Hrsg.), Erfurter Kommentar, Art. 4 GG Rn. 26. 57 Droege, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), S. 210. 58 Vgl. dazu Droege, in: Klinkhammer/Frick (Hrsg.), S. 225.
III. Der Ansatz des Tendenzschutzes im Sekundärrecht
369
Dienstgemeinschaft Rechnung zu tragen. Die Abwägung zwischen dem individuellen Grundrecht des Arbeitnehmers und dem korporativen Grundrecht des Arbeitgebers muss die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts für den Arbeitgeber reflektieren, was durchaus zu dem Ergebnis führen könnte, dass das Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft eine Abstufung in der Dienstgemeinschaft nicht zulässt und das individuelle Interesse des Arbeitnehmers dahinter zurückzutreten hat. Um dieses Ergebnis im Europarecht zu erreichen, müsste das unionsrechtliche Selbstbestimmungsrecht erweitert werden; unerheblich ist, ob dieses strukturell im Rahmen eines Tendenzschutzes oder einer Bereichsausnahme Berücksichtigung findet. Besorgnisse, der europarechtliche Ansatz des Tendenzschutzes sei dem deutschen Ansatz des Ausgleichs solcher Rechtsgüter wesensfremd, sind daher unbegründet. Mahnungen im deutschen Staatskirchenrecht, der Staat dürfe kirchliche Einrichtungen nicht zu Tendenzbetrieben „hinabstufen“, enthalten jedenfalls in unionsrechtlicher Perspektive kein Argument gegen den Ansatz des Tendenzschutzes, da er berechtigte grundrechtliche Schutzgüter der Religionsgemeinschaften effektiv schützen kann59. Denn das Ergebnis der Abwägung zwischen widerstreitenden Rechtsgütern hängt, wie soeben gesagt, nicht davon ab, ob die Abwägung im Kontext des Tendenzschutzes oder unmittelbar bei der Herstellung praktischer Konkordanz geschieht, sondern entscheidend davon, wie die Rechtsgüter ausgestaltet sind und gewichtet werden.
59 Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 6 Rn. 25 f.; Rüfner, HdbStKirchR, Bd. II, 2. Aufl, S. 905.
Zusammenfassung I.
Die Europäische Union hat sich von einer reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer Wirtschafts- und Werteunion entwickelt. Dies belegt der neue Verfassungsvertrag. In einer solchen Wirtschafts- und Werteunion stellen sich vielfältige religionsrechtlich relevante Fragen.
II.
Eine Bestandsaufnahme belegt, dass das Primär- und das Sekundärrecht der Union einen Bestand an religionsrechtlichen Normen aufweist (religionsrechtlicher acquis communautaire). Die Union verfügt weder unter dem EUV/EGV noch unter dem VVE über eine spezifische Kompetenz für Religionsrecht. Sie erschafft aber Religionsrecht, wenn die legislatorische Bearbeitung eines Sachgebietes ihrer Kompetenz inzidenter eine Mitregelung religionsrechtlich relevanter Aspekte erfordert. Auf diese Weise entsteht ein Bestand an „inzidentem Religionsrecht“ der Europäischen Union.
III.
Das inzidente Religionsrecht der Union stellt kein in sich geschlossenes Rechtsgebiet dar. Es besteht aus der Gesamtheit der inzidenter geschaffenen religionsrechtlichen Normen in den Kompetenzfeldern der Union. Die inzidenten Regelungen weisen aber jeweils Parallelen auf bzgl. ihres Entstehungsgrundes, ihrer Herleitung und ihres Konfliktlösungsansatzes. Daher liegen hier die Grundzüge eines systematischen Religionsrechts der Union vor.
IV.
Für diese Rechtsmaterie ist der Begriff „Religionsrecht“ geeignet, der in „Religionsverfassungsrecht“/„primäres Religionsrecht“ für die religionsrechtlich relevanten Normen des Primärrechts, und in „sekundäres Religionsrecht“ der Union für die entsprechenden Normen des abgeleiteten Rechts differenziert werden kann.
V.
Es existiert ein genuin unionsrechtliches Grundrecht der Religionsfreiheit in Art. 6 II EUV i. V. m. Art. 9 EMRK bzw. Art. 10 I EGRC. Dessen Inhalt lässt sich aus Art. 9 EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten herleiten. Daraus lassen sich bestimmte gemeinsame Strukturprinzipien der unionsrechtlichen Religionsfreiheit ableiten, die als deren gesicherter Inhalt gelten können.
VI.
Art. 10 I EGRC schafft das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht neu, sondern macht es sichtbar und systematisiert es; auch bereits vor der
Zusammenfassung
371
Aufnahme von Art. 10 I EGRC in das geschriebene Recht unter dem VVE ist die unionsrechtliche Religionsfreiheit verbindliches Recht. VII. Art. 10 I EGRC umfasst einen beschriebenen und einen unbeschriebenen Bereich der Religionsfreiheit. Der beschriebene Bereich besteht aus dem Wechseln und dem Bekennen der Religion (= forum externum). Der unbeschriebene Bereich kann inhaltlich erschlossen werden, bedarf aber noch genauerer Auslegung vor allem durch Rechtssprechung des EuGH und des EGMR. VIII. Art. 10 I EGRC übernimmt über Art. 52 III EGRC die Bedeutung und Tragweite des Art. 9 EMRK in das Unionsrecht. Dazu gehört der Schutzbereich des Art. 9 I EMRK und die Schrankensystematik des Art. 9 II EMRK. Dieser EMRK-Bestand muss sich aber in das EURecht einfügen. IX.
Die unionsrechtliche Religionsfreiheit enthält neben der individuellen eine korporative Dimension. Diese ist sowohl aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen als auch aus Art. 9 EMRK i. V. m. der Rechtssprechung zur EMRK herzuleiten.
X.
Das Urteil des EGMR in der Sache Hasan und Chaush ./. Bulgarien vom 26. Oktober 20001 überwindet den Repräsentationsgedanken und erklärt die korporative Religionsfreiheit als ein eigenständiges Recht einer Religionsgemeinschaft. Der EGMR interpretiert Art. 9 EMRK im Lichte der Vereinigungsfreiheit des Art. 11 EMRK und leitet daraus als Kernbestandteil des Art. 9 EMRK ein korporatives Recht einer Religionsgemeinschaft auf autonome Existenz her.
XI.
Die Betätigung von Religionsgemeinschaften lässt sich vor dem Hintergrund des Wirtschaftsrechts der EU in drei Bereiche einteilen, in denen die korporative Religionsfreiheit in unterschiedlicher Intensität wirkt. Dementsprechend werden die Normen des EU-Wirtschaftsrechts in unterschiedlichem Grad zurück gedrängt. Der primäre Bereich umfasst die inneren Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften. Er erfasst nichtwirtschaftliche, aber auch wirtschaftliche Aktivitäten. Hier verdrängt die korporative Religionsfreiheit weitgehend das Binnenmarktrecht; den Religionsgemeinschaften steht ein Selbstbestimmungsrecht zu. Der sekundäre Bereich ist durch eine Überlagerung von Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften und Binnenmarktrelevanz der Betätigung geprägt; es handelt sich schwerpunktmäßig um den karitativen Bereich und andere nach außen gerichtete religiöse Tätigkeiten wirtschaftlicher Natur. Hier muss praktische
1 EGMR, Urteil vom 26.10.2000, BNr. 30985/96 (Hasan und Chaush ./. Bulgarien).
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Zusammenfassung
Konkordanz hergestellt werden. Der tertiäre Bereich ist der der rein gewerblichen Betätigung der Religionsgemeinschaften. Das Wirtschaftsrecht gilt hier uneingeschränkt; nur in engen Ausnahmen kann die korporative Religionsfreiheit Vorrang beanspruchen. XII. Im persönlichen Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit stehen religiöse und weltanschauliche Vereinigungen. Das weltliche Recht darf das Merkmal „religiös“ wegen des maßgeblichen Selbstverständnisses einer Vereinigung nur als Rahmenbegriff vorgeben. Die Ausfüllung erfolgt nicht durch eine (quasi-)staatliche unionsrechtliche Definition, sondern durch einen dialogischen Ausfüllungsprozess: die Religionsgemeinschaft hat ein Darlegungsrecht und eine Darlegungspflicht; die Union ein Recht zu einer Plausibilitätskontrolle der behaupteten Eigenschaft „religiös“. Der sachliche Schutzbereich der korporativen Religionsfreiheit verdichtet sich im Bereich der inneren Angelegenheiten zu einem Selbstbestimmungsrecht; darüber hinaus muss er mit den kollidierenden Normen des Unionsrechts zum Ausgleich gebracht werden. Eine pauschale Bereichsausnahme für Religionsgemeinschaften vom EU-Wirtschaftsrecht begründet er nicht. XIII. Das Selbstbestimmungsrecht einer Religionsgemeinschaft als Teil der unionsrechtlichen korporativen Religionsfreiheit ist nicht abschließend definiert. Der EGMR entwickelt im Urteil Hasan & Chaush einen „funktionalen Ansatz“ als Definitionsmethode: maßgeblich für die Autonomie ist das Recht der Religionsgemeinschaft, „friedlich zu funktionieren, frei von willkürlichem Einschreiten des Staates“. Damit ist eine Autonomie gewährt, die inneren Angelegenheiten selbst zu regeln. Zum friedlichen Funktionieren zählt das Recht, interne Entscheidungen im Einklang mit dem Selbstverständnis so zu treffen, dass die Glaubwürdigkeit der Religionsgemeinschaft gewahrt ist. XIV. Der bislang erkennbare Inhalt des unionsrechtlichen Selbstbestimmungsrechts umfasst daher u. a. die Personalhoheit/Ämterfreiheit und Organisationshoheit, jedoch begrenzt auf den inneren Bereich, der nach der Vorstellung der Religionsgemeinschaft durch Regeln göttlichen Ursprungs geprägt ist, einer religiösen Bevollmächtigung bedarf oder für die Glaubwürdigkeit der Religionsgemeinschaft bedeutend ist. XV. Die Religionsfreiheit als Grundrecht der EU und die Grundfreiheiten des EGV sind grundsätzlich gleichrangig. Im Kollisionsfalle ist praktische Konkordanz herzustellen; die korporative Religionsfreiheit gewährt keine Pauschalausnahme vom EG-Wirtschaftsrecht. Die Abwägung ist vor dem Hintergrund der Differenzierung der Tätigkeiten einer Religionsgemeinschaft in den primären, sekundären und tertiären Bereich vorzunehmen. Die Dogmatik des EuGH ist noch lückenhaft
Zusammenfassung
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für Fälle, in denen ein Grundrecht als Schranke einer Grundfreiheit fungiert. XVI.
Kollidiert eine Grundfreiheit wegen ihrer unmittelbaren Drittwirkung mit der korporativen Religionsfreiheit, so ist die Lösung durch Herstellen praktischer Konkordanz zu finden. Der Ausgleich der Rechtsgüter ist unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Schutzzwecke vorzunehmen: die Grundfreiheit schützt primär den Binnenmarkt und damit das Allgemeinwohl, nur sekundär Individualinteressen. Neben dem Individualinteresse muss daher auch das Allgemeininteresse am Gemeinsamen Markt gefährdet sein. Daher ist ein Spürbarkeitskriterium bzgl. der Beeinträchtigung des Binnenmarktes zu fordern. Vorrang erhält die Grundfreiheit nur, wenn auch in dieser Konstellation das Allgemeininteresse am Binnenmarkt die Religionsfreiheit überwiegt.
XVII. Die Statusrechte der Religionsgemeinschaften nach dem mitgliedsstaatlichen Recht werden unter dem EUV/EGV unverbindlich durch die Erklärung Nr. 11 geschützt, erfahren aber eine erhebliche Aufwertung in den Rang des Primärrechts durch Art. I-52 I, II VVE Der „Status“ umfasst die institutionellen Rechte der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedsstaaten und den Grundbestand an wesensprägenden Strukturen und Normen des nationalen Staatskirchenrechts. XVIII. Art. I-52 I, II VVE enthält ein subjektives Recht der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und weist daher grundrechtsähnlichen Charakter auf. XIX.
Art. 10 I EGRC und Art. I-52 I, II VVE wirken ergänzend zusammen: der Schutz durch die genuin unionsrechtliche Religionsfreiheit wird komplementiert durch die „Verlängerung“ nationaler Statusrechte auf die EU-Ebene. Beide Komponenten sind eigenständige Bestandteile eines mehrteiligen unionsrechtlichen Schutzregimes.
XX.
Art. I-52 III VVE enthält eine Dialogverpflichtung der EU mit den Religionsgemeinschaften. Diese Norm macht den Grundsatz der partizipativen Demokratie in einer speziellen Form für die Religionsgemeinschaften fruchtbar und ist der Ansatz einer ersten Institutionalisierung des Verhältnisses der EU zu den Religionsgemeinschaften.
XXI.
Das primäre Religionsrecht der EU wird in Art. 22 EGRC um den Aspekt der Vielfalt der Religionen ergänzt. Art. 22 EGRC ist jedoch trotz seiner Stellung in der EGRC kein Gleichheitsgrundrecht, sondern ein bloßer Programmsatz der EU.
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Zusammenfassung
XXII. Die Maßnahmenkompetenz des Art. 13 EGV zur Bekämpfung der Diskriminierung auf Grund religiöser Kriterien kann mit den berechtigten Interessen der Religionsgemeinschaften kollidieren, ihrerseits gemäß religiöser Motive zu differenzieren. Die berechtigten Interessen der Religionsgemeinschaften müssen bei der Schaffung von Sekundärrecht auf Grund des Art. 13 EGV durch die Beachtung der korporativen Religionsfreiheit und der Erklärung Nr. 11 gewahrt werden. Unter dem VVE verfügt die Union in Art. 21 EGRC über ein verbindliches Diskriminierungsverbot auf Grund der Religion sowie eine dem Art. 13 EGV entsprechende Maßnahmenkompetenz in Art. III-118, III-124 VVE; der notwendige Ausgleich mit den berechtigten Interessen der Religionsgemeinschaften geschieht dort über die verbindlichen Art. 10 I EGRC und Art. I-52 I, II VVE. XXIII. Der Schutz der nationalen Identität (Art. 6 III EUV/Art. I-5 I VVE) umfasst die Grundzüge der jeweiligen Staat-Kirche-Ordnung; er bietet aber faktisch kaum Schutz vor Eingriffen, da der EU ohnehin eine diesbezügliche Kompetenz fehlt. Über die nationale Identität kann keine Pauschalausnahme für das gesamte Staatskirchenrecht eines Mitgliedsstaates hergeleitet werden. XXIV. Das Subsidiaritätsprinzip bietet dem nationalen Staatskirchenrecht keinen unmittelbaren Schutz, da es nur Bereiche der konkurrierenden Zuständigkeit erfasst. Somit werden staatskirchenrechtliche Fragen nicht Gegenstand isolierter Subsidiaritätsprüfung. Nur in Ausnahmefällen profitieren nationale religionsrechtliche Regelungen inzidenter vom Subsidiaritätsprinzip. Der VVE erhöht die Effektivität des Subsidiaritätsprinzips, setzt aber stärker als zuvor auf den Schutz durch Verfahren und verbessert nicht die strukturellen Defizite des Subsidiaritätsprinzips für das nationale Religionsrecht. XXV. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip schützt das nationale Religionsrecht vor übermäßigen unionsrechtlichen Eingriffen, da es die Kompetenzausübung der EU auf ein solches Maß beschränkt, wie es für die Erreichung der Ziele der EU erforderlich ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip erfasst auch die Betroffenheit von Rechtsgebieten, die nicht in der Zuständigkeit der EU liegen, und kann daher strukturell das Religionsrecht schützen. XXVI. Das Kulturrecht des EUV/EGV wie auch des VVE betrifft das Religionsrecht nicht, da es nicht die spezifisch religiöse Dimension eines Gegenstandes als solche erfasst. Art. 151 EGV bzw. Art. III-280 VVE vermitteln der EU keine religionsrechtliche Kompetenz.
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XXVII. Das „inzidente“ Religionsrecht der EU ist zurzeit ein System, das ohne spezifisch religionsrechtliche Kompetenz der EU aus verschiedenen Komponenten besteht. Diese Komponenten wirken arbeitsteilig zusammen. Die beiden wichtigsten sind die Religionsfreiheit (insbesondere in ihrer korporativen Dimension) sowie der Statusschutz (Erklärung Nr. 11/Art. I-52 I, II VVE). Diese Komponenten stellen einen objektiv-rechtlichen Rahmen bereit und vermitteln subjektiv-rechtliche Positionen. Sie stellen die Grundzüge eines Religionsrechts der Union dar, das im Grundsatz ein effektives Schutzregime für berechtigte Interessen von Religionsgemeinschaften gewährleistet. XXVIII. Die religionsrechtlichen Regeln des Primärrechts beeinflussen nachweislich die Gestaltung des Sekundärrechts. Praktisch bedeutsamstes Mittel der Rechtssetzungstechnik zur Beachtung der Belange von Religionsgemeinschaften sind Ausnahmeregelungen; dies gilt vor allem für Diskriminierungsfragen im Arbeitsrecht. XXIX.
Der VVE bringt keine strukturellen Veränderungen für das Grundrecht der Religionsfreiheit der Union, doch bedeutet einen Fortschritt durch die Aufnahme der Religionsfreiheit in das geschriebene Recht der Union. Dadurch wird die korporative Dimension in der Ausprägung auch durch die EMRK einschließlich des Selbstbestimmungsrechts stärker zur Geltung gebracht. Eine wichtige strukturelle Weiterentwicklung des Religionsrechts der EU ist die Aufnahme des Art. I-52 VVE in das Primärrecht und somit die Komplementierung der Religionsfreiheit um den rechtlich verbindlichen Statusschutz.
Summary I.
The European Union has evolved from an economic union into a union of values. The new Constitutional Treaty testifies to this. In the context of this European Union manifold questions on church-Union law as well as church-Union relations arise.
II.
An inventory shows that primary (Treaty) and secondary law of the Union contains a stock of religion-related norms (acquis communautaire on religion, or religious acquis communautaire). The Union is not endowed with any specific competence for legislation on religion, neither under the EU-/EC-Treaty nor under the Constitutional Treaty. However, the Union produces religion-related norms when legislative action on a particular topic under EU competence incidentally requires the creation of problem solving rules on relevant religious aspects. In this way, an acquis of „incidental law on religion“ of the European Union is created.
III.
The incidental law on religion of the Union does not constitute a uniform, self-contained body of norms. It consists of the entirety of rules of incidentally created religion-related norms, dispersed over the various fields of competence of the Union. However, those scattered incidental rules show similarities, pertaining to their reason of creation, their sources and derivation, and their approach to conflict resolution. Therefore, we have the essential foundations of a systematic, though rudimentary, law on religion of the European Union at hand.
IV.
The appropriate term for this legal matter is „law on religion“, which can be differentiated into „Treaty (resp. Constitutional) law on religion“/„primary law on religion“ denoting the religiously relevant norms of the Treaty law, and „secondary law on religion“ or „derived law on religion“ for the religiously relevant norms in secondary law.
V.
Freedom of religion is a genuine principle of EU law, contained in Article 6 sec. 2 EU-Treaty, Article 9 ECHR and Article 10 sec. 1 European Charter of Fundamental Rights (ECFR). Its substance can be derived from Article 9 ECHR and the common constitutional traditions of the Member States. Article 9 ECHR and Member States’ concepts of church-state relations have in common certain structural principles, which help to establish the substantive content of the concept of freedom of religion in EU law.
Summary
VI.
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Article 10 sec. 1 ECFR does not re-invent the concept of freedom of religion, but rather visualizes, locates and systematizes it. Even before the adoption of Article 10 ECFR into the codified law of the Constitutional Treaty (and its projected entry into force), the concept of religious liberty is binding law of the European Union.
VII. Article 10 sec. 1 ECFR encompasses a specified and an unspecified sector of religious liberty. The specified sector comprises changing and manifesting religion (i. e. the forum externum). The unspecified sector can be developed by inference, but yet needs more precise interpretation particularly through jurisprudence of the Court of Justice of the European Union and the European Court of Human Rights. VIII. Article 10 sec. 1 ECFR adopts, via Article 52 sec. 3 ECFR, meaning and scope of Article 9 ECHR. This includes the scope of protection as defined by Article 9 sec. 1 ECHR as well as the limitations in Article 9 sec. 2 ECHR. This acquis of the Convention must, however, be adapted to the context of EU law. IX.
Religious liberty in Union law contains, in addition to its individual dimension, a corporate dimension. The corporate dimension can be derived from the common constitutional traditions of the Member States as well as from Article 9 ECHR in conjunction with ECHR jurisprudence.
X.
The judgement of the European Court of Human Rights re Hasan & Chaush v. Bulgaria of October 26, 2000 has overcome the former concept of representation and establishes the corporate dimension of religious liberty as an original right of a religious community. The religious community itself is bearer of this right, independently of individual members and not merely in its function as a collective of its members, as the concept of representation has held. The European Court of Human Rights interprets Article 9 ECHR in the light of the Freedom of Assembly of Article 11 ECHR, and construes from there the corporate right of a religious community, containing as its core element the right of autonomous existence.
XI.
Economic activities of religious communities can be grouped into three fields, with a view to EU Internal Market law (primary/secondary/tertiary field). The corporate dimension of religious liberty exerts its power in different degrees, depending on the field. Rules of Internal Market law recede accordingly. The primary field comprises the internal affairs of religious communities, including internal economic affairs. Here corporate freedom of religion in the form of church autonomy prevails over Internal Market law. The secondary field is
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Summary
characterized by a mélange of church autonomy and Internal Market relevance of religious activity. Typical activity in the secondary field is charity work, which has economic implications and may impact on the Internal Market. Here the task is to reconcile freedom of religion and Internal Market rules by compromise. The tertiary field covers purely commercial activity of religious communities with no immediate religious mission (e. g. church banks, real estate and assets management for investment purposes, etc.). Here Internal Markets rules apply in full scope and force; only in very exceptional cases exemptions are conceivable. XII. The personal scope of protection of the corporate freedom of religion covers religious, philosophical and non-confessional communities. Secular norms may only define a framework notion of the term „religious“, so as to respect the right of largely autonomous self-definition of such movements. The full definition of the term „religious“ cannot be achieved unilaterally by secular authority. It requires a bilateral definition through dialog: the applicant community has the right and burden of demonstration to show that it meets the „religious“-requirement, whereas secular authorities have the right to perform a validity check of that assertion. The material scope of protection of the corporate freedom of religion condenses into a right to self-determination or autonomous existence, which covers the realm of internal affairs. Beyond this area of internal autonomy, corporate freedom of religion has to be weighed against conflicting norms of Union law and reconciled by compromise; there the material scope of protection does not offer a general blanket exemption from EU law. XIII. The area of autonomy of a religious community under EU corporate freedom of religion has not yet been defined in concrete terms. The European Court of Human Rights in the case of Hasan & Chaush has adopted a „functional approach“ as a defining method: the yardstick for the guaranteed autonomy is the right of a religious community „to function peacefully, without arbitrary state intervention“ [cf. ECHR, Judgment of Oct. 26, 2000, Reports 2000-XI, Hasan & Chaush v. Bulgaria]. This guarantees the autonomy to govern all internal affairs independently. Functioning peacefully includes the right to make internal decisions in accordance with the freely self-determined principles of the respective faith and religious conceptions, so as to ensure and maintain the credibility of the religious community and its faith, both internally and externally. XIV. The identifiable substance, as of now, of religious community autonomy under Union law comprises autonomy in personnel matters, free-
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dom in appointing to and removing from office, organizational autonomy, mission and teaching, management of assets and property as well as judicial proceedings; each however confined to that internal realm which is characterized in the conception of the faith as based on rules of divine origin, requiring special religious authority, or is vital for the internal and external credibility of a religious community. XV.
Religious liberty as a fundamental right of Union law and the fundamental freedoms of the Internal Market are in principle on par as to their legal rank. In case of conflict they have to be reconciled by compromise; neither does corporate religious liberty grant a block exemption nor does Internal Market law override religious freedom. The necessary weighing of the conflicting positions is assisted by attributing the activity in question to either the primary, secondary or tertiary field of activity as explained in sec. XI. Concerning the cases in which a fundamental right acts as a limitation of a fundamental freedom of the Internal Market, reasoning and methodology of the Court of Justice for the task of weighing is still deficient. Therefore the Court’s jurisprudence is little conclusive in determining where exactly the prevalence of the fundamental freedom yields to the fundamental right.
XVI.
In case of a fundamental freedom of the Internal Market conflicting with corporate freedom of religion through its direct effect on third persons, the solution must be found in reconciling both positions by compromise. This reconciliation needs to take into account the specific cause of each position in conflict: while the fundamental freedom primarily serves the Internal Market and simultaneously the general interest, it serves the individual interest only secondary. Therefore, in order to establish a violation of a fundamental freedom of the Internal Market, it must be shown that over and beyond an adverse impact on an individual interest through direct effect, the general interest in the functioning of the Internal Market is at risk. Thus the general adverse impact on functioning of the Internal Market must be of a noticeable importance. The fundamental freedom of the Internal Market prevails only where the general interest in the functioning of the Internal Market supersedes the individual interest in freedom of religion.
XVII. The status of religious communities under their respective national jurisdictions is respected under the EU-/EC-Treaty through the (non-binding) Declaration No. 11 to the Treaty of Amsterdam. Under the Constitutional Treaty, this Declaration will achieve the status
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Summary
of binding law as art. I-52 sec. 1 & 2. The „status“ comprises the institutional rights of religious communities in their Member States and the stock of fundamental norms which characterize church-state relations in a Member State. XVIII. Art. I-52 sec. 1 & 2 Constitutional Treaty have direct effect and confer a right on individual religious, philosophical and non-confessional communities. The nature of the norm therefore resembles fundamental rights; it can be qualified as a quasi-fundamental right. XIX.
The Constitutional Treaty proposes a sophisticated concept of protection for religious communities’ rights. Art. 10 I ECFR and art. I-52 sec. 1 & 2 Constitutional Treaty act in conjunction: the protection afforded by Union law freedom of religion is complemented by the „prolongation“ of rights of a religious community under its national status onto the EU level.
XX.
Art. I-52 sec. 3 Constitutional Treaty contains an obligation on the part of the Union to maintain a dialog with religious communities. Form and nature of this dialog are explicitly qualified by the norm. However, the norm does not confer a subjective right on any particular religious community to be a participant in the dialog. Such a right may, however, under specific circumstances, follow from the principles of equal treatment and non-discrimination. Art. I-52 sec. 3 Constitutional Treaty seizes on the principle of participatory democracy develops it for the context of politics-faiths relations of the Union. It is the first constitutional foundation for a developing institutional framework for relations between the EU and religious communities.
XXI.
The Treaty law on religion is complemented in art. 22 ECFR with the aspect of religious diversity. Art. 22 ECFR does not confer subjective rights on an individual religious community. It is, despite its position in the ECFR, not a fundamental right of equal treatment, but a declarative statement for Union policy.
XXII. The EU competence contained in art. 13 EC-Treaty to combat discrimination on grounds of religion may conflict with legitimate interests of religious communities to discriminate on their part on the grounds of religious criteria. Those legitimate interests of religious communities must be respected when the Union legislates on the basis of art. 13 EC-Treaty. This mandates the due respect for corporate freedom of religion and the Declaration No. 11. Once the Constitutional Treaty enters into effect, Art. 21 ECFR will be a binding norm prohibiting discrimination on the grounds of religion,
Summary
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linked to a competence in art. III-124 Constitutional Treaty for combating discrimination. The necessary reconciliation with the legitimate interests of religious communities to discriminate on their part on the grounds of religious criteria will be achieved under the then-binding art. 10 I ECFR and art. I-52 sec. 1 & 2 Constitutional Treaty. XXIII. The respect of the Union of Member States’ national identities (art. 6 sec. 3 EU-Treaty/art. I-5 sec. 1 Constitutional Treaty) includes the structural principles of national church-state relations; however, this entails virtually no protection in practice as the Union lacks competence to interfere directly. A block exemption from any, even indirect, effect on religious communities cannot be construed from the principle of respect for national identities. XXIV. The subsidiarity principle does not afford direct protection of national church-state relations, as it covers only the area of shared competences. As Member States have not conferred competence pertaining to church-state relations upon the Union to share with them, matters relating to church-state policy cannot be the object of a subsidiarity test. It is only by coincidence that national churchstate relations profit from the subsidiarity principle, namely in cases where a Union initiative, which falls within the area of shared competence and is blocked by a positive subsidiarity test, would have also had adverse effects on national church-state norms. The Constitutional Treaty and the attached Subsidiarity Protocol enhances the effectiveness of the subsidiarity principle while strengthening procedural safeguards of subsidiarity. However, it does not remedy the structural inapplicability of subsidiarity on church-state matters. XXV. The principle of proportionality (art. 5 sec. 3 EC-Treaty; art. I-11 sec. 4 Constitutional Treaty) protects national church-state relations from excessive interference of the EU, as it limits content and form of Union action to what is necessary to achieve the legitimate objectives of the Union. The proportionality principle thus offers a protective influence even in those areas which do not fall within exclusive or shared Union competence. Because its scope of application is broader than that of the subsidiarity principle, it is structurally more apt to afford protection to national church-state matters. XXVI. The provisions of the EU-/EC-Treaties as well as the Constitutional Treaty on culture do not affect church-state relations as such, as they do not address the specifically religious character of an item mentioned in them. Art. 151 EC-Treaty and art. III-280 Constitu-
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Summary
tional Treaty do not confer any competence in religion law upon the Union. XXVII. The incidental law on religion of the European Union is, at this point, a system which, without a competence of the Union to legislate directly and comprehensively on religion-state matters, consists of several components. These components act together in a complementary fashion. The two most prominent ones are freedom of religion (especially in its corporate dimension) and the status protection clause (Declaration No. 11/art. I-52 sec. 1 & 2 Constitutional Treaty). These components supply a systematic legal frame and confer individual rights and privileges. They are the foundations of a Union framework on religion law. This framework on religion law guarantees in principle an effective protection regime for legitimate interests of religious communities. XXVIII. It can be demonstrated that the norms on religion in Treaty and Constitutional Law of the Union have an impact on the design of derived legislation. In legislative practice, the most important technique for respecting the legitimate interests of religious communities is the instrument of exemption. This is particularly valid in the field of employment law. XXIX.
The Constitutional Treaty does not entail structural changes for the fundamental right of religious liberty, but it brings about progress by incorporating freedom of religion into the written binding law of the Union. With that, the corporate dimension, as it has been developed also under the ECHR and including the principle of autonomy of religious communities, will be better accentuated and established. An important structural evolution of Union law on religion under the Constitutional Treaty is the insertion of art. I-52 Constitutional Treaty and, thereby, the complementation of freedom of religion with the legally binding status protection.
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Stichwortverzeichnis Gerichtsentscheidungen stehen kursiv. acquis communautaire 24, 61, 159, 174, 240, 310, 324, 345, 357, 370 Ämterfreiheit 214, 372 Annexkompetenzen 63, 66 Arbeitnehmerfreizügigkeit 221, 235–236, 240, 242, 244–248, 255, 357 Arbeitsrecht 21, 49–51, 59–60, 97, 159, 242, 299, 319, 326, 356, 358, 364, 367, 369, 375, 384, 386, 390–392 Arrowsmith ./. Vereinigtes Königreich 110, 121, 123–124 Atheismus 110 Autonomie 26, 94–96, 167, 211, 214, 372 Belgien 32, 37, 91, 95, 172, 236, 244 BEPA Siehe Bureau of European Policy Advisors 23 Bestandsaufnahme 24, 26, 61, 64, 130, 159, 176, 271, 287, 341, 346, 370 Bosman 82, 184, 234–236, 240–241, 247–248, 251, 255 Buddhismus 110 Bureau of European Policy Advisors 23 Campbell & Cosans 109 CELEX 42 Christentum 110 Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis 75
Dänemark 37, 90, 245 Datenschutzrecht 51–52, 58, 60, 62, 159, 326 Deliège 82, 234, 241 Deutschland 91, 93, 95, 160, 195, 217, 244, 301, 318–319, 362, 365 Dialoggebot 27 Dialogverpflichtung 73, 281, 285, 373 Divine Light Zentrum 110 Drei-Bereiche-Struktur 180 Dritter Weg 364–365 Druiden 110 EGKS 32–33, 77 EGMR 39–40, 87, 105, 108–109, 112–114, 121, 125–127, 129–130, 141, 143–147, 208–211, 214–216, 218–222, 224, 226, 228–230 EGRC 36, 76, 79–80, 83–84, 87, 89, 100–110, 289–295 Eigentumsrecht 224 EMRK 35–36, 76, 78, 80, 84, 86–89, 92, 100, 160–162, 226–228 England 84, 90, 93–94, 245 Erdbeerstreit 82 Erklärung Nr. 11 48, 260, 262–263, 267–269, 271, 273, 280–281, 290, 292–294 ERT 82, 234–235 EU-Kommission 23, 44, 149, 225, 239, 346, 348, 350, 366 EU-Verfassungsprozess 24 Europäische Charta der Grundrechte Siehe EGRC 25
Stichwortverzeichnis Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 32 Europäische Kommission für Menschenrechte 40 Europäische Menschenrechtskonvention Siehe EMRK 38 Europäische Politische Gemeinschaft 33 Europäischer Betriebsrat 50, 348, 364 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 40 Europäisches Parlament 34, 323, 334 Europarat 30, 36–38 Europarecht 19, 23, 32, 145, 245, 274, 277, 342, 369, 383, 385–386, 388, 390–392 Europol 23, 44, 58, 59 Familiapress 82, 234–235 Finanzhoheit 97, 171, 224 Finnland 90, 94 forum externum 46, 92, 106, 119, 123, 125, 127–128, 130, 132, 134, 143–144, 371, 377 forum internum 46, 92, 106, 112, 119–120, 127, 131–135, 143, 292, 305 Frankreich 19, 32, 37, 82, 91, 93, 95, 110, 121, 147, 166, 236, 290, 316, 318 Frauenordination 94, 215 funktionaler Ansatz 31, 190–191, 210–213, 222, 224 Gedankenfreiheit 104, 106, 112, 129, 131–133, 135, 143–144, 200 gewerbliche Betätigung 180, 182 Gewissensfreiheit 107–108, 112, 132–135, 143, 200, 227 GOPA Siehe Bureau of European Policy Advisors 23 Group of Policy Advisors Siehe Bureau of European Policy Advisors 23 Grundfreiheiten 27, 35, 38, 40, 57, 65, 76, 80–81, 83, 145, 154, 156,
395
181, 230, 233, 235–241, 243–244, 247–249, 251–252, 255, 275, 357, 372, 385–386, 388, 392–393 Grundrechte 35–36, 39–40, 47–48, 59, 60, 62, 77, 79–81, 83, 100–101, 117, 132, 135–136, 138–139, 141–142, 146, 154, 157, 160, 168, 172, 183, 186, 228, 231–233, 235, 237–238, 249, 251–252, 254, 257, 276, 300, 352, 360 Grundrechtecharta 76, 78, 100, 102, 107 (siehe auch EGRC) Haager Kongress 38 Hasan & Chaush ./. Bulgarien 161, 191 Hauer 78, 82, 234 Heilige Klöster ./. Griechenland 125 Hinduismus 110, 188 Identität 28, 37, 140, 233, 249, 261–262, 264, 281, 284, 312–320, 322, 344 implied powers 63, 66 innere Angelegenheiten 95–96, 180, 200, 226 Internationale Handelsgesellschaft 36, 45, 77, 79, 83–84, 160, 174 invocatio dei 23, 316 inzidentes Religionsrecht 25 Irland 19, 37, 39, 91, 93, 95 ISKCON et al. ./. Vereinigtes Königreich 110, 152, 230 Islam 110, 188 Italien 19, 32, 37, 56, 91, 95, 98, 152, 194, 244, 254 Judentum 110 karitative Tätigkeiten 180, 203 Kokkinakis ./. Griechenland 113, 125–126, 129, 154, 156, 221, 248
396
Stichwortverzeichnis
Kompetenzen 37, 63–68, 71–72, 78, 131, 142, 184, 228, 258, 268, 288, 293, 296, 298, 320–321, 323, 325–326, 333 Kompetenzen kraft Sachzusammenhangs 63, 66 konfessionelles Staatsamt 362–363 Konvent zur Zukunft Europas 21, 36, 79, 101 Körperschaften öffentlichen Rechts 196 Kultur 28, 68, 225, 267, 285, 313, 316, 341–344 Kulturgüterrecht 57, 60, 62 Kulturrecht 28, 341, 345, 374 Laizität 55, 58, 72, 91, 95, 185, 285, 316 Larissis ./. Griechenland 125, 154 Lebensmittelrecht 53–55, 60, 62, 153, 159, 178 Lehrtätigkeit 221 Luxemburg 32, 37, 91, 95–96, 218, 244–246, 383 Malta 20, 56, 152 Manoussakis et al. ./. Griechenland 125, 127, 152, 230 Markenrecht 55, 60 Medienrecht 52, 60, 62 Menschenrechte 18–19, 30, 33, 35, 37–38, 40, 77, 87, 121, 145, 386, 389, 393 Metropolitanische Kirche von Bessarabien et al. ./. Moldawien 145, 151, 162, 166, 202, 210, 219–222, 228–229 Michalski-Gruppe 23 Mission 191, 221 Neutralität 92, 201–202, 224, 286 Nicht-Diskriminierung 28, 157, 346 Niederlande 91, 95 Nold 78, 82, 209, 234, 238
Öffentliche Gesundheit 153, 230 Öffentliche Moral 154, 230 Öffentliche Ordnung 152, 229 Öffentliche Sicherheit 151, 227 Omega 83, 234 ordre public 39, 119, 152, 392 Organisationshoheit 90, 97, 99, 165, 167, 171, 219, 221, 372 Österreich 20, 91, 96, 151, 153, 174, 383 Parität 201–202, 286 Pazifismus 110, 121–122 Personalhoheit 90, 97, 99, 163, 165, 177, 214–215, 217–219, 226, 301 Politischer Beraterstab Siehe Bureau of European Policy Advisors 23 Portugal 56, 91, 152 Prais 45, 84–85, 87, 108, 130, 192, 306 Primärer Bereich 180, 203, 249 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 63–64, 67, 71, 184–185, 257, 268, 298 Proselytismusverbot 154 Rechtspersönlichkeit 93, 164–165, 184, 198, 222–224 Registrierung 164–165, 222, 224 Religion 23, 27, 29, 41–45 Religionsfreiheit 23, 26–29, 40, 45, 47, 56, 62, 64–65, 75–76, 294–295 Religionsrecht 24, 26–29, 61–63, 67–71, 73–75, 87, 92 Religionsrecht der Europäischen Union 24, 29, 62, 73, 87, 392 Religionsverfassungsrecht 62, 70, 73–75, 295, 357, 368, 370, 387 Repräsentationsgedanke 162, 165–166, 371 Richtlinie 2000/78/EG 28, 49, 64–65, 177, 217, 261, 280, 300, 302, 309, 335, 346–348, 356, 362 Römische Verträge 33, 77 Rutili 82, 234
Stichwortverzeichnis Schmidberger 83, 234, 238 Schranken 81, 95, 105–106, 115, 119, 126, 134–136, 138–139, 142–145, 151–152, 155, 157–158, 200, 221, 226, 228, 234–235, 237–239, 247, 255, 319, 325 Schutzregime 25, 27–28, 280, 312, 375 Scientology 110, 161, 256–257, 264 Sekundärer Bereich 181, 203, 250 Selbstbestimmungsrecht 26, 89, 94–97, 99, 175, 180, 182, 200, 205–209, 214, 217–218, 223, 226, 249, 300–301, 308, 311, 356–357, 362–363, 365, 368–369 SMW 82, 234 soft law 46, 59, 61, 261, 352 Spanien 56, 91, 98, 152, 290 spill-over effect 31 Staatskirche 72, 86, 88, 90, 93–94, 98, 118, 198–199, 254, 330, 362 Staatskirchenrecht 25, 41, 69–73, 75, 175, 206, 213, 217, 261, 268, 270, 272, 276, 295, 308, 311, 315, 326–328, 340, 344, 355, 363, 367, 369 status positivus 130 Stauder 36, 45, 77, 83 Steuerrecht 55, 58, 60, 159 Steymann ./. Staatssecretaris van Justitie 108 Strukturprinzipien 26, 92, 96, 99, 370 Subsidiarität 28, 264, 323, 325, 327–330, 332, 334, 338, 340 Subsidiaritätsprinzip 28, 247, 323–329, 332–333, 339, 374 Tendenzschutz 363, 365, 367–369 Tertiärer Bereich 182, 205, 253 Tierschutz 49, 53–55, 60, 62, 287–289 Toleranz 62, 92, 201–202, 265, 286 Türkei 20, 104, 110, 152, 228, 306
397
Umweltrecht 56, 60 Unmittelbare Drittwirkung 240, 254 Urheberrecht 52, 60 van Roosmalen 108, 242, 244 Vereinigungsfreiheit 82, 89, 167–168, 170, 172–174, 176, 184, 220, 247–248, 371 Verfassungskonvent 21, 67, 71, 76, 101, 260, 262, 266, 279, 281, 321, 328–329, 338 Verfassungstraditionen 35, 78, 100, 174–175, 192, 202, 209 Verfassungsüberlieferungen Siehe Verfassungstraditionen 175 Verfassungsvertrag 24, 71, 76, 81, 83–84, 100–102, 175, 232, 257, 262, 370 Verhältnismäßigkeitsprinzip 28, 283, 332–333, 335, 337–338, 374 Vertragsabrundungskompetenz 63–64 Vollstreckungsrecht 56, 60 Weltanschauung 23, 41, 45, 47, 52, 64–65, 69, 71, 74–75, 84, 89–90, 92–94, 96, 103, 108–111, 113–114, 116, 118–125, 127, 134–135 Werbung 52, 259 Wertegemeinschaft 24, 31–32, 35–37, 41, 43, 61, 65, 156, 189, 264, 266, 341 Wesensgehaltsgarantie 137, 157–158 Wicca 111, 114, 192 Wirtschaftsgemeinschaft 31, 33, 35, 41, 43, 45, 188, 314, 370 Wirtschaftsrecht 19, 51, 57, 60, 180–181, 190, 203–204, 226, 235–236, 240, 250, 372 Wohlfahrtspflege 97, 181–182, 195, 204, 250, 299, 318, 353 Zivilgesellschaft 57–58, 60, 106, 179, 262–263, 266, 282, 285–286