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German Pages 396 [394] Year 2007
MATTHIAS
HAAKE
Der Philosoph in der Stadt Untersuchungen zur öffentlichen Rede über Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis
VERLAG
C.H.
BECK MÜNCHEN
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
© Verlag C.H.Beck oHG München 2007 Satz: Boer Verlagsservice, München Druck und Bindung: Druckhaus Thomas Müntzer, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbestándigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff)
Printed in Germany ISBN 978 3 406 55856 6 www.beck.de
Inhaltsverzeichnis
I
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1. Einleitung IL Athen
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1. Einleitung ....... 2. Das «Gesetz des Sophokles und die Philosophen ........... ................... 3. Die Philosophen und die Epheben
4. Der Peripatos ....-::- ele a) Aristoteles und Athen - die Geschichte einer Ehrung ........ b) Demetrios von Phaleron: Theorie und Praxis ........... c) Lykon aus Alexandreia Troas: Ein Philosoph als Teilnehmer leer aneinerepidosis .......... d) Prytanis von Karystos: Der Philosoph als Gesandter ....... νιν νιν γεν ννν . νιν κεν... 5. Die Akademie ...... a) Ein Anonymus aus Pergamon und der Scholarch Euandros llle von Phokaia ...........
b) Das Grabepigramm für den akademischen Scholarchen Telekles c) Karneades: Erfolgreicher Gesandter und ausgewiesener Philosoph eee 6.DieS$toa. .......... b) Ein Epigramm für Chrysipp und zwei Bronzestatuen . . . . ... c) Der Chrysippneffe Aristokreon und sein homonymer Sohn . . . d) Panaitios von Rhodos und die sogenannte Stoikerinschrift (IGIP1938)
.......
llle
leen
7. DerKepos ............ leeren a) Amynomachos, Sohn des Philokrates, aus Bate .......... b) Philonides aus Laodikeia: Epikureer und euergetes ........ c) Phaidros, Sohn des Lysiades, aus Berenikidai ........... 8. Zusammenfassung ... 2er
104 106 118 118 129 131 141 146 146 148 159 166
III. Haliartos: Ein Philosoph aus Makedonien in einer boiotischen Polis. . 171 IV. Orchomenos: Der Epikureer Philokrates ausSidon
...........
V. Eretria: Menedemos - ein Leben zwischen Philosophie und Politik
175
. . 177
VI
Inhaltsverzeichnis
VI. Chalkis: Das Grabepigramm für Apatourios, Sohn des Damarmenos,
einen Schüler der Akademie...
............
llle
eh VII. $amos..... cele
hn l. Der Peripatetiker Epikrates aus Herakleia.............. 2. Gaius Iulius Amynias: Epikureischer Philosoph und Kaiserpriester
VIII. Rhodos...
183 185 185 190
...... l.l nn 1. Das Grabepigramm für den Platoniker Arideikes ......... 2. Panaitios: Zwischen Lindos, Athen undRom............
195 195 198
Chytroi: Der epikureische Philosoph Python
207
.............
Ilion: Das Ehrendekret für Diaphenes aus Temnos
..........
. Sardeis: Iollas - ein Schüler des Antiochos von Askalon und euergetes seiner patris... ..... 22er
209 213
.Kolophon ............. llle 217 1. Menippos: Zwischen Kolophon, Athen, Pergamon und Rom . . . 217 2. Polemaios: Zwischen Kolophon, Rhodos, Smyrna und Rom ... 223 . Milet: Hestiaios, Sohn des Menandros . Iasos: Der ephebarchos Melanion
............. sss
227
............... leen.
231
Brundisium: Der Epikureer Eukratidas aus Rhodos.
XVII.
. ........
235
. Delphi ........... ellen l. Aristoteles, Kallisthenes und ein pínax mit einer Liste derpythionikai ............ eee 2. Lykon aus Alexandreia Troas ...... 2... lees. 3. Menedemos als hieromnemon von Eretria .............
237
Delo .......... eee mn 1. Der Peripatetiker Praxiphanes von Mytilene ............ 2. Ein Ehrendekret für Anaxippos ........... lees.
247 247 25]
XVIII. Olympia: Der peripatetische Scholarch Kritolaos von Phaselis
237 240 242
...
255
hn XIX. Pergamon ........ eee 1. Apollophanes - ein epikureischer Philosoph als Gesandter in Rom 2. Von Kratippos zu Marcus Tullius Cratippus: Ein Peripatetiker undseine Familie ................. llle
261 262
XX.
Die óffentliche Rede über Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis ............... else
264 271
Inhaltsverzeichnis
VII
n n n ... e XXL Appendices Argaios Arzt den für Batakes 1. Eine Weihung des Akademikers
ausAthen? .......
22e
287
2. Vermeintliche Philosophen und Gelehrte in der sogenannten ............ llle Stoikerinschrift (IGIP 1938). 3. Mammarion, Hedeia, Nikidion und Boidion: Hetären l.l llln. epikureischer Philosophen? .............. 4. Der Athener Zenodoros Lamptreus: Ein epikureischer
nen Mathematiker?. ........... een 5. Ein Zeugnis für den Epikureer Thespis? .............. 6. Pyrrhon von Elis - Skeptiker und Priester ............. 7. Eudamos von Megalopolis - ein Schüler des Akademikers ele Arkesilaos?......... 8. Ein rhodisches Grabmal und der Peripatetiker Hieronymos ellen llle vonRhodos ......... 9. Laitos, Akarnane aus Stratos und eine delphische Inschrift . . . 10. Der Athener Dionysios, Dionysios der kathegetes und die synscholastai ........ eee . 11. Der Philosoph Dion aus Ephesos ..............Ln. 12. Ein epigraphisches Zeugnis für einen Philosophen llle. inAlexandreia? ............. 13. Ein ungewöhnlicher Eigenname: Philosophos. . ......... 14. Eigennamen als Ausdruck einer Affinität zur Philosophie . . . . XXI. Bibliographie XXIH. Indices
.............
.........
l.Quelen.
llle
llle
..........
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287
RII
lees 2.Namen ......... ... oe een 3. Sachen und Begriffe. ........
288 294
297 300 300 302 305 307 309 312 313 314 317 321 373 373
375 383
Vorwort
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die überarbeitete Fassung meiner
Dissertation, die im Wintersemester 2003/2004 von der Philosophischen Fakul-
tät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster angenommen wurde.
Nachdem die Arbeiten an dieser Monographie nun zu einem Abschluß gekommen sind, bleibt mir nur noch mit Freude einer vermeintlichen Pflicht nachzukommen, die zu erfüllen mir ein großes Bedürfnis ist: Dank abzustatten nämlich
all denjenigen, die dazu beigetragen haben, daß die Arbeit in der vorliegenden Form entstehen konnte. An erster Stelle gebührt mein Dank meinem Doktorvater Prof. Dr. Peter Funke
(Münster), der regen Anteil am Fortgang der Arbeit genommen und durch kritische Lektüre, skeptische Fragen, anregende Diskussionen sowie wichtige Hin-
weise zu ihrem Gelingen maßgeblich beigetragen hat. Prof. Dr. Johannes Hahn (Münster) gilt mein Dank für die Übernahme des Zweitgutachtens und daraus resultierende, sehr gewinnbringende Diskussionen und Anregungen. In ganz besonderer Weise zu Dank verpflichtet weiß ich mich Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke (Freiburg): Bei ihm entstand einst die Magisterarbeit, die weit mehr als
nur den Nukleus der vorliegenden Arbeit darstellt; seinen Anregungen verdankt die Fragestellung ihre Entstehung. Für das Interesse, das er auch der Dissertation
entgegengebracht hat, gilt ihm gleichfalls mein Dank. Nino Luraghi (Cambridge/Mass.), Kai Trampedach (Konstanz) und besonders Ulrich Gotter (Konstanz) möchte ich nicht allein für die kritische Lektüre
einzelner Kapitel danken, sondern vor allem auch für ihre Bereitschaft zu zahlreichen Diskussionen über viele Jahre hinweg. Nino Luraghi danke ich darüber hinaus ganz herzlich für seine einmonatige xenia in Cambridge/Mass. Klaus Freitag (Münster) gilt mein Dank nicht nur für den wissenschaftlichen Austausch während der letzten Jahre, sondern in besonderem Maße auch für
die äußerst erfreuliche Art und Weise der Zusammenarbeit am Münsteraner Seminar. Der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik weiß ich mich für die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe «Vestigia» zu großem Dank verpflichtet. Ihrem Direktor, Prof. Dr. Christof Schuler, möchte ich für seine überaus gründliche und eingehende Betreuung der Arbeit ebenso wie für die Möglichkeit eines mehrtägigen Arbeitsaufenthalts in der Kommission sehr herzlich danken. Für die umsichtige redaktionelle Betreuung danke ich PD Dr. Helmut Müller.
Χ
Vorwort
Für ihre Bereitschaft, in unterschiedlichen Stadien der Arbeit einzelne Kapitel und Abschnitte kritisch zu lesen, wertvolle Hinweise beizusteuern und mich vor manchem Fehler zu bewahren, gilt mein aufrichtiger Dank Prof. Dr. Christian Habicht (Princeton), Prof. Dr. Klaus Hallof (Berlin), Prof. Dr. Denis Knoepfler (Neuchátel/Paris), Dr. Graham J. Oliver (Liverpool), Prof. Dr. Hans Taeuber (Wien), Dr. Isabel Toral-Niehoff (Freiburg) und Prof. Dr. David Whitehead (Belfast). Der Mühe, das gesamte Manuskript in einem früheren Stadium eingehend zu lesen, hat sich Dr. Tiziano Dorandi (Paris) unterzogen und mir
zahlreiche wichtige Hinweise gegeben, wofür ich ihm in besonderer Weise Dank schulde. Für wertvolle Ratschláge móchte ich auch Prof. Dr. Winfried Schmitz (Bonn) danken. PD Dr. Peter Scholz (Frankfurt/Kóln) danke ich für mehrere
anregende und lebhafte Diskussionen über hellenistische Philosophen und Philosophie. Ebenso móchte ich für Hinweise, Kritik, Anregungen und Korrekturen in verschiedenen Stadien der Arbeit Henning Bórm (Kiel), Stephan Dusil (Hamburg), Bernd Isele (Luzern), Volker Menze (Münster) und vor allem Katharina Stüdemann (Stuttgart) meinen herzlichen Dank aussprechen. Katharina Rennwald
(Münster) hat mir dankenswerter Weise bei der Erstellung der Indices geholfen. Ann-Cathrin Harders (Freiburg) hat nicht nur die ganze Arbeit kurz vor der Fertigstellung des Manuskripts noch einmal Korrektur gelesen, sondern vor allem auch durch ihre Aufmunterungen und Unterstützung zum Abschluß der Arbeit wesentlich beigetragen, wofür ihr mein tief empfundener Dank gilt. Gewidmet aber sei diese Arbeit meinen Eltern: meiner Mutter, der ich mehr verdanke, als ich es hier in angemessener Weise auszudrücken vermag, und dem Andenken meines Vaters, der mir in vielerlei Hinsicht stets ein Vorbild war und immer sein wird. Münster, im August 2006
Matthias Haake
I. Einleitung
«Sokrates der Ortlose. Sokrates, der merkwürdige Mann, der Fremde, der Befremdliche, der Sonderling. Sokrates, der Auffällige, der Stórenfried, der Aso-
ziale. Sokrates, die unangepaßte, die paradoxe, die absurde Existenz. Atopos ist sein Epitheton -- das heifit der Ortlose: [...] Sokrates ist das Urbild des Philoso-
phen. Wenn das wahr ist, dann ist Philosophie etwas höchst Befremdliches.»' Dieses Bild von Sokrates als Sonderling und gesellschaftlichem Außenseiter par excellence ist maßgeblich von Aristophanes in den Nephelai zu Lebzeiten? und
von Platon und Xenophon nach dem Tod des Philosophen in ihren Texten produziert worden? Durch seine permanente literarische Rezeption und Reproduktion wurde das Image eines Prototypus des Philosophen hervorgebracht. Dies gilt nicht allein für die Antike, sondern bis in die Gegenwart hinein: Das Selbstverständnis des Philosophen - und allgemeiner gesprochen: des Intellektuellen5 - und seine Selbststilisierung folgen vielfach den Parametern dieser Sokratesfigur.
Parallel zu der dem Philosophen zugewiesenen Rolle als gesellschaftlichem Außenseiter schlechthin ist die entgegengesetzte Vorstellung des politisch wir-
'
Böhme (1998), 19; vgl. ähnlich Hadot (1989-90), 492-494. Die Bezeichnunug atopos für
Sokrates ist z.B. in Plat. symp. 215a2 bezeugt; eine Auflistung der Zeugnisse liegt bei Böhme (1998), 214, vor. Vgl. auch Scholz (1998), 25. - Nicht mehr berücksichtigt werden konnte in dieser Arbeit Scholz (2006).
? Zur Darstellung des Sokrates in den Nephelai s. Dover (1968), xxxii-lvii; MacDowell (1995), 130-136, sowie ferner Strauss (1966), 9-53. Zu Sokrates in der Attischen Komödie all-
gemein vgl. Patzer (1994). ! Zum platonischen Sokrates vgl. Brickhouse - Smith (1994); zum xenophontischen Sokrates s. Strauss (1973). Edelstein (1933) hat eine vergleichende Studie zum xenophontischen und
platonischen Sokrates vorgelegt. - Die Frage nach dem «historischen Sokrates: ist hier nicht von zentraler Bedeutung; vgl. zu dieser Kontroverse die in Patzer (1987) zusammengestellten Bei-
träge. Am überzeugendsten erscheint der u.a. von Gigon (1947) vertretene Standpunkt, daß es methodisch keine Möglichkeit gibt, durch die verschiedenen literarischen Darstellungen hindurch den «historischen Sokrates freizulegen. * Vgl. dazu Döring (1998), 167-178. * Zur sozialen Konfiguration des Intellektuellen s. Haake (2003), 97-100.
° Vgl. Böhme (1998), 19-36. Zum Philosophen, zur philosophischen Lebensweise und Beeinflussung des Philosophen seit der Frühen Neuzeit durch die antike Ausprägung der Figur des Philosophen s. Cambiano (1996) und Miralles (1996).
2
I. Einleitung
kenden und seine Theorien realisierenden Philosophen etabliert, der eine exponierte Position in der Gesellschaft einnimmt.’ Ihren Ausgangspunkt nimmt diese Vorstellung in Platons berühmtem Diktum, daß entweder die Herrscher Philosophen oder aber die Philosophen Herrscher werden müßten.? Beide Aspekte der persona des Philosophen haben seit dem vierten Jahrhundert eine ungeheure Wirkmächtigkeit entwickelt und vor allem für die Produktion literarischer Texte, aber partiell auch im Rahmen einer imitatio und similitudo seitens späterer Philosophen auf der Handlungsebene eine große Relevanz erlangt: Die Fremd- wie Selbstkonstruktion eines Philosophen orientiert sich ganz wesentlich an den beiden aufgezeigten paradeigmata. Zwei Beispiele aus der Antike mógen dies verdeutlichen: Der Kyniker Diogenes von Sinope stilisierte sich in bewußter Nachfolge des Sokrates als außerhalb der Gesellschaft stehende Existenz, die die Umwelt durch ihr Verhalten zu provozieren trachtete.? Demetrios von Phaleron hingegen inszenierte seine zehnjährige «Herrschaft in Athen ex post äußerst erfolgreich in seinen apologetischen Schriften als die Herrschaft eines Philosophen, obwohl diese realiter in keiner Weise auf philosophischen Maximen beruht hatte.!? Aus den beiden skizzierten Bildern des Philosophen und deren Prominenz wie Omnipräsenz in der literarischen Überlieferung - und hier besonders der biographischen Literatur - erwächst genau dann ein heuristisches Problem, wenn es um die Frage nach der óffentlichen Wahrnehmung von Philosophen und Philosophie in den antiken Gesellschaften - im Rahmen der vorliegenden Studie der hellenistischen Zeit" - geht. Da es in der Gattung der antiken Biographie als legitim angesehen wurde, daf der Autor das Leben einer Person auf
7 Diese Vorstellung erfreut sich nicht allein in den altertumswissenschaftlichen Fáchern einer großen Beliebtheit, sondern auch in der modernen philosophisch-politologischen Forschung; vgl. u.a. Oesterreich (1994). Wie stark die Darstellung des Verhältnisses eines Philo-
sophen zu einem Machthaber durch individuelle historische Erfahrungen geprägt sein kann, illustriert der Klassiker von Marcuse (1950). * Plat. rep. 473c-e. An dieser Stelle geht es um die Rezeption dieser Platonpassage, nicht aber um deren «korrekte; Interpretation. Die Arbeiten z.B. von Wórle (1981), Vatai (1984) und Thrams (2001) sowie Leuteritz (1997), 77-86, sind stark diesem platonischen Konzept ver-
haftet. Vgl. zur Interpretation dieser Stelle Trampedach (1994), 206-215; weitere Literatur bei Haake (2003), 115 Anm. 44.
* Vgl.Long (1996), Clay (1996) sowie Dóring (1979). Zu Diogenes s. M.-O. Goulet-Cazé, DPhA II, 1994, 821-823, s. ν (D 147). !? S. dazu 5. 78-82.
!! Unter Hellenismus werden die gut dreihundert Jahre zwischen dem Tod Alexanders des Großen 323 und dem Tod der Kleopatra 30 respektive der Begründung des Prinzipats durch Augustus 27 verstanden; s. Gehrke (2003b), 1-4 u. 133-136, zum Hellenismus als Epoche. Soweit nicht anders vermerkt, verstehen sich alle Daten vor Christus.
I. Einleitung
3
Plausibilitätskonstrukten basierend darstellte,? die im Falle der Philosophenbiographien ganz mafigeblich durch die beiden eingangs dargelegten Bilder vom Philosophen geprägt waren, ist es kaum möglich, die öffentliche Wahrnehmung des Philosophen jenseits ihrer literarischen Ausgestaltung zu erujeren, zumal vielfach vermittels Anekdoten der Philosoph nicht vorrangig als Individuum, sondern als Typ dargestellt wird. Zwei Beispiele illustrieren, wie schwer es ist, die historische Person eines Philosophen durch die Überlieferung
hindurch zu profilieren - nämlich die einander diametral gegenüberstehenden biographischen Traditionen zum peripatetischen Scholarchen Lykon aus Alexandreia Troas, die allem Anschein nach ihren jeweiligen Ausgangspunkt in den Werken zweier nahezu zeitgenössischer Autoren haben: Antigonos von Karystos und Ariston von Keos.' In welchem Maße die konstruierten bioi von den tatsächlichen Lebensläufen differieren konnten, läßt sich auch an Hand der wahrscheinlich aus der Feder Philodems stammenden Biographie über den Epikureer Philonides aus Laodikeia am Meer verdeutlichen. Eine Kontrastierung mit epigraphischen Zeugnissen zeigt, wie stark die Lebensbeschreibung Philodems gemäß Epikurs doxai konstruiert wurde.'5 Biographien sind im wahrsten Sinne des Wortes «Lebensgeschichten», Produkte des literarischen Feldes, das seine eigenen Regeln besitzt und nicht die óffentliche Wahrnehmung von Philosophen und Philosophie widerspiegeln muß.!‘ Die erhaltenen literarischen Hauptquellen zu den hellenistischen Philosophen entstammen dem ersten Jahrhundert - so Philodem von Gadara - oder aber
der römischen Kaiserzeit wie Plutarch, Athenaios, Aelian und Diogenes Laertios." Alle fünf Autoren basieren auf hellenistischen Vorlagen - aus der grofien Anzahl seien hervorgehoben Antigonos von Karystos und Hermippos von
" Vgl. dazu Trampedach (1994), 17f. Grundsätzlich zur antiken Biographie s. Fairweather (1974), Arrighetti (1994), Swain (1997), Dihle (1998), Averintsev (2002) und auch Sonnabend (2002), 1-15 u. 62-83, sowie ferner immer noch Leo (1901). Eine prägnante Charakterisierung
bietet Cooper (2002), 336: «Biography, or at least certain kinds of biography, were about types and about ethics.» Verwiesen sei auch auf die instruktiven Ausführungen von Lapini (2003), 35-37, unter der Überschrift «Come nasce un bios»; s. auch Schirren (2005), 199-211 u. 319-
324. Lefkowitz (1981) hat eine methodisch anregende Studie zu den antiken Biographien einer bestimmten Gruppe, den griechischen Dichtern, vorgelegt; vgl. auch Bing (1993). P Zur Verwendung der Anekdote in der antiken Biographie s. Momigliano (1971b), 84, und Wehrli (1973); vgl. auch Bachtin (1989), 60-78.
^ Ausführlich dazu s. unten S. 82-85.
5 Vgl. S. 148f. u. 157f.
16. Zum literarischen Feld und seinen Funktionsmechanismen s. Bourdieu (1999).
7 Vgl. Mansfeld (1999) zu den Quellen zu Philosophie und Philosophen im Hellenismus.
4
I. Einleitung
Smyrna -,!® doch ist eine Beeinflussung der jeweiligen Darstellung durch die Gegenwart des Autors stets in Betracht zu ziehen.'? Bei allen genannten Autoren finden sich sowohl Belege für die Darstellung des Philosophen als sozialen Außenseiter als auch Zeugnisse für den Philosophen, der politisch in der Gesellschaft agiert. Allerdings gibt es zwischen Philodem, Plutarch, Athenaios und Diogenes Laertios grundlegende Differenzen, da sie ihre Schriften nicht nur zu verschiedenen Zeiten verfafiten, sondern auch in unterschiedlichen literarischen Genres. Philodem, der den hellenistischen Philosophen zeitlich am náchsten steht, ist hinsichtlich seiner hier vor allem interessierenden Werke am ehesten als Philosophiehistoriker zu bezeichnen, dem es in Schriften wie der Historia Academicorum, der Historia Stoicorum, de Stoicis und den Pragmateiai? um die Geschichte einzelner Philosophenschulen ging, die er an Hand der aufeinanderfolgenden Scholarchen verfafite.?! Gänzlich anderen Charakter haben die Schriften von Athenaios und Plutarch. Ersterer verwendete in den Deipnosophistai einen umfangreichen Fundus an Zitaten zu Philosophen aus der hellenistischen Literatur. Dennoch ist dieses Werk kein philosophiegeschichtliches Kompendium, sondern eine Ansammlung gelehrten Wissens zu Lebzeiten des Autors mit stark antiquarischen Bezügen, das der sogenannten Buntschriftstellerei zuzurechnen ist.? Die Zitate über Philosophen sind durch eine gezielte Auswahl von Fragmenten gekennzeichnet,? die zum Großteil entweder einzelnen Philosophen oder aber der Philosophie allgemein feindlich gegenüberstehen und massiv gegen diese polemisieren. Wáhrend die Quellen des Athenaios also ganz überwiegend eine einseitige Perspektive aufweisen, bietet Plutarch ein differenzierteres Bild: Die Trennung verläuft für ihn zwischen den einzelnen Philosophenschulen. So werden die Epikureer und Stoiker in mehreren seiner Werke - wie etwa non posse suaviter vivi secundum Epicurum, adversus Colotem, an recte dictum sit latenter esse vivendum einerseits und de Stoicorum repugnantiis, Compendium argumenti Stoicos absurdiora poetis dicere und de communibus
^ Zu Antigonos s. Dorandi (19992), xi-cxxiii; (1994b), (1995a) u. (1995b); zu Hermippos
vgl. Bollansée (1999). 19. Vgl. zu diesem Aspekt Darbo-Peschanski (1993); s. auch Piccirilli (1998). ? Zur Historia Academicorum s. Dorandi (1991b); zur Historia Stoicorum vgl. ders. (1994a); zu de Stoicis s. ders. (1982c); zu den Pragmateiai s. Militello (1997). Zu Philodem als Philosophiehistoriker s. Dorandi (19802) u. (1990c) sowie Militello (2000) und Arrighetti (2003).
? Dies ist das typische Prinzip der Diadochai, die sich seit dem Hellenismus als literarische Gattung entwickelten; zu dieser bis auf Diogenes Laertios nur in Fragmenten erhaltenen Literatur s. Giannattasio Andria (1989), 16-28. Vgl. auch Sassi (1996), 761-764.
22 Zu diesem Begriff s. Bowie (1997); zur Charakterisierung von Athenaios’ Werk vgl. Lukinovich (1990).
? Zu den Autoren dieser Fragmente und ihrer Verwendung bei Athenaios s. Zecchini (1989), 208-215; zur Zuverlässigkeit der Zitate vgl. Pelling (2000).
I. Einleitung
5
notitiis adversus Stoicos andererseits — äußerst negativ charakterisiert, wohingegen die Akademiker auf Grund Plutarchs eigener philosophischer Einstellung eher positiv dargestellt werden.?5 Die zugleich wichtigste, aber auch problematischste literarische Quelle zu Philosophen ist Diogenes Laertios.?5 Selten läßt sich die Philosophenbiographie als Genre," ein Trümmerfeld der Überlieferung, so gut fassen wie bei diesem Autor. In den Vitae philosophorum findet sich eine Kombination der unterschiedlichsten Richtungen, die enkomiastische Passagen
auf Philosophen ebenso wie schmähliche Invektiven gegen diese vereint. Dieser Punkt gilt in besonderer Weise, wenn es um den Philosophen in der Öffentlichkeit und seine Wahrnehmung durch die ihn umgebende Gesellschaft sowie deren
Rede über ihn geht. Die Mischung äußerst positiver und extrem negativer Darstellungen des Philosophen - vielfach durch die stereotype Verwendung narrativer Sequenzen - zeigt nicht nur die Problematik der Philosophenbiographie auf, sondern idealtypisch diejenige der gesamten literarischen Überlieferung zum
Philosophen in der Öffentlichkeit: Wie läßt sich über Gattungstraditionen und schulische Parteilichkeiten hinausgelangen und zum Philosophen und seinem historischen Umfeld jenseits der literarischen Darstellung selbst vorstoßen??® Um diesem heuristischen Problem der literarischen Überlieferung zu entgehen, soll in der vorliegenden Arbeit ein dezidiert anderer Ansatzpunkt gewáhlt und die Fragestellung von der literarischen Philosophenimago auf den Philosophen und die ihn umgebende sozio-politische Óffentlichkeit verschoben werden: Diese Umgebung bilde vor allem die Poleis.? Ziel der Untersuchung ist dementsprechend eine Analyse des óffentlichen Diskurses über Philosophen und Phi^ Zu Plutarchs Polemiken gegen die Stoiker vgl. Pohlenz (1939); zu seinen antiepikureischen Schriften s. Dorandi (1983). Vgl. Grilli (1992) allgemein zur plutarchischen Philosophenpolemik. Zu Plutarch und dem Stoizismus respektive Epikureismus s. Hershbell (1992a) bzw. (1992b). ?5 Zu Plutarch's Platonismus s. Froidefond (1987). 16. Zu Diogenes Laertios s. J. Mejer, DPhA II, 1994, 824-833, s. v. (D 150); Sonnabend (2002), 191-195; Schirren (2005), 113-137, sowie ferner E. Schwarz, RE IV, 2, 1903, 738-763, s. v. Hope
(1930) hat eine wichtige Studie zur Arbeitsweise und Methode des Diogenes vorgelegt; s. auch Dorandi (1990c), Goulet (2001) und Giannantoni (1986) und vgl. zudem Bollack (1973) und Fuhrmann (1973). Diogenes' hellenistischen «background» hat Mejer (1978) beleuchtet; vgl. ferner Desbordes (1990). Die einzelnen Bücher aus Diogenes' Werk sind ausführlich behandelt in ANRW II, 36,5 u. 6.
? Gigante (1986), 17-21, hat als Charakterisierung für das Werk des Diogenes Laertios den treffenden Begriff «Biodoxographie vorgeschlagen. 25. Long (1993), 148, und Scholz (1998), 59 mit Anm. 168, gehen davon aus, daß literarische
Konstruktionen direkte Rückschlüsse auf die öffentliche Meinung auf Grund von Widerspiegelungen zulassen. P? Vgl. zu diesem Aspekt ansatzweise Sedley (1998).
6
I. Einleitung
losophie in den Poleis der hellenistischen Welt. Unter dem Begriff öffentlicher Diskurs wird dabei diejenige Summe von manifestierten Äußerungen verstanden, als deren auctor eine Polis als politische und soziale Gemeinschaft auszumachen ist und deren kommunikativer Ort im öffentlichen Raum der Polis liegt.?! Dies bedeutet, daß nicht das öffentliche Reden über Philosophen und Philosophie in seiner Gesamtheit Gegenstand der vorliegenden Untersuchung ist, was auf Grund der Überlieferungslage und der Natur der Quellen auch gar nicht móglich ist, sondern nur ein spezifisches und definiertes Segment. Besonders wichtig für eine Untersuchung der óffentlichen Rede sind die Inschriften. Wie jede Quellengattung stehen auch Inschriften in einem bestimmten Kommunikationshorizont.7 Dieser ist bei ihnen durch ein Spezifikum gekennzeichnet, das sie von nahezu allen anderen antiken schriftlichen Hinterlassenschaften unterscheidet: Der Ort ihrer Fixierung ist der óffentliche Raum, in dem sie etwas dauerhaft kommemorieren sollen. Die epigraphischen Zeugnisse bieten den aussagekräftigsten Kanon für die im öffentlichen Raum verwendbaren Argumente. Gerade Ehrendekrete und -inschriften zeigen auf Grund ihrer Genese, welche Vorstellungen in der Öffentlichkeit für eine Ehrung denkbar und akzeptabel waren. Natürlich erfährt man auch aus Inschriften nicht, «wie es eigentlich gewesen» ist, aber das, was den öffentlichen Diskurs der Polis ausmachte und welche Möglichkeiten in diesem Feld prinzipiell bestanden, kann man ihnen wie keiner anderen überlieferten Quellengattung entnehmen. Aber nicht allein Ehrendekrete und -inschriften sind Gegenstand der vorliegenden Untersuchung, sondern auch private Grab- und Dedikationsinschriften, um auf Grund von Differenzen in Text und Aussage zu den Dekreten und öffentlichen Inschriften der Poleis Ergebnisse schärfer profilieren und Spezifika des öffentlichen Diskurses extrapolieren zu kónnen.? Aus diesem Grund sollen Inschriften nicht allein als Belege für historische Fakten verwendet, sondern als Texte
Ὁ Die Forschung hat nachdrücklich aufgezeigt, daß im Hellenismus die Polis trotz den gegenüber früheren Zeiten veränderten Bedingungen eine äußerst lebendige und wirkmächtige Konfiguration gewesen ist - sowohl auf der Ebene der praktischen Machtpolitik als auch auf der der Ideologie; vgl. Herrmann (1984), Gauthier (1984), (1990) u. (1993), Gruen (1993), Habicht (1995) und Gehrke (2003a); s. auch Haake (2003), 94 mit Anm. 113-115. Exemplarisch für die frühere Sichtweise auf die hellenistische Polis sei verwiesen auf Ehrenberg (1969), 190-204. Zum hellenistischen «Stadtmenschen» s. Svencickaya (1996).
? Vgl. zum Diskursbegriff grundlegend Foucault (1972); s. die fundierten Ausführungen von Landwehr (2001). * Vgl. zu Ehrendekreten in Athen Calabi Limentani (1984); s. allgemein Bertrand (1990) und Ceccarelli (2005).
? Auf Grund der oben vorgelegten spezifischen Bestimmung des Terminus «öffentlicher Diskurs: und der damit einhergehenden begrifflichen Engführung werden Texte, die prinzipiell in der Öffentlichkeit ihren Platz haben - wie etwa die Nea - und über Philosophen und Philo-
I. Einleitung
7
behandelt und verstanden werden, die in ihren jeweiligen Kontexten zu analysieren sind. Bei der Interpretation der einzelnen Inschriften ist ebenso wie bei dem Unterfangen, den öffentlichen Diskurs in einzelnen Poleis herauszuarbeiten,
auf Grund der Materialgrundlage besondere Zurückhaltung geboten.?^ Für viele Orte - wie beispielsweise Haliartos oder Samos - sind aus quantitativen Gründen
lediglich punktuelle Aussagen zu treffen, eine dichte Beschreibung des öffentlichen Diskurses ist vor allem in Athen möglich; die für Athen erzielten Ergebnisse sind aber für andere Poleis als Folie nutzbar. Da in dieser Arbeit der óffentliche Diskurs über Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis untersucht und - soweit dies auf Basis der Quellen möglich ist - ein Athenozentrismus vermieden werden soll, werden in achtzehn auf Grund des Materialbefundes ihrer Lánge nach stark differierenden Kapiteln
alle Stádte, aus denen einschlágige Inschriften vorliegen, untersucht. Dabei werden erstmalig alle gegenwártig bekannten Inschriften, die Philosophen oder die Philosophie zum Thema haben, zusammengeführt, kommentiert und analysiert. Stützen kann sich die Arbeit dabei auf die von M. N. Tod vorgelegte Sammlung des epigraphischen Materials zu Philosophen aus der gesamten Antike, die J. und L. Robert sowie Chr. Habicht vervollständigt haben.?* Eine ausführliche Analyse und Interpretation war jedoch nicht ihr Ziel. Auch für einzelne Poleis liegen bislang keine derartig angelegten Fallstudien vor - eine Ausnahme bildet in Ansätzen allein Athen. Da das Ziel der vorliegenden Studie in einer Untersuchung des óffentlichen Diskurses über Philosophen und Philosophie in der hellenistischen Zeit liegt, ist es trotzdem notwendig, nicht nur Inschriften zu analysieren, in denen Philosophen im engeren Sinne des Wortes genannt werden, sondern auch Zeugnisse, in denen Personen Erwáhnung gefunden haben, für die ein Kontakt zur Philosophie bezeugt ist, die aber nicht als Philosophen zu bezeichnen sind. Denn zur Bestimmung des gesellschaftlichen Ortes der Philosophie und von Philosophen vermag gerade eine Untersuchung dieser Personengruppe wichtige Aufschlüsse hervorzubringen. Athen ist Gegenstand des ersten und zugleich mit Abstand umfangreichsten Kapitels der vorliegenden Studie. Diese Länge ist einerseits durch die Quanti-
sophie handeln, nicht in die Analyse miteinbezogen, sondern nur im Rahmen des Schlußkapitels zur Synthese herangezogen; s. die knappen Bemerkungen S. 278. * Vgl. dazu Ma (1999), 19-22. ** Vgl. Tod (1957) sowie BE 1958, Nr. 84 und Habicht in AvPergamon VIII 3, p. 162-164.
Bouvier (1985) hat die Zeugnisse für hommes des lettres in den delphischen Inschriften zusammengetragen. * Vgl. Habicht (1994), Korhonen (1997) und Perrin-Saminadayar (2003); zu diesen Arbeiten vgl. passim.
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I. Einleitung
tät der erhaltenen epigraphischen Zeugnisse bedingt, andererseits dadurch, daß sich in diesen Fállen auch besonders deutlich die Problematik der literarischen Überlieferung zu Philosophen und ihrer Stellung in der Polis-Öffentlichkeit herausarbeiten läßt. Die darauffolgenden Kapitel sind geographisch angeordnet. Für die letzten vier Kapitel ist das geographische Ordnungsprinzip aufgehoben und durch eine typologische Disposition ersetzt: Nach den panhellenischen Heiligtümern von Delphi, Delos und Olympia folgt die monarchische Residenz- und Hauptstadt Pergamon. In den Appendices sind all diejenigen Inschriften zusammengestellt, die in der Forschung mit Philosophen in Verbindung gebracht worden, jedoch auf Grund einer eingehenden Prüfung aus der Gruppe der «Philosopheninschriften» auszuscheiden sind. Einer Diskussion der Identifizierungen kommt große Bedeutung zu, da die Mehrzahl der in der vorliegenden Arbeit behandelten Personen in den Inschriften nicht als «Philosoph» bezeichnet wird,” sondern nur auf Grund von Hinweisen und Indizien in der literarischen Überlieferung erkannt werden kann. Jedoch sind andererseits durch Inschriften auch Philosophen bekannt, die in der literarischen Überlieferung nicht bezeugt sind. Die Kapitel zu den einzelnen Poleis gliedern sich stets nach demselben Muster: Als eine erste Unterteilung des epigraphischen Materials dienen - soweit der Befund umfangreich genug ist - die unterschiedlichen Philosophenschulen. Innerhalb dieser Gliederung erfolgt eine strikte chronologische Anordnung der einzelnen Fallstudien. Auf diese Weise werden ortsspezifische chronologische Entwicklungen des óffentlichen Diskurses über die einzelnen Philosophenschulen erkennbar. Im Schlußkapitel wird der Versuch unternommen, eine Synthese zum öffentlichen Diskurs über Philosophen und Philosophie in hellenistischer Zeit zu prásentieren und diesen mitsamt seinen diachronen Entwicklungen und lokalen Divergenzen historisch zu erklären. Die vorliegende Studie steht im Kontext der Forschungen zu hellenistischen Philosophen und Philosophie, die sich seit geraumer Zeit seitens verschiedener Disziplinen und aus unterschiedlichen Perspektiven großer Aufmerksamkeit erfreuen. Eine zentrale Grundlage dafür bilden die neuen Texteditionen - zu nennen sind hier vor allem die Arbeiten an den Papyri aus Herculaneum - und Fragmentsammlungen philosophischer Autoren des Hellenismus.” Auf dieser ” Während in der Kaiserzeit das Wort φιλόσοφος sowohl adjektivisch als substantivisch mehrere dutzend Mal in Ehrendekreten und -inschriften bezeugt ist (s. dazu u.a. Haake |for-
thcoming b]), gestaltet sich das Bild im Hellenismus gänzlich anders. In Epigrammen wird das Wort φιλόσοφος nur äußerst selten verwendet, da es nicht mit den bevorzugten Metren in Einklang zu bringen ist; vgl. Tod (1957), 141. * D. Obbink hat in Gigante (2002), 115-126, einen «guide to editions and translatione der philosophischen Papyri aus Herculaneum zusammengestellt, der die Fortschritte auf die-
I. Einleitung
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Basis konnten sowohl hinsichtlich der Doxographie hellenistischer Philosophen als auch bezüglich deren Chronologie grundlegende Fortschritte erzielt werden, so dafi die Geschichte der hellenistischen Philosophie heute auf einer ganz anderen Basis geschrieben werden kann als noch zu Beginn der 70er Jahre des letzten
Jahrhunderts.” Neben den Fortschritten auf der philologischen Seite und in der
originär philosophiegeschichtlichen Forschung stehen Arbeiten vor allem althi-
storischer Provenienz, die sich mit den hellenistischen Philosophen und der hellenistischen Philosophie als historischen Phánomenen befassen und somit die Betrachtung von außen gegenüber der inneren Perspektive privilegieren. Es ist im folgenden nicht das Ziel, einen vollstándigen Forschungsüberblick zu geben; vielmehr sollen einige zentrale Arbeiten angesprochen und auf Grund ihrer methodischen Ansátze charakterisiert werden. F. Decleva Caizzi hat sich in einem Aufsatz mit Bildern («images») des philosophischen Lebens(stils) im frühen Hellenismus befaßt und dabei die grundsätzliche perspektivliche Scheidung zwischen der Selbstdarstellung der
Philosophen gegenüber anderen Personen und der Betrachtung des Philosophen durch andere Personen getroffen.“ Auch wenn sich Decleva Caizzi der Problematik der Quellen bewußt ist, so versucht sie doch an Hand philosophischer Texte, biographischer Literatur und der Komódie das Selbst- und das Fremdbild des Philosophen nachzuzeichnen. Während der Autorin ersteres vor allem mittels philosophischer Texte durchaus gelingt, ermóglichen die für die Rekonstruktion des Fremdbilds herangezogenen Quellen - vor allem die Komódienfragmente - nurmehr einen sektoralen Blick; außerdem ist die der biographischen Überlieferung zugebilligte Glaubwürdigkeit deutlich zu hoch veranschlagt. Insbesondere vermag Decleva Caizzi mit dem von ihr verwandten Material nicht den óffentlichen Diskurs zu analysieren. Der Aufsatz von T. Korhonen'! über das Selbstkonzept und das öffentliche Bild von Philosophen
sem Gebiet mit aller Deutlichkeit aufzeigt; besonderers hervorzuheben sind dic Editionen der philodemeischen Historia Academicorum und Historia Stoicorum durch Dorandi ([1991b] u. [1994a]). Daneben sind neben dem wichtigen Editionsunterfangen von F. Wehrli zur «Schule
des Aristotele» nun die Fragment- und Aufsatzsammlungen etwa zu Demetrios von Phaleron (Fortenbaugh - Schütrumpf [2000]) sowie Lykon aus Alexandreia Troas und Hieronymos von
Rhodos (Fortenbaugh - White [2004]) zu nennen. ? Zu den Erkenntnisgewinnen auf chronologischem Gebiet s. maßgeblich Dorandi (1991d) u. (1999b). Den gegenwärtigen Stand der Forschungen zur hellenistischen Philosophie und die auf diesem Gebiet erzielten Fortschritte sind in dem von H. Flashar herausgegebenen zweibändigen Werk «Die hellenistische Philosophie (Flashar [1994]) ebenso wie in der von K. Algra,
J. Barnes, J. Mansfeld u. M. Schofield herausgegebenen «Cambridge History of Hellenistic Philosophy (Algra et al. [1999]) greifbar. Ὁ Vgl. Decleva Caizzi (1993), hier 305. 1 Korhonen (1997).
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I. Einleitung
und Philosophenschulen in Athen zu Beginn des Hellenismus widmet sich der gleichen Frage wie Decleva Caizzis Beitrag. Dabei verwendet Korhonen ein elaborierteres methodisches Instrumentarium und arbeitet mit dem Konzept der «sozialen Rolle, worunter sie die Zusammenfassung sowohl der eigenen als auch der fremden Erwartungen an eine Person, das Zusammengehen von Selbstkonzept und óffentlichem Bild versteht, wobei sich beide Aspekte reziprok zueinander verhielten.*? In drei umfangreichen Kapiteln behandelt Korhonen Philosophen in ihrer Funktion als Gesandte, das in philosophischen Schriften transportierte Selbstbild der Philosophen und das óffentliche Bild des Philosophen, das sie aus der im Jahre 306/5 im Zusammenhang mit dem «Gesetz des Sophokles» gehaltenen Rede des Demochares und Komódienfragmenten herauszuarbeiten sucht.” Während die Untersuchungen zu den Gesandtschaften und zum philosophischen Selbstbild für sich genommen überzeugen, erscheint es nicht plausibel, das öffentliche Bild des Philosophen allein aus einer Gerichtsrede und Komódienfragmenten herauszukristallisieren, da beide Gattungen in sehr spezifischen Kontexten anzusiedeln und Verallgemeinerungen nicht ohne weiteres móglich sind. Auch die Frage nach den Trágern dieser Vorstellungen wird von Korhonen nicht gestellt. Auf Inschriften greift die Autorin kaum zurück.* Chr. Habicht hat in einem kurzen, aber wichtigen Aufsatz ein facettenreiches Bild des «hellenistischen Athen und seiner Philosophen» auf der Basis literarischer und epigraphischer Texte gezeichnet und dabei wichtige vielfach wenig beachtete Quellen - in den Blick genommen.* Sein Ziel war es dabei, móglichst umfassend diese Polis und die Philosophen darzustellen, nicht aber spezifisch den óffentlichen Diskurs über Philosophen und Philosophie zu untersuchen. Ein Ansatzpunkt, den mehrere Arbeiten zu Philosophen im Hellenismus verfolgen, ist deren Verhältnis zur Politik. H. Sonnabend und P. Thrams haben sich mit der Involvierung von Philosophen in die praktische Politik befaßt und dabei - gestützt auf eine zu hoch veranschlagte Glaubwürdigkeit insbesondere der biographischen Quellen - eine aktive und wichtige Rolle der Philosophen herausgearbeitet. Dabei sehen sie in der Philosophie vielfach das kausale
* Korhonen (1997), 35. Problematisch ist, daß Korhonen davon ausgeht, daß eine Person nur eine soziale Rolle «spielen» kann, in der differente Perspektiven und verschiedene Facetten vereint werden müssen; vgl. aber Haake (2003), 97 mit Anm. 188. ** Vgl. Korhonen (1997), 40-96.
** Vgl. Korhonen (1997), 85: Allerdings ist es weder zutreffend, daß Epitheta wie «Peripatetiken oder «Epikureer: nur in óffentlichen Dokumenten am Ende des 3. Jh.s bezeugt wären, noch stimmt es, daß der peripatetische Scholarch Lykon in einer athenischen Inschrift (5, S. 87 f. nicht als «Philosoph» bezeichnet würde. ** Habicht (1994).
I. Einleitung
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Moment für spezifisches politisches Handeln von Philosophen und vernachlässigen dabei die sozialen Kontexte - etwa den Aspekt der Herkunft.* P. Scholz hat in seiner umfassenden Studie die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verháltnisses von Philosophie und Politik im vierten und dritten Jahrhundert analysiert und dabei die «Binnenperspektive» in den Vordergrund gerückt.” Die Perspektive von Scholz und der vorliegenden Arbeit ist somit grundverschieden: Wáhrend Scholz stark auf innerphilosophische Veránderungen als Erklárungsmuster für Entwicklungen hinsichtlich der gesellschaftlichen Stellung des Philosophen setzt, ist der Blick der vorliegenden Untersuchung auf die sozialen Kontexte gerichtet: Ursachen und Gründe für Veránderungen des Diskurses über Philosophen und Philosophie und deren gesellschaftliche Stellung werden in den Polis-Gesellschaften zu verorten versucht. Dies bedingt einen weiteren wesentlichen Unterschied zu Scholz’ Untersuchung, die sich nahezu ausschließlich aufliterarische Quellen stützt, wohingegen in dieser Arbeit die Inschriften privilegiert werden.“ É. Perrin-Saminadayar hat einen wesentlichen Aspekt in der Diskussion um die hellenistischen Philosophen
stark gemacht, der auch in dieser Studie große Bedeutung besitzt: Er hat unter dem Titel «Des élites intellectuelles a Athénes à l'époque hellénistique? die programmatische Frage nach dem sozialen Hintergrund der Philosophen im hellenistischen Athen gestellt und die ebenso prágnante wie treffende Antwort «Non, des notables herausgearbeitet.'? Die Forschungen
von H.-J. Gehrke und K. Trampedach
schließlich haben
ein für die vorliegende Untersuchung zentrales Ergebnis erbracht: Philosophische Lehren und politisches Handeln von Philosophen stellen zwei autonome ** Sonnabend (1996) und Thrams 2001; s. auch Erskine (1990) und Schofield (1996). Zu
Details dieser Untersuchungen wird in dieser Arbeit wiederholt kritisch Stellung bezogen. * Vgl. Scholz (1998), bes. 5f.
** Zu Scholz’ Ansatz s. auch S. 276-278. Die verschiedentlich von ihm geäußerten Ansichten über cpigraphische Zeugnisse zu Philosophen treffen nicht immer zu; vgl. etwa Scholz (1998), 367: «(...) die wenigen Philosophen, die inschriftlich nachweisbare öffentliche Ehrungen zu ihren Lebzeiten erfuhren (...), (sc. wurden) nicht von der Bürgerschaft ihrer Heimat-
städte für etwaige euergetische Verdienste geehrt, sondern ausnahmslos von der Priesterschaft großer Heiligtümer.» Verwiesen sei hier auf die athenischen Ehren für Lykon und Prytanis von
Karystos; s. S. 87-89, 92-94 u. 98f. Auch die folgende Auffassung von dems., 12 mit Anm. 3, teile ich nicht: So erhielten weder Philonides und seine Sóhne, noch ein anonymer Schüler des akademischen Scholarchen Euandros oder Menippos aus Kolophon das Bürgerrecht in Athen, weil Philosophen seit der Wende zum 3. Jh. als «Bildungsträger» etabliert gewesen wären. In allen diesen Inschriften stellen vielmehr explizit Verdienste um die ehrenden Gemeinwesen in
politicis den Grund für die Ehrungen dar; vgl. 5. 149-154, 158, 99-104 u. 217-220. - Eine Auseinandersetzung mit Scholz (2004b) u. (2004c) findet wiederholt in dieser Arbeit statt.
? Perrin-Saminadayar (2003). ? Vgl. Gehrke (1978) u. (1998) sowie Trampedach (1994); s. auch Brunt (1993).
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I. Einleitung
Felder dar; beide müssen nicht miteinander konform gehen und sind somit auch getrennt voneinander zu betrachten. Darauf aufbauend wird in dieser Studie wiederholt die grundsätzliche Diskrepanz zwischen philosophischer Theorie auf der einen und sozialem Agieren des Philosophen auf der anderen Seite herausgearbeitet. Diese Diskrepanz zwischen (inner)philosophischem Diskurs und sozialer Praxis des Philosophen im Alltag eróffnet eine Perspektive auf die Philosophie als soziales Phánomen, die es erlaubt, den óffentlichen Diskurs über Philosophen und Philosophie in den hellenistischen Poleis neu zu bestimmen.
II. Athen
]. EINLEITUNG
In der Zeit, in der ich in jenem Gymnasium, das das Ptolemäische heißt, Antiochos zu hóren pflegte, zusammen mit Marcus Piso, und mit uns zusammen auch mein Bruder Quintus war, dazu Titus Pomponius und mein Lucius Cicero (...), da beschlossen wir einmal, Brutus, den ziergang in der Akademie zu machen, (...) und nachdem Grund berühmten Anlagen der Akademie gekommen waren
Vetter von Vaters nachmittäglichen wir zu den nicht (...). Da bemerkte
Seite, Spaohne Piso:
«Ist es Natur oder irgendeine Einbildung, daß wir, wenn wir an solche Orte gelangen, von denen uns berichtet wird, daß bedeutende Männer sich lange dort aufgehalten haben, stärker bewegt werden, als wenn wir einfach etwas über ihre Taten hóren oder etwas von ihnen Geschriebenes lesen? So bin ich auch jetzt bewegt. Denn Platon kommt mir in den Sinn, von dem wir wissen, daß er als erster hier seine Gesprüche geführt hat. Sein kleiner Garten ist in der Náhe und bringt nicht nur ihn mir in Erinnerung, sondern macht, daß ich ihn geradezu vor mir sehe. Hier wirkten Speusipp, hier Xenokrates, hier dessen Schüler Polemon, dessen Sessel noch derselbe ist, den wir hier sehen.»!
(Übers.: O. Gigon u. L. Straume-Zimmermann)
Solchermaßen inszenierte der römische Konsular Marcus Tullius Cicero die literarisch äußerst kunstvoll konstruierte einleitende Rahmenerzählung zum fünften Buch seines im Jahre 45 verfaßten Dialogs de finibus bonorum et malorum? In ihm beschreibt der Autor einen Nachmittag des Jahres 79 in Athen, an dem Cicero selbst, sein Bruder, ein Cousin sowie zwei Freunde einen Spaziergang zum ! Cic. fin. 5,1 f: Cum audissem Antiochum, Brute, ut solebam, cum M. Pisone in eo gymnasio, quod Ptolemaeum vocatur, unaque nobiscum Q. frater et T. Pomponius Luciusque Cicero, frater
noster cognatione patruelis (...) constituimus inter nos ut ambulationem postmeridianam conficeremus in Academia, (...) cum autern venissemus in Academiae non sine causa nobilitata spatia
(...). (2) tum Piso: Naturane nobis hoc, inquit, datum dicam an errore quodam, ut, cum ea loca videamus, in quibus memoria dignos viros acceperimus multum esse versatos, magis moveamur,
quam si quando eorum ipsorum aut facta audiamus aut scriptum aliquod legamus? velut ego nunc moveor. venit enim mihi Platonis in mentem, quem accepimus primum hic disputare solitum; cuius etiam illi hortuli propinqui non memoriam solum mihi afferunt, sed ipsum videntur in conspectu meo ponere. hic Speusippus, hic Xenocrates, hic eius auditor Polemo, cuius illa ipsa sessio fuit, quam videmus. ? Zum Datum der Veróffentlichung s. Bringmann (1971), 138.
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II. Athen
verlassenen Gelände der platonischen Akademie machten. Inspiriert durch den genius loci, erinnerten sie sich der Geistesheroen der Vergangenheit. Um die Mitte des dritten Jahrhunderts legte der griechische «Reiseschriftsteller Herakleides Kritikos in seinem Werk περὶ τῶν ἐν τῇ Ἑλλάδι πόλεων seine Impressionen zu Athen nieder? In seiner Darstellung nähert sich der Besucher der Stadt über die Heilige Strafie von der Peloponnes her kommend: (...) kaum dürfte ein Fremder beim ersten Anblick glauben, daß dies die «Stadt der Athener» sei; nach kurzer Zeit aber wird er es wohl glauben. So ist dort das Schónste auf Erden: (...) Drei Gymnasien: die Akademie, das Lykeion, das Kynosarges; ganz mit Bäumen bepflanzt und mit Rasenplätzen versehen. Mancherlei Feste, von mancherlei Philosophen auch geistige Verführungen und Erholungen; viel Zeitvertreib und fortwährende Schaustellungen.
(Übers.: F. Pfister)
Geht es um die Frage nach der Stellung von Philosophen und Philosophie im hellenistischen Athen, so stellen die zitierten Textpassagen von Herakleides und Cicero nachgerade loci classici dar. Doch welche Schlußfolgerungen ergeben sich aus einer Analyse dieser beiden Texte sowie einer Kontrastierung beider? Zunächst zu Herakleides Kritikos, der in der Perspektive eines fremden Reisenden einnimmt:* Zwei zentrale Aspekte lassen sich aus der zitierten Passage herauskristallisieren. Erstens: Um die Mitte des dritten Jahrhunderts existierte
ein bestimmtes Image von Athen, das mit einer spezifischen Erwartungshaltung an diese Polis in der Vorstellungswelt von Nicht-Athenern einherging. Zweitens:
?
Zu Herakleides s. H. Daeberitz, RE VIII, 1, 1912, 484-486, s. v., und Pfister (1951), 17-20;
zum Beinamen - Kritikos oder Kretikos - vgl. Dihle (1991), 67f., der überzeugend für Kritikos plädiert. Zur Frage der Datierung von Herakleides' Werk s. Habicht (19972), 171 mit Anm.
84, und Fittschen (1995), 55 f. Zu Herakleides’ Beschreibung von Athen vgl. cbd., 55-59; Perrin (1994), 197-202, und Habicht (1997a), 170-172. Zu Charakteristik, Wesen und Struktur der Schrift s. Pasquali (1913), 198-219, und Dihle (1991). * Herakl. Krit. 1,1 Pfister: (...) ἀπιστηθείη δ᾽ àv ἐξαίφνης ὑπὸ τῶν ξένων θεωρουμένη,
£l αὕτη ἐστὶν ἡ προσαγορευομένη τῶν ᾿Αθηναίων πόλις" μετ᾽ οὐ πολὺ δὲ πιστεύσειεν ἄν tic. ὧδε ἦν τῶν ἐν τῇ οἰκουμένῃ κάλλιστον" (...) γυμνάσια τρία, Ἀκαδημία, Λύκειον, Κυνόσαργες" πάντα κατάδενδρά τε καὶ τοῖς ἐδάφεσι ποώδη. ἑορταὶ παντοδαπαί' φιλοσόφων παντοδαπῶν ψυχῆς ἀπάται καὶ ἀνάπαυσις" σχολαὶ πολλαί, θέαι συνεχεῖς. -- A. Arenz hat eine neue Edition mit Kommentar und Interpretation vorgelegt (Herakleides Kritikos, Über die Stádte in Hellas. Eine Periegese Griechenlands am Vorabend des Chremonideischen Krieges. Einführung, historische Kommentierung, Text und Interpretation [Diss. Freiburg 2005]).
* Daß es sich bei Herakleides’ Beschreibung um die Sicht eines Nicht-Atheners handelt der Autor erwähnt selbst die Perspektive des Fremden -, wird in der modernen Forschung nicht genügend berücksichtigt; s. z. B. Fittschen (1995), 55, sowie Scholz (1998), 372. Hera-
kleides' Sichtweise als die eines fremden Reisenden ist nicht ohne weiteres auf eine athenische Eigenperspektive zu übertragen. Zum «fremden Blick auf Athen s. S. 168-170.
1. Einleitung
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Die Philosophen gehörten für Herakleides zu den unbedingt erwähnenswerten Charakteristika des im weitesten Sinne kulturellen Feldes dieser Stadt, ohne daß sie eine privilegierte Behandlung erhielten. Im Gegensatz zu Herakleides geht es Cicero nur um einen ganz bestimmten Ort in Athen, auf den er sein und des Lesers Augenmerk fokussiert: die platonische Akademie, die in der ciceronianischen Darstellung geradezu als kultureller dieu de mémoire figuriert. Drei Punkte sind hier von besonderer Bedeutung. Erstens: Cicero ist sowohl als Autor des Textes wie auch als Akteur im Text ein Außenstehender, ein Nicht-Athener - seine Perspektive ist die eines «Kultur- und
Bildungstouristem. Zweitens: Ciceros Sichtweise ist eine Retrospektive auf in der auktorialen wie textuellen Gegenwart kanonisierte Größen eines literarisch imaginierten und etablierten intellektuellen Pantheons Athens. Schließlich ist drittens hervorzuheben, daß es sich bei vorliegendem Text um eine Selbstinszenierung Ciceros handelt, in der und durch die er sich in der Rolle eines «Intellektuellen» produziert. Diese literarische Selbststilisierung wird auf zwei verschiedenen Ebenen vollzogen: Einerseits geschieht dies auf der textimmanenten Ebene mit der literarisch-textuellen Figur Cicero in einem seinem Wesen nach «platonischen»
Dialog; andererseits geriert sich der Autor Cicero durch das Abfassen von philosophischen Werken wie de finibus als «Intellektueller» und möchte sich in dieser
Rolle als Verfasser auch seitens der qualifizierten rómischen Óffentlichkeit verstanden wissen.‘ Vergleicht man die Passagen Ciceros und Herakleides miteinander, so ist zunächst festzuhalten, daß es sich bei beiden Quellen um literarische Texte han-
delt. Aus ihnen läßt sich ersehen, wie ein Autor zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Intention über Athen geschrieben hat und was für seinen Leser grundsätzlich plausibel erscheinen mußte. Bei beiden Autoren handelt es sich nicht um Athener, sondern um Fremde, die die Philosophie beziehungsweise die Philosophen in Athen thematisieren. Deutlicher treten dagegen die Differenzen - nicht nur hinsichtlich der Textgattungen - zu Tage. Erstens: Während Herakleides allgemein Poleis in Griechenland mit ihren Charakteristika im Rahmen einer Periegese beschreibt, geht es Cicero vorrangig um eine spezifische Inszenierung im Rahmen eines Dialogs über philosophische Quisquilien. Um seinem Dialog Dignitát und eine philosophische Aura zu verleihen, wird Athen als Handlungsort gewählt. Dies bedeutet, daß für den römischen Leser als Adressaten des ciceronianischen Werkes Athen um die Mitte des ersten Jahrhunderts nicht allein
der Name irgendeiner griechischen Stadt war, sondern dafi dem Namen Athen eine Semantik eignete, die diese Polis deutlich in Symbiose mit der Philosophie setzte. Zweitens: Wáhrend Herakleides den Leser im Rahmen seiner Periegese * Zur sozialen Konfiguration des Typus des Intellektuellen s. Haake (2003), 97-100.
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H. Athen
nach Athen gelangen läßt, wo es neben anderen staunenswerten Aspekten auch die Philosophie als erwáhnenswertes Element gibt, reist Cicero nach Athen und setzt seinen Dialog an diesem Ort in Szene, weil dort Philosophie betrieben und gelehrt wird, weil Athen der Ort für Philosophie schlechthin ist. Eine Erklárung für diese unterschiedliche Darstellungsweise ist neben der Zugehörigkeit zu verschiedenen literarischen Gattungen auch in dem zeitlichen Abstand von gut zweihundert Jahren zwischen den Abfassungsdaten der beiden Texte zu sehen.
In den folgenden Untersuchungen zu Athen wird nun eine andere Quellengattung ins Zentrum gerückt, die hinsichtlich der Frage nach den Philosophen und der Philosophie im hellenistischen Athen bislang nicht systematisch untersucht worden ist, die Inschriften. Die Ausführungen beginnen mit zwei Fallstudien: zum «Gesetz des Sophokles aus dem Jahre 307/6 und zu der Gattung der sogenannten Ephebeninschriften aus der Zeit zwischen 122/1 und 38/7. Die erste Untersuchung stellt hinsichtlich des zu analysierenden Quellenmaterials eine Ausnahme in dieser Arbeit dar, da auf literarische Zeugnisse zurückgegriffen wird, die aber Teil des óffentlichen Redens sind - námlich auf eine Gerichtsrede, in der es um Philosophen geht, und ein Komódienfragment, das mit jener in engem Bezug steht. Diese beiden Kapitel stehen am Anfang, da sie die Pole aufzeigen, zwischen denen sich die Philosophen im hellenistischen Athen bewegten. Die weiteren Kapitel zu Athen sind den Philosophenschulen des Peripatos, der Stoa, der Akademie und des Kepos gewidmet und in sich jeweils chronologisch gegliedert. Abschliefiend wird versucht, eine historisch-genetische Synthese zur Stellung von Philosophen und Philosophie sowie ihrer Rolle im óffentlichen Diskurs in Athen zu skizzieren. Verstand sich diese Polis als ein «intellectual Mecca»? begriff sie sich «als eine Entität, der eine «identity of culture and sociability»»* zu eigen war?
2. DAS «GESETZ DES SOPHOKLES» UND DIE PHILOSOPHEN
Im Frühsommer des Jahres 307 machte sich Demetrios Poliorketes im Auftrag seines Vaters Antigonos Monophthalmos von Kleinasien aus auf, um ganz Hellas eleutheria und autonomia zu bringen, genau genommen denjenigen griechischen Poleis, die sich im Zustand der douleia befanden, da sie unter der Herrschaft des Kassander und des Ptolemaios standen.? Das erste Ziel dieser Mission war
' *
Diese Formulierung stammt von Long (1986), 439. So Hölscher (1991), 378.
* Zur Darstellung der Eroberung Athens durch Demetrios Poliorketes s. Plut. Demetr. 8,1-13,2; vgl. Billows (1990), 149-151; Halfmann (1989), 29-32, und Habicht (19972), 67-76.
2. Das «Gesetz des Sophokles: und die Philosophen
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Athen, der Leuchtturm der oikumene,? wo Demetrios von Phaleron als epimeletes für Kassander obwaltete - gestützt auf eine makedonische Garnison in der Festung Mounychia.'' Auf Grund eines Mißverständnisses der Hafenbesatzung
gelang es Demetrios Poliorketes samt seiner Flotte, in den Peiraieus einzulaufen. Im Blickpunkt aller gebot er der aufgeregten Menge Stille und ließ durch einen Herold verkünden, er sei von seinem Vater geschickt worden, damit er die Athener befreie, ihre nomoi wiederherstelle und ihnen ihre patrios politeia zurückgebe. Unter dem Jubel der Athener ging Demetrios an Land und wurde
als euergetes und soter gefeiert; das «Regime des Demetrios von Phaleron brach in sich zusammen. Einige Wochen später, nach einer erfolgreichen militärischen Expedition nach Megara und der Vertreibung der kassandertreuen Garnison aus der Festung Mounychia, wandte sich Demetrios erneut an die Athener - diesmal
sprach er vor dem versammelten dernos: Er gab ihnen ihre patrios politeia zurück und versprach, daß sie von seinem Vater einhundertundfünfzigtausend Scheffel Getreide und Bauholz für einhundert Trieren erhalten sollten.? Die Athener
beschlossen daraufhin für Antigonos und Demetrios Ehren, wie sie noch kein Sterblicher zuvor in Athen erhalten hatte."
Neben den exzeptionellen Ehrungen für Antigonos und seinen Sohn beschloß die Polis Athen eine Reihe von Maßnahmen, die symboltráchtig zum Ausdruck brachten, daß mit der Beendigung der Herrschaft des Demetrios von Phaleron eine neue Zeit angebrochen war. Die zurückliegenden zehn Jahre wurden als Tyrannis gebrandmarkt: An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang die Errichtung goldener Standbilder von Antigonos und seinem Sohn Demetrios in unmittelbarer Nachbarschaft der Statuengruppe der Tyrannenmórder Harmodios und Aristogeiton zu nennen.'* Um der ganzen Welt - aber auch sich selbst - zu demonstrieren, daß nach den Jahren der douleia nun wieder eleutheria und autonomia
in Athen herrschten, wurde durch eine ebenso ostentative wie intensive Tátigkeit des athenischen demos die neue alte Freiheit manifestiert: Die hohe Anzahl der beschlossenen und publizierten psephismata im Jahr 307/6 und der unmittelbar darauffolgenden Zeit sprechen eine deutliche Sprache, denn die Publikation von 10 Zur dieser Formulierung (σκοπὴ τῆς οἰκουμένης) s. Plut. Demetr. 8,2. " Zu Demetrios von Phaleron s. unten S. 60-82.
" Zu Demetrios als soter und euergetes sowie den Schenkungen s. Plut. Demetr. 9,1 u. 10,1; nach Diod. 20,46,4 schenkte Antigonos den Athenern das Getreide und das Schiffsbauholz als Reaktion auf die Ehren, die er in Athen erhalten hatte.
? Zu den Ehrungen für Demetrios und seinen Vater Antigonos vgl. Habicht (1970), 44-48, u. (19972), 68 f. " Diod. 20,46,2.
'5 Der Zeit zwischen 317/6 und 307/6 sind nur zwei Volksbeschlüsse zuzuweisen (IG IP 450 u. 453), allein aus dem Jahr 307/6 jedoch stammen sechzehn; s. Tracy (20002), 229 mit Anm. 30, und vgl. Walbank (1988).
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II. Athen
Dekreten war ein semantisch aufgeladener politischer Akt sui generis.'* Jedoch nicht allein auf quantitativer Ebene ist der Befund eindeutig, auch inhaltlich sind die Aussagen, die in den Inschriften transportiert werden, bezüglich eleutheria und autonomia äußerst explizit. In einem postumen Ehrendekret für Lykurg aus dem Jahre 307/6, das die zeitgenössische politische Rhetorik deutlich widerspiegelt, wird dieser vor allem wegen seines lebenslangen Einsatzes für die Freiheit seiner patris geehrt." Das athenische Selbstverstándnis jener Jahre demonstrieren auch der im Jahre 307/6 von Demosthenes' Neffen Demochares in die Volksver-
sammlung eingebrachte Baubeschluß für asty, «Lange Mauern» und den Peiraieus? sowie das in das Jahr 304/3 datierende Ehrendekret für einen nomothetes,
nàmlich Euchares, Sohn des Euchares, aus Konthyle. Dieser wurde wegen seiner Verdienste um die öffentliche Aufzeichnung der nomoi im Jahr des Archon Pherekles (304/3) geehrt: Jeder, der es wünschte, konnte sie überprüfen. Doch
die Jahre nach dem
Ende von Kassanders Vorherrschaft über Athen
waren nicht allein gekennzeichnet durch Ehrungen für Demetrios Poliorketes und Antigonos Monophthalmos, Manifestationen der eleutheria und mehrfache Erinnerungen an athenische «Freiheitskáàmpfep der dreißiger und zwanziger Jahre sowie der Gegenwart,? sondern auch durch politisch motivierte Gerichtsprozesse. Diese Prozesse waren gegen Personen gerichtet, die dem Umfeld des Demetrios von Phaleron zugerechnet wurden oder die im Verdacht einer philomakedonischen Haltung standen. Der Phalereer selbst hatte im Sommer des Jahres 307 in Theben Zuflucht gesucht, weit mehr aus Angst vor seinen Mitbürgern als vor Demetrios Poliorketes.?' Damit stand er als Zielscheibe athenischer Rachegelüste für zehn Jahre makedonenhórige Politik nicht zur Verfügung. Angeklagt !^ Vgl. Habicht (19972), 71 f.; Hedrick (1999), 402 f., u. (2000), Tracy (20002), 227-230, und Pébarthe (2005), 176-181.
7 IG IP 457 = Syll? 326; s. auch Plut. mor. 851f-852e; zum Verhältnis von epigraphisch erhaltenem psephisma und literarisch überliefertem Dekret vgl. u.a. Curtius (1866). Osborne (1981b), 172-174, hat zu beweisen versucht, daß es sich bei IG IT? 513 um eine Kopie des Ehrendekretes für Lykurg handelt; vgl. dazu Oikonomides (1986) und Prauscello (1999). Zur
Interpretation der Lykurg zugesprochenen timai megistai sowie deren Motivation vgl. Gauthier (1985b), 89-92; Faraguna (1992), 229f.; Prauscello (1999), 55-58, und Kralli (1999-2000), 148-150.
'* IG IT? 463; s. Maier (1959), 48-67 Nr. 11. ? [G IP? 487 - zu dieser Inschrift s. Hedrick (1999), 412; zu Euchares vgl. Habicht (1979), 22f. ? Neben den Ehrungen für Lykurg ist hier zu denken an die Ehrendekrete für Timosthe-
nes, Sohn des Demophanes (IG II? 467 - 307/6), für Euxenides, Sohn des Eupolis, aus Phaselis (IG IT? 554 — ca. 305/4), für den aus Ilion stammenden Nikandros, Sohn des Antiphanes, und
für den Ephesier Polyzelos, Sohn des Apollophanes (IG II? 505 - 302/1; s. Maier [1959], 69-73 Nr. 13), sowie für Menoites (IG IP 506 - ca. 302/1).
2! Zu Demetrios von Phalerons «Exil in Theben s. Diod. 20,452 u. Plut. Demetr. 9.3.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
aber wurde beispielsweise
Deinarchos von Korinth, dem
19
die Zersetzung des
demos (καταλύειν τὸν δῆμον) vorgeworfen wurde -- Ursache waren jedoch seine Kontakte zum Phalereer und zu Theophrast. Dem Prozeß entzog sich Deinarchos durch Flucht nach Chalkis.? Der Komódiendichter Menander - gefährdet,
war - hatte das Glück, einen weil er ein Freund des Demetrios von Phaleron
Fürsprecher zu haben, námlich Telesphoros, einen Neffen des Phalereers.? Der Atthidograph Philochoros berichtet im Zusammenhang mit der Beendigung der «Herrschaft» des Demetrios von Phaleron von zahlreichen Klagen gegen Gegner
der Demokratie. Diejenigen, die sich dem Gericht unterwarfen, wurden freigesprochen, hingegen wurden alle, die sich durch Flucht dem athenischen demos zu entziehen suchten, in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Vor diesem Hintergrund sind auch ein Gesetz und die mit diesem in Zusammenhang stehenden Ereignisse zu sehen, denen im folgenden besondere Aufmerksamkeit gilt? das sogenannte «Gesetz des Sophokles»?* aus dem Jahr 307/6 2 Dion. Hal. de Din. 2f.; Dionysios basiert auf Philochoros: FGrHist 328 F 66 = Dion. Hal. de Din. 3. Zu Deinarchos' Biographie s. Worthington (1992), 3-12. ? Diog. Laert. 5,79; zu Telesphoros s. Webster (1960), 195-197, u. v.a. Potter (1987). Zur Frage der peripatetischen Beeinflussung von Menanders Komódien vgl. Gaiser (1967). - Neben
Menander wurden spáterhin die Komódiendichter Archedikos und Philippides im Zusammenhang von Auseinandersetzungen zwischen pro- und antimakedonischen Kräften in Athen angeklagt. Zu Philippides (Austin [1974], 218 Nr. 193) s. Philipp (1973) sowie Franco (1990); zu Archedikos (Austin [1974], 204 Nr. 29) vgl. Habicht (1993b).
^ FGrHist 328 F 66 - Dion. Hal. de Din. 3. Dieses Vorgehen ist als eine Strategie zur Deeskalierung und Minderung des inneren Konfliktpotentials zu verstehen. 55 Mit dem sophokleischen Gesetz aus einer dezidiert politischen Perspektive habe ich mich in Haake (forthcoming a) auseinandergesetzt. 2° Über Sophokles, Sohn des Amphikleides, aus Sounion (LGPN II, s. v. [22]) ist sonst nichts
bekannt. - Die antiken Quellen verwenden für das «Gesetz des Sophokles> sowohl den Begriff nomos als auch psephisma (s. S. 20-22); zur Verwendung der beiden Begriffe vgl. grundsätzlich Quass (1971), 2-5 u. 14-44; bezüglich Athen s. Hansen (1974), 44-48, und Todd (1993), 18-20 u. 294f. Korhonen (1997), 78, die auf MacDowell (1978), 43-46, rekurriert, vermutet
zu Recht, daß den späteren Autoren die Differenz zwischen nomos und psephisma wohl nicht bekannt war; ihre Annahme, daß dieser Umstand dadurch bedingt sei, daß es nie eine klare terminologische Differenz zwischen beiden Begriffen gegeben habe, ist hingegen nicht zutreffend. Wenn die These von Hansen (1978), 329, zutrifft und auch noch für die Zeit nach 307/6 Gültig-
keit besitzt, daß «any nomos passed by the nomothetai presupposed a psephisma passed by the ecclesia and ordering the appointment of nomothetai», dann kónnte auch in diesem Umstand die Ursache für die differierenden Bezeichnungen für das «Gesetz des Sophokles in den Quellen liegen. - Ob es sich bei der graphe um eine graphe paranomon oder eine γραφὴ νόμον μὴ
ἐπιτήδειον θεῖναι gehandelt hat, hängt davon ab, ob sie gegen einen nomos oder ein psephisma gerichtet war; s. Rhodes with Lewis (1997), 17f. u. 42. Da die Quellen hinsichtlich der Klas-
sifizierung des sophokleischen Gesetzes differieren, Athenaios (13,610f) das graphe- Verfahren terminologisch nicht prázise benennt und Diogenes Laertios (5,38) in seiner Aussage zur
20
II. Athen
und die graphe im darauffolgenden Jahr.? Zu diesem Komplex ist die Quellenlage alles andere als günstig: Zur Verfügung stehen kurze Textpassagen von Athenaios, Diogenes Laertios und Pollux;? neben diesen späten Zeugnissen liegen unmittelbar zeitgenössische Quellen vor: Fragmente aus Demochares' Verteidigungsrede für Sophokles? im Rahmen der graphe und auch einige Verse aus Alexis’ Komódie Hippeus.” Somit stehen im folgenden also keine epigraphischen Zeugnisse, sondern literarische Texte im Focus, wobei der apologia weit mehr Aufmerksamkeit zukommen wird als dem Komödienfragment. Gerechtfertigt ist diese Perspektive auf Grund der singulären Möglichkeit, Äußerungen über Philosophen zu analysieren, die in der athenischen Öffentlichkeit zu verorten sind, aber einem gänzlich anderen Kontext als die Inschriften entstammen. Die zu Tage tretenden Differenzen zu der in den epigraphischen Zeugnissen manifesten öffentlichen Rede ermöglichen es darüber hinaus, diese deutlicher zu profilieren. Athenaios gibt in einem Paragraphen, in dem er verschiedene Philosophenvertreibungen aufzáhlt, einen lakonischen Hinweis auf das psephisma des Klassifizierung des Gesetzes und der graphe in sich nicht kohárent ist, erscheint es angemessen, weder die graphe zu spezifizieren noch zu entscheiden, ob es sich um einen nomos oder ein pse-
phisma beim sophokleischen Gesetz gehandelt hat. 27 Es ist überraschend, daß in der modernen Forschungsliteratur das sophokleische Gesetz ebenso wie die sich anschließende graphe recht wenig Berücksichtigung gefunden haben; einige - nicht immer unproblematische - Ausnahmen finden sich in jüngster Zeit: Sonnabend (1996), 118-124; Korhonen (1997), 75-82; Thrams (2001), 106-108; O'Sullivan (2002) sowie Lynch (1972), 103f. u. 117f. Scholz (1998), 50, 66 u. 366 mit Anm. 4, tangiert diese Ereignisse ebenso wie Dreyer (1999), 182 Anm. 277, nur. Die oftmals als Referenz ausgewiesenen Ausführungen von Wilamowitz-Moellendorff (1881), 191-197, halten einer kritischen Bewertung
nicht stand. 22 Athen. 13,610e-f; Diog. Laert. 5,38 u. Poll. 9,42. ? Democh. frg. 1 Marasco = Athen. 11,508f-509b; frg. 2 = Aristokles frg. 2,6 Chiesara = Euseb. Praep. Ev. 15,2,6; frg. 3a = Athen. 215c u. frg. 3b = Athen. 187d. Ὁ PCGII Alexis frg. 99 = Athen. 13,610e; zu Alexis s. Nesselrath (1990), 58f. u. 198f.
? Außer dem sophokleischen Gesetz werden zwei weitere Philosophenvertreibungen angeführt. (1.) Die Vertreibung der Philosophen aus dem Königreich des Lysimachos zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt. Athenaios (13,610e) basiert hier auf Karystios von Pergamon (FHG IV Karystios v. Pergamon F 9) - vgl. auch Plut. Alex. 55; s. Lund (1992), 9f. (2.) Athenaios (13,610f) erwähnt, daß die Römer Sophisten aus Rom vertrieben, da diese die Jugend
verdorben hätten; einige Zeit später aber durften sie wieder zurückkehren. Ob sich Athenaios auf die Ausweisung von Philosophen und Rednern 161 (Suet. gramm. 25,1; Gell. 15,11,1; vgl. Scholz [2004b], 23) oder aber der Epikurcer Alkios und Philiskos aus Rom 173 oder 154 (Ail.
var. 9,12; Suda, s. v. Ἐπίκουρος = Ail. frg. 42a Domingo-Forasté; s. Candiloro [1965], 170f.; Gigante [1983b], Grimal [1986], 263 f.; M. Ducos, DPhA I, 1989, 99f., s. v. [A 84], u. v.a. Gruen [1990], 177-179, sowie Noy [2000], 45) bezogen hat, ist nicht zu entscheiden. - Daneben sind
für die hellenistische Epoche weitere Philosophenvertreibungen bezeugt. Zu einem unbekannten Zeitpunkt wies die arkadische (sic!) Polis Messene die Epikureer aus ihrer Stadt (Athen. 12,547a; Suda, s. v. Ἐπίκουρος = Ail. frg. 42a Domingo-Forasté; Crönert [1906], 177, vermutete
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
21
Sophokles, auf Grund dessen alle Philosophen aus Attika vertrieben worden seien: kai Σοφοκλῆς δέ τις ψηφίσματι ἐξήλασε πάντας φιλοσόφους τῆς Ἀττικῆς, ...
Auch ein gewisser Sophokles hat durch einen Volksbeschluß alle Philosophen aus Attika vertrieben, ... In seiner Theophrastvita? berichtet Diogenes Laertios, daß Theophrast trotz des hohen Ansehens, welches er in Athen genossen habe, für einige Zeit - wie alle
anderen Philosophen auch - die Stadt wegen des nomos des Sophokles habe ver-
für Messene ebenso wie für Lyktos [s. u.] den Stoiker Poseidonios als Quelle); als Grund wird
das Verderben der Jugend angeführt. Eine Ausweisung der Epikureer aus Messene ist auch in Philodems Schrift de Stoicis (col. III, Z. 5-8 Dorandi) bezeugt; als Grund wird die epikureische
Lehre über die hedone angegeben. Gleiches gilt für die thessalische Polis Phallana (s. loc. cit.); vgl. dazu Dorandi (1982c), 111. Die kretische Polis Lyktos schuf aus religiósen und kultischen Gründen die gesetzliche Grundlage zur Ausweisung der Epikureer (Suda, s. v. Ἐπίκουρος = Ail. frg. 42a Domingo-Forasté). Diese sollen auch von einem nicht näher bestimmbaren, sicher jedoch spáten Seleukidenherrscher namens Antiochos aus dessen Reich vertrieben worden
sein (Athen. 12,547a-b; ein Teil der Textpassage findet sich auch bei Eust. Comm. ad Hom. Il., p. 427f. van der Valk). Dies geht aus einem von Athenaios zitierten Brief an einen anderweitig unbekannten Phanias (s. Grainger [1997], 112) hervor; zu diesem Schreiben sowie seiner nicht gesicherten Authentizität s. Radermacher (1901), Crönert (1907), 151 f.; Holleaux (1933), 17f. mit Anm. 2; Gauger (2000), 187-193; Austin (2001), 99, und Ehling (2002), 49f. Mög-
licherweise ist Antiochos der Philosophenvertreiber mit Antiochos VI. zu identifizieren, der nach Athenaios' de regibus Syriae den Epikureer Diogenes aus Seleukeia (R. Goulet, DPhA II, 1994, 807, s. v. [D 145]) hinrichten ließ (FGrHist 166 F 1 = Athen. 5,211a-d). Quelle für diese Episode kónnte Poseidonios sein; vgl. Malitz (1983), 9 mit Anm. 42, und Kidd (1988), 977; s. auch Savalli-Lestrade (1998), 75 f. Nr. 75, und Austin (2001), 100. Zu den angeführten Philoso-
phenvertreibungen mit der Ausnahme von Lyktos s. Habicht (1994), 237, und ferner Hartmann (2002), 64-66.
* Athen. 13,610e. Aus dem Text geht zweifelsfrei hervor, daß sich für Athenaios das sophokleische Gesetz nicht auf das gleiche Ereignis bezieht wie die Verse des Alexis (PCG II Alexis frg. 99 = Athen. 9,610e): Nach dem Komödienzitat folgt der Anschluß mit kal, was keine andere Interpretation als die angegebene, jedoch falsche Auffassung des Autors der Deipnosophistai zuläßt. * Zu dieser vgl. Mejer (1998) und Dorandi (1998).
* Bereits zuvor wird ein Ereignis angeführt, das dic hohe Wertschátzung der Athener für Theophrast verdeutlichen soll (Diog. Laert. 5,37): Eine Asebieklage des Hagnonides gegen den Petipatetiker scheiterte 318/7, der Kláger entging seinerseits nur knapp einer Bestrafung, d. h., er konnte nur wenig mehr als ein Fünftel der Stimmen auf seinen Antrag vereinen. In einer bei Aelian (var. 8,12) vorliegenden Tradition war auch Demochares mit einer Áufterung gegen Theophrast in den Prozeß involviert; s. Derenne (1930), 199-201; Bauman (1990), 122; Scholz (1998), 187 f., u. v. a. O'Sullivan (1997), 136-139. Nicht ersichtlich ist, warum Korhonen (1997),
83 mit Anm. 268, auf Cic. Tusc. 5,9,24f. verweist.
22
II. Athen
lassen müssen.? Der Inhalt dieses Gesetzes bestand nach Diogenes Laertios in der Bestimmung, daß kein Philosoph als Oberhaupt über eine Schule ohne die Erlaubnis von boule und demos habe agieren dürfen - als Sanktion sei die Todesstrafe festgesetzt gewesen:?s τοιοῦτος δὲ ὦν, ὅμως πρὸς ὀλίγον ἀπεδήμησε καὶ οὗτος καὶ πάντες οἱ λοιποὶ φιλόσοφοι, Σοφοκλέους τοῦ Ἀμφικλείδου νόμον εἰσενεγκόντος μηδένα τῶν φιλοσόφων σχολῆς ἀφηγεῖσθαι ἂν μὴ τῇ βουλῇ καὶ τῷ δήμῳ δόξῃ᾽ εἰ δὲ μή, θάνατον εἶναι τὴν ζημίαν. Trotz seines Rufes mußte auch er mit allen anderen Philosophen zeitweilig außer Landes gehen; denn Sophokles, Sohn des Amphikleides, hatte ein Gesetz eingebracht, daß bei Strafe des Todes kein Philosoph ohne Beschluß von Rat und Volk eine Schule leiten dürfe. (Übers.: Ε Jürß) Im Onomastikon des Pollux findet sich unter dem Lemma διδασκαλία eine Erwähnung des sophokleischen Gesetzes - der Autor bezeichnet es als nomos -, demzufolge es keinem der Sophisten gestattet sein sollte, eine Schule zu gründen:;? ἔστι δὲ kai νόμος Ἀττικὸς κατὰ τῶν φιλοσοφούντων γραφείς, ὃν Σοφοκλῆς Ἀμφικλείδου Σουνιεὺς εἶπεν, ἐν ᾧ τινὰ κατὰ αὐτῶν προειπῶν ἐπήγαγε μὴ ἐξεῖναι μηδενὶ τῶν σοφιστῶν διατριβὴν κατασκευάσασθαι. Es gibt aber auch ein attisches Gesetz verfaßt gegen diejenigen, die philosophieren, das Sophokles, Sohn des Amphikleides, aus Sounion vorbrachte, in dem er mit einer Rede gegen sie beantragte, daß es keinem der Sophisten erlaubt ist, eine Schule zu gründen. Besondere Aufmerksamkeit verdient, daß Pollux im Zusammenhang mit Philosophen von Sophisten spricht. Wie ist dieser Begriff im vorliegenden Kontext zu verstehen? Ist er rein deskriptiv und wertneutral, oder enthált er eine normative Bewertung, etwa die Diskreditierung einer Personengruppe? Ist die Gruppe,
35. Vgl. in Ansätzen Sollenberger (1992), 3820-3822, und Korhonen (1997), 76.
* Diog. Laert. 5,38; der Text folgt der Edition von Sollenberger; vgl. auch Marcovichs Edition.
” Poll. 9,42 Bethe; vgl. Korhonen (1997), 76f. Diesem Passus wird vielfach große Bedeutung zugebilligt, da in der Forschung die Ansicht vertreten wurde, daß Pollux beim Abfassen seines Werkes Zugriff auf das Original des Gesetzes gehabt hátte; s. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 270 mit Anm. 6, sowie Düring (1941), 149. Die Ausführungen von Korbonen (1997), 76-83,
lassen es hingegen plausibler erscheinen, daß Pollux der ursprüngliche Text des sophokleischen Gesetzes nicht zur Verfügung stand.
2. Das «Gesetz des Sophokles> und die Philosophen
23
die unter dem Begriff subsumiert werden kann, überhaupt klar umrissen? Oder
aber werden ganz einfach Philosoph und Sophist als Synonyme verwendet? Die Beantwortung dieser Fragen wird dadurch erschwert, daß sophistes je nach Kontext und Perspektive zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Bedeutun-
gen zukommen.? Dies trifft für den epigraphischen Befund im Hellenismus? ebenso wie für die attischen Rhetoren des vierten Jahrhunderts zu.“ Für die
» Vgl. Stanton (1973) sowie Brunt (1994) und Puech (2002), 10-15. Untersteiner (1961), xvi-xxviii, und Vitali (1971), 15-51, haben sich umfassend mit dem Wort sophistes und seiner
Bedeutung in literarischen Texten auseinandergesetzt. » Während in vorhellenistischer Zeit σοφιστής inschriftlich nicht bezeugt ist, sind für den Hellenismus vier Belege anzuführen: (1.) LOropos 520 - IG VII 414, Z. 8: In einer Siegerliste der Megala Amphiaraia aus dem Jahr 329/8 (zur Datierung s. Knoepfler [1993]) wird der
anderweitig unbekannte Athener Pausimachos als σοφιστής bezeichnet. Welche spezifische Bedeutung σοφιστής in dieser Inschrift zukommt, ist unklar; s. Robert (1938), 21 mit Anm. 2, und Pernot (1993), I 48f. (2.) Baldwin Bowsky (1989), 118-123 Nr. 1, Z. 6f.: In einem in das spáte 2. Jh. datierten Grabepigramm aus dem kretischen Lato pros Kamara wird der aus der Jokalen Oberschicht stammende Kletonymos, Sohn des Mnastokles, als achter der Sieben Wei-
sen bezeichnet; vgl. Voutiras (1990) und Rigsby (1990), zum Hintergrund s. Lattimore (1962), 286. σοφιστής wird hier im Sinne von «wise, prudent, or statesmanlike, in which sense the seven Sages are called σοφισταί» (s. LST^, s. v. [1.2.]) verwendet. Die Belege, die Baldwyn Bowsky
(1989), 120, als Parallelen für die Verwendung von σοφιστής aus Grabepigrammen anführt, stammen allesamt aus der Kaiserzeit. Zu Kletonymos s. Chaniotis (1996), 74 mit Anm. 396. (3.) 1.Ephesos VII 1, 4101: Bei diesem Beleg handelt es sich um ein senatus consultum aus der Zeit des Zweiten Triumvirats, in dem paideutai, Sophisten und Ärzten Privilegien garantiert
werden. Da es sich bei dem vorliegenden Text um die griechische Übersetzung des lateinischen Originals handelt, die in traianische Zeit datiert, ist dieses Zeugnis nicht als Beleg für die Verwendung von σοφιστής in Inschriften hellenistischer Zeit zu rechnen; vielmehr liegt der
hochkaiserzeitliche Sprachgebrauch der Verwendung dieses Wortes vor (s. Bringmann [1983], 51-53); für den lateinischen spätrepublikanischen Urtext ist eher zu vermuten, daß rhetores (a. O., 52 u. 75) oder aber weniger wahrscheinlich praeceptores (Knibbe [1981], 4) geschrieben war. Zu dieser Inschrift s. Knibbe (1981), Bringmann (1983), Hahn (1989), 100f., und Puech (2002), 495-497 Nr. 281. (4.) FGrHist 239 F B 11 (dazu: FGrHist II C, p. 701): Im nach 264/3 verfafiten Marmor Parium, zwar epigraphisch überliefert, jedoch eigentlich literarischer
Natur, wird Aristoteles als σοφιστής bezeichnet, Sokrates hingegen als Philosoph (FGrHist 239 ΒΑ 66). Die singuláre Kategorisierung des Aristoteles als Sophist ist nur schwer erklärbar. Mit Sicherheit ist davon auszugehen, daf? die Bezeichnung hier nicht diskreditierend gemeint ist, da der Autor des Marmor Parium Personen aus dem künstlerischen wie literarischen Feld stets auf Grund ihrer als positiv erachteten Leistung anführt. Es ist zu vermuten, daß Aristoteles in
dem Sinne als Sophist bezeichnet wird, wie Herodot die Sieben Weisen (1,29,1) und Pythagoras (4,95,2) als Sophisten tituliert: Gemeint ist der umfassend gebildete und weise Mann. Der
Sprachgebrauch im Marmor Parium ist mit dem im Grabepigramm für Kletonymos aus Lato gleichzusetzen. * [m Corpus Demosthenicum (vgl. Wankel [1976], IT 1194f., ad Demosth. or. 18,276) und
bei Aischines (s. Paulsen [1999], 369, ad Aischin. leg. 112) ist dieses Wort stets negativ konnotiert: «Stigmatisierb werden mit diesem Ausdruck stets Personen, die Argumente vorzubrin-
24
II. Athen
Mese und Nea gilt, daß «Sophis und «Philosoph» parallel verwendet werden konnten: Personen, die mit diesen Begriffen bezeichnet wurden, galten als Verbreiter unsinnigen Geschwátzes.*! Auch in anderen literarischen Texten findet sich im frühen Hellenismus eine Gleichsetzung von Philosophen und Sophisten. Stets ist es dabei die Intention der Autoren, Philosophen durch die Verwendung des Wortes sophistes zu diskreditieren; verwiesen sei auf Textstellen in den Silloi des Timon von Phleius? sowie auf die neun Bücher umfassende Schrift πρὸς τοὺς σοφιστάς des Epikureers Metrodoros von Lampsakos, der darin gegen alle nicht-epikureischen philosophischen Schulen polemisiert.” Kann man aber auf Grund des vielfach synonymen Gebrauchs der Wórter Sophist und Philosoph in der Literatur davon ausgehen, daß auch in einem athenischen psephisma respektive nomos des Jahres 307/6 der Begriff sophistai an Stelle des Wortes Philosophen Anwendung fand oder aber handelt es sich um eine spátere Formulierung? Auf Grund mangelnder Zeugnisse ist diese Frage nicht mit Sicherheit zu beantworten. Sollte ursprünglich «Sophist als Bezeichnung für «Philosoph» verwendet worden sein, so wáre dem Wort zweifellos eine polemische Konnotation zuzusprechen. Das letzte Zeugnis, das unmittelbar auf das «Gesetz des Sophokles Bezug nimmt, besteht aus fünf Zeilen aus Alexis Komódie Hippeus, die noch im gleichen Jahr geschrieben worden sein muß, in dem auch das sophokleische Gesetz gen vermögen, um Verderbliches zu verteidigen ([Demosth.] or. 35,39-43, bes. 41; s. Hesk [2000], 216), oder aber Falschspieler und Wortverdreher sind (Demosth. or. 18,246 u. 250
sowie Aischin. Tim. 1,125). Lysias hingegen verwendet den Begriff sophistes sowohl in positiver (Lys. 33,3) als auch in negativer Weise; dies ist in der Rede in Aeschinem Socraticum der Fall
(Lys. 38 Gernet - Bizos = SSR II Aeschines [VI A] frg. 16 = Athen. 13,611d-612f; vgl. Dittmar [1912], 256-259, sowie zu dieser Rede Messina [1948], [1949] u. [1950]). Bei Lysias liegt also
kein einheitlicher Sprachgebrauch vor, sondern der Kontext bestimmt die Semantik des Wortes. In seiner Antidosis-Rede wandte sich Isokrates (15,268) gegen die für die Jugend unnützen logoi der alten Sophisten und verfafite ein ganzes Pamphlet unter dem sprechenden Titel Gegen die Sophisten (Isokr. or. 13; zu dieser Rede s. Eucken [1983], 5-43; Dixsaut [1986] und Usener [1994], 132-135).
*' Zur Verwendung von sophistes in der attischen Komödie s. Weiher (1913), 40-45. Dies verdeutlicht neben einem Textpassus, den nach Athenaios Sotion in seiner Schrift über Timons Silloi einer Komödie des Alexis mit dem Titel Ἀσωτοδιδάσκαλος zugeschrieben hat (PCG II Alexis frg. 25, Z. 1-3 = Athen. 8,336e = Sotion frg. 1 Wehrli) auch ein Fragment aus Antipha-
nes Komödie Kleophanes, in dem die Verbindung zwischen dem Lykeion und den Sophisten eindeutig ist (PCG Il Antiphanes frg. 120 = Athen. 3,98f-99b). Zur Frage der Autorschaft des Alexis s. Arnott (1955) und Nesselrath (1990), 69f.; zu Antiphanes vgl. Konstantakos (2000).
#2 Timon frg. 1 Di Marco = Diog. Laert. 9,111f.; frg. 48 = Diog. Laert. 9,64; frg. 58 = Plut. mor. 446b-c; vgl. Di Marco (1989), 115 f£. ad frg. 1, sowie Korhonen (1997), 77.
9 Metrodor. frg. 28 Koerte = Plut. mor. 1091a; zu dieser Schrift vgl. A. Koerte, RE XV, 2, 1932, 1477-1480, hier 1478, s. v. (16), sowie v.a. Tepedino Guerra (2000), 42.
** Dies ist die Auffassung von Korhonen (1997), 77.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
25
vorgebracht und angenommen worden war,*5 und die Athenaios in der Reihe der Belege für Ausweisungen von Philosophen aus Athen zitiert:*é τοῦτ᾽ ἔστιν Ἀκαδήμεια, τοῦτο Ξενοκράτης; πόλλ᾽ ἀγαθὰ δοῖεν οἱ θεοὶ Δημητρίωι 4
καὶ τοῖς νομοθέταις, διότι τοὺς τὰς τῶν λόγων, ὥς φασι, δυνάμεις παραδιδόντας τοῖς νέοις
ἐς κόρακας ἔρρειν φασὶν ἐκ τῆς Ἀττικῆς.
4
dst dies die Akademeia, ist Xenokrates dies? Die Götter mögen vieles Gute dem Demetrios und den Gesetzgebern gewähren, da sie jene, die dem jungen Volk, wieman es nennt, die Macht der Worte beigebracht, aus Attika zum Teufel weggejagt» (Übers.: C. Friedrich)
Der genaue Kontext dieses Fragments im Hippeus ist ebenso unbekannt wie
der gesamte Inhalt dieser Komödie.” Mit einer klassischen Einstiegsformel für Gebete am Beginn von Ζ. 2 wird ein Segenswunsch formuliert: Die Götter mógen Demetrios, gemeint ist Demetrios Poliorketes, und den nomothetai viel Gutes zukommen lassen, denn diejenigen, die der Jugend die Macht der Worte gelehrt hátten, seien aus Attika zur Hólle gejagt worden. Alexis rückt also zwei Akteure in das Zentrum, die in den anderen Quellen explizit keine Rolle spielen und - für Demetrios Poliorketes gilt das mit Sicherheit -- formal auch nicht in das Verfahren um das sophokleische Gesetz involviert waren. Die Erwähnung des Demetrios Poliorketes läßt sich dadurch erklären, daß dessen «Befreiung» Athens die Voraussetzung für das Gesetz gegen die Philosophen war. Schwieriger gestaltet sich hingegen die Frage nach den nomothetai und dem Grund ihrer Nennung. Die nomothetai*? hatten im Athen des vierten Jahrhunderts ihren klar umrisse-
*5 Zur Datierung s. Arnott (1996), 858f. ** PCGII Alexis frg. 99 = Athen. 13,610e. Diese Passage zeigt exemplarisch, daß auch in der
Nea dic Bezugnahme auf politische Tagesereignisse vorkam. *' Vgl. Arnott (1996), 259-261, zum Hippeus. Neben dem zitierten Fragment sind zwei weitere Textpassagen aus Athenaios' Deipnosophistai dieser Komódie entnommen: PCG II Alexis frg. 100 = Athen. 11,481f-482a u. frg. 101 = Athen. 11,471e. Spekulativ muß die Überlegung
scin, ob mit dem Titelwort Hippeus auf den Typus des wohlhabenden Atheners angespielt sein kónnte; zu den hippeis im Athen des 4. Jh.s s. Mossé (1990). ** Zum Segenswunsch s. Arnott (1996), 263. Hinsichtlich des Sprechers hat Arnott (a. O., 260f.) vermutet, daß es sich entweder um den Vater eines von Philosophen verdorbenen Soh-
nes oder aber um einen paidagogos dieses Sohnes handeln könnte; die Parallele zu Strepsiades’ Jammern über seinen mißratenen Sohn Pheidippides in Aristoph. Nub. 1338-1510 ist jeden-
falls evident. ? Die epigraphischen Belege sind zusammengestellt bei Tracy (1995), 45 mit Anm. 54.
26
II. Athen
nen Platz im Gefüge der Institutionen und waren für die Revision, Kontrolle und Prüfung der Gesetze zuständig.” Indirekt bezeugt sind die nomothetai für die Zeit nach 307/6 nicht allein in dem Fragment des Alexis, sondern auch in einem
Ehrendekret aus dem Jahre 304/3, in dem die [v](ev)|opoffpo] θετημένοι
(sc.
νόμοι) erwähnt werden (IG II? 487, Z. 6). Nimmt man an, daß die nomothetai
auf Grund der für sie vorgebrachten Segenswünsche im Hippeus in die Vorgänge um das «Gesetz des Sophokles involviert gewesen sind, so stellt sich die Frage nach ihrer Rolle. Wären die nomothetai aktiv in das Prozedere der Beschlußfassung eingebunden gewesen, so wäre das «Gesetz des Sophokles ein nomos und kein psephisma gewesen.*! Jedoch ist in einer Komödie nicht unbedingt eine «staatsrechtlich» korrekte Beschreibung eines historischen Vorgangs zu erwarten. Alexis' Nennung von Demetrios Poliorketes und - als Symbol für das demokratische Athen - der nomothetai ist vielmehr als eine analytische Interpretation der Vorgánge um die Vertreibung der Philosophen zu verstehen: Der Komódiendichter benennt die beiden zentralen Voraussetzungen, ohne die das Gesetz des Sophokles nicht hátte zustandekommen kónnen. Warum werden im ersten Vers des Fragments die Akademie und deren dritter Scholarch, der 314 verstorbene Xenokrates,? genannt? Für die Interpretation ist von zentraler Bedeutung, daß es sich bei dieser Zeile nicht um einen Aussagesatz, sondern um eine Frage handelt, wobei die Verwendung von τοῦτο ein deutlicher Indikator für eine verächtliche Einstellung des Sprechers ist.” Allein wenn der erste Vers in dieser Weise aufgefaßt wird, sind auch die folgenden vier Zeilen, wird das Dank- und Bittgebet für Demetrios und die nomothetai verständlich. Doch ist damit nicht die Erwähnung der Akademie und des Xenokrates erklärt. Die Nennung der Akademie ergibt nur dann einen Sinn, wenn vom sophokleischen Gesetz alle Philosophenschulen betroffen waren und alle Philosophen den Exodus aus Athen vollzogen. Deswegen steht zu vermuten, daß der erste von Athenaios zitierte Vers am Ende einer Reihe von Philosophenschulen stand, bevor nach dem die Akademie betreffenden Vers die Segensanrufung folgt. Für die Anführung des Xenokrates acht Jahre nach dessen Tod ist
5° Zur Kontroverse um die nomothesia in Athen im 4. Jh. s. MacDowell (1975), Hansen (1971-80) sowie Rhodes (1985) und grundlegend nun Piérart (2000) und Rhodes (2003). *' Vgl. dazu Rhodes (1972), 276, und Rhodes with Lewis (1997), 32 mit Anm. 111.
* Diog. Laert. 4,14; s. Dorandi (1991d), 4f. Zu Xenokrates' Biographie und Werken s. Dillon (2003), 89-98.
* Wilamowitz-Moellendorff (1881), 195-197, ging davon aus, daß der erste Vers ein Aussagesatz sei und ein Gegensatz zwischen der Akademie als Hort der guten Lehre und dem Peripatos als jugendverderbender Schule zum Ausdruck gebracht werden sollte; noch Korhonen (1997), 79 mit Anm. 246, folgt dieser Auffassung. Vgl. aber überzeugend Arnott (1996), 262 f., ad loc., sowie auch zu τοῦτο.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
27
es möglich, den Grund präziser zu fassen: Der aus Chalkedon stammende dritte 'Scholarch der Akademie, der der Schule Platons von 339 an für fünfundzwanzig Jahre vorstand, war zumindest einmal in seinem Leben in die athenische Politik involviert:”* im Jahre 322, nach Athens und seiner Verbündeten Niederlage in
der Schlacht von Krannon gegen Antipater, die das Ende des Hellenischen Krieges bedeutete. Bestand eine erste athenische Gesandtschaft an Antipater, bei der es um die bedingungslose Kapitulation der Athener ging, aus Demades, Demetrios von Phaleron und Phokion,? so wurde eine zweite um Xenokrates erweitert. Dieser Gesandtschaft teilte Antipater seine Forderungen an die Athener mit, die unter anderem die Auslieferung von Demosthenes und Hypereides sowie eine Verfassungsänderung, nämlich die Einführung eines Zensus, beinhalteten: In den Augen der Athener bedeutete dies eine oligarchische politeia. Natür-
lich handelt es sich dabei um eine vom Sieger oktroyierte Verfassung - aber wie stellte sich dies alles aus der athenischen Perspektive des Jahres 307/6 dar, als man
das Ende eines Dezenniums feierte, in dem es einen Zensus gegeben hatte und das von der mit dem Stigma der Makedonenhörigkeit behafteten «Herrschaft» des Demetrios von Phaleron geprágt gewesen war? Daf zumindest drei Teilnehmer der zweiten Gesandtschaft an Antipater, nàmlich der Phalereer Demetrios, Phokion und auch Demades alles andere als Gegner einer Oligarchie waren, war in Athen zweifellos prásent, hatten doch vor allem die beiden ersten die oligarchischen Regime zwischen 322 und 318 sowie 317/6 und 307/6 maßgeblich geprägt. Auch Xenokrates, dem vierten im Bunde, eine antidemokratische Einstellung zuzuschreiben, muß in Athen plausibel erschienen sein. Diese Aussage läßt sich in zweifacher Hinsicht untermauern: Einerseits ist es kein Einzelfall, daß Mitgliedern der Akademie in Athen eine antidemokratische und promakedoni-
* Diogenes l.acrtios (4,8f.) erwähnt außerdem eine athenische Gesandtschaft an Philipp
IL, der Xenokrates angchórt habe, deren Historizitát in der Forschung aber umstritten ist. Gegen diese haben sich Whitehead (1981), 234f.; Trampedach (1994), 141f. mit Anm.
123,
und Scholz (1998), 197, mit guten Gründen ausgesprochen; ebenso ausführlich wie wenig überzeugend hat Sonnabend (1996), 100-106, das Gegenteil nachzuweisen versucht. Ziel der
von Diogenes Laertios überlieferten Geschichte ist die Darstellung des Xenokrates als eines mutigen und nicht korrumpierbaren Gesandten, der von den übrigen, von Philipp bestochenen Gesandten nach der Rückkehr mit Vorwürfen konfrontiert wird, die der Philosoph allerdings zu entkráften vermag. Zu den unterschiedlichen antiken Traditionen zu Xenokrates s. S. 64 mit Anm 222. - Der Vorwurf der Bestechlichkeit war ein veritables (innen-)politisches Kampfmittel und wurde zahlreichen athenischen Gesandten nach ihrer Rückkehr gemacht; vgl. Perlman (1976).
55 Zu dieser ersten Gesandtschaft vgl. - nicht in jeder Hinsicht überzeugend - Korhonen
(1997), 42-45. ** Zu Antipaters Forderungen an die Athener s. S. 62f.
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Il. Athen
sche Gesinnung zugeschrieben wurde? -- erinnert sei in diesem Zusammenhang besonders an die Vorwürfe gegen tyrannische Akademiker in der für Sophokles verfaßten apologia des Demochares im graphe-Verfahren im Jahr 306/5. Andererseits aber lassen sich in der späteren literarischen Tradition deutliche Bemühungen ausmachen, Xenokrates als tapferen Sachwalter athenischer Interessen und demokratischer Gesinnung gegenüber Antipater zu inszenieren, ihn also von anderslautenden Vorwürfen zu exkulpieren. So tritt der Akademiker in einer ihm positiv gegenüberstehenden Tradition als mutiger Verteidiger athenischer eleutheria und demokratia vor dem Tyrannen Antipater auf. Dieses konstruierte Bild antwortet auf zwei verschiedenartige Vorwürfe: Einerseits reagiert der auctor dieser Darstellung des Xenokrates auf von Demetrios von Phaleron gegen den akademischen Scholarchen erhobene Vorwürfe, und andererseits wird zugleich
die Vorstellung eines dem Philomakedonismos huldigenden Philosophen mit der Konstruktion eines philoathenischen Akademikers konfrontiert.” Resümiert man die Analysen zu den Quellen über das sophokleische Gesetz, so ist zu konstatieren, daß die Nachrichten bei einem wörtlichen Textverständnis in ihren Aussagen nicht übereinstimmen - überraschenderweise hat dieser Aspekt in der Forschung bislang nicht die ihm zukommende Berücksichtigung erfahren.” Diogenes Laertios und Pollux geben beide vorgeblich den Inhalt des Gesetzes wieder, differieren jedoch hinsichtlich seiner Bestimmungen. Gemäß Diogenes war es grundsätzlich keinem Philosophen gestattet, eine Schule - im Griechischen steht σχολή - als Oberhaupt ohne Genehmigung von boule und demos zu leiten. Pollux zufolge war es keinem der Sophisten gestattet, eine Schule - hier * Dem Image einer philomakedonischen Akademie, sozusagen einer «fünften Kolonne» der makedonischen Könige, ist ein großer Teil der modernen Forschung aufgesessen, obwohl es nicht an überzeugenden Versuchen gemangelt hat, diese Auffassung zu dekonstruieren und revidieren. So haben Gomperz (1882) und Trampedach (1994), 50-52 (zu Aristoteles), 139f. (zu Speusippos), 143 (zu Xenokrates) u. 147 f. (zusammenfassend), ebenso nachdrücklich wie
plausibel aufgezeigt, dafi es keine durch die Akademie bedingte philomakedonische Grundeinstellung der einzelnen akademischen Philosophen gegeben hat. Den gegenteiligen Standpunkt hingegen haben Chroust (1973a) zu Aristoteles und Engels (1993a), 383, zu Xenokrates ver-
treten. * Vgl. dazu S. 64 mit Anm. 222. 5 Allein Korhonen (1997), 75-83, hat sich ansatzweise mit diesem Aspekt befaßt.
$ Zur Bedeutung «Schule von σχολή s. LSJ?, s. v. (II.2); vgl. ferner Glucker (1978), 160162. Verwiesen sei auf Aristot. pol. 1323b37-1324a4; s. Dihle (1986), 219-223; s. auch S. 221 mit Anm. 18. Hingewiesen sei zudem auf ein delphisches Ehrendekret für den akarnanischen Elementarlehrer Menandros, Sohn des Daidalos (FD III 3, 338 - 1. Jh.; s. Bouvier [1985], 133 Nr. 71, u. Agusta-Boularot [1994], 690 f. Nr. 31), in dem σχολαί (Z. 7) im Sinne von «Studium»,
«Disputatio» verwendet wird. Zu philosophischen Konzepten der schole vgl. Fechner - Scholz (2002), 105-114, und allgemein Anastasiadis (2004).
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
29
findet sich im griechischen Text διατριβή“ - zu gründen. Es erscheint fragwürdig, diese kontráren Aussagen dadurch in Einklang bringen zu wollen, indem man postuliert, διατριβὴν κατασκευάσασθαι würde in vorliegendem Fall aligemein auf die erzieherischen Aktivitäten von Schulen abzielen. Auch wenn es kaum als zutreffend angesehen werden kann, daß - wie Pollux schreibt - allein die Neugründung von Schulen verboten war, mithin Akademie und Peripatos gar nicht vom sophokleischen Gesetz betroffen gewesen wáren, so kann man den Zeugniswert eines Textes nicht dadurch zu retten versuchen, indem man die ein-
deutige Aussage so umdeutet, daß diese Sinn in sich birgt.“ Es ist vielmehr angemessen zu konstatieren, daß der Verfasser des Onomastikon nicht zutreffende
Ausführungen zum «Gesetz des Sophokles bietet. Während Diogenes Laertios und Pollux also den Inhalt des Gesetzes in differierender Weise wiedergeben und ersterer als dessen Konsequenz den Exodus der Philosophen aus Athen nennt, findet sich bei Athenaios und Alexis allein eine Beschreibung der Folgen des sophokleischen Gesetzes, die beide Autoren allerdings als dessen Inhalt erachten. Ob der Philosophenauszug die Intention des Antragstellers gewesen ist, läßt sich nicht entscheiden, da die Quellen darüber keine Auskunft geben. Die Philosophen verließen Athen jedenfalls auf Grund ihrer prekáren Situation, die durch die Formulierung bei Diogenes Laertios verdeutlicht wird: Zwar war nach seiner «Version» des sophokleischen Gesetzes eine Anklage gegen Philosophen nicht beliebig und jederzeit móglich, dennoch aber war willkürlichen Prozessen Tür und Tor geóffnet.
Der Auszug der Philosophen aus Athen sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein: Bereits im Jahre 306/5 strengte ein gewisser Philon gegen das «Gesetz des Sophokles eine graphe an,“ an deren Ende die Rückkehr der Philosophen «aus der Hölle» nach Athen stand. Über Philon ist außer der Tatsache, daß er von Athenaios als gnorimos des Aristoteles bezeichnet wird, nichts Sicheres bekannt. Möglicherweise ist er mit Philon aus Alopeke identisch, der als einer der Zeugen in Theophrasts Testament angeführt ist.9 Jedenfalls war es eine Person aus dem *' Auch διατριβή ist im Sinne von «Schule zu verstehen: s. LSJ?, s. v. (1.2.4); vgl. Glucker (1978), 162-166.
€ So aber Korhonen (1997), 77.
% Vgl. Diog. Laert. 5,38 und auch Athen. 13,610 f. Grundsätzlich zur graphe s. Wolff (1970), 9-28 u. 45-67; Todd (1993), 108, 110, 154, 176 u. 388f.; Hansen (1995), 213-219, und Lehmann (1997), 100-102 mit Anm. 126. * Athen. 13,610f; s. Or. Att. I, LXVII ΦΙΛΩΝ Baiter -- Sauppe. Die Bezeichnung gnorimos
deutet darauf hin, daß es sich bei Philon wohl nicht in erster Linie um einen Schüler des Aristoteles, in diesem Fall wáre mathetes zu erwarten, sondern eher um einen vertrauten Gefolgsmann
aus dem Umfeld des Stagiriten handelte; vgl. Habicht (1994), 236; s. auch S. 70 mit Anm. 249. * Diog. Laert. 5,57. Zu berücksichtigen ist, daß diese Textstelle korrupt und in mehreren Handschriften als Name Philion überliefert ist; vgl. Habicht (1988a), 176.
30
II. Athen
Umfeld des Peripatos, die veranlaßte, daß das sophokleische Gesetz auf seine Rechtmäßigkeit hin überprüft wurde. Das Verfahren endete mit einem Sieg Philons, ergo mit einer Kassierung des Gesetzes und einer Verurteilung des Sophokles zur Zahlung einer Strafe von fünf Talenten:% ἀλλ᾽ αὖθις ἐπανῆλθον εἰς νέωτα, Φίλωνος τὸν Σοφοκλέα ypayapévov παρανόμων, ὅτε καὶ τὸν νόμον μὲν ἄκυρον ἐποίησαν Ἀθηναῖοι, τὸν δὲ Σοφοκλέα πέντε ταλάντοις ἐζημίωσαν κάθοδόν τε τοῖς φιλοσόφοις ἐψηφίσαντο, ... Doch schon im náchsten Jahr kehrten sie (sc. die Philosophen) wieder zurück, da
Philon das Gesetz des Sophokles als rechtswidrig anzeigte. Alsbald hoben die Athener das Gesetz auf, bestraften Sophokles mit fünf Talenten und stimmten für die Rückkehr der Philosophen, ... (Übers.: E. Jürß) Allein Diogenes Laertios berichtet über den Ausgang der graphe. Athenaios schreibt nur, daß Aristoteles’ gnorimos Philon einen logos gegen Sophokles geschrieben habe; diesem wiederum habe Demochares, den Athenaios fälschlicherweise als Cousin statt als Neffen des Demosthenes bezeichnet, eine apologia verfaßt.” Mit welchen Argumenten Philon darlegte, daß das «Gesetz des Sophokles» gegen bestehendes attisches Recht verstoßen habe, läßt sich wegen der ungenügenden Quellenlage nicht mit Sicherheit sagen. Eine Antwort auf diese Frage kann also nur als Hypothese formuliert werden. Ausgangspunkt bildet in dieser Hinsicht ein Zitat zum Zwölftafelgesetz aus Gaius’ viertem Buch in den Digesta, das ein Gesetz Solons wiedergeben soll:* Gaius libro quarto ad legem XII tabularum. Sodales sunt, qui eiusdem collegii sunt, quam Graeci ἑταιρείαν vocant. his autem potestatem facit lex pactionem quam velint sibi ferre, dum ne quid ex publica lege corrumpant. sed haec lex videtur ex % Diog. Laert. 5,38. Die Darstellung durch Diogenes Laertios ist nicht zutreffend: Was bei ihm als Abfolge von drei gesonderten Akten erscheint (Aufhebung des sophokleischen Gesetzes, Verurteilung des Sophokles, Beschluß zur Rückholung der Philosophen), bildet in Wirk-
lichkeit nur einen Vorgang, nàmlich die Kassierung des Gesetzes, woraus sich automatisch die Verurteilung des Antragstellers und die Aufhebung der Konsequenzen des annullierten Geset765 ergaben. “7. Athen. 13,610f. 6 Dig. 47,22,4; vgl. Ruschenbusch (1966), 98f. F 76a, und Radin (1910), 36-51. Der hier
gegebene Text des vorgeblichen solonischen Gesetzes folgt Jones (1999), 34. Die Rekonstruktion des Textes ist in der Forschung umstritten; vgl. ausführlich und überzeugend a. O., 3340 u. 311-320; s. zuletzt Arnaoutoglou (2003), 45-50 (mit differierender Textrekonstruktion
[44{]}. Zur vermeintlichen Abhängigkeit des römischen Gesetzes von einem solonischen nomos s. Ciulei (1967), und Wieacker (1971), 770f.; zu Gaius und dem Zwölftafelgesetz vgl.
D’Ippolito (1992), zum Verhältnis des Zwolftafelgesetzes zum griechischen Recht s. Martini (1999) und vgl. Crawford (1996), 694f., zum entsprechenden Passus im Zwölftafelgesetz.
2. Das «Gesetz des Sophokles und die Philosophen
3l
lege Solonis tralata esse. nam illuc ita est: ἐὰν δὲ δῆμος ἢ φράτορες ἢ «ὀργεῶνες» ü ἢ σύσσιτοι ἢ ὁμόταφοι ἢ θιασῶται ἣ ἐπὶ λείαν οἰχόμενοι ἢ εἰς
ἐμπορίαν ὅ τι ἂν τούτων διαθῶνται πρὸς ἀλλήλους κύριον εἶναι, ἐὰν μὴ ἀπαγορεύσῃ δημόσια γράμματα.
Gaius im vierten Buch seiner Schrift Zum Zwölftafelgesetz. Vereinsmitglieder sind Personen, die demselben Verein angehóren, was die Griechen hetairia nennen. Diesen aber verschafft das Gesetz die Berechtigung, sich eine Satzung zu geben, die sie wollen, sofern sie nicht etwas aus einem staatlichen Gesetz verletzen. Doch die-
ses Gesetz scheint von einem Gesetz Solons übertragen worden zu sein. Denn dort heißt es folgendermaßen: Aber wenn ein Demos oder Mitglieder einer Phratrie oder Kultgenossen oder eine Naukraria oder Mitglieder einer Speisegemeinschaft oder Mitglieder eines Bestattungsvereins oder Mitglieder eines Thiasos oder Leute, die zum Plündern oder Handeltreiben ausziehen, Regelungen untereinander treffen, die dies betreffen, dann sollen sie Gültigkeit besitzen, wenn es nicht durch öffentliche Beschlüsse verboten ist. Unter Bezug auf diese Passage ist angenommen worden, daß das «Gesetz des Sophokles gegen ein solonisches Gesetz verstoßen habe, welches Vereinigungen gestattet hätte, souverän zu agieren, sofern sie dabei nicht gegen bestehendes Recht der Polis verstießen.“ Stets wird angeführt, daß der bei Gaius vorliegende Wortlaut zwar nicht der originale des solonischen Textes sein könne und spätere Veränderungen anzunehmen seien," doch läge zweifelsfrei ein solonisches Gesetz der durch Gaius überlieferten Bestimmung zugrunde, die im vierten Jahrhundert Gültigkeit besessen habe.?' Betrachtet man die Geschichte der solonischen Gesetze in Athen und deren antike Überlieferungslage, so erscheint es jedoch zweifellos angemessener, von einem späterhin Solon zugeschriebenen Gesetz zu sprechen, als sich auf dessen solonische Ursprünge festzulegen." Die Hypothese, daß das sophokleische Gesetz gegen den vorgeblichen solonischen nomos verstoßen habe, ist mit einer conditio sine qua non verbunden: Die philosophischen Schulen müssen als Vereinigung organisiert gewesen sein. Zwar ist die lange Zeit in der Forschung etablierte Ansicht, die Philosophenschulen seien als thiasoi
9' So Habicht (1994), 237; vgl. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 278£.; Ferguson (1944), 64-67, und Whitehead (1986), 13 f. ^? Wilamowitz-Moellendorff (1881), 278f.; Poland (1909), 14; Wade-Gery (1933), 28, und Whitehead (1986), 14. ^" Vgl. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 278 f.; Raubitschek (1949), 469; Andrewes (1961), 12 mit Anm. 40, sowie Whitehead (1986), 13f.
? Grundlegend für diese skeptisch-minimalistische Position hinsichtlich der «Originalität der solonischen Gesetze ist Cohen (1990).
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II. Athen
organisiert gewesen, zu Recht als widerlegt anzusehen.? Doch läßt sich überzeugend darlegen, daß die Schulen als koinoniai zu klassifizieren sind.”* Damit dürfte für sie der Solon zugeschriebene nomos über Vereinigungen Geltung besessen haben. Ein Verstoß gegen eben diesen nomos könnte daher die Grundlage der von Philon angestrengten graphe gegen das sophokleische Gesetz gebildet haben. Von den Quellen zum «Gesetz des Sophokles und zur graphe sind drei Fragmente von besonderem Interesse, die aus der apologia stammen, die Demochares für Sophokles verfaßte. Gehalten worden ist diese Verteidigungsrede wohl vor dem Gericht der heliastai, vor dem die graphe verhandelt wurde.?5 Der Verfasser der Rede, Demochares,"$ nahm in der athenischen Politik nach 307/6 eine prominente Position ein: Der Neffe des Demosthenes, für den er 280/79 ein postumes Ehrendekret beantragte,” war ein dezidierter Gegner des Demetrios von Phaleron,” trat als Antragsteller für die Wiederinstandsetzung der «Langen Mauern» auf? und war entscheidend in den Aufbau des athenischen Bündnissystems nach 307/6 involviert.?! Die überlieferten Fragmente der Rede beinhalten polemische Angriffe gegen Sokrates, Platon und Mitglieder der Akademie sowie gegen Aristoteles. In der modernen Forschung ist den Fragmenten der von Sophokles gehaltenen apologia unter der Fragestellung des athenischen Umgangs mit Philosophen recht wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht worden.? Keine zentrale Bedeutung kommt hier der Frage der Historizität der in der Rede erhobenen Vorwürfe gegen die Philosophen zu: Denn der Redner respektive der Verfasser der Rede muß der Überzeugung gewesen sein, daß die von ihm vorgebrachten Argumente von den
^ Zu den Philosophenschulen als thiasoi s. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 263-291, der auf Foucart (1873) basiert; vgl. auch Boyancé (1937), Canfora (1996), 651-653; Isnardi Parente (1986), 352 f., und Scholz (1998), 16f. mit Anm. 17. Für die Widerlegung kommt Lynch (1972), 106-129, zentrale Bedeutung zu; s. auch Glucker (1978), 229f., und Habicht (1994), 232. ^ Zu den Philosophenschulen als koinoniai vgl. Jones (1999), 227-234. 5 Vgl. E. Gerner, RE XVIII, 2, 3, 1949, 1281-1293, s. v.; zur heliaia s. Hansen (1981-82)
sowie Boegehold (1995), 5f. u. 41f. 76. Zu diesem s. Davies (1971), 142, sowie Marasco (1984), 23-83; zu Demosthenes' Familie
vgl. Pomeroy (1997), 162-182. ” Vgl. Kralli (1999-2000), 153-156, und Tracy (20002), 228. ? Plut. mor. 850f-851c; s. Kralli (1999-2000), 152f. Vgl. auch POxy. 1800 frg. 3, col. II, Z. 25-39.
? Democh. frg. 7 Marasco - FGrHist 75 F 4 -- Pol. 12,13,8-11; s. zu dieser Textstelle unten S. 61 mit Anm. 209. 80 1G IT? 463; s. Maier (1959), 48-67 Nr. 11.
*! Vgl. dazu Marasco (1984), 49-54. * Verwiesen sei auf Korhonen (1997), 79. Scholz (1998) setzt sich nicht mit der apologia des
Sophokles auseinander. Ausführlich zu den einzelnen Fragmenten: Marasco (1984), 163-176, und ferner auch Owen (1983), 10-12.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
33
Mitgliedern des Gerichts als plausibel erachtet würden, sie nach seiner Meinung zumindest für die Richter im Rahmen des Vorstellbaren gelegen haben müssen. Das längste Fragment der Rede ist von Athenaios im elften Buch der Deipnosophistai überliefert und steht im Kontext schwerer Angriffe gegen Platon, die einer der Gespráchsteilnehmer, Pontianos, anführt*? Nachdem zunächst Platon umfassend des philosophischen Plagiatoren- und literarischen Adeptentums geziehen wird, folgt eine ebenso ausführliche wie negative Skizze seines Charakters, dem vor allem Boshaftigkeit, Neid, der Hang zu Verleumdungen, Ver-
logenheit und Ruhmsucht geeignet habe. Daneben wird in den gegen Platon vorgebrachten Vorwürfen aber auch seine politische Haltung ins Visier genommen: So habe Platon - durch den Mund des Sokrates - sogar die Perser, die Feinde aller Griechen, in seinem Dialog Alkibiades gelobt, sich also des medismos schuldig gemacht.** Weit gravierender sind jedoch diejenigen Angriffe auf den Gründer der Akademie und seine Schüler, die unmittelbar auf deren politisches Handeln Bezug nehmen. Ausgangspunkt des Pontianos ist der Vorwurf gegen Platon, daß in Dialogen wie dem Timaios und dem Gorgias sich allein Beschreibungen von Symposien und verderbliche Reden über Eros fánden. Platon habe all dies geschrieben, da er diejenigen, die derartiges zu lesen begehrten, verachtet hätte. Und - so läßt Athenaios seine Figur Pontianos in einem logisch alles andere als einwandfreien Schluß sagen - so seien auch die meisten von Platons Schülern tyrannischer und verleumderischer Gesinnung gewesen.* Dies zu belegen, ist das Ziel der sich anschließenden Auflistung von Exempla verderbter Akademiker - es geht um Verrat, Intrigen und Mord. Dabei rekurriert Athenaios auf zahlreiche ältere Autoren, um seinen Ausführungen Glaubwürdigkeit und Autoritát zu verleihen. Die beiden ersten Beispiele sind Euphraios von Oreos und Kallippos von Athen. Gemäß des pseudoplatonischen fünften Briefs, vorgeblich ein Empfehlungsschreiben Platons für seinen Schüler an den makedonischen Kónig Perdikkas III., wurde Euphraios auf Wunsch des jungen Monarchen vom Grün-
der der Akademie in der zweiten Hálfte der sechziger Jahre an den Kónigshof entsandt. Athenaios beschreibt Euphraios’ Wirken bei Perdikkas in düsteren Farben; Parmenion habe Euphraios deswegen in Oreos ermordet, als Philipp II.
* Athen. 11,504d-509c; s. Lukinovich (1983), 228-233; Trapp (2000), 358f., und Milanezi (2003). Zentral zu den antiplatonischen Polemiken sind Geffcken (1929) und Düring (1941), 132-172. - Zu Pontianos, einem Philosophen aus Nikomedia, vgl. die in den Excerpta des
ersten Buches der Deipnosophistai vorliegende Charakterisierung durch Athenaios (1d); zur Figur des Pontianos s. Baldwin (1977), 44.
* Athen. 11,506c; angespielt wird auf Plat. Alk. 1,121c1-7. # Athen. 11,508c-d. 86 Ps.-Plat. epist. V 321c1-322c1;zu Euphraios s. Trampedach (1994), 93-97, und T. Dorandi, DPhA III, 2000, 335 f., s. v. (E 128).
34
II. Athen
König geworden war.” Kallippos von Athen soll sich nach Athenaios' Darstellung das Vertrauen Dions in Syrakus erschlichen haben, sodann gegen diesen intrigiert und ihn schließlich ermordet haben, da er selbst nach der Tyrannis gestrebt habe.® Die weiteren Beispiele für Platonschüler, die - nicht zufällig, sondern auf Grund ihrer Prägung durch die Akademie - tyrannisch beziehungsweise verleumderisch wurden, sind hier von besonderem Interesse. Unter Berufung auf Demochares’ apologia (sowie partiell weiterer Quellen) werden nämlich Euaion
von Lampsakos, Timolaos von Kyzikos® und Chairon von Pallene, der nicht nur Schüler Platons, sondern auch des Xenokrates war, der Spezies tyrannischer Akademiemitglieder zugerechnet.” Diesen Ausführungen des Athenaios kommt für die Interpretation von Demochares’ Verteidigungsrede zentrale Bedeutung zu, da sie deren Argumentationsstruktur und -haushalt erkennen lassen. Über Euaion, dessen Versuch zur Errichtung einer Tyrannis in seiner patris scheiterte, ist nur wenig bekannt?! Den Lampsakenern habe er Geld geliehen und zur Sicherheit die Akropolis der Stadt genommen. Auf Grund säumiger Rückzahlung habe er beschlossen, sich zum Tyrannen seiner Vaterstadt aufzuschwingen, woraufhin deren Bewohner die Schulden beglichen und Euaion der
Athen. 11,508d-e. Dieser negativen Darstellung des Euphraios steht eine sehr viel positivere zeitgenössische entgegen: Demosthenes (9,62) inszenierte den Akademiker in der Ersten Philippika als antiphilippischen Märtyrer. In anderem Zusammenhang legt Athenaios (11,506d-e) dem Pontianos ebenfalls Kritik an Platon in den Mund und greift dabei auf Eu-
phraios zurück: So habe Platon im Gorgias nicht allein den Namenspaten des Werkes verunglimpft, sondern auch den makedonischen König Archelaos, dem er eine schändliche Herkunft
zugeschrieben und die Ermordung des Vorgängers unterstellt habe. Und eben dieser Platon sei - nach Speusipps Aussage - Philipp II. besonders zugetan gewesen und habe sogar dessen
Einsetzung in die makedonische Königsherrschaft eingefädelt. Um letztere Aussage zu belegen, wird aus einem angeblichen Brief Speusipps an Philipp zitiert, in dem die Rolle des von
Platon an Perdikkas' Hof gesandten Euphraios bei der Beendigung der Herrschaft des Perdikkas hervorgehoben wird: Athen. 11,506e-f = FHG IV Carystius Pergamenus F I = Speusipp
frg. 18 Isnardi Parente; dazu ihr Kommentar p. 228-230. Die Darstellung differiert dabei vom berühmten speusippischen Brief an Philipp (epist. 12 Bickermann - Sykutris); zu diesem Brief s. S. 42 mit Anm. 124.
®® Athen. 11,508e-f; zu Kallippos vgl. Trampedach (1994), 122-124, und L. Brisson - R. Goulet, DPhA I, 1994, 177-179 s. v. (C 31).
# In den Handschriften der Deipnosophistai steht fälschlich Timaios; vgl. Marasco (1984), 164f.
Ὁ Athen. 11,508í-509b = Democh. frg. 1 Marasco. * Neben Demochares' apologia werden Eurypylos (E. Jacoby, RE VI, 1, 1907, 1351, s. v. [15]) und Dikaiokles von Knidos (H.v. Arnim, RE V, 1, 1903, 563 f., s. ν) als Hauptquellen zu besagten Ereignissen angegeben; zu beiden Autoren vgl. auch Düring (1941), 83. Zu Euaion vgl. Trampedach (1994), 62; T. Dorandi, DPhA III, 2000, 242, s. v. (E 61), und auch Berve (1967), L 312f. u. 351.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
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Stadt verwiesen.? Euaion wird also als ein nach der Tyrannis strebender Akademiker dargestellt. Timolaos von Kyzikos,? so Demochares, sei gegenüber den Bürgern seiner atris zunächst als Euerget durch Geld- und Getreidespenden aufgetreten und habe dadurch Vertrauen und Ansehen bei seinen Mitbürgern gewonnen. Einige Zeit später habe er im Jahre 319/8 mit Unterstützung von Arrhidaios, dem Satra-
pen des hellespontischen Phrygien, einen Angriff auf die politeia von Kyzikos unternommen, sei aber bei dem Versuch, eine Tyrannis zu errichten, gescheitert - er sei ergriffen, verurteilt und geächtet worden und habe für den Rest seines Lebens ein ehrloses Dasein in seiner patris gefristet. Für den zeitgenössischen
Hórer in Athen im Jahre 306/5 mufite bei der Schilderung der Ereignisse in Kyzikos mehr mitklingen, als die knappe Darstellung durch Demochares expliziert: Wenn sich Kyzikos auch aus eigener Kraft vor Tyrannis und Fremdherrschaft zu retten vermochte, so war ihr doch einer der Diadochen bei der Verteidigung von
eleutheria und autonomia zu Hilfe geeilt - Antigonos Monophthalmos, strategos von Asien. Zwar traf er mit seinen Truppen zu spät für eine aktive Unterstützung der Kyzikener vor Ort ein, demonstrierte diesen aber dennoch seine eunoia.* Die Aussage, die durch die Rede dem athenischen Auditorium vermittelt werden sollte, ist eindeutig: Auf der einen Seite steht das Beispiel des Timolaos, das zeigt, daß Philosophen potentielle Tyrannen sind und sich mit auswärtigen Mächten verbünden, um ihre verwerflichen Ziele zu verfolgen; auf der anderen Seite steht Antigonos, in dessen Namen Demetrios Poliorketes Athen von der Tyrannis des Demetrios von Phaleron befreit hatte und der - wie auch der Fall von Kyzikos zeigt - ein wahrhaftiger und erwiesener Vorkämpfer der Freiheit griechischer Poleis ist. Als náchsten Tyrannen, den die Akademie hervorbrachte, führt Athenaios
Chairon von Pallene an.” Dieser wird als Beispiel für diejenigen Akademiker genannt, die vermittels Asebie und widernatürlicher Umtriebe zu Besitztümern kamen, durch die sie zu Ansehen in ihrer Heimat gelangten. Tyrann geworden, übte Chairon über seine patris eine harte Herrschaft aus - dabei vertrieb er nicht nur die besten der politai, sondern ließ den Sklaven die Besitztümer ihrer vertriebenen Herren zukommen und zwang deren Ehefrauen zur Hochzeit mit den ehemaligen Sklaven. Nun stellt eine derartige Praxis in einer Tyrannis grund? Athen. 11,508 f.
” Athen. 11,509a. Zu Timolaos vgl. Trampedach (1994), 62-64, sowie Berve (1967), 1 351, 419 u. 498.
"4. ?5 * 168,
FGrHist 239 FB 12 und Diod. 18,51,1-52,8. Zu Arrhidaios s. Berve (1926), II Nr. 145. S. auch Billows (1990), 216. Athen. 11,509a-b. Zu Chairon vgl. Berve (1967), I 307 f., 351 u. 505; Marasco (1984), 165u. (1985) sowie Bollansée (2002); s. auch Trampedach (1994), 64 f.
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II. Athen
sätzlich nichts Außergewöhnliches dar - zumindest gehörte es in den Augen der Griechen zur Imago des Tyrannen, die besten politai aus der Stadt zu vertreiben und deren Frauen mit sozial inferioren Bewohnern der Polis oder gar Sklaven zu verheiraten?" Doch die Begründung, die Demochares für dieses Vorgehen des Chairon bietet, ist ebenso überraschend wie originell: Das Handeln des Tyrannen von Pallene ist das Resultat der «schónen Politeia» und der allen Normen und Gesetzen zuwiderlaufenden Nomoi Platons.?* Auf welche Idee der platonischen Politeia der Redner in diesem Zusammenhang anspielt, ist offensichtlich: Es geht um die berühmte Bestimmung, daß alle Frauen der Wächter allen Wách-
tern gemeinsam sein sollten? Demochares legt an dieser Stelle keine auf Mißverstehen basierende falsche «Interpretation» platonischen Gedankenguts vor, sondern arbeitet bewußt an der Aussage aus der Politeia, um sie für seine Argumentation nutzbar zu machen: Dem Publikum soll demonstriert werden, welche verheerenden Folgen die Philosophie der Akademie mit sich bringt. Weil Chairon nicht allein Schüler Platons, sondern auch von dessen Nachfolger Xenokrates war,!® bot sich die Möglichkeit, an Hand seiner Person zu verdeutlichen, daß es keineswegs nur der Gründer der Akademie war, der Tyrannen aus seiner Schule hervorbrachte, sondern daß es grundsätzlich zu den Eigenschaften der Akademie gehörte und in ihrer Philosophie begründet lag, Tyrannen zu produzieren. Schwieriger gestaltet sich hingegen die Frage, auf welche Konzeptionen in den Nomoi Demochares rekurriert haben könnte, wenn er die Vorgehensweise des Chairon in Pallene auch als Produkt der platonischen Nomoi bezeichnet. Vermutlich ist hier nicht an eine spezifische Äußerung Platons zu denken, sondern
allgemein an die aus griechischer Perspektive allen Normen zuwiderlaufende Gesetzgebung bezüglich Frauen," die von den Zeitgenossen nur als Perversität aufgefaßt werden konnte.!” Wie schillernd die Verknüpfung von philosophischer Norm und dem Handeln einzelner Philosophen war, zeigt das Beispiel des Chairon in markanter Weise: Während Demochares unter dem Banner der Polemik gegen akademi? Grundlegend hierzu ist Asheri (1977); s. auch Haake (2003), 92, zur in der griechischen
Welt etablierten Tyrannenimago. 8. Athen. 11,509b: ... ταῦτ᾽ ὠφεληθεὶς ἐκ τῆς καλῆς Πολιτείας καὶ τῶν παρανόμων Νόμων.
*? Plat. rep. 457c10-d1: Ἰὰς γυναῖκας ταύτας τῶν ἀνδρῶν τούτων πάντων πάσας εἶναι κοιvac... 19 Athen. 11,509b. 1! Vgl. zu diesem Aspekt Cohen (1987), 27 f.
102 Hier mag Demochares erwartet haben, daß für den athenischen Hörer eine Assoziation zu Demetrios von Phalerons Gesetz bezüglich der Frauen anklingen sollte. Auch wenn die Institution der gynaikophylakes nicht philosophisch inspiriert war und inhaltlich durchaus andere Aspekte beinhaltete als Platons Frauengesetzgebung, dürfte dieses Motiv mitgeschwungen haben.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
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sche Philosophen Chairon als Tyrann der Umsetzung platonischer Philosophie zeiht, wird genau dieser Punkt in einer philosophenfreundlichen Quelle absolut
konträr bewertet. In einem Passus aus der den bezeichnenden Titel περὶ τῶν ἀπὸ φιλοσοφίας εἰς [ἀρ]ιστ[ε]ίας καὶ δυναστείας μεθεστηκότων tragenden Schrift des
Hermippos von Smyrna, der in Philodems Historia Academicorum zitiert wird," hebt der Autor nämlich hervor, daß Chairon nach seinen mehrfachen Siegen im Ringkampf bei den Olympischen und Pythischen Spielen sich nicht lánger den Prinzipien des besten Mannes, sprich Platons, unterwarf, sondern auf Abwege eriet und nicht mehr in Kontakt mit seinen alten philoi dem platonischen «way of life Folge leistete. Eben aus diesem Grunde wurde er von Alexander dem Großen als Tyrann in seiner patris installiert.'^* Während also für Demochares Chairons Beeinflussung durch die Akademie Voraussetzung für dessen Tyrannis in Pallene war, war es für Hermippos ganz im Gegenteil unzweifelhaft, daß Chairon nicht zum Tyrannen mutiert wáre, wenn er sich nicht von der Akademie abgewandt hátte. Nach den Polemiken gegen Platon und die Akademie beinhaltet das zweite erhaltene Fragment der von Demochares verfafiten apologia einen Angriff auf Aristoteles. Die entsprechende Passage ist im fünfzehnten Buch von Eusebius' Praeparatio Evangelica überliefert. Eusebius analysiert dort das Verhältnis des Peripatos zu den «Hebráerm. Um Aristoteles gegen ungerechtfertigte Verleumdungen zu verteidigen, zitiert Eusebius einleitend aus dem siebten Buch der Schrift de philosophia des Peripatetikers Aristokles von Messene, dessen Ausführungen zum Gründer des Peripatos als apologetisch charakterisiert werden.'® Aristokles zitiert in einem Katalog der antiaristotelischen Polemik einen kurzen Abschnitt aus der Rede des Demochares, die bezeichnenderweise nicht als apologia des Sophokles, sondern vielmehr als kategoria nicht nur gegen Aristoteles, sondern die Philosophen insgesamt bezeichnet wird.'* Der Gründer des Peripatos
1? Philod. hist. Acad. col. X, Z. 40 - col. XII, Z. 2 Dorandi. Bollansée folgt in FGrHist 1026 F 39 (mit dem Kommentar p. 355-359) nicht der nun grundlegenden Edition von Dorandi, sondern derjenigen von Gaiser (1988); vgl. dazu die berechtigte Kritik von Gottschalk (2001), 107 (ad F 39). Zum Titel der Schrift s. PHerc. 1021, col. XI, Z. 6 Dorandi.
!4 Philod. hist. Acad. col. XI, Z. 19-30 Gaiser. Diese Interpretation gilt nur, wenn man die weitreichenden Ergänzungen von Gaiser akzeptiert; vgl. hingegen den Passus in der Edition von Dorandi. *5 Democh. frg. 2 Marasco = Aristokles frg. 2,6 Chiesara = Euseb. Praep. Ev. 15,2,6. Zu den gegen Aristoteles erhobenen Vorwürfen s. Haake (2006b), 330 mit Anm. 11; vgl. auch Marasco (1984), 171-175, sowie Chiesara (2001), 72.
'% Aristokles frg. 2,6 Chiesara = Euseb. Praep. Ev. 15,2,6: τὴν μὲν yàp Δημοχάρους κατηyopíav κατὰ τῶν φιλοσόφων τί χρὴ λέγειν; οὐ yàp Ἀριστοτέλην μόνον, ἀλλὰ xai τοὺς ἄλλους κακῶς εἴρηκεν. - Was muß man aber zur Anklage des Demochares gegen die Philosophen sagen? Nicht allein Aristoteles, sondern auch alle anderen verunglimpfte er.
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II. Athen
wurde von Demochares als dreifacher Erzverráter dargestellt.'?" Er soll zum einen gegen Athen gerichtete Briefe geschrieben haben, die von den Athenern abgefangen werden konnten - über konkrete Inhalte respektive den Adressaten verlautet nichts. Ob dieser Vorwurf zutreffend ist oder nicht, muß ungewiß bleiben. Im bei Diogenes Laertios vorliegenden Verzeichnis der Werke des Aristoteles finden sich jedenfalls Briefe aufgelistet, die an Philipp IL, Alexander den Großen und Antipater gerichtet waren.'® Ob diese als echt anzusehen sind, läßt sich allerdings nicht feststellen; unzweifelhaft ist, daß Aristoteles in brieflichem Verkehr mit hoch- und hóchstrangigen Makedonen stand - und dies reichte für den Vorwurf des Verrats an Athen aus. Neben Athen, also der Stadt, in der Aristoteles einen Grofiteil seines Lebens verbrachte, soll er zum zweiten auch seine patris Stageira an die Makedonen verraten haben.'? Dieser Vorwurf zielt in zwei Richtungen:'? Zum einen ist der Verrat der Vaterstadt an einen äußeren Feind mit der schlimmste Vorwurf, der gegen einen polites erhoben werden konnte, und zum anderen ist eben dieser Feind auch noch das im Jahre 306/5 in Athen nicht allein
dem Demochares in besonderer Weise verhaßte Makedonien. Die dritte Untat soll Aristoteles gegen Olynth, genauer gesagt: gegen dessen reiche Bewohner bei der Eroberung und Zerstórung dieser Stadt im Jahre 348 durch Philipp II. begangen haben. Beim Verkauf der Beute benannte er dem makedonischen Kónig die wohlhabendsten Bürger - was diesem die Aussicht auf größtmöglichen Profit auf deren Kosten eróffnete. Und Olynth war als Thema athenischer Reden einst sehr präsent gewesen: Über diese Polis und ihr Verhältnis zu Philipp hatte ein halbes Jahrhundert zuvor mehrfach Demochares' Onkel Demosthenes seine Brandre-
den gegen den makedonischen Kónig gehalten - námlich die drei Olynthischen Reden sowie die dritte Philippika. Die Intention der gegen Aristoteles erhobenen Vorwürfe ist eindeutig: Demochares' Ziel war es, den Philosophen aus Stageira als Makedonenfreund und Erzverráter zu diskreditieren. In einem dritten, wiederum von Athenaios überlieferten Fragment, welches der sophokleischen apologia zuzuweisen ist, stellt Sokrates die Zielscheibe von Demochares' Polemik dar.!!! Eingebettet sind die Vorwürfe gegen Sokrates einer‚7 Zu Demochares' Vorwürfen gegen Aristoteles vgl. Haake (2006b), 347 f., sowie S. 55f. "* Diog. Laert. 5,27; vgl. zu Aristoteles' Briefen Moraux (1951), 133-144. Die entsprechenden testimonia finden sich in Aristot. priv. script. frag., p. 7-14 Plezia, die Fragmente ebd., p. 15-33. 109 Democh. frg. 2 Marasco = Aristokles F 2,6 Chiesara = Euseb. Praep. Ev. 15,2,6. 110 Wohl als Reaktion auf diesen Vorwurf entstand in hellenistischer Zeit in der biographischen Tradition zu Aristoteles die apologetische Geschichte über Aristoteles, der sich bei
Philipp für den Wiederaufbau seiner patris Stageira eingesetzt habe - greifbar ist diese Version etwa bei Diog. Laert. 5,4; vgl. die Zusammenstellung sámtlicher diesbezüglicher Quellen bei Düring (1957), 290-294. "" Democh. frg. 3a Marasco = Athen. 5,215c; s. auch - in leicht variierter Form ohne die
Nennung des Namens Sokrates als bonmot formuliert - frg. 3b = Athen. 5,187d.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
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seits in Athenaios’ Ausführungen über Philosophen, die in ihrer jeweiligen patris zu strategoi gewählt wurden, dann aber zu tyrannischen Potentaten mutierten, und andererseits in Athenaios’ Anmerkungen zur Tatsache, daß Philosophen stets lügen und vielfach in bioi anderer Philosophen falsche chronologische Angaben äußern würden. Zwischen diesen Vorwürfen steht Demochares’ Aus-
sage, daß genausowenig jemand einen Speerschaft aus Bohnenkraut zu schnitzen vermöge, wie aus Sokrates ein tapferer Soldat werden könne. Dieser wahren Aussage stehen die nach Athenaios falschen Behauptungen Platons zu Sokrates’ Teilnahme an militärischen Aktionen Athens gegenüber. Dies demonstriert der Verfasser der Deipnosophistai dem Leser vermittels einer elaborierten Diskussion von Quellen wie Thukydides und Isokrates’ Rede de bigis. Das Ergebnis ist, daß
die von Platon bezeugte Teilnahme des Sokrates an den athenischen Feldzügen gegen Poteidaia, Amphipolis und die Boioter mit der Schlacht von Delion' während des Peloponnesischen Krieges nicht den historischen Tatsachen entspráche.'? Betrachtet man die von Demochares gegen Sokrates, Platon und die Akademie sowie Aristoteles erhobenen Vorwürfe, so springt ins Auge, daß die polemischen Elemente grundsätzlich wie sie in literarischen der Gattung, in der sie Gerichtsrede und nicht
dem Reservoir antiphilosophischer Kritik entstammen, Texten vielfach belegt sind. Die Besonderheit besteht in von Demochares vorgebracht wurden, nämlich in einer in einer Philosophenvita. Die in der Rede vorgebrachten
Argumente zeigen, daß die Möglichkeit bestand, Philosophen zwar als spezifische Gruppe zu konzeptionalisieren, sie dennoch aber mit Vorwürfen zu konfrontieren, die dem politischen Alltag Athens entstammten: philomakedonismos, Verrat an der patris, Streben nach Tyrannis und deren Errichtung sowie mangelnde Tapferkeit im Krieg - dies ist das gängige Repertoire von Anschuldigungen, wie sie in den inneren politischen Auseinandersetzungen in griechischen Poleis im vierten Jahrhundert vielfach bezeugt sind. Zwei Vorwürfe, die sonst im Kontext der Polemik gegen Philosophen zu den stärksten Argumenten zählen, werden jedoch - zumindest in den überlieferten Fragmenten der von Demochares verfaßten Rede - nicht vorgebracht: der Vorwurf der Asebie und der damit eng verknüpfte zweite Angriffspunkt, das Verderben der Jugend. Daneben kommt einem weiteren Aspekt Bedeutung zu: Aus den erhaltenen Textpassagen lassen sich keinerlei Rückschlüsse auf den eigentlichen Gegenstand des Prozesses ziehen. Dies verhielt sich in der vollständigen Rede mit Sicherheit anders - dennoch spiegelt "Σ Poteidaia: symp. 219e-220e; Amphipolis: apol. 28e; Delion: Lach. 176a-181c u. symp. 215a-222a. Nach Strabon (9,2,7) soll Sokrates in der Schlacht von Delion Xenophon das Leben gerettet haben. '? Athen. 5,215c-216c. Zur antiken Diskussion über Sokrates als Soldaten vgl. Patzer
(1999),
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H. Athen
der Befund eine wichtige Charakteristik attischer forensischer Reden wider: die massive Verwendung von Argumenten, die auf die grundsätzliche Haltung des Klägers oder des Beklagten gegenüber der Polis abzielen. Wenn Demochares' Vorwürfe auch eine gemeinsame Grundtendenz haben, so besteht doch ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen den Angriffen gegen Aristoteles und Sokrates einerseits sowie denen auf die akademischen Tyrannen, also Euaion, Timolaos und Chairon, andererseits: Allein bei diesen drei wird eine Verbindung zwischen den erhobenen Anschuldigungen und der philosophischen Lehre - in diesem Falle derjenigen Platons - hergestellt. Nach Demochares ist die platonische Philosophie unabdingbare Voraussetzung für die Tyranneis der drei Akademiker.!' Es geht an diesem Punkt nicht darum, ob die platonische Philosophie hier zutreffend «interpretiert wird, sondern um die Frage, wie platonische Texte aufgefaßt werden konnten. Und daran besteht kein Zweifel: Zahlreiche Äußerungen Platons in der Politeia, im Politikos und in den Nomoi konnten aus der Perspektive des polites nur in einer einzigen Weise interpretiert werden hier redete jemand der Tyrannis das Wort.!'5 Trotz der getrennten Behandlung von Sokrates, den Akademikern und Aristoteles läßt sich eines schlußfolgern: Die Philosophen konnten von Demochares trotz der Differenzierung nach «Schulen» als eine Gruppe aufgefaßt und letztlich kollektiv mit Beschuldigungen konfrontiert werden. Die grundsätzliche Distinktion dieser Gruppe von ihrer Umwelt erfolgte allerdings nicht über die in der Rede gegen sie erhobenen Vorwürfe, sondern auf einer anderen Basis: Es war die Bescháftigung mit der Philosophie selbst, die von der Gesellschaft als suspekt erachtet wurde.
!M An diesem Punkt ist die Frage nach der Struktur der ursprünglichen, vor den heliastai gehaltenen Rede des Sophokles zu stellen: War diesen die platonische Philosophie solchermafien vertraut, daß Demochares' Anspielungen auf Politeia und Nomoi ihre Wirkung erzielen konnten, da sie allgemein verstándlich waren? Drei Antworten sind moglich: Erstens, die dezidierten Anspielungen auf bestimmte platonische Ideen wurden erst im Zuge der Überarbeitung
der Rede für die Publikation von Demochares in den Text eingebaut; zweitens, entsprechende Passagen aus dem platonischen CEuvre wurden vor Gericht als Beweisstücke vorgetragen; drittens, und dies ist am wahrscheinlichsten, waren die Hinweise auf platonische Textpassagen auch in der vor Gericht gehaltenen Rede bereits weitestgehend so enthalten, wie in der später veröffentlichten Form. Diese letzte Annahme würde bedeuten, daß man von einer sedimentierten Grundvorstellung der heliastai über platonische Philosophie und Tyrannis ausgehen müßte, die individuell verschieden fundiert war. - Zur Revision von Gerichtsreden vor ihrer Publikation s. Worthington (1991); zur Verwendung von Beweismaterialien vor athenischen Gerichtshófen vgl. allgemein Todd (1990) sowie zu schriftlichen Dokumenten als Zeugnissen Soubie (1973), 210-226.
!5 Vgl. hierzu Flaig (1994) sowie Trampedach (1994), 206-215; zu Konzeptionen des Tyrannen im platonischen CEuvre s. Blóssner (1997), 147-149.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
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Sowohl das «Gesetz des Sophokles» aus dem Jahre 307/6 als auch die dagegen gerichtete graphe im darauffolgenden Jahr sind vor dem Hintergrund der eingangs skizzierten Stimmungslage in Athen nach dem Ende der «Herrschaft des Demetrios von Phaleron zu sehen - für jede Interpretation der graphe muß das zeitgenössische politische Geschehen den Hintergrund bilden. Trotz der Kumulation zahlreicher schwerwiegender Vorwürfe gegen Philosophen verlor Sophokles den Prozeß: Sein Gesetz wurde kassiert, er mußte eine Strafe von fünf Talenten zahlen, und die Philosophen kehrten nach Athen zurück." Dieser Ausgang muß verwundern: Bedenkt man die Stimmungslage in Athen nach 307/6, hätten die Argumente von Demochares eigentlich die Athener überzeugen müssen, greifen sie doch genau die Punkte auf, die den Athenern besonders verhaßt waren. Über die Ursachen des Erfolges von
Philons Klage läßt sich nichts Sicheres sagen. Nicht zu überzeugen vermag die These, daß die Athener das Gesetz kassierten, da sie gemerkt hätten, daß sie mit dem durch das Gesetz bedingten Exodus der Philosophen ihrem Ansehen in der griechischen Welt geschadet hátten.' Denn Voraussetzung für diese Interpretation ist, daß in Athen das mobilisierbare Selbstverständnis einer Stadt der Philosophie existierte. Für das ausgehende vierte Jahrhundert fehlen jedoch zeitgenóssische Belege für eine derartige Sichtweise - und dies trifft sowohl auf die dokumentierte Selbstwahrnehmung der Athener als auch die Außensicht auf Athen zu. Abschließend ist noch eine Frage zu erörtern: Warum hat Sophokles überhaupt das Gesetz gegen die Philosophen vorgebracht? Es gibt keinerlei Hinweis dafür, daß die Athener ein Gesetz gegen die Philosophen erließen, weil sie das vorangegangene Dezennium des Demetrios von Phaleron als Philosophenherrschaft begriffen und nach Beendigung dieser Zeit an den Philosophen kollektiv Rache nehmen wollten. Vielmehr konzeptionalisierten sie dieses Jahr-
zehnt unter dem epimeletes aus Phaleron als makedonienhórige Tyrannis. Der Grund für das Vorgehen gegen die Philosophen liegt in einem anderen Umstand begründet, der zumindest aber auch partiell mit Demetrios von Phaleron zusammenhängt: Es sind dies die Kontakte, die zwischen diesem und verschiedenen Philosophen bestanden. Besonders prominent ist die Verbindung von Theophrast zu Demetrios, der dem Nicht-Athener nach eigener Aussage beim Erwerb eines kepos half, was nach gängigem athenischen Recht eigent"5 Diog. Laert. 5,38; s. hierzu oben S. 30 mit Anm. 66.
'7 So jedoch Ferguson (1911a), 105; Sollenberger (1992), 3822, und Habicht (19972), 73. Christes (1975), 62, schrieb sogar von einer Solidarisierung der Athener mit «ihren Philosophen». Anders hingegen, und zwar in dem auch hier vertetenen Sinne, Scholz (1998), 366 mit Anm. 4.
! Vgl. dazu S. 17f., 61 mit Anm. 209, 73 mit Anm. 261, u. 77f.
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IL. Athen
lich nicht möglich war." Mindestens genauso inkriminierend in den Augen der Athener müssen Theophrasts Kontakte zu Kassander'? sowie seine Verbindungen zu athenischen Politikern oligarchischer Couleur gewesen sein;'? zu erinnern ist an dieser Stelle daran, daß sich Theophrast bereits 318/7 der Gefahr einer politisch motivierten Asebieklage ausgesetzt sah.? Daß Beziehungen zu tatsáchlichen oder vermeintlichen Oligarchen in der Zeit nach der Vertreibung des Demetrios von Phaleron ausreichten, um in das Visier athenischer Gerichte zu kommen, wurde bereits betont.!? Aber nicht nur Theophrast,
sondern auch Aristoteles, also der Begründer des Peripatos, hatte gute Bezie-
hungen zum makedonischen Kónigshof. Und auch akademische Philosophen von Platon über Speusipp"* bis hin zu Xenokrates'?° hatten immer wieder Kontakte zu den Monarchen und Mächtigen Makedoniens. In der Situation nach dem Ende der Herrschaft des Demetrios von Phaleron mufiten diese Kontakte von Mitgliedern der «demokratischen» Parteiung als ebenso mobilisierbare wie plausible Argumente angesehen werden.
Im Anschluf an die graphe kehrten die Philosophen nach Athen zurück - und dorthin kam 305/4 auch Epikur aus Lampsakos respektive Mytilene und gründete den Kepos vor den Mauern Athens,!2 während im Jahre 301/0 Zenon von
Kition in der an der Agora gelegenen Stoa Poikile seine Lehrtätigkeit unter den
'* Demetr. Phal. frg. 10 SOD = Diog. Laert. 5,39. Zum Problem des Grunderwerbs durch Metóken s. Lynch (1972), 98f.; Scholz (1998), 19; Adak (2003), 108, sowie Finley (1952), 60.
'? Diog. Laert. 5,37; vgl. Badian (1958), 154. Zu Theophrasts Kassander gewidmeter Schrift peri basileias s. Haake (2003), 85 mit Anm. 25. ' Vgl. Scholz (1998), 187 f. mit Anm. 11, sowie Habicht (1979), 27. "7 Diog. Laert. 5,37; s. Bauman (1990), 122f. - vgl. auch oben S. 21 mit Anm. 34.
15 S. dazu S. 18f. "^ Erinnert sei an dieser Stelle an den berühmten und in seiner Authentizität viel diskutierten Brief Speusipps (zu dessen Biographie s. Tarán [1981], 3-11) an Philipp II. (epistula Socraticorum XXVIII respektive XXX); die grundlegende Edition stammt von Bickermann Sykutris (1928), 1-12 - vgl. auch Speusipp frg. 156 Isnardi Parente; FGrHist 69 T 1 u. F 1f. sowie Natoli (2004), 102-109. Grundlegend zu diesem Brief sind noch immer Bickermann Sykutris (1928), 18-82, die überzeugend für die Echtheit des Briefes pládiert und plausibel für den Winter 343/2 als Abfassungsdatum argumentiert haben (a. O., 29-38); vgl. zu diesem Brief auch Isnardi Parente (1980), 391-402; Trampedach (1994), 138-140; Pina Polo - Panzram (2001) und Natoli (2004), 17-100 u. 110-160. Bertelli (1976) u. (1977) hat - nicht über-
zeugend - versucht, den Brief als Fálschung zu entlarven. 5 Vgl. dazu oben 27.
"$ FGrHist 244 F 42 = Diog. Laert. 10,14f. Nach einer Notiz aus den auf Sotion basierenden Epitomai des Herakleides Lembos (Sotion frg. 34 Wehrli = FHG III Herakleides Lembos F 9 = Diog. Laert. 10,1f£)) soll Epikur bereits im Jahre des Archon Anaxikrates - also 307/6
(Meritt (1977], 171) - nach Athen gekommen sein. Zur Diskussion der Fragmente vgl. Dorandi (1991d), 46 f.; s. auch Erler (1994b), 62 f.
2. Das «Gesetz des Sophokles» und die Philosophen
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Augen der athenischen Öffentlichkeit aufnehmen sollte." Der Redner Deinarchos hingegen, der 307/6 vor einem Prozeß geflohen war, sollte zusammen mit anderen Flüchtlingen erst 292 mit Hilfe von Theophrast nach Athen zurückkehren kónnen.'? Demochares aber wurde im Jahre 271/0 auf Antrag seines Sohnes
Laches postum von den Athenern ob seiner Verdienste um die patris mit den megistai timai geehrt? An Hand der apologia des Demochares lassen sich die Móglichkeiten der negativen Rede über Philosophen in Athen in einer spezifischen politischen Situation in aller Deutlichkeit aufzeigen. Die Niederlage des Sophokles und damit auch des Demochares erweist aber, daß diese bestimmte Art der Rede über den Philosophen trotz eigentlich guter Voraussetzungen nicht zu überzeugen vermochte. Bedeutende Folgen scheinen die Ereignisse rund um die Philosophen in Athen in den Jahren 307/6 und 306/5 à la longue nicht gehabt zu haben: Im Verhältnis der Polis Athen zu den in der Stadt ansássigen Philosophen spielten die Vorkommnisse spáter allem Anschein nach keine Rolle mehr. Und auch in der literarischen Überlieferung finden sich nur verstreute Spuren der Auseinandersetzung um die Philosophen. Plutarch beispielsweise schweigt sich über dieses Ereignis gänzlich aus, obwohl er sich in verschiedenen Schriften ausführlich mit dem frühhellenistischen Athen befaßt und durchaus auch philosophenkritische Elemente aufgenommen hat. Warum diese Entwicklung in der literarischen Tradition eintrat, läßt sich mit der Genese des Images von Athen als Heimstatt der Philoso-
phie erkláren.' Wann aber diese Entwicklung genau einsetzte, ist auf Grund des Trümmerfeldes der Überlieferung der hellenistischen Historiographie und Literatur nicht mehr zu kláren. Zu gerne wüßte man, ob und wie sich der Atthidograph Philochoros über die Geschehnisse um die Philosophen im Jahre 307/6 und 306/5 äußerte, denn daß er die politisch motivierten Prozesse nach dem Ende der «Herrschafb des Demetrios von Phaleron abhandelte, bezeugt eines der erhaltenen Fragmente seiner Atthis.?!
"7 ?? '3 '% ?!
Philod. de Stoic. col. V, Z. 8-14 Dorandi; s. Dorandi (1982c), 111, u. (1999b), 38f. Plut. mor. 850d; vgl. dazu Adak (2003), 182. Zu Deinarchos' Flucht s. S. 19. Plut. mor. 851d-f; s. dazu Kralli (1999-2000), 153-156. Zu diesem Aspekt s. unten 5. 168-170. FGrHist 328 F 66 = Dion. Hal. de Din. 3; s. oben S. 19.
44
II. Athen
3. DIE PHILOSOPHEN
UND DIE EPHEBEN
Eine wichtige Quellengruppe innerhalb der epigraphischen Zeugnisse zu óffentlicher Stellung und Akzeptanz von Philosophen und Philosophie in Athen stellen die sogenannten Ephebeninschriften!? aus dem späten zweiten und dem ersten Jahrhundert dar. In ihnen werden die Epheben jeweils im Jahr nach ihrer Parti-
zipation an der Ephebie oftmals nebst denjenigen, die sich in dieser Zeit um sie kümmerten - also in erster Linie ihr jeweiliger Kosmet sowie ihre Ausbilder in verschiedenen Disziplinen -, geehrt. Detailliert geben die Inschriften Auskunft über das, was die Epheben während der Ephebie taten: Es werden ihre Teilnahme an kultischen Handlungen und agonistischen Festen ebenso wie ihre militärischen Übungen und ihre Besuche von geschichtstráchtigen athenischen Orten im attischen Territorium angeführt.'? Erstmals im Jahre 122/1 wird in einem Dekret für die Epheben des abgelaufenen «ephebischen» Jahres auch der Besuch von Vorträgen von Philosophen verschiedener Schulzugehörigkeit als integraler Bestandteil der Ephebie erwähnt.” Doch bevor diese und weitere Ephebeninschriften zu analysieren sind, in denen gleichfalls Philosophen angeführt werden, sind in aller Kürze einige Grundzüge der athenischen Ephebie zu skizzieren. Erst für den Verlauf des vierten Jahrhunderts ermöglicht es die Quellenlage, klare Konturen dieser Einrichtung zu erkennen und fundierte Aussagen über sie zu treffen. Die Institution der Ephebie läßt sich in Athen in der ersten
12 Die Grundlage für die Klassifizierung von Inschriften in Athen als Ephebeninschriften und deren Binnendifferenzierung legte Köhler in IG II, p. 287 ad IG 11478; vgl. außerdem Pelekidis (1962), 197-204, sowie Ferguson (1904), 5f.; Larfeld (1914), 492-497; Reinmuth (1955), 227, u. (1965), 262-268. 1? Vgl. dazu Pélékidis (1962), 211-274. 1^ IG IT? 1006, Z. 19f. u. Z. 62-64; s. S. 46-48. - Aus dem Jahre 127/6 ist ein Dekret für die Epheben des Jahres 128/7 bekannt (Reinmuth [1955], 228-232), in dem noch jeglicher Hinweis auf Philosophen fehlt; vgl. auch Habicht (1994), 246 mit Anm. 89, sowie Pélékidis (1962), 260-267; Ferrary (1988), 438, und Tracy (2004), 209. Die These von Lynch (1974), 158, daß sich
bereits in der in die Mitte der achtziger Jahre des 2. Jh.s zu datierenden Inschrift IG IP 900 in Z. 17 ein Beleg für die Beschäftigung der Epheben mit der Philosophie findet, ist nicht zutreffend; s. Burckhardt (2004), 203 mit Anm. 55: An der entsprechenden Textstelle werden zwar
philoponia und eutaxia erwähnt; doch kann aus dieser Aussage nicht gefolgert werden, daß die Epheben philosophische Vorlesungen aufgesucht hätten, da beide Wörter nicht ausschließlich mit der Philosophie, sondern vor allem mit dem sportlichen Bereich des gymnasion und militärischer Disziplin verbunden sind; s. Lambert (2001), 56, u. (2002), 122; Kah (2004), 79-81; Gehrke (2004), 415, und ferner Crowther (1991). - Zum «ephebischen Jahr: Dieses endete mit dem Ende des Boedromion, des dritten Monats des zivilen Jahres in Athen; s. Ferguson (1904), 5.
15 Zur Ephebie allgemein vgl. Marrou (1950), 152-160; Brelich (1969), 208-228; Kleijwegt (1991), 91-101; Gehrke (1997) und Chaniotis (2005), 44-56. Grundlegend zur athenischen Ephebie im Hellenismus ist Pélékidis (1962); s. auch Nilsson (1955), 21-29; Gauthier (19852),
3. Die Philosophen und die Epheben
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Hälfte des vierten Jahrhunderts, da grundsätzlich obligatorisch, als das zentrale Element der sozialen Integration der jungen Männer in die Bürgerschaft ausmachen: Unter der Kuratel der Polis stand im Vordergrund des zweijährigen Dienstes der militärische Aspekt -- sowohl in Bezug auf die Ausbildung als auch hinsichtlich der Sicherung Attikas durch die Stationierung außerhalb der städtischen Grenzen im attischen Territorium. Wesentliches Ziel der Ephebie war es, das militärische Potential der athenischen Bürgerschaft zu erhóhen."* Im Zuge einer durch verschiedene Faktoren bestimmten, hier im einzelnen nicht nachzuzeichnenden Genese entwickelte sich die Ephebie von einem vormilitärischen
zweijáhrigen Dienst, den idealiter alle mánnlichen Athener zu durchlaufen hatten,'” hin zu einem freiwilligen einjährigen Dienst privilegierter junger Männer, die im Gegensatz zur zunächst praktizierten staatlichen Alimentierung für
ihre Unterhaltskosten selbst aufzukommen hatten.'?? Vor dem Hintergrund dieser sehr knapp skizzierten Grundtendenz der athenischen Ephebie sind hier vor allem zwei Aspekte von Bedeutung: Seit dem letzten Drittel des zweiten Jahrhun-
derts láfit sich im epigraphischen Befund das Auftreten von nicht-athenischen Teilnehmern an der Ephebie ausmachen."? Eine Ursache für diese Entwicklung ist in dem zweiten wesentlichen Punkt, der hier zu nennen ist, zu sehen: nämlich der zunehmenden Bedeutung von Elementen im Rahmen der Ephebie, die in den Kontext der paideia gehóren.? Zusammenfassend ist festzuhalten, daß sich die athenische Ephebie von einem exklusiven Ort militárischer Erziehung athe-
Burckhardt (2004), Tracy (2004) und Perrin-Saminadayar (2004). - Zu den Anfängen der athenischen Ephebie s. Reinmuth (1952), 34-50; Vidal-Naquet (1981), 151-175, und Burckhardt
(1996), 29-33.
136 Wichtigste Quelle für die Beschreibung der Ephebie um 330-320 ist die (pseudo-)aristotelische Athenaion Politeia (Ath. pol. 42); zur Ephebie in dieser Zeit vgl. Pélékidis (1962), 83152; Reinmuth (1971), 123-138, sowie besonders Burckhardt (1996), 26-75.
9? Zur Frage, wer im 4. Jh. an der Ephebie teilnehmen durfte bzw. mußte, s. Burckhardt
(1996), 33-43. 138 Vgl. zu diesem Aspekt Habicht (1992b) und Burckhardt (2004), 196-199. ' Vgl. Reinmuth (1929); Pélékidis (1962), 186-196, und Follet (1988). In der Liste der Ephe-
ben des Jahres 128/7 findet sich unter den 107 bezeugten Namen kein einziger Nicht-Athener; nur fünf Jahre später sind unter den Epheben des Jahres 123/2 bereits vierzehn Nicht-Athener verzeichnet; vgl. Habicht (2000b), 123.
“Vgl. Gehrke (1997), 1074 f., und Scholz (2000), 111-114. Erstmalig für die Epheben des Jahres 117/6 ist die später obligatorische Spende von einhundert Büchern an die im Ptolemaion befindliche Bibliothek bezeugt; s. IG 1009, Z. 7f. sowie IG 1030, Z. 36; 1041, Z. 23, und Meritt (1947), 170-172 Nr. 67, hier 171 Z. 32. Vgl. Nilsson (1955), 26; Reinmuth (1955), 234 f., und Habicht (1994), 246. Neben den auf die Bildung hin ausgerichteten Aktivitäten der Epheben
waren kultische Aspekte und die Erinnerung an (myth-)historische Heldentaten der Vergangenheit von großer Bedeutung; vgl. Gehrke (1997), 1074, und Burckhardt (2004), 198 f.; s. auch Chaniotis (1991), 124.
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II. Athen
nischer politai hin zu einer Institution sozial-exklusiver Elitenausbildung einer panhellenischen, ja sogar darüber hinausgreifenden jeunesse dorée wandelte. Trotzdem war die Ephebie strengen Regeln unterworfen: So standen die Epheben unter der Aufsicht der Kosmeten, die Sorge um Ordnung und Disziplin trugen und alles, was mit der Ephebie zusammenhing, überwachten.'^! Im folgenden gilt es nun über sieben Ephebeninschriften zu handeln, die in das zweite und erste Jahrhundert zu datieren sind und in denen Philosophen Erwähnung finden.
1. IGIP 1006!? Die Ehrung für die Epheben, ihre didaskaloi und ihren Kosmeten aus dem Jahre 122/1'? ist der erste epigraphische Beleg für die Erwähnung von Philosophen im Zusammenhang mit der Ephebie. Im Antrag des psephisma für die Ehren der Epheben wird ihr Auftreten in den gymnasia angeführt (Z. 16-21). Dort, im Ptolemaion, im Lykeion und in der Akademia,'** hörten sie Vorträge von Philosophen (Z. 19£.): προσεκαρτίέϊρησαν δὲ xai Ζηνοδότωι oxoA[át]ovre[c £v ve] τῶι Πτολεμαίωι kal | £v Λυκείωι, ὁμοίως δὲ καὶ τοῖς ἄλλοις [φιλο)]σόφοις ἅπασι[ν] τοῖς τε ἐν
Λυκείωι καὶ ἐν Ἀκαδημίίαι δι᾽ ὅλου τοῦ ἐ]νιαυτοῦ Beharrlich widmeten sie (sc. die Epheben) sich auch dem Unterricht bei Zenodotos im Ptolemaion und im Lykeion wie auch bei allen anderen Philosophen im Lykeion und in der Akademie das ganze Jahr hindurch.
^! Zu den Kosmeten und ihren Aufgaben sowie weiteren Aufsichtspersonen s. Pélékidis (1962), 104-109. 142 Zum Text dieser Inschrift s. Reinmuth (1972) mit weiteren Fragmenten; vgl. Follet 21, und Habicht (1994), 246.
(1988),
^^! Zur Datierung der Archonten Nikodemos und Demetrios s. Meritt (1977), 186. !^ Die Quellen zum Ptolemaion hat Wycherley (1957), 142-144, zusammengestellt; zur Topographie des Ptolemaion und seinem urbanistischen Umfeld s. Lippolis (1995). Zum Ptolemaion als Stiftung s. Schaaf (1992), 73-83, sowie Bringmann - Steuben (1995), 45-48
Nr. 17. Zu den Epheben und der Rolle des Ptolemaion im Rahmen der Ephebie s. Pélékidis (1962), 263 f. Zum Lykeion und seinem «physical setting s. Lynch (1972), 9-31; zu den Epheben im Lykeion s. Pélékidis (1962), 260 f.; vgl. auch Delorme (1960), 42-45 u. 58f. Zur Aka-
demie vgl. M.-F. Billot, DPhA I, 1989, 693-789 («Académie. Topographie et archéologie»); zu den Epheben in der Akademie s. Pélékidis (1962), 261 f.; vgl. außerdem Delorme (1960), 3742 u, 51-54.
3. Die Philosophen und die Epheben
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Auch wenn sich im Text der Ephebenehrung keine weiteren Hinweise auf die Person des Zenodotos finden, so ist es auf Grund des Kontextes zwingend, daß es sich bei ihm um einen Philosophen handelt. Plausibel ist es, ihn mit einem aus Diogenes Laertios bekannten Schüler des stoischen Scholarchen Diogenes von Babylon zu identifizieren. Die namentliche Nennung eines Philosophen, bei dem die Epheben Vorträge hörten, ist in den Ephebeninschriften singulär.
Auffällig ist, daß Zenodotos keinerlei Identifikationselemente beigefügt sind; er muß auf Grund des Kontextes für die Zeitgenossen jedoch als bestimmte Person erkennbar gewesen sein. Zwei weitere wichtige Aspekte lassen sich dem zitierten Passus entnehmen. Einerseits wird deutlich, daß im Lykeion nicht allein peripatetische Philosophen lehrten, sondern auch der stoische Philosoph Zenodbotos.' Daß dies kein Son-
derfall war, läßt sich an literarischen Nachrichten zu Philosophen und ihrem Unterricht in athenischen gymnasia aufzeigen: So unterwies auch der Stoiker Chrysipp Schüler im Lykeion.'? Von besonderer Bedeutung ist der zweite Punkt, der sich diesem kurzen Satz aus dem Sanktionsantrag entnehmen läßt: Die Epheben hórten nicht die Vortráge eines einzigen Philosophen oder die von Angehórigen nur einer philosophischen Schule; sie folgten vielmehr den Ausführungen von Philosophen verschiedener Schulzugehórigkeit.!** Auch in dem sich an das Ehrendekret für die Epheben anschließenden psephisma (Z. 50-99) für den Kosmeten wird das Studium der Epheben bei Philosophen und Zenodotos erwähnt (Z. 62-64):
"5 Diog. Laert. 7,30. Zu diesem Schüler des Diogenes s. K. Nickau, RE X A, 1972, 49, s. v. (6); zum Identifizierungsvorschlag vgl. Tod (1957), 137, u. v.a. Dorandi (1989), 38. Zenodotos
ist auch als Verfasser eines Epigramms auf Zenon von Kition bekannt: Anth. Pal. 7,117. Ferrary (1988), 439 f., hat darzulegen versucht, daß Zenodotos nicht mit dem homonymen Schüler des Diogenes gleichzusetzen ist, sondern in ihm - auf Grund von Z. 62-64 - ein anderweitig unbekannter Elementarlehrer zu sehen sei. Allerdings läßt Ferrary Z. 19f. außer acht, wo τοῖς ἄλλοις [φιλο]σόφοις áracti[v| geschrieben steht. In Zenodotos ist der stoische Philosoph zu
sehen, der auch in den Elementarwissenschaften unterwies. "5 Es ist nicht klar, inwieweit Zenodotos institutionell der Stoa angehörte, oder ob er zwar ein Schüler des Diogenes von Babylon war, als Philosoph späterhin aber unabhängig von einer
der großen Philosophenschulen wirkte. Eine Parallele für letzteren Fall wäre ein anonymer Schüler des Karneades, von dem Apollodor berichtet, daß er zu einem späteren Zeitpunkt im
Ptolemaion philosophische Vorträge hielt, was wohl dahingehend aufzufassen ist, daß er in besagtem gymnasion cine eigene Schule ins Leben rief. Zu diesem Anonymus s. FGrHist 244 F
59 = Philod. hist. Acad. col. XXXI, Z. 38 - col. XXXII, Z. 10 Dorandi, "7 Dies berichtet Diogenes Laertios - basierend auf der Schrift περὶ τῶν ὁμωνύμων ποιητῶν τε καὶ συγγραφέων des Demetrios von Magnesia (Diog. Laert. 7,185 = Demetr. Magn. F 24 Mejer). Cicero (fin. 5,1) hórte im Ptolemaion Antiochos von Askalon.
"* Aus IG II? 1006, Z. 19f. zu folgern, daß die Epheben neben Philosophen auch andere Gelehrte aufsuchten, ist nicht móglich; vgl. aber Scholz (2004b), 112.
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IL Athen
προ[ενοήθη δὲ καὶ τῆς πα]ιδείας avro [v] ἐν ἅπασιν | καὶ σωφροσύνης τοῖς ἰφιλο]σόφοις αὐτοὺς [π]αρακαθίζων [kal σ]χολάζων ἅπασιν τοῖς [- -- - - - - - - - δι᾿ ὅλου τοῦ] ἐνιαυτοῦ" | ὁμοίως δὲ καὶ v(fjc ἐν τοῖς] γράμμασιν [a0] vàv ὠ[φελίας ἐφρόν]τισε σχολάζων Ζηνοδίότωι - ].
Er (sc. der Kosmet) trug Sorge um ihre Erziehung in allen Belangen und ihre geistige Bildung, indem er das ganze Jahr hindurch sie bei den Philosophen Platz nehmen ließ und zum Unterricht gab in (bei?) allen [-
- - - - - - ], wie er auch bedacht war
um ihre Kenntnis in der Elementarausbildung, indem er sie zum Unterricht gab bei Zenodotos [...].
2. IG IP 1030, IG IP 1028 und IG IP? 1029 Während in den Ephebendekreten IG II? 1008 (118/7), 1009 (116/5) und 1011
(106/5) nur in allgemeiner Form von der Erziehung der Epheben im Feld der paideia die Rede ist,'* wird in den Ephebendekreten IG IT? 1030 (ca. 105),*? 1028 (101/0)'5! und 1029 (96/5)! im Antrag für die Ehrung auf stets identische Weise
das Studium bei Philosophen erwáhnt:!? γινόμεϊνοι δὲ καὶ ζηλωταὶ τῶν καλλίστων ἐκ τῆς πρώτης ἡλικίας ἠλείφοντό τε ἐνδ[ελε[χῶς ἐν τοῖς γυμνασίοις ἀγόμενοι ὑπὸ τοῦ κοσμητοῦ καὶ ἐσχόλασαν δι᾽ ὅλου τοῦ ἐν[ιαυτ]οὔ | τοῖς φιλοσόφοις μετὰ πάσης εὐταξίας"
Da sie (sc. die Epheben) seit frühester Jugend nach dem Schónsten strebten, trainierten sie ununterbrochen in den Gymnasien unter der Führung des Kosmeten und widmeten sich das ganze Jahr über dem Unterricht bei den Philosophen in vol-
ler Ordnung.
μ9 Vgl. Ferrary (1988), 438 mit Anm. 12. 150 Kirchners Datierung «post a. 94/3» konnte Tracy (1990b), 262, revidieren; die Inschrift stammt vom «cutter of IG II? 1009» - s. ebd., 197-200. Zur Datierung vgl. auch Ferrary (1988), 438 mit Anm. 13. 151 Zur Datierung der Archonten Echekrates und Medeios s. Meritt (1977), 187. Zum «cutter
of IG I 1028» vgl. Tracy (1975b), 85-122, u. (1990b), 181-186; zu weiteren Fragmenten s. ders. (1975b), 32-48, u. (1999); vgl. ferner Follet (1988), 23f.
152 Kirchner datierte den Archon Herakleitos, unter dem die geehrten Epheben die Ephebie ableisteten, in das Jahr 95/4 (IG IP? 1029), das vorliegende psephisma mithin in das Jahr 94/3.
Dinsmoor (1931), 290, hingegen datierte das Dekret in das Jahr 95/4, wohingegen Notopoulos (1949), 6 u. 11, die heute akzeptierte Datierung in das Jahr 96/5 etablierte; s. Henry (1977), 83 mit Anm. 16; Meritt (1977), 187 f., und Habicht (1982b), 174 mit Anm. 78. 153 IG IT? 1030, Z. 29-31; 1028, Z. 32-35 (zum Text: Tracy [1975b], 33-40, hier 34 Z. 32-35, mit Kommentar 41-48) u. 1029, Z. 19-21. Der hier gegebene Text ist der am besten erhaltenen Inschrift (IG II? 1028) entnommen.
3. Die Philosophen und die Epheben
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Trotz der erneuten Erwähnung von Philosophen ist die variierende Formulierung des Sanktionsantrags im Vergleich zu IG II? 1006 evident. Die namentlichen Angaben zu den Gymnasia, in denen die Epheben ihren Bescháftigungen nachgingen, fehlen in diesen drei Dekreten. Ob IG II? 1030 das erste Dekret in dieser
Form ist, läßt sich nicht entscheiden, da zwischen dieser Inschrift und IG IT? 1006 mehr als anderthalb Jahrzehnte liegen, für die keine lückenlose epigraphische Überlieferung zu den jáhrlichen Ehrungen der Epheben vorliegt. Von den drei hier behandelten Inschriften ist allein für IG II? 1028 auch die Ehrung des Kosmeten erhalten. Im zur Ephebenehrung korrespondierenden Passus zum Besuch von Philosophen heißt es (Z. 84 f.): (...) εἴς τε τὰ γυμνάσι[α] | ἄγων αὐτοὺς καθ᾽ éxácr[nv rj] uépav καὶ ταῖς σχολαῖς παρακαθιζάνων-
(...) indem er (sc. der Kosmet) sie täglich in die Gymnasien führte und sie Platz nehmen liefi in den Schulen. Diese Passage ist - trotz fehlender expliziter Nennung - als Hinweis auf die Teilnahme der Epheben an philosophischen Vortrágen zu verstehen. Unstrittig ist auf Grund des Textes im Antrag für die Ehrung der Epheben, daß sie verschiedene Philosophen hórten.
3. IG I? 1039 und IG IT? 1041 Die Epheben, die unter dem Archon Apollodoros die Ephebie durchliefen, wurden im Jahre 79/8 geehrt.'** Im Antrag für ihre Ehrung wird erwähnt, daß sie Vorträge bei Philosophen hörten (Z. 47):5 (...) kall παρ]εδρεύοντες ταῖς τ[ῶν φιλο]σόφων oxo[A]a[tc (...)
(...) und weil sie (sc. die Epheben) an den Vorträgen der Philosophen teilnahmen
(...) 1 Für das Archontat des Apollodoros ist scit langem das Jahr 80/79 etabliert; s. Meritt (1977), 189. Mattingly (1979), 166f., hat für das Jahr 65/4 argumentiert; vgl. aber Follet (1988), 24, und ferner Ferrary (1988), 439, sowie Perrin-Saminadayar (2004), 90. 55 Der Text folgt Mitsos (1964), pin. A; vgl. a. O., 45-47, ad Z. 47 f. Parallel zu IG II? 1041,
Z. 9f. sollte man in Z. 47 vielleicht zu προσ]εδρεύοντες statt zu παρϊεδρεύοντες ergänzen. Basierend auf IG IT? 1039, Z. 47 erscheint es plausibel, IG II? 1041, Z. 10f. folgendermaßen zu ergänzen: kal προσεδίρε) [ὑοντες ταῖς τῶν φιλοσόφων σχολαῖς (...). IG IP 1041 (zwischen 47/6 und 43/2; s. Rawson [1985a], 53) wäre damit ein neu gewonnenes Zeugnis für die Erwäh-
nung von Philosophen im Rahmen eines Dekrets zur Ehrung der Epheben.
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II. Athen
Nachweislich wird erstmals in diesem Ephebendekret nicht nur der Besuch von Philosophen angeführt, sondern auch der von Rhetorik- und Elementarlehrern. Allerdings findet sich dieser Aspekt allein in dem auf Antrag der Epheben beschlossenen Dekret für die Ehrung des Kosmeten, wáhrend dort die Sorge um den Besuch der Vortráge der Philosophen nicht erwáhnt wird (Z. 16-18):
(...) nporp[enópevov ἐπὶ τὰ κάλ]λιστα τῶν ἐπι[ἰτηδευμάτων καὶ n[apakadilovra ταῖς τῶν ῥητόρ]ων [καὶ γραμματικῶν σχολαῖς] καὶ ταῖς γινομέναις | ἀκροάσεσι’ (...) und weil er (sc. der Kosmet die Epheben) zu den schónsten Dingen der Bescháf-
tigungen ermunterte und weil er sie den Vorlesungen der Rhetoriklehrer und Elementarlehrer beiwohnen ließ und den Vorträgen; Die Nennung der Rhetorik- und Grammatiklehrer ist in späteren Ephebendekreten mehrfach bezeugt.'*
4. IG II? 1042 In dem stark zerstörten Monument für die Epheben des Jahres 41/0? heißt es im Dekret, das auf Antrag der Epheben den Kosmeten ehrt, daß dieser darum Sorge trug, daß sie Vorlesungen von Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrern beiwohnten (frg. a-b, Z. 18f.):
(...) n(porpenópevov δὲ ἐπὶ τὰ κάλλιστα τῶν ἐπιτηδευμάτων ταῖς re τῶν φιλοσόφων καὶ pnróp[wv καὶ γραμματικῶν σχολαῖς παρακαθβίζειν(...) weil er zu den schönsten Dingen der Beschäftigung ermunterte, sowohl den Vortrágen der Philosophen als auch der Rhetoriklehrer als auch der Elementarlehrer beizuwohnen; Der Text differiert von der entsprechenden Passage in IG II? 1039 (Z. 16-18) also allein durch die Nennung auch der Philosophen. Im Antrag für die Ehrung der Epheben wird erwähnt, daß sie Vorlesungen von Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrern besuchten (frg. c, Z. 7): ταῖς τε τῶν φιλοσόφων xai ῥητόρων kal γραμματικῶν [σχολαῖς kai ταῖς ὑπὸ τῶν λοιπῶν ἀεὶ yei]| vouévaic ἀκροάσεσιν παρατυγχάνοντες, (...) 56 Vgl. IG I 1040, Z. 27 (gemäß der hier vorgeschlagenen Ergänzung; s. S. 51 mit Anm.
159), 1042, frg. a-b, Z. 18f. u. frg. c, Z. 7f. sowie 1043, Z. 19f. u. Z. 40-43. 57 Zur Datierung des Archon Nikandros s. Dinsmoor (1931), 280; vgl. auch Lazzarini
(1985), 54.
3. Die Philosophen und die Epheben
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weil sie (sc. die Epheben) an den Vorträgen der Philosophen und Rhetoriklehrer und Elementarlehrer und den Vorlesungen der übrigen teilnahmen, (...) IG IE 1042 ist die erste Inschrift, in der Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrer zusammen in einem Ephebendekret genannt werden, wobei das Formular
in IG IP 1039 bereits vorgeprägt ist. 5. IG I? 1043 Entgegen der in den Inscriptiones Graecae vorliegenden Edition dieses Monuments für die Epheben des Jahres 39/8'°® ist in der Ehrung des Kosmeten auf
Antrag der Epheben nicht von den Vortrágen der Philosophen und Elementarlehrer die Rede, sondern von denen der Rhetorik- und Elementarlehrer; der Text ist also identisch mit IG IP 1039 (Z. 16-18).? Somit ist dieser Antrag für
die Ehrung des Kosmeten nicht als Beleg für die Nennung von Philosophen zu
156 Zu IG IT? 1043 s. Follet (1988), 25 f. Der Archon Menandros, unter dem die Epheben ihren
Dienst ableisteten, ist in das Jahr 39/8 zu datieren; a. O., 25. Zur Diskussion über die Datierung von IG JI? 1043 s. auch Reinmuth (1965), bes. 269-272, und Lazzarini (1985), 53 f.
55? [n Z. 19f. muß der Text somit lauten: - - n]potpenöpne[vov ἐπὶ τὰ κάλ]λιστα τῶν ἐπιτηδευμάτων xal napakadilov|[ta ταῖς τῶν ῥητόρων καὶ ypalunatık@v σ[χολαῖς καὶ ταῖς] yıvoμίέϊναις ἀκρόασεσι. Gegen die Ergänzung des Wortes φιλοσόφων in Z. 20 lassen sich folgende
Einwände vorbringen: Werden in Ephebendekreten neben den Philosophen unmittelbar weitere Lehren der Epheben genannt, so sind dies Rhetorik- und Elementarlehrer; vgl. IG II? 1042, frg. c, Z. 7 (nicht als gesichert, jedoch als plausibel können die Ergänzungen in IG 112 1042, frg. a-b, Z. 19 sowie 1043, Z. 42 f. angesehen werden). Die Reihenfolge dieser Trias ist Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrer: IG IP? 1042, frg. c, Z. 7. Zu konstatieren ist außerdem, daß die Philosophen stets an erster Stelle vor den Rhetoriklehrern Erwáhnung finden; vgl. IG IP 1042, frg. a-b, Z. 19 u. frg. c, Z. 7 u. 1043, Z. 42f. Die Rhetoriklehrer wiederum werden immer vor den Elementarlehrern erwähnt: s. IG I? 1042, frg. c, Z. 7 u. 1043, Z. 42f. Da dic Zeilenlänge der non-stoichedon gesetzten Inschrift IG II? 1043 sehr ungleichmäßig ist, ist die hier vorgeschlagene, um zwei Buchstaben kürzere, Ergänzung nicht auf Grund äußerer formaler Kriterien zu widerlegen. - Die lange Zeit angenommene Erwähnung von Vorträgen der Philosophen im stark zerstörten Antrag für die Ehrungen der Epheben des Jahres des Archon Apolexis (20/19?) basiert auf einer falschen Ergänzung (IG II? 1040, Z. 27): an Stelle von φιλοσόφων ist vielmehr ῥητόρων zu ergänzen; s. Reinmuth (1965), 257 Z. 26. Aus diesem Grund ist IG II? 1040 aus dem Corpus athenischer Ephebeninschriften, in denen die Vorträge der Philosophen erwähnt
werden, zu streichen; die Begründung für den Ergänzungsvorschlag ist in ihrer Struktur identisch mit derjenigen für IG IT? 1043, Z. 20. Die Datierung des Archon Apolexis aus Oion ist in höchstem Maße unsicher. Reinmuth (1966), 93-100, datierte das Archontat des Apolexis in das Jahr 46/5, nachdem er noch kurz zuvor [(1965), 271f.] für ca. 43/2 pládiert hatte; s. auch Lazzarini (1985), 54. Die hier angenommene späte Datierung folgt Habicht (1996b), 81 mit Anm. 19. Follet (1998), 251 f., nimmt einen Zeitraum zwischen 25/4 und 21/0 an und zieht basierend auf Geagan (1979b), 65-68, eine Datierung in das Jahr 22/1 in Erwägung.
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Il. Athen
verwenden. Anders verhält es sich hingegen mit dem Antrag für die Ehren der Epheben. Hier heißt es nämlich, daß sie Vorträge der Philosophen, Rhetorikund Elementarlehrern hörten (Z. 42f.):
(...) καὶ παρεδρεύοντες τ]αῖς τῶν [φιλο]σόφων kai ῥ[ητόρ)[[ὡν καὶ γραμματικῶν σχολαῖς (...)
(...) und weil sie (sc. die Epheben) an den Vorträgen der Philosophen und Rhetoriklehrer und Elementarlehrer teilnahmen (...)
Für einen Zeitraum von gut acht Jahrzehnten läßt sich also zwischen den Jahren 122/1 und 38/7 in attischen Ephebendekreten nachweisen, daf? die Epheben im Rahmen der Ephebie an Vorlesungen von Philosophen in den verschiedenen Athener gymnasia teilnahmen.' Dabei handelt es sich um den Endpunkt einer Entwicklung, im Rahmen derer der Erwáhnung von mit paideia verbundenen Aspekten ein immer breiterer Raum in den Ephebendekreten zugemessen wird: Erstmals im Jahre 161/0 findet sich ein Verweis auf mathemata in einem
Ephebendekret;'*' seit 117/6 obliegt den Epheben dann sogar eine obligatorische Bücherspende an die Bibliothek im Ptolemaion.!? Eine zentrale Frage betrifft die Erklárung des erstmaligen Auftretens der Philosophen in einer Ephebeninschrift aus dem Jahre 122/1. Zwar ist die Kenntnis über die athenische Geschichte in den letzten Jahrzehnten des zweiten Jahrhun-
derts äußerst dürftig - und über die Ephebie ist jenseits der Ephebeninschriften in anderen Quellen so gut wie gar nichts zu erfahren -, doch kann es schwerlich Zufall sein, daß die nachweislich erste Erwähnung des Besuches philosophischer Vorträge mit einer weiteren Neuerung in der Organisation der Ephebie zusammenfällt: Denn ebenfalls zum ersten Mal erscheinen in der Liste der Epheben des Jahres 123/2 auch Nicht-Athener, darunter zahlreiche Rómer.!9 Ob es sich bei
dem Besuch von philosophischen Vortrágen und der Teilnahme von Nicht-Athenern an der Ephebie um zwei Punkte handelt, die sich erstmalig im Jahre 123/2 ereigneten, oder ob sie auf Grund der Überlieferungslage nur zum ersten Mal für 1 Es handelt sich dabei um IG IE 1006, 1028-1030, 1039 u. 1041-1043; IG IP 1040 hinge-
gen ist aus dieser Gruppe von Zeugnissen auszuscheiden. Sedley (1998), 476, schreibt fälschlicherweise, daß um das Jahr 80 die Erwähnung der Philosophen in den Ephebendekreten ende. - Warum nach 38/7 in den Ephebeninschriften nicht mehr Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrer als Bestandteil der Ephebie angeführt werden, läßt sich nicht beantworten. 161 Oliver (1933), 503-505 Nr. 16, Z. 9; ein Zeugnis für 127/6 ist Reinmuth (1955), 228-232,
hier 229 Z. 84. In den ab 122/1 datierenden Ephebeninschriften gibt cs mehrere Belege: IG IE 1006, Z. 18; 1008, Z. 56; 1009, Z. 35; 1011, Z. 37; 1027, Z. 20 u. 1041, Z. 11; auch hier stammt wie bei der Erwáhnung der Philosophen - der letzte Beleg aus dem 1. Jh.
1€? S. oben S. 45 mit Anm. 140. 18? Vgl. dazu Follet (1988) u. (2002), 82-84.
3. Die Philosophen und die Epheben
53
besagtes Jahr bezeugt sind, láfit sich nicht mit Sicherheit sagen. Unzweifelhaft ist jedoch, daf? noch im Ephebendekret für das Jahr 128/7 weder Philosophen noch Fremde Erwähnung finden.'* Schlüssig erklärbar erscheinen die angesprochenen Veränderungen jedenfalls nur unter der Voraussetzung, daf? man eine Reform der athenischen Ephebie in den 120er Jahren annimmt. Innenpolitische Entwicklungen in Athen sind nicht
überzeugend als Begründung für diese Veränderungen auszumachen.!® Vielmehr dürfte in der Reform eine Konsequenz allgemeiner historischer EntwickJungen zu sehen sein: Seit dem Beginn des zweiten Jahrhunderts wurde Athen
mehr noch als zuvor in der Fremdwahrnehmung zu einer Bildungsinstitution.'* Nach Athen schickten Mitglieder stádtischer Oberschichten der mediterranen Welt ihren mánnlichen
Nachwuchs,
um
ihn unter dem Aufwand erheblicher
finanzieller Ressourcen von Philosophen und anderen Vermittlern der paideia unterweisen zu lassen. Die Sóhne von Philosophen und anderen Experten in Sachen Bildung wie Rhetorik- und Elementarlehrern unterrichten zu lassen, war
auch ein Anliegen der athenischen Elite - und dies nicht erst seit hellenistischer Zeit, sondern bereits seit den Tagen der Sophistik, der Zeit Sokrates’ und Platons. Ab einem bestimmten Zeitpunkt wurde es also akzeptabel, im Rahmen der Ephebie etwas zu tun, was seit langem zu den Gepflogenheiten derjenigen sozialen Schicht gehórte, der im spáten zweiten und im ersten Jahrhundert die Epheben angehórten. Mit der Zulassung von Nicht-Athenern wurde ein deutliches Zeichen gesetzt, das einen Endpunkt der Entwicklung markiert, die die Ephebie als Institution seit dem vierten Jahrhundert genommen hatte: die Transformation von einer exklusiven, für die zukünftigen athenischen politai vorgesehenen Einrichtung zu einem Institut sozialer Eliten der Mittelmeerwelt. Diese Veränderung schlug sich letzten Endes auch in den Tätigkeiten der Epheben nieder, die den Vortrágen von Philosophen und spáter auch Rhetorik- und Elementarlehrern folgten. Auch wenn es plausibel erscheint, daß in der Mitte der zwanziger Jahre des zweiten Jahrhunderts eine Refom der Ephebie durchgeführt wurde, so ist es nicht zur Gänze auszuschließen, daß der Besuch von Vorträgen von Philosophen, Rhetorik- und Elementarlehrern nicht erst zu dieser Zeit integraler Bestandteil der Ephebie, sondern allein als erwähnenswertes Element der Ausbildung in
! Dieses Ephebendekret wurde von Reinmuth (1955), 228-232, publiziert; s. oben S. 44.
'# Zur wechselvollen innenpolitischen Geschichte Athens im späten 2. und im 1. Jh. s. Habicht (1997a), 281-365.
166 Verwiesen sei hier auf ein Dekret der Amphiktyonen, das athenischen Techniten Privilegien bestätigt und das sowohl in Delphi als auch in Athen veröffentlicht wurde (CID IV 117); s. 5.170.
197 Vgl. dazu S. 277.
54
II. Athen
den Dekreten angeführt wurde. Denn in den Gymnasia, in denen die Epheben die Vermittler der paideia hórten, hielten sie sich bereits zuvor auf und gingen dort dem sportlich-militárisch ausgerichteten Teil ihrer Ausbildung nach. Dies taten die Epheben jedenfalls auch nach den zwanziger Jahren des zweiten Jahrhunderts; die athenische Ephebie war keine Institution, die allein die Vermittlung von paideia zum Ziel hatte, sondern vielmehr den aner agathos in seiner Gesamtheit formen sollte - und dazu gehórte neben der paideia auch in gleicher Weise die andreia. Die innere Verbundenheit dieser beiden normativ aufgeladenen Worte wird besonders nachhaltig durch den Begriff der eutaxia zum Ausdruck gebracht: Diese hat ihren ideologischen Ort sowohl in der paideia und im besonderen in der Philosophie! als auch im zur andreia gehörigen militärischen Bereich.'® Besonderes Augenmerk verdient der Umstand, daß die Epheben nicht allein bei einem Philosophen oder ausschließlich bei Mitgliedern einer einzigen Philosophenschule Vorträge hörten, sondern bei stoischen, akademischen und peripatetischen Philosophen. Nicht bezeugt ist hingegen der Besuch von Mitgliedern der Schule Epikurs - allerdings ist er a priori auch nicht auszuschließen.!” Sollten epikureische Philosophen nicht Teil der ephebischen Tour durch die athenischen Philosophenschulen gewesen sein, so ist dennoch nicht zu entscheiden, ob dieser Umstand damit zu erklären ist, daß den Epikureern in der öffentlichen Wahrnehmung eine moralische Defizienz anhaftete.'”' Durch die Teilnahme an Vortrágen von Philosophen ganz unterschiedlicher Schulprovenienz wird jedenfalls deutlich, daß es nicht um die Vermittlung spezifischer philosophischer Lehren oder die damit einhergehende maßgebliche Prägung durch eine bestimmte Richtung ging, sondern ganz grundsátzlich um das Hóren von Philosophen. Zur Imago eines Jünglings aus der Oberschicht hellenistischer Poleis gehórte der vertraute Umgang mit der Philosophie - die Ephebendekrete sind ein nachdrückliches Zeugnis für Athen, daß dieser Aspekt im späten zweiten und frühen ersten Jahrhundert auch für die Perspektive der Polis gilt. In diesen Bereich sind auch die Besuche von Rhetorik- und Elementarlehrern im Rahmen der Ephebie einzuordnen. Bedenkt man die prinzipielle Gegnerschaft zwischen Philosophen und Rhetoriklehrern,'”? so macht die Teilnahme an philosophischen ebenso wie rhe-
'** Besonders einen wichtigen frg. 264 = Stob. frg. 276 = Clem.
in der stoischen Philosophie ist die eutaxia von großer Bedeutung und nimmt Platz im Tugendkanon - vor allem bei Chrysipp - ein; vgl. SVF III Chrysipp 2,60,9; frg. 272 = Ps.-Andronikos peri pathon, p. 251, Z. 9f. Glibert-Thirry u. Al. paed. III xii 85,4.
'# Vgl. dazu Crowther (1991), 301-303; Chaniotis (2002), 104, sowie van Nijf (2003), 272f.
17 Vgl. Ferrary (1988), 441. " Diese Erklärung ist seit Dittenberger (1863), 53, etabliert; vgl. u.a. Pélékidis (1962), 267. 17 Vgl. dazu unten S. 191.
4. Der Peripatos
55
torischen Vorträgen deutlich, daß es dabei nicht um exklusive Vermittlung von spezifischem Wissen ging. Trotz der unbestreitbaren Bedeutung der paideia im Kontext der Ephebie wäre es aber völlig verfehlt, diese seit dem späten zweiten Jahrhundert allein unter dem Blickwinkel der paideia zu betrachten - wie die Texte deutlich belegen, gehörte der athletisch-militärische Bereich in mindestens gleicher Weise zum Bild der Epheben.'? Die Geschichte der Ephebie als
eine Entwicklung vom «wehrhaften Bürger und politischen Redner zum gebildeten Griechen» zu charakterisieren,"* greift deswegen zu kurz, wenn natürlich auch Grundtendenzen damit durchaus treffend zu zeichnen sind. Vielmehr geht
es aber um den wehrhaften Bürger, den politischen Redner und den gebildeten Griechen - Mitglieder der Oberschichten hellenistischer Poleis sollten dem Idealbild gemäß alle drei Bereiche in sich vereinen. Das neue Element seit dem zweiten Jahrhundert ist, daß der paideia auch in der öffentlichen Wahrnehmung und im Diskurs des demos eine größere Bedeutung zugemessen wurde.
Die Dekrete für die Epheben und die Kosmeten, die eine eindeutig positive Konnotation hinsichtlich des Besuches von philosophischen Vorträgen transportieren, zeigen, daß Philosophen und Philosophie in die athenische Gesellschaft integriert waren und daß dies auch in psephismata explizit zum Ausdruck gebracht werden konnte. Aus den Verderbern der Jugend - so zumindest seit den Tagen des Sokrates ein in der Literatur topischer Vorwurf gegen Philosophen waren von der Polis-Öffentlichkeit nicht allein akzeptierte, sondern angesehene Vermittler von paideia geworden, zu denen man die männliche Jugend schickte.
4. Der Peripatos a) Aristoteles und Athen - die Geschichte einer Ehrung In der antiken Überlieferung zu Aristoteles sind zwei Bilder dieses Philosophen kreiert worden: Auf der einen Seite steht der finstere Schurke, dem keine Untat zu schändlich erschien, der seine patris Stageira an den Makedonenkönig Philipp II. verraten und seiner jahrzehntelangen zweiten Heimat Athen in hohem Alter noch zu schaden getrachtet haben soll; auf der anderen Seite findet sich der
1 Den militärischen Aspekt in der (attischen) Ephebie auch noch im 2. Jh. hat Καὶ (2004),
74, hervorgehoben; vgl. auch "Tracy (2004), 207. Schwácher hingegen hat ihn Burckhardt (2004), 198f., akzentuiert. 1^ Vgl. Scholz (2000), 110. Zur athenischen Erziehung im späten 2. und frühen 1. Jh. s. Hadot (1984), 30-34.
"5 Die Anschuldigungen gegen Aristoteles sind zusammengestellt bei Düring (1957), 373384; s. auch S. 37.
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II. Athen
strahlende Held, der euergetes und philos von Individuen, Poleis - besonders Athens und der Athener - und der gesamten Menschheit."* Dieses extrem ambivalente Image von Aristoteles ist das Ergebnis des literarischen Kampfes philound antiaristotelischer Autoren um den Mann aus Stageira.'”” In diesem Kontext ist die Nachricht über eine angebliche athenische Ehrung des Aristoteles zu sehen, die sich im Kitab 'Uyün al-anbä’ fi tabagät al-atibba' (Quellen der Nachrichten über die Generationen der Árzte) des arabischen Gelehr-
ten Ibn Abi Usaybi'a findet. Am Ende des Artikels über Aristoteles führt der Autor Belege an, die die große Wertschätzung des Philosophen bei dessen Zeitgenossen untermalen sollen,'” darunter auch ein vorgebliches attisches Ehrendekret:!® Wegen der Menge der Wohltaten und des Guten, das er auf diesem Gebiete erwies, gingen die Athener so weit, sich zu versammeln und den Beschluß zu fassen, eine Inschrift zu schreiben, die sie in eine steinerne Säule eingruben, und sie auf der höchsten Citadelle der Stadt, die ἀκρόπολις genannt wird, aufzustellen. Sie erwähnten in dem, was sie auf die Säule schrieben, Aristoteles, Sohn des Nikomachos, aus Stageira habe sich verdient gemacht, durch die Ausübung des Guten und die Menge des Helfens und Wohltuns, die ihm eigen gewesen seien, und die Förderung, die er den Athenern habe angedeihen lassen, indem er für das, was ihrer Sache diente und ihnen gute Behandlung erwirkte, bei König Philippos eingetreten sei: so solle nun die Anerkennung der Athener für das hieraus erwachsene Schöne klar werden; sie sollen ihm Vorzug und Auszeichnung schenken und ihm ein ehrendes Gedächtnis und treue Erinnerung widmen. Wer aber von den Männern der Herrschaft ihn für unwürdig hält, möge nach seinem Tode es ihm gleichthun und 176 Eine Zusammenstellung der entsprechenden Textstellen findet sich bei Chroust (1964), 67 f.
7 Grundlegend zur vielschichtigen literarischen Tradition zu Aristoteles sind Düring (1957), Gigon (1958) und Gutas (1986).
?* Ausführlich zu diesem 'Text Haake (2006b); im folgenden werden nur die wichtigsten Ergebnisse zusammengefafit. - Geboren wurde Ibn Abi Usaybi'a 1194 in Damaskus, er starb 1270 in Sarkhad; vgl. zu seiner Biographie J. Vernet, EI? III, 1971, 693f., s. v. Bei seinem Werk handelt es sich um ein Ärztelexikon, jedoch enthält es nahezu alle Vertreter der verschiedenen Wissenschaften bis in die Gegenwart des Autors; zu Inhalt und Aufbau dieses Werkes s. Endress (1987), 431. Der arabische Text liegt bei Müller (1884), 54-69, vor. Deutsche Übersetzungen stammen von Baumstark (1900), 38-54, und Steinschneider (1869), 195-198; eine englische Übersetzung findet sich bei Düring (1957), 213-231. 179 Vgl. die Übersetzung bei Baumstark (1900), 42, 44 u. 46, sowie Düring (1957), 215 f. (15)-
(24). "0 Vgl. Baumstark (1900), 46 u. 48; der arabische Text findet sich bei Müller (1884), 55,10-
24. Eine weitere deutsche Übersetzung liegt bei Steinschneider (1869), 197 (7), vor; eine englische Übersetzung findet sich bei Düring (1957), 215. [(17)-(19)).
4. Der Peripatos
57
seinem Eintreten für sie in Allem, was sie hinsichtlich ihrer Bedürfnisse und Angelegenheiten wiünschten.!*!
In der modernen Forschung ist diese Passage vielfach als Beleg für ein athenisches Ehrendekret für Aristoteles angesehen worden; dabei wurde die vorgeb-
liche Inschrift auf Grund ihrer Form meist als Proxeniedekret klassifiziert.'*? Vereinzelt hat es in der Forschung jedoch auch Stimmen gegeben, die den von
Ibn Abi Usaybi'a überlieferten Text als ein literarisches Produkt philoaristotelischer Provenienz ansehen - eine Ansicht, die begründet und plausibel ist.!*? Mit Sicherheit ist davon auszugehen, daß es sich bei dem gefälschten Dekret
nicht um eine Erfindung des Ibn Abi Usaybi'a handelt, die dieser in seine explizit genannte Vorlage, nämlich Ptolemaios’ Werk Über Leben und Geschichte des Aristoteles, sein Testament und das Verzeichnis seiner berühmten Bücher,'** ein-
gefügt hätte. Diese seit langem in der Forschung etablierte Ansicht erhält in einer seit geraumer Zeit bekannten Handschrift aus der Aya Sofya ihre Bestátigung, die eine von Ibn Abi Usaybi'a unabhängige, vollständige Übersetzung von Ptolemaios' Aristotelesvita beinhaltet, in der sich ebenfalls der Text des vermeintlichen Ehrendekrets findet.'* Somit ist unzweifelhaft, daß kein arabischer Autor
181 Da er die Authentizität eines athenischen Proxeniedekretes zu erweisen können glaubte,
legte Drerup (1898), 377f., cine Rekonstruktion des originalen griechischen Textes des psephisma
vor: «- - εἶπεν: ἐπειδὴ Ἀριστοτέλης
Νικομάχου
Σταγειρίτης ἀνὴρ ἀγαθός
ἐστιν
περὶ τὸν δῆμον τὸν Ἀθηναίων καὶ ποιεῖ ὅτι δύναται ἀγαθὸν καὶ ἐπιμελεῖται Ἀθηναίων τῶν ἀφικνουμένων ὡς Φίλιππον πράττων ἀγαθὸν ὅτι δύναται Ἀθηναίοις παρὰ Φιλίππου, δεδόχθαι τῷ δήμῳ, ἐπαινέσαι Ἀριστοτέλην Νικομάχου Σταγειρίτην ἀρετῆς ἕνεκα καὶ εὐνοίας καὶ εἶναι αὐτὸν πρόξενον καὶ εὐεργέτην τοῦ δήμου τοῦ Ἀθηναίων αὐτὸν καὶ ἐκγόνους, ὅπως ἂν καὶ οἱ ἄλλοι ἅπαντες φιλοτιμῶνται εἰδότες, ὅτι ὁ δῆμος χάριτας ἀποδίδωσιν τοῖς εἰς ἑαυτὸν φιλοτιμουμένοις. ἀναγράψαι δὲ τόδε τὸ ψήφισμα τὸν γραμματέα κτλ.» "? Vgl. Drerup (1898) 370-376; Wilhelm (1942), 17; Gigon (1958), 162-165; Chroust (1973b); Vatai (1984), 115, und Marek (1984), 161. Whitehead (1975), 96, hält den Text für
eine literarische Erfindung, erachtet ihn aber in seiner Struktur als eine Ehrung, die mit der Errichtung einer Statue verbunden war. Da das Dekret für Aristoteles eine Fálschung ist, sind die u.a. von Sonnabend (1996), 141-143, und Wórle (1981), 23-25, vorgelegten Überlegungen
zum historischen Kontext des psephisma hinfällig. 15 Vgl. Düring (1957), 233; Trampedach (1994), 56, und Adak (2003), 172; s. auch Haake
(2006b). 1 Vgl. zum Titel Baumstark (1900), 38. 185 Dies haben bereits Steinschneider (1869), 197 mit Anm. 29; Baumstark (1900), 46 f., sowie
auch Drerup (1898) hervorgehoben. 1*5 Es handelt sich dabei um ein Manuskript, das nicht viel früher als 1739-1740 zu datieren ist (Istanbul, cod. Aya Sofya 4833, fol. 10*-18*); s. dazu Gutas (1986), 34f. mit Anm. 31, und M. Aouad, DPhA I, 1989, 415-417, hier 415 («La version arabe [intégrale?] de la Vie d'Aristote écrite par Ptolémée»). Obwohl diese Handschrift mittlerweile seit langem bekannt ist, stehen
eine vollständige kritische Edition sowie eine Übersetzung noch aus. Vgl. zu besagtem Passus
58
Il. Athen
den Text des vermeintlichen Ehrendekrets in die Aristotelesvita eingeführt haben kann,'# sondern daß Ptolemaios den Ausgangspunkt für jegliche weitergehende Überlegung hinsichtlich der Ursprünge und Herkunft dieses Pseudopsephismas bilden muß.!® In der arabischen Überlieferung trägt Ptolemaios den Beinamen al-Garib, was so viel wie «der Fremde» bedeutet;'*? seine Identifizierung ist zwar nicht geklärt, jedoch ist unstrittig, daß er zeitlich zwischen dem zweiten und vierten nachchristlichen Jahrhundert zu verorten ist.'? Wichtiger als die Frage nach der Identität des Ptolemaios al-Garib ist die Tatsache, daß es sich bei ihm um einen Autor mit einer ausgesprochen aristotelesfreundlichen Haltung handelt;?! sowie die Frage nach seinen Quellen. Denn auch Ptolemaios ist als Produzent des vermeintlichen athenischen Dekrets für Aristoteles auszuschließen, da in dessen Text so stark mit Elementen attischer frühhellenistischer psephismata gearbeitet wird, daß die dafür notwendigen Kenntnisse bei Ptolemaios nicht vorauszusetzen sind. Bei der Beantwortung der Frage nach seiner Vorlage kommt der erwáhnten Handschrift aus Istanbul zentrale Bedeutung zu. Bis zur Entdeckung dieses Manuskriptes war aus der arabischen Überlieferung die einleitende Dedikationsepistel des Ptolemaios nicht vollständig bekannt,'?? sondern allein ein Incipit, das über den Verfasser der Quelle des Ibn Abi Usaybi'a (Ptolemaios), die Person, der das Werk gewidmet ist (Gallus),? und den Titel aber immerhin Plezia (1985), 5: «(17-21) Propter plurima eius merita Athenienses titulum
honorificum Aristoteli in arce sua posuerunt, cuius tituli verba ipsa afferuntur atque destructionis restitutionisque historia narratur.» Der Istanbuler Handschrift kommt nach Gutas (1986),
29, besondere Bedeutung zu, «[s]ince the transmission of Ptolemy's text in the manuscript is independent of the biographical tradition and there is no contamination between the two, it is evident that the manuscript text represents the only recension in which Ptolemy's Vita was known in Arabic.»
1? Somit kann an dieser Stelle die umstrittene Frage, ob Ibn Abi Usaybi'a arabische Vorlagen verwandte oder nicht und unmittelbar auf eine arabische Übersetzung der ptolemäischen
Aristotelesvita zurückgriff, offen bleiben. Vgl. zu dieser Diskussion die Erórterungen von Hein (1985), 402-413, und Gutas (1986), 16. - In den anderen drei arabischen Werken, in denen
biographische Texte zu Aristoteles enthalten sind, werden zwar auch Passagen aus Ptolemaios' Schrift zitiert, nicht jedoch die Stelle, die die Nachricht zum athenischen Ehrendekret für Ari-
stoteles enthält. 188 Es ist anzunehmen, daß Ptolemaios den arabischen Autoren in einer syrischen Übersetzung vorlag; vgl. dazu Gutas (1986), 29, sowie auch Baumstark (1900), 14 u. 34-36.
18 S. Baumstark (1900), 13; vgl. Dihle (1957), 324f., mit Überlegungen zu diesem Beinamen. 190 Vgl. Haake (2006b), 337 f., mit einer Übersicht über die Identifizierungsvorschläge und zur Datierung. 19?! Vgl. hierzu Düring (1957), 208.
192? Diese Dedikationsepistel wurde als einziges Element von den späteren arabischen Biographen aus der vita des Ptolemaios nicht kopiert; vgl. Gutas (1986), 35 Anm. 32. ? Die von Plezia (1975), 40, u. (1985), 2, geäußerte Vermutung, Gallus sei mit Fl. Claudius
4. Der Peripatos
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(Über Leben und Geschichte des Aristoteles, sein Testament und das Verzeichnis seiner Bücher) informiert. Durch die in der Istanbuler Handschrift vollstándig
überlieferte Dedikationsepistel'* kann nun als gesichert angesehen werden, daß Andronikos die zentrale Quelle für Ptolemaios' «Biobibliographie des Aristoteles gewesen ist!” — bislang war allein bekannt, daß Ptolemaios das Werk des Andronikos, der im ersten Jahrhundert lebte,'?* kannte, nicht aber, wie weit er
auf diesem basierte.'? Ob aber Andronikos - oder ein anderer philoaristotelischer Autor des ersten Jahrhunderts - als Produzent der Ehreninschrift anzusehen ist, oder ob deren Erfindung in das dritte Jahrhundert anzusiedeln ist, läßt sich nicht entscheiden.'!?®
Mit dem erfundenen Dekret für Aristoteles verwoben ist die «Geschichte der Inschrift, die ebenso eine literarische Invention darstellt: Ein Athener namens
Himeraios'? hatte sich angeblich von dem Beschluß der Polis bezüglich der Inschrift gelóst, indem er das Gegenteil über den Philosophen behauptete und die auf der Akropolis aufgestellte Stele zerstörte. Er wurde daraufhin von Antinoos??
ergriffen und getötet; Stephanos?! aber und viele andere Athener machten sich daran, eine neue Stele für Aristoteles zu errichten, auf die sie den gleichen Dekrettext wie zuvor schrieben - jedoch um den Zusatz erweitert, daß Himeraios sich an der ersten Inschrift vergangen hatte, von der Polis verflucht und eine Reinigung der Stadt von dem Übeltáter notwendig geworden sei.??
Constantius Gallus (PLRE I, 224£), dem Halbbruder des Kaisers Julian, zu identifizieren, ist
zwar ingeniös, jedoch reine Spekulation. Der Adressat von Ptolemaios' Schrift muß als Unbekannter betrachtet werden. 1** Vgl. Hein (1985), 416f. (mit arabischem Text und deutscher Übersetzung); eine - von Gutas (1986), 35 Anm. 32 stark kritisierte - Übersetzung ins Englische hat Düring (1971), 266, vorgelegt. Bei Plezia (1975), 38f., u. (1985), 2f., findet sich eine lateinische Inhaltsangabe der
«praefatio». 55 Vgl. Hein (1985), 393-396, und Barnes (1997), 25£.; zu Andronikos und seiner Edition des aristotelischen Corpus s. grundlegend Moraux (1973), 45-94, und Hein (1985), 388-413.
1% Zur Diskussion um die Datierung des Andronikos vgl. R. Goulet, DPhA I, 1989, 200-202, hier 201, s. v. (A 181), und Barnes (1997), 21-44. 177 Vgl. Moraux (1973), 63-65.
35 Vgl. dazu Haake (2006b), 348 f. ' Es ist plausibel, diesen Himeraios mit dem Bruder des Demetrios von Phaleron zu identifizieren; vgl. Drerup (1898), 376 f., und Düring (1957), 234. Zu Himeraios s. Berve (1926), 743, und Davies (1971), 108.
?* Antinoos ist vermutlich zu Antipatros zu korrigieren; vgl. bereits Steinschneider (1869), 196 mit Anm. 22 u. 198 mit Anm. 32.
?! Eine Identifikation des Stephanos ist nicht möglich. τ. Vgl. die Übersetzung des entsprechenden Passus von Steinschneider (1869), 198 (8), und Baumstark (1900), 48.
60
II. Athen
Das erfundene psephisma für Aristoteles und seine «Geschichte ist als Reaktion auf in der antiaristotelischen Literatur erhobene Vorwürfe gegen Aristoteles
zu verstehen, von denen der Philosoph durch das vorgebliche offizielle Zeugnis der Athener exkulpiert werden soll. Bei diesen Vorwürfen handelt es sich vor allem um einen angeblich gegen Aristoteles angestrengten Asebieprozeß in Athen im Jahre 323, der den Philosophen zum Verlassen der Stadt veranlafit haben soll,” und um die von Demochares in seiner Rede erhobenen Angriffe gegen Aristoteles.?t Das erfundene athenische Ehrendekret für Aristoteles gehórt somit in den Kontext der angeblichen zahlreichen Ehrungen, die Aristoteles in der griechischen Welt von Kónigen und Poleis erhalten haben soll?5 und die alle einem Ziel dienen: Es soll gezeigt werden, daß Aristoteles ein bei seinen Zeitgenossen hoch geachteter Mann war und nicht etwa ein vaterlandsloser Geselle noch - horribile dictu - ein manischer Verráter griechischer Poleis. Und wie kónnte in einer Zeit, in der die Vorstellung vom Dokument als Argument respektive Evidenz sich etablierte beziehungsweise etabliert hatte, ein philoaristotelischer Autor besser gegen solche, dem griechischen Publikum grundsätzlich plausiblen, philosophenfeindlichen Anschuldigungen entgegentreten als mit «Dokumenten, die genau das Gegenteil bezeugten? Dem vom auctor des erfundenen Dekrets intendierten Publikum muf die Vorstellung der Ehrung eines Philosophen jedenfalls grundsätzlich überzeugend erschienen sein. b) Demetrios von Phaleron: Theorie und Praxis
In seiner Schrift de legibus schreibt Cicero, daß es viele mittelmäßig gebildete Männer in der Politik, aber auch zahlreiche politisch nur mäßig erfolgreiche hochgebildete Männer gegeben habe. Doch außer Demetrios von Phaleron fánde sich kaum jemand, der sowohl im Bereich wissenschaftlicher Studien als auch auf dem Gebiet der Leitung eines Gemeinwesens princeps zu nennen sei.?” Sollte Demetrios von Phaleron also der seit den Tagen Platons immer wieder viel gesuchte Mann sein, der philosophische Erkenntnis in politische Praxis umsetzte?
205} Vgl. hierzu Diog. Laert. 5,5 f. und s. auch die Darstellung bei Ibn Abi Usaybi'a (Baumstark [1900], 42 u. 44, und Düring [1957], 214 £. [7]-[10]). Für historisch hält ihn z.B. Scholz (1998), 177 mit Anm. 196; als biographische Erfindung hingegen bewerten zu Recht Gigon (1958),
178 £., und Bollansée (2001), 69-83, die Asebieklage. 24 Vgl. zu Demochares’ Vorwürfen gegen Aristoteles ausführlich oben S. 37 f. 225 Chroust (1964), 68f., hat die Quellen für Ehrungen des Aristoteles aufgelistet. Diese sind
zum größten Teil als biographische Erfindung anzusehen.
206 Cic, leg. 3,6,14.
4. Der Peripatos
61
Wiederholt ist in der modernen Forschung diese Ansicht geäußert worden.?” Die Vertreter dieser Auffassung stehen dabei durchaus in einer Tradition der antiken Überlieferung.?® Daneben existiert jedoch noch ein gänzlich anderes Bild von Demetrios, zwar weniger erfolgreich in seiner Rezeption, doch nicht von minderer Relevanz: der Tyrann von Kassanders Gnaden.?? Es ist nicht das Ziel der nachfolgenden Ausführungen, sich mit dem spáteren literarischen Bild des Demetrios auseinanderzusetzen; vielmehr wird der zeitgenóssische athenische Diskurs über ihn im Zentrum stehen. Die beiden literarisch
imaginierten Demetrioi bieten aber die Móglichkeit, die «biographische Kon207 Paradigmatisch seien hier auf Cohen (1926) und Bayer (1942), bes. 6, 90 u. pass., verwiesen. Prägnant formulieren Wood - Wood (1978), 249: «Demetrius was the first actual gover-
ning «philosopher king in the Socratic tradition (...).» Die Einschätzung des Demetrios als «Philosophenherrscher vertritt auch Tracy (2000b), 341; allgemein und vage ist Mossé (1992). 208 Neben Cic. leg. 3,6,14 wäre aus dem ciceronianischen CEuvre noch besonders rep. 2,1,2 = Cato dicta memor. 64 Jordan zu nennen, wo Demetrios für die Wiederbelebung der bereits
blutlosen und darniederliegenden athenischen Verfassung gelobt wird. Auch in einem gänzlich anderen Kontext, in der Gerichtsrede pro C. Rabirio Postumo (9,23), wird Demetrios als positi-
ves Beispiel neben Platon und Kallisthenes angeführt. 2? Vg]. z.B. Paus. 1,25,6, der zweifelsohne auf einer hellenistischen Quelle basiert; s. Bearzot (1992), 69-74. Polybios berichtet, daß Demochares, Neffe des Demosthenes und innerathenischer Gegner des Demetrios, in seinen Historiai schwere Vorwürfe gegen Demetrios erhoben habe (FGrHist 75 F 4 = Democh. frg. 7 Marasco = Pol. 12,13,7-12). Athenaios zitiert im zwólften Buch seiner Deipnosophistai, das ausführlich über Personen von Herakles bis Commodus handelt, die sich der hedone und exaltiertem Luxus hingegeben hätten, zwei Autoren, die sich
negativ über Demetrios äußerten: Duris von Samos und Karystios von Pergamon. Ersterer, so Athenaios, habe in seinen Historiai geschrieben, daß Demetrios jährlich 1200 Talente in seine Hände bekam, die er zur Befriedigung seiner Gelüste verausgabte - während er Regeln für die
Lebensführung der anderen Athener aufgestellt habe, habe er selbst frei aller strikten Regeln und Gesetze gelebt (FGrHist 76 F 10 = Athen. 12,542b-e; s. dazu Landucci Gattinoni [1997],
122-125). Zwar expliziert Duris nicht, daß sich Demetrios wie ein Tyrann gebärdet habe, doch durch die gegen den Phalereer erhobenen Vorwürfe evoziert er das Bild eines Tyrannen. Besonders deutlich wird dies, wenn man das Fragment nicht isoliert, sondern in seinem Überlieferungskontext bci Athenaios betrachtet: Demetrios wird in eine illustre Gesellschaft von Tyrannen wie beispielsweise Polykrates von Samos, dem älteren wie jüngeren Dionysios und Gelon von Akragas cingcreiht; vgl. Gambato (2000), 228, zu den bei Athenaios gesammelten exempla der tryphe. Auch wenn sich eine unmittelbare Abhängigkeit nicht nachweisen läßt, so ist Karystios nicht unabhängig von Duris’ Tyrannenbild des Demetrios zu sehen: Karystios berichtet gleichfalls von Elementen eines luxuriósen Lebenswandels des Demetrios in den Historika hypomnemata (FHG IV Carystius Pergamenus F 10 = Athen. 12,542e-543a). Kebric
(1977), 25f., hat Duris' antimakedonische Haltung als wesentliches Motiv für die negative Darstellung des Demetrios hervorgehoben. - Die athenische Konzeptionalisierung der Herrschaft des Demetrios als Tyrannis und ihre entsprechende Inszenierung in Athen post eventu ist oben S. 17f. besprochen. Die Aussage von Tracy (2000b), 333, daß die antiken Quellen Demetrios gegenüber in ihrer Tendenz überwiegend negativ eingestellt seien, trifft in dieser Eindeutigkeit nicht zu.
62
II. Athen
struktion ein und derselben historischen Person unter differenten Vorzeichen in
der antiken Literatur zu analysieren, ihre Genese zu beleuchten und in die Interessenskontexte der auctores sowie ihren Intentionen einzuordnen.
Demetrios wurde wohl um die Mitte der 350er Jahre geboren und entstammte einer reichen athenischen Familie, die «suddenly appears from obscurity in the 320s».?? Die politische Bühne Athens scheint Demetrios zur Zeit der Flucht des Harpalos vor Alexander betreten zu haben - also im Jahr 324?! Neben ihm war auch sein Bruder Himeraios in das politische Leben Athens involviert, gehórte allerdings nicht der gleichen politischen Richtung wie sein Bruder an, sondern vielmehr den makedonenfeindlich gesinnten Kráften.?? Die Schlacht von Krannon besiegelte im August des Jahres 322 endgültig die Niederlage der antimakedonischen Allianz, bestehend aus den Athenern und ihren Verbündeten, im Hellenischen Krieg und damit das Ende der Tráume griechischer Freiheit nach
210 Vgl. Davies (1971), 107-110. Aelian (var. 12,43) kolportiert, daß Demetrios als Sklave geboren wurde; er steht damit in der gleichen Tradition wie Diogenes Laertios, der unter Beru-
fung auf Favorins Apomnemoneumata überliefert, daß Demetrios unvornehmer Herkunft gewesen sei (Diog. Laert. 5,75 f. = Favor. frg. 37 Barigazzi). Dies ist als literarischer Topos anzusehen: Die niedere Geburt ist eine Variante der antiken Tyrannencharakterisierung und dient der sozialen Diskreditierung. Genau in diese Richtung verweist auch die ebenfalls auf Favorin basierende und von Diogenes an gleicher Stelle überlieferte Nachricht, daß Demetrios von Konon sexuell mifibraucht worden sei. 21! Dies berichtet zumindest Diogenes Laertios, der sich für diese Information auf Demetrios von Magnesia beruft (Diog. Laert. 5,75 = Demetr. Magn. F 16 Mejer). Zur Chronologie der Harpalosaffäre s. Worthington (1986) sowie Badian (1961) und Habicht (19972), 30-32, zu
Harpalos und Athen. - In der aus Kyrene stammenden «stéle des σύλα» wird verzeichnet, daß durch Zahlung von 100 Minen an den rhetor Damatrios in Athen frühere Schulden beglichen seien (Laronde [1987], 150 Z. 28f. = Demetr. Phal. frg. "151 SOD). Der historische Hinter-
grund dieses Dokuments ist ebenso unklar wie seine Datierung und Interpretation. Die Gründung von Megalopolis 368/7 bildet den Terminus post quem, da diese Polis in Z. 20 erwáhnt wird; Terminus ante quem ist das kyrenische diagramma Ptolemaios. 1 (SEG IX 1; vgl. dazu Huss [2001], 100f.), das zwischen 322 und 308 zu datieren ist. Dobias-Lalou - Laronde (1977), 9-13, datieren die «stéle des σύλα» ca. 335; s. auch Laronde (1987), 159f. Ihre nicht zu bewei-
sende Prämisse ist, daß Damatrios der rhetor mit Demetrios von Phaleron identisch ist. Basierend auf dieser Gleichsetzung erfolgt über eine Rekonstruktion der Biographie des Demetrios an Hand einer Inschrift aus Eleusis (IG IT? 2971 = I.Eleusis 195) die Datierung der Inschrift aus
Kyrene. Da aber nach Tracy (1994) IG IP? 2971 nicht auf Demetrios von Phaleron, sondern auf dessen homonymen Enkel zu beziehen ist (s. dazu auch S. 73f.), sind diese Überlegungen hinfállig. Die Gleichsetzung von Demetrios von Phaleron mit Damatrios dem rhetor ist auf Grund mangelnder Indizien abzulehnen. Zur «stéle des σύλα» s. Pugliese Carratelli (1961-1962), 273280 Nr. 103, u. v.a. Bravo (1980), 918-926, sowie auch Garlan (1965), 338 f.; Gauthier (1972), 313-315, und Laronde (1987), 149-161. 112 Zu Himeraios s. Berve (1926), 743, und Davies (1971), 108; s. auch Haake (2006b), 342 f.
4. Der Peripatos
63
dem Tode Alexanders.?? Die Konsequenzen für Athen waren erheblich: So wurde unter anderem in die Hafenfestung Mounychia eine makedonische Garnison gelegt. Oropos und das Heiligtum des Amphiaraos gingen verloren;? die Ver-
fassung wurde geándert und diejenigen Politiker, die für den Krieg verantwortlich waren, mußten an die Sieger ausgeliefert werden.?^ Auf Antrag des Demades verurteilte die athenische Volksversammlung diese aus Athen geflohenen Poli-
tiker zum Tode:?! Während es Demosthenes gelang, im Tempel des Poseidon in Kalauria, umstellt von Háschern des Antipater, seinem Leben mit Gift selbst
das Ende zu bereiten?" ereilte Hypereides,?? Eukrates,?'? Aristonikos von Marathon?? und Himeraios das Schicksal der Hinrichtung. Dessen Bruder Demetrios aber war Mitglied in der ersten athenischen Gesandtschaft an Antipater und Krateros gewesen, der außer ihm noch Phokion und der Redner Demades angehórt hatten;?! eine zweite Abordnung wurde um den akademischen Scholarchen
213 Zum Namen Hellenischer Krieg oder Lamischer Krieg s. Ashton (1984). Einen Überblick
über die epigraphischen Quellen und die Forschung bietet Marinovic (1989); vgl. auch Lchmann (1988), 130-148. Von besonderer Relevanz für die zeitgenóssische Konzeptionalisierung dieses «Freiheit»-Krieges in Athen ist Hypereides’ Epitaphios logos für die Gefallenen des ersten Kriegsjahres; vgl. Loraux (1981), 102, 251, 254, 257 f. u. 265; Engels (1993a), 373-384, sowie Prinz (1997), 272-289. Schmitt (1992), 50-147, hat sich mit dem Hellenischen Krieg auseinandergesetzt; zur athenischen Perspektive s. Habicht (1997a), 39-42.
?* Oropos blieb bis 312 selbständig und war dann bis 304, als es wieder Athen zugeschlagen wurde, Bestandteil des boiotischen Bundes; vgl. Gullath (1982), 126, 143, 175 u. 181.
25 Zu den Folgen der Niederlage im Hellenischen Krieg für Athen s. Diod. 18,18,4; vgl. Schmitt (1992), 147-157, und Habicht (1997a), 40-42. Zur Änderung der athenischen Ver-
fassung ist anzumerken, daß die Einführung des Zensus, die Antipater verfügte, zwar Phokion und seinen Mitgesandten durchaus zupaß kam, es auf Grund der bei Diodor vorliegenden Darstellung jedoch keine zwingenden Indizien gibt, daß die athenischen Gesandten an diesem Aspekt des Friedens einen aktiven Anteil nahmen, wie es Gehrke (1976), 90 f., annimmt. 216 FGrHist 156 F 9 (13) = Phot. bibl. 92, p. 69b34-40 u. Plut. Demosth. 28,4. Zu Demades’ Rolle s. Brun (2000), 118£.; vgl. Marzi (1992), 78-80, zur Bedeutung dieses Ereignisses für die
spätere Bewertung des Demades in der antiken Literatur. ?7 Zu Demosthenes! Ende vgl. die semantisch höchst aufgeladene Darstellung in Plut. Demosth. 29,1-5; s. Sealey (1993), 215-219.
? Zu Hypereides’ Tod (Plut. mor. 849b-d u. Demosth. 28,4) vgl. Engels (1993a), 392-400. ?? Es handelt sich dabei um denjenigen Eukrates, der 337/6 das berühmte Gesetz gegen die Tyrannis eingebracht hat; vgl. zu diesem nomos Meritt (1952), 355-359 Nr. 5, sowie Ostwald (1955), Wallace (1989), 179-184; Faraguna (1992), 270-272; Haake (2003), 92 mit Anm. 128, und Blanshard (2004). Zu Eukrates s. Hansen (1983), 167, und LGPN II, s. v. (43). 2 Vg]. Hansen (1983), 161, zu Aristonikos.
?! Zu Himeraios s. oben S. 62 - Zur athenischen Gesandtschaft an Antipater und Krateros nach der Schlacht von Krannon s. Diod. 18,18,1-4 sowie Plut. Phok. 26,2-27,1 und vgl. Habicht (19972), 40; eine vollständige Zusammenstellung der antiken Quellen zu dieser Gesandtschaft findet sich bei Kienast (1973), 611. Zu Phokion im Rahmen dieser presbeia s. Gehrke (1976),
87-88; zu Demades, dessen atimia wegen seiner maßgeblichen Involvierung in die Divinisie-
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II. Athen
Xenokrates erweitert.?? Als in Athen in Folge der Ereignisse nach dem Tode des Antipater 319/8 die radikaldemokratische Parteiung mit Hilfe Polyperchons an die Macht kam, gelang es Demetrios, im Gegensatz zu Phokion, Demades und anderen Mitgliedern der von Antipater gestützten oligarchischen Seite, sich in Sicherheit zu bringen und sein Leben zu retten.?? Dennoch war der Sieg der radikaldemokratischen Kráfte und Polyperchons in Athen kein totaler, da der Peiraieus in den Hánden Nikanors, eines Gefolgsmannes des Kassander und erklárten Gegners des Polyperchon, blieb.?* Neuerliche Veränderungen in der machtpolitischen Konstellation zwischen den Diadochen blieben im Sommer 317 nicht
rung Alexanders des Großen vor Antritt der Gesandtschaft wieder aufgehoben wurde, vgl. Brun (2000), 106-118. Die Teilnahme des Demetrios von Phaleron ist allein in der Schrift
de elocutione eines späteren philoperipatetischen Namensvetters bezeugt (Demetr. eloc. 289). Lange Zeit ging die Forschung auf Grund mittelalterlicher Handschriften von einer Identitát des Autors von de elocutione mit dem Phalereer aus; mittlerweile hat sich für die Schrift eine spätere Datierung in der Forschung etabliert, ohne daß jedoch ein Konsens erreicht werden konnte, ob das 3., 2. oder 1. Jh. oder aber sogar erst das 1. Jh. n.Chr. als Entstehungshorizont anzunehmen ist. Hingegen ist die peripatetische Beeinflussung der Schrift unbestreitbar,
cine peripatetischen Philosophen gegenüber positive Grundeinstellung ebenfalls; vgl. Solmsen (1931). Ein umfassender Forschungsüberblick findet sich bei Morpurgo-Tagliabue (1980), 141-150; vgl. bes. Chiron (2001), 311-370.
222 [n der antiken Tradition lassen sich zwei gegensätzliche Bewertungen zu Xenokrates' Auftreten in der athenischen Gesandtschaft ausmachen. Während er einerseits als mutiger rednerischer Verfechter der «athenischen Werte» der eleutheria und demokratia vor einem tyrannischen Antipater dargestellt wird (Philod. hist. Acad. col. VIT, Z. 41 - col. VIIL, Z. 11 Dorandi; Plut. Phok. 27,2-4 = Xenokrates frg. 35 Isnardi Parente; Diog. Laert. 4,9), erscheint er andererseits als bar der Fähigkeit zur diplomatischen Kommunikation, als jemand, der nicht die rechten Worte zur rechten Zeit zu finden vermag und den gegnerischen Verhandlungspart gegen sich aufbringt (Philod. rhet. I col. LV Sudhaus = FGrHist 228 F 48a = Demetr. Phal. frg. 158 Wehrli = Demetr. Phal. frg. 131A SOD; Philod. rhet. II frg. 12 Sudhaus = Demetr. Phal. frg. *131C SOD = Xenokrates frg. 38 Isnardi Parente; Philod. hist. Acad. col. VIII, Z. 11-17 Dorandi = Xenokrates frg. 39 Isnardi Parente); vgl. Gehrke (1976), 89, zu den verschiedenen Strángen der antiken Überlieferung. Zur Beteiligung des Xenokrates an der zweiten Gesandtschaft s. Whitehead (1981), 238-241; Isnardi Parente (1981), 137; Sonnabend (1996), 105-108,
und Scholz (1998), 196-199; s. auch Maddoli (1967), 306-309. Die negative Beurteilung des Xenokrates geht auf Demetrios von Phaleron zurück - vgl. Dorandi (1997b); zu Xenokrates’ Einbindung in die athenische Politik s. Trampedach (1994), 141-143.
223 Nach Plut. Phok. 35,2 u. Nep. Phoc. 3,1 f. wurde Demetrios in Abwesenheit zum Tode verurteilt; vgl. F. Wehrli, RE-Suppl. XI, 1968, 514-522, hier 514f., s. νι; ausführlich s. Gehrke (1976), 87-120; Brun (2000), 123-130, und - unter Vorbehalt - Williams (1982), 169-211, sowie grundlegend Habicht (19972), 42-49.
224 Vgl. Habicht (1997a), 49 (. Bislang wurde dieser Nikanor mit dem Sohn des Proxenos von Atarneus, den Aristoteles adoptiert und den er in seinem Testament seiner Tochter Pythia als Ehemann bestimmt hatte, identifiziert; vgl. H. Berve, RE XVII, 1, 1936, 267 f., s. v. (4), und Bil-
lows (1990), 86-88. Bosworth (1994) hat jedoch gezeigt, daf es sich um einen anderen Nikanor
4. Der Peripatos
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ohne Folgen für die Situation in Athen:?* Es kam zu Verhandlungen zwischen Athen und Kassander, bei denen Demetrios eine wichtige Rolle spielte.?* Die
Konsequenz war der Übertritt Athens auf Kassanders Seite während des Zweiten Diadochenkrieges, was zur Wiedervereinigung Athens und des Peiraieus sowie zu einem erneuten Wechsel in der athenischen Verfassung führte. Kassander wurde gestattet, bis zum Ende des Krieges eine Besatzung im Peiraieus zu unterhalten. In diesem Zusammenhang installierte Kassander Demetrios von Phaleron als epimeletes in Athen? Daß der Diadoche gerade auf den Phalereer als Sachwalter seiner Interessen verfiel, ist einleuchtend: Demetrios gehörte zur philomakedonischen Parteiung in Athen und war mit Kassander persónlich
bekannt.?2? Außerdem war Demetrios ja auch an den Verhandlungen zwischen den verfeindeten Parteiungen in Athen und Peiraieus sowie mit Kassander maßgeblich beteiligt gewesen.
handelt, nämlich den Sohn des Balakros und der Phila, der Schwester des Kassander. Durch die neue Identifizierung werden die Überlegungen von Tracy (1995), 42f. mit Anm. 38, hinfällig, der eine besondere Nahbeziehung zwischen Demetrios von Phaleron und Nikanor auf Grund ihrer vermeintlichen gemeinsamen Zugehórigkeit zur Schule des Aristoteles vermutete. 25 Vgl. Diod. 18,74,1-3; zu den Ereignissen und Hintergründen s. Habicht (19972), 51-53, sowie Will (1979-82), I 48-51. 226 Darauf verweist eine Ehrung des demos Aixone (IG IT? 1201); vgl. Olshausen (1974), 8f., sowie Tracy (1995), 42f., und Habicht (19972), 52. Zu IG IT? 1201 s. S. 74f.
227 Zu den Konsequenzen s. Diod. 18,74,3; vgl. Habicht (19972), 54. - Lange Zeit wurde in der Forschung kontrovers diskutiert, welches Amt: Demetrios während seiner zehnjähri-
gen «Herrschaft» in Athen innehatte und welche Bezeichnung er trug: epistates (Köhler in IG II 1, p. 350 ad IG II 584), nomothetes (Dow - Travis [1943], 153-156) oder strategos (Polyaen. 4,7,6; s. Ferguson [19112], 47 mit Anm. 5; Heuss [1937], 54 und Anm. 1, sowie Gehrke [1978], 175). Bereits Wilhelm (1903), 784, hatte (u.a. unter Berufung auf Diod. 20,45,2 u. 18,74,3) mit
guten Argumenten vorgeschlagen, epimeletes als Demetrios’ Titel anzunehmen und entsprechend in IG I? 1201, Z. 11 epimeletes zu ergänzen. Da durch die Umdatierung von IG IP? 2971 = LEleusis 195 (s. S. 73f.) eine zentrale Stütze der auf Polyaen fußenden Argumentation für stra-
tegos als Bezeichnung des Demetrios entfallen ist, ist nun der Wilhelm'schen These zu folgen; vgl. hierzu v.a. Tracy (1994), 157, (1995), 45 f., (2000b), 337 f., und Habicht (19972), 54. Zu IG II? 1201 s. unten S. 74f.
28 Karystios äußert sich sogar dahingehend, daß ein kausaler Zusammenhang zwischen Demetrios' philos- Verháltnis zu Kassander und der Macht des Phalereers in Athen bestand (FHG IV Carystius Pergamenus F 10 = Athen. 12,542f); vgl. F. Stähelin, RE X, 2, 1919, 22932313, hier 2312, s. v. (2); Badian (1958), 153f., und Fortina (1965), 34 mit Anm. 62, der sich
auch allgemein mit Antipaters und Kassanders Verbindungen zum Peripatos befaßt. Ob der Begriff philos hier als Beschreibung eines affektiven Nahverháltnisses zu verstehen ist oder als funktionale Bestimmung der Position im Rahmen der «Herrschaftsstruktup hellenistischer Monarchien, ist nicht entscheidbar; wahrscheinlich geht bei Karystios beides zusammen. Zu den philoi hellenistischer Monarchen s. Habicht (1958), Herman (1980-81), Weber (1997) und Savalli-Lestrade (1998), 213-394.
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II. Athen
Über zehn Jahre hinweg, über die sich der Phalereer spáter in mehreren Schriften apologetisch verlauten ließ, herrschte Demetrios als Kassanders «Statthalter» in Athen, bis im Jahre 307 Demetrios Poliorketes im Zuge eines für die eleutheria der Griechen proklamierten Krieges gegen Kassander Athen «befreito,?? womit die Zeit des Demetrios von Phaleron als epimeletes abgelaufen war:?? Er verließ Athen in Richtung Theben, wo er sich, voller Angst vor seinen Mitbürgern, bis zum Tode Kassanders aufhielt.?! Daraufhin zog es ihn an den ptolemaiischen Hof nach Alexandreia,?’? wo er in eine einflußreiche Stellung bei Ptolemaios I. Soter gelangte: Möglicherweise war er für den König legislatorisch tátig;?? gemäß der späteren Tradition war er auch in die Gründung des Museion und der Bibliothek involviert.?* Gestorben sein soll Demetrios an den Folgen eines Schlangenbisses auf dem Land, wohin er auf Grund seiner falschen Positionierung in der Frage um die Nachfolge Ptolemaios’ I. von Ptolemaios II. verbannt worden war.?^
229 Vgl. die pathetische Darstellung bei Plut. Demetr. 8,1-3; nüchterner sind Diod. 20,45, f. u. Polyaen. 4,7,6; s. Will (1979-1982), 69, und Habicht (19972), 66. S. auch oben 5. 16. 230 Vgl. FGrHist 328 F 66 = Dion. Hal. de Dinarch. 3,4 f.; FGrHist 239 B 20 = IG XII 5, 444,
Z. 124f.; Diod. 20,45,1-5; Plut. Demetr. 8,4-9,3; Suda, s. v. Δημήτριος ὁ Ἀντιγόνου u. Polyaen. 4,7,6; zu den Ereignissen s. Habicht (19972), 66.
?! Diod. 20,45,4; Strab. 9,1,20 u. Plut. Demetr. 9,3. Während seines Aufenthaltes in respektive in der Náhe von Theben soll Demetrios laut einer Aussage von Plutarch in dessen Schrift quomodo adulator ab amico internoscatur mit dem Kyniker Krates zusammengetroffen sein (mor. 69c-d); Athenaios (10,422c-d), der sich auf die Diadochai des Sosikrates beruft, und Diogenes
Laertios (6,90) wissen gleichfalls von einer Begegnung der beiden Philosophen. Tracy (2000b), 343, hat mit plausiblen Argumenten aufgezeigt, daß Ciceros Aussage in de finibus (5,19,53), daß Demetrios unmittelbar nach dem Ende seiner zehnjährigen «Regentschaft nach Alexandria gegangen sei, wenig wahrscheinlich ist. Ein wichtiges Indiz ist in diesem Zusammenhang eine Fluchtafel aus Athen, die in das Jahr 304 datiert; s. Jordan [1980], 229 £. Zu dieser Fluch-
tafcl s. unten S. 77 f. ?* Vgl. FGrHist 1026 F 75 = Diog. Laert. 5,78; Diod. 20,45,4 u. 9,1,20.
?? Als Zeugnis für Demetrios' gesctzgeberische Tätigkeit für Ptolemaios I. dient Ail. var. 3,17; die historische Glaubwürdigkeit dieser Aussage wird in der Forschung m.E. allerdings zu hoch veranschlagt. Zwei Papyri werden als Beleg für Demetrios' legislatorische Aktivitáten in Alexandreia angeführt (PHib. 196 u. POxy. 2177); s. Bingen (1957) zu PHib. 196 und vgl. allgcmein Fraser (1972), I 96 mit II 179 Anm. 27, sowie Huss (2001), 229.
24 Vgl. Georg. Sync. ecl. chron. 329,3-8 Mosshammer u, Tzetz. Proleg. de com. Graec., prooem. II. Eine wichtige Rolle spielt die jüdische Überlieferung, da Demetrios in dieser ein entscheidender Anteil an der Entstehung der Septuaginta zugeschrieben wird: vgl. z.B. Arist. ad Philocr. 9-11. S. dazu Gruen (1998), 207-209, u. (2002), 228; zur Beteiligung an der Gründung von Museion und Bibliothek vgl. Pfeiffer (1968), 96-104, u.v.a. Weber (1993), 74-82, sowie Barnes (2000), 61-64; Tracy (2000b), 343-345, und Casson (2001), 31-36.
25 Demetrios hatte für Ptolemaios Keraunos, Sohn aus der Ehe Ptolemaios' I. mit Eurydike, und gegen den späteren Ptolemaios II., Sohn der Berenike, optiert; s. dazu die auf Her-
4. Der Peripatos
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Nach diesem biographischen Überblick zu Demetrios ist die gesetzgeberische Tätigkeit des Phalereers in Athen zu thematisieren: Hat Demetrios peripatetische Konzepte oder - allgemeiner gesprochen - philosophische Theoreme im Rahmen seines legislatorischen Wirkens umzusetzen versucht??* Diese Frage ist in der altertumswissenschaftlichen Forschung oftmals mit mehr Emphase denn mit zwingenden Argumenten positiv beantwortet worden. Deutlich läßt sich dabei vielfach der Wunsch ausmachen, eine Person zu finden, die die Symbiose von Geist und Macht verkörpert.” Hingegen läßt sich mit überzeugenden Argumenten darlegen, daß jegliche gesetzgeberische Tätigkeit des Demetrios von Phaleron zwischen 317/6 und 307/6,?* die vermeintlich von peripatetischem - oder überhaupt philosophischem - Gedankengut inspiriert gewesen und als praktische Umsetzung philosophischer Theorien aufzufassen sein soll, weit plausibler auf andere Weise zu erklären ist:
mippos von Smyrna basierende Darstellung Laert. 5,78). Vgl. außerdem das Demetrios tete Bonmot zur «Herrschaftsübergabe an fung auf Herakleides Lembos’ Epitome von
bei Diogenes Laertios (FGrHist 1026 F 75 = Diog. in den Mund gelegte und an Ptolemaios I. gerichPtolemaios IL, welches von Diogenes unter BeruSotions Diadochai überliefert wird (FHG III Hera-
clides Lembus F 10 = Sotion frg. 18 Wehrli = Diog. Laert. 5,79); s. Huss (2001), 249f. u. 252-
254. - Zur Verbannung s. erneut die auf Hermippos gründenden Ausführungen des Diogenes (FGrHist 1026 F 75 = Diog. Laert. 5,78); auf eine Konfrontation zwischen Ptolemaios II. und Demctrios deutet auch ein Papyrus hin, der ein nichtidentifizierbares Prosafragment enthält (PLille 88 2 CPF I 1** 42 Demetrius Phalereus 1T); vgl. dazu Dorandi (2000), 387, sowie Gottschalk (2000), 372f., zur Konfliktsituation und deren Ursachen. - Zum Tod des Demetrios s.
Diog. Laert. 5,78, u. Cic. Rab, Post. 9,73; vgl. Sollenberger (2000), 325 f., zur Interpretation dieser Quellenstelle.
?* Die nomothetische 'l'átigkeit des Demetrios ist in den antiken Quellen mehrfach bezeugt; vgl. u.a. FGrHist 239 B 13 - IG XII 5, 444, Z. 25-27 sowie Georgios Synkellos (ecl. chron. 331,36 f. Mosshammer) u. IG II? 1201 - vgl. dazu S. 74f.; s. Habicht (1997a), 54f. #7 Exemplarisch sei auf Lehmann (1997), 62-85; Williams (1997); Dreyer (1999), 180-184; Tracy (2000b), 341, und Bernhardt (2003), 269-275, 288, 312, verwiesen. Gauer (2000) ver-
meinte sogar, die Symbiose von Geist und Macht in einem seiner Ansicht nach bislang falsch zugeschriebenen Portrát ausmachen zu kónnen: dem im Kunsthistorischen Museum in Wien befindlichen «Diphilos (Inv. AS I 1282), den er als ein Bildnis des Demetrios von Phaleron
identifizieren móchte. Gauers Überlegungen vermógen allerdings nicht zu überzeugen. ?* Wann genau in dieser Zeit die Gesetzgebung des Demetrios anzusetzen ist und ob es sich
um einen einmaligen legislatorischen Akt oder um eine Reform in mehreren Stufen handelte, ist nicht mit Sicherheit zu klären, auch wenn eine Datierung an den Beginn seiner zehnjährigen Statthalterschaft» äußerst plausibel erscheint; vgl. Engels (1998), 135 f.
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II. Athen
Denn sowohl für die nomophylakia,?? die gynaikonomia,^? die Agonothesie?*! als 239 Zentrale Quellen: zwei Lemmata im Onomastikon des Pollux, die scheinbar im Widerspruch zueinander stehen (Poll. 8,94 u. 102 = Schol. Plat. in Phaid. 59e = FGrHist 228 F 26 =
Demetr. Phal. frg. 32 Wehrli = Demetr. Phal. frg. 52 SOD), zwei auf Philochoros' Atthis basierende Notizen im Lexicon Cantabrigiense (p. 22, s. v. νομοφύλακες Houtsma = FGrHist 328 F 64b) sowie ein Lemma bei Harpokration (s. v. νομοφύλακες = FGrHist 328 F 64a); eine Anführung sämtlicher Parallelbelege findet sich in FGrHist IIIb Suppl. 1, p. 338f. Die historische Aus-
deutung der Textstellen ist kontrovers besonders hinsichtlich der Datierung der Einführung der nomophylakes; vgl. dazu Gehrke (1978), 188-191, und O'Sullivan (2001), 51-59. Hingegen läßt sich mit Sicherheit konstatieren, daß die Ausgestaltung der Kompetenzen der nomophylakes unter Demetrios von der früheren abwich; s. Gehrke (1978), 151, und vgl. Piérart (2000) zu den
nomophylakes in der Zeit des Demosthenes. Genau an diesem Punkt ist die Frage zu stellen, ob sich bei den durch Demetrios bedingten Veránderungen des Amtes der nomophylakes philosophische Konzepte als Ausgangspunkt ausmachen lassen, die in den Politika des Aristoteles (1287a16-a23; 1298b26-b34; 1332b32-b41) oder aber in den platonischen Nomoi (v.a. 754d1756e8; 770a5-772e4; 951c1-952d4) ihre Basis haben könnten. Daß dies nicht der Fall ist, hat
Gehrke (1978), 151-162, in einer detaillierten Untersuchung überzeugend dargelegt. ^" Die gynaikonomia des Demetrios ist quellenmäßig schlecht und auch nur indirekt bezeugt: Philochoros beschreibt im siebten Buch seiner Atthis den Zuständigkeitsbereich der gynaikonomoi (FGrHist 328 F 65 = Athen. 6,245c). Doch da in der Forschung allgemein akzeptiert wird, daß der Atthidograph im siebten Buch seines Werkes die athenische Verfassung unter Demetrios beschreibt, ist es trotz fehlender expliziter Nennung des Phalcrcers plausibel, das Zeugnis auf diesen zu beziehen; vgl. Wehrli (1962), 34, und Gehrke (1978), 162 mit Anm.
62. Bevor Athenaios Philochoros zitiert, führt er Textpassagen aus den Apophthegmata des Lynkeus von Samos, Bruder des Historikers Duris von Samos (Athen. 6,245a), aus den Komö-
dien Philodikastes des Timokles (PCG VII Timocles frg. 34 = Athen. 6,245b) sowie Kekryphalos des Menander (PCG VI 2 Menander frg. 208 = Athen. 6,245b-c) an, in denen von Aufgaben
der gynaikonomoi gehandelt wird. Dazu gehört nicht allein - wie schon der Name nahelegt die Aufsicht über den kosmos der Frauen, sondern auch die Überwachung von Gastmählern
sowie Hochzeiten und die Kontrolle der Einhaltung von sepulkralen Bestimmungen. Auch für die gynaikonomia konnte Gehrke (1978), 162-170, nachweisen, daß sich weder ein philosophischer Unterbau bei Platon oder Aristoteles und Theophrast (zu den in der Forschung in diesem Kontext diskutierten Textstellen s. Gehrke [1978], 163-165) für Demetrios’ Aktivitäten in die-
sem Bereich nachweisen läßt noch überhaupt vor seinem zeitgenössischen historischen Hintergrund notwendig ist; vgl. auch Wehrli (1962), 33-38; Garland (1981) (non vidi) und O’Sullivan (2001), 59 f. Für die Gesetze zur Beschränkung des Gräberluxus ist ein umfänglicher Passus aus Ciceros de legibus das einzige Zeugnis (leg. 2,25,62-2,27,67 = FGrHist 228 F 9 = Demetr. Phal.
frg. 135 Wehrli = Demetr. Phal. frg. 53 SOD); s. dazu Engels (1998), 121-154. Auch Engels negiert in diesem Punkt eine originäre Beeinflussung des Demetrios durch die Philosophie und verweist vielmehr auf die Vorbildfunktion Solons (a. O., 141). Zu den Auswirkungen der
Grabgesetze auf den materiellen Befund vgl. Stichel (1992). Grundsätzlich zur Bestattungspraxis und dem damit einhergehenden Kostenaufwand im Athen des 4. Jh.s s. Nielsen et al. (1989) und Oliver (2000). 21 Für diese Reform existieren keine literarischen Zeugnisse. Köhler (1878) hat auf Grund
des epigraphischen Befundes erschlossen, daß Demetrios die Choregie abschaffte und stattdessen die Agonothesie einrichtete; vgl. Gehrke (1978), 171 mit Anm. 115. Daß sich Demetrios grundsätzlich mit der Choregie auseinandersetzte, konnte Köhler (1898) an Hand einer Pole-
4. Der Peripatos
69
auch die «wirtschaftspolitischen» Mafsinahmen?? und den Zensus?? lassen sich historische Parallelen aus dem
vierten Jahrhundert aus anderen
griechischen
Poleis aufzeigen?* - ohne daß in diesen Fällen eine philosophische Fundierung angenommen würde. Die Gesetzgebung des Demetrios in Athen ist also in erster Linie in ihrem historischen Kontext zu erklären und inhaltlich als durchaus allgemeingriechisches Phänomen aufzufassen."
mik des Phalereers nachweisen, die sich in Plutarchs Schrift de gloria Atheniensium findet (mor. 349a-b = FGrHist 228 F 25 = Demetr. Phal. frg. 136 Wehrli Demetr. Phal. frg. 115 SOD). Als
Zeitpunkt dieser Maßnahme ist der Beginn der zehnjährigen «Regentschaft» des Demetrios anzunehmen; vgl. Pickard-Cambridge (1968), 92, und Gehrke a. O. Auch in diesem Fall wies er
(ebd., 171-173) nach, daß keine philosophischen Bezugnahmen anzunehmen sind. 2! Die von Ferguson (1911b), 265-268, und Bayer (1942), 41-48, auf Grund zweier Frag-
mente aus Alexis’ Komödie Lebes (PCG II Alexis frg. 130f = Athen. 6,226a-b) angenommenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Demetrios nach der Vorgabe Platons (leg. 917b), die die horoi und die Preisgestaltung auf dem Markt betroffen haben sollen, sind nicht mit dem
Phalereer in Verbindung zu bringen; vgl. Gehrke (1978), 176-178. Grundlegend zur Interpretation der horos-Inschriften, die den Namen des Demcetrios tragen (Agora XIX, H 84; Karagiorga-Stathakopoulou AD 33 B-1, 1978 [1985], 31), ist Finley (1952), 177-181 u. 219f.
2 |n den Jahren nach dem Sommer 317 ist in Athen ein Zensus belegt: Wer als Besitz weniger als zehn Minen vorweisen konnte, wurde vom Aktivbürgerrecht ausgeschlossen; vgl. Diod.
18,74,3. Dieser Zensus, so die Ansicht weiter Teile der Forschung, stelle eine Analogie zu derjenigen politeia des Aristoteles dar, dic sich auf die mittleren Einkommensgruppen stützt; s. Ari-
stot. pol. 1265b26-b33; 1279a37-b4 u. 1293a39-b1. Zu Recht hat Gehrke (1978), 179f., herausgestellt, daß es für die Erklärung der Einführung eines Zensus nicht der Zuhilfenahme der Philosophie bedarf - wer würde beispielsweise auf den Gedanken kommen, den Zensus, der den Athenern 322 von Antipater oktroyiert wurde, als Umsetzung philosophischer Konzepte zu verstehen, obgleich mit Xenokrates sogar ein Philosoph an den Verhandlungen zwischen Athen und Antipater teilnahm? Außerdem konnte Gehrke zeigen, daß der Zensus von zehn Minen einen nicht unerheblichen Teil der armen Bevölkerung Athens nicht vom Aktivbürgerrecht ausschloß, schon von daher also die auf die «Mittleren, gestützte politeia des Aristoteles nicht Modell gestanden haben kann. Zu fragen wäre auf Grund der Darstellung bei Diodor, ob Demetrios überhaupt für die Maßnahme verantwortlich war: Die Einführung des Zensus wird nämlich explizit unter die Bedingungen gerechnet, die den Athenern im Rahmen des Friedens von Kassander auferlegt wurden (Diod. 18,74,3). Zwar stimmten die athenischen Unterhándler - unter ihnen auch Demetrios -- den Bedingungen zu; inwiefern sie aber selbst auf sie Einfluß zu nehmen vermochten, läßt sich nicht ausmachen. Sicher läßt sich allerdings sagen, daß die athenischen Gesandten keine erklärten Gegner von Verfassungen mit oligarchischen Zügen waren. 24 Neben der grundlegenden Studie von Gehrke (1978) ist auch auf Gagarin (2000), 354356, zu verweisen.
?5 In einer Replik auf Gehrke (1978) hat Williams (1987) versucht, den peripatetischen Einfluß auf die gesetzgeberische Tätigkeit des Demetrios zu beweisen; vgl. auch ders. (1997). Jedoch vermag er nirgends cine direkte Abhängigkeit des Demetrios von der Philosophie zwingend oder plausibel aufzuzeigen, sondern nur bekannte vordergründige Ähnlichkeiten, ohne jedoch die von Gehrke vorgebrachten Argumente entkráften zu können. Die Argumentation von Williams ist nicht neu, sondern bleibt im Rahmen dessen, was bereits u.a. Bayer (1942)
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Il. Athen
Dennoch läßt sich nicht ausschließen, daß ein mittelbarer Einfluß philosophischer Vorstellungen in die Gesetzgebung des Phalereers Eingang gefunden hat.?*° Unbestreitbar sind Demetrios' Verbindungen zum Peripatos, in besonderem Maße zu Theophrast: Nicht nur, daß er diesem beim Erwerb eines kepos behilflich war, er wird auch dessen γνώριμος genannt.?* Einerseits kann dieser Begriff eine freundschaftliche Beziehung bezeichnen, die allerdings unterhalb der philia rangiert, andererseits kann er aber auch ein Schülerverhältnis anzeigen.?? Die Quellen, in denen Demetrios als γνώριμος des Theophrast bezeichnet wird, erlauben keine eindeutige Entscheidung, welche der beiden Bedeutungen in diesem Fall zutrifft. Weitere Zeugnisse gehen aber dahin, daß Demetrios zwar Hörer des Theophrast"? nicht aber dessen Schüler im engeren Sinne war. Unabhángig von dieser terminologischen Frage besteht ein anderes Problem bezüglich der Schülerschaft: Theophrast, geboren 372/1 oder 371/0, übernahm nach dem Tode seines Lehrers Aristoteles im Jahre 322/1 die Leitung von dessen Schule?* Erst ab diesem Zeitpunkt kann Theophrast gemäß der antiken Vorstellung Schüler oder Hórer im eigentlichen Sinne gehabt haben. Demetrios von Phaleron, geboren in der Mitte der fünfziger Jahre des vierten Jahrhunderts,
betrat 324 erfolgreich die politische Bühne Athens. Es ist nur schwer vorstellbar, daß er als dreißigjähriger Mann unter den gegebenen Umständen ein «echter Schüler des Theophrast war. Die Forschung hat sich, so sie dieser Problematik gewahr wurde, verschiedentlich dahingehend geäußert, stattdessen für Demetrios ein Schülerverhältnis zu Aristoteles in Erwägung zu ziehen.?? Gegen eine
und Dow - Travis (1943) geschrieben haben. Unter Bezugnahme auf Williams (1987) pládiert auch Lehmann (1997), 62-85, für einen «philosophischen» Demetrios; s. auch Dreyer (1999), 161-164, und Tracy (2000b). 246 So auch Gehrke (1998), 101 mit Ànm. 3.
?* Vgl. dazu Diog. Laert. 5,39: Theophrast besaß als Metöke in Athen nicht das Recht des Erwerbs von Grundbesitz; s. Lynch (1972), 98-100 u. 210; Grayeff (1974), 50, sowie O'Sullivan (2002), 254-257. Vgl. auch S. 42 mit Anm. 119. ?^* Vgl. Philod. de rhet., PHerc. 453 frg. IV, Z. 12f. (Crónert [1906], p. 67) = FGrHist 228 F
48b = Demetr. Phal. frg. 159 Wehrli = Demetr. Phal. frg. 131B SOD; Strab. 9,1,20 u. Cic. off. 1,1,3 (er verwendet discipulus). ?* Vgl. LS], s. v. (L3. au. b). Daß bei der Auffassung, welche Bedeutung in bestimmten Fällen γνώριμος innewohnt, der interpretatorische Spielraum erheblich ist, zeigt cin Blick auf die Ver-
wendung dieses Wortes bei Diogenes Laertios - eine Zusammenstellung der Belegstellen findet Sich bei Janácek (1992), 63, s. v.; geláufiger ist allerdings das Wort μαθητής zur Charakterisierung eines Schülerverhältnisses: s. Janácek (1992), 165f., s. v. S. auch oben S. 29 mit Anm. 64. 250 Dies geht sowohl aus Cic. fin. 5,19,54 als auch aus Diog. Laert. 5,75 hervor.
2! Zum Geburtsdatum Theophrasts s. Jacoby (1902), 352, sowie O. Regenbogen, RE-Suppl. VII, 1940, 1354-1562, hier 1357, s. v., wo auch über den Antritt seines Scholarchats gehandelt wird. 252 Vgl. Scholz (1998), 188 mit Anm. 13, und Thrams (2001), 72.
4. Der Peripatos
71
derartige Annahme sind allerdings Zweifel angebracht: Nirgends in der antiken Tradition gibt es ein Indiz, das zu dieser These berechtigen würde - und die überlieferten Schülerlisten des Aristoteles sind sehr umfangreich. Man müßte also eine voraussetzungsreiche und äußerst konsequente «damnatio memoriae des Demetrios in den aristotelischen Schülerverzeichnissen postulieren. Autoren, die Demetrios positiv gegenüberstanden, hátten es sich allerdings kaum entgehen lassen, den Mann, der angeblich Theorie und Praxis in nie dagewesener Weise in sich vereinte, dadurch zu adeln, daß sie den Phalereer als Schüler eines der in der
Perspektive der Antike beiden größten Philosophen präsentiert hátten.?? Daß Demetrios Aristoteles’ Schüler gewesen wäre, ist also als modernes Konstrukt abzulehnen. Ein Schülerverhältnis des Demetrios zu Theophrast ist zwar in den antiken Quellen bezeugt, jedoch handelt es sich dabei um eine Erfindung, die auf Demetrios selbst zurückgeht.?* Trotz der grundsätzlich nicht anzuzweifelnden Kontakte zwischen Demetrios und Theophrast spricht keine antike Quelle von einer philosophischen Beeinflussung des Phalereers durch den Nachfolger des Aristoteles.’ So gibt es keinerlei Hinweise auf konkrete Anleihen des Demetrios bei der Philosophie im allgemeinen oder den Peripatetikern im besonderen. Mit dieser Feststellung ist allerdings eine «atmosphärische Beeinflussung des Demetrios durch Theophrast nicht völlig auszuschließen. Immerhin wurden unter Aristoteles umfangreiche Sammlungen von Verfassungen griechischer Poleis und «barbarischer Staaten angelegt, und auch Theophrast verfaßte eine umfassende Sammlung von Gesetzen.” Ausweislich des bei Diogenes Laertios angeführten Schriftenverzeichnisses des Phalereers erarbeitete auch Demetrios ein Werk über Gesetze"? Es ist nicht zu entscheiden, ob der Phalereer für seine legislatorische 25 Es gehörte zu den gängigen Gepflogenheiten antiker Autoren und in besonderer Weise
Biographen, Lehrer-Schülerverhältnisse zu «rekonstruieren» - dies gilt vor allem für Rhetoren und Philosophen; vgl. Trampedach (1994), 125 f., und s. exemplarisch Engels (2003) zu antiken
Überlieferungen zu Isokrates' Schülern. >: Vgl. dazu Strab. 9,1,20; zu dieser Textstelle s. unten S. 78f.
255 Vatai (1984), 118, schreibt, daß Demetrios bei seiner gesetzgeberischen Tätigkeit von Theophrast beraten wurde («closely advised by his teacher, Theophrastus»). Belege führt er für
diese Äußerung nicht an. 55 Die von Gehrke (1978), 159f., herausgearbeiteten Parallelen von Demetrios' Gesetzgebung zu anderen Poleis kónnte man mit der Sammlung von Gesetzen des Theophrast in Verbindung setzen (Νόμων κατὰ στοιχεῖον κδ΄ u. Νόμων ἐπιτομής in zehn Büchern [Diog. Laert.
5,44]; s. die Auflistung «Tabula inscriptionum ad opera politica spectantium» in Theophrastus of Eresus II, p. 438-445 Nr. 589 FHSG) in Verbindung setzen; s. Szegedy-Maszak (1981), 86f. Damit wäre jedoch keine direkte peripatetische Beeinflussung der Gesetze des Demetrios gegeben, sondern er hátte sich allenfalls peripatetische Forschungen zunutze gemacht. ?*' Diog. Laert. 5,80. Allerdings erscheint es plausibel, daß Demetrios dieses Werk erst nach
307/6 verfaßte.
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II. Athen
Tätigkeit aus diesem Materialfundus schópfte und inwiefern diese Verfassungsund Gesetzessammlungen neben ihrer unbestreitbaren empirischen Basis ihrerseits durch philosophische Konzeptionen der «Sammler (vor-)geprägt waren. Selbst wenn sich eine Beeinflussung der demetreischen Gesetzgebung durch peripatetisches oder auch platonisches Gedankengut in der politischen Praxis nicht ausmachen läßt, so bleibt die Frage, wie die Zeitgenossen des Demetrios in ihrer Wahrnehmung mit den Jahren zwischen 317/6 und 307/6 sowie dem Phalereer und dessen gesetzgeberischer Tätigkeit umgingen: Wurde Demetrios seitens der athenischen Öffentlichkeit als Philosoph wahrgenommen und wurde in der Bevölkerung eine Verbindung zwischen seiner gesetzgeberischen Tätigkeit, dem Inhalt seiner Gesetze und seinem zweifellos vorhandenen philosophischen Hintergrund hergestellt??** Eine Analyse der überlieferten Zeugnisse ergibt ein negatives Ergebnis.?” Jenseits der Frage nach der philosophischen Beeinflussung der von Demetrios den Athenern oktroyierten Verfassung steht die Frage nach deren Charakter - war sie demokratisch, oligarchisch oder gar tyrannisch? Auch hier muß erneut die Ebene der Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt werden. Für die literarischen Quellen ergibt sich ein disparates Bild - je nach Standpunkt des Autors finden sich die Kategorisierungen «verbesserte Demokratie, Oligarchie und Tyrannis.?® Versucht man die Frage für die Polis Athen zu analysieren, so 258 Vgl. auch Gehrke (1978), 150. Nicht überzeugend ist Scholz (1998), 188 mit Anm. 13,
der Demetrios nicht der «Kategorie «Philosophen» zuordnet und sich dabei auf das Argument stützt, Demetrios werde erst in der Suda (s. v. Δημήτριος [429]) explizit als Philosoph bezeichnet. Diese Argumentation ist nicht überzeugend, da der Autor dieses byzantinischen Lexikons kaum in dieser Hinsicht originär gewesen ist und Demetrios in der Sammlung der Philosophenbiographien des Diogenes Laertios (5,75-85), der in dieser Hinsicht ebenfalls kaum innovativ gewesen sein dürfte, seinen Platz gefunden hat; dort wird er auch explizit mit den ihm zeitgenössischen Peripatetikern verglichen (5,80). Auffallend ist freilich die Stellung der Demetriosbiographie am Ende von Diogenes Laertios' fünftem Buch, das die Viten der Peripatetiker beinhaltet: Die Vita steht außerhalb der chronologischen Ordnung der Sukzession peripatetischer Scholarchen, was aber damit zu erkláren ist, daf? Demetrios dem Peripatos nie vorstand. Auch im Hellenismus wurde er von Sotion in dessen διαδοχαὶ τῶν φιλοσόφων, von Herakleides Lembos in dessen Sotion folgenden Epitomai (FHG III Heraclides Lembus F 10 = Sotion frg. 18 Wehrli = Diog. Laert. 5,79) und von Hermippos von Smyrna (FGrHist 1026 F 75 = Hermippos frg. 58 Wehrli = Diog. Laert. 5,78) als Philosoph behandelt. 259 Vgl. dazu im einzelnen unten S. 73. 260 Betrachtete Demetrios seine Reformen als verbesserte Demokratie (Strab. 9,1,20; s. S. 78 f.),
80 hielten seine Gegner das Dezennium des Demetrios für eine Tyrannis (so 2. B. Paus. 1,25,6). Daneben findet sich auch die Aussage, daß dem Wort nach zwar zwischen 317/6 und 307/6 in Athen eine Oligarchie bestand, in der at aber eine Monarchie existierte. Diese Beschreibung liegt bei Plutarch vor (Demetr. 10,2) - der intertextuelle Bezug zur Charakterisierung der «Herrschaft» des Perikles durch Thukydides am Ende seines enkomion auf Perikles (so Dion. Hal. de Thuc. 8) ist evident: Ἀθηναῖοι δ᾽ ἀπολαβόντες τὴν δημοκρατίαν ἔτει πεντεκαιδεκάτῳ,
4. Der Peripatos
73
sondern es ist auch notist nicht nur auf verbale Äußerungen zurückzugreifen,
rieren: Danach verweisen wendig, Handlungen des athenischen demos zu dechiff nach 307 als Tyranalle Indikatoren darauf, daß das Dezennium des Demetrios nis inszeniert wurde.?*!
Für eine Analyse der zeitgenóssischen athenischen Rede über Demetrios als epimeletes existieren drei Inschriften aus Attika, die in der Forschung auf Demetrios von Phaleron bezogen werden; ein aufschlußreiches Zeugnis stellt zudem eine Fluchtafel aus der Zeit um 304 dar. Das erste zu diskutierende Zeugnis ist eine aus Eleusis stammende Inschrift auf einer Statuenbasis für den strategos Demetrios, Sohn des Phanostratos, aus Phaleron: Es handelt sich dabei um eine Dedikation der in Eleusis, Panakton und
Phyle stationierten athenischen Soldaten an Demeter und Kore; zwölf Kränze kommemorieren militärische Ämter ( IG I? 2971 = I.Eleusis 195). Seit ihrer Auf-
findung im achtzehnten Jahrhundert ist diese Basis in die Zeit um 314 datiert und auf Demetrios von Phaleron, den «Statthalter des Kassander, bezogen worden. Aus der dreimaligen Ehrung des Demetrios als strategos durch boule und demos
wurde gefolgert, daß der Phalereer zu Zeiten seiner athenischen «Herrschaft das «Amb eines strategos innehatte?9 Es ist nun jedoch erwiesen, daß diese eleusinische Ehreninschrift nicht auf den Demetrios von Phaleron zu beziehen ist, τὸν διὰ μέσου χρόνον ἀπὸ τῶν Λαμιακῶν kal τῆς περὶ Κραννῶνα μάχης λόγῳ μὲν ὀλιγαρχικῆς, ἔργῳ δὲ μοναρχικῆς καταστάσεως γενομένης διὰ τὴν τοῦ Φαληρέως δύναμιν (Plut. Dem. 10,2).
Zum Vergleich Thuk. 2,65,9f.: ἐγίγνετό τε λόγῳ μὲν δημοκρατία, ἔργῳ ἀνδρὸς ἀρχή. Daf Plutarch mit Thukydides und seiner Würdigung des traut war, zeigen zwei leicht variierende Zitate in der vita Periclei und in dae reipublicae; vgl. Helmbold - O'Neill (1959), 71: Ἐπεὶ δὲ Θουκυδίδης
δὲ ὑπὸ τοῦ npórov Perikles bestens verden praecepta gerenμὲν ἀριστοκρατικήν
Ttva τὴν τοῦ Περικλέους ὑπογράφει πολιτείαν, «λόγῳ μὲν οὖσαν δημοκρατίαν, ἔργῳ δ᾽ ὑπὸ τοῦ
πρώτου ἀνδρὸς ἀρχήν,» ... (Perikl. 9,1; s. dazu Meinhardt [1957], 66£.) und διὰ τοῦτ᾽ «ἦν» ἡ κατὰ Περικλέα πολιτεία «λόγῳ μέν» ὥς φησι Θουκυδίδης «δημοκρατία ἔργῳ δ᾽ ὑπὸ τοῦ πρώτου ἀνδρὸς ἀρχὴ», διὰ τὴν τοῦ λόγου δύναμιν (mor. 802b). Zum Konzept der Intertextualität vgl. Kristeva (1967), Kapp (1984), D'Ippolito (1995) u. (2000a). Zu Plutarch und seiner Verwendung sowie seinem Umgang mit Zitaten aus Thukydides Geschichtswerk s. de Romilly (1988); vgl. D'Ippolito (2000b) zur Intertextualität bei Plutarch. Plutarchs Intention bei seiner Formulierung ist die Adelung des Demetrios durch die Anspielung auf die thukydideische Würdigung des Perikles, eines unbestreitbaren «Heldem der athenischen Geschichte. Die Infragestellung des korrekten Verstándnisses von Thukydides durch Plutarch - so durch Lehmann (1997), 71, und Dreyer (1999), 181 mit Anm. 274 - gcht m. E. deswegen fehl.
261 Darauf verweist die Wiederherstellung der patrios politeia, der «epigraphic habib in Athen nach Beendigung seiner «Herrschafb und der Inhalt von Inschriften (S. 171.) sowie die hohe Anzahl (vorgeblicher) Ehrenstatuen, die zu seinen Lebzeiten zerstórt worden sein sollen - die literarische Überlieferung ist in dieser Hinsicht allerdings topisch; vgl. Plut. mor. 820e, Diog. Laert. 5,77 u. Favorin. 95,41 Barigazzi.
?$? Vg]. u.a. Gehrke (1978), 175; s. oben S. 65.
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II, Athen
der zwischen 317/6 und 307/6 in Athen für Kassander obwaltete, sondern vielmehr auf seinen homonymen Enkel, dessen Vater -- der Sohn des Demetrios Maior - gleichfalls Phanostratos hieß. Entscheidend hierfür ist, daß die Inschrift aus Eleusis dem «cutter of IG IP 788» zuzuweisen ist, dessen Tätigkeit sich zwischen ungefähr 260 und 235 erstreckte?9 Ein genaues Datum für die eleusinische Ehrung des Demetrios Minor läßt sich nicht eruieren, doch erscheint eine zeitliche Verortung in der Mitte des dritten Jahrhunderts plausibel.?*! Diese lange Zeit als zentrale Quelle zu Leben und Wirken des Demetrios von Phaleron Maior
erachtete Inschrift ist also auf dessen gleichnamigen Enkel zu beziehen, der von Antigonos II. Gonatas nach dem Ende des Chremonideischen Krieges in Athen als einer der zu den neun Archonten zählenden sechs thesmothetai installiert wurde.2% Mithin ist IG IP 2971 im Rahmen der vorliegenden Untersuchung keine weitergehende Bedeutung zuzumessen.?® Bei dem zweiten epigraphischen Zeugnis handelt es sich um ein Ehrendekret des demos Aixone ( IG IP 1201, Z. 2-13):267
?6 S. "Tracy (1988b), 311-321. In dieser Publikation hatte Tracy den Beginn des Wirkens des «cutter of IG IP 788» auf die Mitte der fünfziger Jahre gesetzt. Auf Grund der Neupublikation einer Inschrift aus der Hand dieses Steinmetz (ders. [1990a]), die er wegen inhaltlich-historischer Erwägungen in die Zeit zwischen 264 und 260 datierte, setzte 'Iracy ([1994], 154-157, u. [1995], 171-174) den Beginn der Schaffensperiode des «cutter of IG II? 788» in die sechziger Jahre. Für eine weitere, noch unpublizierte Inschrift, die auch dem «cutter of IG 112 788» zuzuweisen ist, veranschlagte er ebenfalls die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Chremonideischen Krieges: Tracy (1994), 155f., u. (1995), 44 u. 171 mit Anm. 3. Oetjen (2000), 111-114,
hat dargelegt, daß die Tätigkeit des «cutter of IG II? 788» erst 256/5 begonnen hat - keine der ihm zuweisbaren Inschriften ist früher datierbar; Tracy (2003b), 128-149, setzt die Schaffensperiode nun zwischen ca. 260 und ca. 235, während Clinton in I. Eleusis, p. 222 «ca. a. 240 a.?»
als Datierung angibt. - Aus der Angabe des Bildhauers lassen sich keine Erkenntnisse zur Datierung gewinnen, da der Athener Sositheos, der unter der Z. 12 seine Signatur setzte, ander-
weitig unbekannt ist. 24 Vg]. Tracy (1994), 156, u. (1995), 44 u. 173, sowie Oetjen (2000), 114.
265 Zur Karriere des Demetrios Minor s. Oetjen (2000), 114£.; Oetjens Überlegungen zugestimmt haben Habicht (2003), 53 f., und Tracy (2003b), 19.
166 Daß IG II? 2971 = LEleusis 195 nicht auf den älteren Demetrios von Phaleron zu beziehen ist, haben in Anschluß an Tracy (1994), 154-157, u. (1995), 43f., auch Habicht (19972), 154 f.; Dreyer (1998), 293 mit Anm. 47, und Oetjen (2000), 112, akzeptiert. - Die späte Datie-
rung der Inschrift ist auch aus einem zweiten Grund zwingend, da für Eleusis erstmalig 267/6 eine separate militárische Einheit bezeugt ist, wie dies in vorliegendem Zeugnis der Fall ist. In Verbindung damit steht die Annahme, daß der von den Garnisonen in Eleusis, Phyle und Panakton geehrte strategos der Befehlshaber des eleusinischen Distrikts sein müsse; diese Strategie ἐπὶ τὴν χώραν τὴν ἐπ᾽ Ἐλευσῖνος wurde ausweislich der epigraphischen Evidenz erst zwischen 290 und 265 eingerichtet — zuvor gab es allein den strategos ἐπὶ τὴν χώραν. 267 Zu Aristokrates, dem Antragssteller, s. LGPN II, s. v. (28) und PA 1909.
4. Der Peripatos
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ἐπειδ[ἡ Δημήτρ]ιος Φανοστράτου Φαληρεὺς ἀνήρ 4 [ἐστιν ἀγ]αθὸς περὶ τὸν δῆμον τὸν Ἀθηναίω[v καὶ τὸν δ]ῆμον τὸν Αἰξωνέων καὶ πολέμ[ου] [yevopévo]v ἐν τῆι χώραι καὶ χωρισθέντίων τ][ἰοῦ Πειραιῶς] καὶ τοῦ ἄστεως διὰ τὸν [πόλεμ]-
8 [ον πρεσβεύσϊ]ας διέλυσε Ἀθηναίους καὶ πὰ]ίλιν ἐπανήγα)γεν εἰς τὸ αὐτὸ καὶ εἰ[ρήνην K][ατηργάσατο Ἀ]θηναίοις καὶ vet xw[paı καὶ] [ἐπιμελητὴς αἰἱ]ρεθεὶς ὑπὸ τοῦ δήμοί[υ τοῦ AB]12 [ηναίων νόμους] ἔθ[η]κεν καλ[οὺς καὶ συμφέρ][ovrag tei nóAe]vr ὕστερον [δὲξ -- -- - - ]
Weil Demetrios, Sohn des Phanostratos, aus Phaleron ein guter Mann ist, der sich verdient gemacht hat um das Volk der Athener und den Demos Aixone, und weil er, als Krieg herrschte in der Chora und der Peiraieus und Asty wegen des Krieges getrennt waren, als Unterhándler die Athener aussóhnte und sie wieder in einer Einheit zusammenführte und Frieden erwirkte für die Athener und die Chora und er, nachdem er vom Volk der Athener zum Epimeletes gewählt worden war, der Stadt schöne und nützliche Gesetze gab; später [aber? ...]. Demetrios wird in diesem Dekret aus zwei Gründen geehrt: Einerseits handelte er einen Frieden zwischen den Kriegsparteien in Athen und Peiraieus aus (Z. 410). Das Ereignis, auf das hier Bezug genommen wird, datiert in den Sommer des Jahres 317, als es im Laufe des Zweiten Diadochenkrieges zu einer Wiedervereinigung von Athen und dem seit dem Tode Antipaters im Jahre 319 abgespaltenen Peiraieus sowie zum Übertritt der wiedervereinigten Polis auf die Seite Kassanders kam. In diese Vorgánge war Demetrios von Phaleron in herausgehobener Rolle als Vermittler involviert und brachte den Athenern und der chora den Frieden.^* Von einem zweiten Grund für die Ehrung ist wegen des Erhaltungszustandes der Inschrift nur der erste Teil lesbar: Zum epimeletes vom demos der Athener gewählt, gab er der Polis schöne und nützliche Gesetze (Z. 11--13).29
?** Vgl. hierzu Habicht (19972), 51-53; s. oben S. 64f. '? Die überzeugende Ergänzung in Z. 11f. basiert auf einer Formulierung im Marmor Parium. Dort heißt es unter dem Jahr 317/6, daß er den Athenern Gesetze gegeben habe (IG XII 5, 444, Z. 25-27 = FGrHist 239 B 13: Δημήτριος νόμους ἔθηκεν Ἀθήνησιν); s. außerdem einen Passus aus dem in den pseudo-plutarchischen vitae decem oratorum überlieferten psephisma
für Lykurg (mor. 852a); vgl. dazu Wilhelm (1903), 784. Zur Ergänzung von ἐπιμελητής in Z. 11 s. oben S. 65.
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II. Athen
Als drittes Zeugnis ist die Basis für eine Reiterstatue zu behandeln, die auf der Akropolis des attischen demos Sphettos gefunden wurde:?”° Σφήττιοι Δημ[ήτριον] Φανοστράτου à[véOrkav]. Ἀντίγνωτος ἐποίε[σε].
Die Sphettier weihten Demetrios, Sohn des Phanostratos. Antignotos hat es gefertigt.
Eine Datierung dieser Weihung erweist sich als schwierig. Von Kalogéropoulou wurde die Inschrift auf Grund paläographischer Beobachtungen auf den älteren Demetrios von Phaleron bezogen.?! Einer Datierung an Hand der Schrift ist gegenwärtig allerdings kein allzu großer Wert beizumessen.?””? Durch die Erkenntnis, daß auch Demetrios von Phaleron Minor mit umfänglichen Ehrungen ausgezeichnet wurde, ist Skepsis gegenüber einer unzweifelhaften Zuweisung des Reiterstandbildes an Demetrios Maior angebracht.?”’ Das einzige weitere, von der Editorin hierfür vorgebrachte Argument ist die in verschiedenen literarischen Quellen überlieferte große Anzahl von Statuen, die für Demetrios Maior in Athen und Attika errichtet wurden: Die archäologische Evidenz würde mithin die literarische Überlieferung bestátigen."* Eine Entscheidung über die Zuweisung der Inschrift an Demetrios Maior oder Minor läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht treffen.?* Sicher ist allein, daß es sich um eine exzeptionelle © Vgl, Kalogéropoulou (1969), 60; zum Fund- und Aufstellungsort der Basis s. ebd., 56 u. 68; vgl. ferner Ervin (1970), 264. - Es handelt sich bei dieser Dedikation um das einzige
bekannte Dokument des demos Sphettos; vgl. Whitehead (1986), 390. ?! Kalogéropoulou (1969), 56: «une inscription en lettres de bonne gravure de la fin du IV
siecle av. J.-C.» Da für die Editorin von Anbeginn feststand, daß mit Demetrios von Phaleron der Statthalter Kassanders gemeint war, ist die Gefahr des Zirkelschlusses bei ihrer Datierung der Schrift erheblich. ?? Tracy (1995), 39 mit Anm. 19, konstatiert, daß das publizierte Photo keine Anhaltspunkte für eine Datierung an Hand der Schrift gibt.
275 Dies gilt um so mehr, als Kalogéropoulou (1969), 60, seinerzeit explizit die neue Inschrift mit IG II? 2971 = I. Eleusis 195 in Beziehung gesetzt hat. ? Die literarisch bezeugten Statuenweihungen für Demetrios sind zusammengestellt unter Demetr. Phal. frg. 24A-25C SOD. Der Verweis auf Diog. Laert. 5,75, der erwähnt, daß viele der angeblichen 360 Bronzestatuen Demetrios zu Pferde dargestellt hátten, ist keine hinreichende Bedingung, um seinen Enkel auszuschließen; dies impliziert jedoch Kalogéropoulou (1969), 66. - Zum Verhältnis von archäologischer Evidenz zu literarischer Überlieferung s. ebd., 66 u. V. a. 68: «Le monument dressé en son honneur sur l'acropole de Sphettos doit appartenir à la série des statues équestres érigées à l'époque ou Démétrius gouvernait l'Attique.» Zu berück-
sichtigen ist allerdings, daß einerseits die Zahlen athenischer Statuen für Demetrios in der antiken Literatur übertrieben worden sind, und daß andererseits nach der literarischen Überlieferung davon auszugehen ist, daß nach der Vertreibung des Demetrios die Statuen zerstört wurden; zu beiden Aspekten s. S. 73 mit Anm. 261). 2755 So auch Habicht (19972), 54f. mit Anm. 48. - Die Nennung des Bildhauers führt zu kei-
nen Erkenntnissen, da Antignotos bis dato anderweitig vóllig unbekannt ist; s. loc. cit. Die
4. Der Peripatos
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Ehrung gehandelt hat - für eine Reiterstatue bedurfte es in Athen außergewöhn-
licher Verdienste." Zum Schluf der Betrachtungen der epigraphischen Evidenz zu Demetrios von Phaleron ist eine Fluchtafel in den Blick zu nehmen, die in einem Brunnen am Dipylontor im Kerameikos gefunden wurde und die deutlich Demetrios' Involvierung in das politische Geschehen und in die kriegerischen Auseinandersetzungen um die Polis Athen nach 307 vor Augen führt." Neben dem Namen Demetrios werden genannt: Kassander, dessen Bruder Pleistarchos und Eupolemos, ein makedonischer General des Kassander.?* Ordnet man dieses Zeugnis in seinen historischen Kontext ein, so läßt sich folgendes Bild rekonstruieren:?? Im Jahre 304 unternahm Kassander wáhrend des Vierjáhrigen Krieges??? den Versuch, Athen zurückzuerobern, mithin das Ergebnis der Vertreibung des Demetrios von Phaleron im Jahre 307 durch Demetrios Poliorketes zu revidieren. Kassander zur Seite standen Pleistarchos und Eupolemos?*! sowie Demetrios von
Phaleron selbst. Die Fluchtafel richtet sich gegen diese vier Feinde des «freiem
von Kalogéropoulou (1969), 69f., vorgenommene Identifikation mit dem in Plin. nat. 34,86
genannten Künstler Antignotos ist auf Grund des Fehlens jeglicher Indizien jenseits der blofien Homonymitát nicht tragbar. R. Neudecker, DNP I, 1996, 749, s. v., setzt Antignotos «auf Grund
einer datierten Basis» (gemeint ist diejenige aus Sphettos) in das 4. Jh.; D. Rössler, KIA I, 2001, 52, s. v. (D), beschränkt sich auf eine Wiedergabe des archäologischen Forschungsstands. 7$ Vgl, Siedentopf (1968), 83-88.
?7 Zu Fluchtafeln allgemein s. K. Preisendanz, RAC 8, 1972, 1-29, s. νι; zu athenischen defixiones aus der Zeit Alexanders vgl. Habicht (1993a) sowie Mikalson (1998), 35 f.; hinsicht-
lich einer Einordnung der Fluchtafeln in einen mentalitátsgeschichtlichen Kontext s. Gehrke (1987), 124. Graf (1996), 108-157, hat sich umfassend mit defixiones und ihren verschiedenen
Ausprägungen befaßt; s. auch Ogden (1999) und Brodersen (2001). ?* Die im Brunnen B, gefundenen Bleitafeln wurden von Braun [1970], 197 f. vorgelegt. Die grundlegende Edition sowie Ausdeutung des Textes besorgte Jordan (1980), 229f.; s. ders. (1985), 157 f. Nr. 14, und ferner Gager (1992), 147 f. Nr. 57. Allerdings datierte Jordan (1980),
235f., das Täfelchen fälschlicherweise in die Zeit zwischen 313 und 307. Der Text lautet: Πλείσταρχον | Εὐπόλεμον | Kácca[v]ópov | Δημήτίριον]) | f[aA]n[péa] | inversum: TIAEI[Z]TEA , . [.'?.]KNH.[.'?.] Πειρ«αριέα.
?? Grundlegend zu den Ereignissen 304 ist Hauben (1974), 10; vgl. mit Bezug auf die Bleitafel Habicht (1985), 78-80. Zur Interpretation dieser defixio s. auch Mikalson (1998), 53f., und Brodersen (2001), 61.
280 Zu diesem Krieg und seiner Konzeptionalisierung durch die Athener vgl. Habicht (19972), 74-76.
?!! Daß Pleistarchos in die kriegerischen Auseinandersetzungen involviert war, geht aus einem Dekret aus dem Jahr 304/3 hervor (Matthaiou [1986], 19f.); ob er unmittelbar in Attika
anwesend gewesen ist, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen, erscheint auf Grund des Textes jedoch als äußerst wahrscheinlich. Zu Pleistarchos vgl. Pearce Gregory (1995), 14£.; zum Datum des athenischen Sieges über Pleistarchos s. Burstein (1977). - Zu Eupolemos s. Billows (1989), 177-179, und Descat (1998).
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II. Athen
Athen, die als Bedrohung des athenischen demos und der eleutheria aller Hellenen figurierten.?? Wie auch andere zeitgenössische Zeugnisse spricht die defixio über Demetrios von Phaleron eine deutliche Sprache. Denn zumindest seitens seiner politischen Gegner in Athen wurde er als Tyrann konzeptionalisiert. Und hatte nicht auch einst der ehemalige Tyrann Hippias versucht, mit Hilfe auswärtiger Máchte wie der Spartaner oder gar der Perser die Kontrolle über Athen wiederzuerlangen??* Als Ergebnis der Analyse der epigraphischen Zeugnisse zu Demetrios von Phaleron ist festzuhalten, daß in keiner der Inschriften auch nur der geringste Hinweis auf eine Verbindung des Phalereers mit philosophischen Vorstellungen nachzuweisen ist. In dem in den epigraphischen Zeugnissen greifbaren öffentlichen Diskurs wurde Demetrios zwischen 317/6 und 307/6 allein gemäß seiner politischen Aktivitäten wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß sich im politischen Wirken des Demetrios nirgends die Intention einer praktischen Umsetzung philosophischer Konzepte in politicis nachweisen läßt, kann dieser Befund auch nicht verwundern: Wenn der Phalereer nicht als Philosoph agierte, konnte auch nicht ohne spezifischen Grund über ihn als solcher geredet werden - und er selbst hatte während seiner zehnjährigen Regentschaft noch nicht das Interesse, als «Philosophenherrscher wahrgenommen zu werden. Vor diesem Hintergrund ist der Frage nach den Ursprüngen der Vorstellung vom philosophisch beeinflußten Staatslenker Demetrios nachzugehen. Einen wichtigen Ausgangspunkt bietet hierbei eine Passage, in der Strabon einen kursorischen Überblick über die (Verfassungs-)Geschichte Athens liefert: Manche behaupten sogar, sie hätten damals ihre beste Regierung gehabt, während der zehnjáhrigen Periode, in der Kassandros über die Makedonen herrschte. Dieser Mann nämlich hat zwar den Namen, sonst recht tyrannisch verfahren zu sein, gegen die Athener aber bezeigte er sich, als die Stadt in seine Macht gekommen war, rücksichtsvoll, denn er stellte von den Bürgern Demetrios von Phaleron, einen Schüler des Philosophen Theophrast, über sie, der nicht nur der Demokratie kein Ende machte, sondern sie sogar verbesserte (das zeigt die Schrift, die er über diese politi-
sche Tätigkeit abgefaßt hat).?**
(Übers.: S. Radt)
282 So die deutliche Sprache des erwähnten athenischen Dekrets aus dem Jahr 304/3, in dem
Medon, Sohn eines athenischen proxenos und militárischer Befehlshaber, wegen der Rettung des demos und der Freiheit aller Hellenen geehrt wird: Matthaiou (1986), 19f., Z. 16f. 28) Vgl. dazu Hdt. 5,91-93; 5,96; 6,102- 104; s. Habicht (1985), 80.
29 Strab. 9,1,20: ἕνιοι δέ φασι καὶ βέλτιστα τότε αὐτοὺς πολιτεύσασθαι δεκαετῆ χρόνον, ὃν ἦρχε Μακεδόνων Κάσσανδρος. οὗτος γὰρ ὁ ἀνὴρ πρὸς μὲν τὰ ἄλλα δοκεῖ τυραννικώτερος γενέσθαι, πρὸς Ἀθηναίους δ᾽ εὐγνωμόνησε, λαβὼν ὑπήκοον τὴν πόλιν' ἐπέστησε γὰρ τῶν πολι-
4. Der Peripatos
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Die Bedeutung dieser Passage liegt weniger in der vor dem historischen Hintergrund durchaus überraschenden Aussage Strabons, daß Demetrios die Demokratie in Athen verbessert - und nicht zerstört - habe, sondern in Strabons Rekurs auf von Demetrios selbst verfaßte hypomnemata über seine politische Tätigkeit als autoritatives Zeugnis für diese Auffassung: Für das bei Strabon prásentierte Bild des Phalereers stellt dessen Selbstzeugnis also die entscheidende Grundlage dar. Damit ist ein wichtiger Hinweis für den Ursprung der positiven Tradition über Demetrios ausgemacht -- und dieser liegt nirgends sonst als in dessen eigenen apologetischen und autobiographischen Schriften.?** Es sind drei Titel aus dem von Diogenes Laertios überlieferten Werkverzeichnis des Demetrios, die eine Befassung mit seiner zehnjáhrigen «Herrschaft bezeugen und die Strabon bei seiner Äußerung im Sinn gehabt haben mag: Ὑπὲρ τῆς πολιτείας, Περὶ τῆς 6ekaeríag und Ἀθηναίων καταδρομή.᾽56 Die Intention, die Demetrios mit diesen Schriften verfolgte, ist eindeutig: Er wollte sich und seine Zeit als epimeletes in Athen in einem positiven Licht erscheinen lassen, sich gegen die - auch publizistischen - Angriffe seiner Gegner zur Wehr setzen.?® Wichtigste Bestandteile dieser Invektiven gegen Demetrios sind die Charakterisierung der Jahre zwischen 317/6 und 307/6 als Tyrannis und makedonenhórige Unfreiheit Athens. Neben der Verteidigung gegen gegnerische Anfeindungen verfolgte
τῶν Δημήτριον τὸν Φαληρέα τῶν Θεοφράστου τοῦ φιλοσόφου γνωρίμων, ὃς οὐ μόνον οὐ
κατέλυσε τὴν δημοκρατίαν ἀλλὰ καὶ ἐπηνώρθωσε (δηλοῖ δὲ τὰ ὑπομνήματα ἃ συνέγραψε περὶ τῆς πολιτείας ταύτης ἐκεῖνος).
?5 Vgl. Gehrke (1978), 188. - Der Begriff hypomnemata hat viele Bedeutungen; in vorliegendem Kontext geht es um Werke, die autobiographische Züge tragen. Entscheidendes Cha-
rakteristikum von hypomnemata-Schriften dieser Art ist ihr apologetischer Charakter; dies gilt in besonderer Weise, wenn es sich bei den Autoren um Männer handelt, die im Verlauf ihres Lebens in politische Geschehnisse involviert waren. Zu den verschiedenen Bedeutungen von hypomnemata s. Bómer (1953), 215-226. Meister (1990), 84f., hat den apologetischen Charakter demetreischer Schriften über dessen Zeit als epimeletes in Athen herausgestellt und deren zentrale Bedeutung für die spátere, dern Phalereer positiv gegenüberstehende Tradition betont; vgl. auch Engels (1993b), 25, und FGrHist II C, p. 645. Daß autobiographische Werke auf die spätere biographische Tradition maßgeblichen Einfluß haben konnten, da ihnen auf Grund der Verfasserschaft in besonderer Weise ein autoritativer Charakter zugebilligt wurde, läßt sich nicht nur für Demetrios nachweisen; vgl. Schindel (1967), 35-37 u. 39f., sowie Loening (1981) zu Lysias.
286 Diog. Laert. 5, B0f. Neben den genannten Schriften sind hier besonders περὶ τῆς Αθήνησι νομοθεσίας und περὶ τῶν Ἀθήνησι πολιτειῶν zu berücksichtigen. Zu diesen Werken s. Banfi
(2001), 334-339. ?*' So zitiert Polybios im Kontext seiner Auseinandersetzung mit Timaios Passagen aus dem
historischen Werk des Demochares, die dessen schwerwiegende Anklagen gegen den Phalereer beinhalten - Polybios spricht hier von einer kategoria des Demochares (Pol. 12,13,8-11 = FGrHist 75 F 4 - Democh. frg. 7 Marasco).
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II. Athen
Demetrios gleichzeitig aber auch eine offensive Strategie: die Selbstdarstellung seiner «Regentschaft als gescheiterte «Philosophenherrschaft2** Das Argumentationsmuster, nach dem sich der Phalereer darzustellen suchte, ist das des im politischen Feld agierenden, letztlich aber an äußeren Widrigkeiten gescheiterten Philosophen. Diese Form der Selbstinszenierung in autobiographischen Schriften mit apologetischer Tendenz ist freilich keine Erfindung des Demetrios von Phaleron; vielmehr konnte er dabei auf ein äußerst prominentes Paradigma rekurrieren: den - angeblich - aus Platons Feder stammenden Siebten Brief.” Neben der Angleichung an die im Siebten Brief inszenierte Figur Platon bildet Demetrios’ Beschäftigung mit den Sieben Weisen einen weiteren Mosaikstein, der dem Phalereer dazu diente, das Muster des politisch tätigen weisen Mannes zu stützen: Wer zu den Sieben Weisen gerechnet werden konnte, war keine Frage, die zu Zeiten des Demetrios bereits kanonisch ausgehandelt gewesen wäre. Die Etablierung des später nahezu klassisch gewordenen Kreises der Sieben Weisen geht vielmehr entscheidend auf den Phalereer und dessen Zusammenstellung ihrer Aussprüche zurück?” - und es kann schwerlich Zufall sein, daß der von ihm zusammengestellte Zirkel gerade aus Männern besteht, die sich entweder durch intellektuelle Fähigkeiten ausgezeichnet, oder aber sich vielfach in besonderer Weise politisch hervorgetan hatten: Kleobulos von Lindos, der Lakedaimonier Chilon, Thales von Milet, Pittakos von Mytilene, Bias von Priene, Periandros von Korinth und Solon von Athen, dessen positivem Bild sich Demetrios anzugleichen versuchte.?!
268 So auch Gehrke (1978), 188.
1.9 Plat. epist. 7; grundlegend zu diesem Brief ist Trampedach (1994), 255-275; s. auch Erler (2005). Es ist im vorliegenden Kontext nicht erheblich, ob diese Epistel aus Platons eigener Feder stammt oder aber ein Anonymus den Namen Platons verwendete - entscheidend ist,
daß der Brief im ausgehenden 4. Jh. bekannt war und seine Authentizität als plausibel erachtet wurde. Auch durch das Verfassen einer weiteren Schrift stellte sich Demetrios in eine zwar nicht exklusiv platonische Tradition, jedoch in eine Linie mit all denjenigen, die auch noch nach dem Tode des Sokrates meinten, dessen Unschuld begründen zu müssen: Er verfafite für den «Erzmártyrep der Philosophie cine Apologie (Diog. Laert. 5,81); zu diesem Werk vgl. Banfi (2001), 341-345. ?9 Stob. 3,1,172 Hense; s. Tziatzi-Papagianni (1994), 2-5. Es ist plausibel, daß Demetrios'
Beschäftigung mit dieser Personengruppe in die Zeit nach seiner «Herrschaft fiel. ?" Vgl. O. Barkowski, RE A Il, 2, 1923, 2242-2264, hier 2243f., s. v. Welche Relevanz derartige Konstruktionen in der spáteren Literatur entwickeln konnten, zeigt die Beschreibung des Demetrios bei Georgios Synkellos, dem man dabei keine zu große Originalität wird zubilligen können, sondern der vielmehr eine motivliche Ausgestaltung des zitierten Strabonpassus (9,1,20) vorlegt, ohne daß sich der auctor bestimmen ließe: Demetrios von Phaleron, so Georgios Synkellos (ecl. chron. 329,4 Mosshammer), sei der dritte athenische nomothetes gewesen als seine beiden Vorgánger sind wohl Solon und Drakon anzunehmen - und nach der Wieder-
4. Der Peripatos
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Neben dem Rekurs auf den platonischen Siebten Brief und die Sieben Weisen kommt - überraschend - einer Figur der athenischen Politik der zweiten
Hälfte des vierten Jahrhunderts für Demetrios Selbstimaginierung eine wichtige
Rolle zu: námlich Lykurg, der nach 307/6 in Athen in hohem Ansehen stand und der eigentlich von Demetrios Gegnern «besetzt war. So wurden auf Ansinnen von Lykurgs Sohn Lykophron unmittelbar nach der Vertreibung des Phalereers auf Antrag des Stratokles umfangreiche postume Ehrungen für Lykurg ob seiner gewaltigen Verdienste um die patris und wegen seines unermüdlichen Eintretens für die eleutheria Athens beschlossen.?? Über Lykurg, einen Schüler Platons, verfaßte Demetrios eine Abhandlung, deren Tenor allem Anschein nach ein positiver gewesen ist.2%
Zusammengefaßt ergeben die einzelnen Untersuchungsstränge zu Demetrios folgendes Bild: Bei keiner der auf den älteren Phalereer zu beziehenden Inschrif-
ten lassen sich Verbindungen zur Philosophie nachweisen, die Rückschlüsse auf ein öffentliches Reden über Demetrios als Philosoph erlauben würden. Ebenso ist als erwiesen anzusehen, daß die legislatorische Tätigkeit des epimeletes nicht von philosophischen Theoremen geleitet wurde, sondern vielmehr vor dem kontemporären Horizont an Hand von Parallelen aus anderen Poleis erklärbar ist. Daß dennoch das Bild des gescheiterten «Philosophenherrschers in der antiken Literatur existiert, ist als Konsequenz der apologetischen Selbstinszenierung des Demetrios in der Tradition des platonischen Siebten Briefes nach seiner zehnjährigen &tatthalterschafb anzusehen: Demetrios fundierte seine gesetzgeberischen Tätigkeiten retrospektiv mit vor allem im Peripatos geäußerten philosophischen Elementen politischer Theorie. Hilfreich bei der Etablierung dieses Bildes waren seine Verbindungen, die er zum Peripatos, vor allem zu Theophrast, besaß. In der Rede des Demochares im Kontext der graphe gegen das «Gesetz des Sophokles wird zwar eine Verbindung zwischen verschiedenen Philosophen und Demetrios imaginiert und für die Philosophen negativ ausgelegt; Demetrios selbst wird herstellung der Demokratie in Athen nach Ägypten gegangen (ebd. 331,6f.). Die Parallelisierung mit Elementen der Solonbiographie ist evident. Zur Motivation Solons, Athen nach seiner nomothetischen Tätigkeit zu verlassen, s. Hdt. 1,29,2, Prokop. cpist. 66 (= Epist. graec., p. 556 Hercher) u. Plut. Sol. 26; zur antiken Solontradition s. Oliva (1988), 79-85. Zu Demetrios und Solon s. Banfi (2001), 339.
?1 Zu den megistai timai für Lykurg im Jahre 307/6 s. S. 18 mit Anm. 17; zu Stratokles vgl. Habicht (1997a), 71 f.
?? Plut, Lyk. 23,1 ἔ; vgl. die Zusammenstellung zentraler Quellen von K. Kunst, RE XIII, 2, 1927, 2446-2465, hier 2460, s. v. (10). Auch hier ist die Annahme begründet, daß Demetrios
Sich erst nach seiner «Regentschaft mit dem «Regenten» Lykurg literarisch auseinandersetzte respektive sich an diesen nach 307/6 positiv konnotierten athenischen Staatsmann anzuhängen versuchte. Zu Lykurg als Platonschüler s. Trampedach (1994), 130f.
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II. Athen
jedoch in den erhaltenen Fragmenten nicht explizit als der Gruppe der Philosophen zugehörig dargestellt? Inszenierte sich Demetrios also ex post literarisch als Mann des Geistes und der Tat zugleich, der von philosophischer Einsicht geleitet war, so hatte er während der Zeit zwischen 317/6 und 307/6 auf ganz andere Weise versucht, in Athen seine Position zu sichern. Seine Macht hing existentiell an der makedonischen Garnison in der Festung Mounychia und somit an Kassander. Seine Gegner warfen Demetrios von Phaleron nach 307/6 vor, auf eine ganz spezifische Weise versucht zu haben, sich Akzeptanz zu verschaffen: Auf unphilosophische Art - so der Vorwurf, der Demetrios mit einem tyrannischen Zug imaginiert — habe er mit der Devise «Brot und Spiele die athenische Bevólkerung für sich zu vereinnahmen gesucht.?* Daß diese Methode der Sicherung politischer Systeme verschiedener Ausprágung in Griechenland bekannt und profitabel war, vermeinte schon der «Alte Oligarch» in den zahllosen Festen der attischen Demokratie zu erkennen.?® c) Lykon aus Alexandreia Troas: Ein Philosoph als Teilnehmer an einer epidosis Der Scholarch Lykon, Sohn des Astyanax, stammte aus Alexandreia Troas und stand dem Peripatos als Nachfolger seines Lehrers Straton von Lampsakos in den Jahren von 270/69 oder 269/8 bis 226/5 bzw. 225/4 vor.?? Weder in den antiken
Quellen noch in der modernen Forschungsliteratur erfährt Lykon eine sonder-
? Zur Rede des Demochares s. oben S. 32-40. ?5 Democh. frg. 7 Marasco = FGrHist 75 F 4 = Pol. 12,13,7-12; Plut. mor. 818c-d; s. Gehrke (1978), 185 f. 36 Ps.-Xen. Ath. Pol. 3,2; s. dazu Lapini (1997), 249-254, und Ober (1998), 20-22. In einer
byzantinischen Epitome einer Biographie Philipps II. heißt es über dic Athener, daß sie alle ihre freie Zeit mit Festen verbringen würden: cod. Vat. graec. 96 fol. 98"; s. Cook (2005), 194, Z. 21. Die Klage über eine zu hohe Anzahl an Festen in einer Polis stellt für gewóhnlich ein zentrales Element oligarchischer Kritik an der Demokratie dar.
#7 Die Angaben zu Herkunft und Patronymikon Lykons sowie zur Dauer seines Scholarchats (44 Jahre) und seines Lebens (74 Jahre) finden sich bei Diog. Laert. 5,65 u. 68. Aus dem Testa-
ment Stratons, das in die 127. Olympiade, also die Jahre 272/1-268/7 datiert, ist ersichtlich, daß dieser Lykon zu seinem Nachfolger bestimmte, weil alle anderen möglichen Kandidaten entweder zu alt oder anderweitig beschäftigt gewesen seien (Diog. Laert. 5,62). Als Geburtsjahr Lykons ist entweder 300/299 oder 299/98 anzunehmen, da sein Tod in die Jahre 226/5 oder 225/4 fiel; bei Antritt seines Scholarchats war er mithin 30 Jahre alt. Vgl. zur Datierung Dorandi (1991d), 68 f.; Sollenberger (1992), 3843 f., sowie ausführlich Straton von Lampsakos,
p. 47 Wehrli. - Vgl. zu Lykon Capelle (1927), Wehrli (1983), 576-578; Mejer (2004), und J.-P. Schneider, DPhA IV, 2005, 197-200, s. v. (L 83). Eine Zusammenstellung der Testimonien und Fragmente findet sich bei Lykon frg. 1-16 Wehrli zur vita und Lykon frg. 17-30 Wehrli zu den Schriften des Peripatetikers; s. nun Lykon frg. 1-*23 SFOD.
4. Der Peripatos
83
lich positive Bewertung. Die entscheidende Rolle für diese negative Sichtweise kommt Antigonos von Karystos zu, einem Zeitgenossen Lykons, auf dessen Ausführungen zwei der prominentesten Quellen zu dem peripatetischen Philosophen weitestgehend basieren:?? Sowohl Diogenes Laertios als auch Athenaios bei seinen Ausführungen über die «Freunde der hedone, die zugleich auch Philosophen waren, stellen den Scholarchen als ausgesprochenen Lebemann dar, dessen philosophische Interessen wenig ausgeprägt und dessen intellektuelle Fähigkeiten gering gewesen seien.?” Nur sehr schemenhaft lassen sich hingegen Substrate einer positiven Überlieferung zu Lykon ausmachen, die vermutlich auf seinen Nachfolger im Scholarchat, Ariston von Keos, zurückgeht.*? Vorgehalten wird Lykon von Diogenes, daß er gymnastische Übungen betrieben und sein Körper die Merkmale eines Athleten aufgewiesen haben soll, daß er sowohl dem Ringen nachgegangen sei als auch in seiner patris bei den Ilieia am Ballspiel teilgenommen habe.*! Neben diesen auf Antigonos von Karystos
fußenden Vorwürfen zieht Diogenes auch Hermippos als Quelle dafür heran, daß Lykon stets die reinlichsten Stoffe von unüberbietbarer Weichheit getragen habe.” Athenaios, der wiederum auf Antigonos basiert, führt weitere Beispiele für einen luxuriósen und der hedone frónenden Lebenswandel des Lykon an: Dieser sei in jungen Jahren bestens über die Preise von Banketten und Hetáren in Athen informiert gewesen - obwohl er um der paideia willen dorthin gekommen sei; und auch noch nach der Übernahme des Scholarchats hätte er äußerst kost-
spielige Gelage organisiert, was ebenfalls den literarisch etablierten Vorstellungen vom bios eines Philosophen zuwiderlief?? Vermeintliche Bestätigung findet 298 Zu Antigonos’ negativer Einstellung gegenüber Lykon s. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 81-83; Wehrli (1983), 576, und Mejer (2004), 279; trotz dieser Erkenntnis halten die beiden
ersten Autoren Antigonos' Darstellung und Charakterisierung des Peripatetikers für glaubwürdig. ?? Es handelt sich dabei um Antigon. Kar. frg. 23 Dorandi = Lykon frg. 8 SFOD = Athen. 12,547d-548b u. frg. 24 Dorandi = Lykon frg. 1 SFOD = Diog. Laert. 5,67.
?*» Vgl. dazu unten S. 85. ἯΙ Antigon. Kar. frg. 24 Dorandi = Diog. Laert. 5,67. *! FGrHist 1026 F 74 = Hermippos frg. 57 Wehrli = Diog. Laert. 5,67. Wahrscheinlich hängt Hermippos mit seiner Äußerung von Antigonos ab; vgl. dazu Bollansée in FGrHist IV A 3, p. 523.
9 Eine detaillierte Beschreibung dieser luxuriösen symposia liegt in der auf Antigonos basierenden Darstellung des Athenaios vor (Antigon. Kar. frg. 24 Dorandi = Athen. 12,547d548b); vgl. dazu Scholz (1998), 22 mit Anm. 38. Olson - Sens (2000), xliii, haben vor dem
Hintergrund der Hedypatheia des Archestratos von Gela zentrale Aspekte luxuriósen Speisens in spátklassischer und frühhellenistischer Zeit herausgearbeitet, die für die lykonischen symposia eine gute Folie bieten; s. auch Stoneman (2000). Nicht zutreffend ist die Aussage von Scholz
(1998), 31 mit Anm. 76, daß Lykon allein «vor seiner «Bekehrung» zu cinem philosophischen Leben Symposien und Hetáren zugetan» gewesen sei. Dieser Bruch in Lykons Lebensführung hat Athenaios respektive seiner Quelle Antigonos zufolge gerade nicht stattgefunden.
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1l. Athen
Lykons vorgeblich unphilosophischer Lebensstil in einem Umstand, den man als Ironie der Überlieferungsgeschichte bezeichnen möchte: Aus dem CEuvre des Scholarchen ist nur ein einziges lángeres Fragment durch Rutilius Lupus überliefert, das ausgerechnet von den Folgen der Trunkenheit handelt.?*! Reduziert man die polemischen Angriffe auf Lykon auf die Beschreibung der eigentlichen Handlungen und emanzipiert diese von den moralisch wertenden Urteilen der Autoren, so ergibt sich ein beredtes Zeugnis für die Lebensweise eines Angehórigen der stádtischen Eliten hellenistischer Zeit. Alle angesprochenen Aspekte erweisen sich als soziale Praktiken, die für den Habitus eines Mitgliedes der Polis-Oberschichten in hellenistischer Zeit als konstitutiv gelten kónnen,*5 andererseits aber den in literarischen Werken fixierten Erwartungen an einen philosophischen bios diametral entgegengesetzt waren. Da Lykon nach allem, was den antiken Quellen über seinen sozialen Hintergrund zu entnehmen ist, der Oberschicht von Alexandreia Troas entstammte - das aussagekráftigste Zeugnis in dieser Hinsicht ist zweifelsohne sein bei Diogenes Laertios überliefertes Testament, welches in aller Deutlichkeit den betráchtlichen Reichtum Lykons dokumentiert** -, handelte er gemäß seiner Sozialisation und verhielt sich zu den Normen der Polis-Oberschichten konform. Nicht minder drastisch als in der antiken Literatur fällt das Urteil der modernen Forschung über Lykon aus. Sie läßt mit ihm den Niedergang des Peripatos als bedeutende philosophische Schule einsetzen, ja, sie hält den Scholarchen für diesen maßgeblich verantwortlich?” und leistet somit der antiken Tradition
** Es handelt sich um das Kapitel zur rhetorischen Figur des charakterismos in der Schrift de figuris sententiarum et elocutionis des Rutilius Lupus: Lykon frg. 12 SFOD = Lykon frg. 26 Wehrli = Rut. Lupus fig. 2,7 Brooks = Rhet. Lat. Min., p. 16f. Halm. *5 Symposia waren in hellenistischen Poleis cin zentraler Ort der Oberschichtenkommunikation und fungierten zugleich als Moment sozialer Distinktion; dies gilt auch für die gymnasia, in denen nicht allein Sport getrieben wurde. Zu ersterem Aspekt s. Pellizer (1990), Murray (1995), 3-9, u. v.a. Schmitt Pantel (1990) sowie ferner Davidson (1997), 43-49. Zu den gymnasia als Ort der Kommunikation städtischer Eliten s. Mehl (1992), 48f.; Hesberg (1995), 14-16; Decker (1995), 172-174; vgl. allgemein Gauthier (1995).
** Diog. Laert. 5,69-74 = Lykon frg. 15 Wehrli; zum Testament als Beleg für den Reichtum Lykons s. Gottschalk (1972), 321, und Scholz (1998), 191; vgl. ferner Sollenberger (1992), 3870-3872.
?? So äußert sich Steinmetz (1969), 123: «Mit dem Scholarchat Lykons scheint der Peripatos als eine philosophisch relevante Schule zu Ende zu sein.» Dieses Urteil steht keineswegs vereinzelt, vielmehr befindet es sich in einer Tradition prominenter Lykon-Kritiker, deren schärfster wohl Wilamowitz-Moellendorff (1881), 78-83, gewesen ist; vgl. auch Capelle (1927), 2304 f., und Wehrli (1983), 576-578. Bereits antike Autoren kritisierten den nach-theophrastischen Peripatos und warfen ihm (intellektuellen) Niedergang vor; s. z.B. Cic. fin. 5,4 f. u. Strab.
16,2,24. Lynch (1972), 135-146, hat sich eingehend mit der Frage des Niedergangs des Peripatos auseinandergesetzt. Positiver über Lykon urteilt Mejer (2004), 283-285.
4. Der Peripatos
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und deren Paradigmen weitestgehend unkritisch Folge. Hingegen soll Lykon gemäß einer Aussage des Diogenes Laertios rhetorisch äußerst versiert gewesen sein und vor allem bezüglich der paideia und auch der Philosophie einen uten Ruf besessen haben.” Letzteres überrascht vor dem Hintergrund seines zuvor geschilderten vorgeblich luxuriósen und einem philosophischen bios entgegenstehenden Lebenswandels. Diese Diskrepanz ist mit zwei divergierenden
Traditionen zu Lykon zu erkláren, einer dem Peripatetiker positiv gegenüberstehenden, die wahrscheinlich auf seinen Schüler Ariston von Keos zurückgeht,”
und einer feindlichen, die von Antigonos von Karystos und Hermippos von
Smyrna etabliert wurde?" Dieser Befund führt einen grundsätzlichen Aspekt deutlich vor Augen: Die Frage, ob eine in der spáteren Überlieferung vorliegende
Imago eines Philosophen der historischen respektive biographischen Wahrheit entspricht, läßt sich nicht darüber klären, inwiefern ein spezifisches «biographisches» Bild in seiner Genese eine große zeitliche Nähe zum realen Leben einer Person aufweist.
Trotz der überwiegend negativen Bewertung der philosophischen Qualitäten Lykons und der Kritik an seinem vermeintlich unphilosophischen Lebenswan-
del in der dominierenden literarischen Tradition überliefert Diogenes Laertios, daß der peripatetische Scholarch bei seinen Zeitgenossen in Ansehen stand und sich der Wertschätzung mehrerer Monarchen erfreute. Ist die Aussage, daß
Lykon den Athenern verschiedentlich wertvolle Ratschläge gegeben habe?! auf Grund ihrer geringen Spezifität und mangels weiterer Zeugnisse für die historische Person des Scholarchen wenig aussagekräftig, so muß sie aber doch für den intendierten Leser plausibel gewesen sein. Bei den hellenistischen Königen, die
Verbindungen zu Lykon gehabt haben sollen, handelt es sich um pergamenische und seleukidische Monarchen: Eumenes I. und Attalos I., die Lykon auch finanzielle Zuwendungen zukommen ließen,?'!? sowie Antiochos I. oder Antiochos II,
** Zu den rhetorischen Fertigkeiten Lykons s. Diog. Laert. 5,65; vgl. auch Cic. fin. 5,5,13. Seinen guten Ruf in Sachen paideia bezeugt Themistios (or. 21,255b-c). Lykon soll die Bedeutung der paideia mit den folgenden pathetischen Worten hervorgehoben haben: Λύκων ὁ φιλόσοφος τὴν παιδείαν ἔλεγεν ἱερὸν ἄσυλον εἶναι. - Lykon der Philosoph sagte, daß Bildung ein unverletzliches Heiligtum ist. (Lykon frg. 16 SFOD = Lykon frg. 21 Wehrli = Gnom. Vat. 67,18 Sternbach = Stob. flor. 4, p. 226 Meineke = Ioh. Damask. Flor. 2,140). "9 Daß für die positive Tradition zu Lykon Ariston von Keos, möglicherweise sein Nachfolger als peripatetischer Scholarch (Ariston von Keos frg. 6 Wehrli = vit. Hesych. 9 Düring = Aristot, frag. II Hesych., p. 10,19-22 Rose), verantwortlich ist, ist eine plausible Annahme; vgl. Ariston von Keos, p. 65 Wehrli und Wehrli (1983), 579f., sowie Gigante (1996), 18f.
?? Vgl. dazu oben S. 83. ?! Diog. Laert. 5,66. ?? Diog. Laert. 5,67. Sonnabend (1996), 273, will diese Nachricht - in Verbindung mit Diog. Laert. 5,66 - dahingehend interpretieren, daß Lykon möglicherweise in den außenpolitischen
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II. Athen
der dem Philosophen das Angebot unterbreitete, an seinen Hof zu kommen, was jener aber ausschlug." Den Kontakten zwischen Philosophen in Athen und hellenistischen Monar-
chen hat die Forschung bislang ein hohes Maß an Aufmerksamkeit zugebilligt, um daraus die Bedeutung von Philosophen für Athens Außenpolitik zu betonen. Doch gibt im Fall Lykons der Befund nichts her, was sich in eine derartige
Richtung interpretieren ließe: Im entscheidenden Passus bei Diogenes Laertios ist allein davon die Rede,?'* daß verschiedene Monarchen sich um Lykon bemühten, nicht jedoch, daß er auch nur ansatzweise in außenpolitische Aktivitäten involviert war.?!5 In einer athenischen Inschrift aus dem Jahr 248/7?'5 werden im Anschluß an
das psephisma diejenigen namentlich angeführt, die der Aufforderung der Polis
Beziehungen zwischen Athen und den Attaliden tätig gewesen sei. Es ist jedoch äußerst zweifelhaft, ob zu Lebzeiten des Lykon überhaupt schon náhere Kontakte zwischen Athen und den Attaliden bestanden; s. Habicht (1990), 561 f. Die wiederholt in der Forschung - z. B. von Ferguson (19112), 209 mit Anm. 5 - als Beleg für Kontakte zwischen Athen und Attaliden angeführte
Inschrift IG II? 833 (229/8) ist als Zeugnis dieser Beziehungen nicht zu verwenden, da in Z. 11 nicht (xap]à τοῦ βασιλέως A [txáAov], sondern vielmehr [παρ]ὰ τοῦ βασιλέως A [vttyóvov] zu ergänzen ist; vgl. Johnson (1913), 388-390; Wilhelm (19252), 58, und Habicht (1982b), 104. Die
von Schalles (1985), 136 f., vorgebrachten Argumente für erstere Ergänzung vermögen nicht zu überzeugen. Die Vermutung von Sonnabend (1996), 273, daß bei der Förderung Lykons durch die Attaliden möglicherweise «landsmannschaftliche Verbundenheit (...) eine Rolle gespielt
haben könnte», ist nicht überzeugend; vgl. aber auch Sollenberger (1992), 3824. ? Diog. Laert. 5,67. Ob es sich bei dem genannten Antiochos um Antiochos I. oder Antiochos Il. handelte, ist nicht zu entscheiden; vgl. Habicht (1989a), 9 mit Anm. 10. Austin (2001), 99, hält Antiochos 11. für den von Diogenes erwähnten Herrscher; Ehling (2002), 48, nennt Antiochos Il. und Antiochos IIl. als mögliche Werber um Lykon. Über Lykons Motive läßt sich nur spekulieren; s. 2. B. Tarn (1913), 335, der dessen Ablehnung mit der Feindschaft zwischen Seleukiden und Pergamenern sowie dem guten Verhältnis des Peripatetikers zu letzteren begründen móchte - vgl. auch McShane (1964), 54; Sollenberger (1992), 3824, und Sonnabend (1996), 273 mit Anm. 211. Feindschaftliche Beziehungen zwischen Seleukiden und Attaliden bestanden in jener Zeit jedoch nicht; s. Habicht (1982b), 130 mit Anm. 50. Die Vermutung von
Leuteritz (1997), 65, daß die attalidischen Herrscher Lykon in hohen Ehren gehalten hätten, da jener den Bemühungen der Seleukiden, ihn an ihren Hof zu holen, nicht nachgekommen sei, wird durch die von ihr angeführte Textpassage (Diog. Laert. 5,67 f.) nicht gestützt. "4 Diog. Laert. 5,67. "5 So aber Sonnabend (1996), 272-274, und Thrams (2001), 216-221.
*?* Agora XVI 213. Die Datierung ist durch die Angabe des Archon Diomedon gegeben: Wurde dieser noch von Woodhead in Agora XVI, p. 302, in das Jahr 245/4 oder 244/3 gesetzt, hat Osborne (2000), 508-515, überzeugend für eine Datierung in das Jahr 248/7 argumentiert - vgl. auch ders. (2003) und Dreyer (1999), 191 mit Anm. 332, im Anschlufi an Mor-
gan (1998). Durch diese neue zeitliche Ansetzung ergibt sich eine andere historische Kontextualisierung der epidosis: Bislang galt es als ausgemacht, daß sie im Zusammenhang mit dem Dritten Syrischen Krieg stünde, als Athen auf Seiten Makedoniens kámpfte und in der Gefahr
4. Der Peripatos
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zu einer epidosis «zur Rettung der Stadt und zum Schutz des Umlandes» nachekommen waren und dazu einen Betrag von mindestens fünfzig und maximal zweihundert Drachmen gespendet hatten (Agora XVI 213, Z. 16f. u. 19£.). Auch Lykon ist als einer der wenigen Fremden angeführt, die der Aufforderung nachkamen;?" wie der Großteil der Spender trug er den Höchstbetrag von 200 Drachmen bei.?'* Besondere Aufmerksamkeit ist diesem Zeugnis wegen der Art und
Weise zu widmen, in der Lykon in der Liste angeführt wird. Gemäß den Gepfloenheiten nicht nur attischer Inschriften wäre zu erwarten, daß Patronymikon und Demotikon respektive Ethnikon hinter dem Namen des Scholarchen angegeben wáren, was auch in dieser Inschrift bei fast allen Spendern bis auf drei Aus-
nahmen der Fall ist?!” - und zu diesen Ausnahmen zählt auch der Eintrag Λύκων φιλόσο(φος) (Agora XVI
213, col. I, Z. 71).
stand, vom achaiischen Koinon angegriffen zu werden, was im Frühjahr 242 dann auch eintrat; s. dazu Plut. Arat. 24,3 mit Urban (1979), 51 f., und Will (1979-82), I 248-261. Zur historischen Interpretation der epidosis nach der alten Datierung s. Habicht (1979), 113-146, u. (1982b), 2642; Migeotte (1992), 28-34 Nr. 17, sowie Osborne (1989). Durch die Umdatierung des Archon
Diomedon sind die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Alexander, Sohn von Antigonos Gonatas' Halbbruder Krateros, und seinem kóniglichen Onkel als Kontext der epidosis auszumachen. Von Antigonos als Statthalter in Korinth und auf Euboia eingesetzt, revoltierte Alexander 251 gegen seinen Onkel, was zu militárischen Konflikten bis in die Mitte der 40er Jahre führte; vgl. Will (1979-82), 1316-318, und Knoepfler in Eretria XI, p. 288-294. Betroffen von diesen Auseinandersetzungen war auch die Nordostküste Attikas, die der Bedrohung durch Piraten ausgesetzt war; vgl. Habicht (1997a), 162. Eine unpublizierte Inschrift aus Rham-
nous für den strategos Archandros (Petrakos (1993], 7f.), der auch an besagter epidosis teilnahm (Agora XVI 213, col. 1I, Z. 61), verdeutlicht diese Gefahr sehr plastisch; zu Archandros s. Petrakos in I.Rhamnous, p. 253. Umfassend zu einer historischen Verortung der epidosis im Jahre des Archon Diomedon vgl. Oliver (2002), 7; s. auch Habicht (2003), 55. 37 Zu den Fremden s. Habicht (1982b), 32, und Adak (2003), 114 mit Anm. 452. Die exakte
Anzahl der Beiträger ist nicht mehr anzugeben; vgl. Habicht (1982b), 27 u. v.a. 30f. "8 Agora XVI 213, col. I, Z. 19. Von den 82 Personen, für die sich die gespendete Summe
sicher angeben läßt, spendeten «Lykon zudem als athenischer sis mit der Hóchstsumme von dosis bestand nämlich niemals
71 den Höchstbetrag. Die Aussage von Scholz (1998), 192, daß Metóke im Frühjahr 243 gezwungen [war], sich an einer Epido200 Drachmen zu beteiligen», ist nicht zutreffend. Zu einer epiZwang - weder für Bürger noch für Metöken; es existierte hin-
gegen ein normativer Erwartungsdruck seitens der Polis-Öffentlichkeit insbesondere gegen-
über wohlhabenderen Bewohnern der Stadt, der Aufforderung zur freiwilligen Spende nachzukommen; s. Veyne (1976), 212-229. Zu Metóken und epidoseis vgl. Gauthier (1985b), 183f.,
und Migeotte (1992), 359-363. Auch die Hóhe der freiwilligen Spende wurde vom Beitráger innerhalb des vorgegebenen Rahmens eigenständig festgesetzt. ?? Bei diesen Ausnahmen handelt es sich neben Lykon um Sosibios (col. II, Z. 52), der durch die Angabe seines Rechtsstatus als isoteles charakterisiert wird (vgl. Niku [2002], 45) und 50
Drachmen spendete, und um einen durch keine weiteren Hinzufügungen bestimmten Kallimachos, der 200 Drachmen beisteuerte (col. I, Z. 70) und bei dem es sich möglicherweise um den berühmten Dichter handeln könnte. Zu diesem auf D. M. Lewis (s. Hornblower [1996],
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Il. Athen
An diesem Befund sind mehrere Aspekte bemerkenswert: Nicht nur ist Lykon der erste Philosoph, für den aus dem hellenistischen Athen ein inschriftliches Zeugnis existiert, sondern diese Inschrift ist bis zum Jahr 122/1 auch der einzige epigraphische Beleg, in dem sich für das hellenistische Athen das Wort philosophos nachweisen läßt.??° Daß Lykon im Gegensatz zu nahezu allen anderen Spendern nur die Bezeichnung «Philosoph» beigegeben ist, setzt voraus, daß dies zu seiner individuellen Identifizierbarkeit genügte.?! Nicht erwähnt wird, daß Lykon dem Peripatos angehórte; auch seine innerschulische Stellung als Scholarch ist nicht angesprochen. Beide Aspekte müssen im Kontext der epidosis-Liste als nicht relevant erachtet worden sein. Da es sich um eine óffentliche Ehreninschrift handelt, in der der Begriff philosophos verwendet wird, sagt dies auch etwas über den Stellenwert des Philosophen in der Gesellschaft aus: Er muß zur Zeit der Abfassung des Dekrets nicht nur gesellschaftlich akzeptiert, sondern positiv konnotiert gewesen sein, da man sonst kaum im Zusammenhang einer óffentlichen ehrenden Erwáhnung die Bezeichnung «Philosoph» als Identifikationskriterium an Stelle des Demotikon oder Ethnikon ausgewählt hätte. Die Inschrift ermöglicht auch, Rückschlüsse über die Stellung Lykons in der athenischen Gesellschaft zu ziehen: Der peripatetische Scholarch und Nicht-Athener war ein angesehener Bewohner der Polis Athen, der den gleichen öffentlichen Erwartungen unterlag wie andere vermögende Personen, die in Athen lebten. Dies erweist eine prosopographische Analyse der fünfundsechzig athenischen Spender in der Liste: Von allen Beiträgern sind nur zwólf nicht weiter bekannt, eine hinsichtlich der schlechten Quellenlage für die Mitte des dritten Jahrhunderts sehr geringe Quote; alle anderen Personen lassen sich dem «gehobenen Mittelstand» oder der «Oberschicht» zurechnen.??? Lykons angesehene gesellschaftliche Stellung nicht nur in Athen findet ihre Bestátigung in einer delphischen Inschrift aus dem Jahr 240/39 oder 239/8, in der er wegen seiner eunoia und philotimia gegenüber Apollon, dem Heiligtum in Delphi und dem Koinon der Amphiktyonen geehrt wurde.?? 595 mit Anm. 66) basierenden Identifizierungsvorschlag vgl. Oliver (2002); zur isoteleia vgl. Rhodes (1998). 20 Das Zeugnis aus dem Jahre 122/1 ist eine Ephebeninschrift (IG II? 1006, Z. 20); vgl. S. 4648; die Philosophie wird in einem Ehrendekret aus dem frühen 2. Jh. erwähnt (IG II? 886, Z. 9);
s. S. 99f. ?! Zu einer von Scholz (1998), 322 mit Anm. 18, und Adak (2003), 221 mit Anm. 948, ange-
führten Parallele zu Lykon, nämlich einer literarisch überlieferten Spende Zenons von Kition zur Restaurierung eines Bades, s. S. 120. 32 Ζ einer umfassenden Analyse der Spender s. Habicht (1982b), 32f., und Woodhead in
Agora XVI, p. 305. Von den wenigen Fremden, die an der epidosis partizipierten, ist allein Lykon sicher bekannt. ’2 CID IV 63; vgl. zu dieser Inschrift unten S. 240f.
4. Der Peripatos
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Die in das Jahr 248/7 datierende epidosis-Liste ermöglicht wichtige Erkenntnisse
über die Stellung des Philosophen im öffentlichen Diskurs und in der Gesellschaft der Polis Athen in der Mitte des dritten Jahrhunderts: Der peripatetische Scholarch Lykon war sozial geachtet; der Umstand, daß er Philosoph war, konnte in einem eindeutig positiv konnotierten Kontext betont werden. Jedoch darf dieses Ergebnis hinsichtlich der Philosophen und ihrer Stellung in Athen nicht verallgemeinert werden, bevor nicht weitere Fallstudien angelegt worden sind. d) Prytanis von Karystos: Der Philosoph als Gesandter Obwohl Prytanis von Karystos gemäß Polybios zu den seinerzeit berühmten Vertretern des Peripatos gehörte, ist die literarische Überlieferung zu diesem Philoso-
phen äußerst schmal.?* Neben der Tatsache, daß er ein Symposion betiteltes Werk verfaßte und Lehrer des Euphorion war,?? ist allein seine Tätigkeit als nomothetes in Megalopolis in der zweiten Hälfte der 220er Jahre im Auftrag des makedo-
nischen Königs Antigonos III. Doson bezeugt.’** Im Jahre 1933 wurde auf der
324 Pol. 5,93,8. Prytanis wird in einer apokryphen Diadochenliste sogar als peripatetischer Scholarch angeführt: vit. Hesych. 9 Düring = Aristot. frag. II Hesych., p. 10,19-22 Rose = Aristot. frag. 2 vit. Hesych. 9, p. 26,33-36 Gigon. Dies ist jedoch falsch; vgl. Howald (1920), 91; Brink (1940), 908-911, und Wehrli (1983), 581.
x5 P]ut. mor. 612d-e. Prytanis wird in den quaestiones conviviales in einer Reihe mit Platon, Xenophon, Aristoteles, Speusipp und Epikur genannt, die in ihren Schriften Gespräche
im Kontext von symposia wiedergäben. Prytanis als Lehrer des Euphorion: Euphorion T 1 van Groningen = Suda, s. v. Εὐφορίων u. T 5 = FHG IV Hegesander Delphus F 21 = Athen. 11,477e; s. dazu 'Ireves (1955), 23-29. "5 Prytanis' nomothesia in Megalopolis ist durch Pol. 5,93,8 bezeugt; s. dazu Walbank (1957), 624, sowie auch Adak (2003), 180. Zeitlich einzuordnen ist sie nach 224, dem Datum
des Bündnisses zwischen dem achaiischen Koinon und Antigonos Doson, und vor 221, dessen Todesjahr. Ob sie vor oder nach die Eroberung und Zerstórung von Megalopolis durch den Spartanerkónig Kleomenes 223/2 fállt - s. dazu Gabba (1957), 11-13, sowie Walbank (1984),
461-473 -, läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Auf Grund der polybianischen Schilderung der Ereignisse ist es allerdings wahrscheinlicher, daf$ die nomothesia des Peripatetikers in die Zeit vor der Zerstörung der Stadt fällt; vgl. Urban (1979), 199, und Le Bohec (1993), 453,
anders jedoch Korhonen (1997), 51. Inhaltliche Aussagen über die von Prytanis erlassenen Gesetze sind nicht móglich. Allerdings stellten dessen Gesetze einen wesentlichen Streitpunkt während der Auseinandersetzungen innerhalb von Megalopolis dar, die die Zeit nach der Zerstörung durch Kleomenes kennzeichneten und 217 zu einem dogma der Achaier führten, in dem Arat von Sikyon beauftragt wurde, den inneren Frieden in dieser Polis wiederherzustellen (Pol. 5,93,8-10). Zum Hintergrund der Auseinandersetzungen in Megalopolis vgl. Urban (1979), 195-200; zu Arats Eingreifen s. Walbank (1933), 149f. Die Darstellung der Konfliktsi-
tuation bei Polybios basiert in zentralen Punkten auf der Antithese «arm versus «reich»; ob sich in diesem antinomischen Modell die historische Realität widerspiegelt oder aber nicht vielmehr eine Sedimentierung philosophischer Konzepte für politische Konflikte bei Polybios vorliegt,
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Il. Athen
athenischen Agora ein probouleumatisches Ehrendekret für Prytanis, Sohn des Astyleides, aus Karystos gefunden, das aus dem Jahre des Archon Ergochares stammt, also in das Jahr 226/5 zu datieren ist:??
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πειδὴ Πρύτανις εὔνους ὧν τῶι δήμωι καὶ πολλάκις τὴν ἀπόδειξιν αὐτοῦ καὶ πρότερον πεποημέν(ζη)ν ἀποφηναμένων τῶν στρατηγῶν, παρακληθεὶς ὑπὸ τοῦ δήμου καὶ δοὺς ἑαυτὸν ánpog[a]σίστως εἰς τὴν κοινὴν χρείαν τῆς πόλεως ἀπίε] -
16
δήμησεν [........... LL
] οὔτε πό-
νον οὔτε κίνδυνον ὑπολογισάμενος οὐθένα τῶν ἐσομένων οὔτε δαπάνης οὐδεμίας φροντί-
σας, καὶ παραγενόμενος [.......^?.......] Kali] διαλε20
χθεὶς ὑπὲρ τῶν κοινεῖ " χρησίμων μετ[ἀ] παρῴ(ρ)ησίας ὡς ἂν ὑπὲρ ἰδία(ς πατρ)ίδος τὴν πᾶσαν σπου -
24
δὴν ποι(ζογύμενος ἀπήγγελκεν τῶι δήμωι περ !] τούτων ἐν οὐθενὶ καιρῶι προθυμίας οὐθὲν ἐν[λ]ελοιπίώς π)οτ᾽ οὐδὲ τῶν καθηκόντων εἰς τὴν τοῦ δήμου χρείαν παραλείπω», (...)
Weil Prytanis dem Volk wohlgesonnen ist und die Strategen seinen Beweis, der bereits früher gegeben wurde, mehrfach öffentlich vorgetragen haben; und weil er (jetzt), vom Volk zur Hilfe aufgefordert, sich bereitwillig dem gemeinsamen Nutzen der Stadt hingegeben hat und zu [-----]] reiste, wobei er weder Mühe noch Gefahr beachtete, die auf ihn hátte zukommen kónnen, noch irgendwelche Kosten scheute,
ist nicht zweifelsfrei zu entscheiden. Die Dichotomie «arm» versus «reich» ist als Erklärungsmuster für politische Konflikte in der griechischen Philosophie ein etabliertes Modell; s. Gehrke (1985) und speziell zu Aristoteles Winterling (1993). Da Polybios' Interpretation von Verfassungsniedergängen und der Rolle, die dabei Reichtum als zentralem Parameter zukommt, von philosophischen Konzepten geprágt ist (s. Williams [2000], 131-133), erscheint eine von sedimentierten Philosophemen ausgehende Deutung der polybianischen Konzeptionalisierung des Konfliktes in Megalopolis überlegenswert. Die Hypothese von Sonnabend (1996), 248 f., daß «Prytanis für maßgebliche Kreise in Megalopolis kein Unbekannter war» und aus diesem
Grund von Antigonos Doson in diese Stadt entsandt wurde, ist spekulativ; zu Recht skeptisch in diesem Punkt Thrams (2001), 269.
?? Agora XVI 224, Z. 10-25. Zur Datierung des Archontats des Ergochares s. Pritchett Meritt (1940), xxiii, und Meritt (1977), 177; Tracy (1990b), 44-54, hat diese Inschrift dem «cut-
ter of IG I? 1706» zuweisen können, dessen Tätigkeit zwischen 229/8 und ca. 203 nachweisbar ist. Zur inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Dekret vgl u.a. Habicht (1982b), 103-105; Le Bohec (1993), 184-189, und Adak (2003), 179 f.; s. ferner auch Sonnabend (1996), 280-283, und Thrams (2001), 266-270.
4. Der Peripatos
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und als er bei [-----] angekommen war, über das allgemein Nützliche in freimütiger Rede sprach, seinen ganzen Eifer an den Tag legte, als wäre es für seine eigene Heimatstadt, und darüber dem
Volk Bericht erstattete, wobei er zu keinem Zeit-
punkt im Eifer nachließ und niemals etwas zum Nutzen des Volkes unterließ, (...) Zwar sind aus der literarischen Überlieferung weder Prytanis’ Patronymikon noch Ethnikon bekannt, dennoch ist die Gleichsetzung des hier geehrten Prytanis mit dem Philosophen plausibel: Dies liegt vor allem in der großen Seltenheit dieses Namens begründet.?2? Welche Kriterien für die Athener bei der Auswahl
des Prytanis als Gesandter entscheidend gewesen sind, láfit sich nicht mit Sicherheit sagen: Allein seine Herkunft aus dem unter makedonischer Herrschaft ste-
henden euboiischen Karystos kann ihn kaum hinreichend qualifiziert haben. Als weitaus wichtiger muß die persönliche Verbindung zwischen Prytanis und Antigonos Doson für die Wahl angesehen werden.?? Aussagen zu Prytanis' Verhältnis an Vgl. LGPN I, s. v. (6 Belege), LGPN II, s. v. (1 Beleg), LGPN III A, s. v. (1 Beleg), LGPN III B, s. v. (1 Beleg) u. LGPN IV, s. v. (8 Belege) ; s. auch Bechtel (1917), 515. Von zwei homonymen
Personen auszugehen, von denen die eine, námlich der Peripatetiker, in enger Verbindung zu Antigonos Doson stand (Pol. 5,93,8; vgl. Le Bohec [1987], 325), die andere aber als Gesandter an dessen Hof kam, erscheint nicht überzeugend. Bereits Meritt (1935), 529, identifizierte den
in der Inschrift genannten Prytanis mit dem aus den literarischen Quellen bekannten gleichnamigen Philosophen. Diese Gleichsetzung ist zu Recht stets akzeptiert worden; s. z. B. Robert (1935b), 436; Habicht (1994), 240, und Sonnabend (1996), 280. -- Zu Prytanis vgl. K. Ziegler, RE XXIII, 1, 1957, 1158, s. v. (5), der die Inschrift wie Wehrli (1983), 581, nicht berücksichtigt; 8. aber Kassel (1985). X? Der Adressat der Gesandtschaft ist später aus der Inschrift eradiert worden (Z. 16 u. 19);
diese Tilgung ist überzeugend mit der Nachricht bei Liv. 31,44,2-9 (s. dazu Briscoe [1973], 150-152) u. 41,23,1 (dazu Petzold [1940]) in Verbindung gebracht worden, nach der die atheni-
sche Volksversammlung bei Ausbruch des Zweiten Makedonischen Krieges 201/0 beschlossen habe, alle Ehrungen für Philipp V. und seine Vorfahren zu zerstóren sowie alles Makedonische überhaupt zu verfluchen und all das, was einst gegen die Peisistratiden beschlossen worden sei, nun auch gegen Philipp und die Seinen geltend zu machen: So sollten u.a. die Namen aller antigonidischen Herrscher in den attischen Inschriften eradiert werden, die Kulte, Feste und Priesterámter, die für Philipp und seine Vorfahren eingerichtet worden waren, ebenso abgeschafft
werden wie die ein Jahrhundert zuvor geschaffenen Phylen Antigonis und Demetrias, und auch alle Ehrenmonumente, die Philipp und seinen Vorfahren dediziert worden waren, zerstórt werden. Zum Beginn des Zweiten Makedonischen Krieges vgl. Habicht (1982b), 142-158, u. (19972), 194-199; Walbank (1970), 124 f. u. 310f., und Gruen (1984), II 382-398. Zeugnisse für die Durchführung des Volksbeschlusses hat Dow (1937), 48-50, zusammengestellt; umfassender ist Habicht (1970), 189f., (1982b), 148 mit Anm. 137, u. (1997a), 197, mit Anm. 10; ders. (1970), 189f. mit Anm. 6, hat diejenigen Inschriften zusammengetragen, in denen keine
Rasur vorgenommen wurde. Zur «damnatio memoriae in athenischen Inschriften s. Osborne (1975), 149, und Culasso Gastaldi (2003), sowie grundsätzlich Wilhelm (1946), 5-10. - Meritt
(1935), 529, schlug als Ergänzung an Stelle der Rasuren in Z. 16 πρὸς τὸν βασιλέα Ἀντίγονον und in Z. 19 τῶι βασιλεῖ oder Ἀντιγόνωι vor; vgl. dazu Le Bohec (1993), 41, und Woodhead in
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II. Athen
zu Athen, die über die im Dekrettext explizierte Verbundenheit hinausreichen, sind nicht zu treffen. Anzunehmen ist, daß Prytanis in Athen lebte, als er für die Gesandtschaft ausgewählt wurde; zudem war er bereits vor der Übernahme der Gesandtschaft mehrfach von den strategoi lobend erwähnt worden, hatte sich also Verdienste um Athen erworben, die allerdings unbekannt und nicht datierbar sind.?? Grund für die Ehrung des Prytanis ist die Übernahme einer Gesandtschaft an den makedonischen Kónig Antigonos Doson, über deren náhere Ziele die Inschrift allerdings keine Informationen enthált.?' Der historische Kontext ist dennoch eindeutig: Nachdem Athen im Zusammenhang mit Demetrios' II. Tod im Jahre 229 die Freiheit von der makedonischen Vorherrschaft erlangt hatte, war das Verhältnis zum neuen Machthaber Antigonos III. Doson gespannt???
Agora XVI, p. 322. Zur Tatsache, daß Antigonos Doson eigentlich als «Regent für den minderjährigen Sohn Demctrios' II., den späteren König Philipp V., die Herrschaft ausübte und erst zu einem spáteren Zeitpunkt auch den Titel basileus trug, s. Le Bohec (1993), 123-133. In vorlie-
gendem Kontext ging es den Athenern allerdings kaum um cine formal korrekte Anrede, sondern vielmehr um ein politisch-diplomatisches Signal in einer prekären Situation. - Eine mögliche Parallele findet sich in Plutarchs (Dem. 10,3) Schilderung der Ereignisse nach der «Befreiung» Athens von der «Herrschaft des Demetrios von Phaleron durch Demetrios Poliorketes (s. S. 16f.): Die Athener wären die ersten gewesen, die Antigonos und seinem Sohn den Kónigstitel zugesprochen hátten, noch bevor beide den Titel selbst angenommen hátten. Vgl. in diesem Kontext die Ergänzung Wilhelms ([1937a], 204) in einem athenischen Gedicht zu Ehren von Antigonos Monophthalmos und Demetrios Poliorketes (IG II? 3424, Z. 5): [Ἑλλάδος ἡγεμόνες βασιλεῖς τ᾽] Ἁσίας πολυχρύσου. 530 Zur Wiederherstellung der Z. 11-13 und deren Verständnis s. Roussel (1935). Diese frü-
heren Verdienste des Prytanis um Athen haben bislang in der Forschung - so bei Sonnabend (1996) und Thrams (2001) - kaum Berücksichtigung gefunden; vgl. aber Kassel (1985), 23, und
Le Bohec (1993), 188. Auch zu einem spáteren Zeitpunkt wurde Prytanis noch einmal von den Athenern geehrt - s. unten S. 98.
?! Nicht zutreffend ist die Aussage von Dreyer (1999), 191 f., daß der Antragsteller des Dekrets, Thoukritos, Sohn des Alkimachos, aus Myrrhinous, die «kurze Phase der «unabhángigen Neutralität nach der «Befreiung» durch einen Unterwerfungsakt beendete». Zu Thoukritos, der 220/19 Bouleut war (Agora XV 130, Z. 88), s. Habicht (1979), 127f., sowie Le Bohec (1993),
188; zu dessen Familie vgl. Wilhelm (1909), 62 Nr. 49. »? Vgl. Habicht (1992a), 73f., und Mattingly (1997), 120-122; s. auch Dow - Edson (1937), 168-172; Ehrhardt (1975), 247 f., und Le Bohec (1993), 185-189; zu Athen in den 220er Jah-
ren s. Habicht (19972), 179-185; zur erfolgreichen athenischen Diplomatie nach 229 vgl. Perrin-Saminadayar (1999), 445—447 u. 453f.; zur finanziellen Situation der Stadt s. Perrin (1996).
Einen signifikanten Akt im Kontext der Befreiung von Makedonien stellte die Abschaffung des Kultes für Demetrios II. in Rhamnous dar; im Nemesisheiligtum hatte Demetrios in der Nachfolge seines Vaters Antigonos II. kultische Ehren erhalten. Für Antigonos gehen diese aus I.Rhamnous 7 hervor, für Demetrios sind sie ISE 25 (236/5) zu entnehmen; daß keine Opfer mehr für makedonische Herrscher im Nemesistempel vollzogen wurden, geht aus I.Rhamnous 8 = ISE 29 (225/4) hervor; s. Habicht (1996a). Die Etablierung eines Kultes für den Demos und
4. Der Peripatos
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Über die Gesandtschaft ist ansonsten nur zu sagen, daß der Mission kein Erfolg beschieden war, da dies sonst in der Inschrift vermerkt worden wáre.?? Trotz dieses Umstandes wurde Prytanis mit einem goldenen Kranz, dem Recht der allmorgendlichen Speisung im Prytaneion und der óffentlichen Aufstellung des psephisma auf der Agora geehrt.?* Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen im Antrag für die Ehrung (Agora XVI 224, Z. 10-25), die über die Art und Weise Auskunft geben, in der
Prytanis als Gesandter agierte. Besitzt die Hervorhebung von Prytanis' Bereitschaft, die Gesandtschaft auf Wunsch des demos ohne Ausflüchte zu übernehmen
und dabei weder Mühen noch Gefahren zu scheuen, topischen Charakter," so erweisen sich die beiden Bemerkungen zu seinem konkreten Auftreten vor Antigonos Doson als exzeptionell. Zum einen vertrat Prytanis die Interessen Athens vor dem König, als ob es sich um seine patris handelte.?* Der Sinn dieser Formu-
die Chariten, der zu Beginn der zwanziger Jahre eingerichtet wurde - der älteste nachweisbare
Kult für einen personifizierten demos --, weist in der Ausdeutung seiner politischen Semantik in die gleiche Richtung; vgl. ders. (1982b), 84-93; skeptisch gegenüber dieser Interpretation,
jedoch nicht überzeugend, ist Mikalson (1998), 168-207. Während der Kult für antigonidische Herrscher in Rhamnous abgeschafft wurde, wurde für Ptolemaios III. ein Kult eingerichtet -ebenso wie eine Phyle Ptolemais, ein demos Berenikidai und ein Fest, die Ptolemaia; vgl. dazu und zu den Beziehungen zwischen Athen und den Ptolemaiern in den 220er Jahren Habicht (1982b), 105-112, u. (19922), 74f., der schreibt, daß Prytanis als Gesandter zu Ptolemaios III,
und nicht zu Antigonos Doson ging. 33 So u.a. Habicht (1982b), 103 mit Anm. 11, sowie (19922), 74.
*^ Agora XVI 224, Z. 33-47. - Es ist ungewöhnlich, daß ein Nicht-Athener ἐπὶ δεῖπνον und nicht ἐπὶ ξένια in das Prytaneion zur Speisung eingeladen wurde; vgl. dazu und zu möglichen Erklärungen Osborne (19812), 154f.; Henry (1981) u. (1983), 272, sowie Rhodes (1984); s.
auch Woodhead in Agora XVI, p. 324. Die von Henry (1981) für den spezicllen Fall des Prytanis akzeptierte These von Osborne (19812), daß durch die Einladung eines Nicht- Atheners
zur Speisung ἐπὶ δεῖπνον nur jene geehrt würden, die im Auftrag der Polis Athen agiert hätten, erscheint plausibler als die von Rhodes (1984) vertretene Annahme von Unregelmäßigkeiten
im Formular. Gerade vor dem Hintergrund der Aussage in Z. 21, daß Prytanis sich für Athen eingesetzt habe, als wenn es sich um seine patris handelte, wäre die Speisung ἐπὶ δεῖπνον im
Prytaneion ein sinnfálliger Ausdruck, diese soziale Beziehung als reziprokes Verháltnis darzustellen.
95 Agora XVI 224, Z. 13-19. - Zu den Mühsalen und Gefahren, die Gesandte auf sich nahmen, s. Quass (1993), 109-112, und Habicht (2001); vgl. Wörrle (1995), 244, allgemein zu den
Mühen, denen sich Mitglieder der Oberschichten hellenistischer Poleis für ihre patris anterzogen. ?* Agora XVI 224, Z. 21f. Der Text ist in Z. 21 «verderbt (ὡς àv ὑπὲρ ἰδιαγδος τὴν πᾶσαν σπουϊδὴν); s. Meritt (1935), 529. Robert (1935b) hat auf Grund von epigraphischen Parallelen
den Text überzeugend rekonstruiert. Von besonderem Interesse ist das von Robert (1935b), 437, angeführte Parallelbeispiel IG II’ 786, Z. 14; zu dieser Inschrift und dem mit diesem Dekret gcehrten Aristokreon s. unten S. 132-141.
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II. Athen
lierung ergibt sich aus der Beziehung eines jeden polites zu seiner patris??? Diese besteht in dessen Bereitschaft, für die patris zu handeln. Prytanis aber hat «wie für seine patris für seine Gastpolis Athen agiert und damit mehr geleistet, als auf Grund seiner «Beziehung» zu Athen erwartbar war. So wird seine Leistung im Dekret exzeptionalisiert und eine besondere Nahbeziehung zwischen dem fremden Philosophen und Athen impliziert.?? Daneben ist die Art und Weise zu erórtern, in der Prytanis vor dem Kónig
die Interessen Athens vertrat: μετ[ἀ] rap(p)rn|oíac.?? Diese Formulierung ist im Corpus der attischen Inschriften singulár,^" und im gesamten griechischen Inschriftenmaterial läßt sich kein Dutzend weiterer Belege für das Wort parrhesia ausmachen.’ Auf einer allgemeinen Aussageebene wird von den Athenern
?? Zum Begriff patris und seinen semantischen Implikationen s. Sebillotte (1999). ? Die Interpretation des &-Satzes von Sonnabend (1996), 282, daß es als etwas Gewóhnli-
ches anzusehen sei, daß ein Philosoph sich mit Engagement in den Dienst seiner Heimatpolis stellte, verfehlt den Sinn des Textes.
339 Zum persónlichen Empfang von Gesandten durch Antigonos Doson s. Le Bohec (1993), 216.
^ Es gibt in Athen nur zwei weitere Belege für das Wort παρρησία. In einem Fall handelt es sich um einen weiblichen Eigennamen, der in die «Namensklasse der Bezeichnung von Abstrakta einzuordnen ist (s. Bechtel [1917], 616): Es ist dies der Name einer Antiochenerin auf einem nicht datierbaren Grabstein (IG II? 8263; vgl. Stamiris [1942], 228 Nr. 54 u. IG II-III? 3, 2, p. 883; Osborne - Byrne [1996], Nr. 970). Für die Verwendung von Parrhesia als Personen-
name finden sich in der griechischen Welt mehrere weitere epigraphische Belege; vgl. LGPN I, s. v. (4 Belege), LGPN III A, s. v. (2 Belege), LGPN III B, s. v. (1 Beleg), LGPN IV (1 Beleg) und Solin (1996), 565 (3 Belege). Besonderes Augenmerk verdient, daß Parrhesia mehrfach als Sklavenname belegt ist (s. Collins Reilly [19782], Nr. 2280-2282); vgl. zum Namen Parrhesia Schneider (1997), 685; zur Benennung von Sklaven s. Collins Reilly (1978b), 111 u. 113, sowie Fragiadakis (1988), 127-134; zu Abstrakta als Sklavennamen vgl. Lambertz (1908), 2933; Masson (1972), 14, und allgemein zu Sklavennamen Patterson (1982), 54-58. Der Name
Parrhesia für Sklavinnen ist nicht als Zynismus anzusehen, sondern wohl eher der móglichen negativen Konnotation des Begriffes als Unverschámtheit geschuldet. Der zweite Beleg für Parrhesia ist die Benennung einer Triere mit diesem Namen; s. dazu S. 97 f. mit Anm. 355. M (1) Ein rhodisches Dekret für Chrysippos, der dafür gesorgt hatte, daß der Arzt Menophilos bestattet werden konnte (Peek [1969], 5-9 Nr. 2, Z. 14; vgl. Mygind [1999], 283 Nr. 125 [2. Jh.]); (2.) eine Ehrung aus dem Gebiet von Kallatis, die in ihrer Formulierung eine nahe
Parallele zum Dekret für Prytanis aufweist (Z. 13-15): με[τὰ | παρ]ρησίας ἐχρημάτιξεν περὶ τῶν [τᾶς [πό]λιος δικαίων (SGDI 3089 = I.Kallatis 7; vgl. Jiredek [1886], 197-201 [wohl 3. oder 2. Jh.]); (3.) ein Ehrendekret aus Pergamon für einen Anonymus aus der Regierungszeit Atta-
los’ IL, in dem es um die Kommunikation zwischen Geehrtem und boule und ekklesia geht (OGIS 323, Z. 10 = AvPergamon VIII 1, 224, frg. A, Z. 10; bei dem Anonymus handelt es sich möglicherweise um den aus Pol. 32,16,2 u. App. Mithr. 4 f. bekannten Andronikos; s. U. Wilcken, RE I, 2, 1894, 2163, s. v. (16); Olshausen [1974], 247 Nr. 168; Canali de Rossi [1997], 534536 Nr. 580; Savalli-Lestrade [1996], 156-161 Nr. 53; s. dies. [1998], 336, zur Kommunikationssituation in der Polis); (4.) ein Ehrendekret aus Pergamon aus der Zeit bald nach 133, in dem
4. Der Peripatos
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damit der Mut des Gesandten Prytanis bei den Verhandlungen mit Antigonos Doson hervorgehoben und gelobt. Darüber hinaus ist dieser Aussage noch eine
besondere Bedeutung beizumessen, die in der Person des Prytanis begründet liegt und sich durch eine begriffsgeschichtliche Skizze des Konzeptes der parrhesia vor Augen führen láfit?? Ursprünglich aus einem politischen Kontext stammend,?? ist die parrhesia das Recht des Redens - die ἐξουσία τοῦ Aéyei?^^ -, ein Privileg der Freien.’* Wird sie bei Demosthenes mit der Wahrheit verbunden,” so findet sich bei Isokrates der erste Beleg für eine generelle Verknüpfung mit der moralischen Ebene. Für Aristoteles spielt die parrhesia eine wichtige das Auftreten des Menodoros, Sohn des Metrodoros, gegenüber dem Konsul M. Aquillius bei Verhandlungen folgendermaßen bezeichnet wird: [ὑπὲρ] τῆς πόλεως μετὰ παρρησίας (Wörrle [2000], 544, Z. 20; s. ebd., 572f., ad loc.); (5.) das (Claros 11, col. IV, Z. 10; s. dazu Robert - Robert eine Ehrung für L. Aufidius L. f. (E. Klebs, RE II, 2, [1999], 128 Nr. 11) aus Tenos (IG XII 5, 860, Z. 51 [1979], 148f., publiziert; die parrhesia in Z. 20 [1.
Ehrendekret für Polemaios aus Kolophon [a. O.], 44-46 [zwischen 130 u. 110]; (6.) 1896, 2291, s. v. [16]; PIR? A 1381; Mathieu - ein Doppel dieser Inschrift hat Étienne Jh.]); (7.) in einem Edikt des Prokonsuls
L. Memmius Rufus (PIR? VII 2, p. 121) aus Beroia bezüglich der Finanzierung des gymnasion (LBeroia 7, frg. b, Z. 4 [100-150 n.Chr.]); (8.) das Dekret Nr. 61 der sog. Opramoas-Inschrift
aus Rhodiapolis, in dem die parrhesia dem gesamten genos des Opramoas zugesprochen wird (TAM II 1-2, 905, col. XVIII A, Z. 6; s. auch Kokkinia [2000], 68 Nr. 61, Z. 6 [2. Jh. n.Chr.]); (9.) ein Merkgedicht eines Menippos mit Akrostichon über die Zahl der Monatstage aus dem kaiserzcitlichen Stratonikeia (L.Stratonikeia II 1, 1044, Z. 5 - SEGO 102/06/20, Z. 5; s. dazu Courtney [1990], 10); (10.) eine lakonische Ehreninschrift (IG V 1, 547, Z. 5 (3. Jh. n.Chr.]; s. Spawforth [1984], 272£.) für C. Pomponius Panthales Diogenes Aristeas (Bradford [1977], 331 £.); (11.) eine äußerst fragmentarische und gänzlich unbeachtete Inschrift aus Hephaistia auf Lem-
nos, in der der einzige - allerdings nicht näher bestimmbare - explizite Konnex zwischen Philosophie und parrhesia im gesamten Corpus der griechischen Inschriften vorliegt (IG XII 8, 39, Z. 2£): £v φιλοσοίφίᾳ - - ]| παρρησίᾳ - - - (3. Jh. n.Chr.). #2 Als Überblick s. Peterson (1929) und Foucault (2001), 11-24. Die Ausführungen von
Korhonen (1997), 53, zur parrhesia vermögen nicht durchgängig zu überzeugen. #9 Vgl. Raaflaub (1985), 277-283; Casevitz (1992) sowie auch Wróblewski (1990) und Wallace (1996). Zum Wortfeld parrhesia s. Scarpat (1964), 11-69. ?* So der platonische Sokrates im Gorgias (461e; vgl. dazu Monoson [2000], 161-165) und s. Sud., s. v. παρρησία; vgl. Peterson (1929), 284. 5 Eleutheria und parrhesia verband schon Demokrit (B 226 DK = Stob. 3,13,47 Hense) miteinander - s. Momigliano (19712), 518. Deutlich wird diese Verbindung auch in einem Sopho-
kles zugeschriebenen Tragödienfragment (TrGF IV Sophocles inc. fab. **927a Radt = TGrF V Adespota 554 Nauck? = Stob. 3,13,16 Hense) und in der Schrift de exilio des Kynikers Teles (frg. 3, p. 276,1-3 Fuentes Gonzáles = Teles?, p. 23,4-7 Hense = Stob. 3,40,8, p. 739,18-740,3 Hense). ^5 So in seiner kategoria in Aristocratem (or. 23,204,2); zu Demosthenes und seiner Verwen-
dung des Begriffs parrhesia s. Carmignato (1998). * So in Isokrates’ ad Nicoclem (or. 2,3) - an dieser Stelle besteht auch die später häufige Verbindung zur philia; s. Peterson (1929), 284 f. Als Mißbrauch der isonomia findet sich die parrhesia im Areopagiticus des Isokrates (or. 7,20); Demosthenes äußert in seiner Dritten Philippika
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I. Athen
Rolle,#? und besonders in der hellenistischen Philosophie ist sie konzeptionell von eminenter Bedeutung??? In einer nicht mehr zu rekonstruierenden Entwicklung wird sie zu einer besonders dem Philosophen zugeordneten Eigenschaft, zu einem seiner essentiellen Wesensmerkmale, und ist zentraler Bestandteil seiner arete?* «Parrhesia diventó una virtü di filosofi.»^*! Daß dieses spezifische Auftreten in einer Ehreninschrift für einen Philosophen hervorgehoben wird, verdient vor dem dargelegten Bedeutungshintergrund der parrhesia Beachtung. Davon auszugehen, daß die athenische Öffentlichkeit eine Vorstellung davon besaß, daß die parrhesia in besonderer Weise mit dem Habitus des Philosophen assoziiert war, erscheint als eine plausible Annahme. Trifft diese Überlegung zu, ergäbe sich daraus, daß dieser Konnex nicht allein als Element des literarischen Diskurses über das Auftreten von Philosophen anzusehen, sondern auch dem Fundus óffentlicher Vorstellungen über die Figur des Philosophen in Athen zuzurechnen wäre. Folgt man dieser Interpretation, so ist neben dem Geehrten und den Ehrenden auch derjenige in den Blick zu nehmen, demgegenüber Prytanis die Interessen Athens mit parrhesia vertrat, nämlich Antigonos Doson. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß bei einer Gesandtschaft - und besonders im Kontext der problematischen Situation Athens gegenüber dem antigonidischen Herrscher im Jahre 229 - sowohl seitens der «Partei», von der die Gesandtschaft ausging, als (or. 9,3), daß die parrhesia, das Privileg der politai, durch Sklaven zur Unverschämtheit degeneriere - ihr eignet also in spezifischen Kontexten ein ambivalenter Charakter. Im Sinne von Unverschämtheit wird parrhesia in Men. Epitr. 1101 Martina (s. Martina [2000], 5674.) verwendet; s. auch Theophr. char. 28,6,27 - 30.
^5 Er kennt sie als «freies Reden» vor dem Tyrannen (Ath. pol. 16,6,9; pol. 1313b11-16). Ein wichtiges Element ist die parrhesia in der aristotelischen philia-Konzeption (eth. Nic. 1165a29 f.) - vgl. Cooper (1977) und Konstan (1997), 67-78; sie ist auch eine charakterliche
Eigenschaft des megalopsychos (eth. Nic. 1124b17-31). Allgemein zur parrhesia bei Aristoteles s. Mulhern (2004). *9 Vgl. Peterson (1929), 286 f. Daneben existierte die parrhesia auch in hellenistischer Zeit
als Konzept in politicis; prágnant ist in dieser Hinsicht Polybios' Lobpreis des achaiischen Koinon (2,38,6; s. dazu Walbank [1957], 221 f.): ἰσηγορίας καὶ παρρησίας xai καθόλου δημοκρατίας ἀληθινῆς σύστημα καὶ προαίρεσιν εἰλικρινεστέραν οὐκ ἂν εὕροι τις τῆς παρὰ τοῖς
Ἀχαιοῖς ὑπαρχούσης. -- Eine reinere, von echterem Gemeinschaftssinn getragene Form der Gleichberechtigung, der Meinungsfreiheit, kurz, einer wahren Demokratie wird man nicht leicht finden, als sie bei den Achaiern besteht. (Übers.: H. Drexler). 3 Prágnant hat dies Philodem in seiner Schrift de libertate dicendi formuliert (parrh. frg. 1,
Z. 5-7 Olivieri): καθόλου τ᾽ ἐπιπαρρησιάζεται | σοφὸς kal φιλόσοφος ἀνήρ, (...). - Überhaupt, ein Weiser und Philosoph spricht mit parrhesia (...). Zu diesem Werk Philodems s. Gigante (1972) u. (1983a); Glad (1996) sowie Konstan et al. (1998), 1-24. Zur parrhesia als Ele-
ment persónlicher arete vgl. Momigliano (1973), 260. Zahlreiche Belege für die parrhesia von Philosophen finden sich bei Diogenes Laertios; vgl. Janátck (1992), 199f. ** Momigliano (1971a), 520 f.
4. Der Peripatos
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auch seitens der Gesandten selbst auf den Erwartungshorizont des Adressaten Rücksicht genommen wurde. Daher muf bei allen beteiligten Seiten in Bezug auf die parrhesia und diejenigen, die sie praktizieren durften, eine gemeinsame Vorstellung existiert haben??? Das Auftreten eines Philosophen mit parrhesia gegenüber einem Herrscher stellte in hellenistischer Zeit den zentralen Parameter für die Konzeptionalisierung des Monarchen dar; die Frage lautete: «Wie hält es der Herrscher mit der parrhesia und demjenigen, der sie praktiziert?»? Akzeptierte er ein derartiges Auftreten des Philosophen nicht, reagierte er vielmehr mit Zorn darauf und unterwarf den Philosophen schlimmstenfalls gar der Folter, so war
dieser Kónig in den Augen seiner Zeitgenossen gerichtet: Er war Tyrann, nicht basileus** - vor der griechischen Polis-Öffentlichkeit aber mit der Imago des Tyrannen behaftet zu sein, stellte für hellenistische Kónige eine der schlimmsten nur denkbaren Stigmatisierungen dar. Vor diesem Hintergrund kann man -
treibt man die Interpretation noch einen Schritt weiter - in der Erwáhnung der parrhesia sogar eine doppelte Aussage sehen: Die Erwáhnung der freien Rede des Peripatetikers Prytanis vor Antigonos Doson stellt nicht allein ein Element der Belobigung des Philosophen dar, sondern es wird indirekt ein Lob des makedonischen Kónigs formuliert: Antigonos verhielt sich wie ein basileus, da Prytanis
vor ihm die parrhesia praktizieren konnte. Zugleich betont die parrhesia vor dem Hintergrund der Rückbesinnung auf die demokratischen Traditionen in der Zeit nach 229 eine derjenigen Tugenden, die als wesentliches Element der Demokratie galten.^55
552 Ein instruktives Beispiel für eine Person, die die parrhesia nicht zu ihrem eigenen Wohl pflegte, ist der Dichter Theokrit von Chios; s. Teodorsson (1990), Franco (1991), 456f., und Weber (1998-1999), 158-162.
35 Die Aussage von Korhonen (1997), 54, daß mit der Hervorhebung der parrhesia nicht das Paar «Philosoph - König», sondern vielmehr «Philosoph - «common people» im Vordergrund stehe, trifft nicht zu. ** Vgl. dazu Haake (2003), 90 mit Anm. 93-95.
55 Welche Bedeutung der parrhesia in Athen als einem zentralen Wert der Demokratie zugemessen wurde, zeigt ein gut hundert Jahre älteres Zeugnis. In einer Trierarchenliste aus der Zeit zwischen 336/5 und 331/0 ist eine Triere mit dem Namen Parrhesia bezeugt: IG IP? 1624, col. b, Z. 81. Diese politische Manifestation einer Schiffsbenennung hat bislang kaum Berücksichtigung gefunden. Zu IG II? 1624 s. Fränkel (1923), 3-13, sowie Gabrielsen (1991), 74, u. (1994),
228, - allerdings wird auf die Schiffsnamen nicht eingegangen; s. aber Schmidt (1931), 61 f. Zwar eignet unzweifelhaft vielen athenischen Schiffsnamen eine hohe Semantik, jedoch sind Belege für derart explizit politisch-programmatische Benennungen selten; vgl. die Auflistung von Jordan (1975), 277 - s. z.B. Demokratia und Eleutheria in IG Il? 1611, col. b, Z. 86f. Den
Schiffsnamen Parrhesia in Verbindung mit Jahren nach der Schlacht von Chaironeia zu ser Stimmungslage sind das gegen Tyrannis dem Frühjahr 336 und die Schaffung cines
der innenpolitischen Stimmung in Athen in den sehen, ist evident: Prominenteste Indikatoren dieund Oligarchie gerichtete Gesetz des Eukrates aus Kultes der Demokratia. Zum Gesetz des Eukrates
Bayerische Staatsbibllothek München
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Il. Athen
Die Polis Athen entsandte in der außenpolitisch schwierigen Situation nach 229 den Philosophen Prytanis von Karystos an den makedonischen Kónigshof. Die Inschrift für den Peripatetiker ist ein Zeugnis für die Verwendung von Philosophen als Gesandte durch die Polis Athen. Daß es sich bei Prytanis um einen Philosophen handelt, wird im psephisma an keiner Stelle explizit thematisiert. Dennoch operiert der Text mit dem epigraphisch nur äußerst selten bezeugten Begriff parrhesia, der in hellenistischer Zeit mit dem Philosophen in enger Verbindung steht. Zwischen dem peripatetischen Philosophen und der Polis Athen wird eine besondere «Nahbeziehung: zum Ausdruck gebracht: Dies manifestiert Sich in der Einladung zur Speisung ins prytaneion und der Formulierung ὡς ἂν ὑπὲρ ἰδίας πατρίδος.
Prytanis sollte sich noch ein weiteres Mal um Athen verdient machen: Ein seit seiner Publikation in die Zeit nach 336/5 datiertes Inschriftenfragment hat Tracy dem «cutter of IG II? 1706» zugewiesen, der zwischen 229 und ca. 203 nachweisbar ist.’ Das Fragment besteht aus einer dreizeiligen Inschrift, die von einem Kranz umrahmt wird und besagt, daß boule und demos Prytanis ehrten (IG IP 443: Ἡ βουλὴ | ὁ δῆμος | IIpóraviv). Über den Anlaß für diese Ehrung des Prytanis láfit sich wegen des Erhaltungszustands der Inschrift nichts sagen; auch eine genauere Datierung ist nicht möglich. Sicher ist hingegen, daß es sich nicht um eine Kopie der Ehrung aus dem Jahr 226/5 handeln kann, weil in Agora XVI 224 nichts von einer zweifachen Publikation verlautet.? Da in diesem Dekret allein von früheren lobenden Erwähnungen des Prytanis durch die strategoi die Rede ist (Z. 12f.), ist das durch IG IP 443 bezeugte psephisma nicht vor 226/5 anzusetzen, da eine frühere Kranzverleihung neben der Belobigung durch die strategoi erwähnt worden wáre.** Ist der terminus post quem für Prytanis’ zweite Ehrung also exakt zu bestimmen, so ist der terminus ante quem nicht mit Sicherheit zu benennen, sondern kann nur mit dem gegenwärtig etablierten Ende der Tätigkeit des «cutter of IG II? 1706 circa 203 angegeben werden.?”
s. oben $. 63 mit Anm. 219. Zur Einrichtung eines Kultes für die Demokratia s. Raubitschek (1962), Faraguna (1992), 273f., und Habicht (1997a), 13; s. Palagia (1982), bes. 111-113, zu
einer Kolossalstatue der Demokratia auf der Agora. Zur Verbreitung des Eigennamens Demokratia in Athen s. LGPN Il, s. νι; zur Demokratia als Personifikation vgl. Stafford (2000), 15, 27, 173, 177, 219 u. 229. 55 Tracy (1990b), 52f. (mit pl. 5f.). Es handelt sich um denselben «cutter, der auch das
Ehrendekret Agora XVI 224 zu Stein brachte. In der Forschungsliteratur zu Prytanis hat diese Erkenntnis bislang keinen Niederschlag gefunden; s. allein Osborne - Byrne (1996), Nr. 2750. 37 Vgl. Tracy (1990b), 52f., sowie Woodhead in Agora XVI, p. 324. IG II? 443 ist auch kein Fragment von Agora XVI 224, da diese Inschrift samt Kranz erhalten ist. #8 Vgl. z.B. IG I? 781, Z. 12f. 35 S. Tracy (1990b), 44-54.
5. Die Akademie
99
Wahrend des letzten Drittels des dritten Jahrhunderts wurde Prytanis ausweis-
lich zweier epigraphischer Zeugnisse zweimal mit einem Kranz geehrt, nachdem er bereits zuvor lobende Erwähnung durch die strategoi gefunden hatte. Der Peripatetiker muß in Athen eine angesehene Stellung eingenommen haben, die sich
nach der Aussage von Agora XVI 224 in politischem Handeln manifestierte. Jenseits von Athen besaß er am makedonischen
Königshof bei Antigonos Doson
eine wichtige Position, die die Vermutung berechtigt erscheinen läßt, ihn vielleicht zu den philoi dieses Königs zu rechnen.
5. DIE AKADEMIE
a) Ein Anonymus aus Pergamon und der Scholarch Euandros von Phokaia Das früheste epigraphische Zeugnis, das mit einem akademischen Philosophen in Verbindung steht, stammt aus dem Jahr 193/2:?°! (..[..) ἐπειδὴ]
E c. 16..... c οἰκείαν ἔχων διὰ προγόνων τὴν [πρὸς τὸν) 8 [δῆμον εὔνοιαν κα]ὶ παραγενόμενος θεωρὸς εἰς τὰ [Παναθήναια] [ἐπεδήμησεν χρόνον πλ]είω, τῆς κατὰ φιλοσοφίαν παιδείας [ἐχόμενος] [ὡς τοῦ πρὸ πάντων ἀρί]στου ἐπιτηδεύματος, καὶ ψη[φισαμένου τοῦ δή][pov πάντας φυλάττειν τ]ό τε ἄστυ καὶ τὸμ Πειραιᾶ καὶ [τὰ φρούρια προ]12 [θύμως συνήργει... c. 6 .. μ]ενος τὴν σωτηρίαν τῶν o ....... c.12....... [..... c. 10..... Kal οὐ uóv]ov τῶν Εὐάνδρου oyoAao[tóàv .... c. 11....]
** Allerdings ist kein philos von Antigonos Doson namentlich bekannt; s. Le Bohec (1985), 103.
351 IG IT? 886, Z. 6-17. Die von Kirchner vorgeschlagene Datierung in den Zeitraum 200-
197 ist zu korrigieren. Durch einen epigraphischen Neufund ist der Name des grammateus in Z. 2 vollständig bekannt: Es handelt sich um Menemachos, Sohn des Menestratos, aus Lamptrai (Stamires [1957], 31 £. Nr. 4, Z. 1 £). Durch dieses Dekret ist auch klar, wer in diesem Jahr eponymer Archon war: nämlich Phanarchides. Somit kann die Inschrift in das Jahr 193/2
datiert werden; s. Meritt (1977), 180. IG II? 886, Ζ, 1f. ist also folgendermaßen zu ergänzen: [ἐπὶ Φαναρχίδον ἄρχ]οντος ἐπὶ τῆς Ἱπποθωντίδος Eß[ööung npvral|[veias, εἶ Μενέμαχο]ς Meveστράτου Λαμπτρεὺς ἐγρα[μμάτευεν]. Zu Beginn von Z. 9 ist statt der von Kirchner vorgeschla-
genen Ergänzung ({παρεδήμησεν ἐπὶ ? πλ]είω) mit Tod (1957), 137 Anm. 91, eher [ἔτη πλ]είω oder - wahrscheinlicher - [éreórjunoev χρόνον πλ]είω anzunehmen; vgl. Tracy - Habicht
(1991), 234 mit Anm. 188. In Z. 15 ist eher ἐσπούδασεν statt ἔπραξεν zu ergänzen. Ich danke Chr. Habicht für diesen Hinweis (briefl. Mitteilung, 15.3.2004); als Parallele sei auf eine Stelle
im Kallias-Dekret verwiesen: Shear (1978), 4, Z. 68. Hypothetische, von Kirchner nicht akzeptierte Ergänzungen hat Crönert (1906), 78 f., vorgelegt.
100
II. Athen
..... c.10..... drrootp£yalc Te eig τὴν ἰδίαν καὶ napaylevönevog . . .] [. . ἐσπούδασεν ὅπως ἐπαύξηι ὁ β]ασιλεὺς Ἄτταλος ἣν ἐκ ν[έου ἔχει πρὸς]
16 [τὸν δῆμον εὔνοιαν καὶ κατ᾽ ἰδ]ίαμ Bo... εἶναι χρήσιμ[ος-- -- - - - ] -----2---22-------- IL...c.9... v τῶν ἀλόϊντων - - -] ... Weil ... er Wohlwollen gegenüber dem Volk durch die Vorfahren zu eigen hat, und er als Festgesandter zu den Panathenáen kam, für längere Zeit (in der Stadt) ver-
blieb, wobei er sich an die philosophische Bildung als die vor allen beste Lebensart hielt; und als das Volk beschlossen hatte, daß alle die Stadt und den Peiraieus und die Festungen schützen sollen, hat er eifrig mitgeholfen ... die Rettung der ... und nicht nur der Schüler des Euandros ... als er in die Heimat zurückkehrte und als er kam ... bemühte er sich, daß König Attalos das Wohlwollen vergrößere, das er gegenüber dem Volk seit kurzem besitzt, und privat ... nützlich ... der Gefangenen ... Auf Grund des fragmentarischen Erhaltungszustandes der Inschrift ist die geehrte Person ein Anonymus, über den dennoch aus der Begründung einiges zu erfahren ist: Der Geehrte besaß durch seine progonoi gegenüber dem athenischen demos ein Verhältnis der eunoia (Z. 7 f.).* Als theoros seiner patris kam er, akzeptiert man die Ergänzung in Z. 8,9 zu den Panathenäen.’* Allgemein wird davon ausgegangen, daß der Geehrte Pergamener war. Nach dem Ende des Festes kehrte der Anonymus nicht in seine Heimat zurück, sondern entschloß sich, für einen längeren Zeitraum in Athen zu bleiben, um sich einer spezifischen - nàmlich der philosophischen - paideia zu widmen; diese wird als die beste
*? Vgl. Habicht (1990), 564. *? Daß es sich um die Panathenäen handelte, ist plausibel; belegt sind theoroi bei den Panathenáen aus Priene (I.Priene 45), Kolophon (Wilhelm [1939], 349) und Milet (s. Günther [1992], 137 u. 141, und Habicht [1991a], 329). Wenn der Anonymus aus Pergamon stammen sollte - für diese Polis sind seit der ersten Hälfte des 3. Jh.s Panathenäen bezeugt (Ohlemutz [1940], 25; Tracy - Habicht [1991], 234) -, müßte dieser Beleg der Liste der theoroi bei den Panathenäen hinzugefügt werden. Andere Feste, zu denen theoroi nach Athen entsandt wurden, sind die Eleusinischen Mysterien (IG IT? 992; s. Habicht [1991a], 325-328) und die Ptolemaia (s. Meritt [1944], 249-254 Nr. 10). ** Der Anonymus kam nicht als Festbesucher - so Sonnabend (1996), 286 -, sondern als
theoros seiner Heimatpolis zu den Panathenäen. Er mußte also ein gewisses (allerdings nicht angebbares) Alter erreicht haben, um diese Aufgabe, bei der es sich in Pergamon um ein Amt handelte (s. Robert [1927] und Bultrighini [1980], 1401), übernehmen zu können. 365 So bereits Köhler (IG II 1, p. 385 ad IG II 385); vgl. auch Kirchner (IG II/IIP 1, 366 ad IG? 886); Crónert (1906), 79; Sonnabend (1996), 286, und Thrams (2001), 274. Habicht (1990), 564, spricht von «one of his (i.e. Eumenes II.) father's (i.e. Attalos I.) subjects». Zu Recht setzt
Savalli-Lestrade (1998), 126f. *Nr. 6, ein Fragezeichen hinter die Bezeichnung des Geehrten als Pergamener, zugleich kennzeichnet sie den Anonymus berechtigterweise als möglichen, nicht aber gesicherten philos Attalos’ I. Die Verbindung mit Pergamon basiert auf der Nennung des Königs Attalos 1. (Z. 15f.).
5. Die Akademie
101
Lebensart bezeichnet (Z. 9f.). Anders gesprochen: Der Anonymus bemühte sich in Athen um seine philosophische Bildung und verkehrte mit Philosophen. Die Kombination dieser Aussage mit der Erwáhnung der Schüler des Euandros (Z. 13), bei dem es sich mit Sicherheit um den akademischen Scholarchen aus Pho-
kaia handelt, läßt es plausibel erscheinen, daß der Anonymus Euandros’ Hörer war. * Ob er ausschließlich den Akademiker hörte oder auch andere Philosophen, ist nicht zu entscheiden. Außer Zweifel steht, daß eine besondere, aber nicht näher bestimmbare Beziehung des Anonymus zu Euandros bestand. Eine explizite Nennung der Akademie erfolgt nicht, allein die Nennung des Namens des Scholarchen gibt einen Hinweis auf die Philosophenschule. In Z. 10 wird ein im Kontext der Erziehung sehr signifikantes Wort verwendet, dessen ältester Beleg im epigraphischen Corpus Athens hier vorliegt: erıtnöevna.’ Besonders hervorzuheben ist die Bezeichnung der philosophischen paideia als der besten Lebensweise. Ist diese Aussage aus der Perspektive philosophischer Literatur keineswegs überraschend, so verhält es sich hinsichtlich des öffentlichen Redens in hellenistischen Poleis anders: Die unmittelbare Verbindung von Philosophie oder allgemeiner paideia und Lebensführung tritt in epigraphischen Zeugnissen nur sehr vereinzelt auf.’* Im Anschluf geht es um die Partizipation des Geehrten am (im weitesten Sinne) politischen Leben der Polis Athen: Er beteiligte sich an einer Verteidigung der Stadt (Z. 10-12), bei der es sich wahrscheinlich um diejenige gegen die Makedonen im Jahre 200 zu Beginn des Zweiten Makedonischen Krieges handelte.?9 Die Zeilen 13-19 des Dekrets sind derart zerstört, daß sich nur punktuell Aussagen über den Inhalt treffen lassen. In Z. 13 werden die bereits erwáhnten scholastai des Euandros genannt. Allerdings läßt sich nicht feststellen, aus welchem Grund sie Erwähnung finden und welcher Bezug zwischen dem Anonymus und diesem Zirkel bestand, der über eine Hörerschaft des Anonymus hinausging.” Mit dem Zweiten Makedonischen Krieg steht wahrscheinlich ein weite-
366 So auch Habicht (1994), 241. Zu Euandros s. H.v. Arnim, RE VI, 1, 1907, 842, s. v. (8), und T. Dorandi, DPhA III, 2000, s. v. (E 65). Nach Diogenes Laertios (4,60) stammte er aus Phokaia
und war als Scholarch (loc. cit.; Numen. frg. 26,99-102 des Places) Nachfolger des Lakydes, als dessen Schüler ihn Cicero (ac. 2,6) bezeichnet; vgl. Mette (1985), 52 (Telekles von Phokis T 1-3).
Zu einem bei Diogenes Laertios erwáhnten gemeinsamen Scholarchat mit Telekles s. unten S. 104. 557 Erst in den Ephebendekreten des 1. Jh.s findet ἐπιτήδευμα verstärkt Verwendung: IG IP 1039, Z, 16, 61 u. 67; 1040, Z. 36 u. 45; 1041, Z. 25, 28 u. 36; 1042, frg. a-b, Z. 18, frg. d, Z. 7 u. 18 sowie 1043, Z. 19 u. 60. Zur Bedeutung des Wortes ἐπιτήδευμα s. LSJ^, s. v.
** Vgl. unten S. 103f. ** So überzeugend Habicht (1982b), 129 mit Anm. 50, u. (1990), 564.
?? Da die Erwähnung der scholastai des Euandros innerhalb der Begründung der Ehrung erfolgt und auch die Struktur des Textes in diese Richtung zu weisen scheint, spricht einiges für die Überlegung, daß der Anonymus etwas im Zusammenhang mit den scholastai tat.
102
UI. Athen
res Verdienst des Anonymus in Verbindung, um das es in den letzten erhaltenen Zeilen geht (Z. 14-17): Er kehrte in seine Heimat zurück und erwies dem athe-
nischen demos ein weiteres Mal seine eunoia, indem er dafür sorgte, daß Attalos I. den Athenern gefällig war.’”' Dabei ging es dem Anschein nach um athenische Kriegsgefangene."? Eine genauere Aussage über die Stellung des Anonymus in den athenisch-attalidischen Beziehungen ist mangels weiterer Quellen nicht zu treffen.” Daß der Anonymus der Oberschicht seiner patris entstammte, ergibt sich nicht allein aus der Tatsache, daß er für die Teilnahme an einer theoria geeignet erschien; auch die Angabe, daß seine progonoi sich bereits Verdienste um den athenischen demos erworben hatten, weist in diese Richtung. Zudem mußte der Anonymus über die notwendigen finanziellen Ressourcen verfügen, um sich nach der theoria einen Studienaufenthalt in Athen leisten zu können. Auch der Umstand, daß er sich in Pergamon bei Attalos für athenische Kriegsgefangene einzusetzen vermochte, macht deutlich, daß der Geehrte einer einflußreichen Familie entstammen mußte, die wahrscheinlich in der attalidischen Hauptstadt beheimatet war. Daß sich der Anonymus als Abkömmling der Oberschicht einer hellenistischen Polis in jüngeren Jahren philosophischen Studien widmete, überrascht nicht. Über sein weiteres Leben läßt sich allerdings weder mit Sicherheit sagen, daß er nach seinen Studien das Leben eines städtischen Honoratioren mit allen dazugehörigen Aufgaben führte, noch, daß sein weiterer Lebensweg der Philosophie verschrieben war."* Die Überlegung, im Anonymus einen Philosophen zu sehen, geht einher mit der These, ihn mit Hegesinos von Pergamon, dem Nachfolger des Euandros als akademischer Scholarch, zu identifizieren.?5 Diese Hypothese ist zwar verlok?! Vgl. auch IG IP? 894 für weitere Wohltaten Attalos' I. gegenüber den Athenern sowie Attalos’ Ehren in IG IT? 885; s. Habicht (1990), 567.
?? Vgl. Habicht (1990), 564. Nicht zu klären ist, um was für Kriegsgefangene es sich handelte, um die sich der Anonymus bei Attalos verwandte, da Athen und Pergamon im Zweiten
Makedonischen Krieg auf der gleichen Seite kämpften. ?? Zu den Kontakten zwischen Athen und den Attaliden im Rahmen des Zweiten Makedonischen Krieges s. Mc Shane (1964), 122-128; vgl. auch Hansen (1971), 57-69, sowie Habicht (1990), 563f. u. 567.
? Seine Verbindungen zur Philosophie und insbesondere zur Akademie waren bei diesem Unterfangen sicherlich zweckdienlich: Attalos I. hatte dem Vorgánger des Euandros im Scholarchat, Lakydes, einen Garten gestiftet; s. Diog. Laert. 4,60; vgl. Schaaf (1992), 112-120; zu Lakydes s. Dorandi (1991), 7-10, u. ders., DPhA IV, 2005, 74f., s. v. (L 11). "5 Davon scheint Crönert (1906), 79, auszugehen; Sonnabend (1996), 287, schreibt, er sei
ein «ausgebildeter Philosoph» gewesen. 36 Vgl. Köhler in seinem Kommentar zu IG II 385; Crónert (1906), 79, und Habicht (1990), 564. Zu Hegesinos s. H.v. Arnim, RE VII, 2, 1912, 2610, s. ν; Görler (1994), 834-836, und T. Dorandi, DPhA III, 2000, 529 f., s. v. (H 21).
5. Die Akademie
103
kend, allerdings nicht zu erhárten. Sie basiert auf der Vorstellung einer engen
Verflechtung von Philosophie und Politik: Weil sich die Attaliden seit dem ausgehenden dritten Jahrhundert verstärkt um Athen bemühten,?” wurde hinter dem
Umstand, daß mit Euandros, Telekles und Hegesinos drei aufeinanderfolgende Scholarchen der Akademie aus dem attalidischen Machtbereich stammten (nàmlich Phokaia und Pergamon), eine Koinzidenz zwischen außenpolitischer Ent-
wicklung und innerakademischer Schulgeschichte suggeriert.? Daß sich aber die Auswahl der Scholarchen in irgendeiner Weise mit ihrer Herkunft aus einer politischen Einflußsphäre erklären ließe, ist nicht einmal in Ansätzen zu beweisen. Zum einen ist nichts bekannt, was darauf hinweisen würde, daß die Wahl eines Scholarchen in einer der Philosophenschulen seitens der Athener beein-
flußt und von deren politischen Interessen geleitet worden wäre; zum anderen deutet auch nichts darauf hin, daß den Philosophenschulen jeweils eine einheitliche politische (Grund-)Ausrichtung eignete, den Akademikern also in dieser Zeit eine philoattalidische. Die besondere Bedeutung von IG IT? 886 liegt darin, daß es sich hierbei um das erste bekannte epigraphische Zeugnis aus Athen handelt, in dem die Philosophie explizit erwähnt und zudem eindeutig positiv bewertet wird. Warum der athenische demos in diesem Ehrendekret hervorhob, daß der Anonymus im Anschluß an eine theoria beschloß, in Athen zu verweilen und sich dabei an die philosophische Lebensart zu halten,” hängt mit der grundsätzlichen Entwicklung hellenistischer Ehrendekrete zusammen.” Wichtig ist, daß dem Philosophiestudium des Anonymus keine kausale Rolle für sein soziales Handeln zugesprochen wurde; vielmehr wurde sein Agieren mit der Logik der Handlungsmuster eines Angehörigen der Polis-Oberschicht in hellenistischer Zeit erklärt, wird doch an prominenter Position darauf verwiesen, daß er wegen seiner progonoi eunoia gegenüber dem athenischen demos besäße. Der durch sein Studium der Philosophie bedingte Aufenthalt in Athen erneuerte die «Beziehungen», die zwischen ?? Vgl. Habicht (1990), bes. 575 f. ?? So z.B. Crónert (1906), 79. ?* Die Überlegungen von Rutherford (2000), 141, u. (2001), 47f., zu dieser Inschrift vor
dem Hintergrund seiner These einer Verbindung von religióser theoria, die er als Pilgertum im Sinne eines Rituals auffaßt, und philosophischer theoria, die seiner Ansicht nach von antiken Philosophen als Pilgertum dargestellt werden konnte, vermögen nicht zu überzeugen ([2000], 133-142 u. 144-146): Er hält im Falle des Anonymus die theoria «in the ritual sense» für «a frame for θεωρία in the philosophical sense». Die theoria des Anonymus ist - auch wenn er sich mit Philosophie beschäftigte - in keiner Weise mit philosophischen Ideen in Verbindung
zu setzen, sondern allein mit der ihm von seiner patris übertragenen Aufgabe. Dies gilt auch, wenn sich der Anonymos freiwillig für die theoria zur Verfügung gestellt haben sollte. 39 Vgl. zu diesem Aspekt unten S. 281.
104
II. Athen
Athen und der Familie des Anonymus bereits bestanden.?*' Die Athener brachten mit der Aussage, daf der Anonymus in Athen blieb, weil er eine philosophische paideia erhalten wollte, außerdem zum Ausdruck, daß ein Bezug zwischen Athen und der Philosophie bestand: IG II? 886 ist das früheste Zeugnis dafür, daß diese Verbindung für die Konstruktion des athenischen Selbstbildnisses im óffentlichen Diskurs relevant und einsetzbar wurde. b) Das Grabepigramm für den akademischen Scholarchen Telekles Über den aus Phokaia stammenden akademischen Scholarchen Telekles ist nur äußerst wenig bekannt. Einer Notiz bei Diogenes Laertios zufolge soll er gemeinsam mit Euandros die Nachfolge des Scholarchen Lakydes, der 207/6 starb, angetreten und quasi eine Dyarchie im Scholarchat gebildet haben??? Dem Anschein nach ist er vor Euandros verstorben, da es bei Diogenes Laertios explizit heißt, daß Hegesinos von Pergamon letzterem als Oberhaupt der Akademie nachgefolgt sei. Telekles starb im Jahre des Archon Nikosthenes, also 167/629 Neben diesen
wenigen literarischen Zeugnissen ist das Grabepigramm für Telekles bekannt.?*' In der Forschung ist dieses Zeugnis stark vernachlássigt und stets allein unter dem Gesichtspunkt seiner Aussagekraft für die Frage nach Telekles' Scholarchat behandelt worden.?* Dabei bietet diese Grabinschrift wichtige und für Athen nahezu singuläre Hinweise zur Darstellung eines Philosophen im funeralen Kontext:?* ——
-
ΒΙΟ
——
C
-͵οὐ
τοῦ
-«- Al σοφίης πείρατ᾽ ἐφιέ[μ]ενοι" [ἐκ δ᾽ Ἀκα]δημείης, Τηλέκλεες, οὐκ ἀβόητο[ν]
3! Vgl. Habicht (1990), 564. - Sonnabend (1996), 286-288, hingegen macht die Philosophie nahezu exklusiv zur Grundlage der Beziehungen zwischen Athen und dem Anonymus. *? Diog. Laert. 4,60 = Lakydes T la Mette; vgl. Górler (1994), 834-836, sowie bereits W. Capelle, RE V A 1, 1934, 324, s. v. (2). Zu Lakydes’ Todesdatum s. Dorandi (1991d), 9f., u. (1999b), 32, sowie Görler (1994), 831.
*? Vgl. Philod. hist. Acad. col. XXVIII, Z. 9 f. Dorandi = FGrHist 244 F 47,31; zur Datierung des Archontats des Nikosthenes s. Meritt (1977), 182, und Dorandi (1990b), 134 Nr. 51. 3* [G IT? 12764 = Kaibel, EG 40 mit p. 518 (Addendum) = GVI 1550. 355 So z.B. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 286 f.
** Der Text folgt IG II? 12764. Kaibel hat nach GVI 1550 für den Beginn von Z. 2 folgende Ergánzung vorgeschlagen, worin ihm auch Mette (Telekles von Phokis T 4 Mette) folgte: [Μούσης κ]αὶ σοφίης πείρατα ἐφιέ[ίμ]ενοι. Auf der inhaltlichen Ebene sind gegen diese Ergànzung keine zwingenden Argumente vorzubringen, allerdings gibt es genausowenig positive Anhaltspunkte, die für sie spráchen. Jedenfalls wäre die Kombination von Μούση und σοφία
in der Epigrammdichtung äußerst ungewöhnlich; vgl. IG XIV 793, Z. 5.
5. Die Akademie
4
105
ἰσὸν κλέος] ἰφθίμοις ἔπλετο Κεκροπίδαι[ς] -
[καὶ νῦν τῆιδ]ἐέ σε κοῦρος ὑπὸ χθονὶ θῆκε Σέλευκος [ἰδακρυχέων, ἐσθλ]ὴν δ᾽ ἐσθλὸς ἔτεισε χάριν. ... diejenigen, die nach den Gipfeln der Weisheit streben. Aus der Akademie, Telekles, ertönte nicht leise Dein Ruhm bei den trefflichen Kekropiden. Und nun legte dich hier der tränenvergießende Sohn Seleukos unter die Erde, trefflichen Dank stattete der Treffliche ab. Auftraggeber des Grabmonuments war Seleukos, der Sohn des Telekles, der anderweitig unbekannt ist" die Datierung des Epigramms ergibt sich aus Telekles’ Todesjahr (167/6). Ob der vollständige Name des Bestatteten im ver-
lorenen Beginn des Epigramms angegeben war, läßt sich nicht sagen. Hervorgehoben wird Telekles’ Zugehörigkeit zur Akademie, seine herausgehobene Position in dieser betont; sein Scholarchat wird zumindest im erhaltenen Text allerdings nicht explizit thematisiert. Der Bezugsrahmen für Telekles ist nicht allein die Schule Platons gewesen: Sein Ruhm sei aus der Akademie auch zu den Athenern gedrungen. Im Grabepigramm für Telekles war es also móglich, es für den intendierten Leser als plausibel darzustellen, daß der auf dem philosophischen Felde erworbene Ruhm des akademischen Scholarchen auch im Lárm der Polis deutlich vernehmbar gewesen sei.’ Der unbekannte Dichter - und damit auch sein Auftraggeber - trennt die Akademie und Athen, die trotz der ráumlichen Nähe zwei autonome kommunikative Entitáten darstellen. Eine spezifische wNahbeziehung» zwischen der Polis Athen und der Akademie respektive - allgemeiner - der Philosophie oder gar eine Identifizierung von Athen mit der Philosophie läßt sich im Epigramm nicht nachweisen; die Stadt des Kekrops bildet ein wichtiges, jedoch sekundäres Publikum für Telekles' Ruhm. Aus der expliziten Nennung der Akademie ist zu folgern, daß es für Telekles - beziehungsweise für ?? Daß der κοῦρος Seleukos Telekles Sohn ist, nahm auch Wilamowitz-Moellendorff (1881), 287 mit Anm. 21, an, dem Crónert (1906), 75, folgte. Mit Sicherheit ausschließen läßt sich aller-
dings nicht, daß κοῦρος einen Schüler des Telekles bezeichnen soll. 955 Zwar ist κλέος in Z. 4 vollständig ergänzt, doch ist diese Ergänzung auf Grund des erhaltenen Textes plausibel. Durch das anzunehmende laute Lesen des Epigramms durch den antiken Leser gewinnt diese Aussage noch nach dem Tode des Telekles eine fast wörtliche Erfüllung; zum lauten Lesen von Grabepigrammen und der Verbindung mit dem kleos-Gedanken s. Svenbro (1988) und Herrmann (1995). Der Ruhm des Toten stellt einen Topos in antiken Grabinschriften dar; vgl. Lattimore (1942), 285-290; Tod (1951), 184, und Pfohl (1954/55), 38. Grundsätzlich zum enkomiastischen Charakter von Grabinschriften s. Day (1989), 16-20, der
sich zwar auf die Archaik beschránkt, dessen allgemeine Überlegungen jedoch auch für andere Epochen Gültigkeit besitzen.
106
Il. Athen
den Sohn als Auftraggeber des Epigramms - von Bedeutung war, in der funeral-epigrammatischen Darstellung des Toten festzuhalten, daß der Verstorbene der Akademie angehörte und daß diese seinen primären sozialen Bezugsrahmen bildete. c) Karneades - erfolgreicher Gesandter und ausgewiesener Philosoph Im Jahre 155 reiste eine aufsehenerregende Gesandtschaft aus Athen nach Rom. Sie bestand aus den Scholarchen der Akademie, des Peripatos und der Stoa?*? Karneades von Kyrene, Kritolaos aus dem lykischen Phaselis und Diogenes von Babylon wurden von der Polis Athen nach Rom geschickt, um über den Fall Oropos zu verhandeln.?? Nun ist diese philosophische Trias zweifelsohne auf Grund ihrer Zusammensetzung aller Rede wert. Das dieser Gesandtschaft in der Forschung entgegengebrachte Interesse basiert in erster Linie auf den Auftritten des Karneades in Rom, der an zwei aufeinanderfolgenden Tagen einander widersprechende Vorträge über die Gerechtigkeit hielt.?! Dieser Auftritt des
389 Eine Zusammenstellung der Quellen bieten Garbarino (1973), I 80-86; Kienast (1973), 615, und Canali de Rossi (1997), 99-103 Nr. 136. Auf Grund der Neuedition von PHerc. 1021
durch Dorandi ist eine Stelle aus Philodems Historia Academicorum aus der Liste der Belege zu streichen, die wegen der Lesungen und Ergänzungen von Mekler stets als Zeugnis angeführt wurde: Philod. hist. Acad. col. XXII, Z. 21-35. Auffällig ist, daß Diogenes Laertios in seiner Biographie des Karneades (4,62-66) entgegen seinen sonstigen Interessen an der Involvierung von Philosophen in politische Geschehnisse nichts von der Gesandtschaft berichtet. - Die Ausführungen von Thrams (2001), 326-332, verbleiben bei einer Nacherzählung der Ereignisse; Drecoll (2004) vermag in seinen Darlegungen zur Karneadesgesandtschaft und ihren Auswirkungen in Rom nicht in jeder Hinsicht zu überzeugen.
3% Zu Karneades’ Herkunft und Patronymikon s. Diog. Laert. 4,62; der Vatersname wird sowohl mit Epikomos als auch - nach Alexander Polyhistor (FGrHist 273 F 90 = Diog. Laert. 4,62) - mit Philokomos angegeben. Philokomos ist wahrscheinlicher, da der Name in Kyrene häufig belegt ist (s. LGPN I, s. v. [2]-[21]; vgl. Marengo [1991], 332 £.); Epikomos hingegen ist
gänzlich unbezeugt - vgl. auch Crönert (1906), 96f. Das Patronymikon Philokomos fand sich auch auf einer heute verlorenen Bildnisherme, die einst allerdings ein «falscher Kopf zierte, nämlich Antisthenes (IG XIV 1170; Richter [1965], I 250 Nr. 9). Zu Karneades’ Biographie s. H.v. Arnim, RE X, 2, 1919, 1964-1985, hier 1964-1966, s. v. (1); T. Dorandi, DPhA II, 1994, 224-226, s. v. (C 42), und Görler (1994), 851-855; eine Sammlung aller Testimonia befindet
sich bei Karneades frg. 1-73 Wisniewski und Mette (1985), 55-71 (Karneades von Kyrene T 1-14). Über die soziale Herkunft des Karneades lassen sich wegen mangelnder Hinweise keine sicheren Aussagen treffen, jedoch ist eine gehobene Stellung der Familie in Kyrene in Anbetracht verschiedener Indizien, so seiner philosophischen Studien in der Jugend (Diog. Laert. 4,62), wahrscheinlich. - Zu Kritolaos ebenso wie zu einer für ihn in Olympia dedizierten Statue 8. S. 257-259. - Zu Diogenes s. C. Guérard, DPhA II, 1994, 807-810, s. ν (D 146). ?! Cic. rep. 3,9-31. Die Literatur zu diesem Thema ist Legion; vgl. Gotter (2003), 167-171.
5. Die Akademie
107
Karneades wurde vielfach als Skandal konzeptionalisiert;?? darüber ist aber die athenische Perspektive auf die Gesandtschaft und deren Ergebnis häufig vernachlässigt worden. Als die Athener im Jahre 155 die presbeia nach Rom entsandten, waren deren
Teilnehmer mit einer schweren Hypothek belastet, galt es doch eine Strafe von fünfhundert Talenten zu reduzieren. Deren Hintergrund stellten Streitigkeiten zwischen Athen und Oropos dar: Nach der Auflósung des boiotischen Koinon durch Rom während des Krieges gegen den makedonischen König Perseus im Jahre 171 war Oropos zwar eine nach außen hin unabhängige Polis, doch war diese Freiheit latent durch die größeren Nachbarn Theben, Eretria und Athen bedroht? Vor allem die Athener, die sich darauf berufen konnten, mehrfach
in der Vergangenheit im Besitz von Oropos gewesen zu sein,?! strebten danach, diese Polis erneut in ihr Territorium einzugliedern. Ähnliches war ihnen mit
Roms Unterstützung mit Delos, Lemnos, Imbros und Skyros nach dem Ende des Dritten Makedonischen Krieges gelungen.?? In Folge eines athenischen Einfalls in oropisches Territorium?” wandten sich dessen Bewohner um Hilfe an den Senat in Rom; dieser bestimmte Sikyon, Mitglied des Athen feindlich gesonnenen achaiischen Koinon, zum Schiedsrichter des Konflikts.” Nach längeren diplomatischen Auseinandersetzungen wurden die Athener zur Zahlung der immensen Summe von fünfhundert Talenten an Oropos verurteilt.’ In Reaktion auf dieses Urteil wandten sich die Athener nun ihrerseits an den römischen Senat, um
#2 So z.B. Bringmann (2003), 149. Es ist jedoch zu konstatieren, daß im Auftritt des Karneades niemand einen Skandal gesehen hat, auch nicht Cato; der vermeintliche Skandal ist ein Produkt der modernen Forschung. Zu Recht hat denn auch Gruen (1990), 176, formuliert:
«One often forgets that Cato did not, in fact, drive the philosophic embassy out of Rome indeed did not attempt to do so. It would have been futile. He endeavored only to hurry the decision of the senate on the envoy’s request, thus to leave them with no further pretext for remaining in Rome.» 53 Zur Auflösung des boiotischen Koinon vgl. Roesch (1982), 372-377; zur äußeren Bedrohung von Oropos s. Habicht (1997a), 264 f. #4 Vgl. Robert (1960e), 194-202, und Habicht (19972), 264.
55 Habicht (1997a), 264{; zum grundsätzlich positiven Verhältnis zwischen Athen und Rom im 2. Jh. s. Mattingly (1997), 140-144.
Die genauen Anlässe für diesen Vorgang sind unbekannt. Schon Cicero fragte Atticus, was die Hintergründe des Streits zwischen Athen und Oropos gewesen seien (Att. 12,25,2; 19. Márz 45).
3 Die wichtigsten Quellen für die im folgenden dargelegten Vorkommnisse sind Plut. Cat. Mai. 22,1, Paus. 7,11,4-8 u. Pol. 32,11,5-7 sowie ein in das Jahr 154 datierendes Ehrendekret
des demos der Oropier für den Achaier Hieron, Sohn des Telekles, aus Aigeira (Syll? 675 = LOropos 307); vgl. Lehmann (1967), 314-322, und Habicht (19972), 265 - für eine Auflistung sämtlicher Quellen s. Canali de Rossi (1997), 96. 55 Zur Höhe dieser Summe s. Habicht (19972), 265 mit Anm. 4.
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II. Athen
einen Erlaß oder aber doch zumindest eine deutliche Reduzierung der Strafe zu erreichen. Unter diesen Umständen ist es unzweifelhaft, daß die Athener bei der Zusammensetzung der presbeia besonders auf die Auswahl ihrer Gesandten achteten, um einen Erfolg in Rom zu erzielen? Obwohl in Rom kurze Zeit zuvor im Jahre 161 der Senat auf Antrag des praetor urbanus M. Pomponius hin beschlossen hatte, Philosophen und Rhetoren aus Rom auszuweisen,*? fiel die Wahl der Athener auf die drei Oberhäupter der großen philosophischen Schulen - ein Epikureer war nicht beteiligt. In Athen war man also der Auffassung, daß die drei Scholarchen seitens der rómischen Entscheidungstráger positiv aufgenommen würden*? und ihr Auftreten dem athenischen Anliegen Nutzen bráchte. Während Karneades, Kritolaos und Diogenes in Rom darauf warteten, daß vor dem Senat Athens Strafsumme verhandelt würde, taten sie in der Zwischenzeit genau das, was sie auch in Athen für gewöhnlich taten - sie hielten philosophische Vortráge.*? Vor allem Karneades brillierte mit seinen virtuosen Erórterungen und begeisterte das rómische Auditorium - vor allem die Jugend - mit
5? So auch Gruen (1990), 175, und Jehne (1999), 119. “0 Vgl. Suet. gramm. 25,1; s. auch Gell. 15,11,1. Zur Analyse und Interpretation dieser Vorkommnisse vgl. Gruen (1990), 171-174.
11 Warum der epikureische Scholarch - wer zu diesem Zeitpunkt dem Kepos vorstand, ist unbekannt - an der Gesandtschaft nicht beteiligt war, ist eine offene Frage: Ob der ataraxia gemäß der doxai Epikurs, ergo der Abstinenz vom öflentlichen Leben, dabei Bedeutung zukam, mag auf den ersten Blick als eine plausible Erklärung erscheinen; vgl. z.B. Garbarino (1973), I 378 mit Anm. 2, sowie Gemelli (1983), 283 - s. aber Ferrary (1988), 354 f., mit berechtigter Kri-
tik. Jene Position setzt nämlich voraus, daß man philosophischen Lehrmeinungen Handlungsrelevanz im sozialen Agieren zubilligt; verschiedene Beispiele zeigen allerdings, daß Epikureer durchaus in das öffentliche Handeln ihrer Poleis involviert waren - und hier gerade auch als Gesandte nach Rom geschickt wurden: so Apollophanes von Pergamon (s. S. 262-264) und Gaius Iulius Amynias aus Samos (s. S. 192 f.). Die Überlegung von Ferrary (1988), 356, dafi die Nichtbeteiligung des epikureischen Scholarchen seine Ursache in der Ausweisung der Epikureer Alkios und Philiskos aus Rom haben könnte (s. dazu S. 20 mit Anm. 31), setzt voraus, daß man mit Ferrary dieses Ereignis weder in das Jahr 173 noch in das Jahr 154 datiert (so die übliche chronologische Fixierung: s. Gruen [1990], 177), sondern in die Zeit kurz vor 155, námlich
157; allerdings sind Ferrarys Ausführungen hypothetisch. #2 Dies gilt umso mehr, als Karneades, Kritolaos und Diogenes sich zuvor in keiner Weise durch politisches Auftreten für ihre Aufgabe qualifiziert oder hervorgetan hatten (s. Cic. Tusc. 4,5) - positiv formuliert bedeutet dies, daß die Athener bewußt mit dem philosophischen
«Kapitab der drei Gesandten in Rom zu operieren gedachten. Cicero läßt in de oratore (2,155) zumindest den Dialogteilnehmer Catulus sagen, daß Roms principes die Auswahl der Athener goutiert hátten; vgl. Gruen (1990), 176. *? Vgl. Gell. 6,14,9 u. Plut. Cat. Mai. 22,1-3. Jeder der drei Scholarchen trug in einem bestimmten Stil vor; vgl. Gell. 6,14,10 = Pol. 33,2,10 = Rutil. Rufus frg. 3 Peter u. Macr. Sat. 1,5,15f. - zur Frage der Verwendung spezifischer rhetorischer Stile durch unterschiedliche «Schulen zwecks Distinktion s. Burke (1995).
5. Die Akademie
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einem dialektischen Feuerwerk:* Demonstrierte er an einem Tag noch überzeugend die Verteidigung der Gerechtigkeit, so tat er gleiches am darauffolgenden Tag mit der Ungerechtigkeit.‘ Auf die Interpretation dieser Reden ist viel Mühe verwandt worden, ohne daß die dabei erzielten Ergebnisse stets zu überzeugen vermógen. Man suchte die beiden Reden in eine kausale Verbindung mit der vermeintlich von Cato betriebenen Ausweisung der Philosophen zu bringen und verfiel der Idee, sie als Brandmarkung des rómischen Imperialismus aufzufassen. Jedoch ist es eine geradezu ungeheuerliche Vorstellung, daß Gesandte, die vor dem rómischen Senat für ihre Gastpolis eine Gunst zu erreichen suchten, in den Tagen vor der Verhandlung die res publica in öffentlichen Vorträgen vor einem römischen Publikum mit massiven Vorwürfen angegriffen hätten. Nur schwer ließe sich bei solch einem Auftreten der Erfolg der Gesandtschaft erklären." Aus diesem Grunde ist es auch abzulehnen, von einem Mißverstehen der
qualifizierten rómischen Zuhórerschaft auszugehen: Denn wenn das Publikum Karneades’ Ausführungen als Kritik an Rom aufgefaßt hätte, dann wäre unter diesen Vorzeichen der Erfolg der Gesandtschaft ebenfalls kaum zu erkláren. Genausowenig überzeugend sind Annahmen, Karneades habe eine hellenisierte Form einer römischen dmperialismustheorie» prásentiert** oder aber den athenischen Angriff auf Oropos vor einem großen römischen Publikum rechtfertigen wollen.*% All diese Interpretationen basieren auf der Annahme der unmittelbaren politischen Relevanz theoretischer Erórterungen - und reden damit einer originär römischen, nicht aber griechischen Vorstellung das Wort. In Hellas war es möglich, im Reich der theoria nahezu jeden nur möglichen Gedanken aus dem politischen Feld radikal durchzuspielen, ohne daß eine unmittelbare Rückwirkung auf reales Handeln in politicis irgendwelcher Akteure intendiert gewesen wäre. Gilt diese Aussage allgemein für griechische Philosophie, so muß dies erst recht für die von Dialektik und Skeptizismus geprägte jüngere Akademie gelten.*? In Rom hingegen war es nicht möglich, «a la grecque mit der Philosophie zu verfahren.*'! Während die große Mehrheit des römischen Publikums von Karneades’ Auftritten begeistert - und somit dessen Ziel gegenüber seinem ** Zu Karneades’ Stil s. Plut. Cat. Mai. 22,2. Bei der «relevanten» Zuhörerschaft handelt es sich zweifelsohne um Mitglieder der römischen Oberschicht. *95 S. Cic. rep. 3,9 u. Quint. inst. 12,1,35. Zur Frage, inwiefern die den Karncadesreden zuzuweisenden Fragmente originär und ungebrochen dessen Rede widerspiegeln, s. Ferrary (1977); vgl. Wilkerson (1988) zur skeptischen Rhetorik des Karneades. *9* Vgl. v.a. Fuchs (1938), 2-5, und auch Deininger (1971), 11. *? Vgl. dazu Forte (1972), 69 f., und Gruen (1984), IT 341f. *? So Capelle (1932), 86f.
*5 Gegen derartige Überlegungen s. Ferrary (1988), 356 f. 0 S. hierzu Gehrke (1998), 102 f. *! Zu diesen knappen Bemerkungen s. Gotter (2003), 167-171 u. v.a. 173-179.
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H. Athen
öffentlichen Auditorium erreicht - war*? vermeinte Cato Censorius eingreifen zu müssen, damit -- wie angeblich einst in der «guten alten Zeit — die Jugend Roms auf die eigenen Gesetze und die Magistrate hóre und nicht auf die Reden gebildeter graeculi:*? Er forderte vor dem Senat eine Forcierung des Verfahrens, um damit eine zügige Abreise der drei Gesandten aus Rom zu erreichen - zum Schutze der virtus der römischen Jugend.*' Aus athenischer Perspektive ist die Gesandtschaftsreise unzweifelhaft ein großer Erfolg gewesen, erbrachte sie doch die deutliche Reduzierung der Strafsumme von fünfhundert auf einhundert Talente.*5 Quellen über die Rückkehr von Kar-
neades, Kritolaos und Diogenes nach Athen existieren nicht, auch über zu vermutende Ehrungen der erfolgreichen Gesandten verlautet nichts unmittelbar. Ein Zeugnis aber vermag wichtige Hinweise zu geben - die Basis einer Sitzstatue des Karneades, die in der Náhe der Attalos-Stoa gefunden wurde und die den Blick von der innerrómischen Perspektive auf die Ereignisse des Jahres 155 nach Athen lenkt. Der Text auf der Basis lautet:*'‘ Kapveáónv Ἀζηνιέα Ἄτταλος kai Ἀριαράθης Συπαλήττι[οἱ] ἀνέθηκαν Den Karneades aus Azenia weihten Attalos und Ariarathes, die Sypalettier. Diese private Dedikation ist auf Grund der vermeintlich augenscheinlichen Prominenz der drei angeführten Namen vielfach diskutiert worden und hat die Grundlage für weitreichende Interpretationen gebildet: In Karneades ist nämlich der akademische Scholarch gesehen worden, die beiden Dedikanten wurden mit dem pergamenischen König Attalos II. und dem kappadokischen Herrscher
2 Es sei hier auf Cic. de orat. 2,155 u. Plut. Cat. Mai. 22,2 verwiesen. *? Plut. Cat. Mai. 22,3. Daß die Jugend durch Philosophen verdorben würde, ist ein Topos, der in Athen bereits zu Zeiten des Sokrates verbreitet war und der durch den paradigmatischen Charakter, der dem philosophischen «Erzmärtyrer in der griechischen Literatur späterhin zukam, immer wieder aufgegriffen wurde. Zum Philosophen als Verderber der Jugend s. Scholz (1998), 45-51.
^! Zur Interpretation von Catos Agieren während der Philosophengesandtschaft s. Gotter (2001), 68-86. 5 Paus, 7,11,5; s. Habicht (1997a), 270-273, zur weiteren Geschichte des Konfliktes zwi-
schen Athen und Oropos im Kontext des Achaiischen Krieges. Nicht zutreffend ist die Aussage von Stáhli (1991), 232, daß die Verhandlungen vor dem Senat in Sachen Oropos «letztlich
glücklos» ausgegangen wären. 46 [G IP 3781 = Syll? 666; für eine gute Abbildung s. Agora XIV, pl. 55c, sowie Stähli (1991), 221 Abb. 1f.; s. ferner Schmidt (1995), 223 1.1.1.
5. Die Akademie
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Ariarathes V. identifiziert." Aus dem Fehlen des Königstitels wurde gefolgert, daß beide zum Zeitpunkt der Weihung noch Prinzen waren,*? der mangelnde Hinweis auf die monarchische Deszendenz wurde als ostentativ in Athen demon-
strierte Bürgerlichkeit interpretiert.*'? Die Identifikationen der drei in der Inschrift genannten Personen sind zunächst allein der Auffälligkeit ihrer Namen geschuldet.*? Die Grundlagen einer solchen These sind jedoch abgesehen von der Namensgleichheit eher dürftig, und es lassen sich überzeugende Argumente gegen die vorgeschlagene Identifizierung der beiden Dedikanten vorbringen. Diese stammen aus Sypalettos (Z. 2). Es würde aber überraschen, wenn der spätere König Attalos II. nicht in derjenigen athenischen Phyle eingeschrieben gewesen wäre, die zu Ehren seines Vaters Attalos I.
im Jahre 200 eingerichtet worden war?! sondern in der Phyle Kekropis, zu der der demos Sypalettos gehórte.*? Diese überzeugende Überlegung ist durch eine neupublizierte panathenäische Siegerliste für das Jahr 170/69 bestätigt worden,
417 Diese Identifikationen wurden erstmalig von Köhler (1880) vertreten und konnten lange
für sich beanspruchen, die communis opinio der Forschung zu präsentieren; s. u.a. Ferguson (1911a), 300f.; Thompson (1950), 318f.; Hansen (1971), 105, und Allen (1983), 82 mit Anm.
25. - Zu Ariarathes s. B. Niese, RE II, 1, 1896, 818f., s. v. (5): Er soll eine griechische paideia erhalten, sein Reich hellenisiert (Diod. 31,19,7-8) und mit Karneades in Briefkontakt gestan-
den haben (Diog. Laert. 4,65); zur Fórderung griechischer Kultur durch kappadokische Kónige s. Robert (1960d), 56 mit Anm. 46, und Bernard (1985), 81f., sowie Panichi (2005). Im Gegen-
satz zu Ariarathes, für den kein Aufenthalt in Athen durch literarische Quellen belegt ist - agonothetes der Panathenáen war er als basileus wahrscheinlich nur honoris causa (Mitsos [19481949], 6; s. Tracy - Habicht (1991], 217, und Bringmann - Steuben [1995], 82-84 KNr. 37),
geehrt wurden er und seine Frau Nysa durch die dionysischen Techniten kurz vor 130 (IG IT 1330 = Le Guen [2001], 67-74 Nr. 5) - sind Aufenthalte Attalos' II. in Athen nach 192 mehrfach bezeugt (Habicht [1990a], 573). Dabei hat es sich jedoch kaum um Studienaufenthalte
gehandelt, da seit diesem Jahr Attalos stark in das politische Geschehen involviert war; vgl. Ferguson (1908), 352, und U. Wilcken, RE II, 2, 1896, 2168-2175, hier 2168-2170, s. v. (10). *'* So zuerst Köhler (1880), 284; s. auch Ferguson (19112), 300f., und Gauthier (1985b),
209. *i* [n diese Richtung weisen die Ausführungen von Bernard (1985), 81 mit Anm. 155.
*? Prágnant hat dies Köhler (1880), 284, fomuliert: «Die drei Namen erklären sich gegenseitig.»
“21 Zur Phyle Attalis und den Hintergründen ihrer Einrichtung - dem Krieg gegen Philipp V. vgl. Habicht (1990), 562 f.; zu den Ereignissen 201/0 s. oben S. 91 f. mit Anm. 329.
ὩΣ Auf diesen Aspekt hat zuerst Mattingly (1971), 28-32, hingewiesen; ihm folgte Meritt (1977), 165f., der (1961a), 230, noch den entgegengesetzten Standpunkt vertreten hatte und durch eine zeitweilige Versetzung des demos Sypalettos aus der Phyle Kekropis in die Phyle Attalis Mattinglys später vorgebrachte Argumente sozusagen vorweg zu entkräften suchte. Auch Hopp (1977), 62-65, argumentierte gegen eine Gleichsetzung der Dedikanten mit den späteren Königen; s. des gleichen Osborne (1983), 95 f.; Schalles (1985), 139 mit Anm. 808, und Habicht
(1990), 571 f., der zugleich einen kritischen Überblick zur Forschungsdiskussion bietet.
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II. Athen
aus der eindeutig hervorgeht, daß Attalos der Phyle Attalis angehórte.*? Wenn aber Attalos aus Sypalettos nicht mit dem spáteren Kónig zu identifizieren ist, dann entbehrt auch eine Gleichsetzung des ebenfalls aus Sypalettos stammenden Ariarathes mit dem homonymen kappadokischen Prinzen jeglicher Grundlage:** Die beiden nachmaligen Könige haben also nicht zu Füßen des Karneades gesessen, dessen Vorträgen gelauscht*5 und ihrem Lehrer ein Denkmal gesetzt. Auch wenn die beiden Dedikanten nicht königlichen Geblüts gewesen sind, erscheint ein plausibler Identifizierungsvorschlag dennoch móglich.?$ Während der Name Attalos im demos Sypalettos gesichert nur dieses eine Mal bezeugt ist,*? ist ein Ariarathes, Sohn des Polemaios, aus Sypalettos in einem wohl in die vierziger Jahre des zweiten Jahrhunderts zu datierenden Ehrendekret als tamias
der boule belegt.** Dieser tamias, der 122/1 als zweiter Münzmagistrat mit Eury-
“Δ Tracy - Habicht (1991), 217; die Inschrift befindet sich ebd., 188 f., der Beleg für Attalos in col. I, Z. 48. Vgl. auch Habicht (2000a), 438 f.
#24 Trotzdem finden sich nach wie vor Angaben zu den königlichen Dedikanten Attalos und Ariarathes; s. Frischer (1982), 194-196; Bernard (1985), 81 mit Anm. 155; Gauthier (1985b), 209; Scatozza Hóricht (1986), 199; Stewart (1990), 223; Moreno (1994), II 546f., und Panichi (2005), 247; richtig hingegen von den Hoff (1994), 48 mit Anm. 62; Zanker (1995), 174, und
Schefold (1997), 316. *5 Diese Vorstellung ist in der Forschung verschiedentlich gepflegt worden; s. z. B. Thompson (1950), 318. Attalos, der seit 159/8 den basileus- Titel führte (s. Daux [1935], 226, u. Habicht [1989b], 334) und 158 Herrscher des Attalidenreiches wurde (s. Petzl [1978], 263-268 Nr. 12; Mulliez [1998]), sollte später Stratonike, Ariarathes’ Schwester und Witwe seines Bruders
Eumenes, heiraten und seinen Schwager bei Kámpfen um den kappadokischen Thron unterstützen; vgl. Hansen (1971), 130. - Neben der Tatsache, daß Attalos seit 192 in das politische Geschehen des Attalidenreichs eingebunden war (s. oben 111 mit Anm. 417), stellt die Alters-
frage einen wichtigen Aspekt dar, der bei der These von den kóniglichen Dedikanten übersehen worden ist: Attalos wurde 220 geboren und wáre zu dem Zeitpunkt, da er Karneades gehórt haben soll, bereits deutlich über 50 Jahre alt gewesen, weil für den Beginn von Karneades’ Scholarchat 167/6 einen terminus post quem bildet: Gesichert ist nämlich, daß Karneades Nachfolger des Hegesinos war, der Euandros als akademisches Schuloberhaupt gefolgt war. Dieser hatte gemeinsam mit dem
167/6 verstorbenen Telckles (s. S. 104) ein «Doppelschol-
archab gebildet, war aber nach seinem Mit-Scholarchen verstorben. - Zu den akademischen Scholarchen nach dem Tod des Lakydes s. Dorandi (1999b), 32 f.
“26 Die Rekonstruktion des Stemmas der Familie hat Mattingly (1971), 29-31, vorgelegt; s. auch Habicht (20002), 439. Die Überlegungen von Stáhli (1991), 228-231, basieren vielfach auf mittlerweile revidierten Datierungen; vgl. Zanker (1995), 174 mit Anm. 39.
*? Vgl. LGPN II, s. ν (42). Sehr unsicher ist, ob für die Zeit nach 129/8 cin homonymes VaterSohn-Paar bezeugt ist: IG 112 3959 mit Oikonomides (1964), 75 Nr. 52 (Ἄτταλον [Ἀττάλου | Συπαλήττιον)); s. LGPN II, s. v. (43)f. * Agora XV 261, Z. 27, 46, 52 u. 67. Diese Inschrift datiert nicht in das Jahr 95/4 - so Meritt (1948), 25-29 Nr. 12 -, sondern wahrscheinlich in das Jahr 143/2. Vgl. Tracy (1978), 263, u. (1990b), 159f., der die Inschrift dem zwischen 169/8 und 135/4 nachweisbaren «cutter of Agora
I 6006» zuschreiben konnte und daraus Konsequenzen für die Datierung zog.
5. Die Akademie
113
kleides fungierte,?? ist wahrscheinlich mit dem Dedikanten Ariarathes identisch.* Ein weiterer Träger dieses Namens ist Ariarathes, Sohn des Attalos, der
als pais an der Pythais von 128/7 teilnahm.?! Mit diesem Ariarathes ist möglicherweise der im späten zweiten oder frühen ersten Jahrhundert anzusetzende
homonyme epimeletes des emporion von Delos gleichzusetzen.*? Versucht man, die genannten Personen in Relation zueinander zu setzen, so erscheint die fol-
gende Hypothese plausibel: Der als pais und möglicherweise später als epimeletes des emporion von Delos bezeugte Ariarathes, Sohn des Attalos, ist ein Neffe des tamias, Münzmagistraten und Dedikanten Ariarathes aus Sypalettos, der Bruder
des zweiten Dedikanten, Attalos aus Sypalettos, war. Der Vater dieses Bruderpaares trug den Namen Polemaios. Treffen diese Überlegungen zu, so wäre die Familie der athenischen Oberschicht zuzurechnen.*? Obwohl zwei Personen aus der ursprünglich identifizierten Trias also entfallen, gibt es keinen Grund zu bezweifeln, daß Karneades aus Azenia der akademische Scholarch ist, der um 215 in Kyrene geboren wurde und 129/8 in Athen
429 Die Datierung der Münzmagistrate folgt der von Lewis (1962) etablierten «tieferen» Chronologie; s. Habicht (1991b), 2f., u. (1997a), 242-245. Thompson (1961), 196-200 u. 552 f., hin-
gegen setzte Ariarathes in das Jahr 154/3. *9 Vgl. auch Habicht (1991b), 8. #1 Er ist bezeugt in FD III 2, 12, col. III, Z. 9. ** [D 1827-1829; vgl. Roussel (1987), 181 mit Anm. 3. 453 Zur Familie vgl. Habicht (1991b), 23, und s. auch Thompson (1961), 585-599; ein Stem-
ma, das die beiden Spender, ihren Vater sowie einen Sohn respektive Neffen umfafit, und das den hier vorgeschlagenen Verwandtschaftsbezichungen gleicht, hat R. Goulet, DPhA IV, 2005, 529-535, hier 535, s. v. (M 174), vorgelegt. - Der Name Polemaios, die attische Form des makedonischen Ptolemaios (Masson [1993], 161), ist in Athen erst seit dem 2. Jh. nachweisbar (s. LGPN II, s. v. [1]-[5]). Der früheste Beleg ist ein Dekret aus dem Jahr 173/2 (Agora XV
206, Z. 126), mithin nach der Einrichtung der Phyle Ptolemais in den 220er Jahren (s. Habicht [1982b], 105-112, u. [1992a], 73-75). Die Form Ptolemaios hingegen ist in Athen bereits um die Mitte des 3. Jh.s belegt (PPetr. III, 54 b, d [verso], Z. 5; s. LGPN II, s. v. [1]). Die Figur Ptolemaios in Alexis’ Komödie Theophoretos (PCG II Alexis Θεοφόρητος frg. 92 = Athen. 9,369e; 5. LGPN II, s. v. (31]) wird man nicht als Beleg für das Vorkommen dieses Namens in Athen
werten können. Auch für Ptolemaios gilt, daß erst nach Einrichtung der Phyle Ptolemais eine weitere Verbreitung für diesen Namen in der attischen Onomastik festzustellen ist; vgl. für die hellenistische Epoche LGPN II, s. v. (2)-(5), (8)-(10), (12), (19), (22)-(25) u. (27)-(29). Wie der
Vater, so sind auch die beiden Sóhne des Polemaios aus Sypalettos mit monarchischen Namen benannt, s. zu diesem Phänomen Habicht (20002), 438 f.: Während das nomen Attalos in Athen
nach der Einrichtung der Phyle Attalis im Jahre 200 vielfach belegt ist (für die hellenistische Epoche s. LGPN II, s. v. [3]- [12], [18]-[20], [22]f., [27] -[29], [37], [41]£.. [46]f., u. [50]£.; s. aber I.Rhamnous 28, Z. 5 [um 225] u. IG I? 6502 (3. Jh.] sowie vielleicht Aleshire [1989], invent. VI, Z. 10 [zwischen 229/8 und ca. 203; s. Tracy (1990b), 44-54]), ist der Name Ariarathes allein in
der sypalettischen Familie bezeugt.
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II. Athen
verstarb.* Eine deutliche Sprache spricht námlich der archáologische Befund: Die Inschrift befindet sich an einer Basis, auf der ursprünglich eindeutig eine sitzende Statue angebracht war.*5 Sitzstatuen aber waren für die Darstellung von Philosophen im Hellenismus typisch.** Ausgehend von der zunächst vorgenommenen Identifizierung der Dedikanten wurde die Inschrift vor die Mitte des zweiten Jahrhunderts datiert.? Ein neuer
und davon unabhängiger Datierungsansatz beruht auf Tracys Zuweisung der Inschrift an den «cutter of IG II? 3479», der zwischen 175/4 und circa 135 nachweisbar ist.*”® Aus der Basis ist zu folgern, daß der aus Kyrene stammende Philosoph Karneades das athenische Bürgerrecht besessen hat;*? außer einer kurzen Notiz in einem Brief des praefectus urbi Symmachus an Kaiser Theodosius aus dem Jahre 384/5 n.Chr. gibt es dafür keine weiteren Zeugnisse.‘ Da der Besitz des Bürgerrechts nicht als notwendige Voraussetzung für die Übernahme einer Gesandtschaft für die Gastpolis anzusehen ist, gibt es keinen zwingenden Grund, die Verleihung der politeia an Karneades vor 155 anzunehmen.'*' Daß der Ver*4 Karneades starb nach Apollodor im zehnten Jahr vor dem Archontat des Eumachos (120/19 - vgl. Meritt [1977], 186; s. FGrHist 244 F 53,11-13 = Philod. hist. Acad. col. XXIX,
Z. 13-16 Dorandi) oder im vierten Jahr der 162. Olympiade (das ergibt das Jahr 129/8 - s. FGrHist 244 F 51 = Diog. Laert. 4,65). Er wurde entweder 85 (FGrHist 244 F 51 = Diog. Laert. 4,65; Lukian. Makr. 20) oder aber 90 Jahre (Cic. Luc. 16; Val. Max. 8,7 ext. 5; Cens. 15,3) alt.
Vgl. Górler (1994), 852f., zu weiteren biographischen Details wie dem Rücktritt vom Scholarchat aus Krankheitsgründen 137/6. *5 So Thompson (1950), 318, und Stáhli (1991), bes. 224 u. 221 mit Abb. 1f. # Vgl. von den Hoff (1994), 191 u. pass., sowie Zanker (1995), 174-179.
47 Vgl. die Datierung bei IG II? 3781 von Kirchner: «ante med. s. II. a.»; paläographische Erwägungen spielten dabei keine größere Rolle. Mattingly (1971), 31, wies darauf hin, daß Meritt (1961a), 269, konstatiert hatte, daß die Inschriften IG IT? 3479, Agora Inv. No. I 6200 (= Meritt [1961a], 269 Nr. 97) u. Agora Inv. Nos. 13527 + 3601 (= ders. [1954], 252 f. Nr. 33) einander sehr ähnelten und um die Mitte des 2. Jh.s datiert werden müßten. #8 Tracy (1990b), 137-142. Das Archontat des Pleistainos, in das die Inschrift IG IP 3479 datiert, ist nicht in das Jahr 184/3 zu setzen (so z. B. Meritt [1977], 181), sondern in die Jahre 154/3 bis 149/148; vgl. Habicht (1988c), 246, und Tracy (1989). “9 Vgl. u.a. Osborne (1983), 101f. T 116. * Symm. epist. 10,5,2. Die Frage nach Symmachus' Quelle(n) ist nicht beantwortbar.
*! Als Beispiele für auswärtige Philosophen als athenische Gesandte sind der Akademiker Xenokrates und der Peripatetiker Prytanis zu nennen. Zu Xenokrates vgl. S. 27 u. 63f.; zu Prytanis s. S. 89-99. Nur ein aus Athen stammender Philosoph ist als Gesandter bezeugt: der akademische Scholarch Krates, der Gesandtschaftsreden hinterlassen haben soll: FGrHist 244 Ε 13 = Diog. Laert. 4,23. Plut. Demetr. 46,2 bezeugt Krates' erfolgreiche Gesandtschaft für seine patris bei Demetrios Poliorketes 287/6; s. Sonnabend (1996), 313-315. Zu Krates s. T. Dorandi, DPhA II, 1994, 486, s. v. (C 202). Arkesilaos von Pitane (Strab. 13,614) ist nicht zu denjenigen
Philosophen zu rechnen, die als Nicht-Bürger für Athen als Gesandte tátig waren; er setzte sich für seine patris ein (Diog. Laert. 4,39); s. aber Habicht (1994), 240. - Ders. (19972), 108, hat die athenischen Philosophengesandtschaften zusammengestellt.
5. Die Akademie
115
leihung des Bürgerrechts an Karneades Verdienste irgendeiner Art für Athen
vorausgegangen sein müssen, steht aufer Zweifel. Da eine anderweitige Partizipation des akademischen Scholarchen am óffentlichen Leben der Polis Athen
nicht bezeugt ist, ist es plausibel, die Verleihung des athenischen Bürgerrechts im Zusammenhang mit dem Erfolg der «Philosophengesandtschaft zu sehen.**? Zwar war es üblich, daß erfolgreiche Gesandte nach ihrer Rückkehr Ehrungen
erhielten; die Verleihung der politeia stellt allerdings eine exzeptionelle Auszeichnung dar,*? die sich im Falle des Karneades durch den außergewöhnlichen Erfolg erklären ließe. Wenn Karneades damals mit dem athenischen Bürgerrecht geehrt worden sein sollte, dürften auch seine beiden Mitgesandten Diogenes und KritoJaos dieselbe Auszeichnung erhalten haben.** Akzeptiert man die Annahme, daß Karneades auf Grund der erfolgreichen Gesandtschaft nach Rom die politeia in Athen erhielt, so stellt das Jahr 155 den terminus post quem für die Datierung der Sitzstatue dar. Da sich der «cutter of
IG II? 3479, der IG II? 3781 fertigte, bis circa 135 nachweisen läßt,“ ergibt dieses Datum einen terminus ante quem für die Ehrung des akademischen Scholarchen:** Karneades, der im Jahre 129/8 starb, ist also zu seinen Lebzeiten mit
der Sitzstatue geehrt worden.** Die zur Basis gehörige Sitzstatue ist zwar nicht
“2 Die Begründung von Osborne (1983), 102 (»Grants to men of scholarship are not alto-
gether uncommon by the second century, and there is no need to look for a reason for his [sc. Karneades'] naturalization beyond his position at the head of the Academy.»), erscheint nicht stichhaltig, da für die Verleihung des Bürgerrechts auch im 2. Jh. politische Leistungen für Athen zu erbringen waren. Scholz (1998), 12 mit Anm. 3, geht davon aus, daß die athenischen Bürgerrechtsverleihungen an Philosophen oder der Philosophie nahestehende Personen ihren Anlaf in der «Etablierung der Philosophen als Bildungstráger[n]» hatten. Zu den von ihm angeführten Beispielen (Karneades, Philonides und seine Sóhne, ein «unbekannter Schü-
len des Euandros und Menippos von Kolophon) ist festzuhalten, daß die Ehren für Euandros' «unbekannten Schüler nicht überliefert sind (s. oben S. 99f.); und während es für Karneades
nur wahrscheinlich zu machen ist, daß er wegen politischer Verdienste das Bürgerrecht erhielt, steht dies bei den anderen Personen außer Frage; s. S. 148-159 u. 217-223. 49 Zu den Ehrungen für Gesandte in hellenistischen Poleis s. Kienast (1973), 574-577. 4 Habicht (1994), 240, geht davon aus, daß Kritolaos und Diogenes nicht das athenische Bürgerrecht erhielten, sondern Karneades der cinzige nicht-athenische Philosophengesandte
gewesen sei, der das Bürgerrecht in Athen erhielt. “5 Vgl. Tracy (1990b), 137-142.
“6 Sollte für den «cutter of 3479» eine spätere Inschrift nachgewiesen werden, würde sich der Terminus ante quem entsprechend verschieben. 7 Trifft diese Datierung der Sitzstatue in die Zeit zwischen 155 und ca. 135 zu, so käme ihr auch aus archäologischer Perspektive Relevanz zu. Denn damit wäre ein chronologischer Fix-
punkt für die an zweifelsfrei datierten Stücken arme spáthellenistische Plastik gewonnen. Die archáologische Kontroverse um die zeitliche Ansetzung dieses Bildnisses - die Bandbreite der Datierungsvorschláge reicht von den sechziger Jahren des 2. Jh.s (so Poulsen [1923], 47) bis in das späte 2. / frühe 1. Jh. (so Stáhli [1991], 243-252) - stünde auf einer neuen Grundlage.
116
II. Athen
gefunden worden,*** doch haben sich acht kaiserzeitliche Kopien eines Karneadesporträts erhalten, dessen Benennung auf Grund der inschriftlich bezeichneten, seit 1808 allerdings verschollenen Büste aus der Sammlung Farnese als gesichert gelten kann.*? Der durch diese Kopien repräsentierte Bildnistypus wird mit guten Gründen auf den Kopf der verlorenen Sitzstatue zurückgeführt, deren Basis die Dedikationsinschrift von Attalos und Ariarathes aus Sypalettos trágt.**! Auf Grund der Ikonographie des Karneadesporträts ist es plausibel, daß nicht die politischen Verdienste, sondern die philosophische Tätigkeit bei der Errichtung der Statue im Vordergrund gestanden hat. Wáhrend die Verbindung zur Philosophie durch den Bildnistypus überaus deutlich ist, findet sich in der Dedikationsinschrift nicht der geringste Hinweis auf die philosophischen Leistungen des Karneades. Welchen Grund Ariarathes und Attalos aus Sypalettos hatten, eine Ehrenstatue des Karneades zu dedizieren, läßt sich nicht sagen; auch über die Beziehungen zwischen dem Brüderpaar und dem akademischen Scholarchen ist keine Aussage móglich.**? Eine Besonderheit der Karneadesstatue ist ihr prominenter Aufstellungsort auf der Agora in unmittelbarer Nähe zur Attalos-Stoa.**! Er ist nicht nur als Zeichen gesellschaftlicher Akzeptanz, sondern als Ausdruck sozialer Hochachtung
#2 Auf diese spielt Cicero in de finibus (5,4) an. Nicht zutreffend ist die Aussage von Zanker (1995), 176f., daß sich Cicero des Karneadesbildnisses ob dessen Lebendigkeit erinnert hätte.
Vielmehr geht es im Kontext des Dialoges um memoria respektive Mimesis und die Frage, welche Bedeutung Orten im Zusammenhang mit Mnemotechniken zukommt (Cic. fin. 5,2); vgl. Small (1997), 96-98. *9 Eine Auflistung der Repliken bietet Richter (1965), II 249-251; vgl. auch Stáhli (1991),
220 mit Anm. 3 u. 232-243, mit einer Kopienrezension der erhaltenen Excmplare. 43? Vgl. Richter (1965), I1 249 Nr. 1, sowie Stáhli (1991), 220-222 u. 238f. #5 Vgl. Poulsen (1923), 46f. Nr. 20; Berger (1980), 67, und Stáhli (1991), 222-224. #2 Ob Ariarathes und Attalos in einem Schüler- oder anderweitigen Nahverhältnis zu Kar-
neades standen, kann allenfalls der Gegenstand von Spekulation sein. Mattingly (1971), 31, geht davon aus, daß die beiden Dedikanten trotz geänderter Identifizierung Schüler des akade-
mischen Scholarchen waren. Mit Sicherheit läßt sich sagen, daß beide bereit waren, eine erhebliche finanzielle Investition zu tätigen, um den Akademiker an zentraler Stelle im Zentrum der
Polis mit einer Sitzstatue zu ehren. 453 Diese Aussage ist allerdings nicht unproblematisch, da in der Erstpublikation von Stark (1874), 326 u. 398, nichts über den Fundkontext verlautet. Es ist nicht klar, ob die Basis in situ
gefunden wurde oder im Zuge einer späteren Verschleppung an ihren Fundort gelangte. Auch in allen spáteren Publikationen ist nichts Náheres über den Aufstellungsplatz zu erfahren. Zwi-
schenzeitlich war die Basis sogar «verlorem, bis sie bei den amerikanischen Grabungen 1949 wiederaufgefunden wurde; vgl. Thompson (1950), 318. Eine Aufstellung in der unmittelbaren Náhe der Attalos-Stoa halten Judeich (1931), 358, und Wycherley (1957), 46 u. 213, für
wahrscheinlich; mit Sicherheit nehmen dies Thompson - Wycherley (1972), 107, und Zanker (1995), 174, an - vgl. auch den Überblick über die verschiedenen Forschungspositionen von Stáhli (1991), 224.
5. Die Akademie
117
zu werten, da man sich kaum vorzustellen vermag, daß eine private Dedikation an derart exponierter Stellung gegen den Willen des athenischen demos hätte aufgestellt werden kónnen. Auch wenn durch die Ikonographie der Statue eindeutig der Philosoph Karneades in den Mittelpunkt gerückt wurde, so sind seine politischen Verdienste im Rahmen der Gesandtschaft nach Rom zweifelsohne von
großer Relevanz für seine gesellschaftliche Stellung in Athen gewesen. Karneades wurde also in Athen zweifach zu seinen Ein erstes Mal erhielt er das Bürgerrecht.5* Der Grund in der erfolgreichen Gesandtschaft nach Rom im Jahre aber in der Lehrtátigkeit als akademischer Scholarch.
Lebzeiten ausgezeichnet. für diese Ehrung dürfte 155 gelegen haben, nicht Ein weiteres Mal wurde
Karneades privatim mit der Errichtung einer Statue durch Attalos und Ariarathes
im óffentlichen Raum der Polis geehrt, wobei er eindeutig in seiner Rolle als Philosoph dargestellt wurde. Die Zusammensetzung der Gesandtschaft des Jahres 155 zeigt, daß Karneades sein Ansehen in Athen nicht erst durch seine Partizipation an der erfolgreichen presbeia gewann, sondern daß er bereits zuvor hohes soziales Prestige besessen haben muß, da er sonst nicht zu einem der Gesandten bestimmt worden wäre. Der Erfolg der Gesandtschaft mochte sein Ansehen steigern, war aber nicht dessen origináre Voraussetzung: Diese lag in seiner Funktion als Scholarch der Akademie.*55 Aus der Wahl der drei Scholarchen läßt sich ableiten, daß die Philosophen in Athen um die Mitte des zweiten Jahrhunderts als Gruppe aufgefaßt werden konnten, auch wenn innerhalb dieser Gruppe Differenzierungen vorgenommen
wurden. Aus der Tatsache, daß die Athener die Gesandtschaft nach Rom unter besonderer Berücksichtigung des «Adressaten» zusammenstellten und aus dem Umstand, daß die drei Philosophen öffentliches Ansehen in Athen genossen, sollte nicht weitreichend gefolgert werden, daß sich die Athener selbst als «Philosophenstadb respektive «Stadt der Philosophie» verstanden hätten.” Zurückhaltender ist zu formulieren, daß die Athener versuchten, das Prestige der in ihrer Stadt lebenden und lehrenden Philosophen, das auch auf Athen zurückfiel, für ihre außenpolitischen Interessen zu nutzen.
© Es ist eine ingeniöse Vermutung, daß der Auswahl des demos Azenia für Karneades das Bewußtsein zugrunde lag, daß sowohl Platon als auch Speusipp in diesem demos eingeschrieben waren; vgl. Habicht (1994), 242.
*5 Gleiches gilt auch für seine beiden Mitgesandten Kritolaos von Phaselis und Diogenes aus Seleukeia ad Tigrim. - Karneades genoß so hohes Ansehen in Athen, daß sein fremder Name in die athenische Onomastik Eingang fand: Ein aus dem demos Trinemeia stammender Ephebe des Jahres 117/6 trug seinen Namen; s. IG II? 1009, col. III, Z. 82 - vgl. dazu Habicht (20002), 439. 56 So aber Korhonen (1997), 41.
118
II. Athen
6. Die SroA
a) Athenische Ehren für Zenon von Kition? Für Plutarch stand es in seiner antistoischen Polemik de Stoicorum repugnan-
tiis aufer Zweifel, da? Zenon, aber auch Kleanthes und Chrysipp zwar Schriften über Verfassungen, das Herrschen und Beherrschtwerden, über Rechtsprechung und Reden verfaßt hätten, in ihrem Leben sich jedoch in keiner Weise um óffentliche Belange gekümmert, sondern sich fern ihrer Heimat einem langen Leben in Muße hingegeben hätten.*” Ganz anders gestaltet sich das Bild Zenons in Aelians varia historia; dort findet sich die Aussage, daß Zenon mehrfach für athenische Belange bei Antigonos Gonatas interveniert habe.” Die beiden Textpassagen demonstrieren, auf welch unterschiedliche Weise antike Autoren abhángig von ihrer Intention über die Involvierung von Philosophen in das politische Leben schreiben konnten. Über den Stoiker Zenon sind zwar keine zeitgenóssischen epigraphischen Zeugnisse bekannt, jedoch werden von Diogenes Laertios in seiner Zenonvita zwei Inschriften für Zenon erwähnt und teilweise sogar zitiert.? Zenon, Sohn des Mnaseas,'? wurde im Jahre 334/3 oder 333/2 in Kition geboren und verbrachte den grófiten Teil seines Lebens in Athen, wohin er im Alter von zweiundzwanzig Jahren kam, zehn Jahre lang verschiedene Philosophen hórte und 301/0 eine eigene philosophische Schule - die Stoa -- gründete.**!
#7 Plut. mor. 1033b-c.
#8 Ai]. var. 7,14. Zur Bedeutung von πολιτεύεσθαι vgl. Wilhelm (1925b), 79. 49 Zur Biographie Zenons s. Steinmetz (1994), 518-521; vgl. auch Yon (1998) und ferner
Brunschwig (2002). - Die phónikische Herkunft Zenons hatte - entgegen der Annahme der älteren Forschung - keinen Einfluß auf sein philosophisches Denken; s. Steinmetz (1994), 519. Eine besondere Heimatverbundenheit Zenons hat Gabaude (1996) herausstellen wollen; seine
Ausführungen vermögen aber nicht zu überzeugen. “Ὁ Diogenes Laertios (7,1) nennt neben dem richtigen Namen Mnaseas auch Demeas als Patronymikon; vgl. Knoepfler (1989), 223 mit Anm. 119, mit Belegen für den Namen Mnaseas.
Masson (1969), 692 f., weist darauf hin, daß Μνασέας ein «équivalent par assonance du phenicien mnhm ou Menahem» sei.
“1 Die Chronologie von Zenons Leben ist kompliziert, da zwei einander widersprechende Traditionen vorliegen: Die eine Version, allgemein als die glaubwürdigere angesehen, basiert auf dem Zenonschüler Persaios von Kition; die andere Überlieferung gründet auf Apollonios von
Tyros; zu diesem Werk und seinem Autor s. unten S. 127. Eine Kombination beider Versionen - wie sie z.B. Armstrong (1930) versucht hat -, ist nicht plausibel. Eine detaillierte Diskussion
der differierenden antiken Aussagen zu Zenons Lebensdaten hat Dorandi (1982b) vorgelegt. Das Geburtsdatum ergibt sich aus Persaios' Angabe, daf Zenon im Jahre des Archon Arrheneides in Athen im Alter von zweiundsiebzig Jahren starb (Diog. Laert. 7,28; statt des in den Edi-
tionen gegebenen Ἀρρενίδον muß es Appeveidov heißen; s. IG 1I? 3853, Z. 1), also 262/1 oder
6. Die Stoa
119
Um die Aussage zu belegen, Zenon habe in Athen, Kition und bei Antigonos Gonatas zu Lebzeiten hóchstes Ansehen genossen, führt Diogenes Laertios in seiner Biographie verschiedene «Beweise» an.* Zweifellos völlig unglaubwürdig ist die Anekdote, daf die Athener Zenon den Schlüssel ihrer Stadt zur Verwah-
rung übergeben hätten.“ Gefälscht sind zweifelsfrei auch Briefe aus der angeblichen Korrespondenz zwischen dem Oberhaupt der Stoa und Antigonos II.‘ Grundsätzlich glaubwürdiger erscheinen folgende von Diogenes Laertios aufgezählte Ehrungen: In seiner patris soll er mit einer Statue aus Bronze geehrt
worden sein,‘ und die Athener sollen ihn mit einem goldenen Kranz und einer bronzenen Statue geehrt haben.‘* Schließlich nennt Diogenes zwei epigraphische Zeugnisse für Zenon in Athen: eine epidosis-Liste und ein psephisma.
261/0. Zu den Datierungsansátzen des Archontats des Arrheneides s. Osborne (1989), 211. Für 261/0 haben z. B. Heinen (1972), 182-188, sowie Osborne (2000), 507-520 u. (2004), 205, optiert. Dorandi (1980b), 161 u. 171, (1981) u. (19902) hat hingegen versucht, 262/1 für den Archon Arrheneides zu etablieren. Dreyer (1999), 342-350, Quellen und moderne Forschung
einer kritischen Prüfung unterzogen und ist zu dem Schluß gelangt, daß nach gegenwártigem Kenntnisstand keine Entscheidung in dieser Frage móglich ist. Zu den Philosophen, die Zenon in Athen hörte, s. Pohlenz (1948-49), 22-24, und K.v. Fritz, RE X A, 1972, 83-121, hier 83-88,
s. v. (2). Die antiken Überlieferungen zu Zenons Hinwendung zur Philosophie sind legendarischer Natur; vgl. Gigon (1946), 20, sowie Dumont (1987), 85-93. Zur Gründung der Stoa vgl. Philod. de stoic. col. V Dorandi; s. Dorandi (1982c), 99 u. 109-111, und vgl. Sedley (2003), 9-
15, zur Geschichte der Stoa bis zu Zenons Tod. 12 Vgl. zu diesem topos Hahm (1992), 4106-4113. Das athenische Bürgerrecht soll Zenon nach Plut. mor. 1034a abgelehnt haben. Die Historizität dieser Nachricht läßt sich nur schwer
beurteilen - die Ablehnung des Bürgerrechts durch Philosophen ist in der biographischen Literatur topisch. 46 Diog. Laert. 7,6. Zu Recht urteilt Wilamowitz-Moellendorff (1881), 344: «eine alberne
geschichte». Sonnabend (1996), 259, hingegen hält die Nachricht für glaubwürdig, ohne allerdings seine Ansicht zu begründen. Christes (1975), 63, vermutet sogar, die Schlüsselübergabe der Athener an Zenon stünde im Zusammenhang mit dessen Ablehnung, einer Einladung des Antigonos Gonatas an den makedonischen Kónigshof nachzukommen. ** Diog. Laert. 7,7-9. Daß es sich bei den Briefen um literarische Fälschungen handelt, ist communis opinio in der Forschung; s. Wilamowitz-Moellendorff (1881), 110 mit Anm. 15; Dorandi (1982c), 110f., und Lapini (1996). Grilli (1963) hat - ohne zu überzeugen - darzulegen versucht, dafi die Briefe authentisch sind.
*5 Diog. Laert. 7,6. Plinius (nat. 34,92) überliefert, daß der jüngere Cato als quaestor pro praetore aus Zypern (vgl. Gelzer [1934], 80f.; Broughton [1952], 198) eine Bronzestatue des
Zenon mitgebracht hätte, die er im Gegensatz zu allen anderen Kunstwerken nicht veräußert habe, weil die Statue einen Philosophen dargestellt hátte. Zu Recht hebt von den Hoff (1994), 95 mit Anm. 84, hervor, daf aus Diog. Laert. 7,6 keine Ehrenstatue Zenons in Sidon zu erschlieBen ist; so aber Thielemann - Wrede (1989), 152 mit Anm. 227.
** Diog. Laert. 7.6. Diese Statue wird nicht im von Diogenes Laertios (7,10-12) überlieferten Ehrendekret für Zenon angeführt -- zum Dekret s. unten S. 121-128. In der Regel wird diese
120
II. Athen
Diogenes Laertios zitiert Antigonos von Karystos mit der Aussage, Zenon habe niemals verleugnet, daß er ein polites von Kition sei. Als Beleg hierfür wird eine Stele angeführt, auf die Ζήνωνος τοῦ qiÀocóqov'* geschrieben worden sei, da der Stoiker neben anderen zur Restaurierung eines Bades beigetragen habe. Zenon habe gefordert, daß auf der Stele auch sein Ethnikon Κιτιεύς vermerkt würde, damit ersichtlich sei, daß er aus Kition stamme.*€ Daß in einer epidosis-Liste in Athen im dritten Jahrhundert ein Philosoph nicht mit Patronymikon und/oder Ethnikon, sondern als ὁ φιλόσοφος bezeichnet werden konnte, ist durch das singuláre epigraphische Zeugnis für den peripatetischen Scholarchen Lykon aus Alexandreia Troas grundsätzlich bezeugt.*? Setzt man die Historizitát der Nachricht einer Spende Zenons für die Restaurierung eines Bades voraus, so ist diese epidosis in zweifacher Hinsicht exzeptionell.?? Zum einen liegt bei allen athenischen epidoseis der zweiten Hälfte des vierten und des dritten Jahrhunderts die Ursache, soweit bekannt, in militäri-
schen Maßnahmen für die Polis oder aber in kultischen Angelegenheiten;*! zum anderen ist epigraphisch in der ganzen griechischen Welt nur eine einzige
Statue mit dem in dreizehn Repliken bekannten Zenonporträt in Verbindung gesehen, das aus stilistischen Gründen in die Zeit zwischen 270 und 250 datiert wird; vgl. z. B. von den Hoff (1994), 89-96, und Seilheimer (2003), 108-118. Der Aufstellungsort der Zenonstatue in Athen
ist unklar. Nicht überzeugend erscheint die Ansicht von Wilamowitz- Moellendorf (1881), 344, daß es sich bei der von Diogenes erwähnten Statue um eine Ehrung Zenons durch die Athener handele, die erst in das 2. Jh. datiert; vgl. auch Witschel (1995), 321f., der annimmt, daß
diese Statue als Ehrenstatue auf der Agora ihren Aufstellungsort hatte. Zu überlegen ist aber, ob man die Zenonstatue nicht mit dem Grab in Verbindung setzt, mit dem die Athener den Gründer der Stoa ehrten (Diog. Laert. 7,11) und das auch Pausanias (1,29,5) bezeugt; s. dazu unten
S. 126. - Sidonius Apollinaris (epist. 9,9,14) erwähnt unter gemalten Philosophendarstellungen in den gymnasia rund um den Areopag und in den prytaneia auch ein Bildnis Zenons; der Wert dieser Textstelle ist für die hellenistische Zeit aber gering zu veranschlagen. Vgl. dazu Hebert (1988), 53; Courcelle (1969), 192-194 u. 256f., nimmt ein griechisches Philosophenhandbuch aus dem spáten 3. oder frühen 4. Jh. n. Chr. als Sidonius' Quelle an.
467 ** ** *?
Zur Erklärung des Genitivs s. Migeotte (1992), 25 mit Anm. 44. Diog. Laert. 7,12 = Antigon. Kar. frg. 32 Dorandi. Agora XVI 213, col. I, Z. 19; vgl. dazu oben S. 86-88. Die Historizität dieser epidosis und der Wünsche Zenons hinsichtlich der Stele wird in
der Forschung nicht in Zweifel gezogen; vgl. Migeotte (1992), 25f. Nr. 14, und Scholz (1998), 319f. Zu hellenistischen Báderbauten s. Ginouvés (1962), 183-224. Festzuhalten ist, daß Dio-
genes Laertios respektive Antigonos von Karystos an dieser Stelle das Wort λουτρόν verwendet, das seit dem späten 5. bzw. frühen 4. Jh. speziell das Bad eines gymnasion bezeichnet; vgl. dazu Ginouves (1962), 129 mit Anm. 7. Zur Verbindung von griechischem gymnasion und Bad
s. Yegül (1992), 6-29. Zu Wohltätern im hellenistischen gymnasion s. Ameling (2004). *^ Vgl. Migeotte (1992), 18f. Nr. 6 (Verteidigung der Stadt; 339/8); ebd., 19f. Nr. 7 (Verteidigung der Stadt; 335); ebd., 20f. Nr. 8 (Getreidebeschaffung; 328/7); ebd., 21 f. Nr. 9 (Kriegs-
6. Die Stoa
121
epidosis für den Bau eines Bades bezeugt - nämlich im lykischen Hippoukóme aus dem ersten Jahrhundert.*? Würde Diogenes Laertios nicht Antigonos von Karystos als seinen Gewährsmann angeben, so wäre man wohl geneigt, diese Geschichte über Zenon als literarische Erfindung der Kaiserzeit abzutun. Unter den vorliegenden Umstánden aber erscheint zwar Skepsis an einer epidosis zur Restaurierung eines Bades und Zenons Beteiligung angebracht, die Historizität des Berichtes kann jedoch nicht grundsätzlich negiert werden. Eindeutig ist hingegen die Intention, die Antigonos mit seinem Bericht über Zenon und das Bad verfolgte - und die auch Diogenes Laertios zupaß kam: Einerseits wird Zenons Einsatz für die Polis bezeugt, in der er einen Grofiteil seines Lebens verbrachte, und andererseits wird durch Zenons Aufforderung, sein Ethnikon in der Liste aufzuzeichnen, die Verbundenheit mit seiner patris zum Ausdruck gebracht*? - inwieweit dieser letzte Aspekt als historisch oder aber als Fiktion des Diogenes angesehen werden muß, läßt sich nicht entscheiden. Weit größere Aufmerksamkeit ist dem von Diogenes Laertios vollständig zitierten athenischen psephisma entgegenzubringen, das vielfach behandelt worden ist und dem für die Untersuchung der sozialen Stellung von Philoso-
phen in Athen in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts große Bedeutung
vorbereitungen; 307); ebd., 24f. Nr. 13 (Restaurierung eines Heiligtums; Ende 4./Anfang
3. Jh.); ebd., 26f. Nr. 15 (fortifikatorische Rüstungen; Anfang des 3. Jh.s); ebd., 27 Nr. 16 (Verteidigung des Landes; Mitte des 3. Jh.s); ebd., 28-34 Nr. 17 (sichere Einholung der Ernte; 248/7 - zum Datum s. oben S. 86f. mit Anm. 316) und ebd., 34-39 Nr. 18 (Ausbau der Ver-
teidigungsanlagen des Hafens; um 229). Unbekannt sind die Ursachen für folgende epidoseis: ebd., 23 Nr. 10 (Ende 4. Jh.); ebd., 23f. Nr. 1 (Ende 4./Anfang 3. Jh.), und ebd., 39-42 Nr. 19 (183/21). Für das 2. Jh. ist eine epidosis für den Bau eines Theaters im Peiraieus bekannt; s. ebd., 43-45 Nr. 20 (Mitte des 2. Jh.s). Dabei handelt es sich für das hellenistische Athen
um das einzige gesicherte Beispicl ciner epidosis, bei dem weder militárische noch religióse Aspekte cindeutig im Vordergrund stehen. 2 TAM II 168; s. Migeotte (1992), 253-258 Nr. 80. Hingegen ist die Stiftung eines Bades
durch einen gymnasiarchos in Athen für das 3. Jh. bezeugt; s. IG II? 2860. Zur gymnasiarchia in hellenistischer Zeit s. Schuler (2004). - Spenden einzelner euergetai zum Bau von Bädern
sind auch jenseits von Athen bezeugt -- so z. B. von Diodoros Pasparos in Pergamon (IGR IV 293, col. I, Z. 19-24); vgl. Quass (1993), 196, 201 u. 206 f. Gleiches gilt für epidoseis für den Bau
und die Restaurierung von gymnasia sowie deren Ausstattung - allerdings stammt keines dieser Beispiele aus Athen; vgl. Migeotte (1992), 87-89 Nr. 31 (Elateia; ca. 160); ebd., 90-93 Nr. 33 (Larisa; zwischen 192 u. 186); ebd., 241-242 Nr. 76 (Stratonikeia; Beginn der Kaiserzeit); ebd., 242-249 Nr.77 (Halikarnassos; Ende des 3. Jh.s). *? Der sichtbare Vermerk solcher Änderungswünsche ist epigraphisch nur selten bezeugt; verwiesen sei auf IG I? 110 (408/7): Für den Metöken Oiniades wurde auf dessen Wunsch als
Herkunftsangabe Palaiskiathios statt Skiathios vermerkt; vgl. Reiter (1991), 153-156, und Adak
(2003), 212.
122
II. Athen
beigemessen wird." Bei diesem Ehrendekret, nach communis opinio der Forschung ein authentisches Dokument,” handelt es sich um ein psephisma post mortem aus dem Jahr des Archon Arrheneides, also 262/1 oder 261/0:*/$
(10)'Er' Ἀρρενείδου ἄρχοντος, ἐπὶ τῆς Ἀκαμαντίδος πέμπτης πρυτανείας, Μαιμακτηριῶνος δεκάτῃ ὑστέρᾳ, τρίτῃ καὶ εἰκοστῇ τῆς πρυτανείας, ἐκκλησία κυρία, τῶν προέδρων ἐπεψήφισεν Ἵππων Κρατιστόλεω"7)7, Ξυπεταιὼν καὶ οἱ συμπρόεδροι: Θράσων Θράσωνος Ἀνακαιεὺς εἶπεν: Ἐπειδὴ Ζήνων Μνασέου Κιτιεὺς ἔτη πολλὰ κατὰ φιλοσοφίαν ἐν τῇ πόλει γενόμενος ἔν τε τοῖς λοιποῖς ἀνὴρ ἀγαθὸς ὧν διετέλεσε καὶ τοὺς εἰς σύστασιν αὐτῷ τῶν νέων πορευομένους παρακαλῶν ἐπ᾽ ἀρετὴν καὶ σωφροσύνην παρώρμα πρὸς τὰ βέλτιστα, παράδειγμα τὸν ἴδιον βίον ἐκθεὶς ἅπασιν ἀκόλουθον ὄντα τοῖς λόγοις οἷς διελέγετο,
(11) τύχῃ ἀγαθῇ δεδόχθαι τῷ δήμῳ ἐπαινέσαι μὲν Ζήνωνα Μνασέου Κιτιέα καὶ στεφανῶσαι χρυσῷ στεφάνῳ κατὰ τὸν νόμον ἀρετῆς ἕνεκεν καὶ σωφροσύνης, οἰκοδομῆσαι δὲ αὐτῷ καὶ τάφον ἐπὶ τοῦ Κεραμεικοῦ δημοσίᾳ. Τῆς δὲ ποιήσεως τοῦ στεφάνου καὶ τῆς οἰκοδομῆς τοῦ τάφου χειροτονῆσαι τὸν δῆμον ἤδη τοὺς ἐπιμελησομένους πέντε ἄνδρας ἐξ Ἀθηναίων. Ἐγγράψαι δὲ τὸ ψήφισμα τὸν γραμματέα τοῦ δήμου ἐν στήλαις δύο καὶ ἐξεῖναι αὐτῶν" θεῖναι τὴν μὲν ἐν Ἀκαδημίᾳ, τὴν δὲ ἐν Λυκείῳ. Τὸ δὲ ἀνάλωμα τὸ εἰς τὰς στήλας γινόμενον μερίσαι τὸν ἐπὶ τῆς διοικήσεως. Ὅπως ἅπαντες ἴδωσιν ὅτι ὁ δῆμος ὁ τῶν Ἀθηναίων τοὺς ἀγαθοὺς καὶ ζῶντας τιμᾷ καὶ τελευτήσαντας.
(12) Ἐπὶ δὲ τὴν
* Vgl. z.B. Erskine (1990), 83f.; Decleva Caizzi (1993), 310; Zanker (1995), 93-97; Korhonen (1997), 83-85; Scholz (1998), 320-322, und Sedley (1998), 474f. - Auffällig ist das
immense Pathos, das bei vielen Äußerungen zu diesem Dekret mitschwingt. So schreibt Wilamowitz-Mocllendorff (1881), 232: «wer die Athener liebt, wems an herze geht, wenn er sie in
diesen zeiten ihres verfalls oft verachten muß, dem tut es wol hier zuletzt, in der furchtbaren not, einen zug des alten wahren Atheneradels zu finden. es ist doch noch die eine eintracht auf erden: Athen und die philosophie». Und Tarn (1913), 309 mit Anm. 106, schreibt: «only a man touched by strong feeling could have written the preamble.» Auch die jüngere Forschung läßt pathetische Töne anklingen; s. Gschnitzer (1990), 54: «Kein Zweifel, der große Philosoph, ein Ausländer, ein Metoike, bis zu seinem Tode, hat sich um Athen verdient gemacht wie nur irgendein Feldherr oder Staatsmann.» *5 Grundlegend in dieser Hinsicht ist die Arbeit von Droysen (1881); s. auch WilamowitzMoellendorff (1881), 340-344; Tarn (1913), 309; Rhodes (1972), 277, und Habicht (19882),
173. Zur These, daß es sich bei dem in Diogenes Laertios vorliegenden Text um die Kombination zweier psephismata handelt, s. unten S. 125f. 46 Diog. Laert. 7,10-12. Der Text folgt bis auf fünf Ausnahmen - s. dazu S. 118 mit Anm. 461 u. unten Anm. 477-480 - der Edition von Marcovich. - Zur Datierung des Archon Arrheneides s. oben S. 118f.
47 Hippons Patronymikon ist in den Handschriften korrupt überliefert; die Konjektur stammt von Kirchner (PA 7679); s. dazu Habicht (1988a), 174f.
478 Im Gegensatz zu Marcovich akzeptiere ich hier - wie auch Long - die Korrektur von Wilamowitz-Moellendorff (1881), 341; vgl. Haake (2004), 471 mit Anm. 5.
6. Die Stoa
123
οἰκοδομὴν κεχειροτόνηνται Θράσων Ἀνακαιεύς, Φιλοκλῆς Πειραιεύς, Φαῖδρος Ἀναφλύστιος, Μένων Ἀχαρνεύς," Σμίκυθος Συπαληττεύς,^ [Δίων Παιανιεύς}.""
Als Arrheneides Archon war, während der fünften Prytanie der (Phyle) Akamantis, am einundzwanzigsten (Tag) des (Monats) Maimakterion, am dreiundzwanzigsten
(Tag) der Prytanie, Hauptvolksversammlung, von den Prohedroi liefl durch Abstimmung entscheiden Hippon, Sohn des Kratistoleos, aus Xypetaion und die Kollegen: Thrason, Sohn des Thrason, aus Anakaia stellte den Antrag: Da Zenon, Sohn des Mnaseas, aus Kition viele Jahre um der Philosophie willen in der Stadt lebte und überhaupt fortwährend ein guter Mann war, insbesondere aber diejenigen der Jungen, die in Zusammenkunft mit ihm kamen, durch Aufforderung zu Tugend und
Besonnenheit zum Besten führte, indem er als Beispiel allen das eigene Leben gab, das den Lehren, die er sagte, entsprach. Zum guten Glück, möge beschließen das Volk: daß man Zenon, Sohn des Mnaseas, aus Kition lobe und mit einem goldenen Kranz gemäß dem Gesetz wegen seiner Tugend und seiner Weisheit bekränze und ihm ein Grabmal auf öffentliche Kosten im Kerameikos errichte; daß für die Anfertigung des Kranzes und die Errichtung des Grabmals das Volk sogleich fünf Männer aus den Athenern auswähle, die verantwortlich sein werden. Den Volksbeschluß soll der Schreiber des Volkes auf zwei Stelen schreiben, und es soll ihm erlaubt sein, die eine in der Akademie aufzustellen, die andere im Lykeion. Die Ausgabe für die Anfertigung der Stelen soll auszahlen der für die Finanzverwaltung Zuständige. Damit alle sehen, daß der demos der Athener die Guten sowohl zu Lebzeiten als auch nach dem Tod ehrt. Für die Errichtung wurden ausgewählt Thrason aus Anakaia, Philokles aus Peiraieus, Phaidros aus Anaphlystos, Menon aus Acharnai, Smikythos aus Sypalettos, [Dion aus Paiania]. «There are minor divergences from the normal language of decrees, but in this literary copy they are less significant than the general normality of the text.»** 7 Auch dieser Name ist in den Handschriften korrupt überliefert; zur Konjektur s. Droysen (1881), 296; vgl. Habicht (19882), 174. Menon, Sohn des Proxenides, aus Acharnai, ist in IG II? 682, Z. 100 u. Agora XVII 91 bezeugt.
10 Dieser Name ist gleichfalls korrupt überliefert. Vgl. Köhler (1884), 300 mit Anm. 2, zum korrekten Namen; s. auch Habicht (19882), 176. Follet in BE 1989, Nr. 62, stellt die Frage, ob diese Konjektur notwendig sei, da Μίκυθος in IG XI 2, 199 A, Z. 33 bezeugt sei. “ἢ Für gewöhnlich wird der sechste Name am Ende des psephisma athetiert; s. Köhler (1884),
300 mit Anm. 2, und Habicht (1988a), 173-175. Die Aussage von Tracy (2003b), 17 f. («May we not reasonably suspect that although he [d. i. Thrason] is listed for simplicity's sake as clected, the Athenians cither ratified, or simply accepted, the king's man then elected five others from among their number?») vermag nicht zu überzeugen. Zu bedenken ist, daf? diese Liste von Namen nicht die einzige literarisch überlieferte ist, in der mehr Personen genannt werden als nach der Vorgabe angeführt werden sollten; vgl. dazu Haake (2004), 473 mit Anm. 18. 42 Rhodes with Lewis (1997), 16f.
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Ii. Athen
Dieses Urteil spiegelt paradigmatisch die moderne Forschungsposition zum «enondekreb wider. Ausgangspunkt aller Auseinandersetzungen mit der Authentizität des psephisma ist stets seine äußere Form gewesen, niemals jedoch der Inhalt. Zwar fehlen im Práskript der grammateus und die Sanktionsformel, doch handelt es sich bei dem von Diogenes Laertios überlieferten Text der Form nach unzweifelhaft um ein nicht-proboulematisches Dekret mit allen Standardelementen.** Ausgehend von der als erwiesen erachteten Historizitát des psephisma hat sich die Forschung den einzelnen Textelementen zugewandt und zu Recht erkannt, daß die für Zenons Ehrung angeführten Gründe als einzigartig für einen Philosophen im hellenistischen Athen anzusehen sind.*5 Analysiert man aber gerade diese Textbausteine hinsichtlich der Frage der Authentizitát des psephisma und bewertet die äußere Form nicht als hinreichende Begründung, sondern allein als notwendige Voraussetzung für die Echtheit, so ergibt sich eine andere Antwort: Da Ehrendekrete eben nicht nur in ihrer Form, sondern in gleicher Weise auch hinsichtlich ihres Inhaltes hóchst formalisierte Sprechakte einer Gemeinschaft sind, deren akzeptierte und propagierte Normen sie in der Öffentlichkeit widerspiegeln, gelangt man zu dem Ergebnis, daß das «Zenondekreb in der vorliegenden Form nicht authentisch sein kann, sondern ein literarisches Produkt darstellen muß.‘ Die Motivation der Ehrung Zenons enthält viele Aspekte, die nicht Bestandteil eines Ehrendekrets des athenischen demos sein kónnen; vielmehr sind sie als dem literarisch-philosophischen Diskurs geschuldete Elemente oder aber gar als Philosopheme anzusehen.**? Auch die beiden für
die Publikation des psephisma bestimmten Orte - nämlich das Lykeion und die Akademie - sind ebenso auffällig wie erklárungbedürftig,'* da es sich bei diesen gymnasia extra muros nicht um diejenigen Plätze in Athen handelt, an denen in der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts für gewöhnlich Dekrete öffentlich aufgestellt wurden.“ Die Publikation in der Akademie und im Lykeion gewinnt jedoch in besonderer Weise an Sinn, wenn der Adressat der Ehrung nicht in * Vgl. z.B. Habicht (1994), 242; s. auch oben S. 122 mit Anm. 474. Die einzige Ausnahme ist Susemihl (1891-92), [ 54 mit Anm. 196, der in Erwägung zieht, daß es sich um eine Fälschung handeln könnte - allerdings begründet er seine Sichtweise nicht. #4 Vgl. auch Meritt (1981), 96, und Rhodes with Lewis (1997), 49. Das Fehlen des grammateus ist in athenischen Dekreten verschiedentlich bezeugt; s. Haake (2004), 473 mit Anm. 17. “8 Vgl. z. B. Habicht (1994), 242.
#86 Ausführlich habe ich dies in Haake (2004) dargelegt. *7 Vgl. Haake (2004), 475-479. 486 Diog. Laert. 7,11. Zu den Publikationsbestimmungen in attischen Dekreten s. Henry
(2002); Beispiele für die doppelte Publikation von psephismata im hellenistischen Athen sind zusammengestellt bei Haake (2004), 480 mit Anm. 52.
* Vgl. Liddel (2003), 79-85, zu Akropolis, Agora und Heiligtümern als gängigen Publikationsorten athenischer Dekrete; s. auch Haake (2004), 480 mit Anm. 54.
6. Die Stoa
125
erster Linie die athenische Offentlichkeit ist, sondern vielmehr das philosophische Publikum zweier mit der Stoa rivalisierenden Philosophenschulen, nämlich der Akademiker und der Peripatetiker. Die transportierte Botschaft ist eindeutig: Zenon ist der Beste der Philosophen.*” Trotz dieser Ergebnisse ist wegen des Formulars und zweier literarischer Zeug-
nisse,*?! die Zenons Ehren partiell bestätigen, nicht grundsätzlich die Historizität eines athenischen Ehrendekrets post mortem für den Gründer der Stoa zu negieren. Zu fragen ist aber, wie die angeführten Auffälligkeiten zu erklären sind. Diese Frage ist kaum damit zu klären, daß es sich beim Antragsteller des psephisma um Thrason, Sohn des Thrason, aus Anakaia handelte. Nach Diogenes Laertios wurde dieser durch den makedonischen Kónig Antigonos Gonatas instruiert, die Athener aufzufordern, Zenon mit einem Grab im Kerameikos zu ehren.*?
Als Zenon starb, hatten die Athener sich kurz zuvor dem makedonischen Kónig ergeben, da sie im Chremonideischen Krieg auf der Verliererseite standen.*? Daß Antigonos, der angeblich große Bewunderung für den Gründer der Stoa hegte, gegenüber Thrason zum Ausdruck brachte, daf? Ehren für Zenon sein Wohlgefallen finden würden, mag zutreffen - aber dies ist keine hinreichende Erklärung für die besonderen Inhalte der vorgeblichen Inschrift. Auch ein Ehrendekret, das
auf monarchischen Wunsch hin beschlossen wurde, muf die Normen der Polis widerspiegeln.*”* Auch die These, das von Diogenes Laertios angeführte psephisma als Vermengung von zwei ursprünglich verschiedenen athenischen Inschriften anzusehen, vermag die Auffälligkeiten bei der Begründung für Zenons Ehrung nicht erklären und ist nicht überzeugend.“ Diese Überlegung setzt voraus, daß Zenon einmal zu Lebzeiten von den Athenern mit einem goldenen Kranz geehrt wurde und ein zweites Mal post mortem. Im Rahmen der zweiten Ehrung wäre ihm eine Grabstätte im Kerameikos zugesprochen worden, deren Existenz von Philo-
^» Hierzu s. ausführlich Haake (2004), 479-481.
**! Vgl. dazu unten δ. 126 mit Anm. 496. *? Diog. Laert. 7,15; vgl. zu dem skizzierten Erklärungsansatz u.a. Habicht (19882), 173. 45 Zur Situation in Athen in dieser Zeit s. FGrHist 244 F "44 = Philod. de Stoic. col. IV, Z. 6-13 Dorandi; vgl. Habicht (19972), 142-157, u. (2003); Dreyer (1999), 167-174, und Tracy
(20032). ** Vgl. hierzu Gauthier (1985b), 77-89 u. 124-128, sowie Kralli (1999-2000), 138f. Ein
instruktiver Beleg in dieser Hinsicht sind die Ehrungen griechischer Poleis für die philoi hellenistischer Kónige - diese Ehrendekrete befinden sich mit den in ihnen ausgesprochenen Verdiensten und Ehren stets im Rahmen der Polis-Ideologie; vgl. dazu Ma (1999), 206-211. #5 Nach Droysen (1881), 297-301; Wilamowitz-Mocllendorff (1881), 341-344, und Beloch (1925), 455 mit Anm. 3, hat auch Hahm (1992), 4110-4113, für eine kompositorische Kom-
bination von zwei originalen Dekreten argumentiert. Anders - und zutreffend - hingegen Habicht (1994), 242.
126
II. Athen
dem und Pausanias bezeugt wird.9$ Der Hauptgrund, der für die Kombination zweier athenischer psephismata für Zenon angeführt wird, ist nicht zwingend: Eine verstorbene Person könne nicht mit einem Kranz geehrt werden." Es gibt aber sowohl in verschiedenen Poleis** als auch im hellenistischen Athen Beispiele für Ehrungen mit einem Kranz post mortem.*? Die Ehre, die Zenon nach seinem Tode neben einem goldenen Kranz von den Athenern erhielt, ist außergewöhnlich - ein öffentliches Begräbnis im Kerameikos war lange Zeit Privileg der im Krieg Gefallenen; erst im Laufe des Hellenimus und während der Kaiserzeit kam es dort zu Begräbnissen verdienter Einzelner.’% Auf Grund der bei Pausanias vorliegenden Beschreibung ist klar, daf$ sich Zenons Grabmal in unmittelbarer Nähe der Akademie befunden hat.‘ Es besteht trotz der beschriebenen Auffälligkeiten kein zwingender Grund, grundsätzlich an der Historizität eines athenischen Ehrendekrets post mortem #s Philod. hist. Stoic. col. VI, Z. 7-9 Dorandi u. Paus. 1,29,15; s. auch Diog. Laert. 7,29. *? So z.B. Droysen (1881), 297; Tarn (1913), 309 mit Anm. 106; Erskine (1990), 83, und
Hahm (1992), 4111-4113. Dieser führt zur Stützung seiner These Diog. Laert. 7,29 an, nach der die Athener Zenon im Kerameikos bestatteten und ihn mit den zuvor erwáhnten Dekreten ehrten. Voraussetzung für Hahms Argumentation ist, daß er allein das im Text des psephisma erwähnte Begräbnis und den dort angeführten Kranz betrachtet, nicht jedoch die von Diogenes Laertios (7,6) ebenfalls bezeugte Statue. Hahms Ansatz erscheint nicht überzeugend, zumal
er auch die epidosis-Liste (Diog. Laert. 7,12) unberücksichtigt läßt, auf die sich die «erwähnten psephismata» durchaus beziehen können. Vor allem muß Hahm bei seinem Ansatz von einer hohen Kohárenz von Diogenes’ Zenonvita ausgehen - bei der Arbeitsweise, die gerade er sonst dem Biographen zuspricht (Hahm [1992], 4106-4113), stellt dies eine hohe Hypothek dar. ** Es gibt einerseits Beispiele für Dekrete, in denen für lebende Personen beschlossen wurde, daß diese nach dem Tod bei ihrem Begräbnis mit einem goldenen Kranz ausgezeichnet werden sollen (s. I.Priene 111, Z. 307 [Anfang des 1. Jh.s]; vgl. Herrmann [1995], 196f.), und anderer-
seits gibt es Zeugnisse für post mortem beschlossene psephismata, in denen dem Toten im Rahmen ciner Ehrung ein Kranz zugesprochen wurde; vgl. u.a. I.Smyrna I 515, Z. 7 f. (2. Jh.), IG IP 11965 = L. Smyrna I 516 (2. Jh.; s. Robert [1944], 44-46), Chaniotis (2004), 378-386 Nr. 1, Z. 2326, und Cic. Flacc. 31,75. Vgl. zu Ehrendekreten post mortem z. B. Robert (1954), 176 u. (1959), 218; Gauthier (1985b), 61, und Ehrhardt (1994), 42 f. u. 53; zu Ehrenkränzen allgemein s. Blech (1982), 153-161, und vgl. Henry (1983), 22-62, zur Verleihung von Kränzen in Athen. 49 [IG II? 513, Z. 2f. Es handelt sich dabei, wenn Osborne (1981b), 172-174, recht hat, um ein
Fragment des Ehrendekrets post mortem für Lykurg; s. S. 18 mit Anm. 17. 560 Vgl. Stupperich (1977), 24 u. bes. 263-265, sowie Clairmont (1983), 34. Zu dieser Aus-
nahme gehórt auch der Stoiker Chrysipp (s. unten S. 129f.). 59! Vgl. Paus. 1,29,15 mit Clairmont (1983), fig. 5; s. auch Pritchett (1998), 7 f., sowie Weber
(1926), 316. Die Erwähnung der Gräber von Zenon und Chrysipp ist unabhängig von Pausanias' literarischer Vorlage bzw. Quelle für das Demosion sema - der Schrift περὶ (τῶν) μνημάτων des Diodoros des Periegeten (FGrHist 372 F *34-39) zu sehen; vgl. FGrHist III b Text, 139 mit FGrHist ΠῚ b Noten, 96, sowie Knoepfler (1996), 278 u. 305 f. Was Pausanias seinerzeit im
Kerameikos noch schen konnte, ist auf Grund der Zerstörungen durch Philipp V. und Sulla unklar; s. ebd., 279.
6. Die δίοα
127
für Zenon zu zweifeln, da die Qualitát von Bestandteilen des Formulars - wie
vor allem des Práskripts - gegen eine vollstándige Erfindung einer Ehreninschrift für Zenon sprechen.?? Als nichtauthentisch sind aber diejenigen Teile dieses psephisma anzusehen, die eine besondere Aussagekraft besitzen, jedoch nicht im athenischen Argumentationshaushalt für Ehrungen zu verorten sind. Die Intention, die Diogenes Laertios mit der Anführung des «Zenondekrets verfolgt, ist evident: Dem Leser soll vermittels «dokumentarischen Beweisstücke vor Augen geführt werden, daß Zenon bei seinen Zeitgenossen in hohem Ansehen stand.5? Doch Diogenes Laertios war nicht der erste Autor, der in der biographischen Tradition zu Zenon «Dokumente verwandte, sondern er beruft sich für seine Ausführungen auf Apollonios von Tyros." Über diesen ist nicht viel bekannt, jedoch lassen sich Kontext und Intention seiner Schriften rekonstruieren:** In einem Abschnitt über das phónikische Tyros erwähnt Strabon Apollonios, der über Zenon und die stoische Schule nicht lange vor den Lebzeiten des Geographen geschrieben habe. Somit ergibt sich eine ungefáhre Datierung des Apollonios in das späte zweite oder frühe erste Jahrhundert.’ Ziel von Apollonios' Schrift πίναξ τῶν ἀπὸ Ζήνωνος φιλοσόφων καὶ τῶν βιβλίων war es, für Zenon eine apologetische Schrift zu verfassen. Dieser wurde im zweiten und ersten Jahrhundert nicht nur von Philosophen anderer Schulen, sondern auch von Stoikern heftig kritisiert. Eines seiner wichtigsten Werke, die Politeia, hatte Zenon nämlich unter dem Einfluß seines kynischen Lehrers Krates von Theben «auf dem Hundeschwanz» geschrieben." Der Vorwurf gegen dieses Frühwerk, einen kynischen Charakter zu haben, bedeutete nicht allein, die Schrift selbst anzugreifen, sondern zielte darauf ab, die ethische Integritát des Autors grund502 Vgl. Haake (2004), 472 f. 59 Dazu gehört auch die Korrespondenz mit Antigonos Gonatas; s. S.
119 mit Anm. 464. Die
Frage der sozialen Reputation und öffentlichen Ehrungen ist ein zentraler Topos in den bioi des Diogenes Laertios; s. Hope (1930), 99.
5* Zu Apollonios als Quelle des bei Diogenes Laertios vorliegenden «Zenondekreto s. Habicht (19882), 173, und Hahm (1992), 4118f. 55 Vgl. H.v. Arnim, RE II, 1, 1895, 146, s. v. (94); Mejer (1978), 74f., und R. Goulet, DPhA I, 1989, 294, s. v. (A 286).
506 Strab. 16,2,24. Strabon selbst war philostoisch eingestellt; s. Unger (1887), 103. 9$" Diog. Laert. 7,4. Vgl. Erskine (1990), 9-42, und Schofield (1999), 22-56, sowie Dawson (1992), 160-222, 2u Zenons Politeia. Grundlegend zu dieser und ihrer negativen Rezeption in der antiken Philosophie sowie zu antizenonischer Polemik ebenso wie zu apologetischem
Schrifttum ist jetzt Murray (2005), bes. 204-206 -- ich danke O. Murray für sein freundliches Entgegenkommen, mir das Manuskript bereits vor der Publikation zur Verfügung zu stellen. Der entscheidende Punkt in diesem Kontext ist nicht die Diskussion um die bereits in der Antike kontrovers diskutierte Frage, ob Zenon und seine Politeia kynisch beeinflußt waren, sondern der Umstand, daß es möglich und plausibel war, diesen Punkt zu erörtern und positiv zu beantworten. Zu Diogenes’ Politeia vgl. Dorandi (1993).
128
IL Athen
sátzlich zu diskreditieren. Die apologetische Strategie des Apollonios antwortet auf die philosophisch begründeten Vorwürfe durch die Einführung vorgeblich authentischer, nicht-philosophischer Evidenzen. Und konnte es besseres Entla-
stungsmaterial für Zenon geben als ein athenisches Ehrendekret, das die außerordentliche Moral des Gründers der Stoa bezeugte?°® Eine kreative Arbeit an einem athenischen Dekret war «alles, was Apollonios tun mußte - und er legte eine exzellente Arbeit vor: einen Text, der prázise das Formular eines originalen athenischen Ehrendekrets widerspiegelt, jedoch in seinen Inhalten eine Invention darstellt, die durch die korrekte äußere Form als authentisch imaginiert wird.5® Hinsichtlich der Frage nach der Stellung von Philosophen und Philosophie im hellenistischen Athen besitzt der von Diogenes überlieferte Dekrettext also nur beschränkten Aussagewert für die Zeit um 260, da eine Rekonstruktion zentraler Textpassagen wie der Motivation eines anzunehmenden originalen psephisma nicht möglich ist. Zudem ist, auch wenn Thrason, der Antragsteller des Dekrets, nicht für die Auffälligkeiten im Text des Dekrets als verantwortlich anzusehen ist,
die Ehrung des Gründers der Stoa nicht primär ein autonomer Ausdruck athenischer Wertschätzung von Zenon. Das Dekret ist immer auch im Kontext der athenischen Niederlage im Chremonideischen Krieg zu sehen: Denn der Sieger Antigonos II. Gonatas soll ja Thrason damit beauftragt haben, bei den Athenern eine Ehrung Zenons zu bewirken? - akzeptiert man diese Nachricht, so konnte aus der athenischen Perspektive das psephisma für den Philosophen aus Kition zumindest auch als Loyalitátsbekundung und Gefälligkeitserweis angesehen werden.?!! Das Dekret ist somit nicht allein ein exklusives Zeugnis für das Verhältnis der Athener zum Gründer der Stoa und zu dessen Stellung in Athen, sondern auch Ausweis der Beziehung zwischen Antigonos Gonatas und Zenon.?? Aus-
9? Es ist nicht möglich zu entscheiden, ob Apollonios selbst das originale Dekret in Athen abschrieb oder aber ob er - was wahrscheinlicher erscheint - auf eine Sammlung athenischer psephismata zurückgreifen konnte, in der sich das «Zenondekret befand; zu derartigen Inschriftensammlungen vgl. Haake (2004), 482f. mit Anm. 73. 33 Das literarische Arbeiten an und mit Inschriften als Dokumenten befand sich seit dem 4. Jh. auf einem hohen Niveau; vgl. dazu Haake (2004), 482f. mit Anm. 73, u. (2006b), 349f. mit Anm. 114. 5? Diog. Laert. 7,15; vgl. Habicht (19972), 158, und s. dazu auch oben S. 125.
st! Vgl. Scholz (1998), 321; anders hingegen 2. B. Sonnabend (1996), 259, und auch Habicht (1994), 242.
?? Die Beziehung zwischen dem stoischen Philosophen und dem vermeintlichen «Philosophenkónig» Antigonos (man denke an Ail. var. 2,20; s. Volkmann [1967]) - vgl. die Bewertungen von Green (1990), 141-143 (,, Antigonus Gonatas, then, may fairly be called the first Stoic king.» [143]) und Leuteritz (1997), 55f. («Die stoische Philosophie bildet die Grundlage der antigoni-
6. Die Stoa
129
zuschließen ist natürlich nicht, daß sich die Athener mit der Ehrung und dem ursprünglichen Inhalt der Inschrift identifiziert haben kónnten. b) Ein Epigramm für Chrysipp und zwei Bronzestatuen Chrysipp, nach Alexander Polyhistor Schüler des stoischen Scholarchen Kleanthes,?? soll gemäß der antiken Tradition, die auf Apollodors Chronika basiert, im Alter von 73 Jahren in der 143. Olympiade, also zwischen 208 und 204, in Athen verstorben sein;?'* das Geburtsdatum muß demnach zwischen 281 und 277 gelegen haben.55 Geboren wurde er im kilikischen Soloi als Sohn eines ursprünglich aus Tarsos stammenden
Apollonios.’'‘ Während
seines Scholarchats, das zwi-
schen dem Tod des Kleanthes im Jahre 230/295"? und Chrysipps eigenem Tod anzusetzen ist, führte er die Stoa zu hohem Ansehen. In Athen soll er die Wertschátzung der Bevólkerung genossen und im Gegensatz zu Zenon und Kleanthes seine Einschreibung in das athenische Bürgerrecht betrieben haben.’'® Aus der antiken Überlieferung sind zwei Statuen des Chrysipp in Athen bekannt: Cicero läßt in de finibus L. Manlius Torquatus von einer Sitzstatue des Chrysipp im Kerameikos berichten, die eine ausgestreckte Hand habe.?? Über diese Statue berichtet Diogenes Laertios in seiner Chrysippbiographie, daß sie die unscheinbare physische Konstitution des Scholarchen bezeuge. Die Statue, disch-makedonischen Herrschaftsauffassung» [55]) - ist in der Überlieferung anekdotisch ausgestaltet worden; vgl. in Ansátzen Gabbert (1997), 4-6, sowie auch Haake (2003), 95-97. 55 FGrHist 293 F 91 = Diog. Laert. 7,179; zu Kleanthes s. C. Guérard, DPhA II, 1994, 406415, s. v. (C 138). 54 FGrHist 244 F 46 = Diog. Laert. 7,184. 515 Vgl. H.v. Arnim, RE III, 2, 1899, 2502-2509, hier 2502, s. v. (14), und R. Goulet, DPhA II, 1994, 329—336, hier 332, s. v. (C 121).
515 Vgl. Strab. 14,5,8. Diogenes Laertios, basierend auf Alexander Polyhistors diadoche (Diog. Laert. 7,179 = FGrHist 293 F 91), nennt Soloi oder Tarsos als Chrysipps patris. In der Suda (s. v. Χρύσιππος) wird der Name des Vaters mit Apollonides angegeben; Philodem führt móglicherweise beide Namensformen in der Historia Stoicorum an (col. XXXVII, Z. 4-6 Dorandi). 57 Zu Kleanthes’ Todesdatum s. Dorandi (1991), 27. 518 Plut. mor. 1034a. Plutarch basiert in seiner polemischen Schrift de Stoicorum repugnantiis
auf der Abhandlung περὶ τῆς Κλεάνθους kal Χρυσίππου διαφορᾶς des Stoikers Antipatros von Tarsos (SVF III Antipater Tarensis frg. 66), deren genauer Inhalt unbekannt ist; s. Steinmetz (1994), 638.
5:9 Cic. fin. 1,39: Dieser Gestus deutet auf eine Frage des Chrysipp hin. Die Überlegung, die von Cicero bezeugte Statue basierend auf einer Kombination mit Sidon. Apoll. epist. 9,9,14 u.
Plin. nat. 34,38 dem Bildhauer Eubulides zuzuweisen, muß spekulativ bleiben; s. von den Hoff (1994), 110, und Despinis (1995), 336f. Wahrscheinlich ist mit der von Cicero beschriebe-
nen Statue eine in sechzehn Kopf- und drei Statuenrepliken bekannte Sitzstatue des stoischen Scholarchen identisch; vgl. von den Hoff (1994), 96-101; Zanker (1995), 98-102; Kunze (2002), 63-69 u. 243-246, und ferner Thiclemann - Wrede (1989), 126-128.
130
II. Athen
die im Schatten eines Reiterstandbildes stehe, habe Karneades dazu veranlaßt, den Stoiker nicht Chrysippos, sondern Krypsippos - den vom Pferde verdeckten - zu nennen.?? Es liegt nahe, diese Statue mit dem von Pausanias bezeugten Grabmal des Chrysipp im Kerameikos in Verbindung zu setzen.?! Die zweite Statue erwähnt Pausanias: Im Ptolemaion, nicht weit von der Agora entfernt gelegen, befände sich auch ein bronzenes Bildnis des Chrysipp aus Soloi.??? Plutarch zitiert am Ende seiner ersten Invektive gegen die Stoiker in der Schrift de Stoicorum repugnantiis ein Distichon, das Chrysipps Neffe Aristokreon auf der Basis eines von ihm errichteten Bronzebildnis angebracht habe:55 τὸν vevvov Χρύσιππον Apictokpéov ἀνέθηκη, τῶν Ἀκαδημιακῶν στραγγαλίδων κοπίδα. Den Onkel Chrysipp weihte Aristokreon, das Schlachtbeil der Knoten der Akademiker.
Der Beginn des Textes ist korrupt und basiert in der hier zitierten Form auf einer wohlbegründeten Konjektur von Wilhelm, der das handschriftlich überlieferte τόνδε νέον zu vévvov emendierte.?^
5? Diog. Laert. 7,182. 5! Paus, 1,29,15; zum Aufstellungsort s. Clairmont (1983), fig. 5. Vgl. Stupperich (1977), 21,
zur These, daß Chrysipps Grab mit einer Statue versehen war; gegen diese Annahme bat sich Witschel (1995), 318, ausgesprochen. - Aus dem Theater von Salamis auf Zypern ist darüber hinaus eine in das 1. Jh. n. Chr. zu datierende Herme des Chrysipp bekannt, auf der sich vielleicht ein Porträt des Stoikers befand; s. Karageorghis (1962), 404. 532? Paus. 1,17,2. Möglicherweise ist auf diese Chrysippstatue im Ptolemaion auch die Nachricht bei Sidonius Apollinaris (epist. 9,9,14) zu beziehen, daß sich ein Bildnis Chrysipps in einem der gymnasia in der Nähe des Areopags befunden habe; vgl. Witschel (1995), 319f. mit Anm. 22, der auch in Erwágung zieht, ob das Bildnis im Ptolemaion nicht eine Kopie des ande-
ren, von Cicero bezeugten Bildnisses gewesen sein kónnte. Zur Lage des Ptolemaion s. Vanderpool (1974) und vgl. auch Lippolis (1995), 51-55 u. 65 ἔ; zum Ptolemaion genannten gymnasion s. Bringmann - Steuben (1995), 45-48 KNr. 17 [L] u. [A].
523 Plut, mor. 1033e; vgl. dazu Deike (1963), 26-33. 54 Vgl. grundlegend Wilhelm (1900), 669f. Zu den neben τόνδε νέον ebenfalls in Handschriften bezeugten Varianten τὸν νέον und τὸν θεῖον s. den app. crit. ad loc. in Pohlenz Edition von de Stoicorum repugnantiis. Während, basierend auf einer eingehenden Studie, Deike (1963), 26-30 (s. auch BE 1969, Nr. 184), Wilhelms Konjektur zugestimmt hat, sprach sich
Ingholt (1967/68), 174f., mit wenig überzeugenden Gründen dagegen aus; s. ebenso Franke (1990), 384 f., und F. Queyrel, DPhA II, 1994, 361-365, hier 362, s. v. (C 121 Iconographie). Das
Wort νέννος ist eine Rarität in der griechischen Überlieferung. Es gibt nur zwei weitere epigraphische Belege: IG XII 3 Suppl. 1628 (spáte Datierung ohne genauere Angabe) u. IC II xiii 5 (2. Jh. n.Chr.). Auch literarisch ist vévvoc im 3. und 2. Jh. nur ein einziges Mal belegt - nämlich
bei Aristophanes von Byzanz (frg. 225 Slater); auf dieser Stelle basiert die Definition im Onomastikon des Pollux (3,22).
6. Die Stoa
131
Ob dieses literarisch überlieferte Epigramm - wie von Plutarch behauptet - auf der Basis einer Chrysippstatue stand, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, da sich das Verfassen von vorgeblichen Steinepigrammen seit der hellenistischen Zeit einer großen Beliebtheit erfreute und in vorliegendem Fall keine Kriterien gegeben sind, die eine Entscheidung ermöglichen würden.?? Die Frage, zu welcher der beiden bekannten Statuen des Chrysipp das Distichon gehórte -- vorausgesetzt, es handelt sich um ein inschriftliches Epigramm -, ist ebenfalls nicht zu beantworten.?* Sollte aber eine literarische Invention vorliegen, so ist es durchaus möglich, daß Aristokreon der Verfasser dieser Verse gewesen ist, die er in seinen Χρυσίππου ταφαί veröffentlicht haben könnte.??” Eindeutig sind der privat-persónliche Ton des Epigramms und die Bezugnahme auf Chrysipp und seine philosophischen Auseinandersetzungen mit der Akademie.’ Beide Aspekte sind damit zu erklären, daß es sich um eine Weihung von Chrysipps Neffen Aristokreon handelt. Auch wenn man auf dieses Distichon im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine allzu weitreichenden Aussagen gründen möchte, so ist doch festzuhalten, daß es sich nicht von anderen, inschriftlich überlieferten privaten (Grab-)Epigrammen auf Philosophen unterscheidet.’ c) Der Chrysippneffe Aristokreon und sein homonymer Sohn Über Aristokreon, Schwestersohn und zugleich auch Schüler Chrysipps, sind aus der literarischen Überlieferung nur sehr wenige Details bekannt.’” Alle Nachrichten stehen in Zusammenhang mit seinem Onkel, der Aristokreon und dessen Bruder Philokrates nach Athen holte und bei sich aufnahm, um beiden eine Erziehung angedeihen zu lassen.?! Aus dem von Diogenes Laertios überlieferten Werkverzeichnis Chrysipps geht hervor, daß dieser zehn Werke seinem Neffen Aristokreon widmete;?? der seinerseits dem Onkel eine Bronzestatue errichtete und Χρυσίππου ταφαί verfafite.? Weiteres, wie etwa die Lebensdaten Aristo-
55 Vgl. Meyer (2005), 107-110. 95 Vgl. dazu von den Hoff ?7 Diese Schrift ist bezeugt 33 Einer der Hauptgründe schen Schárfe, worin er sogar
(1994), 109-111. in Philod. hist. Stoic. col. XLVI, Z. 4f. Dorandi. für Chrysipps philosophisches Renommee lag in sciner dialektiden Akademiker Arkesilaos übertroffen haben soll, gegen den er
eine Schrift verfaßte; vgl. Steinmetz (1994), 585, sowie bes. Long (1980), 170f.
55 Vgl. hierzu auch S. 104-106, 175f. u. 227-229. 5 Vgl. H.v. Arnim, RE Il, 1, 1895, 942, s. v. (2), und S. Follet, DPhA I, 1989, 386-389, s. v.
(A 374). ?! Diog. Laert. 7,185 = Demetr. Magn. F 24 Mejer. 5? Diog. Laert. 7,189-202. ?? Plut. mor. 1033e; s. oben mit Anm. 527.
132
H. Athen
kreons oder Elemente seiner Biographie, ist aus der literarischen Überlieferung unbekannt. Im Corpus der attischen Inschriften finden sich zwei nicht vollstándig erhaltene Ehrendekrete, in denen jeweils ein Aristokreon geehrt wird: IG IP 785 und 786. Beide Inschriften sind auf dieselbe Person bezogen worden und diese wiederum wurde mit dem Neffen Chrysipps identifiziert.* Auf Widerspruch sind
diese Gleichsetzungen nicht gestoßen, stets haben sie Zustimmung gefunden oder sind stillschweigend akzeptiert worden.55 Eine Wiederaufnahme der Diskussion ist aber geboten, da beide Inschriften mittlerweile anders als seinerzeit datiert werden.5* Dabei ist mit dem zuerst bekannt gewordenen Text zu beginnen, dem heute unter IG IT? 786 firmierenden Ehrendekret:°?
[(...) ano]8
ἰ[σταλεὶς] δὲ xai παρὰ τῆς πόλεως τῆς Ze[Aeukéov πρὸς T]-
[ὸν δῆϊμον τά τε ἐξ ἀρχῆ[ς] οἰκεῖα ὑπάρ[ίχοντα Σελευκ)][εῦσι]ν ἐκ προγόνων ἀνενεώσατο καὶ o[vvennd£n]-
[ce] μετὰ τῶν συμπρεσβευτῶν τὰ φιλίάνθρωπα τὰ πρὸ]12
ἰ[ς ἀ]λλήλας ταῖς πόλεσιν" ἐφ᾽ οἷς πάλιν [ἐστεφάνωσεν] [αὐ]τὸν ὁ δῆμος: καὶ ἐν τοῖς ἄλλοις δὲ [πᾶσιν διετέλει)
φροντίζων τῆς πόλεως ὡσανεὶ ὑπὲ[ρ τῆς πατρίδος]"' ὅπως ἂν οὖν ἐφάμιλλον e[T] evepyeteliv πᾶσιν εἰδό]-
[6
20
σιν, ὅτι καὶ ὁ δῆμος καθάπερ αὐτῶι πάτριόν ἐστιν, ἀπο]δώσει τὴν προσήκουσαν ἑκάστοις χάριν, ἀγαθεῖ] τύχει δεδόχθαι ret βουλεῖ τοὺς προέδρους οἵτινες] ἂν λάχωοιν εἰς τὴν ἐπιοῦσαν ἐκκλησίαν χρηματίσαι] περὶ τούτων, γνώμην δὲ ξυμβάίλλεσθαι τῆς βουλῆς] εἰς τὸν δῆμον ὅτι δοκεῖ τεῖ [βουλεῖ, ἐπαινέσαι μὲν] Ἀριστοκρέοντα [Ν]αυσικράίτους Σελευκέα καὶ στεφα]-
24
νῶσαι αὐτὸν θαλλοῦ στεφάνίωι ἀρετῆς ἕνεκεν καὶ] φιλοτιμίας τῆς εἰς τὴν BovA[nv καὶ τὸν δῆμον τὸν]
55. Für IG II? 786 s. Wilhelm (1889), 332; für IG II? 785 vgl. ders (1901), 52. - Nicht gleichzu-
setzen ist der Neffe Chrysipps mit dem homonymen Geographen, der durch Plin. nat. 5,9,59 u. 6,35,191 sowie Acl. nat. 7,40 bezeugt ist; vgl. Wilhelm (1901), 51. 55 Vg]. z.B. Habicht (19892), 13, und Sonnabend (1996), 283-286.
?5 Die neuen Datierungen der Inschriften werden zwar von der Forschung angeführt, jedoch sind bis dato keine Konsequenzen daraus gezogen worden; vgl. u.a. Sonnabend (1996), 285. 57 Der Text folgt mit Ausnahme der Ergänzung in Z. 27 der von Kirchner unter IG II? 786 vorgelegten Edition. In Z. 27 folge ich der überzeugenden Ergänzung von Pecírka (1966), 108. Henry (1983), 218, hat vorgeschlagen, in Z. 26 nicht xal elvat, sondern ὑπάρχειν δὲ zu ergänzen. Die ersten sieben Zeilen dieser Inschrift sind äußerst fragmentarisch; zu ihrem Inhalt s. S. 135.
6. Die Stoa
133
Ἀθηναίων’ εἶναι δὲ αὐτὸν [kai πρόξενον τοῦ órj]μου καὶ τοὺς ἐγγόνους αὐτί[οὔ καὶ εἶναι αὐτῶι] τε καὶ ἐγγόνοις καὶ ἔγκτηίσιν οἰκίας μὲν τιμήμα]28
τὸς
"ΧΧΧ᾽, γῆς δὲ " TT- " ὑπ[άρχειν δὲ αὐτῶι καὶ εἰς]
τὸ λοιπὸν τήν τε εὔνοιαν [καὶ τὴν ἀρετὴν ἴσην) παρεχομένωι καὶ ἄλλο ἀγ[αθὸν εὑρέσθαι παρὰ] τῆς βουλῆς καὶ τοῦ δήμου [οὗ ἂν δοκῆι ἄξιος εἶναι].
32
36
ἀναγράψαι δὲ τόδε τὸ ψήφίισμα τὸν γραμματέα τὸν] κατὰ πρυτανείαν ἐν στ[ῆληι λιθίνηι καὶ στῆσαι] ἐν ἀκροπόλει, τὸ δὲ γενόϊμενον ἀνάλωμα εἰς τὴν] [π]οίησιν τῆς στήλης κα[ὶ ἀνάθεσιν μερίσαι τὸν τα]ἰ[μί]α[ν] τῶν στρατιωτικῶν [καὶ τοὺς ἐπὶ vet) [διο]ικήσει.
... Als er von der Polis Seleukeia zum Volk gesandt wurde, erneuerte er die freundschaftlichen Beziehungen, die von Beginn an mit Seleukeia von den Vorfahren her bestanden und hat zusammen mit den Mitgesandten die Privilegien für die Stádte untereinander vermehrt; dafür bekränzte ihn das Volk erneut. Und auch in allen anderen Dingen hat er immer um die Stadt Sorge getragen, als wenn es seine Vaterstadt wáre. Damit bei allen ein Wetteifer um Wohltaten entbrennt, wenn sie wissen, daß das Volk - ganz so wie es ihm väterlicher Brauch ist - jedem den zukommenden Dank entgegenbringt, soll, zum guten Glück, der Rat beschließen, daß die erlosten Proedroi in der nächsten Volksversammlung das auf die Tagesordnung setzen, eine Beschlußvorlage des Rates dem Volk vorlegen, daß der Rat beschließe, Aristokreon, Sohn des Nausikrates, aus Seleukeia zu belobigen und ihn mit einem Olivenkranz zu bekränzen wegen der Tugend und der Ehrliebe gegenüber dem Rat und dem Volk der Athener; daß er Proxenos des Volkes sei und seine Nachkommen; daß er und die Nachkommen das Recht zum Hauserwerb im Wert von 3000 Drachmen und zum Landerwerb im Wert von 2 Talenten erhalten; daß er, wenn er auch in Zukunft das gleiche Wohlwollen und die gleiche Tugend zeigt, auch anderes Gute durch Rat und Volk erhalte, wessen er würdig zu sein scheint; daß der Schreiber der Prytanie den Volksbeschluß auf einer steinernen Stele aufzeichne und auf der Akropolis aufstelle; daß der Schatzmeister der Militärkasse und die für die Finanzverwaltung Zuständigen die bei der Anfertigung und Aufstellung der Stele entstandenen Kosten anweisen. Die Ergänzungen in dieser Inschrift können im allgemeinen als gesichert angesehen werden, auch wenn
nicht überall der genaue Wortlaut rekonstruierbar
ist.?* Eingehend diskutiert worden ist die Ergänzung der Herkunftsangabe in 538 So Wilhelm (1889), 333; zustimmend auch Pelirka (1966), 107.
134
II. Athen
Z. 8 zu Ee[Aevkéov], auf der auch die Rekonstruktion in Z. 22 (Ἀριστοκρέοντα
[N]avoixpá([tovc ZeAevkéa]) basiert.9? Beide Ergänzungen sind als wahrscheinlich anzusehen, auch wenn sie nicht als absolut sicher erachtet werden können.
Ausgangspunkt aller Überlegungen zu Aristokreons patris ist stets, daß der in diesem psephisma geehrte Aristokreon mit dem literarisch bezeugten Chrysippneffen gleichzusetzen ist. Die literarische Überlieferung kann in der Frage der Herkunft des Aristokreon allerdings nicht weiterhelfen: Denn es ist zwar überliefert, daß Chrysipp aus dem kilikischen Soloi und dessen Vater aus Tarsos stammte,*!! doch Aristokreons und seines Vaters Heimat sind unbekannt. Akzeptiert man trotz dieser Unsicherheiten, daß Aristokreons patris Seleukeia hief$,5€? so ist doch nicht zu entscheiden, um welche Stadt dieses Namens es sich gehan-
delt haben kónnte.5?
55 Die ‘These, daß man von der Polis (Z. 8), die Aristokreon nach Athen entsandte, auf des-
sen patris (Z. 22) schließen könne, basiert auf der Annahme, daß beide miteinander identisch sein müßten. Allein Ingholt (1967/68), 169, hat dies bezweifelt. 500 In Kirchhoffs in Maiuskelschrift vorgelegter editio princeps, bei der es sich um eine Abschrift des Steins von Lolling handelt, wurde als Lesung in Z. 8 Z _ gegeben (Kirchhoff [1887], 1069 Nr. 8). Wilhelm nahm - von der Voraussetzung ausgehend, daß Aristokrcon aus der gleichen Stadt, námlich Soloi, stammen müsse wie sein Onkel Chrysipp - an, daf? der «Buch-
stabe nach dem X entweder eine Verschreibung oder aber eine falsche Lesung sei, las in Z. 8 Z«o»[Aéov] und ergänzte in Z. 22 infolgedessen ZoAéa; vgl. Wilhelm (1889), 332, und s. Kirchner in IG II 786 ad Z. 8. Wilhelm (1901), 51, verwarf auf Grund des heute als IG II? 785 fir-
mierenden psephisma jedoch Soloi als patris Aristokreons. Kohler (IG II 5, p. 107 ad IG II 5, 407e) vertrat die Ansicht, daß in Z. 8 der Buchstabe nach dem X sowohl ein E als auch ein N sein könne und entschied sich für Σ[ελευκέων; zu dieser Ergänzung und deren Akzeptanz s. Pecírka (1966), 107. Auf der Basis von Lollings Abschrift schrieb Kirchner unter IG IP? 786 Ec[Aevxéov. Da bereits zu Beginn des 20. Jh.s auf dem Stein nach dem Z nichts mehr zu erkennen war - so Wilhelm (1901), 49 mit Anm. 2 -, kann eine Revision zu keinem neuen Ergebnis
führen. Auf Grund des Befundes in Z. 8 ist also eine sichere Entscheidung nicht zu treffen, doch ist zu bedenken, daß die Abschrift Lollings von sehr hoher Qualität ist und im erhaltenen Text keine Verschreibungen nachzuweisen sind, was ein Vergleich der von Kirchhoff (1887), 1069 Nr. 8, vorgelegten Abschrift Lollings mit Kirchners Text (IG II? 786) ergibt. Es ist also eher für Σεἰλευκέων zu optieren, auch wenn zu berücksichtigen ist, daß die Zeilen, in denen eine Form von Seleukeia zu ergänzen wäre (Z. 8, 9f. u. 22), für die vorliegende Inschrift außergewöhnlich lang wären. Vgl. zu diesem Aspekt Pe£irka (1966), 107.
5* Zur Herkunft Chrysipps aus Soloi und der seines Vater aus Tarsos s. Strab. 14,5,8; zu Chrysipps Herkunft s. auch S. 129. 542 Seleukeia Pieria als Heimatstadt Aristokreons wird u.a. von Habicht (1994), 244, und Sonnabend (1996), 284f., angegeben; Soloi als patris nennen z.B. Habicht (1982b), 81, u. (19892), 13, sowie Thrams (2001), 236.
5^ Köhler in IG II 5, p. 107, ad IG II 407e optierte für Seleukeia Pieria. die von ihm nachfolgend gedruckte Inschrift (IG II 407f = IG IP. 814; Mitte athenische Ehreninschrift für den demos von Seleukeia in Pieria, ist zwar ohne Beweischarakter, da dieses Zeugnis allein belegt, daß es Beziehungen
Der Verweis auf des 3. Jh.s), eine suggestiv, jedoch zwischen Athen
6. Die Stoa
135
Die Datierung des vorliegenden psephisma wird durch den Verlust des Präskripts erschwert. Dennoch ist eine präzise zeitliche Einordnung möglich: In Z. 3 wird die eleutheria erwähnt; diese ist auf das Jahr 229 zu beziehen, als die Athener
nach Jahrzehnten der makedonischen Suprematie nach dem Tode des antigonidischen Königs Demetrios II. die Freiheit wiedererlangten.5** Um die makedonische Besatzung auf friedlichem Wege zum Abzug aus Athen zu veranlassen, war eine Summe in Hóhe von einhundertfünfzig Talenten notwendig, die Diogenes, der Befehlshaber der makedonischen Truppen in Athen und Attika, zur Auszahlung seiner Soldaten verlangte.’ In diesem Kontext ist der erwähnte Geldbeitrag (Z. 4) zu sehen: Er steht im Zusammenhang mit der eleutheria (Z. 3) sowie dem Ausbau von Hafenanlagen (Z. 6).*5 Das Jahr 229/8 stellt also den Terminus post
quem für IG II? 786 dar. Wichtig für die Datierung ist zudem die Identifizierung der Hand des Steinmetzen: Es handelt sich um den «cutter of IG I? 1706, der zwischen 229,8 und circa 203 nachweisbar ist; innerhalb dieser knapp drei Jahrzehnte verweist der Schriftcharakter von IG II? 786 in die Zeit um das Jahr 215.59 und Seleukeia Pieria gab, was immerhin zu der Aussage in IG II? 786, Z. 8-12 passen würde, daß Aristokreon alte Kontakte zwischen Athen und der ihn entsendenden Polis erncuerte und intensivierte. Auch Wilhelm (1901), 52-55, hat im Rahmen seiner Publikation des heute unter
IG II? 785 firmierenden Dekrets für Seleukeia Pieria als Aristokreons patris plädiert, da er die Erwähnung eines Antiocheia (IG 112 785, Ζ. 12£) - das er als Antiocheia ad Orontem identifi-
zierte - als ein Indiz für dieses Seleukeia sah. Es war Dittenberger, der die Variante Seleukeia ad Kalykadnum ins Spiel brachte: Ihm schien es plausibel, daß Chrysipps Schwester, also Ari-
stokreons Mutter, einen Mann aus dem von Soloi nicht allzu weit entfernten Seleukeia ad Kalykadnum geheiratet und mit diesem dort gelebt hätte; vgl. Syll.?, p. 89 zu Nr. 481, Z. 22, u. s. BE 1958, Nr. 200 sowie Ingholt (1967/68), 169. 54 Dies erkannte bereits Wilhelm (1889), 332 f.; s. auch Habicht (1982b), 81 mit Anm. 11. In Anlehnung an Überlegungen von Meritt (1936), 427, verortete Ingholt (1967/68), 165-173, IG
II? 786 zwischen 195 und 192 und bezog die eleutheria auf die Freiheitsproklamation des Flamininus 196. Dieser Ansatz überzeugt nicht. 55 Zu den Ereignissen 229 s. Habicht (1982b), 79-93, sowie oben S. 92. Vgl. Plut. Arat. 32,24; 34 u. Paus. 2,8,6 - alle diese Quellen basieren auf Arats Hypomnemata; zur athenischen Perspektive s. IG II? 834. In Z. 6 ist τῶν λιμένων ergänzt; allerdings kann diese Ergänzung als gesichert gelten, da auch boiotische Inschriften aus Theben und Thespiai Darlehen dieser Poleis für Athen nach der Befreiung von der makedonischen Vorherrschaft bezeugen. Diese Summen wurden u.a. für den Peiraieus, die Festung Mounychia und Häfen in Attika aufgewendet (s. IG VII 2405 f. u. 1737 £.); vgl. dazu Feyel (1942), 19-37, und Habicht (1982b), 81. Möglicherweise steht der Bei-
trag des Aristokreon in Zusammenhang mit einer epidosis, die in einem Ehrendekret erwähnt wird und die eindeutig auf die Befreiung Athens 229 Bezug nimmt: IG II? 835 mit Habicht (1982b), 82; s. Migeotte (1992), 34-39 Nr. 18, sowie Maier (1959), 80-82 Nr. 16.
7 Vgl. Tracy (1990b), 44-54; grundlegend zum «cutter of IG I? 1706» ist Tracy (1978), 247255. 518 Vgl. Meritt (1936), 427 f., der sich auf eine Mitteilung von S. Dow beruft, der sich seinerzeit mit der Schrift befaßt hatte; vgl. auch Pe£irka (1966), 106-110.
136
II. Athen
Ist aber der in IG IP 786 genannte Aristokreon überhaupt mit dem Neffen des stoischen Philosophen Chrysipp zu identifizieren? Chronologisch ist es möglich, daß Chrysipps Schwestersohn, der von seinem Onkel, seit 230/29 Scholarch der Stoa, zu einem aus den literarischen Quellen unbekannten Zeitpunkt zusammen mit seinem Bruder nach Athen geholt wurde, mit dem in IG II? 786
geehrten Aristokreon identisch ist. Der extremen Seltenheit des Namens Aristokreon kommt bei der Frage der Gleichsetzung besondere Bedeutung zu: Dies gilt sowohl für die gesamte griechische Welt als auch für Athen, wo nur zwei Belege für das Auftreten dieses Namens existieren - nämlich IG IP 786 und 785.59 Vor diesem Hintergrund ist es plausibel, daß der in IG IP 786 geehrte Aristokreon mit dem Chrysippneffen identisch ist. Zu einem nicht bestimmbaren Zeitpunkt trug Aristokreon dazu bei, die seit jeher guten Beziehungen zwischen seiner patris und Athen zu erneuern und auszubauen (Z. 7-12), wofür ihn die Athener mit einem Kranz ehrten (Z. 12f.). Da
es sich hierbei um eine erneute Ehrung handelt, steht zu vermuten, daß Aristokreon seinen ersten Kranz im Zusammenhang mit den Ereignissen des Jahres 229/8 erhalten hat, in die er involviert war (Z. 3-6). Auch nach dieser zweiten
Ehrung handelte Aristokreon weiterhin zum Nutzen der Athener und zu seiner eigenen Ehre: Es wird sogar festgehalten, daß er sich um Athens Belange sorgte, als wenn es sich um seine patris handeln würde (Z. 13f.).5? Geehrt wird Aristokreon in IG IP 786 mit einem dritten Kranz (Z. 22 f.) sowie einer Reihe von Privilegien (Z. 25-28); bei erneuten Verdiensten werden ihm weitere Auszeichnungen
in Aussicht gestellt (Z. 28-31). Im Jahre 1901 wurde ein nicht vollständig erhaltenes athenisches psephisma publiziert, in dem ebenfalls ein Aristokreon geehrt wird, und das heute unter IG IP 785 firmiert:5 55 Zur Bedeutung der Seltenheit des Namens für die vorgelegte Argumentation s. Ingholt (1967/68), 162. - Es sind lediglich drei weitere Zeugnisse für den Namen Aristokreon bekannt: Nicolaou (1989), 142f. Nr. 3, Z. 7 (Zypern; 2. Jh.); CIG II 2627, Z. 2 (Zypern; 1. Jh.); Pugliese Carratelli (1963-64), 161 Nr. 6, Z. 3, 6, u. 26 (Kos; 2. Jh.).
55? Vgl. zu dieser Formulierung, die sich in ähnlicher Weise auch im Ehrendekret für Prytanis von Karystos aus dem Jahr 226/5 findet (Agora XVI 224, Z. 19-25), Wilhelm (1937b), 79f., und Robert (1939), 236 mit Anm. 4. Zur Formulierung von Z. 15-17 s. Henry (1996), 305.
55! Die editio princeps stammt von Wilhelm (1901), 52. Der hier wiedergegebene Text basiert auf der Edition von Kirchner (IG 112 785), beinhaltet aber zwei abweichende Ergänzungen:
Lange Zeit waren nur Patronymikon und Demotikon des grammateus in Z. 3 bekannt; durch ein 1936 veröffentlichtes psephisma aus dem Archontat des Charikles geht hervor, daß der Name des grammateus Aischrion lautet, in Z. 2 also Αἰσχρίων zu ergänzen ist; s. Meritt (1936), 419-428 Nr. 15, Z. 2. Robert (19602), 111, hat plausibel dargelegt, daß am Ende von Z. 19 nicht τῶν θεωρῶν, sondern vielmehr τῶν npeoféov zu ergänzen ist; s. auch Habicht (19892), 14. Zur Rolle der spondophoroi (Z. 20) s. Robert (19602), 108-111; vgl. auch Habicht, a. O.
6. Die Stoa
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ἐπὶ Χαρικλέους ἄρχοντος £[ni τῆς Epe]χθεῖδος ἕκτης πρυτανείας, εἶ Αἰσχρίων)
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Εὐαινέτου Ῥαμνούσιος ἐγρ[αμμάτευεν]᾽ Ποσιδεῶνος ἐμβολίμου ἑν[δεκάτει, ἐνά] τει Kal εἰκοστεῖ τῆς rrpura[veíac: ἐκκλη] σία ἐμ Πειραιεῖ: τῶν προέδρ[ων ἐπεψήφι]ζεν Ταυρίδας Δίωνος Ἀραφήϊνιος καὶ συμ]πρόεδροι " ἔδοξεν τεῖ βου[λεῖ καὶ τῶι δή]pov "" Λαμπρίας Λαμπρίο[υ Θοραιεὺς] εἶπεν' ἐπειδὴ Ἀριστοκρέω[ν εὔνους ὧν δι]ατελεῖ τῶι δήμωι καὶ χρείας παρεχόμενος) τοῖς ἀφικνουμένοις τῶν [πολιτῶν εἰς Av]τιόχειαν, παραγεγονὼς δὲ [καὶ εἰς τὴν πό]λιν ἐπὶ σχολὴν τὴν ἀναστ[ροφὴν εὐσχημό]νως πεπόηται, ἐπαγγέλλεταίι δὲ καὶ εἰς τὸ λοι]πὸν κατὰ τὴν ἑαυτοῦ δύναμίιν ἀεί τινος ἀγα]-
θοῦ παραίτιος ἔσεσθαι καὶ ἰδ[ίαι τοῖς ἀφικνου]μένοις καὶ κοινεῖ τῶι δήμίωι' περὶ ὧν καὶ ἀπομε]μαρτυρήκασιν αὐτῶι πλε[ίους τῶν πρεσβέων] 20
καὶ τῶν σπονδοφόρων' ὅπως [ἂν οὖν ἡ βουλὴ]
καὶ ὁ δῆμος φαίνηται τιμῶ[ν τοὺς εὐεργέ]τας καὶ χάριτας ἀξίας ἀποδί[ιδούς ἀγαθεῖ τύ]-
[xleı δεδόχθαι τεῖ βουλεῖ το[ὺς λαχόντας npo]24
ἰ[ἐδρ]ους εἰς τὴν ἐπιοῦσαν ἐ[κκλησίαν χρημα][τίσαι περὶ] τούτω[ν, γνώμηίν δὲ ξυμβάλλεσθαι κτλ.]
Als Charikles Archon
war, während die (Phyle) Erechtheis die sechste Prytanie
innehatte, in der Aischrion, Sohn des Euainetos, aus Rhamnous Schreiber war, im Schaltmonat Posideon am elften Tag, am neunundzwanzigsten der Prytanie. Volksversammlung im Peiraieus. Von den Proedroi leitete die Abstimmung Tauridas, Sohn des Dion, aus Araphenai und die Kollegen. Beschluß des Rates und des Volkes. Lamprias, Sohn des Lamprias, aus Thorai stellte den Antrag: Weil Aristokreon dem Volk gegenüber stets wohlgesonnen war und den Bürgern, die Antiocheia besuchten, Hilfe erwiesen hat; und weil er, als er in (unsere) Stadt gekommen war zu Studienzwecken, seinen Lebenswandel wohlanstándig führte, und verspricht, auch in Zukunft gemäß seiner Möglichkeit immer etwas Gutes zu bewirken, sowohl privat für die Besucher als auch insgesamt für das Volk. Darüber haben auch viele von den Gesandten und Herolden ihm Zeugnis abgelegt. Damit Rat und Volk öffentlich die Wohltáter ehren und entsprechenden Dank erweisen, zum guten Glück, móge der Rat beschließen: daß die erlosten Proedroi in der nächsten Volksversammlung das auf die Tagesordnung setzen, eine Beschlußvorlage etc.
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II. Athen
In diesem psephisma aus dem Jahr des Archon Charikles ehrten boule und demos Aristokreon
(Z. 10), dessen Patronymikon und Ethnikon
aus den erhaltenen
Teilen der Inschrift nicht hervorgehen. Anlaf war seine dem demos gegenüber bewiesene eunoia (Z. 10f.), die sich darin manifestierte, daß er sich in Antio-
cheia - móglicherweise Antiocheia ad Orontem - um Athener kümmerte (Z. 11-13). Als Aristokreon sich zu Studienzwecken - hier findet sich die singuläre Formulierung παραγεγονὼς δὲ [xai eic τὴν nó] [Av ἐπὶ oxoAijv?? - in Athen aufhielt, führte er sich tadellos auf (Z. 13-15).5?
Im Rahmen der editio princeps etablierte Wilhelm die Annahme, daß der in IG IP 785 geehrte Aristokreon mit der in IG IP 786 geehrten homonymen Person identisch sein müsse.” Da seinerzeit der Archon Charikles nicht sicher datiert werden konnte, schlug Wilhelm eine Datierung vor, die auf inhaltlichen Erwägungen basierte: Er setzte IG IP? 785 zeitlich vor das von ihm wenig später als 229/8 datierte psephisma IG II? 786 und argumentierte für eine Datierung von IG IP? 785 in die Zeit um 239/8.°° Ausgehend von beiden psephismata rekonstruierte Wilhelm eine partielle Biographie des Aristokreon,** der zu Folge dieser sich sowohl als junger Mann (IG IP? 785) als auch später um die Athener verdient gemacht hätte (IG IP 786), wobei die früheren Ehrungen im späteren Dekret Erwähnung gefunden hätten. 1936 publizierte Meritt ein psephisma, das ebenfalls im Jahr des Archon Charikles beschlossen worden war?" Auf Grund des Schreiberzyklus setzte Meritt das Archontat des Charikles in das Jahr 196/5;55* diese Datierung wurde nahezu
552 Dies ist der einzige Beleg für die Verwendung von σχολή in einer attischen Inschrift, bei der es sich nicht um eine Ephebeninschrift aus der Zeit nach 122/1 handelt. σχολή hat in diesem Kontext die Bedeutung von «Studium». Zum Wort σχολή s. oben S. 28 mit Anm. 60 sowie unten 5. 221 mit Anm. 18
59 Der Text ist der früheste epigraphische Beleg für ἀναστροφή (Z. 14) im Corpus der attischen Inschriften. Ein großer Teil der Zeugnisse für àvaotpoqr| findet sich in den Ephebendekreten; erstmalig im Jahr 118/7 (IG Il? 1008, Z. 53); der späteste Beleg datiert in das Jahr 61/2 (IG IT? 1090, Z. 8).
ss Vgl. Wilhelm (1901), 52.
55 Zur Datierung von IG IP? 786 s. Wilhelm (1901), 55; zur Datierung von IG II? 785 vgl. ders. (1900), 669, u. (1901), 55. 5$ Vgl. Wilhelm (1901), 52-55. Er ging von einem Geburtsdatum Aristokreons um 265 aus
und nahm als Geburtsort Seleukeia Pieria an. Zu Studienzwecken sei Aristokreon nach Athen gekommen, nachdem er sich zuvor in Antiocheia (ad Orontem?) aufgehalten habe. Die Formulie-
rung ἐπὶ σχολήν (Z. 14) kombinierte Wilhelm mit der bei Diog. Laert. 7,185 überlieferten Nachricht, der stoische Scholarch habe die Sóhne seiner Schwester nach Athen geholt und erzogen. 557 Vgl. Meritt (1936), 419-428 Nr. 15 2 ISE 33 - Agora XVI 261. 55 Vgl. Meritt (1936), 424, u. (1968), 235f. Zum Schreiberzyklus vgl. Ferguson (1898). Ge-
mäß der Ordnung der attischen Phylen muß der grammateus des Jahres 196/5 aus der Phyle X
6. Die Stoa
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einhellig für gut fünf Jahrzehnte akzeptiert.’ Aus dieser Datierung ergibt sich aber eine Schwierigkeit für die seinerzeit etablierte und bis heute gángige Interpretation der Dekrete IG II? 785 und 786,*€ die auf der Annahme basierte, daß IG IP 785 früher als 786 anzusetzen sei.”°' Geht man von der These aus, daß die
beiden Aristokreontes identisch sind, so ergeben sich auf Grund der 1936 etablierten Chronologie aber zwei Probleme. Erstens: Im zeitlich gesehen nun später anzusetzenden Dekret wird nicht auf das vorgängige psephisma eingegangen.’ Dies überrascht, denn in IG IP 786 werden frühere Verdienste Aristokreons ausführlich aufgelistet (Z. 3-17), obwohl sie für dieses Dekret nicht die Ursache sind, während sich in IG IP 785 kein Verweis auf vorangegangene Ehrungen findet. Zweitens: Nach der von Meritt etablierten chronologischen Anordnung der beiden Inschriften besteht zwischen der ersten, kurz nach 229 geehrten Handlung des Aristokreon und seiner Ehrung 196/5 eine Spanne von über dreißig Jahren? Diese zeitliche Spanne ist durch neue Erkenntnisse noch vergrößert worden. Wurden die von Ruck im Rahmen seiner Neuedition von IG II? 2323, einer
Liste der Sieger bei den Dionysia, vorgebrachten Argumente gegen eine Datierung des Archon Charikles in das Jahr 196/5 und für eine Ansetzung in das Jahr
184/3 zunächst kaum rezipiert,°* so hat sich dies mit der Publikation eines neuen Bruchstückes von IG II? 2323 geändert: Das Archontat des Charikles ist nun kommen, bei der es sich seit 200 um die Phyle Aiantis handelt; vgl. Dinsmoor (1931), Appendix A, und Ferguson (1932), 28. 59 Vgl. Dinsmoor (1939), 184; Pritchett - Meritt (1940), 111; Pritchett - Neugebauer (1947), 15 u. 75; Meritt (1961b), 235, und Habicht (1982b), 163f. u. 177. Es gibt eine Ausnahme: Ruck (1967), 23-28.
59 Dies erkannte bereits Meritt (1936), 427. 59 So Wilhelm (1901), 53 f.
562 So auch bereits Habicht (19892), 13 mit Anm. 36, und Mattingly (1997), 124 mit Anm. 17. 39 Für Thrams (2001), 237 f. mit Anm. 356, steht in Unkenntnis der Forschungslage allerdings fest, daß «dieses Dekret (s.c. IG IE 785) vor 229 v. Chr. beschlossen worden sein [muß], was aus dem Kontext hervorgeht.» Sonnabend (1996), 283-286, problematisiert die neue Datie-
rung von IG II? 785 nicht. 3€ Vg]. Ruck (1967), 23-28. 55 Eine Kombination aus IG II? 2323 col. III fr. a (EM 8230) + Matthaiou (1988), 13, Z. 1-
10 - frg. b (EM 8231) findet sich ebd., 17. In dem neuen Fragment findet sich in Z. 8 der Text [ἐπὶ - - x]Aéouc ; vgl. ebd., 13; nach Woodhead ist präziser [ἐπὶ *:* «]A&ovg (Agora XVI, p. 362)
zu schreiben. Da in Z. 7 der Archon Eupolemos angeführt wird, der in das Jahr 185/4 datiert (s. Meritt [1977], 181), und der bis dato in das Jahr 184/3 gesetzte Archon Pleistainos (vgl. loc.
cit.) nicht die Genitivendung -A&ovg aufweist, mußte eine Umgruppierung der Archontenliste für das frühe 2. Jh. vorgenommen werden. Pleistainos ist nun nach Tracy (1990b), 142, ein «floating» archon», den ders. (1989) u. (1990b), 142, in die Zeit um 150 datiert, wohingegen Traill (1994) einen Tausch vornimmt und Pleistainos in das bisherige Jahr des Charikles, also
196/5, setzt. Woodhead in Agora XVI, p. 362 f. hat sich gegen die Umdatierung der Archonten Pleistainos und Charikles ausgesprochen und für die Beibehaltung der durch Meritt etablier-
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II. Athen
mit Sicherheit nicht 196/5, sondern 184/3 anzusetzen,’® das Jahr, in dem gemäß
des Schreiberzyklus der grammateus wieder aus der Phyle X stammte.59 Das psephisma IG IT? 785 für Aristokreon, das dem zwischen 210/09 und 171/0 nachweisbaren «cutter of IG I 913» zuzuschreiben ist,** ist also mehr als fünf Dezennien später anzusiedeln, als dies einst Wilhelm tat, gut 30 Jahre später als IG IP 786 und über 40 Jahre spáter als die erste in IG IP 786 geehrte Handlung. Vor dem dargelegten Hintergrund erscheint es wenig plausibel, die in IG IP 786 und IG II? 785 geehrten Aristokreontes - wie bislang von der Forschung vertreten - nach wie vor als ein und dieselbe Person anzusehen und diese mit dem Chrysippneffen zu identifizieren. An dieser Stelle soll deshalb ein neuer Vorschlag unterbreitet werden: Der in IG I? 785 im Jahre 184/3 geehrte Aristokreon Minor ist der Sohn eines homonymen Vaters, der sich erstmalig im Jahre 229 in Athen hervortat und aus einem um das Jahr 215 datierenden Dekret bekannt ist,
nämlich IG IT? 786. Dieser Aristokreon Maior ist identisch mit dem literarisch bezeugten Neffen des stoischen Scholarchen Chrysipp.°® Aristokreon Maior wurde von seinem Onkel Chrysipp zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt nach Athen geholt - möglicherweise im Jahr 230/29,
als Chrysipp Scholarch der Stoa wurde.5? Im Jahre 229/8 war Aristokreon Maior jedenfalls mit Sicherheit in Athen und erwarb sich im Zusammenhang mit Athens Wiedererlangung der eleutheria erste Verdienste um diese Polis, für die er eine Ehrung erhielt. Seine weiteren, von den Athenern geehrten Handlungen zeigen, daß Aristokreon der lokalen Oberschicht seiner patris zuzurechnen ist, da er als Gesandter seiner Vaterstadt in diplomatischer Mission nach Athen kam. Die Qualifikation für Aristokreons Auswahl für eine solche Gesandtschaft,
die die Beziehungen zwischen Athen und seiner patris betraf, lag neben seiner ten Datierungen optiert. Woodheads Hauptargument, daß cs viele Namensendungen im Genitiv auf -λεους gibt, ist zwar grundsätzlich richtig, wird jedoch dadurch relativiert, daß es ein eponymer Archon sein muß, dessen Name auf -Aeoug im Genitiv endet. Da es sich bei dem entsprechenden Jahr außerdem um eines handeln muß, in dem der grammateus aus der Phyle X stammt, bleibt für den Zeitraum von 347/6 bis 48/7 nach Meritt (1977) nur noch Charikles als
móglicher Kandidat übrig. 566 Vgl. Lewis (1988), 19 ἔ; s. auch Habicht (19892), 13; Tracy (1990b), 142 mit Anm. 5, und Mattingly (1997), 124 mit Anm. 17. 5€ Vgl. dazu Matthaiou (1988), 16, und Lewis (1988), 19; akzeptiert wurde diese Datierung u.a. von Habicht (1998), XVf., der damit seine frühere Position revidierte ([1985], 92-94). Zur
Phyle des grammateus 184/3 vgl. Meritt (1961a), 236, u. (1964), 239. ss Vgl. Tracy (1990b), 73. 59 Diog. Laert. 7,185 u. Plut. Mor. 1033e. Nicht mit Sicherheit auszuschließen ist, daß Ari-
stokreon Minor der Enkel des homonymen Großvaters, Aristokreon Maior, war. Wegen des zeitlichen Verhältnisses erscheint diese Variante aber weniger wahrscheinlich.
570 Ingholt (1967/68), 160f., hat 247/6 vorgeschlagen; zwingend ist seine Überlegung jedoch nicht.
6. Die Stoa
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sozialen Herkunft sicher auch in seinen bereits bestehenden Kontakten zur Polis
Athen begründet. Der Sohn Aristokreon Minor folgte seinem Vater in einigen Punkten seines Lebenslaufes: Zum Studium ging auch er nach Athen und führte dort einen anstándigen Lebenswandel. Wann er sich zum Studium in Athen aufhielt, läßt sich auf Grund mangelnder Anhaltspunkte nicht feststellen. Um
Athen machte auch er sich - ganz wie sein Vater - verdient: Er kümmerte sich in Antiocheia um athenische Bürger, die in diese Polis kamen. Somit handelte er, wenn wahrscheinlich auch nicht in seiner patris, wie ein proxenos des athenischen demos; und proxenos der Athener war er ja auf Grund der Bestimmungen des attischen psephisma für seinen Vater. Ob Aristokreon Minor - wie versprochen - sich auch nach 184/3 um Athen verdient machte, muß eine offene Frage bleiben. Durch die beiden athenischen Volksbeschlüsse IG II? 786 aus der Zeit um 215 und IG II? 785 aus dem Jahre 184/3 ist bekannt, daß Aristokreon Maior, der Neffe
des stoischen Scholarchen Chrysipp und Sohn des Nausikrates, sowie sein homo-
nymer Sohn Aristokreon Minor ob ihrer vielfachen Verdienste um Athen mehrfach geehrt wurden.?! Das Dekret für Aristokreon Minor ist einer der frühen Belege für eine sich im öffentlichen Diskurs manifestierende Änderung in der Selbstdarstellung Athens: Es wird betont, daf$ Aristokreon zum Studium nach Athen kam. Anders gesprochen: Die Polis Athen begann sich als Ort der paideia zu inszenieren.
d) Panaitios von Rhodos und die sogenannte Stoikerinschrift (IG II? 1938)
Aus dem Jahr des Archon Lysiades?? stammt ein athenisches Dokument, das den politischen Hintergrund von religiósen Festen deutlich zum Ausdruck bringt. Es handelt sich dabei um eine Liste der hieropoioi der Rhomaia und der Ptolemaia, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in das Jahr 149/8
zu datieren ist.?? Der Inschrift
?'! Carsana (1996), 162, E9, die von nur einem Aristokreon ausgeht, rechnet Aristokreon,
Sohn des Nausikrates, zu den Mitgliedern des seleukidischen Hofes. Dafür gibt es jedoch keinerlei zwingende Anhaltspunkte; zu Recht hat sich Savalli-Lestrade (1998), 113 Nr. III, gegen diese Annahme ausgesprochen. 572 Der Archon Lysiades ist Vater des epikureischen Philosophen Phaidros; s. unten 5. 161.
>? [G I? 1938. Um die Frage der Datierung von Lysiades' Archontat hat es eine lange Kontroverse gegeben. Ferguson (1899), 62-64 $ 53, votierte für 166/5 (7); Crónert (1904), 474f., argumentierte für 152/1, wohingegen Kolbe (1908), 115-118, die Inschrift um etwa 160 ansetzte;
Meritt (1977), 184, gab 148/7 als Datum an. In einer umfassenden Diskussion der eponymen Archonten zwischen 159/8 und 141/0 ist Habicht (1988c), 237-247, zu dem überzeugenden
Ergebnis gelangt, daß als Amtsjahr für Lysiades am wahrscheinlichsten 149/8 anzusehen ist. Dieses Datum haben Tracy (1990b), 101, und Dorandi (1991d), 36-42, akzeptiert. - Zu den
hieropoioi allgemein s. J. Oehler, RE VIII, 2, 1913, 1583-1588, s. v., in Athen vgl. Rhodes (1972),
142
II. Athen
ist zu entnehmen, daß es bei den Rhomaia zwei hieropoioi gab (Z. 2f.); bei den
Ptolemaia sind in zwei Kolumnen einundsechzig Namen von hieropoioi zu lesen, allerdings muß ihre Zahl noch größer gewesen sein, da der Stein gebrochen ist. Das dieser Inschrift vielfach entgegengebrachte Interesse wird durch ihren Namen verdeutlicht: die «Stoikerinschrift.’”* Seit langem ist in weiten Teilen der Forschung die von Crónert begründete Ansicht akzeptiert, unter den hieropoioi befände sich eine beträchtliche Anzahl stoischer Philosophen, daneben würden aber auch Mitglieder anderer Philosophenschulen sowie Personen, die auf verschiedenen Gebieten der «Gelehrsamkeit exponiert waren, genannt. ^5 Zunächst ist festzuhalten, daf? keiner der angeführten hieropoioi in der Inschrift als Philosoph bezeichnet wird. Die Grundlage aller Überlegungen bildet vielmehr das Namensmaterial und die Identifizierung mit gleichnamigen Personen, die vor allem und vielfach allein aus den philosophiegeschichtlichen Werken Philodems bekannt sind. Crónerts Ausgangspunkt für seine These von der «Stoikerinschrifb war die Erkenntnis, daß in Z. 25 der Stoiker Panaitios von Rhodos als einer der hieropoioi der Ptolemaia angeführt ist.” Dies führte dazu, daß Crónert sich auf die Suche nach weiteren Stoikern in IG IP 1938 machte und dabei fündig zu werden meinte, wobei Cichorius ihm wenig später folgte, dabei allerdings von einer falschen Datierung des Archon Lysiades in das Jahr 139/8 ausging.’” 127-130; Davies (1994), 202 u. 204, und auch Habicht (1982a), 173f. Die Beziehungen zwischen Athen und den Ptolemaiern waren um die Mitte des 2. Jh.s gut; vgl. ders. (19922), 83-85.
Zu den Rhomaia, dies ist der einzige Beleg aus Athen zu diesem Fest, und den Ptolemaia s. Mellor (1975), 97-107, bes. 102 mit Anm. 477 u. 189 mit Anm. 71, sowie Habicht (1992a), 82-85;
vgl. allgemein zur Inschrift und deren Hintergrund Mikalson (1998), 222 u. 274f.; zu den Ptolemaia 108, 179-181 u. 304, sowie zu den Rhomaia 274-276.
?^ Dieser Name geht auf einen Aufsatztitel von Crónert (1904) zurück: «Eine attische Stoikerinschrift».
55 Akzeptiert wird Crönerts Vorstellung von der Stoikerinschrift z.B. von Kirchner (IG IP 1938 app. crit. [p. 423]); Erskine (1990), 101, und - mit einigen Modifikationen - von Dorandi (1991d), 35-37, sowie partiell auch von Jacoby (FGrHist II C, p. 717f. ad FGrHist 244 T 3).
Keine Berücksichtigung hingegen findet IG II? 1938 als «Stoikerinschrift» bei Tod (1957) und Habicht (1994). 56 Crönert (1904), 475-478. 57) Cichorius (1908). Gegen diesen Datierungsansatz argumentierte bereits überzeugend Ferguson (1909), 337-340. Durch die Datierung der Inschrift auf 139/8 versuchte Cichorius viele der vermeintlichen Gelehrten als Exulanten aus Alexandria darzustellen, die vor Ptole-
maios VIII. Euergetes II. 145 hätten fliehen müssen. Durch die heutige Datierung des Lysiades in das Jahr 149/8 ist die Móglichkeit, in der Gelehrtenvertreibung eine Ursache für die Anwesenheit der vorgeblichen Philosophen und anderen Gelehrten in Athen zu sehen, nicht mehr gegeben. Die auf Menekles von Barka (FGrHist 270 F 9 = Athen. 4,184b-c) und Andron von Alexandreia (FGrHist 246 F 1 = Athen. 4,184b-c) basierenden Kenntnisse über die Maßnahme des Ptolemaios sind derart rudimentär, daß es überhaupt gewagt erscheint, auf ihr größere
Konstrukte hinsichtlich fast gänzlich unbekannter Personen aufzubauen. Zur Gelehrtenver-
6. Die Stoa
143
Sowohl die Arbeitsweise als auch das Argumentationsmuster von Crónert und Cichorius sind äußerst hypothetisch und voraussetzungsreich. So müssen beide davon ausgehen, daß fast alle der vermeintlich identifizierten «hommes des jettres in IG I? 1938 von Geburt allesamt keine Athener waren, sondern erst
im Laufe ihres Lebens das Bürgerrecht erhalten hátten und fast ausnahmslos in der Phyle Hippothontis eingeschrieben worden wáren, da die meisten von ihnen ausweislich ihrer Demotika dem demos Peiraieus zugehörig waren.*? Ein weiteres Problem, das bei den Identifizierungsvorschlägen immer wieder auftritt, sind die auf onomastischen Erwägungen basierenden Argumente von Crönert und Cichorius, die vielfach ihre Grundlage verloren haben, da sich in den letzten einhundert Jahren das Namensmaterial in Athen immens vergrößert hat. Hinzu kommt, daß - selbst wenn Crönerts und Cichorius’ vorgeschlagene Identifizie-
rungen zutreffen würden - es nicht erwiesen ist, daß die vielfach als Philosophenschüler bezeugten Personen auch als Philosophen zu bezeichnen wären. Da eine kritische Prüfung der vorgeschlagenen Identifizierungen zu dem Ergebnis führt, daß allein die Gleichsetzung von Παναίτιος Ῥόδιος mit dem Stoiker tragfähig ist, wird an dieser Stelle nur er in den Blick genommen sowie das Ergebnis der Einzelanalysen vorgestellt.” 1. Panaitios von Rhodos Crönerts Identifizierung des hieropoios Παναίτιος Ῥόδιος (Z. 25) mit dem homo-
nymen stoischen Philosophen stützt sich wesentlich auf zwei Argumente: einerseits auf die grundsätzliche chronologische Möglichkeit und andererseits auf die Seltenheit des Namens.’ Da in Athen ein Panaitios aus Rhodos kein weiteres Mal bezeugt**! und auch auf Rhodos der Name alles andere als häufig ist - er findet sich dort vor allem in einer lindischen Familie, die der «naval aristocracy» von Rhodos angehört‘? -, ist die von Crónert vorgeschlagene Identifizierung plau-
treibung aus Alexandria s. u.a. Hólbl (1994), 172, und Fraser (1972), I 86, 517f. u. II 745 mit Anm. 198. Zwar datierte auch Crónert (1904), 475, das Archontat des Lysiades falsch (152/1),
jedoch ist seine Abweichung von der heute gültigen Datierung so gering, daß chronologische Unstimmigkeiten nicht als Gegenargurnent gegen seine Identifikationsvorschläge vorzubringen sind.
?* Die Begründung von Crónert (1904), 481, der Peiraieus sei der demos der «Händler und Unternehmer (...), also auch vorzüglich der Auslánder» gewesen, ist unzureichend.
95 Zur Auseinandersetzung mit den anderen vermeintlichen Stoikern, Philosophen anderer Schulzugehórigkeit und Gelehrten s. S. 288-294. - Ausführlich zu Panaitios s. auch S. 198204.
5 Vg]. Crönert (1904), 475-478.
5t! S. Osborne - Byrne (1996), Nr. 6229. 22]. Lindos, stemmata choisis Nr. 18. Zum Begriff «naval aristocracy:. Gabrielsen (1997), 15-17.
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II. Athen
sibel und zu Recht seitens der Forschung akzeptiert worden.® Besagter angesehenen und vornehmen Familie?* entstammt der stoische Philosoph Panaitios, Sohn des Nikagoras, der zwischen 185 und 180 geboren wurde. Bevor er nach
155 in Athen Schüler des stoischen Scholarchen Diogenes von Babylon wurde, war er nach 168/7 in Pergamon zunächst Schüler des Krates von Mallos, hatte in
der rhodischen Flotte gedient und war hierothytas des Poseidon Hippios in Lindos gewesen. Noch als neos hatte Panaitios nach durchaus glaubwürdiger Aussage Philodems in Athen Ehren erhalten - man hatte ihm die proxenia und einen Olivenkranz verliehen; über die Gründe für diese Ehrung ist nichts bekannt.555 Was aber läßt sich vor dem Hintergrund des epigraphischen und des literarischen Materials über Panaitios’ Stellung in Athen aussagen? Zwar ist der Auswahlmodus für die hieropoioi in Athen unbekannt, dennoch wird man kaum in der Annahme fehlgehen, daß Panaitios in Athen zu den geachteten Fremden gehörte und auf Grund dieser Tatsache einer der hieropoioi bei den Ptolemaia war. Zudem erscheint es plausibel, die Hauptursache für Panaitios’ Ansehen in Athen nicht in seiner Verbindung zur Philosophie zu sehen, sondern vielmehr in seiner Herkunft aus einer der bedeutenden rhodischen Familien. Denn um das Jahr 150 hatte sich der etwa dreißigjährige Panaitios nachweislich noch keinerlei Meriten auf dem philosophischen Feld erworben, war aber wohl bereits seitens der Athener geehrt worden. Allenfalls mag bekannt gewesen sein, daß er bei Philosophen wie etwa dem stoischen Scholarchen Diogenes «studierte — doch bedeutete dies nicht, daß er bereits als Philosoph Reputation besaß. Panaitios' Stellung in Athen läßt sich also folgendermaßen charakterisieren: Wie zahlreiche andere Sóhne aus Familien der lokalen Oberschichten hellenistischer Poleis kam auch Panaitios nach Athen, um bei Philosophen zu hóren. Zu einem nicht sicher bestimmbaren Zeitpunkt und unter nicht zu klárenden Umständen wurde er von den Athenern geehrt. Er muß sich jedenfalls Verdienste um die Polis Athen erworben haben - als Parallelen sei hier auf einen Anonymus aus Pergamon, Aristokreon Maior und Minor sowie Menippos aus Kolophon verwiesen,°* die alle während ihrer «Studienzeit in Athen auf Grund
59 In IG II 953 vermeinte Köhler eine Gleichsetzung cher negieren zu müssen, da er von einer Datierung von IG II 953 = IG IT? 1938 in die erste Hälfte des 2. Jh.s ausging. Akzeptiert haben Crónerts Vorschlag u.a. Erskine (1990), 213; Dorandi (1991d), 36-38, und Habicht (1994), 241.
5* Vgl. Philod. hist. Stoic. col. LV Dorandi und Strab. 14,2,13; zur vornehmen Herkunft des Panaitios vgl. Pohlenz (1949), 420f.; Erskine (1990), 211-214, und Dorandi (1991d), 41. S.
unten S. 199f. 55 Zu Panaitios’ Biographie und weisterem Lebenslauf s. S. 201-203. 586 Zum Pergamener S. 101; zu Aristokreon Maior und Minor S. 135 u. 138; zu Menippos S. 219.
6. Die Stoa
145
von um ihre Gastpolis erworbenen Meriten geehrt wurden. In diesen Kontext ist auch zu zählen, daß Panaitios hieropoios der Ptolemaia war. Entscheidend für all dies aber war seine soziale Herkunft, nicht seine Verbindung zur Philosophie. Nur schwer zu bewerten ist die von Plutarch überlieferte, chronologisch nicht verortbare Geschichte, Panaitios habe es abgelehnt, von den Athenern das Bürgerrecht anzunehmen, und dabei gesagt, daß eine Polis für einen besonnenen Mann genüge.^" Die angebliche Antwort des Panaitios ist sicher eine literarische Konstruktion; ob die Athener Panaitios tatsáchlich die politeia verleihen wollten, ist nicht zu klären. Gegen die Authentizität spricht, daß Philodem, der über Panaitios' Ehren in Athen berichtet, nichts davon erwähnt. Möglicherweise handelt es sich also um eine Erfindung der biographischen Literatur. 2. Das Ende der sogenannten Stoikerinschrift Überprüft man kritisch die einzelnen Personen aus der sogenannten «Stoikerinschrifb, die in der Forschung als Stoiker identifiziert worden und für diese Inschrift namengebend gewesen sind, so gelangt man zu einem ernüchternden Ergebnis:**? Die «Stoikerinschrift hat es nicht gegeben; sie ist eine wissenschaftliche Invention des frühen zwanzigsten Jahrhunderts - bis auf Panaitios besitzt keine der seinerzeit vorgeschlagenen Identifizierungen Plausibilitát. Trotz der erwiesenermaßen vielfach wenig konsistenten Argumentationen von Crónert und Cichorius wird jedoch in der modernen Forschungsliteratur nach wie vor an der «Stoikerinschrift: festgehalten, werden die Identifizierungsvorschläge weiter und weithin akzeptiert. Mit Ausnahme des Panaitios läßt sich jedoch kein einziger hieropoios der Ptolemaia des Jahres 149/8 als Stoiker erweisen, alle vorgeschlagenen Identifizierungen sind aus Mangel an tragfáhigen Beweisen abzulehnen. Gleiches gilt auch für vermeintlich akademische Philosophen und andere gelehrte Personen. Mit diesem Ergebnis verliert auch die Interpretation der Stoiker als philoptolemaiischer Philosophenschule um die Mitte des zweiten Jahrhunderts ihr Fundament. Abschließend ist eine Frage zu stellen: Warum hätten solchermaßen zahlreiche Stoiker, Akademiker und andere Gelehrte als hieropoioi bei den Ptolemaia in Erscheinung treten sollen??? Crónert und Cichorius haben sich diese Frage
5? Plut. comm. in Hes. erg. 707-708,12f. = Plut. mor. frg. 86,12f. Sandbach = Panaitios frg. 27 van Straaten = Panaitios T 10 Alesse. 585 Die einzelnen Diskussionen befinden sich S. 288-294. 55 So aber Erskine (1990), 100.
** Es sei darauf hingewiesen, daß Crónert (1904), 482, grundsätzlich davon ausging, in dieser Inschrift noch weitere Stoiker entdecken zu können. Er hoffte, weitere Namen aus den herkulanensischen Papyri zu gewinnen, die er dann in athenischen Inschriften wiederzufinden gedachte.
146
II. Athen
nicht gestellt. Es steht zu vermuten, daß die Erfindung der «Stoikerinschrifb maßgeblich durch folgenden Aspekt motiviert war: Es ist dies die Perspektive weiter Teile der modernen Forschung auf Athen, das Image von Athen als der Stadt der Philosophie - und in solch einer Stadt sind Philosophen in den verschiedensten öffentlichen Kontexten zu erwarten.??!
7. Der Kepos a) Amynomachos, Sohn des Philokrates, aus Bate Im Testament Epikurs, das Diogenes Laertios in der vita Epicuri überliefert, ist Amynomachos, Sohn des Philokrates, aus Bate zu einem der Erben des Gründers des Kepos bestimmt. Zwar ist nirgends bezeugt, daß Amynomachos ein Schüler Epikurs oder gar ein epikureischer Philosoph gewesen ist, doch wird man kaum darin fehlgehen, ihn in enger Beziehung mit der Schule Epikurs und vor allem mit deren Gründer selbst zu sehen. Amynomachos ist aber auch aus einem Dekret der Mesogeioi bekannt, in dem er als Antragsteller in Erscheinung tritt:5? In diesem psephisma, das auf Grund der Angabe des Archon Olbios in das Jahr 275/4 datierbar ist,?* geht es um die Ehrung des aus dem genos der Eteoboutadai
stammenden Archon der Mesogeioi, Polyeuktos, Sohn des Lysistratos, aus Bate
5! Man könnte den Verdacht hegen, daß die fast zwanghaft anmutende Suche nach Philosophen zumindest bei Crönert auch folgende Ursache hat: Crönert publizierte 1900 eine Arbeit über den Epikureer Philonides, in der es vor allem um einen Papyrus aus Herculaneum ging. Noch im selben Jahr veröffentlichte Köhler einen kurzen Aufsatz, in dem er darauf hinwies, daß Crönert einige relevante epigraphische Belege zu Philonides übersehen hätte; s. Köhler (1900), 999. Diesem Vorwurf wollte Crönert in seiner hier diskutierten Arbeit zuvorkommen. Ein zweites Movens von Crönert mag darin gelegen haben, daß gerade am Ende
des 19. respektive zu Beginn des 20. Jh.s die Forschungen an den Philodempapyri aus Herculaneum eine Blüte erlebten. In diese Arbeiten war Crönert involviert - und so mag er stets zugleich auch auf der Suche nach epigraphischen Zeugnissen für in den Papyri genannte Personen gewesen sein. 532 Das Testament
findet sich in Diog. Laert.
10,16-21.
Eine Erörterung der einzelnen
Bestimmungen liegt bei Bruns (1880), 46-52, vor; s. auch Dorandi (1991c). Zu den philosophischen Aspekten in Epikurs Vermächtnis vgl. Clay (1973). Amynomachos wird erwähnt in Diog. Laert. 10,16 u. 18-21; s. auch Cic. fin. 2,101. Zu Amynomachos vgl. J. Kirchner, RE I, 2, 1894, 2005, s. v., und R. Goulet, DPhA I, 1989, 175, s. v. (A 151). Ein Amynomachos, Sohn des Philokrates, aus Bate ist 343/2 (?) als prytanis bezeugt: Agora XV 36, Ζ. 30. Dieser ist wahr-
scheinlich der homonyme Großvater des Antragstellers von IG II? 1245. 59 [G IT? 1245; vgl. auch Habicht (1994), 239, und Scholz (1998), 308 mit Anm. 198. 5% Zum Jahr des Archon Olbios s. Meritt (1977), 173, sowie Dreyer (1999), 428.
7. Der Kepos
147
mit einem goldenen Kranz (Z. 13f.).95 Der Antrag für die Ehrung wird damit begründet, daß Polyeuktos unter anderem für ein Opfer und einen Festzug für Herakles Sorge trug (Z. 2-4). Polyeuktos' Verdienste, die die Grundlage seiner Ehrung darstellen, sind auf die Mesogeioi bezogen. Die Frage, wer diese sind, wird auf Grundlage dreier Inschriften kontrovers diskutiert:?* Entweder handelt es sich bei ihnen um ein genos?" oder aber eine Vereinigung nicht klar beschreibbaren Zuschnitts.?* Zwei Aussagen lassen sich über die Mesogeioi immerhin mit Sicherheit machen: Zum einen stehen die Mesogeioi nicht mit der Mesogeia in Verbindung;?? zum anderen ergibt eine Analyse der Personen, die den Mesogeioi zuzuordnen sind, daß sie in einem erheblichen Maße «substantial and prominent citizens» waren.‘ Amynomachos war, wie sein Auftreten als Antragsteller in der Ehrung des Polyeuktos zeigt, Mitglied der Mesogeioi. Obwohl er zum Umfeld Epikurs gehórte, der seine Anhänger die Abstinenz von alltäglichen Beschäftigungen des öffentlichen Lebens lehrte,‘ war er als Angehöriger der Mesogeioi aktiv. Die Einbindung in Strukturen der attischen Gesellschaft wurde also durch seine Verbindung zu Epikur nicht gelockert oder gar gelöst. Vielmehr handelte er gemäß etablierter Normen der Polis - die philosophischen Maximen des Gründers des Kepos waren für Amynomachos nicht exklusiv handlungsleitend. Die Diskrepanz zwischen Epikurs Lehre von der ataraxia und dem sozialen Handeln des Amynomachos als wenig bedeutsamen Freundschaftsdienst zu relativieren, erscheint nicht überzeugend.*? Selbst wenn es sich um einen «reinen Freundschaftsdienst gehandelt haben sollte, so ist doch zu berücksichtigen, daß Freundschaft in Athen - zumal in der Oberschicht - ein wesentliches Element politischen Agierens darstellte.9? Zu bedenken ist im Fall des Amynomachos allerdings, daß er nicht dem «harten Kern» der Gefolgsleute Epikurs angehörte, sondern lediglich dem epikureischen Umfeld wohl nahestand.9* Genausowenig wie die Nähe zum Kepos das soziale
$55 Zur Familie des Polyeuktos s. Davies (1971), 169-173; seine Tochter war Priesterin der Athena Polias - vgl. ebd., 171. Zum genos der Eteoboutadai s. Parker (1996), 290-293. 5€ IG IT? 1244f. u. 1247.
7 Vg]. z.B. Parker (1996), 306 f. 59$ 5? $9 $9! 9? $5
So Jones (1999), 237-239. Vgl. Schlaifer (1944), Dow - Gill (1965) und Parker (1996), 306. Schlaifer (1944), 26; vgl. auch Jones (1999), 238 f. Vgl. dazu z.B. Erler - Schofield (1999), 644-647. So aber Scholz (1998), 308. Vgl. dazu Herman (1987), 142-156.
@4 Daß Amynomachos nicht zum philosophischen «inner circle Epikurs gehörte, geht aus dessen Testament deutlich hervor (Diog. Laert. 10,16-21): Mehrfach wird eine Trennung zwischen den beiden Erben Amynomachos und Timokrates, Sohn des Demetrios, aus Potamos auf der einen und Hermarch und dessen philosophischen Freunden auf der anderen Seite deutlich.
148
II. Athen
Handeln des Amynomachos beeinflufite, so wenig stellte seine Einbindung bei den Mesogeioi für Epikur, der 271/0 verstarb,5 einen Hinderungsgrund dar, ihn als einen seiner Erben einzusetzen und ihm damit eine wichtige Funktion für den Fortbestand des Kepos zuzuweisen. b) Philonides aus Laodikeia: Epikureer und euergetes Wie für jeden Biographen so galt es auch für den Verfasser einer Philosophenbiographie in der Antike zunächst eine grundsätzliche Entscheidung zu treffen: Wollte er eine positive Schrift verfassen oder eine eher polemische? Je nach Tendenz mußte mit dem zentralen Punkt einer jeden Philosophenbiographie verfahren werden: Wie hält es das Objekt des literarischen Werkes mit den Lehren seiner Philosophenschule? Konstruierte man Leben und Handeln des Philosophen gemäß den doxai derjenigen Lehre, der er anhing, oder aber ließ man ihn fortwährend gegen die von ihm vertretenen ethischen Ansichten verstoßen? Der Verfasser einer auf einem herkulanensischen Papyrus überlieferten Biographie des epikureischen Philosophen Philonides aus Laodikeia am Meer,96 wahrscheinlich Philodem von Gadara, móglicherweise aber auch Demetrios Lakon, setzte sich zum Ziel, ein positives Bild seines «Helden zu zeichnen.9" Er mußte den bios des Philonides also in Übereinstimmung mit den doxai Epikurs konstruieren. Diese Kongruenz wird wiederholt vom Biographen betont, besonders eindrücklich in der folgenden Passage (FBP II, vit. Philonid. frg. 27, Z. 1-10 Gallo):
|| ὁ βασιλεὺς Δημήτριος ἐ-
(ein Haus,** das) der Kónig Demetrios
xapicaro Φιλωνίδει, ἐφ᾽ ὧι
Philonides schenkte, damit er stets mit ihm
$5 Epikurs Todesdatum geht aus FGrHist 244 F 42 = Diog. Laert. 10,14 f. hervor: Er starb im Jahre des Archon Pytharatos; vgl. dazu Meritt (1977), 174. $5 PHerc. 1044. Die editio princeps stammt von Crönert (1900), 943-955. Grundlegend ist die
Edition von Gallo (1980), 51-95; wichtige Überlegungen zur Rekonstruktion des Textes stammen von Capasso et al. (1976) sowie Dorandi (1982a), 50-52, zu frg. 11, Habicht (1988d) zu
frg. 10, Z. 3f. u. frg. 52a, Z. 8-10 sowie Gera (1999) zu frg. 28, Z. 23-26, frg. 6b, Z. 10f. u. frg. 9. 7 Crönert hat im Rahmen seiner editio princeps die wichtigsten Argumente für und wider die Autorschaft des Philonides zusammengestellt; s. Crönert (1900), 957 f., u. (1906), 182. Gallo
(1980), 44-49, hat im Rahmen seiner Edition plausible, jedoch stark hypothetische Argumente für Philonides als Verfasser angeführt; vgl. auch Angeli (1983), 585-596. Die Argumente, die für Demetrios Lakon als Autor sprechen, hat Crónert (1900), 957f., zusammengefaßt. Für diesen Scholarchen (T. Dorandi, DPhA II, 1994, 637-641, s. v. [D 60]) als Verfasser hat auch
Philippson (1943), 158 mit Anm. 57, argumentiert. Eine endgültige Entscheidung ist nicht zu treffen; vgl. Gigante (19832), 86. $* Vgl. Gallo im app. crit. zu frg. 27: »N* ante l. 1 fjv (sc. οἰκίαν) con. Cr»; s. ders. (1980), 153, ad loc.
7. Der Kepos
4
8
συνδιατρίψει αὐτοῦ καὶ gvἰ[σ]χολάσει. Ἀλλὰ καὶ ἐν τού-
149
zusammen und sein Schüler sein kónne. Aber auch unter diesen Umständen führte er
τοις καλῶς kai φιλοσόφως
(sc. Philonides) sein Leben schón und
καὶ ἐνδόξως ἀνεστράφη. Εἰς μὲν yàp συμβούλιον καὶ πρεσβείαν καὶ rà τοιαὖθ᾽ ἁπλῶς αὑτὸν οὐκ Éδωκεν, ...
philosophisch und ruhmvoll. An der Ratsversammlung námlich und am Gesandtschaftsverkehr und derartigen Angelegenheiten beteiligte er sich nicht ...
Mit einer derartigen Lebensweise als philos eines hellenistischen Monarchen wäre Philonides ein absolutes Unikum. Andere Philosophen, die sich an den Höfen von Herrschern aufhielten, wurden von den Kónigen mit Aufgaben betraut, die jenseits des Philosophierens lagen und rein praktische Dinge betrafen;'? als vielleicht berühmtestes Beispiel sei das gescheiterte militárische Kommando des stoischen Philosophen Persaios von Kition über die Festung von Akrokorinth angeführt.9! Die Frage, ob Philonides’ Leben an Demetrios' Hof tatsächlich von politischer Abstinenz geprágt war, wie der Verfasser der vita es dem Leser glauben machen will, wird zu erórtern sein. Vorher ist aber ein epigraphisches
Zeugnis aus Eleusis zu diskutieren, bei dem es sich um ein fragmentarisches psephisma der gene der Kerykes und Eumolpidai für Philonides aus Laodikeia handelt, in dem auch seine beiden Söhne, Philonides und Dikaiarchos, Erwähnung finden:$? % Zur Darstellung von Philonides' ! Diog. Laert. 2,130 u. 136 = Antigon. Kar. frg. 25 Dorandi.
VI. Chalkis: Das Grabepigramm für Apatourios, Sohn des Damarmenos, einen Schüler der Akademie
Wahrscheinlich in die spáthellenistische Zeit datiert ein in seinem linken Teil verstümmeltes Grabepigramm für den anderweitig unbekannten Apatourios, Sohn des Damarmenos; der Anfang dieser Grabinschrift lautet:! Ἀπατούριος Δα[μα]ρμένου χαῖρε.
4
[é]vOá[6e κηρὶ δα]μ[έϊντα τὸν ἔξοχον ἐν πραπίδεσσι [ΕἸὐ[βο]ί[ας ἐρατ]ᾶς ἅδε κέκευθε κόνις,
[ἐϊσθλὸν ἐ[ν ἠιθέοι]ς Ἀπατούριον, ὄνθ᾽ Ἑκαδήμου [λέϊσχαι κ[αὶ σοφία)]ς μῦθος ἐ[ν]αγλάισεν.
Apatourios, Sohn des Damarmenos, lebe wohl. Hier birgt dieser Sand des lieblichen Euboia den vom Tod bezwungenen, den im Verstand ausgezeichneten, den unter den Jünglingen trefflichen Apatourios, den die Gespráche der Akademie und das Wort der Weisheit zierten. Auf Grund der weitreichenden Ergänzungen ist bei einer Interpretation besondere Zurückhaltung geboten. Betrachtet man die Forschungen seit der editio princeps der Grabinschrift im Jahre 1845, so fällt die große Bandbreite an Ergänzungen unmittelbar auf.? Sicher ist dieser Grabinschrift zu entnehmen, daß Apatourios ein Schüler der Akademie war und daß der Verfasser des Epigramms Wert darauf legte, diesen Punkt im Rahmen der funeralen Selbstdarstellung des Verstorbenen hervorzuheben.
! Die Z. 1-3 folgen der Edition von Ziebarth in IG ΧΙ] 9, 954; die Z. 4-7 folgen Peek in GVI 755, Z. 1-4. Peek und B. Puech, DPhA I, 1989, 262, s. v. (A 228), datieren das Epigramm um 100 bzw. in das spáte 2. Jh. Welcker (1845), 240, und Kaibel, EG 103, hingegen datieren es in die frühe Kaiserzeit. Da der Stein seit langem verschollen ist (s. Preuner [1920-1924], 289), ist eine Revision nicht mehr móglich. - Sowohl der Name des Sohnes (LGPN I, s. v. [2]) als auch der Name des Vaters (LGPN I, s. v.) sind in Chalkis singulär.
! Die editio princeps stammt von Welcker (1845), 238-240 Nr. 9. - Vgl. den app. crit. von Peek in GVI, p. 199; s. auch Kaibel, EG 103; LBW 1595; Papabasileios (1905), 22f.; Wilhelm (1912a), 234 f., und Preuner (1920-1924), 288 f.
VII. Samos
l. Der Peripatetiker Epikrates aus Herakleia In einem sprachlich äußerst elaborierten, nur fragmentarisch erhaltenen Ehren-
dekret aus Samos wird dem Peripatetiker Epikrates aus Herakleia das Bürgerrecht verliehen; auf Grund paláographischer Erwägungen wird die Inschrift in die Zeit um 200 datiert:! (...) ὅπως
4
[ E] rixpéret Δημητρίον Ἡρακλεώτει [π]Ἰεριπατητικῶι πλείονα χρόνον ἐν [1f]i] πόλει ἡμῶν παρεπιδεδημηκό[ri] καὶ διὰ τῆς αὐτοῦ παιδείας πολ[λὰ] τοὺς νέους εὐεργετηκότι δοθῆι
8
[πολι]τεία καθότι ἂν τῆι βουλῆι καὶ [τῶι δή]μωι δόξει καὶ ἡ βουλὴ προεβούλευ[σεν ἐπαγαγεῖν ἐν ταῖς ἀρχαιρεσίαις’
12
[ἐπειδὴ Ἐπικ]ράτης Δημητρίου Ἡρακλε[της περ]ιπατητικὸς πλείονα χρόνον [παρεπιδε]δήμηκεν ἡμῶν ἐν τεῖ πόλει [καὶ διὰ] τῆς αὑτοῦ παιδείας πολλὰ
[τοὺς] νέους εὐεργέτηκεν χαρίζεσ16
ἰθαι βο]υλόμενος καὶ ἰδίαι τοῖς ἀπαντῶ[ot τ᾿ιῷν συσχολαζόντων ἑαυτῶι καὶ [κοιν]ῆι τῶι δήμωι μεταδιδοὺς ἀφθόνως
! IG XII 6,1 128, Z. 3-27. Diese Inschrift hat lange Zeit in der Forschung wenig Beachtung gefunden; s. nun aber Scholz (2004c), 331-336, mit einer jedoch nicht in jeder Hinsicht überzeugenden Interpretation, die das psephisma auf der Basis literarischer Texte zu erschließen sucht und dabei zur unausgesprochenen und nicht erórterten Prämisse hat, daß der Sprachgebrauch im Dekret mit demjenigen literarisch-philosophischer Texte konform geht; s. auch S. 188f. Zur elaborierten Sprache des Dekrets vgl. Preuner (1924), 39: «Die Wortstellung ist auffállig gesucht und verschránkt, als ob man dem gelehrten Manne die eigene παιδεία habe vor Augen stellen wollen.» Ist die Beobachtung zum Sprachstil des Dekrets durchaus zutreffend, so erscheint es fraglich, ob es primáres Ziel war, dem Geehrten die eigene paideia zu demonstrieren. Plausibler erscheint, daß durch einen gebildet klingenden Sprachduktus eine Anspielung auf das Motiv für die Ehrung vorgenommen werden sollte.
186
VII. Samos
[τῆς] καθ᾽ αὑτὸν παιδείας τοῖς βουλομέ20
[νοις] μετέχειν τῶμ πολιτῶν τοῖς τε [μὴ] δυναμένοις τῶ[ν] δ[ηϊμοτῶν τελεῖν
[τὸν] ἐκκείμενον ὑφ᾽ αὑτοῦ μισθὸν προῖκα [σχο]λάζων ὅπως οὖν καὶ ἡμεῖς φαινώμε-
24
[θα το]ὺς ἀγαθοὺς καὶ ἀξίους ἄνδρας [καὶ δ]υναμένους ὠφελεῖν τῶν νέων [τοὺς] φιλομαθοῦντας, προεστηκότας] ... JI] ov καὶ βίου δέοντας, τιμῶνί[τες,]
28
(...)
(...) daß an Epikrates Sohn des Demetrios aus Herakleia, den Peripatetiker, der sich lángere Zeit in unserer Stadt aufhielt und durch seinen Unterricht viel Wohltaten der Jugend erwies, das Bürgerrecht gegeben werde, wie es Rat und Volk beschließen mögen; und der Rat vorab beschloß, sie bei den Beamtenwahlen selbst sprechen zu lassen: Da Epikrates Sohn des Demetrios aus Herakleia, der Peripatetiker, sich längere Zeit in unserer Stadt aufhielt und durch seinen Unterricht viel Wohltaten der Jugend erwies im Wunsche, gefällig zu sein sowohl privat denjenigen Schülern, die sich bei ihm einfanden, als auch insgesamt dem ganzen Volk, indem er freigiebig denjenigen Bürgern, die an seinem Unterricht teilnehmen wollten, die Teilnahme ermüglichte, und diejenigen Mitbürger, die nicht in der Lage waren, den von ihm bedungenen Lohn zu zahlen, unentgeltlich unterrichtete;
(und) damit nun auch wir
öffentlich die vortrefflichen und ehrwürdigen Männer und die, die in der Lage sind, den Lernbegierigen unter den Jugendlichen zu helfen, ob sie hervorragen an (Reichtum?) oder des Lebensunterhaltes entbehren, ehren, (...)
(Übers.: K. Hallof)
Zu einem nicht náher bestimmbaren Zeitpunkt gegen Ende des dritten Jahrhunderts gelangte Epikrates aus Herakleia nach Samos und verbrachte längere Zeit in dieser Polis. Es ist nicht zu klären, aus welchem Herakleia Epikrates stammte.? Literarische Quellen zu seinem Leben oder seinen philosophischen «Aktivitäten» existieren nicht. ? [n der Forschungsliteratur gibt es drei Thesen: Bouvier (1979), 258, geht davon aus, daß es sich um das thessalische Herakleia handelt; Shipley (1987), 341, hingegen nimmt ohne Erórterung Herakleia am Latmos an. Ameling (I.Heraclea Pontica, p. 135 mit Anm. 74) plädiert für Herakleia Pontike. Amelings Begründung, daß es in Herakleia Pontike in der Nachfolge des Herakleides Pontikos cine peripatetische Schule gegeben habe, ist nicht zwingend, da deren Existenz umstritten ist. Und selbst wenn man von dieser ausgeht, muß ein Peripatetiker Epikrates aus Herakleia nicht zwangsláufig aus dem pontischen Herakleia stammen. * Vgl auch B. Puech, DPhA III, 2000, 105f., s. v. (E 32). - Aus chronologischen Erwägungen kann der aus Herakleia stammende Epikrates nicht mit dem homonymen Testamentsverwalter (Diog. Laert. 5,62) des 270/69 oder 269/8 gestorbenen peripatetischen Scholarchen
Straton von Lampsakos identisch sein - zu dessen Todesdatum s. Diog. Laert. 5,58; anders
1. Epikrates aus Herakleia
187
Von zentraler Bedeutung ist, daß sowohl im Antragsformular als auch im sogenannten Motiv Epikrates nicht allein durch die gängige Hinzufügung von Patronymikon und Ethnikon als Bürger seiner patris charakterisiert wird, sondern zusätzlich durch die Angabe, daß er Peripatetiker sei. Diese Inschrift ist
der mit Abstand früheste Beleg dafür, daß in einem Ehrendekret respektive einer -inschrift ein Philosoph durch die Hinzufügung der als Mitglied einer bestimmten Philosophenschule bezeichnet Begründung der Ehrung des Epikrates gibt es nur eine weitere Zeit:^ Als sein herausragendes Verdienst wird die Erziehung
Schulzugehórigkeit wird. Auch für die Parallele aus dieser der samischen neoi
genannt,’ denen er wegen seiner paideia - worunter hier sein «Unterricht zu ver-
stehen ist - in besonderer Weise nutzte und sich sogar als ihr Euerget erwies (Z. 7 u. 15: εὐεργετεῖν). Ungewöhnlich an dieser Aussage ist, daß es die neoi sind, die als Empfänger der von Epikrates vermittelten paideia explizit genannt werden. In der Regel waren es nämlich die Epheben, die - neben anderen Bereichen - in
der paideia unterwiesen wurden. Durch eine fragmentarische samische Siegerliste aus der Zeit um 200° sind die Sieger der neoi in von gymnasiarchoi veranstalteten diadromai in verschiedenen Disziplinen überliefert - dabei handelt es sich um Katapultschießen, Speerwerfen, Bogenschießen, hoplomachia, Schildkampf, Laufen und eutaxia.’ Aus diesem Zeugnis geht deutlich hervor, was grundsätzlich als die Hauptbetätigung der neoi im gymnasion anzusehen ist, nämlich sportliche
allerdings von den Hoff (1994), 61 mit Anm. 89, und Scholz (1998), 190 mit Anm. 17. Zum
anderweitig unbekannten Testamentsverwalter Epikrates s. R. Goulet, DPhA III, 2000, 105, s. v. (E 30). * Eshandelt sich dabei um das in das erste Drittel des 2. Jh.s datierende Proxeniedekret aus dem boiotischen Haliartos für einen Makedonen, der als Philosoph bezeichnet wird und im gymnasion die Epheben unterwiesen hat; 5. oben 5. 171-174. 5 Nicht immer läßt sich mit Sicherheit feststellen, welche Gruppe mit dem Begriff neoi bezeichnet wird. [m Falle von Samos ist dieser Aspekt jedoch auf Grund epigraphischer Evidenz eindeutig zu kláren - wenn mit den neoi eine institutionelle Altersklasse gemeint ist: In Poleis mit der Institution der Ephebie - in Samos durch IG XII 6,1 25 (s. zu dieser Inschrift Migeotte [1984], 232-235 Nr. 67) bezeugt - stellen die neoi diejenige Altersstufe dar, die auf die der Epheben folgt. Aus dem aus der Zeit vor 148 stammenden Gymnasiarchengesetz aus Beroia geht hervor (Gauthier - Hatzopoulos [1993], BZ. 11 [p. 20] mit p. 175), daß die neoi die
Altersgruppe der unter Dreißigjährigen umfaßte; zu den neoi in diesem Gymnasiarchengesetz s. Gauthier [1995], 4). Grundlegend zu den neoi vgl. Dreyer (2004); s. a. Forbes (1933), 16-58 u. 68f., sowie Poland (1909), 93-95, u. ders., RE XVI, 2, 1935, 2401-2409, s. v.; Nilsson (1955),
41f; Pleket (1969), 290f., und Kleijwegt (1991), 104 f.
$ [G XII 6.1 179; vgl. Preuner (1903), 357-365 Nr. 2, sowie Dreyer (2004), 224f., und Kah (2004), 85. Ob es sich bei IG XII 6,1 180f. (beide um 200) u. 182 (2. Jh.) um Siegerlisten der neoi
oder der Epheben handelt, ist nicht feststellbar. Für eine Auflistung der verschiedenen Disziplinen in den samischen certamina gymnasiarchicorum vgl. IG XII 6,1, p. 151. 7. Zur eutaxia im gymnasion s. oben S. 44 mit Anm. 134 u. S. 54 mit Anm. 109.
188
VII. Samos
Aktivitáten mit einem starken militárischen Einschlag.* Die Euergesie des Peripatetikers gegenüber den neoi auf Grund seiner paideia stellte also eine außergewöhnliche Angelegenheit dar, die im Alltag der samischen neoi zumindest in der Form der Unterweisung des Epikrates keinen festen Platz hatte. Daf es den Samiern wichtig erschien, den Geehrten als Peripatetiker zu bezeichnen, läßt sich konstatieren, nicht jedoch erkláren.
Zwei weiteren Gruppierungen trat Epikrates bei seiner Vermittlung von paideia gegenüber: einerseits den ovayoAátovrec? und andererseits denjenigen Bürgern,
* Zu den militärischen Aktivitäten der neoi im Hellenismus s. allgemein Ma (2000), 343, und Kah (2004), 54-64, sowie exemplarisch zu Ilion Winter (1996), 183-185, und zu Xanthos Gauthier (1996), 26f. Im Ehrendekret für den gymnasiarchos Menas aus Sestos heißt es über
den Geehrten (LSestos 1, Z. 76): (...) ἐπεμελήθη δὲ καὶ τῆς τῶν ἐφήβων καὶ νέων παιδείας (...) - C...) er kümmerte sich auch um die Bildung der Epheben und jungen Männer. (Übers.: ].
Krauss) Jedoch sind aus diesem Zeugnis keine generalisierenden Schlußfolgerungen dahingehend zu ziehen, daß Epheben und neoi grundsätzlich in den gleichen Dingen unterwiesen wurden und dabei für beide Gruppen der «intellektuelle Aspekt im Vordergrund stand. ? Daß es sich bei den oveyoAátovtec des Epikrates um eine Gruppe von dessen Schülern handelt, die der Peripatetiker als Wandergelehrter . mit sich nach Samos führte - so Guarducci (1927-29), 644-646; Scholz (2000), 115, u. (2004c), 335f. - ist eine Hypothese, die m. E. nicht
zu erhärten ist. Guarducci (a. O.) beschrieb - basierend auf epigraphischem Material - den Typus des wandernden Philosophen, der von Ort zu Ort zieht, Vorträge in den gymnasia hält und verschiedentlich sogar zu Ansehen gelangt, so daß ihm Ehren verliehen werden. Als Beispiele für ihre These führt Guarducci neben Epikrates den auf Delos geehrten Praxiphanes (s. $. 247-251) und Lykons Ehrung in Delphi (s. S. 240f.) an. Allerdings ist weder für Lykon noch für Praxiphanes ersichtlich, warum sie geehrt wurden - in einer Vortragstätigkeit jeweils die Ursache zu sehen, kann nicht mehr als eine Vermutung darstellen (s. dazu S. 241 u. 250). Weder Praxiphanes noch Lykon kónnen also als epigraphisch bezeugte Parallelen für einen
«Wanderphilosophem Epikrates verwendet werden - zumal Lykon als Scholarch des Peripatos nicht unter die Kategorie «Wandergelehrter> zu subsumieren ist. Was Epikrates betrifft, so ist dem Dekret nicht zu entnehmen, ob er für immer auf Samos blieb oder die Insel irgendwann wieder verließ. Außerdem ist es hypothetisch, daß der «Wandergelehrte gleich auch noch «Wanderschüler in seinem Gefolge hatte. Zwar führt Scholz (2004c), 330 f., literarische Belege
für umherwandernde Philosophen und deren Anhänger ins Feld, doch ist fraglich, ob diese Aspekte ohne weiteres auf Epikrates zu übertragen sind, da es sich bei dem wichtigsten angeführten Beispiel mit Bion von Borysthenes um einen kynischen Philosophen handelt. Die Kyniker aber waren neben einigen vorsokratischen «Wanderphilosophen: die einzigen Philosophen, die das Wandern als zentrales Element und Prinzip ihrer philosophischen Lebensführung ansahen; vgl. Montiglio (2000), 100 u. 103f. Selbst wenn Epikrates ein umherziehender Philosoph gewesen sein sollte, so wäre er nicht mit dem Typus des (kynisch inspirierten) «Wanderphilosophen» zu vergemeinschaften, sondern allenfalls in der von Scholz (2004c), 331 mit Anm. 51, angeführten Gruppe der an verschiedenen Orten geehrten Wandergelehrten wie Neanthes von Kyzikos (FD III 1, 429; 5. Chaniotis [1988], 297-299 E 5), Mnesiptolemos von Kyme (IG ΧΙ 4, 697; s. Chaniotis [1988], 303 f. E 10) oder Themistokles von Ilion (Amyzon I 15b; s. Chaniotis [1988], 305 f. E 12) zu verorten; diese Rhetoren und Historiker hatten aber zweifelsohne keine (mit)wandernden Schüler. Als sehr viel wahrscheinlicher muß gelten, in den συσχολάζοντες
1. Epikrates aus Herakleia
189
die an seinem Unterricht partizipieren wollten, wobei er diejenigen, die ihn nicht zu bezahlen vermochten, unentgeltlich seinen Ausführungen folgen ließ (Z. 1623).* Neben einem engen Kreis von Schülern stehen also diejenigen Personen aus dem demos, die die für die Unterweisung notwendige Summe aufzubringen vermochten, sowie diejenigen, die nicht zahlen konnten. Dabei handelt es sich um eine Gruppe, über die in Inschriften für gewöhnlich nicht «geredet» wird. Die Vermittlung von Bildung durch Epikrates an diese soziale Gruppe stellt auch deswegen eine Besonderheit dar," da die Zeugnisse hinsichtlich des Zuganges zur paideia sonst eine deutliche Sprache sprechen: Es gilt soziale Exklusivität, paideia ist ein Phänomen der Oberschicht.? Ob der Grund für das exzeptionelle Handeln des Epikrates gegenüber den demotai in den ökonomisch schwierigen Umstánden auf Samos wáhrend der letzten Jahrzehnte des dritten Jahrhunderts
zu sehen ist, ist eine attraktive Hypothese, die sich aber nicht beweisen läßt." diejenigen Personen zu schen, die Epikrates' «wissenschaftlichen» Ausführungen (möglicherweise im gymnasion) folgten; s. AvPergamon VIII 2, p. 315; vgl. auch die attischen Ephebeninschriften sowie IG XII 9, 235 mit IG XII Suppl., p. 179 ad 235 aus Eretria (1. Jh.). In den συσχολάζοντες ist - mit hoher Wahrscheinlichkeit - ein (quasi «privater») samischer Schüler-
zirkel des Epikrates zu sehen, über dessen Konstituicrung allerdings keine Aussagen getroffen werden können. Nicht zutreffend ist die Aussage von Scholz (2004c), 334 f., daß sich Epikrates um die συσχολάζοντες «wie ein Vater kümmerte». Dies ist durch ein m.E. nicht zutreffendes Verstándnis der Z. 15-18 (bes. von ἰδίαι [Z. 16]) bedingt - den hier entscheidenden Pas-
sus übersetzt Scholz (2004c), 332 f. mit »he (i. e. Epicrates) wanted to help in private life all colleagues in study». Dieses Textverstándnis führt (auf der Basis literarischer Quellen) zu Scholz zwar prágnanter, jedoch nicht zutreffender Interpretation der συσχολάζοντες des Epikrates als einer Lehr- und Lebensgemeinschaft mit einem «charismatic leader» (Scholz [2004b], 334 f.).
'* Vgl. zu den «Gruppierungen» der Hórerschaft des Epikrates Guarducci (1927-29), 643; Scholz (2000), 115, u. (2004), 334f. '! Vgl. auch Scholz (2000), 115. " Die sog. Schulstiftungen - etwa von Eudemos von Milet (Syll? 577), von Polythrous von
Teos (Syll.? 578) sowie der pergamenischen Kónige Attalos II. (s. Bringmann - Steuben [1995], 154-158 KNr.: 94[E]) in Delphi und Eumenes II. in Rhodos (s. ebd., 242-244 KNr.: 212 [L]) -
können hier nicht als Parallele herangezogen werden. Sie sind Ausweis für die Vermittlung von Elementarwissen an Kinder breiter sozialer Schichten, nicht aber für die von paideia in einem engeren Sinne an sozial inferiore Gruppen. Vgl. hierzu auch Scholz (2003a), 29f., u. (2004b), 107.
? Zur wirtschaftlichen Situation in Samos am Ende des 3. Jh.s s. Shipley (1987), 202-230. Daß die lex frumentaria (IG XII 6,1 172; vgl. Wiegand - Wilamowitz-Moellendorff [1904] sowie
Thür - Koch [1981]) als Indikator für Versorgungsengpásse der samischen Bevölkerung gewertet werden kann, ist bestritten worden: s. Gargola (1992); vgl. aber Migeotte (1990) u. (1992), 185-191 Nr. 62. Auch die Datierung des Gesetzes wird diskutiert: Gegenüber der ursprünglichen Datierung um 200 (s. z.B. Habicht [1957], 235) hat Tracy (1990c), 62, u. (1990d) auf
Grund paläographischer und prosopographischer Erwägungen eine Datierung um 250 vorgeschlagen, die Hallof akzeptiert hat (IG XII 6,1, p. 172). - Zur (außen)politischen Situation zu Ende des 3. Jh.s s. Bagnall (1976), 82f., und Shipley (1987), 188-193.
190
VII. Samos
Das samische Ehrendekret für den Peripatetiker Epikrates aus Herakleia stellt ein wichtiges Zeugnis für die Wahrnehmung von Philosophen im óffentlichen Diskurs in hellenistischen Poleis dar und zeigt, daß der Philosoph als Vermittler von paideia gesellschaftliche Akzeptanz und öffentliches Ansehen genießen konnte. Auf Grund ihrer Exzeptionalitát gilt jedoch für diese Inschrift in besonderer Weise, daß Verallgemeinerungen methodisch nicht tragbar sind -- weder bezogen auf Samos noch hinsichtlich der hellenistischen Polis-Welt in ihrer Gesamtheit.
2. Gaius Iulius Amynias: Epikureischer Philosoph und Kaiserpriester Während der Regierungszeit des Augustus ehrten boule und demos von Samos den rómischen Bürger Gaius Iulius Amynias auf Grund seiner zahlreichen Verdienste um seine Polis mit einer Hera dedizierten Statue - die Basis trágt folgende Inschrift:'
4
[ἡ β]ουλὴ kai ὁ δῆμος Rat und Volk (ehrten) Γάϊον Ἰούλιον Σωσιγένους υἱὸν Gaius Iulius Amynias, Sohn des Ἀμυνίαν, τὸν καλούμενον 'Iookpátr, — Sosigenes, mit Beinamen Isokrates, φιλόσοφον Ἐπικούρηον, πλεῖ[σ]τα den epikureischen Philosophen, τὴν πόλιν ὠφελήσαν[τα,͵͵] "Hpnı. der der Stadt vielfach nutzte, an Hera.
Von besonderem Interesse sind Amynias' Beiname Isokrates und die Tatsache, daß er als epikureischer Philosoph bezeichnet wird. Durch die Beifügung des prominenten Beinamens wird der Geehrte mit dem attischen Redner verglichen, die ehrende Intention ist evident. Die Auszeichnung eines epikureischen Philo^ IG XII 6,1 293. - Warum und zu welchem Zeitpunkt Amynias das römische Bürgerrecht erhielt, läßt sich nicht präzise bestimmen - einen terminus ante quem bildet IG XII 6,1 190 aus dem Jahre 6/7 n.Chr; als terminus post quem ist wohl 30/27 anzunehmen. Vgl. Holtheide (1983), 42, und Ziethen (1994), 40. - Die literarische Überlieferung schweigt sich über Amy-
nias aus, so daß ohne die Inschriften dieser epikureische Philosoph unbekannt geblieben wäre; vgl. auch B. Puech, DPhA I, 1989, 175, s. v. (A 150).
55 Sprechende Beinamen sind kein singuläres Phänomen; vor allem in der Kaiserzeit finden sich dafür zahlreiche cpigraphische Belege. Dabei wird oftmals vor dem eigentlichen Beinamen ein νέος eingefügt. Diese Beinamen entstammen entweder dem politisch-militárischen oder dem «intellektuellen» Milieu; zu ersterem s. Merkelbach (1983) und Robert (1981), 353-355, zum zweiten vgl. Ameling (1984), 120f. Zum Hintergrund dieser Praxis s. Schmitz (1997), 46 f. mit Anm. 25 u. 226 mit Anm. 64. - Der Beiname Isokrates für Amynias ist noch in zwei weite-
ren Inschriften bezeugt: IG XII 6,1 190 u. 7; s. dazu unten S. 191f. - Isokrates, der dem «Alex-
2. Gaius Iulius Amynias
191
sophen mit dem Beinamen Isokrates verwundert zunächst, da einerseits Epikur
und seine Schule der Rhetorik mit nicht geringer Ablehnung gegenüberstanden'‘ und andererseits Isokrates seinerzeit massiv gegen die Philosophie polemisiert hatte." Zu erklären ist diese Kombination mit der im Späthellenismus und frühen Kaiserzeit eingetretenen Symbiose von Rhetorik und Philosophie als zentraJen Elementen der paideia eines Mitglieds der lokalen Eliten griechischer Poleis.'?
Amynias gebührt aber auch auf Grund der Tatsache Aufmerksamkeit, daß er nach Auskunft der Ehreninschrift ein epikureischer Philosoph war, der sich nicht auf der Suche nach der ataraxia jenseits des óffentlichen Lebens befand, sondern der sich vielmehr wiederholt in den Dienst seiner patris stellte. Bleiben seine Lei-
stungen für die Polis hier auch unspezifiziert, so ist aus zwei weiteren Inschriften Näheres zu Amynias und seinem Wirken zu entnehmen. Aus einer nach der aktischen Ära in das Jahr 6/7 n.Chr. zu datierenden In-
schrift geht hervor, daß Gaius Iulius Isokrates in jenem Jahr das eponyme Amt des demiourgos ausübte.'? Gemäß dem Kontext ist der Name hier mit Gaius Iulius Isokrates gegeben, es fehlt der Hinweis, daß er epikureischer Philosoph war. In der Datierungsformel kam
diesem Aspekt keine Bedeutung zu. Hervorzuhe-
ben ist, daß jedoch nicht dessen eigentlicher Name Amynias, sondern der Beiname Isokrates verwendet wurde, ohne daß dies aus der Inschrift hervorging: Dieser Beiname des Amynias muß also einen Charakter besessen haben, der es ermöglichte, diesen in seiner Funktion als demiourgos Gaius Iulius Isokrates zu nennen.
andrinischen Kanon der Zehn Redner; zugehórt (s. Smith [1974], 14; Worthington (1994]),
genoß in hellenistischer Zeit ebenso wie in der Kaiserzeit eine hohe Wertschätzung. Er besaß das Image eines außerordentlich gebildeten, philosophisch erzogenen, herausragenden Redners, der politisch tätig war und bei seinen Zeitgenossen höchstes Ansehen genoß: Dion. Hal. Isokr. 1; s. dazu Usher (1999), 297 f., sowie auch Swain (1996), 26f. Diese Vorstellung ist als
Folie für den Beinamen des Amynias anzunehmen. Auch eine an die Wende vom 1. zum 2. Jh. datierende Isokrates-Imitation (P. Colon. inv. 3327) indiziert die Wertschätzung, die Isokrates
im Späthellenismus und der frühen Kaiserzeit genoß; vgl. dazu Henrichs (1967). 16 Zur Kritik Epikurs und seiner Nachfolger an der Rhetorik s. den kurzen Überblick von Schenkeveld - Barnes (1999), 217, sowie ausführlicher Hubbell (1916); De Lacy (1939), 8890; Ferrario (1981), Sedley (1989), und auch Ronconi (1963). Eine Zusammenstellung von Zeugnissen aus Philodems' Rhetorike über die Ansichten Epikurs, Hermarchs, Polyaens und
Metrodors zur Rhetorik hat Longo Auricchio (1985) vorgelegt. 7 Zu Isokrates’ Kritik an der Philosophie vgl. umfassend Eucken (1983).
'" Vgl. dazu Scholz (2000), 103-110. Erinnert sei hier an die Epheben in Athen, die im 1. Jh. sowohl in der Rhetorik als auch in der Philosophie unterwiesen wurden; s. oben S. 50-52. I? IG XII 6,1 190, Z. 3f: (...) καὶ δημιουργοῦ | T'(aiov)'IovuA(ov Ἰσοκράτους. Vgl. zu dieser Inschrift Buschor (1953), 20, und Herrmann (1960), 83, dessen Ausdeutung allerdings nicht in jeder Hinsicht zutreffend ist. Zum demiourgos als eponymem Beamten auf Samos s. Transier (1985), 60. Zur Datierung s. Leschhorn (1993), 535 Nr. 7, und bereits Herrmann, a. O.
192
VII. Samos
Von besonderem
Interesse ist schließlich eine nur äußerst fragmentarisch
erhaltene samische Inschrift, aus der hervorgeht, daß für eine Gesandtschaft an
Augustus Mitglieder ausgewählt werden sollen - an erster Stelle wird genannt: der Priester des Augustus, des Gaius Caesar und des Marcus Agrippa?! nämlich Gaius Iulius Amynias, Sohn des Sosigenes, genannt Isokrates:?? 48
[(...) ἀποδι]-
χθῆναι πρεσβευτὰς πρὸς Αὐτοκράτορα K[aícapa θεοῦ υἱὸν Ze]βαστὸν καὶ τὰ λοιπὰ γίνεσθαι ἀκολούθως [τοῖς προγεγραμμένοις]' πρεσβευταὶ ἀπεδίχθησαν. ὁ ἱερεὺς τοῦ Αὐτ[οκράτορος Καί] 52 σαρος θεοῦ υἱοῦ Σεβαστοῦ καὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ Γ[αΐου Καίσαρος) καὶ Μάρκου Ἀγρίππα Γάϊος Ἰούλιος Zwotyévo[uc υἱὸς Apvvíac] ὁ καλούμενος Ἰσοκράτης, (...) (...) daß man ernenne Gesandte an den Imperator Caesar Divi filius Augustus, und das übrige geschehe entsprechend dem Antrag. Als Gesandte wurden ernannt: der Priester des Imperator Caesar Divi filius Augustus und seines Sohnes Gaius Caesar und des Marcus Agrippa, Gaius Iulius Amynias Sohn des Sosigenes, genannt Isokrates; (...) (Übers.: K. Hallof) Die Gesandtschaft, für die neben Amynias auch einer der neopoioi des Augustus und drei weitere neopoioi ausgewählt wurden, hat zentrale Bedeutung für die Kommunikation zwischen der Polis Samos und dem Kaiser in Rom.? Der Inhalt
» [G XII 6,1 7, d, Z. 51-56. Auf Grund des Erhaltungszustands läßt sich die genaue Größe der Gesandtschaft nicht mehr bestimmen: Neben dem im folgenden noch eingehender besprochenen Gaius Iulius Amynias sind mindestens vier weitere Gesandte ausgewählt worden; auf Grund der zerstórten Z. 56 ist móglicherweise noch von einem weiteren Mitglied der Gesandtschaft auszugehen, deren Gesamtzahl dann sechs betragen hátte. Ob noch ein weiterer Teilnehmer anzunehmen ist, läßt sich wegen der bereits erwähnten zerstörten Z. 56 (nach dieser Zeile befindet sich ein Leerraum) nicht feststellen; Souris (1982), 241 Nr. 5, geht von «at least 6» Gesandten insgesamt aus. 2! Zu diesem Priestertum s. die Ausführungen von Herrmann (1960), 77 f.
? Der hier wiedergegebene Text beschränkt sich auf IG XII 6,1 7, d, Z. 48-54. ? Zu den weiteren Mitgliedern der Gesandtschaft s. IG XII 6,1 7, Z. 54-56. Vgl. als Überblick zu Gesandtschaften aus griechischen Gemeinden an rómische Instanzen Habicht (20012002). - Augustus überwinterte viermal auf Samos (31/0: Suet. Aug. 17,3; App. civ. 4,42. 30/29:
Suet. Aug. 26,3. 21/0: Cass. Dio 54,9,4. 20/19: Cass. Dio 54,9,7) und schenkte der Insel bei seinem letzten Aufenthalt die Freiheit. Zu Samos als civitas libera et immunis vgl. Cass. Dio 54,9,7 u. Plin. nat. 5,135; s. dazu Bernhardt (1971), 201. Zuvor hatte Augustus ein Ansinnen der
Samier zur Erlangung der libertas abschlágig beschieden; s. IG XII 6,1 160 - vgl. Badian (1984), 165-170, und Bernhardt (1985), 202. Zur Frage, ob Samos zeitweise den Status einer colonia besaß, vgl. ders. (1971), 203 £., und Transier (1985), 44f. Zu Augustus und Samos s. Bowersock (1964); Transier (1985), 44f., und Halfmann (1986), 158 u. 160f.
2. Gaius Iulius Amynias
193
der Inschrift läßt sich wegen der starken Zerstörungen nicht in allen Einzelheiten klären, sicher ist jedoch, daß es um einen Eid der Samier geht.^ Offenbar handelte es sich um eine Loyalitätsbekundung gegenüber dem Kaiser anläßlich Gaius Caesars Anlegung der toga virilis, die in das Jahr 6/5 datiert. Als hiereus des Augustus, des Gaius Caesar und des Marcus Agrippa hatte Amynias zweifelsohne eines der prestigetráchtigsten Priestertümer von Samos inne und war geradezu prádestiniert, als Gesandter an Augustus ausgewáhlt zu werden.?* Mochte es überraschen, daß ein epikureischer Philosoph den Beinamen Isokrates tragen konnte und sich vielfach um seine patris verdient gemacht hatte, so ist die Tatsache, daß er gar Kaiserpriester war, auf den ersten Blick noch
weit erstaunlicher, bedenkt man die in der epikureischen Philosophie verbreitete kritische Einstellung gegenüber Kulten.?” Gibt es einen Ansatz, der es ermöglicht, die Bezeichnung des Kaiserpriesters Amynias als epikureischem Philosophen durch die Samier nicht als widersprüchlich aufzufassen? Da es keinen Grund zu der Annahme gibt, die Charakterisierung als inhaltsleere Aussage abzutun, erscheint folgende Interpretation plausibel?* Die Handlungen des Amynias waren durch sein soziales Umfeld bedingt,? er agierte gemäß den Gepflogenheiten eines Mitgliedes der Honoratiorenschicht einer griechischen Polis im spáten Hellenismus respektive in der frühen Kaiserzeit - die doxai Epikurs waren für ihn nicht praxisrelevant, obgleich der Umstand, daß er epikureischer Philosoph war, durchaus so wichtig erschien, daß er in der Ehreninschrift seitens der
^ $. IG XII 6.1 7, a, Z. 14 u. 20. > Vgl. grundlegend zu dieser Inschrift Herrmann (1960), 72-82; (1968), 95f., u. (1994), 224f. mit Anm. 97; Le Gall (1985), 768 mit Anm. 10; Millar (1992), 217, und Herz (1993), 273
mit Anm. 8. Nicht in jeder Hinsicht überzeugend ist Transier (1985), 84f. - Auch Sardeis entsandte aus gleichem Anlaß eine Festgesandtschaft nach Rom, der Iollas, Sohn des Metrodoros, angehórte; s. S. 215 mit Anm. 7. 16 Vgl. Bowie (1982), 35, der darauf hinweist, daß ein nicht geringer Anteil an Gesandten griechischer Poleis an rómische Herrscher entweder im stádtischen oder im provinzialen Herrscherkult als Priester agierte. Zur Bedeutung der Funktion des Kaiserpriesters und dem daraus zu gewinnenden Prestige s. Millar (1965), 147. Zum Kaiserkult auf Samos s. Price (1984), 250 Nr. 10.
? Zur skeptischen oder auch kritischen Einstellung von Philosophen zu Religion und Kulten in der Kaiserzeit, die sich in literarischen Zeugnissen spiegelt, s. Price (1984), 201 u. 228, sowie umfassend Attridge (1978) und exemplarisch Smith (1996), 120-122 u. 127-130; speziell
zu «Greek intellectual und ihren literarisch geäußerten Einstellungen zum Kaiserkult im 2. Jh. s. Bowersock (1973). Epikureer, die in priesterlicher Funktion agierten, sind seit dem 1. Jh. n. Chr. mehrfach epigraphisch bezeugt; vgl. dazu Haake (forthcoming b). ? Herrmann (1960), 77, konstatiert allein, daß «ihn (sc. Amynias) diese (sc. epikureische)
Einstellung nicht daran» hinderte, «eines der wichtigsten, d.h. wohl jedenfalls reprásentativsten samischen Priestertümer zu übernehmen.»
5. Zu Amynias als Mitglied der lokalen Elite von Samos s. Transier (1985), 102.
194
VII. Samos
Polis festgehalten wurde. Der philosophische Diskurs im literarischen Feld und das soziale Handeln in der gesellschaftlichen Realitát stehen neben-, aber nicht gegeneinander. Beides hat seinen Sitz im Leben des Amynias.?? Wegen der äußerst schmalen Quellenbasis ist es nicht möglich, bezüglich der
öffentlichen Rede in der Polis Samos über Philosophen generalisierende Aussagen zu treffen respektive über die Einzelfallanalyse hinauszugelangen.
Aus dem Text der Ehrung für Epikrates ließen sich mehrere wichtige Aspekte herausarbeiten: Neben der exzeptionellen Angabe der Philosophenschule, der
Epikrates angehórte, ist dies vor allem die explizite Hervorhebung seiner eigenen paideia sowie seines Agierens im Zusammenhang mit Bildung als Ursache für die Auszeichnung durch boule und demos von Samos. So auffällig bereits die Vermittlung von paideia als Movens für die Ehrung eines Philosophen ist, so beispiellos sind die Gruppierungen, die an den «Lehrveranstaltungem des Peripatetikers partizipierten. So verlockend es auch erscheinen mag, so ist es unter methodischen Gesichtspunkten nicht statthaft, aus der Ehrung des Epikrates grundsátzliche Ableitungen über Philosophen und ihre Stellung im óffentlichen Diskurs sowie ihr Agieren in den Gesellschaften hellenistischer Poleis vorzunehmen - vielmehr ist die Aufiergewóhnlichkeit der Inschrift zu konstatieren. Die auf Gaius Iulius Amynias, genannt Isokrates, zu beziehenden drei Inschriften zeigen diesen als einen der führenden Männer seiner patris: Er war hiereus des Augustus, des Gaius Caesar und des Marcus Agrippa, übte das eponyme Amt des demiourgos aus und war Mitglied einer samischen Gesandtschaft an Augustus. Der Grund für die Einbeziehung des Amynias in vorliegende Untersuchung liegt aber in seiner Bezeichnung als epikureischer Philosoph in einer Ehreninschrift. Die Tatsache, daß eine als Mitglied des Kepos deklarierte Person derartige Aktivitáten in kultischen und politischen Funktionen an den Tag legte, láfit sich allein damit erklären, daß Amynias die philosophischen doxai nicht als handlungsrelevant ansah, und Gleiches gilt auch für die Polis von Samos. Das Beispiel des Amynias weist in die römische Kaiserzeit, in der er es einerseits eine häufige Praxis war, daß in Ehreninschriften die Schulzugehörigkeit eines Philosophen angegeben wurde, und aus der andererseits mehrere Fálle bezeugt sind, in denen epikureische Philosophen in priesterlichen Funktionen auftreten.?!
9 Vgl. Haake (forthcoming b) zu Personen in der Kaiserzeit, die in Inschriften zugleich als hiereus und philosophos bezeugt sind. ?' Vgl. dazu Haake (forthcoming b).
VIII. Rhodos
In den gut anderthalb Jahrhunderten zwischen dem Jahr 305/4, als Rhodos sieg-
reich der Belagerung durch Demetrios Poliorketes widerstand, und dem Jahr 164, in dem ein Bündnisvertrag mit Rom abgeschlossen wurde, záhlte Rhodos zu den wichtigen Mittelmächten hellenistischer Zeit. Es ist unstrittig, daß die Ressourcen der rhodischen Oberschicht auf wirtschaftlichen Aktivitáten beruhten. Betrachtet man jedoch das Selbstverstándnis dieser sozialen Gruppe, so ist festzustellen, daß man es mit einer Aristokratie zu tun hat, die sich als Amtsträ-
ger ihrer Polis, als Krieger und Athleten darstellte, nicht aber als Hándler oder Grundbesitzer? Die Verfassung von Rhodos war in ihrer Grundstruktur eine demokratische.’
Im Rahmen der Frage nach Philosophen und Philosophie im öffentlichen Diskurs der Polis Rhodos sind Zeugnisse zu zwei Personen in den Blick zu nehmen: dem Platoniker Arideikes und dem Stoiker Panaitios.*
1. Das Grabepigramm für den Platoniker Arideikes Ein auf Rhodos gefundenes Grabepigramm in drei Distichen ist Arideikes, Sohn des Eumoires, gewidmet: ! Zurerfolglosen Belagerung von Rhodos durch Demetrios s. Wiemer (2002), 84-94. Zum foedus zwischen Rom und Rhodos vgl. ebd., 317-340, sowie auch Gruen (1975) und Gabrielsen (1993). Zur rhodischen peraia s. Rice (1999). Zum temporären Einfluß von Rhodos in Lykien und Karien s. Zimmermann (1993) und Wiemer (2002), 251-271 u. 277-288; nur kurzzeitig war der Einfluß auf Kreta: Chaniotis (1996), 38-41, und Wiemer (2002), 171-176. Zur hege-
monialen Stellung in den Kykladen s. ebd., 271-276. ? Vgl. umfassend Gabrielsen (1997) und Wiemer (2002), 31-33.
* Ausgehend von Strab. 14,2,5 hat sich eine Diskussion um den demokratischen oder oligarchischen Charakter der rhodischen Verfassung entwickelt; vgl. zuletzt überzeugend Wiemer (2002), 21f. Die Rhodier selbst erachteten ihre Verfassung als demokratisch; s. 2. B. Syll? 581, Z. 13f. = StV III 551, Z. 131.
* Daß auf den Peripatetiker Hieronymos keine epigraphischen Zeugnisse zu beziehen sind, wird unten 5. 305-307 dargelegt. * Das Epigramm wurde von Hiller von Gaertringen (1912), 230, publiziert; vgl. GVI 1451; Boyancé (1937), 278 mit Anm. 1, und Fraser (1977), 103. Vgl. die Ausführungen von von der Mühll (1962), 29-31, und s. Clay (2004), 64 u. 86f. - Eine Zusammenstellung aller im Zusammenhang mit Arideikes diskutierten Quellen findet sich bei Dorandi (1987), 122 mit Anm. 22.
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VIII. Rhodos
4
οὔ τί σε νώνυμνον κρύπτει τόδε Δωρίδος αἴης σῆμα περὶ τραφερὴν θηκάμενον σπιλάδα, Εὐμοιρέω Ἀρίδεικες " ἀποφθιμένοιο δὲ σεῖο μείλια καὶ πελανοὺς ἐμ πυρὶ βαλλόμεθα ἀζόμενοι Μούσαις, τὸν ἀοίδιμον al σε τιθηνοῖς χερσὶ Πλατωνείους θρέψαν ὑπ᾽ ἀτραπιτούς.
Keinen namenlosen Mann birgt mit dir das Grab hier auf dorischer Erde, das den Mantel der nährenden Flur um deinen Leib gelegt hat, Arideikes, Sohn des Eumoires. Nun du gestorben bist, werfen wir in ehrfürchtiger Scheu Sühnegabens und Opfergaben in die Flammen für die Musen, die dich, den im Liede gepriesenen, mit pfleglichen Hánden aufgezogen und hingeführt haben auf die Wege platonischen Denkens. (Übers.: W. Peek, GG 189) Auffällig sind in diesem Epigramm das Opfer an die Musen und die Erwähnung von Arideikes’ Verbindung zur platonischen Philosophie. Ein Opfer für einen Toten an die Musen ist außergewöhnlich.” Im Kontext dieses Grabgedichtes wird es durch die explizite Hervorhebung von Arideikes' Verbindung zur Philosophie Platons verstándlich, in der die Musen im Zusammenhang mit der paideia eine wichtige Rolle spielen:* Die Musen sind es gewesen, die Arideikes auf den Pfad der platonischen Philosophie gebracht haben.? Über den Hintergrund des Kultes für Arideikes, also etwa eine Stiftung, sowie dessen Akteure erlaubt das Epigramm keine Aufschlüsse. Das Grabgedicht für Arideikes ist ein beredtes Beispiel für die Darstellung eines Toten und seiner Verbindung zur Philosophie. Diese wird nicht nur allgemein beschrieben, sondern es wird expliziert, daß es die platonische Lehre gewesen sei, der Arideikes folgte. Wer für das Epigramm als Urheber anzusehen ist und wer der Dichter war, geht aus dem Text nicht hervor.
* μείλια sind in diesem Kontext als «offerings to the dead» zu verstehen - s. LSJ?, s. v. (IT); vgl. Hiller von Gaertringen (1912), 231.
7. Ein anderes Beispiel für Opfer an die Musen im Zusammenhang mit dem Totenkult ist das berühmte «Testament der Epikteta» aus Thera (IG XII 3, 330; Ritti, Museo Maffeiano Nr. 31;
LSCG 135 (3. Jh.]). Die Überlegung von Boyancé (1937), 279, «que l'inscription d’Arideikes pouvait figurer elle aussi dans une fondation funéraire», ist zwar nicht zwingend zu widerlegen, erscheint aber auf Grund der hohen Spezifitát der Aussage des Gedichtes und der argumentativen Engführung zwischen den Musen und Platon nicht sehr überzeugend; s. so auch Wittenburg (1990), 121-124. Ein weiteres Beispiel stammt aus Histria: I.Histriae 7 - s. dazu BE 1955, Nr. 163 (3. Jh.). Vgl. zu unblutigen Totenopfern auf Altáren Stengel (1920), 99 mit Anm. 13, sowie Lattimore (1942), 127 f. mit Anm. 280. * Vgl.Hiller von Gaertringen (1912), 232.
? Zumindest nicht im Vordergrund steht hier die Rolle der Musen als «Góttinnen der Dichter, da es im Epigramm keinerlei Hinweise dafür gibt, daß Arideikes (auch) ein Dichter war; s. aber Clay (2004), 7.
1. Arideikes
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Polybios nennt in seinen Ausführungen über den Krieg zwischen Prusias I. von Bithynien und Rhodos auf der einen sowie Byzantion auf der anderen Seite im Jahre 220 einen rhodischen Gesandten, dessen Name in den Handschriften des polybianischen Werkes Aridikes lautet.'^ Dieser ist mit dem aus dem Grabepigramm bekannten Arideikes, Sohn des Eumoires, identifiziert worden. Mehr als eine Hypothese kann diese Überlegung allerdings nicht sein.!! Akzeptiert man diese Gleichsetzung, so ergibt sich zwangsläufig eine Datierung des Epigramms in die Zeit nach 220.? Der aus Polybios' Historiai bekannte Aridikes wurde vor
der Publikation des Epigramms mit einem der erinnerungswürdigen Schüler des platonischen Scholarchen Arkesilaos von Pitane identifiziert,’ der in Philodems Historia Academicorum unter dem Namen Arideikas der Rhodier, in Athenaios' Deipnosophistai und Plutarchs Quaestiones convivales als Aridikes bezeugt ist;!*
akzeptiert man eine Emendation in Diogenes Laertios’ vita des Arkesilaos, so läge ein weiterer Beleg für einen Schüler des Arkesilaos namens Arideikes vor.” Der polybianische Gesandte Aridikes ist mit dem homonymen Schüler der Akademie auf Basis der gemeinsamen Herkunft gleichgesetzt worden, während dieser auf Grund der Verbindungen mit der platonischen Philosophie mit Arideikes, Sohn des Eumoires, identifiziert worden ist. Eine Entscheidung hinsichtlich der Identifizierungsvorschläge ist nicht móglich.! 10 Pol. 4,52,1-3. Die Form Aridikes ist hóchstwahrscheinlich durch die spätere antike oder die mittelalterliche Überlieferung bedingt. Für Rhodos ist epigraphisch allein Aridei-
kes bezeugt; s. LGPN I, s. v. - Rhodes (8)f. - Zum Krieg zwischen Prusias und Rhodos gegen Byzantion s. Will (1979-82), II 45-47; Berthold (1984), 94-96, und Wiemer (2001), 39-45. " Vgl. Hiller von Gaertringen (1912), 233, u. (1919), 106, der die Identifizierung für überzeugend hält. Walbank (1957), 505, ad Pol. 4,52,3; Mygind (1999), 255 Nr. 6, und Wiemer
(2001), 42 mit Anm. 65, hingegen betonen zu Recht den hypothetischen Charakter dieser Annahme; Zweifel an der Identifizierung äußert Górler (1994), 837. ? Hiller von Gaertringen (1919), 106.
? Vgl. Hiller von Gaertringen (1912), 233, mit einer Zusammenstellung der älteren Literatur. Zu Arkesilaos s. T. Dorandi, DPhA I, 1994, 326-330, s. v. (A 302), und Görler (1994), 786-828.
^ Philod. hist. Akad. col. XX, Z. 4-8 Dorandi, Athen. 10,420d u. Plut. mor. 634c. Zu diesen Textstellen sowie der im folgenden angeführten Passage aus Diogenes Laertios s. T. Dorandi, DPhA I, 1994, 350, s. v. (A 330), und B. Puech, DPhA I, 1989, 350f., s. v. (A 330E). 5 Diog. Laert. 4,42 - vgl. den app. crit. in Marcovichs Edition. Die Emendation geht auf Wila-
mowitz-Moellendorff (1881), 75 mit Anm. 42, zurück. In seiner neuen Edition von Buch IV des Diogenes Laertios wird T. Dorandi auf die Emendation verzichten und den handschriftlich über-
lieferten Namen Aridelos akzeptieren; ich danke T. Dorandi für diesen Hinweis (briefl. Mitteilung, 26.1.2004). Somit wäre die Diogenesstelle nicht zu den Zeugnissen für Arideikes zu rechnen. !6 Vgl. vorsichtig Mygind (1999), 255 Nr. 6. U. Wilcken, RE II, 1, 1895, 823, s. v. (1), und H. v. Arnim, RE II, 2, 1895, 823, s. v. (2), denen Arideikes, Sohn des Eumoires, noch unbekannt
war, gingen davon aus, daß der Arkesilaosschüler und der Gesandte zwei verschiedene Personen waren, wogegen Hiller von Gaertringen (1912), 233, argumentierte. Dorandi (1987), 122
mit Anm. 22, hält die Annahme, daß der im Grabepigramm genannte Arideikes mit dem pla-
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VIII. Rhodos
Zu Arideikes, dem Sohn des Eumoires, ist festzuhalten, daß in seinem Grab-
epigramm eine enge Beziehung zwischen ihm und der platonischen Philosophie dargestellt wurde. Die vorgeschlagenen Identifizierungen mit literarisch bezeugten homonymen Personen sind zu vage, als daß es ratsam erscheint, weitergehende Überlegungen auf dieser Grundlage anzustellen.
2. Panaitios: Zwischen Lindos, Athen und Rom
Strabon schreibt, daß zu den erinnerungswürdigen Rhodiern zahlreiche militärische Kommandeure und Athleten gehórten, von denen viele zu den Vorfahren des stoischen Philosophen Panaitios, Sohn des Nikagoras, záhlten. Nach Strabon muß also Panaitios’ Familie zur Oberschicht von Rhodos gehört haben.' Auch Philodems Aussage in der Historia Stoicorum, daß Panaitios einer der Vornehmsten (der Rhodier) mit erheblichen materiellen Ressourcen gewesen sei, spricht in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.” Bestätigung findet die literarische Überlieferung über die gehobene soziale Stellung des Panaitios und seiner Familie in epigraphischen Zeugnissen aus Lindos, durch die über den familiären Hintergrund des Stoikers mehr als über jeden anderen hellenistischen Philosophen bekannt ist.2° tonischen Arkesilaosschüler identisch ist, für wahrscheinlich. In LGPN I, s. v. - Rhodes (6)f. u. (9) wird von drei verschiedenen Trágern des Namens Arideikes ausgegangen: dem Gesandten,
dem Schüler des Arkesilaos und dem Sohn des Eumoires. - Aus chronologischen Gründen ist es unmöglich, den in einer lindischen Liste genannten Δαμάτριος Apıdelkevg uarpó«c» δὲ ξένας (I.Lindos 88, Z. 288 = IG XII 1, 766, Z. 14) als Sohn des Philosophen Arideikes anzuse-
hen, da diese Inschrift bereits in die Zeit zwischen 265 und 260 datiert. Diesen Identifizierungsvorschlag äußerte - basierend auf H. Diels - Fr. Hiller von Gaertringen (1912), 234 f., u. (1919),
106 f. Gegen diese Überlegung s. 7. B. Blinkenbergs Kommentar (I.Lindos, p. 313 ad Z. 288); und Arrighetti (1951), 124-126. Zu weiteren Überlegungen von Hiller von Gaertringen (a. O.) hinsichtlich des Damatrios, Sohn des Arideikes, s. unten S. 306.
U Strab. 14,13. Neben Panaitios werden von Strabon weitere Philosophen genannt: der Panaitiosschüler Stratokles (vgl. Mygind (1999], 258 Nr. 13), der Peripatetiker Andronikos, der die Werke des Aristoteles edierte (s. ebd., 258 Nr. 16; s. oben 59 mit Anm. 196), der Stoiker Leonides (ebd., 258 Nr. 15) sowie die Peripatetiker Praxiphanes (ebd., 263 Nr. 33; s. zu diesem S. 247-251), Hieronymos (ebd., 255 Nr. 7; J.-P. Schneider, DPhA Ill, 2000, 701-705, s. v. [H 129]; s. unten S. 305-307) und Eudemos (Mygind [1999], 254 Nr. 2). Es besteht kein zwingender Grund, den
in der lindischen anagraphe des Timachidas und des Tharsagoras erwähnten Eudemos, Verfasser eines Lindiakos logos (I.Lindos 2, B X, Z. 65f.; C XXXII, Z. 67£.; D I, Z. 48f. u. D Il, Z. 87f. = FGrHist 532 FB 10, C 32, D I u. D 2; FGrHist 524), mit dem peripatetischen Philosophen Eudemos von Rhodos zu identifizieren; vgl. dazu Dorandi (2002), 53, sowie referierend Higbie (2003), 89. - Zum Namen von Panaitios' Vater s. Philod. hist. Stoic. col. LI, Z. 2f. Dorandi. 1^ Vgl. Pohlenz (1949), 420 £.; Erskine (1990), 211-214, und Dorandi (19914), 41. 1 Philod. hist. Stoic. col. LV, Z. 1 u. col. LIX, Z. 1-8 Dorandi. ? Zur Familie des Panaitios vgl. Erskine (1990), 211f., und das Stemma I.Lindos, p. 46 Nr. 18.
2. Panaitios
199
Um 262 war der Urgroßvater des Stoikers, Nikagoras, Sohn des Panaitios, hiereus der Athena Lindia.’' Der Großvater des stoischen Philosophen, Panaitios, Sohn des Nikagoras, der von Euphranoridas adoptiert wurde, ist in einer Liste der Priester des Poseidon Hippios um das Jahr 225 bezeugt;?? um 223 war er hiereus der Athena Lindia und des Zeus Polieus.? Neben diesen kultischen Ämtern übte er zu einem
unbekannten Zeitpunkt auch das Amt des grammateus der boule aus. Der soziale Status dieses Panaitios manifestiert sich nicht allein in den von ihm ausgeübten kultischen und politischen Ämtern, sondern auch in einer monumentalen Dedikation des Großvaters des Philosophen von sieben Statuen an Athena Lindia und
Zeus Polieus auf der Akropolis von Lindos: seiner selbst, seiner Frau sowie sei-
ner drei Söhne und seiner beiden Töchter. Alle werden als euergetai bezeichnet.” Der Vater des Stoikers Panaitios, Nikagoras, Sohn des Panaitios, und Adoptivsohn des Ainesidamos, ist um 184 als hiereus der Athena Lindia bezeugt; wenig später - gegen 182 -- war er hiereus der Artemis Kekoia." Während des Dritten Makedonischen Krieges stellte sich wie in so vielen griechischen Poleis auch in Rhodos die Frage, wie es mit den Rómern respektive Perseus zu halten sei. Nikagoras scheint
der philorómischen Parteiung angehört zu haben:? Im Jahre 170/69 nahm er an einer Gesandtschaft nach Rom teil.? Ein Bruder dieses Nikagoras, Dionysios, mit-
hin Onkel des Stoikers Panaitios, bekleidete um 185 das Amt des strategos;? dessen Sohn, gleichfalls Panaitios mit Namen, war um 138 archierothytas?! Die Familie des Panaitios gehórte also unzweifelhaft zu den exponierten Vertretern der rhodi-
2. LLindos 1 D, Z. 9 = IG XII 1, 767, Z. 9; er ist auch in Segre - Pugliese Carratelli (19491951), 218-220 Nr. 81 a, Z. 1, bezeugt.
? Blinkenberg (1937), 21 Nr. 100, Z. 109f., mit dem Kommentar ebd., 29f. Dieser Panaitios findet sich auch in Segre - Pugliese Carratelli (1949-1951), 218-220 Nr. 81 a, Z. 2f. sowie Nr. 81 b, Z. 2. Hiller von Gaertringen (1900), 21, und - diesem folgend - van Gelder (1900),
402 - identifizierten diesen Panaitios fälschlicherweise mit dem Stoiker. ? [Lindos 129 a. ^' Jacopi (1932), 198-200 Nr. 30, Z. 8-10. Die Identifizierung von Panaitios, Sohn des Nikagoras, mit dem stoischen Philosophen, die Iacopi (1932), 199, vorschlägt, trifft nicht zu; vgl. Blinkenberg in I.Lindos, p. 365.
25 |.Lindos 129. Zu den sog. «family monuments s. Rice (1986), 209 mit Anm. 3. Möglicherweise liegt mit LLindos 626 eine Grabinschrift mit der Nennung der Tochter Pherenika vor. % ].Lindos 165, Z. 1-3 u. 166, Z. 1-3. 27 [Lindos 167, Z. 10-12. 28 Vgl. Erskine (1990), 212f. ? Pol, 28,2,1-8 u. 16,5-8; vgl. dazu Walbank (1979), 327 f., u. 349 f. Grundsätzlich zu dieser rhodischen Gesandtschaft nach Rom s. Wiemer (2002), 302-309, und auch Gruen (1975), 71-74.
* Syll? 619, Z. 23 Ξ IG XII 1, 49, Z. 23. ?! L Lindos 228, Z. 13f.
200
VIII. Rhodos
schen «naval aristocracy».? In dieses soziale Umfeld wurde zwischen 185 und 180 der spätere Philosoph Panaitios als ältester von drei Brüdern geboren.” Seine Bio. graphie läßt sich nicht lückenlos rekonstruieren, doch sind verschiedene Ereignisse aus seinem Leben schlaglichtartig aus der antiken Überlieferung bekannt. Wie für junge rhodische Aristokraten durchaus üblich, versah Panaitios einen einjährigen militärischen Dienst in der Flotte?* Im Anschluß daran reiste er nach Athen.
* Zu dieser sehr treffenden Begrifflichkeit s. oben S. 143 mit Anm. 582. ? Die Brüder des Panaitios sind in Philod. hist. Stoic. col. LV, Z. 2f. Dorandi bezeugt; zu Panaitios’ Geburtsdatum, das sich nur erschließen läßt, s. Dorandi (19914), 41. ^ Philod. hist. Stoic. col. ΓΜ, Z. 1-4 Dorandi. Es ist unklar, warum Steinmetz (1994), 646,
unter Berufung auf diese Textstelle davon spricht, Panaitios seien schon in jungen Jahren «große Ehren zuteil geworden», wozu er eine «Kommandostelle bei einem Unternehmen der rhodischen Flotte» zählt. - Um die Ausdeutung dieser Passage hat es in der Forschung eine lange Kontroverse gegeben: Crönert (1904), 476f., nahm an, daß sie auf Panaitios’ Teilnahme an Scipios großer Gesandtschaftsreise in der östlichen Mittelmeerwelt zu beziehen wäre. Cichorius (1908), 220-222, hat dagegen mit Recht auf das Wort στρατε[υ]σάμενος (Philod. hist. Stoic. col. LVI, 2. 2 Dorandi) verwiesen, das nicht auf die Beteiligung an einer Gesandtschaft hindeute. Dennoch geht auch Cichorius davon aus, daß die diskutierte col. LVI auf Scipio Aemilianus zu beziehen ist. Er schließt daraus, daß Panaitios während des Dritten Punischen Krieges Scipio begleitet haben müsse, und führt zur Untermauerung seiner Annahme Vell. 1,13,3 an, wo es heißt, Polybios und Panaitios wären domi militiaeque um Scipio gewesen. Unterstützung erhielt die Überlegung von Cichorius durch einen Ergänzungsvorschlag von Hiller von Gaertringen, den Pohlenz (1949), 440, mitteilt, wonach in Z. 1 der col. LVI des PHerc. 1018 Telephos, der aus
Pol. 29,10,4 bekannt ist, als Befehlshaber einer rhodischen Flotille genannt sei, in der Panaitios gedient habe. Besagte Schiffe seien Rhodos’ Beitrag zur Unterstützung Roms durch einige griechische Poleis und Könige gewesen, die durch Appian (Lib. 112 u. 534) bezeugt ist; s. Berthold (1984), 215 mit Anm. 4. Spätestens seit der Edition der Historia Stoicorum durch Dorandi müs-
sen die von Hiller von Gaertringen vorgeschlagene Lesung und Ergänzung als obsolet angesehen werden (vgl. auch Wiemer [2002], 329 mit Anm. 4). Trotzdem beharrt de Libero (1997),
296 mit Anm. 123, aufder Annahme, Rhodos habe Rom während des Dritten Punischen Krieges mit einem Flottengeschwader beigestanden. Mattingly (1996), 67 f., akzeptiert Hiller von Gaertringens Ergänzung von Telephos, bezieht das von diesem befehligte Flottenunternehmen aber auf den Kretischen Krieg des Jahres 155/4 - auch diese Überlegung ist auf Grund von Dorandis Edition hinfällig. Ein zentraler Punkt für die oben angeführte Interpretation von col. LVI ist folgender: otpate[v]odyevog bedeutet nicht zwingend die Teilnahme an einem militärischen Unternehmen, sondern - dies zeigen rhodische Inschriften (vgl. Wiemer [2002], 329
mit Anm. 4) - cbenso die routinemäßige Ableistung des militärischen Dienstes. Gegen die Annahme, in col. LVI könnten Ereignisse aus den vierziger Jahren des 2. Jh.s behandelt werden,
spricht wesentlich auch die Disposition der Kolumnen des PHerc. 1018: In col. LV beginnt der bios des Panaitios, es wird dessen Familie respektive Herkunft beschrieben, und in col. LVI geht es um seine jungen Jahre, nicht aber um sein Erwachsenenalter; s. Tatakis (1931), 26f., und vgl. auch Alesse (1997), 149. Nicht zu überzeugen vermag die Überlegung, an besagter Stelle sei nicht der Stoiker Panaitios, sondern vielmehr sein Vater oder aber sein Onkel gemeint; so aber Tatakis (1931), 27, und Alesse (1997), a. O..
*5 Philod. hist. Stoic. col. LVI, Z. 4-8 Dorandi.
2. Panaitios
201
Weder für den militärischen Dienst noch für die Reise nach Athen ist ein genauer Zeitpunkt bestimmbar, doch ist es wahrscheinlich, daß zeitlich beides vor seinem Studium bei Krates von Mallos in Pergamon gelegen hat. Dafür ist ein terminus post quem bestimmbar: Es ist davon auszugehen, daß Panaitios Krates erst hörte, nachdem dieser von seiner Gesandtschaftsreise nach Rom im Auftrag des atta-
lidischen Monarchen Eumenes II. nach Pergamon zurückgekehrt war, das heißt nach 168/7.°° Zu einem ebenfalls nicht präzise fixierbaren Zeitpunkt hörte Panaitios in Athen beim stoischen Scholarchen Diogenes von Babylon? und später bei dessen Nachfolger Antipatros von Tarsos.” Philodem bezeugt, daß Panai-
tios bereits in jungen Jahren in Athen mit einem Olivenkranz und der proxenia geehrt wurde - die näheren Gründe sind allerdings nicht bekannt.? Um die Mitte des zweiten Jahrhunderts war Panaitios wieder in Lindos und fungierte als hierothytas des Poseidon Hippios: Dies bezeugt eine nicht genau datierbare Namensliste von der lindischen Akropolis, in der Panaitios, Sohn des Nikagoras, aufgeführt ist. Die hierothytai waren religiöse Magistrate, die ihre Funktion für die Dauer eines Jahres ausübten. Zwar standen sie am unteren Ende der Rangliste religiöser Ämter, doch zeigt eine Analyse von rhodischen Karrieren, daß das Amt des hierothytas als Einstieg für eine spätere Ämterlaufbahn angesehen werden kann. Dementsprechend hat auch das Alter der hierothytai in der Regel um die achtzehn Jahre gelegen. Über ihre soziale Herkunft läßt sich aussagen, daß sie für gewöhnlich aus Familien der lindischen Oberschicht stammten.*' Versucht man vor diesem Hintergrund die Liste, in der Panaitios als hierothytas genannt
3° Zu Panaitios’ Studium bei Krates s. Strab. 14,5,16; vgl. Dorandi (1991d), 41. Zu Krates’
Gesandtschaftsreise nach Rom s. Liv. 45,13,12 u. Suet. gramm. 2,1 f.; vgl. Canali de Rossi (1997), 499 f. Nr. 545. Zu Krates, für den die hohe Chronologie akzeptiert wird (s. Garbarino [1973], II 356-362), vgl. J.-M. Flamand, DPhA II, 1994, 487-495, s. v. (C 203). ” Suda, s. v. Παναίτιος. Die von Dorandi (1991d), 39, selbst als «Annahme» bezeichnete
Überlegung, das Jahr 155 bilde einen terminus post quem für Panaitios' Schülerschaft bei Diogenes, ist nicht schlüssig zu begründen, jedoch auch nicht widerlegbar. Unzweifelhaft ist allein, daß Panaitios' Schülerverhältnis erst nach dem Beginn des Scholarchats des Diogenes liegen
kann. Auf Grund der ungenügenden Überlieferungslage zu Diogenes sowie zu seinem Vorgänger Zenon von Tarsos ist dieses Datum jedoch nicht eruierbar; zu Diogenes s. Dorandi (1991d), 29-34, zu Zenon von Tarsos vgl. K. v. Fritz, RE X A, 1972, 122, s. v. (4). ? Philod. hist. Stoic. col. LIII, Z. 1-5 u. col. LX, Z. 1-5 Dorandi. Zu Antipatros s. Guérard (1989). ? Philod. hist. Stoic. col. LXVIII, Z. 1-6 Dorandi. Das athenische Bürgerrecht soll Panaitios abgelehnt haben; vgl. S.144 f. Ὁ Lindos 223, Z. 17: Παναίτιος Nikayópa. Vgl. Dorandi (1991d), 38f. u. 41. Daß es sich
um eine Liste von hierothytai handelt, hat Blinkenberg (I.Lindos, p. 498) analog zu anderen rhodischen Inschriften geschlossen. Aus Z. 6 geht hervor, daß es sich bei den im Anschluß aufgezählten Personen um hierothytai des Poseidon Hippios handelt. * Vgl. zu den hierothytai Smith (1972), 536-538, sowie Winand (1990), 34-54.
202
VIII. Rhodos
ist, zu datieren, und geht dabei von einem Geburtsdatum des Stoikers zwischen 185 und 180 aus, so käme man - ausgehend vom ungefáhren Durchschnittsalter für das Amt des hierothytas - in die Zeit um 165. Von den beiden Datierungsvorschlágen zu besagter Namensliste, die Zeit um 149% respektive vor 155,*? ist zumindest ersterer nicht unmittelbar mit der Mitte der sechziger Jahre kompatibel. Es ist aber unwahrscheinlich, daß Panaitios um 149 hierothytas in Lindos war, da er einerseits dann bereits mit über dreißig Jahren deutlich jenseits des Altersdurchschnitts der hierothytai gelegen hátte, und er andererseits im Jahre des Archon Lysiades, wahrscheinlich 149/8, als hieropoios der Ptolemaia in Athen bezeugt ist, er sich also wohl in Athen aufhielt. Es ist mithin naheliegender, für den Zeitpunkt, zu dem Panaitios hierothytas war, das Jahr 155 als terminus ante quem anzusehen. Akzeptiert man die Annahme, daß Panaitios nach 155 Diogenes von Babylon hörte, so ist davon auszugehen, daß der Stoiker während dieser Zeit in Athen wohl als hieropoios bei den Ptolemaia in Athen fungierte.*5 Aus dem Leben des Panaitios ist vor dem Antritt seines Scholarchats noch ein vielbeachtetes Ereignis bekannt: seine Teilnahme an der von Publius Cornelius Scipio Aemilianus Africanus angeführten großen römischen Gesandtschaft
in den Jahren 140-139 in die östliche Mittelmeerwelt - nämlich nach Ägypten, Zypern, Kleinasien und Rhodos -, in der sich auch Lucius Caecilius Metellus Calvus und Spurius Mummius befanden.“ Irgendwann vor Scipios Reise hatte Panaitios den Rómer unter unbekannten Umstánden vermutlich in Rom kennengelernt, und eine enge Beziehung hatte sich zwischen beiden entwickelt.” Es ist sehr wahrscheinlich, daß diese erste Begegnung zwischen Scipio und Panaitios nach 146 stattfand, da ersterer zwischen 151 und 146 auf Grund seiner militärischen Kommanden in Spanien und Nordafrika weilte.** Nach der Gesandtschaftsreise hat sich Panaitios sowohl in Athen als auch in Rom aufgehalten.” In Athen stand er dem Scholarchen Antipatros von Tarsos
4. Dies ist das Datum, das Blinkenberg in seiner Edition I.Lindos, p. 499, etabliert hat.
9 Vgl. dazu die Überlegungen von Dorandi (1991d), 39. * IG I? 1938, Z. 25.
*5 Zu Panaitios als hieropoios bei den Ptolemaia in Athen s. oben S. 143-145. 16. Wichtigste Quelle zu dieser Gesandtschaft ist Diod. 33,28a; vgl. die Zusammenstellung aller relevanten Quellen durch Astin (1967), 127 mit Anm. 3, und Bowman (1987), 255.
Zum Datierungsansatz 140-139 s. grundlegend Cichorius (1908), 204 f.; Astin (1959), Ferrary (1988), 396-400, und Dorandi (1991), 38f. Die Argumente von Mattingly (1986) u. (1996), die Gesandtschaft in das Jahr 144/3 zu datieren, überzeugen nicht.
* Zur freundschaftlichen Verbindung zwischen Panaitios und Scipio s. v.a. Cic. fin. 4,9,23 u. Vell. 1,13,3. Die Vorstellung des «Scipionenkreises, dem auch Panaitios angehört hätte, hat Strasburger (1966) widerlegt. 35 So auch Dorandi (1991), 39.
** Philod. hist. Stoic. col. LXIII, Z. 2f. Dorandi.
2. Panaitios
203
zur Seite, als dieser aus Altersgründen seinen Verpflichtungen als Leiter der Stoa nicht mehr nachzukommen vermochte. Wahrscheinlich im Jahre 129 übernahm Panaitios nach dem Tode des Antipatros für einen Zeitraum von etwa zwanzig Jahren das Scholarchat, bis er um das Jahr 110/9 in Athen starb.°' Bei seiner Beer-
digung sollen nach Philodem die bedeutendsten Philosophen und Dichter zugegen gewesen sein.”?
Das Leben des Panaitios eröffnet die Möglichkeit, die vita eines Angehörigen einer lokalen Oberschicht im zweiten Jahrhundert zu analysieren, der in enger Verbindung zur Philosophie gestanden hat. In der Forschung hat es immer wieder den Ansatz gegeben, Panaitios’ Leben in einen bios politikos und einen bios theoretikos einzuteilen: In seinen jungen Jahren habe sich Panaitios gemäß seiner sozialen Herkunft verhalten und sei politisch aktiv gewesen; alsbald habe er sich dann für ein der Philosophie gewidmetes Leben entschieden. Diese Differenzierung ist so allerdings nicht überzeugend, da sich im Leben des Panaitios zumindest bis zum Antritt seines Scholarchats abwechselnd Aspekte finden, die dem bios politikos und dem bios theoretikos zuzurechnen wären. Es sind also - zumindest bis zu Panaitios’ sechstes Lebensjahrzehnt - nicht zwei aufeinanderfolgende, in sich antinomische bioi in Panaitios’ vita nachzuweisen. Vielmehr läßt sich durch den Lebenslauf des Stoikers paradigmatisch verdeutlichen, daß das Agieren als Philosoph nicht von seinem sozialen Hintergrund zu trennen ist. Panaitios handelte, wie man es von einem Mitglied der Oberschicht einer Polis erwarten konnte. Daß er in Lindos hierothytas war, hatte nichts mit seiner Verbindung zur Philosophie zu tun, sondern lag in seiner Herkunft begründet. Auch seine Ehrung in Athen in jungen Jahren ist ebensowenig durch die Philosophie motiviert gewesen wie sein späteres Fungieren als hieropoios bei athenischen Ptolemaia. Gleiches gilt auch für eventuelle timai, die er womöglich auf Rhodos erhalten hat. Allein in Rom war seine
*' Philod. hist. Stoic. col. LX, Z. 7-10 Dorandi. 5! Zum Scholarchat des Panaitios s. Philod. hist. Stoic. col. LXI, Z. 10f. Dorandi. Zum Todesdatum des Antipatros s. auch Diog. Laert. 4,64; vgl. Dorandi (1991d), 41. Zu Panaitios' Todesdatum - basierend auf Cic. de orat. 1,45 - s. Dorandi (1991d), 41 f., und Steinmetz (1994), 647. 52 Philod. hist. Stoic. col. LXXI, Z. 1-5 Dorandi. Habicht (1994), 235, interpretiert diese
große Anteilnahme als Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühls der in Athen befindlichen «Gelehrten» gegenüber der Außenwelt. Der Passus soll jedoch eher die große Wertschätzung
illustrieren, die Panaitios bei anderen Philosophen und Dichtern nach Philodem besessen und die sich nach ihm in der großen Teilnehmerzahl am Begräbnis des stoischen Scholarchen manifestiert haben soll. 53 So besonders nachdrücklich vertreten von Steinmetz (1994), 646 f.
^ Philod. hist. Stoic. col. LXVIIL Z. 1 Dorandi legt zwingend die Vermutung nahe, daß Panaitios nicht allein in Athen geehrt wurde; es ist verschiedentlich die Hypothese geäußert worden,
daß Rhodos ihn geehrt haben könnte - vgl. den Kommentar von Dorandi (1994a), 170.
204
VIII. Rhodos
angesehene Stellung stärker durch den Umstand bedingt, daß Panaitios Philosoph war;* sicherlich nicht zum Nachteil gereichte ihm dort, daß er einer philorómischen Familie der rhodischen Oberschicht entstammte. Auf jeden Fall
gilt bezüglich Panaitios' angesehener Stellung in Rom stets zu bedenken, daß Rom keine griechische Polis, der rómische Kontext von den Verháltnissen in Rhodos und Athen grundverschieden war. Hätte man im zweiten oder ersten Jahrhundert Mitglieder der Oberschichten hellenistischer Poleis oder auch rómische Aristokraten gefragt, wohin sie ihren männlichen Nachwuchs schicken würden, damit dieser eine umfassende paideia erhielt, wäre neben Athen zweifelsohne Rhodos an erster Stelle genannt worden. Nachdrücklich und exemplarisch wird dies durch das Ehrendekret der Polis Kolophon für Polemaios aus dem späten zweiten Jahrhundert bezeugt: Dort heißt es, daß Polemaios im Anschluß an eine theoria in Rhodos geblieben sei, um seine paideia zu vervollkommnen.* Die Bedeutung von Rhodos als «Bildungszentrum»? der hellenistischen Welt wird aber auch durch die große Anzahl von Gelehrten unterstrichen, die auf der Insel temporär oder dauerhaft lebten und lehrten.** Durchmustert man jedoch das epigraphische Material von Rhodos, so findet sich keine Inschrift, in der thematisiert würde, daß eine Person Philosoph war oder in Verbindung zur Philosophie stand.” Denn daß Panaitios als hierothytas des Poseidon Hippios fungierte, hat seine Ursache in seiner sozialen Herkunft aus der Elite von Lindos. Aus der Liste, aus der bekannt ist, daß Panaitios dieses kultische Amt ausübte, geht über seine Verbindung zur Philosophie nichts hervor. Das Grabepigramm für den Akademiker Arideikes ist Ausweis der privaten Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit und demonstriert, daß es auf Rhodos im Kontext der funeralen Repräsentation möglich war, auf die Philosophie explizit Bezug zu nehmen - auch wenn es sich dabei (bislang) um ein singuläres Zeugnis handelt. Im öffentlichen Diskurs der Polis spielten ausweislich der epigraphischen Zeugnisse Philosophen und Philosophie keine Rolle, obwohl Rhodos in helle-
5. Daß Panaitios in Rom Anschen besaß, läßt sich aus seiner Bekanntschaft mit Scipio Africanus schließen. Auch seine wiederholten Aufenthalte in Rom (Philod. hist. Stoic. col. LXIII,
Z. 2 Dorandi) weisen darauf hin, daß Panaitios dort Prestige genoß. % Claros T 1, col. I, Z. 16-28 und s. dazu S. 224f. 57 Vgl. dazu den grundlegenden Aufsatz von Bringmann (2002) und ferner auch Rossetti Furiani (1993). * Mygind (1999), 253-289, bietet eine Liste der «Intellektuellen» - worunter er (a. O., 247-
253) Philosophen, Historiker, Redner, Schauspieler und Musiker, Architekten und Ingenieure sowie Astronomen subsumiert -, für die eine Anwesenheit auf Rhodos bezeugt ist. * Zum Grabmal des Hieronymos s. unten 8. 305-307.
2. Panaitios
205
nistischer Zeit zahlreiche Philosophen anzog* und ein wichtiger Ort der paideia im allgemeinen und der Philosophie im besonderen war, und auch Philosophen in der Gesellschaft eine exponierte Stellung einnehmen konnten: Der Stoiker Poseidonios, gebürtig aus dem syrischen Apameia, ließ sich irgendwann nach dem Tod seines Lehrers Panaitios im Jahre 110/9 in Rhodos nieder, gründete eine Schule und erhielt zu einem unbekannten Zeitpunkt und aus nicht mehr eruierbaren Gründen das rhodische Bürgerrecht.*' Diese Bürgerrechtsverleihung stand vielleicht in Zusammenhang mit seiner Gesandtschaftsreise zu Marius nach Rom im Jahre 87/6.9 Zu einem ebenfalls nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt
- sicher jedoch nach Erhalt des Bürgerrechts - war Poseidonios nach eigener Aussage sogar prytanis, also eponymer Beamter.® Als er im Jahre 51 starb, wurde der Sohn seiner Schwester und des Menekrates von Nysa, Iason von Nysa, sein
Nachfolger als Oberhaupt der von ihm in Rhodos gegründeten Schule.* Iason ist wahrscheinlich als einer der presbyteroi bezeugt, die eine Statue für einen gymnasiarchos dedizierten. Das hohe Ansehen, das Poseidonios in Rhodos besaß, rührte sicher auch von seinen wissenschaftlichen Meriten her; nicht minder
wichtig dürften jedoch seine exzellenten Kontakte zu Mitgliedern der rómischen Führungsschicht gewesen sein,“ die Poseidonios in den unruhigen Zeiten in der ersten Hálfte des ersten Jahrhunderts Poseidonios für die Polis Rhodos zu einem
interessanten Mann machten.
€ Zu literarisch bezeugten Philosophen auf Rhodos und ihren Aktivitäten s. Bringmann (2002), 74-76.
4^ FGrHist 87 F 2 = Poseidon. T 2a Edelstein - Kidd = Poseidon. T 2a Theiler = Strab.
14,2,13; vgl. Malitz (1983), 5-33, mit einer ausführlichen Biographie des Poseidonios. #2 FGrHist 87 T 7 = Poseidon. T 28 Edelstein - Kidd = Poseidon. T 6 Theiler = Plut. Mar. 45,7; s. Canali de Rossi (1997), 295 Nr. 339.
$ FGrHist 87 T 6 = Poseidon. T 27 Edelstein - Kidd = Poseidon. T 5 = Strab. 7,5,8. ** Poseidon. T 40 Edelstein - Kidd = Poseidon. T 20 Theiler = Suda, s.v. Ἰάσων (52). Zu Iason vgl. R. Goulet, DPhA III, 2000, 857, s. v. (1 8), und Mygind (1999), 258 Nr. 14. Gercke
(1907) hat Überlegungen zu Iasons Familie väterlicherseits vorgelegt. 45 IG XII 1, 46, Z. 296. Mygind (1999), 258 Nr. 14, und Bringmann (2002), 75 mit Anm. 41, nehmen an, daß Iason selbst gymnasiarchos gewesen sei; s. aber zum Charakter der Inschrift Hiller von Gaertringen (1894), 29f. $6 Zu Poseidonios’ Kontakten zu Mitgliedern der römischen Oberschicht s. Malitz (1983), 21-25.
IX. Chytroi: Der epikureische Philosoph Python Aus dem antiken Ort Chytroi, am Südhang des nórdlichen Gebirgszugs von Zypern gelegen, ist durch eine Grabinschrift ein epikureischer Philosoph namens Python bezeugt. Diese Inschrift gehört zu einer Grabanlage, aus der zwölf Inschriften zweier Familien bekannt sind:?
Πύθων Ἀριστοκράτου, ἀδελφὸς Σκυθίνου, φιλόσοφος érikoópeioc, Lon'
Python, Sohn des Aristokrates, Bruder des Skythinos, epikureischer Philosoph, im Alter von 78 Jahren.
Über Python ist außer diesem epigraphischen Zeugnis nichts bekannt. Eine Datierung der Inschrift ist nur an Hand der Schriftform móglich: Diese verweist auf das frühe zweite Jahrhundert.” Außer Python? haben in der Anlage sein Bruder Skythinos, dessen Frau Xenagion, beider Tochter Apollonia und Apollonia, die Schwester von Python und Skythinos, ihre Grablege gefunden.’ Aus den fünf Grabtituli fällt die Inschrift für Python heraus, da sie als einzige neben Angaben zu Verwandtschaftsverhältnissen und Alter noch eine zusätzliche Information hinzufügt: Python war ein epikureischer Philosoph. Für Chytroi läßt sich jedoch auf der Basis einer einzigen Grabinschrift und der äußerst rudimentären Kenntnisse über die Geschichte des Ortes in hellenistischer Zeit noch nicht einmal ansatzweise eine Synthese formulieren. Über die öffentliche Rede über Philosophen und Philosophie in dieser Polis ist nichts bekannt. Signifikant ist immerhin, daß ein Mitglied der Oberschicht von Chytroi im Kontext der funeralen ! Zu Chytroi vgl. E. Oberhummer, RE IIL,2, 1899, 2530-2532, s. v. (3). Innenpolitische Auseinanderselzungen - es ist von tyrannis und stasis die Rede - sind durch ein Ehrendekret für das frühe 2. Jh. bezeugt: LBW II 2767. Ämter sind allein im athletisch-gymnasialen Kontext bezeugt; vgl. Bagnall (1976), 66: gymnasiarchos - s. Mitford (1937), 34 (verbesserte Edition von CIG II 2627); lampadarchoi und palaistritai - s. 33 f. ebd., mit Robert (1937), 175 mit Anm. 6, und Mitford (1961a), 129-131 Nr. 29. 2 Python: Michaélidou-Nicolaou (1968), 79 f. Nr. 5. * So Michaelidou-Nicolaou (1968), 80.
* Vgl zum Stemma der Familie Michaélidou-Nicolaou (1968), 81, sowie in etwas modifizierter Form ders. (1976), 40.
5 Michaélidou-Nicolaou (1968), 77-80 Nr. 1-3 u. 6. Skythinos und Xenagion hatten noch einen Sohn mit Namen Leonidas, der Arzt war: ders. (1976), 79 L 9, und vgl. Samana (2003), 462 Nr. 373.
208
IX. Chytroi
Prásentation einer familiaren Grabanlage als epikureischer Philosoph bezeich. net wurde. Der Hintergrund von Pythons Verbindung zur epikureischen Philo. sophie liegt aber mangels weiterer Informationen zu seiner Person im Dunkeln. Auch die ungefáhre zeitliche Einordnung der Grabinschrift ermóglicht keine weiteren Aufschlüsse. Daß die Lehre Epikurs auf Zypern im dritten und zweiten Jahrhundert nicht unbekannt war, zeigt eine epigraphisch bezeugte Büste des Gründers des Kepos aus dem Aphroditetempel von Palaipaphos, die in die Zeit zwischen 250 und 200 datiert.
$
Mitford (19615), 7 Nr. 10. Auch eine Büste Heraklits aus derselben Zeit befand sich im
Aphroditetempel: ebd., 7 Nr. 11.
X. Ilion: Das Ehrendekret für Diaphenes aus Temnos
Aus der Historia Stoicorum Philodems geht hervor, daß sich unter den Schülern
des stoischen Scholarchen Chrysipp auch ein Diaphanes aus Temnos befand.! In einer Inschrift aus Ilion, die allein auf Grund paläographischer Erwägungen um das Jahr 200 datiert, wird Diaphenes, Sohn des Polles, aus Temnos geehrt?
4
'Ereiór] Διαφένης μνίτης, διατρίβων λεῖ, φίλος ὧν καὶ τῶι δήμωι, χρείας
Πολλέως Tnπαρὰ τῶι βασιεὔνους διατελεῖ παρεχόμενος
προθύμως εἰς ἃ ἄν τις αὐτὸν πα-
8
ρακαλῆι, δεδόχθαι τῆι βουλῆι καὶ τῶι δήμωι, ἐπαινέσαι μὲν αὐτὸν ἐπὶ τούτοις, παρακαλεῖν δὲ καὶ εἰς τὸ λοιπὸν εἶναι φιλότιμον εἰς τὰ τοῦ δήμου συμφέροντα, (...)
Da Diaphenes, der Sohn des Polles, aus Temnos, der im Dienste des Königs steht, sich fortwährend freundlich und wohlwollend gegenüber (unserem) Volk verhält, indem er bereitwillig Dienste erweist, wozu man ihn auch auffordert: Rat und Volk mögen beschließen: Man soll ihn wegen des Erwähnten loben und ihn auffordern, auch in Zukunft Ehrgeiz in Bezug auf den Nutzen des Volkes zu zeigen, (...) (Übers.: mit leichten Modifikationen nach P. Frisch) Als Auszeichnung erhält Diaphenes die politeia, außerdem die proxenia, enktesis, die Freiheit von den Abgaben, die auch die politai nicht zu zahlen haben, sowie das Recht auf privilegierten Zutritt zur boule nach den kultischen Angelegenheiten und schliefllich das Recht auf Einreise in die Polis zu Kriegs- und Friedenszeiten unter Wahrung seiner Unantastbarkeit (Z. 11-16). ! Philod. hist. Stoic. col. XLVI, Z. 5f. Dorandi. ? Lion 40. Frisch gibt hingegen als Datierung das frühe 3. Jh. an (Lilion, p. 112); vgl. dazu Habicht (1994), 242 mit Anm, 68: «(...) there misdated to the early third century B.C.» Brückner (1902), 465 Nr. 26, datierte die Inschrift dagegen treffend um 200. - Der Name Polles ist in der aiolischen Onomastik vielfach belegt; s. Robert (1955), 261 mit Anm. 2 u. 298. Diaphenes ist die aiolische Namensform; s. Masson (1965), 235 f., sowie auch Dorandi (1989), 36, und bereits Crónert (1904), 472.
210
X. Ilion
Eine Gleichsetzung des in der Historia Stoicorum bezeugten Diaphanes aus Temnos mit dem in der Inschrift geehrten Diaphenes, Sohn des Polles, aus Temnos läßt sich zwar nicht beweisen,? ist aber chronologisch möglich und erscheint auf Grund der Seltenheit des Namens Diaphenes durchaus wahrscheinlich * Akzeptiert man die Gleichsetzung, so lassen sich einige Überlegungen über den einstigen Chrysippschüler, der sich später bei einem König aufhielt, anstellen, Zuvor ist aber die Frage zu klären, bei welchem Monarchen Diaphanes weilte. Wenn die Datierung der Inschrift in die Zeit um 200 zutreffend ist, muß es sich, da Ilion in Folge des sogenannten Laodikekrieges zum Pergamenischen Reich gehórte, bei dem nicht namentlich genannten Monarchen um Attalos I. handeln, der zwischen 241 und 197 herrschte.° Über den sozialen Hintergrund des Diaphenes ist nichts bekannt, dennoch liegt es nahe, ihn als Mitglied der Elite von Temnos zu betrachten: Denn einerseits gehórte er zum Umfeld eines Monarchen, und andererseits hórte er in seiner Jugend einen Philosophen. Beides ist als Ausweis der Zugehórigkeit zur lokalen Oberschicht zu werten.
Der Hintergrund des Beziehungsdreicks Diaphenes, Attalos I. und Ilion läßt sich nicht mehr erschließen. Inwieweit es für den Umstand, daß der Chrysippschüler sich bei dem pergamenischen Herrscher aufhielt, eine Rolle spielte, daß zwischen Temnos und Pergamon im frühen dritten Jahrhundert ein IsopolitieVertrag abgeschlossen wurde," ist desgleichen nicht zu eruieren. Über mögliche
* Sie wurde erstmalig von Crónert (1904), 471f., vertreten; akzeptiert wurde sie von Dorandi (1989), 37; R. Goulet, DPhA II, 1994, 758, s. v. (D 93); Habicht (1994), 242 mit Anm. 68, sowie Savalli-Lastrade (1998), 123f. Nr. 1. Frisch in I.Ilion, p. 112, äußert sich nicht zur
Frage der Identifizierung. * Für Temnos gibt es kein weiteres Zeugnis für den Namen Diaphenes. Folgende epigraphische Belege sind bekannt: IG XII 2, 260 u. IG XII Suppl. 62 (Philo, Tochter des Diaphenes - dieser ist vermutlich identisch mit dem in der folgenden Inschrift genannten Diaphenes) sowie IG XII 2, 656 (Gaius Claudius Diaphenes, Sohn des berühmten Potamon von Mytilenc) - s. Robert (1935a), 472-476. - Daß im Papyrus aus Herculaneum die Namensform Diaphanes zu finden ist, läßt sich damit erklären, daß die aiolische Namensform der gängigen nichtdialcktalen angepaßt wurde; s. dazu Crönert (1904), 472, und Dorandi (1989), 37. * Nur als basileus bezeichnete Herrscher ohne Namensangabe finden sich verschiedentlich; vgl. z.B. I.Prusa ad Olympum II 1001, Z. 9, 22 u. 26 - s. dazu Frisch in I.Ilion, p. 112. Mögli-
cherweise ist die nicht-namentliche Nennung eines basileus der Eindeutigkeit geschuldet; vgl. Holleaux (1924b), 22, und Bengtson (1944), 214. $ Vgl. dazu Crónert (1904), 472f.; Dorandi (1989), 37, und Savalli-Lestrade (1998), 123 f. Nr. 1, Frisch denkt hingegen auf Grund seiner Datierung der Inschrift in das frühe 3. Jh. an einen Seleukiden (I.Ilion, p. 112).
? Es handelt sich dabei um eines der ältesten bekannten Dekrete aus Pergamon, das auf Grund paláographischer Erwágungen im frühen 3. Jh. zu verorten ist - die eingehende Diskussion der Datierung von Allen (1983), 17 mit Anm. 29, bestátigte diesen seit der Erstpublikation
X. Ilion
211
Beziehungen zwischen Ilion und Temnos auch nur zu spekulieren, verbietet der Mangel an Evidenz.^ Worin die Ursache für die Anwesenheit des Diaphenes am attalidischen Hof bestand und welche Rolle dabei die philosophische paideia des Chrysippschülers spielte, sind weitere offene Fragen. Seine Handlungen, für die
er in Ilion geehrt wurde, verweisen jedoch auf soziale Muster, die seiner angenommenen sozialen Herkunft und seiner Beziehung zu Attalos geschuldet sind und ihren Ursprung nicht in der stoischen Philosophie haben. Für boule und demos von Ilion spielte jegliche Verbindung des Diaphenes mit der Welt der Philosophie keine nachweisbare Rolle, sie erwähnten sie in ihrem Beschluß an keiner Stelle?
Diaphanes ist in der Forschung wiederholt als Philosoph angesprochen worden?? - aber für eine derartige Charakterisierung fehlt jegliche Evidenz: Philodem bezeugt lediglich in der Historia Stoicorum, daß Diaphanes aus Temnos ein Schüler des Chrysipp war. Ob er in seinem spáteren Leben ein Philosoph war, ist unbekannt. Wahrscheinlicher ist er dem Kreis derjenigen Personen zuzurechnen, die aus den lokalen Eliten hellenistischer Poleis entstammten, in ihren jungen Jahren - oft in Athen - zur Vervollkommnung ihrer paideia auch Philosophie «studierten» und in ihrem späteren Leben in keiner unmittelbaren Beziehung mehr zu dieser standen. Vorbehaltlich der Richtigkeit der Identifizierung des Chrysippschülers mit dem epigraphisch bezeugten Diaphenes ist also festzuhalten: boule und demos von Ilion ehrten um 200, als sich die Geschicke der Stadt zwischen dem Seleukiden- und Attalidenreich und auch Rom abspielten,!! Diaphenes aus Temnos, einen Mann aus dem Umfeld Attalos' L, wegen seiner Verdienste um die Polis. Diese lagen allein in seinem politischen Agieren begründet, welches seine Ursache in der sozialen Verortung des Diaphenes hatte. Die Philosophie spielte weder für das Handeln des Diaphenes noch für die Redaktoren des Ehrendekrets eine Rolle.
gängigen Ansatz: AvPergamon VIII 1, 5 = OGIS 265 = StV III 555; s. Gawantka (1975), 211 Nr. 27. Zu dieser Isopolitie s. ebd., 41, 60 u. 86f.
* Über Temnos in hellenistischer Zeit gibt das epigraphische Material nur in recht geringem Maße Aufschluß. Die auswärtigen Beziehungen dieser Polis an Hand der inschriftlichen Evidenz hat grundlegend Herrmann (1979) behandelt; vgl. dazu die Bemerkungen von Piejko
(1986). 5
Crónert (1904), 472, erklärt diesen Umstand mit den Gepflogenheiten der Zeit, gemäß
derer im 3. Jh. in Ehrendekreten selten Bezug auf die Tatsache genommen wird, daß eine geehrte Person Philosoph war. 0 Vgl. u.a. Crönert (1904), 472; Dorandi (1989), 37, und Savalli-Lestrade (1998), 124. ! Vgl. Vermeule III (1995), 469.
ΧΙ. Sardeis: Iollas - Schüler des Antiochos von Askalon
und euergetes seiner patris In der Historia Academicorum Philodems wird unter den Schülern des Antiochos von Askalon! ohne weitere Angabe Iollas aus Sardeis angeführt.? Aus der alten lydischen Stadt Sardeis, nach dem Jahr 133 autonome Polis; ist ein in das zweite oder dritte Viertel des ersten Jahrhunderts zu datierendes Ehrendekret bekannt, in dem der demos von Sardeis Iollas, Sohn des Iollas, ehrte:*
(...) ἄνδρα ἀγαθὸν καὶ φιλόπατριν ὄντα καὶ πολλὰς πρεσβείας τελέσαντα ἐπιτυχῶς, καὶ πολ8
12
16
λοὺς κινδύνους καὶ ἀγῶνας καὶ ἐγδικασίας ὑπὲρ τοῦ
δήμου ἀναδεξάμενον καὶ κατορθώσαντα, καὶ στρατηγήσαντα ε᾿ κάλλιστα, καὶ πολλὰ καὶ μεγάλα τῶν συνφερόντων περιποήσαντία) τῇ πατρίδι, καὶ γυμνασιαρχήσαντα ἐκ τοῦ ἰδίου βίου ἐπιφανέστατα, καὶ ἀγωνοθετήσαντα Παναθήναια καὶ Εὐμένηα παρ᾽ ἑατοῦ, καὶ γενόμενον ἱερέα τῆς Ῥώμης καὶ καλλίστας ποιήσαντα θυ(c(ac τοῖς θεοῖς πολλάκις ὑπὲρ τῆς τοῦ δήμου σωτηρίας, καὶ τὰ ἀπὸ τῶν θυσιῶν πάντα διανίμαντα πᾶσι τοῖς πολίταις καὶ ξένοις ἐν τῇ ἰδία οἰκίᾳ καὶ
! Grundlegend zu Antiochos von Askalon, dessen Abfall vom letzten Scholarchen der «igentlichem Akademie - Philon von Larissa - sowie der Neubegründung der Akademie
in Athen unter dem Namen «Alte Akademie» ist Glucker (1978), 98-112; vgl. auch Habicht (1988b), 218 mit Anm. 31. ? Philod. hist. Acad. col. XXXIV, Z. 6-8 Dorandi; s. Dorandi (1986), 115f., sowie Habicht (1988b), 215f., und Görler (1994), 945. Daß es sich an dieser Stelle um die Schüler des Antio-
chos handelt, ist von Barnes (1989), 59, bezweifelt worden; vgl. dagegen jedoch Dorandi (1991b), 80.
δ Vgl Kallet-Marx (1995), 99. - Die autonomia geht aus einem Isopolitievertrag mit Ephe805 aus dem Jahre 94/3 hervor: Sardis VH 1, 6; s. auch OGIS 437 = AvPergamon VIII 2, 268. Zu Sardeis und Caesars Entscheid vom 4. Márz 44 über das Asylrecht griechischer Stádte s. Herrmann (1989) und Rigsby (1996), 434—437 Nr. 214.
* Sardis VII 1, 27, Z. 6-22. Zur Datierung s. Buckler - Robinson in Sardis VII L p. 51 (2. Viertel des 1. Jh.s) und vgl. dazu Habicht (1988b), 217, der auch eine etwas spätere Datierung für möglich hält. Dies ginge mit Buckler - Robinson (1913), 33 f., konform, die die Inschrift in die Zeit zwischen nicht viel früher als 50 und nicht viel spáter als 25 datiert hatten, was Robert (1985), 473, akzeptierte.
214
XI. Sardeis
ἐν tà γυμνασίῳ, καὶ τὰς ἄλλας ἄρξαντα ἀρχὰς τὰς μεγίστας καὶ ἐν πάσαις ἀναστραφέντα ἀνδρήως 20
καὶ καθαρήως καὶ δικαίως, καὶ πολλὰς ἐν παντὶ τῷ
βίῳ ποιησάμενον ἐπιδόσεις τῇ πατρίδι, πάσης ἀρετῆς ἕνεκεν καὶ εὐεργεσίας τῆς εἰς ἑαυτόν, (...) den guten und heimatliebenden Mann, der viele Gesandtschaften erfolgreich durchführte; und der viele Gefahren und Auseinandersetzungen und Rechtshándel übernahm für das Volk und sie erfolgreich richtete; und der fünfmal als Stratege auf beste amtierte; und der viele und große Wohltaten für die Vaterstadt vollbracht hat; und der auf eigene Kosten auf's glánzendste Gymnasiarch war; und der die Panathenäen und die Eumeneia auf eigene Kosten ausrichtete; und der, Priester der Roma geworden, oft zum Heil des Volkes den Góttern die schónsten Opfer darbrachte und der das Opferfleisch unter allen Bürgern und Fremden im eigenen Haus und im Gymnasium verteilte; und der auch die anderen bedeutendsten Ämter ausübte und sich in allen mannhaft und integer und gerecht verhielt; und der wáhrend seines ganzen Lebens viele Spenden für die Vaterstadt tätigte; wegen all seiner Tugend und Wohltaten ihm (sc. dem Demos) gegenüber. Der demos von Sardeis ehrte Iollas, Sohn des lollas, mit zwei goldenen Kränzen, einer vergoldeten Statue, einer vergoldeten Kolossalstatue, einer vergoldeten Reiterstatue, vier Bronze- und drei Marmorbildnissen sowie vier gemalten Portraits geehrt (Z. 2-6).° Grund für diese Auszeichnung war sein durch den
unermüdlichen Dienst für die Polis gekennzeichnetes Leben, das in der Inschrift aufgelistet wird. Betrachtet man das Leben und die Taten des Iollas, so ergibt
* Zu den goldenen Kränzen für die beste Leistung als Auszeichnung s. Gauthier (1985b), 59, und Robert (1985), 471-473. - Zum Begriff kolossos vgl. Benveniste (19322) u. (1932b) sowie Roux (1960). - Zur mehrfachen Aufstellung von Ehrenstatuen verdienter Bürger in hel-
lenistischen Poleis s. Raeck (1995); exemplarisch sei auf Melanion aus Iasos verwiesen (S. 231234). - Zur Differenz zwischen eikones und agalmata vgl. Hepding (1907), 250f., im Rahmen seiner Diskussion von IGR IV 292, Z. 24-29. Eine Scheidung zwischen agalma als Kultbild und eikon als Ehrenstatue ist von Wilhelm (1911), 55f.; Nock (1930), 3; Robert (1937), 17 mit Anm. 1, und Habicht (1970), 143, vertreten worden. Buckler - Robinson (1913), 36f., haben vorge-
schlagen, in vorliegendem Fall die Differenz zwischen einem kleineren und einem größeren Bildnis zu sehen: Sie móchten eikon im Sinne von Büste bzw. Statuette und agalma als Statue verstanden wissen. 6 Zur ekdikasia (Z. 8) bzw. den ekdikoi s. Quass (1993), 137 f. Zum Doppelfest der Panathenaia und Eumeneia (Z. 12 f.) s. Herrmann (1989), 145 f., sowie Jones (2000), 5. Auch Iollas, Sohn des Metrodoros, der 6/5 als Gesandter nach Rom reiste, wurde in Sardeis geehrt (Robert
[1950], 7-25 Nr. 1), weil er für das Doppelfest der Panathenaia und Eumeneia der Polis Geld
zur Verfügung stellte. Ob dies vor dem Hintergrund der móglichen Zugehórigkeit zur gleichen «Familie reiner Zufall ist, läßt sich nicht entscheiden. Als hiereus der Roma hatte Iollas, Sohn
XI. Sardeis
215
sich ein klares Bild von der sozialen Gruppe, der er angehórte: der Elite seiner patris.
Habicht hat vorgeschlagen, diesen Iollas mit Iollas aus Sardeis, dem Schüler des Antiochos von Askalon, gleichzusetzen.* Zwar finden sich in der Ehreninschrift
keine Hinweise darauf, daß Iollas mit der Philosophie in Verbindung stand; dennoch erscheint es überzeugend, die beiden Iollas miteinander zu identifizieren.
Gestützt wird diese Annahme zunáchst durch chronologische Erwágungen sowie durch die Beschränkung des Namens Iollas auf eine Familie in Sardeis.? Auch wenn in der Ehrung zahlreiche Verdienste des Iollas angeführt werden, so finden sich weder biographische Aussagen über seine soziale Herkunft noch über seine Erziehung im Text. Es besteht kein zwingender Anlaß, auf Grund der Eigenschaften, die an Iollas gelobt werden, festzustellen, daß diese «gut zu einem Mann, der eine philosophische Ausbildung genossen hat», paßten:!° Vielmehr stellen Eigenschaften wie Tapferkeit, Integritát, Gerechtigkeit, Freigebigkeit und Wohltátigkeit das Standardrepertoire an bürgerlichen aretai in den hellenistischen Poleis dar - eine besondere Affinität zur philosophischen Sphäre besteht in keiner Weise, vielmehr eignen diese Tugenden einem jedem euergetes. Versucht man, Iollas und dessen Kontakte mit der Philosophie näher zu beschreiben, so wird man in ihm einen Sproß der Honoratiorenschicht einer hellenistischer Polis sehen, der in jungen Jahren Philosophie in Athen «studierte» und in seinem spáteren Leben ein dem Oberschichtencomment entsprechendes Leben führte, sich also in den Dienst seiner patris stellte und somit die an ihn gestellten sozialen Erwartungen erfüllte.!'
des lollas, das eponyme, ergo prestigetráchtigste Amt von Sardeis inne (Z. 14); vgl. dazu Buckler - Robinson in Sardis VII I, p. 51. Zu den Opfern auf eigene Kosten und der Speisung der politai und xenoi (Z. 14-18) s. Quass (1993), 294f., sowie Schmitt Pantel (1992), 375 f.; zum
Bankett im gymnasion s. Mango (2004). ? Vgl dazu Buckler - Robinson (1913), 33, sowie Habicht (1988b), 216 u. 218. - Daß Iollas, Sohn des Metrodoros, der seitens der katoikountes in Atetta geehrt wurde, mit Iollas, Sohn des
Metrodoros, der 6/5 als Gesandter nach Rom reiste, verwandt ist, nahmen bereits Herrmann Polatkan (1969), 38, an; Habicht (1988b), 216f., folgte dieser Überlegung und hält es darüber hinaus für wahrscheinlich, daß Iollas, Sohn des Iollas, in diese «Familie» zu integrieren ist. * ? 9 !
Habicht (1988b); zustimmend dazu T. Dorandi, DPhA 111, 2000, 864, s. v. (1 17). Vgl dazu Habicht (1988b), 217 f. So Habicht (1988b), 218. Zu diesem Typus des Bürgers s. Wórrle (1995) sowie auch unten S. 222.
XII. Kolophon während der hellenistischen Zeit gehörte das Apollon-Heiligtum von Klaros zur Polis Kolophon, die nach 189 von den Römern zur «freien Stadt» erklärt wurde.! Es diente als Aufstellungsort zahlreicher Ehrendekrete der Kolophonier? - und unter diesen nehmen die beiden umfangreichen Beschlüsse für Menippos und Polemaios aus dem spáten zweiten Jahrhundert eine herausragende Stellung ein.
1. Menippos: Zwischen Kolophon, Athen, Pergamon und Rom Wohl im vorletzten Dezennium
des zweiten Jahrhunderts nahmen
1342 poli-
tai der Polis Kolophon in der ekklesia an einer Abstimmung über ein Ehrendekret für einen der verdienstvollsten Bürger ihrer patris teil. Es handelt sich dabei um Menippos, Sohn des Apollonides durch Adoption und Sohn des Eumedes aus dem genos der Prometheoi durch Geburt, aus der Phyle Seleukis.? 1326 der
Stimmberechtigten votierten für die Annahme äußerst umfänglicher Ehrungen, allein 16 optierten dagegen.! Der gesamte erhaltene Text des Dekrets, das unmit-
! Zu Tempel und Orakel des Apollon in Klaros vgl. Pleket (1994). Eine Zusammenstellung von Orakeln bieten Merkelbach - Stauber (1996); zur asylia s. Rigsby (1996), 351-353. Zur Zugehórigkeit des Apollon-Heiligtums zu Kolophon s. Boffo (1985), 164-167, und Parke (1985), 125-134. - Zu Kolophon als «freier Stadt» s. Liv. 38,39; zu den «freien Städten» allgemein vgl. Ferrary (1991). Über die Konstituierung der Polis Kolophon im Hellenismus läßt sich nichts Bestimmtes sagen. Aus der ersten Hälfte des 3. Jh.s sind die Kolophonier, die in Notion, in Kolophon oder den Festungen wohnten, bekannt; s. Étienne - Migeotte (1998), 144f. Z. 38-
40. Aus einem Ehrendekret, das in die zweite Hälfte des 3. Jh.s datiert, geht ein synoikismos zwischen den in I.Magnesia 53, 2. 75-79 bezeugten Κολοφώνιοίι οἱ τὴν] [ἀρχαίαν πόλίιν οἰ-] κ]οῦντες und den Κολοφώνιοι ἀ[πὸ] [θαλάσσης hervor: Macridy-Bey - Picard (1915), 36f.; s. dazu Robert (1936), 165-167. Unter letzteren sind die Bewohner des kolophonischen Hafens Notion zu verstehen, der im Laufe der Zeit den Namen Kolophon annahm, unter ersteren die
Bewohner des unter Lysimachos zerstórten Kolophon. Zu Notion und Kolophon s. Charneux (1966), 194-198; vgl. auch Holland (1944).
? Vgl Lehmann (1998), 169. Zu Ehrungen für Rómer in Klaros s. Ferrary (2000). ° Zum vollständigen Namen des Menippos s. u.a. Claros I, 2 col. III, Z 19-21. Zum genos der Prometheoi unter Bezug auf den Mythos von Promethos, Sohn des Kodros und Anführer derjenigen lonier, die sich in Kolophon ansiedelten, s. Paus. 7,3,3; vgl. Robert (1936), 162-164. * Claros I, 2 col. IIl, Z. 48-51 - s. Robert - Robert in Claros I, p. 104. Eine Auflistung von hellenistischen Inschriften aus Kolophon, in denen sich Angaben zur Teilnehmerzahl an der
218
XII. Kolophon
telbar neben dem Apollon-Tempel von Klaros gefunden wurde; erstreckt sich über drei Kolumnen, deren jeweiliger Beginn ebenso wie das Ende von Kolumne I und II nicht erhalten ist, und beschreibt minutiós die zahlreichen Verdienste
des Menippos um seine patris. Den Ausgangspunkt stellen seine paideia und sein Aufenthalt in Athen dar (Claros I, 2 col. I, Z. 1-14):
4
(...) ἐπιτελέσας δὲ ταύτας κα[ὶ τ]οῦ πέμψαντος δήμου καὶ τῆς μητροπόλεως ἀξίως ἐπέμεινε τοῖς ἀρίστοις συνδιατρίβων καθηγηταῖς δοὺς δὲ δεῖγμα τὸ κάλλιστον τοῦ βίου καὶ τῆς παιδείας ἧς μετέλαβεν αὐτῆι πρῶτον τῆι μεταδούσηι πόλει τῆς ἀξίας ἔτυχεν ἐπισημασίας παρ᾽ αὐτοῖς Ἀθηναίοις στεφανωθεὶς καὶ πο-
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λΔίτης κατὰ ψήφισμα γενόμενος, καὶ τῆς ὅλης παρεπιδημίας τὴν καθήκουσαν λαβὼν μαρτυρίav* παραγενηθεὶς δὲ ἀπὸ τῆς σχολῆς ἀκόλουθον ἑαυτὸν τοῖς προειρημένοις εὐθὺς ἐγ νέου παρέσχετο πρεσβεύων τε καὶ συμβουλεύων τὰ κράτιστὰ καὶ φιλοτιμίας οὐθενὸς λειπόμενος τῶν πολιτῶν. (...)
Nachdem
er diese (Theoria-Gesandtschaften) in angemessener Form - würdig
sowohl des Volkes, das ihn entsandte, als auch der Mutterstadt (Athen) - absolviert
hatte, verblieb er dort und nahm bei den besten Lehrern an den Lehrveranstaltungen teil. Da er das beste Beispiel in seiner Lebensführung und in seiner Bildung gegeben hatte, die er empfangen hatte, und zwar an erster Stelle für die Stadt, die sie ihm vermittelt hatte, erhielt er von den Athenern selbst die geziemende Auszeichnung durch Kranzehrung und Bürgerrechtsverleihung aufgrund eines Volksbeschlusses. Und er erhielt für seinen gesamten Aufenthalt in Athen das gebührende Ehrenzeugnis. Von seinem Studium zurückgekehrt zeigte er seine Qualitäten gemäß dem oben Gesagtem sogleich von seiner Jugend an: Er übernahm Gesandtschaften und erteilte die besten politischen Ratschläge und ließ sich an Ehrgeiz und Engagement von keinem Mitbürger übertreffen. (Übers.: Lehmann [1998], 181 - mit geringfügigen Änderungen) Volksversammlung finden, liegt bei Gauthier (1990), 91, vor; vgl. auch Quass (1993), 361. - Zur Datierung s. SEG XXXIX, p. 412.
* Zu den im Dekret gegebenen Bestimmungen hinsichtlich der Aufstellung s. Claros I, 2 col. III, Z. 43-48. $
Gundlegend zum Ehrendekret für Menippos ist der ausführliche Kommentar von Ro-
bert - Robert in Claros I, p. 66-104.
1. Menippos
219
Menippos reiste nach Athen und führte dort in angemessener Form aus, was
ihm aufgetragen worden war - würdig sowohl der Polis, die ihn entsandt hatte, als auch der metropolis? Der Anlaß seiner Reise nach Athen ist in der Teilnahme an einer theoria zu sehen;? im Anschluß an diese verblieb Menippos in Athen und hörte die besten kathegetai.? Daß derartiges nichts Außergewöhnliches darstellte, zeigt ein athenisches Ehrendekret aus dem Jahre 193/2 für einen aller Wahrscheinlichkeit nach aus Pergamon
stammenden
Anonymus,
der ebenfalls als
theoros nach Athen kam und dann dort verblieb, um eine philosophische paideia zu erhalten. Eine weitere Parallele zwischen dieser athenischen und der kolophonischen Inschrift ergibt sich daraus, daß die beiden Geehrten in Athen nicht
allein den theoretischen Ausführungen von Philosophen oder hervorragenden
kathegetai folgten, sondern - und dieser Aspekt ist von zentraler Bedeutung sich Verdienste erwarben, die dem athenischen demos aller Ehren wert erschie-
nen: Wáhrend der pergamenische Anonymus sich im Zweiten Makedonischen Krieg an der Verteidigung Athens beteiligte und sich bei Attalos I. für athenische Gefangene verwandte, láfit sich bezüglich Menippos auf Grund des Zeugnisses seiner patris nur feststellen, daß er in Athen geehrt wurde, nicht jedoch warum. Von besonderem Interesse ist die Motivation für Menippos' Ehrung in Athen, die die Kolophonier in ihrem eigenen Ehrendekret für ihn angeben: Weil er nàmlich das schónste Zeugnis der Lebensführung und der paideia zuerst in der Polis gegeben habe, in der er sich diese erworben hatte, verliehen ihm die Athener einen Kranz und gemäß eines psephisma die politeia (col. I, Z. 4-10). Diese Begründung für die Ehrung des Menippos bedarf einer eingehenderen Analyse - vor allem hinsichtlich der Frage, inwieweit die im Dekret von Klaros angegebene Ursache der Auszeichnung in Athen mit der authentisch athenischen konform geht. Vor dem Hintergrund der Begründungen athenischer Ehrungen im zweiten Jahrhundert verwundert nämlich die Aussage, daß Menippos das schönste Zeugnis der Lebensführung und der paideia gegeben hätte: Zwar sind Formulie? Zu Athen als metropolis der Ionier s. Robert - Robert in Claros I, p. 67 f. Verwiesen sei auf IG II? 456 (307/6) aus der Zeit nach Athens Befreiung von der Herrschaft des Demetrios von Phaleron: In dieser Inschrift wird der demos von Kolophon mit einem Kranz geehrt, da eine Gesandtschaft aus dieser athenischen apoikia den Athenern hygieia und soteria gewünscht hatte; grundlegend zum Verháltnis von Athen und Kolophon vgl. Wilhelm (1939) und Habicht (19972), 69.
* Dies haben Robert - Robert in Claros I, p. 67, überzeugend dargelegt; vgl. auch Lehmann
(1998), 12. °
[ngeniós, jedoch spekulativ ist Scholz (2000), 109, mit der Annahme, bei den besten
kathegetai müsse es sich um den akademischen Scholarchen Karneades und den Stoiker Diogenes von Babylon gehandelt haben.
!? Vgl. oben S. 99-104.
220
XII. Kolophon
rungen, bestehend aus δεῖγμα (oder einem Kompositum dieses Wortes) in Ver.
bindung mit τὸ κάλλιστον und einer Prázisierung dessen, wovon der Geehrte ein Beispiel gab, sowie einer Form des Verbum δίδωμι, in hellenistischen Inschriften - und insbesondere in «Lebenswerkdekreten/!! - verschiedentlich belegt, aber für Athen fehlen entsprechende Zeugnisse im Kontext óffentlicher Ehrun. gen von verdienten Individuen. Auch die paideia als Bezugspunkt für das schönste Beispiel, das gegeben werden kann, ist in Athen selbst nicht bezeugt,? was in gleicher Weise auch für die Vorstellung gilt, daß Athen als Vermittlerin von paideia bezeichnet wird. Dieser Umstand macht es unwahrscheinlich, daß die kolophonische Version des Motivs für Menippos' Ehrung den Inhalt oder gar den Wortlaut des athenischen psephisma getreu widerspiegelt. Auf den ersten
Blick mag dies verwundern, jedoch ist zu bedenken, daß es sich bei der Inschrift aus Klaros weder um ein Inschriftendossier noch um ein Duplikat des in Athen aufgestellten Dekrets handelt. Ein sehr deutliches Indiz für die Frage nach der Übernahme einer athenischen Vorlage oder einer kolophonischen Konzeptionalisierung der Ehrung des Menippos in Athen ist die Aussage, daß er dort das ihm gebührende Zeugnis für seinen gesamten Aufenthalt erhalten habe (col. I, Z. 710) - keine vergleichbare Formulierung ist aus Athen bekannt. Gleiches verlautet hingegen bezeichnenderweise in einem in etwa zeitgleichen Dekret der Kolophonier für Polemaios, der im Anschluß an eine theoria zu Bildungszwecken in ! Vgl. zu diesem Dekrettypus s. Habicht (1995), 88, und Robert - Robert in Claros I, p. 18. ? Vgl. z. B. Claros I, 1 col. V, Z. 18-21. Aus Priene sind eine ganze Reihe von «Lebenswerkdekreten» aus dem 2. und 1. Jh. bekannt - in I.Priene 108, Z. 28-30; 109, Z. 33-35 u. 117, Z. 57f.
finden sich Belege für ἀπόδειγμα und ὑπόδειγμα. Weitere Beispiele sind IG V 1, 1331, Z. 9f. (vollständiger Text bei Valmin [1928-29], 149-151 Nr. 23) aus Kardamyle (1. Jh. n. Chr.), IG V 1, 1432, Z. 24-26 (1. Jh. v. oder 1. Jh. n. Chr.) aus Messene und I.lasos I 98, Z. 17-19 (1. Jh.; s. S. 232 f.). Grundsätzlich vgl. hierzu Wilhelm (1932), 24f., und Robert - Robert in Claros I,
p. 56. In Athen ist das Wort ὑπόδειγμα epigraphisch nur in einem Ephebendekret aus dem Jahre 106/5 im Kontext kultischer Handlungen für Dionysos bezeugt (IG II? 1011, Z. 71 u. 81). 3 Es gibt in der ganzen hellenistischen Welt nur ein weiteres epigraphisches Zeugnis, in dem die paideia in Verbindung mit einem Wort aus dem Begriffsfeld δεῖγμα, hier ὑπόδειγμα, steht, auch wenn es sich nicht um eine direkte Parallele handelt; in I.Priene 117, Z. 57 f. heißt es: [... πολίτου καλὸν ὑπόδειγμα [παραστήσας ὡς] ἐκ παιδε(ίγας τὸ εἰκὸς τοῖς νέοις τὸν ἴδιον
βίον᾽ -- ... weil er als schönes Beispiel des Bürgers für das, was sich auf Grund von Erziehung schickt, den Neoi sein eigenes Leben vorstellte. Zu diesem Passus s. Wörrle (1995), 241; vgl. auch Haakc (2004), 478 mit Anm. 43. ^ Einzig ein Dekret der Amphiktyonen in Delphi, von dem eine Kopie auf der Akropolis in
Athen aufgestellt wurde, bezeugt die Vorstellung, daß der demos von Athen neben vielen anderen «zivilisatorischen» Errungenschaften auch die paideia unter den Menschen verbreitet habe (CID IV 117, Z. 11-15); s. oben S. 169. Im athenischen öffentlichen Diskurs hingegen, wie er in den Inschriften faßbar ist, finden sich für eine derartige Selbststilisierung keine Indizien; vgl. dazu auch 5, 168-170.
1. Menippos
221
Smyrna verweilte und dort ebenfalls ob seines Verhaltens wáhrend seines dortigen Aufenthaltes geehrt wurde.^ Auch für Smyrna gilt, daß es im Corpus der dortigen Inschriften kein Zeugnis für eine Ehrung für gutes Verhalten während eines Studienaufenthaltes gibt: Für das psephisma für Polemaios ist als Ursache jedenfalls eine spezifische Handlung anzusehen - auch wenn diese nicht explizit im Dekret formuliert gewesen sein muß, sondern in allgemeinen Äußerungen ausgedrückt worden sein mag. Für den demos von Kolophon scheint im Vordergrund gestanden zu haben, daß sich sowohl Menippos als auch Polemaios bereits während ihres auswärtigen Studiums, welches sich an eine bereits voll-
brachte Leistung für die patris anschloß,'!* den Normen der Oberschichten hellenistischer Poleis entsprechend verhielten'? - und dies wurde subsumiert unter der Aussage, beide hátten für ihren Aufenthalt ein je entsprechendes Zeugnis bekommen: Spezifitát wie bei den in und für Kolophon erbrachten Leistungen wurde nicht angestrebt. Von seiner schole' in der ionischen metropolis nach Kolophon zurückgekehrt, begann Menippos sofort in seiner patris politisch zu wirken - dabei gab er zahlreiche Beweise seiner herausragenden Qualitäten, war er doch häufig Gesandter und gab vielfach die besten Ratschláge in politicis. In Sachen philotimia war er unter seinen Mitbürgern unübertroffen (col. I, Z. 9-14). Wie topisch diese Aus-
sage sein konnte, belegt das ebenfalls äußerst umfángliche Ehrendekret für Polemaios, das nahezu wörtlich Gleiches feststellt.!? Im Anschluß an die recht unspezifische Feststellung des politischen Agierens des Menippos als Gesandter und kluger Ratgeber folgt eine detaillierte Auflistung all seiner Aktivitáten, die ihn nach Pergamon zum attalidischen Herrscher,
155 Claros I, 1 col. I, Z. 38-44; s. S. 225f. 1$ Sowohl Menippos (Claros I, 2 col. I, Z. 1-3) als auch Polemaios (Claros I, 1 col. I, Z. 28-
38) blieben im Anschluß an eine theoria in Athen bzw. Smyrna. "7 Auch während seiner Studien auf Rhodos legte Polemaios ein Leben an den Tag, das weder Ärger noch Ordnungswidrigkeiten hervorbrachte, sondern vielmehr der Würde sowohl von Kolophon als auch von Rhodos entsprach (Claros I, I col. I, Z. 25-28). !! Scholz (2000), 109, übersetzt suggestiv und seiner Interpretation entgegenkommend σχολή mit «Ausbildung»; s. aber LSP, s. v., u. S. 28 mit Anm. 60. Die unmittelbare Anwendung dessen, was Menippos in Athen erlernt hat, in der «politischen Praxis» (s. Scholz [2000], 109),
wird an dieser Stelle der Inschrift nicht zum Ausdruck gebracht - zumal in Athen während der schole nicht «Politik» unterrichtet wurde. Vielmehr wird in Z. 10 ein Aspekt wiederaufgegriffen, der in Z. 4f. thematisiert wurde: Es geht dabei um bios (im Sinne von Lebensführung) und
paideia — beides ist Menippos in Athen vermittelt worden, und auf dieser Grundlage handelte er. Menippos ist erzogen worden, für seine patris zu handeln und dieses Handeln als zentrales Element seines bios anzusehen. Dazu diente auch seine paideia, die ihn für diesen bios sozialisierte, nicht aber praktisch vorbereitete. 15. Claros I, 1 col. II, Z. 4f.
222
XII. Kolophon
nach Rom und zu römischen Amtstrágern in Asien? sowie in viele andere Poleis führten.?' Neben diesen außenpolitischen Tätigkeiten übernahm Menippos auch zahlreiche Ämter in der Polis - so war er zweimal Hoplitenstratege, wurde zum agonothetes der Klaria gewählt und trug im gleichen Jahr den Kranz des prytanis, hatte also das eponyme Amt von Kolophon inne: All diese Aufgaben erledigte er in der denkbar besten Weise und steuerte dabei auch erhebliche Summen seines privaten Vermögens für öffentliche Belange bei.? Mit diesem Ehrendekret für Menippos liegt ein Lebenslauf vor, der sich zwischen den Polen des «tugendsamen Jünglinge und des « Euergeten» erstreckt.” Aber nicht wegen der einzelnen Verdienste, die das Leben des Geehrten zieren, verdient der Beschluß der kolophonischen ekklesia besonderes Interesse, sondern wegen der Erwähnung der paideia, die sich zu Beginn des erhaltenen Textes findet. Da der Anfang des psephisma für Menippos nicht erhalten ist, läßt sich nur darüber mutmaßen, ob - wie bei anderen «Lebenswerkdekretem aus dem zweiten und ersten Jahrhundert auch - zu Beginn des Textes die Feststellung stand, daß Menippos bereits in seiner frühesten Jugend als euergetes zu wirken begann
und seither stets mit großer Ehrliebe und unter bereitwilliger Übernahme aller Mühen und Gefahren seiner patris Nutzen zu bringen gedachte.” Dennoch ist es auf Grund der Disposition des Dekrets evident, daß der Teil der Inschrift, der im heutigen Erhaltungszustand den Beginn des Textes bildet, auch in der ursprünglichen Fassung am Anfang der «Biographie des Geehrten gestanden haben muß. Zuvor können allein das Präskript und, wenn - wie eigentlich zu erwarten - vorhanden, eine allgemeine Bemerkung über das lebenslängliche Euergetentum des Menippos gestanden haben. Die Thematisierung der paideia des Geehrten, die den Einstieg in seinen Lebenslauf bildet, ist ausführlich und wird auch in Beziehung zum sozialen Handeln des Menippos gesetzt. Über die Inhalte der paideia, die Menippos in Athen erhielt, läßt sich auf Grund der Inschrift keine Aussage treffen - wichtig ist jedoch der Umstand, daß es die besten kathegetai waren, die
® Zur Bedeutung persönlicher Kontakte zu Mitgliedern der römischen Führungsschicht für die Oberschichten griechischer Poleis s. Quass (1984); vgl. auch Ferrary (1997).
?! Vgl. dazu summarisch Claros I, 2 col. I, Z. 14-17: Fünf Gesandtschaften führten Menippos nach Rom (col. I, Z. 17-31 ) - s. dazu Robert - Robert in Claros I, p. 70-87, sowie Lehmann (1998), 146-151 u. 156-166. Vgl. auch Eilers (2002), 124-132; einzeln aufgeführt und erláutert
werden die Gesandtschafisreisen des Menippos von Canali de Rossi (1997), 254-256 Nr. 298; 269 Nr. 314; 272f. Nr. 318f. u. 277 Nr. 322.
22 Claros I, 2 col. IT, Z. 7 - col. III, Z. 5; s. dazu Robert - Robert in Claros I, p. 91-101, und Lehmann (1998), 138-146. 2 Beide Wortpaare sind Bestandteile eines Aufsatztitels von Wörrle (1995). ^ Vgl. dazu Gauthier (1985b), 57 f.; Kleijwegt (1991), 234-242, und Wörrle (1995), 248.
2. Polemaios
223
Menippos aufgesucht hatte.” Prima facie mag es nicht überraschen, wenn hervorgehoben wird, jemand habe bei den besten «Lehrern seine Studien betrieben; betrachtet man jedoch die hellenistischen Ehrendekrete, in denen die paideia des Geehrten thematisiert wird, so wird in der Regel die paideia an sich, nicht aber die besonders gute paideia als Wert angesprochen. Auch ist es nicht selbstverstándlich, daf überhaupt eine Aussage über die Vermittler der paideia getroffen wird.
2. Polemaios: Zwischen Kolophon, Rhodos, Smyrna und Rom Der dem genos der Knemadai entstammende Polemaios, Sohn des Pantagnotos,
aus der Phyle Apollonias sollte nach einem Beschluf von boule und demos von Kolophon zu einem nicht genau bestimmbaren Zeitpunkt zwischen 130 und 110 mit einem goldenen Kranz und einer vergoldeten Statue geehrt werden. Bei den Klaria sollte ausgerufen werden, daß der demos Polemaios auszeichne, da er ein aner agathos und ein philagathos, ein um die politai eifrig bemühter Mann sei, der sich stets für das der Polis Nützliche verwende. Die Statue sollte nach dem Beschluß der Kolophonier auf einer Säule im Apollonheiligtum von Klaros neben dem Altar der Chariten errichtet, und auf dem bema das der Ehrung zugrunde liegende psephisma aufgezeichnet werden. Gefunden wurde die Inschrift nórdlich der Tripylon genannten Propyläen; sie besteht aus fünf Kolumnen, von denen keine vollstándig erhalten ist. Der Text dieses als Lebenswerkdekretb zu bezeichnenden psephisma für Polemaios setzt mit seiner steten Prásenz im gymnasion noch nach der Vollendung der Altersstufe der Epheben ein, wo er Kórper und Geist trainierte. In seinen jungen Jahren gewann er bei verschiedenen Agonen Siegeskränze und inszenierte in Kolophon diese Siege. Da er aber nicht allein auf Grund physischer Leistungen ausgezeichnet werden wollte, sondern auch wegen der Übernahme óffentlicher Aufgaben, begab er sich zum Studium nach Rhodos:? 5 Claros I 2 col. I, Z. 3f. Gleiches gilt für Polemaios und seine Aufenthalte auf Rhodos und
in Smyrna: Claros I, I col. I, Z. 23f. u. 37f. 2 Zum Namen des Geehrten - angegeben in Claros I 1, col. V., Z. 26f. - vgl. Robert - Robert in Claros I, p. 17; zur Datierung s. SEG XXXIX, p. 405f. Einen umfassenden Kommentar zu
Claros I 1 haben Robert - Robert in Claros I, p. 17-62, vorgelegt. Eine Auflistung der Ehrungen mit den dazugehórigen Bestimmungen findet sich in Claros I 1, col. V, Z. 25-56, zum Aufstellungsort s. col. V, Z. 43-48. ? Zum bisher Gesagten s. Claros 1 1, col. I, Z. 1-16; vgl. dazu Robert - Robert in Claros 1, p. 18-24. Beim nachfolgenden Text handelt es sich um col. I, Z. 16-46; s. dazu Robert - Robert in Claros I, p. 23-27. Zu Rhodos als Bildungszentrum in der hellenistischen Welt s. Bringmann (2002) sowie oben S. 204.
224
XII. Kolophon
16 (...) καλὸν δὲ κρίνων οὐ μόνον τὸν ἀπὸ τοῦ σώ-
32 σεν θυσίας μετὰ τοῦ συναποδει.χθέντος ἀνδ[ρ]ὸς ἀξίως τῶν δή-
ματος περιγινόμενον τῶι βίωι καὶ τῆι πατρίδι κόσμον, ἀλλὰ καὶ 20 τὸν ἀπὸ τοῦ προίστασθαι τῶν κοι-
μων ἑκατέρων καὶ τὸ ταγὲν αὐτῶι διάφορον εἰς τὴν [θυ]σίαν ἀνέ. 36 πεμψεν τῶι δήμωι’ ἐπέμει(νε) δὲ
νῶν Aöywlı) καὶ πράξει πολιτι-
κἀκεῖ συνὼν τοῖς ἀρίστοις παι-
κῇ, ἀπήντησεν μὲν εἰς τὴν Ῥοδίων πόλιν, κἀκεῖ τοῖς ἀρίσ24 τοις καθηγηταῖς συνό[ι]ατρείψας, ἄλυπον μὲν καὶ διὰ πάντων ἀπαρενόχλητον ἐποιήσατο τὴν ἐπιδημίαν καὶ ἀξίαν ἑκατέρων 28 τῶν πόλεων’ μετὰ ταῦτα προχιρισθεὶς θεωρὸς εἰς τὴν Ζμυρναίων πόλιν τὰς νομιζο-
δευταῖς: λαβὼν δὲ τῆς πάσης παρεπιδημίας τὴν ἐπιβάλλου40 σαν μαρτυρίαν καὶ ἐπαινεθεὶς διὰ ψηφίσματος οὐ μόνον παρὰ τοῖς ἀποδεξαμένοις αὐτὸν Ζμυρναίοις καὶ τὴν περὶ τὸν βίον ἀρε44 τὴν καὶ εὐταξίαν, ἀλλὰ καὶ παρ᾽ ἡμῖν διαπρεσβευθέντων τούτων μετὰ πομπῆς, (...)
μένας τοῖς θεοῖς παρέστη-
(...) Da er nicht nur die Zierde, die sich von der körperlichen Leistungsfähigkeit für das Leben und die Heimatstadt gewinnen láfit, für gut und schón erachtete, sondern auch die Auszeichnung, die aus der Führung der öffentlichen Angelegenheiten durch Rede und politisches Handeln erwáchst, begab er sich nach Rhodos und besuchte dort die Lehrveranstaltungen der besten Lehrer. Er gestaltete seinen Aufenthalt, ohne Kummer zu bereiten und irgendwelche Unruhe zu verbreiten, der Würde der einen wie der anderen Stadt entsprechend. Danach wurde er zum Mitglied einer Kultgesandtschaft nach Smyrna gewählt und brachte den Göttern die traditionellen Opfer - gemeinsam mit seinem Kollegen - gemäß der Würde der beiden Bürgerschaften dar; den Geldbetrag, der ihm für das Opfer zugeteilt worden war, überwies er an das Volk zurück. Auch dort blieb er längere Zeit und besuchte die besten Lehrer. Er erhielt über den gesamten Aufenthalt das angemessene Zeugnis und wurde durch einen Volksbeschluß belobigt - nicht nur von Seiten der Bürger von Smyrna, die ihn aufgenommen und die Tugendhaftigkeit und gute Ordnung in seiner Lebensführung kennengelernt hatten, sondern auch bei uns, nachdem diese eine Gegengesandtschaft mit Ehrengefolge geschickt hatten, (...)
(Übers. mit geringfügigen Änderungen: Lehmann [1998], 185) Bevor in der das Ehrendekret abschließenden Kolumne über die Ehrungen für Polemaios gesprochen wird (col. V, Z. 11-57), werden in den Kolumnen II-IV seine zahlreichen Verdienste um seine Polis benannt - er war in dieser Hinsicht unermüdlich und kein Opfer und keine Gefahr war zu groß, als daß er sie nicht im Auftrag der patris oder aber aus eigenem Antrieb auf sich genommen hätte. So übernahm er gefahrvolle Gesandtschaftsreisen, die ihn zum römischen Senat
2. Polemaios
225
und zu rómischen Magistraten führten;? er spendete aus seinem Privatvermógen für kultische Belange,? für musikalische Aufführungen,? zur privaten Beherbergung von auswärtigen Gesandten?' aus seinem Vermögen gab er Bürgschaften, gewährte - vielfach sogar zinslose - Kredite und spendete für Bedürftige;? er bewirtete im Rahmen
seiner Hochzeit nicht nur die politai, sondern auch die
Metóken und die isoteleis sowie die zu Bildungszwecken in Kolophon weilenden Fremden;? schließlich war er agonothetes und übte dieses Amt in großartiger Weise aus.?* Polemaios wurde nicht nur in Smyrna und seiner patris geehrt, sondern auch in Milet.?
Boule und demos von Kolophon beschreiben zu Beginn des Dekrets Polemaios' Bemühung um die paideia, die ihn in besonderer Weise für politische Dienste für seine patris práparieren sollte?* Aus diesem Grund hielt sich Polemaios zweimal
außerhalb von Kolophon auf. Rhodos, dem sein erster Besuch galt, war neben Athen eines der wichtigsten Zentren der Vermittlung von paideia in der hellenistischen Welt. Welche Inhalte die paideia hatte, die Polemaios in Rhodos beziehungsweise später in Smyrna, wo sich ein Museion befand," vermittelt wurde, wird im Dekret nicht zum Audruck gebracht - für den zeitgenóssischen Leser war es eindeutig, was paideia für den Sohn eines Mitgliedes der stádtischen Elite bedeutete. Es war dies nicht allein die Vermittlung von Wissen, sondern auch die Sozialisation - man denke hier an die philoponia und eutaxia -- als zukünftiger idealer Bürger.” Letztlich ging es um die Vermittlung des kosmos, was in der ganzen Vielschichtigkeit dieses Begriffes zu verstehen ist. Solchermaßen war Polemaios, der sich in Rhodos angemessen aufgeführt und in Smyrna ein psephisma
? Claros I 1, col. Il, Z. 1-61; vgl. Robert - Robert in Claros I, p. 27-40, sowie Lehmann (1998), 25-27, zu Polemaios' Reise nach Rom; s. auch Canali de Rossi (1997), 285 f. Nr. 329. ? Claros I 1, col. III, Z. 5-13; vgl. zu diesem Passus Robert - Robert in Claros I, p. 40f. % Claros I 1, col. IV, Z. 12-17; s. dazu Robert -- Robert in Claros I, p. 46-49. ?! ClarosI 1, col. IV, Z. 17-23. Polemaios bewirtete kretische Gesandte (Z. 17-20) und nahm
auch Römer bei sich auf (Z. 20-23); vgl. dazu Robert - Robert in Claros I, p. 49. 32 ClarosI1, col. IV, Z. 5-11 - s. dazu Robert - Robert in Claros I, p. 44-46; vgl. auch col. III, Z. 25-58. Zu diesen Tätigkeiten des Polemaios vgl. a.O., p. 42-44, sowie Wörrle (1995), 247, und Gehrke (20032), 235.
? ClarosT
(1995), 245.
1, col. IV, Z. 24-34; s. hierzu Robert - Robert in Claros I, p. 49-51, sowie Wörrle
^ ClarosI 1, col. IV, Z. 35-53 u. col. V, Z. 1- 11; zu Polemaios' agonothesia s. Robert - Robert in Claros I, p. 51-55. ? Milet I 3, 107.
* Vgl. dazu auch Scholz (2000), 107. ? Zum Mouseion in Smyrna s. Robert (1937), 146-148, und Robert - Robert in Claros I, p. 27. ** Vgl. dazu Gehrke (2003a), 243-245.
226
XII. Kolophon
als Zeugnis seiner arete erhalten hatte, für einen bios als idealer Bürger in seiner patris gerüstet.” Die umfangreichen Ehrendekrete für Menippos und Polemaios, die ausführlich die Verdienste der Geehrten auflisten, thematisieren auch beider paideia und nennen die Orte - nämlich Athen respektive Smyrna und Rhodos -, an denen sie zu deren Vervollkommnung weilten. Die paideia erscheint als wesentlicher Bestandteil des Bildes eines aner agathos, den Menippos und Polemaios ausweislich der psephismata in vorzüglicher Weise repräsentierten. Auf die Philosophie selbst wird nicht explizit Bezug genommen, sie ist aber zweifelsohne Teil der paideia gewesen.
? Zum Bild des «idealen Bürgen s. Wórrle (1995) und Gehrke (2003a), 227-240.
XIII. Milet: Hestiaios, Sohn des Menandros
]m spáten zeiten und ersten Jahrhundert erlebte Milet wie so viele kleinasiatische Poleis eine wechselvolle Geschichte.' Aus dieser Zeit stammt eine Grabinschrift, die wahrscheinlich der Grabanlage einer prominenten milesischen Familie entstammt. Die Inschrift besteht aus drei Namen sowie zwei Grabepigrammen, von denen eines Hestiaios, Sohn des Menander, gewidmet ist? 8
Οὐχὶ κεναῖς δόξαις ἐζηκότα τόνδε δέδεκται
τύμβος ὅδ᾽ ἐκ προγόνων, ταῖς δ᾽ ἀπὸ τᾶς σοφίας ταῖς ἀπὸ Σωκράτεω πινυταῖς μάλα τοῦ τε Πλάτωνος, κοὐκ Ἐπικουρήοις, ἡδονικαῖς ἀθέοις,
12
Ἑστιαῖον τὸν φύντα πατρὸς κλεινοῖο Μενάνδ[ρου)
! Einen Überblick über die hellenistische Geschichte Milets findet sich bei Müller (1976), 13-17.
? ].Milet 734; s. auch SEGO I 01/20/25. Zur Grabanlage vgl. Haussoullier (1920), 57. Dieser hat die plausible Vermutung aufgestellt, daf neben dem im folgenden besprochenen Text zwei weitere Inschriften aus einem größeren, zusammengehörenden familiären Grabkomplex stammen: I.Milet 441 u. 523 = Haussoullier (1920), 59 Nr. 2£.; vgl. dazu Herrmann in I.Milet II, p. 9, 25 u. 68. - Neben Hestiaios werden in 1.Milet 734 genannt: Antenor, Sohn des Euandridas, Antiphanes, Sohn des Moschion, Chionis, Sohn des Chionis, und der Tragódiendichter Euandridas, Sohn des Hestiaios, dem das erste Epigramm gewidmet ist (Z. 1-7). Über die-
sen Tragödiendichter ist nichts Weiteres bekannt; s. TGrF I 116 Euandridas. Zu den genannten Personen s. zuletzt Herrmann in I.Milet II, p. 68. Die verwandtschaftlichen Beziehungen, in der die einzelnen Personen zueinander stehen, sind unklar. Die Versuche von Preuner (1894), 553; Wilhelm (1912b), 420f., und Haussoullier (1920), 61 f. u. 68-72, ein Stemma dieser Familie zu rekonstruieren, sind gescheitert; vgl. Robert (1960b), 484-486; Günther (1988), 407—409; Habicht (19912), 327 mit Anm. 15, und Herrmann a.O. Auch die Einordnung der in der Grab-
inschrift genannten Personen in das Stemma dicser der milesischen Oberschicht angehórenden Familie, die sich bis Antenor, Sohn des Xenares, zurückverfolgen läßt, der 308 Olympionike war (Moretti [1959], 131 Nr. 488), 306/5 in Athen mit dem Bürgerrecht geehrt wurde (s. Wilhelm [1914], 292f., zu IG II? 169 u. 472; s. auch Günther [1988], 408 mit Anm. 111) und
279/8 in Milet stephanephoros war (Milet I 3, 123, Z. 38-40), ist unklar. Trotzdem ist es móglich, die Angehórigen dieser Familie über mehrere Jahrhunderte zu verfolgen, da eine Inschrift des prophetes Eudemos (l.Didyma 259; frühes 1. Jh. n.Chr.) eine umfangreiche Genealogie beinhaltet. So gehörte dieser Familie auch der Schulstifter Eudemos, Sohn des Thallion, an (Milet I 3, 145; vgl. 1.Didyma 259, Z. 23-25). Zu weiteren Mitgliedern dieser Familie s. Günther (1988), 407-409 Nr. 13, mit dem Stemma auf p. 409, und Habicht (1991a), 327 mit Anm. 15. - Zur milesischen Oberschicht allgemein s. Andreou (2000).
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XIII. Milet
ἐσθλοτάταν βιοτᾶς ἐξανύσαντος ὁδὸν.
Κούφη γαῖα χυθεῖσ᾽ ὁσίως κρύπτοις σὺ τὸν ἄν[δρα] βαίνοντ᾽ εὐσε[βέ]ων τοὺς ἱεροὺς θαλάμους].
Der Tote, den dieses Grab seiner Väter hier aufgenommen hat, hing nicht leeren Meinungen an in seinem Leben, sondern den höchst verständigen, die des Sokrates Weisheit lehrte und Platon, und nicht den epikureischen, dem Vergnügen ergebenen und gottlosen: Hestiaios, dessen Vater der berühmte Menander war, der seines Lebens Weg in edlem Streben zu Ende ging. Pietätvoll mögest du, Erde, deine leichte Decke um diesen Menschen breiten, der.nun zu den Frommen heiliger Wohnung
geht.
(Übers.: modifiziert nach W. Peek, GG 470)
Das Grabgedicht für Hestiaios, das zeitlich jüngere der beiden Epigramme, ist an Hand der Schriftform in das erste Jahrhundert zu datieren. Biographische Einzel. heiten sind über Hestiaios nicht bekannt; weitere Zeugnisse existieren nicht.’ Das Epigramm, in dem Hestiaios ein rühmlicher Lebensweg zugeschrieben wird, ist in einem Punkt ein singuläres Zeugnis in der griechischen Epigraphik: Gemeint ist die unverhohlene Polemik gegen Ansichten, die als epikureisch, hedonistisch und atheistisch diskreditiert (Z. 11),* die als leere doxai bezeichnet und denen
die weisen Meinungen des Sokrates und Platon entgegengestellt werden. Die Bezeichnung von Epikurs Lehre als κεναὶ δόξαι ist eine doppelte Anspielung: Zum einen klingen für den philosophisch gebildeten Leser die ψευδεῖς δόξαι aus der platonischen Terminologie an,’ zum anderen wird er an die als κύριαι δόξαι bezeichneten Hauptlehrsätze Epikurs erinnert‘ - das Ziel des Autors, die Lehren Epikurs zu diskreditieren, ist evident. Die aus literarischen Texten vielfach bezeugte Kritik an Epikurs Lehre respektive deren negative Darstellung? wird im Grabepigramm für Hestiaios in einen neuen Kontext transponiert. Ob dabei eine korrekte Exegese epikureischer Ansichten stattfindet, ist nicht die entscheidende Frage - es geht vielmehr um Arten der Rezeption. Auch wenn nicht jeder potentielle Leser des Gedichts die
* Zur Datierung s. Robert (1960b), 484-486; zu Hestiaios vgl. B. Puech, DPhA III, 2000, 677, s. v. (H 110).
1 Ein Beleg für die findet sich darin, daß s. auch Hengel (1969), 5 Vgl. Merkelbach *
weite Verbreitung der Vorstellung von der Gottlosigkeit der Epikureer «epikuros im Hebräischen «ungläubig» bedeutet; vgl. Hadas (1963), 29; 317f. - Stauber in SEGO I, p. 145 ad Z. 5.
Vgl. Robert (1960b), 485 mit Anm. 1, sowie Robert (1994), 97 f.
? Sehr instruktiv für die Darstellung der Lehre Epikurs in der Öffentlichkeit sind Fragmente der attischen Komódie; s. dazu Weiher (1913), 74-78, und als Fallstudie zu Baton vgl. Gallo (1976).
XIII. Milet
229
recht feinsinnigen Anspielungen hinsichtlich der doxai verstanden haben mag, so darf man wohl davon ausgehen, daß eine grundsätzliche Kenntnis der Antino-
mie zwischen der Philosophie Sokrates' und Platons auf der einen und der Epikurs auf der anderen Seite bestand. Der funerale Kontext wird in diesem Falle als
Ort der Inszenierung philosophischer Gegensätze genutzt.
XIV. Iasos: Der ephebarchos Melanion
Aus der karischen Polis Iasos stammt das psephisma für den ephebarchos Melanion, das in das erste Jahrhundert datiert.! Die Inschrift befindet sich auf einer
marmornen Sáulentrommel, die noch zwei weitere Inschriften trágt. Über Melanion, Sohn des Theodoros, heißt es im Ehrendekret: (...) ἀπό τε τῆς
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πρώτης ἡλικίας ζηλωτὴς τῶγ καλλίστωγ γινόμενος ἀνέστραπται ἐν τῶι γυμνασίωι φιλοπονῶν καὶ φιλομαθῶγ καὶ ἐπὶ τὰ κάλλιστα ἐπιδιδοὺς ἑαυτόν, ἐν τε τοῖς οἰκείοις τῆς ἡλικίας παιδεύμα-
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σιγ καταγινόμενος καὶ ἐν τοῖς κατὰ φιλοσοφίαν λόγοις ἱκανὴν ἕξιγ καὶ προκοπὴν ἐσχηκὼς ἀναστρέφεται σωφρόνως καὶ ἀξιοζηλώτως καλὸν ὑπόδειγμα τῆς ἰδίας προαιρέσεως καταβαλλόμενος, καθόλου τε καὶ λέγωγ καὶ πράσσων τὰ κάλλιστα καὶ ἐνδοξότατα διατελεῖ ἐμ πᾶσιν στοιχῶν τῆι τε ἰδίαι ἀρετῆι καὶ δόξηι καὶ τῆι fi} διὰ προγόνων ὑπαρχούσηι αὐτῶι kadokayadlar(...)
(...) weil er von frühester Jugend an im Streben nach dem Schönsten sich im Gymnasium fleißig und wißbegierig verhielt und sich den schönsten Dingen hingab und weil er in den dem Alter angemessenen Bildungsgegenständen (ebenso) wie in den philosophischen Lehren angemessene Fähigkeit und Fortschritt bewies und sich besonnen und beneidenswert verhielt, indem er ein schönes Beispiel der eigenen Grundsätze präsentierte und in Wort und Tat sich fortwährend auf das Schönste und Rühmenswerteste verhielt und in allem der eigenen Tugend und Ehre und der ihm seitens der Vorfahren überkommenen Vortrefflichkeit folgte (...) ! 1.lasos 198 = GIBM IV 925b. Zur Herkunft dieser Inschrift s. Blümel in I.Iasos I, p. If.; zur Datierung vgl. Hirschfeld in GIBM IV, p. 99, die von Blümel in 1.lasos I, p. 103, akzeptiert worden ist. ? Dabei handelt es sich zum einen um eine Stiftungsinschrift, die aussagt, dafi der ephebarchos Diodoros, Sohn des Thargelion, die Säule den neoi und dem demos stiftete (1.Iasos II 255 = GIBM IV 925a; ein weiteres Zeugnis für die Säulenstiftung dieses gymnasiarchos ist 1.lasos Il 256 = GIBM IV 924a), und zum anderen um eine Liste von Epheben (I.Iasos II 270 = GIBM IV 925c).
232
XIV. Iasos
Das Dekret beginnt mit der Erinnerung an die Verdienste der Vorfahren des Melanion, derer er sich würdig erwies (Z. 1-3)? Er war - ein geradezu klassi-
scher Topos in Ehreninschriften nicht nur der hellenistischen Zeit - ein «chó. ner und guter Mann» (Z. 4f.).* Dieser Feststellung folgt eine Auflistung, in der seine persónliche Haltung in einer Trias gegenüber verschiedenen religiósen und sozialen Konfigurationen beschrieben wird, über die einst der erste Herausgeber schrieb, daß er keinen anderen Fall dieser Art des Lobes kenne: Dem Göttlichen gegenüber war Melanion fromm eingestellt; zärtlich liebend - wie es sich für einen besonnenen und gebildeten Mann geziemt* - verhielt er sich gegenüber den Eltern und seinen übrigen Verwandten; wohlwollend und ruhmliebend war er in seinem Verhalten gegenüber allen politai (Z. 5-10).? Daran schließt sich der zitierte Passus an: Seit seiner frühesten Jugend eiferte er den schónsten Dingen nach, liebte im gymnasion die Mühe und war wissbegierig. Während die philoponia auf athletische oder allgemeiner physische Aktivitáten verweist, ist die philomathia Indikator für Betátigungen auf dem Feld der Bildung. Beide Bereiche hatten ihren Platz im hellenistischen gymnasion - doch wurde im öffentlichen Diskurs der Poleis, wie er sich in den Ehrendekreten manifestiert, vielfach stärker der erste denn der zweite Aspekt thematisiert. Im Anschluß an Melanions lobenswertes Auftreten im gymnasion geht es um einen zweiten Aspekt der Erziehung des Geehrten: Er befaßte sich - seinem Alter angemesen - mit der paideia und, spezieller, auch der Philosophie; beidem widmete er sich mit Fleiß, Interesse und Erfolg (Z. 14-17)? Ist diese Aussage bereits exzeptionell für ein hellenistisches Ehrendekret, so ist die anschließende Formulierung, daß er sich selbst als
?
Zur Erwähnung von Wohltaten der progonoi s. Gauthier (1985b), 57 u. 59. Auch in Z. 20-
22 wird noch einmal auf die progonoi Bezug genommen. * Zu dieser Formulierung s. Gerlach (1932), 7-14, und besonders Wörrle (1995), 247. * Hirschfeld in GIBM IV, p. 99 ad Z. 12-18 = I.Iasos 198, Z. 8-14. $ Für die Formulierung ἀνὴρ σώφρων καὶ πεπαιδευμένος gibt es im gesamten Corpus
griechischer Inschriften nur eine einzige Parallele: eine Ehrung aus Gytheion für einen Arzt aus dem Jahr 73/2 (IG V 1, 1145, 2. 24; s. Samana [2003], 137-141 Nr. 035 [hier Z. 27] und dazu Massar [2001], 181 u. 196f.). Scholz (2000), 110-118, bes. 111, erweckt den Eindruck, als gábe es zahlreiche Belege für diese Junktur. Auch eine Recherche allein nach dem Wort
πεπαιδευμένος ergibt nur vier weitere Bclege: MAMA VIII 418b, Z. 24 (aus Aphrodisias; 127 n.Chr.); LSardis 41", Z. 10 (aus Philadelpheia; kaiserzeitlich); I.Sestos 1, Z. 75 (zwischen 133 und 122) und 1.Cret. I viii 11, Z. 10f. (Dekret der Knossier aus Teos; nach 170). Es ist also zu
konstatieren, daß der Typus des pepaideumenos in den Oberschichten hellenistischer Poleis weit verbreitet war, der Terminus in Dekreten hingegen nicht. ” Zur außergewöhnlichen Bedeutung von ὑπεξάγειν s. Hirschfeld in GIBM IV, p. 99, sowie LSP, s. v. (III) unter Verweis auf diese Textstelle. Vgl. auch Wórrle (1995), 244f., zu den Z. 6-
10. * ?
Vgl. dazu auch Gehrke (2003a), 243 f. Vgl Wörrle (1995), 249, zu diesem Passus; s. auch Scholz (2000), 111 f.
XIV. Iasos
233
Beispiel seiner eigenen Prinzipien gab (Z. 17-19), singulár.'? Es ist selbstverstándlich nicht zu bestreiten, daß sämtliche anderen im psephisma angesprochenen Handlungsweisen und aretai des Melanion mit gángigen Mustern der Imago von Mitgliedern der Polis-Oberschichten seiner Zeit konform gehen. Dies zeigt sich auch in den folgenden Zeilen, in denen Melanion als Musterbeispiel eines polites
dargestellt wird, der arete und kalokagathia besitzt (Z. 32 f.) und ein pepaideumenos ist." Die besondere und gerade nicht topische Hervorhebung von Melanions Affinität zur Philosophie läßt sich nur mit dessen Person respektive individuellen Zügen erkláren,? da auch andere Mitglieder lokaler Oberschichten sich in (spát-)hellenistischer Zeit mit der Philosophie in ihrer Jugend beschäftigten, dies jedoch niemals in der Form wie im Falle des Melanion in Ehreninschriften thematisiert wurde. Für die Polis Iasos war es jedenfalls akzeptabel, diesen besonderen Aspekt in Melanions Leben zu erwähnen und lobend hervorzuheben. Es ist davon auszugehen, daß Melanion mit dem vorliegenden Dekret bereits in sehr jungen Jahren geehrt wurde. Denn außer der ephebarchia werden keine weiteren Ämter und Verdienste um seine patris angeführt.? Geehrt wurde Melanion neben einem Kranz aus Gold mit mehreren eikones, von deren Aufstellungsorten auf Grund der Textverluste nur einer bekannt ist: das Ptolemaion geheißene gymnasion (Z. 34-41).
!0 Vgl. dazu Haake (2004), 478.
!! Zum pepaideumenos s. Scholz (2000), 110-118; zu den epigraphischen Belegen dieses Wortes s. oben S. 232 mit Anm. 6. 2 Anders akzentuieren diesen Punkt Robert (1960c), 586 f. mit Anm. 7, und Wörrle (1995), 249f.
P Vgl. dazu auch Wórrle (1995), 249. - ephebarchoi, Vorsteher der Epheben, sind in kleinasiatischen Poleis besonders in der Kaiserzeit vielfach epigraphisch bezeugt; s. Poland (1909),
89-93 u. 548-630. Ob es sich beim ephebarchos um einen Amtstráger der Polis handelt und inwieweit dieser gegebenenfalls dem gyrnnasiarchos untergeordnet war, ist nicht mit Sicherheit zu bestimmen; vgl. dazu die verschiedenen Positionen bei Poland (1909), 90; Robert (1937), 200, auf der einen und J. Oehler, RE V, 2, 1905, 2735 f., hier 2736, s. v,, auf der anderen Seite.
Zumindest für lasos legt die Tatsache, daß Melanion ephebarchos war, als sein Vater die gymnasiarchia bekleidete (Z. 22-26), die Überlegung nahe, die ephebarchia nicht unabhàngig von der gymnasiarchia zu sehen. - Wichtigen Aufschluß über ephebarchia und ephebarchoi geben Inschriften aus Stuberra (IG X 2, 2, 1, 323-328 u. 331 [1.-3. Jh. n. Chr.]; s. Papazoglou [1988],
248 mit Anm. 46) und epigraphische Funde aus Amphipolis - darunter ein nomos ephebarchikos (BE 1987 Nr. 704 I; SEG XL 522 j) -, die annonciert, jedoch noch nicht publiziert sind; vgl. Ergon 1984 (1985), 21-26, sowie Lazaridis (1990), 253-255. - Der ephebarchos wurde wohl
oft aus dem Kreise der Epheben heraus bestimmt; vgl. Poland (1909), 90. Zu seinen Aufgaben gehörten wahrscheinlich u.a. die Führung der Epheben bei städtischen Festen; s. dazu Wörrle (1988), 116, und Hatzopoulos - Loukopoulou (1996), 364-366. ^ Zu mehrfachen bildlichen Ehrungen in hellenistischen Poleis s. Raeck (1995); als Beispiel verwiesen sei auf Iollas von Sardeis (s. S. 213-215). - Vgl. Robert (1937), 450-454, zu den gym-
nasia in lasos.
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XIV. lasos
Das Ehrendekret für den ephebarchos Melanion weist zwei Auffälligkeiten auf, die dem Geehrten einen individuellen Zug verleihen: die explizite Erwáhnung, daß der Geehrte sich mit philosophischen Lehren in angemessener - also nicht übertriebener - Weise beschäftigte, und die Aussage, daß Melanion sich als Be. spiel seiner eigenen Prinzipien gab. Die im übrigen Melanion zugesprochenen aretai entstammen allesamt dem Normenset der für die Eliten hellenistischer
Poleis gángigen Verhaltensmuster.
XV. Brundisium: Der Epikureer Eukratidas aus Rhodos Aus Brundisium/Brendesion stammt eine zweisprachige Inschrift für einen epikureischen Philosophen aus Rhodos - es handelt sich dabei um das bislang einzig
bekannte epigraphische Zeugnis für einen Philosophen aus Magna Graecia:! Εὐκρατίδας Πεισιδάμου Ῥόδιος,
4
φιλόσοφος Ἐπικούρειος, τὸν τόπον τῆς Βρενδεσίνων βουλῆς εἰς ταφὴν ψηφισαμένης Eucratidas - Pisidami : f(ilius) - Rhodius,
philosophus - Epicurius. 8
l(ocus)- p(ublice) - d(atus) - d(ecreto) - d(ecurionum)
Eukratidas, Sohn des Peidamos, aus Rhodos, epikureischer Philosoph; auf Beschluß des Rates von Brendesion ist dieser Ort zum Begrábnis bestimmt. Die Datierung dieser Inschrift ist auf Grund mangelnder Angaben schwierig; zudem ist der Stein verschollen und der Text nur durch drei Abschriften aus dem 17. Jahrhundert bekannt? Eine Ansetzung der Inschrift - bei aller gebotenen Vorsicht - in das zweite oder erste Jahrhundert erscheint wegen folgender, allerdings schwacher, Indizien nicht unwahrscheinlich: Zum einen genossen in jener Zeit die Philosophenschulen von Rhodos ihr größtes Ansehen; zum anderen herrschte in Brundisium Zweisprachigkeit, und es ist schließlich davon auszugehen, daß in Süditalien ein größeres Interesse an Philosophie bestanden haben muß, das durch die Anwesenheit des rhodischen Epikureers ersichtlich wird.
! 1LS 7780 = Syll? 1227 = CIL IX 48 = IGR I 466; unter IG XIV 674 ist nur der griechische Text gegeben. Vgl. Wesch-Klein (1993), 155. ?
Die Echtheit des lateinischen Textes ist von Mommsen
zunächst angezweifelt worden;
später aber hegte er keine Zweifel mehr; s. Kaibel in IG XIV, p. 182. *
Vgl.B. Puech, DPhA III, 2000, 278, s. v. (E 85). Bringmann (2002), 75, läßt die Beziehung
des Eukratidas zu einer durch Philod. rhet. I col. LIT, Z. 11-19 Sudhaus bezeugten epikureischen Philosophenschule auf Rhodos offen. Mygind (1999), 259 Nr. 18, erachtet die Inschrift für nicht datierbar.
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XV. Brundisium
Die Ursache für die öffentliche Bestattung des Eukratidas läßt sich nicht bestimmen; möglicherweise - so ist vermutet worden - lag sie in seiner öffentlichen Lehrtätigkeit begründet.‘ Jedenfalls hatte sich Eukratidas Verdienste erwor. ben, die es der boule akzeptabel erscheinen ließen, öffentlichen Boden für das
Grab des Epikureers zur Verfügung zu stellen.’ Den Grabstiftern war es Wichtig hervorzuheben, daß der Verstorbene ein epikureischer Philosoph war.
* Vgl Hahn (1989), 143. Auch Bringmann (2002), 75, geht davon aus, daß Eukratidas in
Brundisium lehrte. Dabei ist allerdings zu bedenken, daß aus hellenistischer Zeit bis auf zwei Fälle keine expliziten Ehrungen von Philosophen auf Grund ihrer Lehrtätigkeit bekannt sind (S. 171-174 u. 185-190); ein epikureischer Philosoph als öffentlicher Lehrer ist in den epigraphischen Zeugnissen aus dem Hellenismus allein einmal belegt, námlich in einem Grabepigramm aus Orchomenos (S. 175f.), in dem eine Anhänger der Lehren Epikurs als Wettkampf-
trainer begegnet. Wichtige Ausführungen zu dieser Inschrift hat Wesch-Klein (1993), 73f. u. 121, vorgelegt. * Zur öffentlichen Beisetzung s. die zusammenfassenden Ausführungen von Wesch-Klein (1993), 119-123.
XVI. Delphi Delphi war eines der wichtigen panhellenischen Zentren in der hellenistischen Zeit.' Mehrere Philosophen und mit der Philosophie in Verbindung stehende Personen sind epigraphisch bezeugt: Aristoteles und Kallisthenes, Lykon aus Alexandreia Troas und Menedemos aus Eretria.?
l. Aristoteles, Kallisthenes und ein pinax mit einer Liste der pythionikai In einem amphiktyonischen Dekret, dessen Práskript nicht erhalten ist, wurden Aristoteles und sein Neffe Kallisthenes geehrt, weil sie einen pinax mit einer Liste der Pythioniken erstellt hatten? Da das Práskript fehlt, ist eine genaue ! Zur Geschichte Delphis s. den - allerdings partiell überholten - Überblick von H. Pomtow, RE IV, 2, 1901, 2517-2700, hier 2567-2578, s. v.; vgl. Gauthier (2000) zu den politischen Institutionen Delphis im 2. Jh. Zum Orakel vgl. Rougemont (2001). ? Der Akarnane Laitos aus Stratos ist nicht als Philosoph anzusehen; s. dazu unten S. 307-
309. Der in der Theorodokenliste genannte Philonides aus Laodikeia am Meer ist nicht mit dem epikureischen Philosophen zu identifizieren, sondern mit dessen homonymen Sohn; 2u
diesem und seinem Bruder Dikaiarchos vgl. S. 153. * CIDIV 10; vgl. FD III 1, 400 und Bousquet (1984), 378. Der Text der Z. 1-6 lautet: [. συ]νἐΐταξαν πίνακ[α] τῶν ἀπ᾽ [αἰῶνος νενικηκό[τ]ων τὰ [Πύθια] 4] καὶ τῶν ἐξ ἀρχ[ῆς τὸν ἀγῶνα
karaock[eva] | σάντων, (...) - [...] einen Katalog derjenigen verfaßt haben, die die Pythien gewonnen haben durch alle Zeit, und derjenigen, die von Beginn an den Wettkampf organisiert haben (...). - Dafi es sich bei dieser Inschrift um ein amphiktyonisches Dekret handelt, haben Roux (1979), 58 mit Anm. 5, und Bousquet (1984), 375, betont; vgl. grundsätzlich zu diesem Dekret ders. (1985), Chaniotis (1988), 293-296 E 3; Spoerri (1988) und Pritchett (1996), 28-33. Litera-
rische Belege für die Pythionikenliste des Aristoteles (und Kallisthenes) sind Plut. Sol. 11; Schol. Pind. O. 2,87 u. Hesych., s. v. Βοῦθος. Allerdings ist gemäß der literarischen Tradition Aristoteles der alleinige Autor, über die Verfasserschaft des Kallisthenes verlautet nichts. Daf$ die Darstellung der Geschichte der Pythia, die der Siegerliste vorausging, auch Interessen der Selbst-
darstellung Philipps II. und Alexanders des Großen geschuldet war, läßt sich zwar auf Grund der Materiallage nicht mit Sicherheit sagen, ist aber auf Grund des historischen Kontextes der Entstehung des Werkes - der Dominanz Makedoniens in der Amphiktyonie und Philipps Versuch, auf verschiedenen Ebenen um Akzeptanz in Griechenland zu werben - sowie seiner Verfasser nicht unwahrscheinlich; s. Sánchez (2001), 27. Zu Aufbau und Inhalt der Πυθιονικῶν
ávaypaqr| s. Robertson (1978), 54-60, und Chaniotis (1988), 214 f.; vgl. Miller (1978), 149, zur wahrscheinlichen Darstellung der historischen Vorgánge, die zur Gründung der Pythia führ-
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XVI. Delphi
Datierung des Dekrets nicht möglich.‘ Eine Einordnung zwischen 337 und 327/6 ist allerdings wahrscheinlich.” Die Abfassungszeit des erwähnten pinax beziehungsweise der Zeitpunkt des Auftrags zu seiner Erstellung läßt sich hingegen nicht klar bestimmen. Als gesichert kann angesehen werden, daß die Arbeiten an diesem Werk vor 334/3 gelegen haben, da Kallisthenes sich von da an bis zu seinem Tod im Gefolge Alexanders auf dessen Zug durch Asien befand. Plausibel erscheint darüber hinaus die Annahme, daß der pinax in zeit-
licher Nähe zur Schrift περὶ τοῦ ἱεροῦ πολέμου des Kallisthenes abgefaßt wurde, für die wiederum ein Entstehungsdatum in den 340er Jahren anzunehmen ists Geehrt wurden Aristoteles und Kallisthenes nicht nur mit der Aufzeichnung des Dekrets, sondern auch durch Belobigung und mit einem Kranz;’ dabei han-
ten, sowie auch FGrHist II D, p. 415. Zur Frage des richtigen Titels und des Verhältnisses der
im Werkverzeichnis bei Diog. Laert. 5,26 überlieferten Schriften Πυθιονῖκαι a’, (περὶ) μουσικῆς a’, Πυθιονικῆς a’ und Πυθιονικῶν ἔλεγχοι a’ s. Chaniotis (1988), 215 mit Anm. 478. - Zu Kallisthenes s. Pédech (1984), 15-69; Bosworth (1970), Prandi (1985) u. W. Spoerri, DPhA II, 1994, 183-221, s. v. (C 36).
* Zum Präskript dieses Dekrets s. Syll.? 275,1a-7a; zu berücksichtigen ist allerdings die Variationsbrcite in den Práskripten amphiktyonischer Dekrete; vgl. Rhodes with Lewis (1997), 132. * Der terminus post quem läßt sich mit Sicherheit auf das Frühjahr 337 festlegen, da erst zu diesem Zeitpunkt das Gremium der tamiai eingerichtet wurde; vgl. FD III 5, 47 col. I, Z. 1-21 = CID II 74 col. I, Z. 1-21 = CID IV 9. Zur Einrichtung dieses neuen Kollegiums s. Lefevre (1998b), 257 u. 261-263; Marchetti (1999) u. Sánchez (2001), 144- 147. Bousquet (1988), 97 mit
Anm. 1, plädiert für 334 als terminus post quem; vgl. auch den Überblick bei Spoerri (1988), 116-118 u. 123f. - Der terminus ante quem ergibt sich aus einem Dekret, das in das Jahr des Archon Kaphis datiert (Syll? 252 = ED III 5, 58 = CID 11 97) und in dem die Bezahlung eines
Deinomachos mit zwei Minen für die inschriftliche Veröffentlichung des aristotelisch-kallisthenischen Werkes, der Πυθιονικῶν ἀναγραφή, geregelt wird (Z. 42f.). Zu Zahlungsangaben in delphischen Inschriften s. Keil (1902). Die Bestimmungen zur Bezahlung müssen zwangsläufig nach dem Beschluß des Ehrendekrets angeordnet worden sein, was bedeutet, daß das Amtsjahr des Kaphis den spätestmöglichen Zeitpunkt der Ehrung des Aristoteles und Kallisthenes bildet. Das Archontat des Kaphis wird allgemein in das Jahr 327/6 gesetzt; dieses Datum wurde von de La Coste-Messeliére (1949), 234 mit Anm. 5, 236 u. 244, ctabliert. Die Aufzeichnung selbst dauerte dann möglicherweise bis 324/3, wenn die Ergänzungen in FD III 5, 60 A, Z. 9f. = CID II 99 A, Z. 9f. aus dem Jahre des Archon Charixenos (326/5) und FD III 5, 61, col. I, Z. 36 f. = CID II 102, col. I, Z. 44f. aus dem Jahre des Archon Theon (324/3) und die damit verbundenen Annahmen zutreffen; vgl. dazu Lewis (1958); Bousquet (1984), 375; Chaniotis (1988), 294, und Jacquemin (1999), 183. - Es ist nicht mehr als Spekulation, aus der Bezahlung des Deinomachos etwas über den Umfang der Inschrift folgern zu wollen; so auch Chaniotis (1988), 295;
anders hingegen Moraux (1951), 126. *
Vgl. dazu F. Jacoby, RE X, 2, 1919, 1674-1707, hier 1685f., s.v. (2), und FGrHist II C, p.
414. Zum Werk περὶ τοῦ ἱεροῦ πολέμου (FGrHist 124 T 25 = Cic. ad fam. 5,12,2 u. F ] = Athen. 13,560b-c) s, Prandi (1985), 14-16, sowie Spoerri (1988), 119 mit Anm. 20. ' CIDIV 10, Z. 6-9. Nicht zwingend ist die Annahme von Marek (1984), 211 u. 218, Ari-
stoteles und Kallisthenes zu den delpischen proxenoi zu rechnen; s. auch Chaniotis (1988), 295.
I. Aristoteles und Kallisthenes
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delt es sich zwar nicht um eine unbedeutende, keinesfalls aber um eine herausragende Ehrung.* In der vita Hesychii, auch vita Menagiana genannt, findet sich im index librorum des Aristoteles neben dem Titel noch eine antike Glosse, die besagt, dafs Aristoteles mit diesem Werk eine Arbeit des Menaichmos zum gleichen Thema «besiegb habe.? Diese Notiz, sofern nicht korrupt,? ist der einzige literarische Beleg für diese Schrift, der eine Information über das Werk beinhaltet. Die Richtigkeit dieser Nachricht vorausgesetzt, ist sie allerdings nicht dahingehend zu verstehen, daß es einen regelrecht ausgeschriebenen Agon um die Erstellung der Pythionikenliste gegeben hátte, aus dem Aristoteles als Sieger hervorgegangen wäre;!! vielmehr ist die Passage wohl derart aufzufassen, daß Aristoteles ein älteres Werk eines Menaichmos, wohl des Lokalhistorikers Menaichmos von Sikyon,
übertroffen hátte.? In seiner varia historia überliefert Aelian einen Brief, den Aristoteles an Antipater geschrieben haben soll und in dem der Philosoph mit einem gewissen Gleichmut über den Verlust seiner einst in Delphi empfangenen Ehren berichtet.” Ob dieses Schreiben authentisch ist, läßt sich kaum entscheiden. Unabhängig von der Authentizität des Briefes ist aber der Verlust der Ehren zu sehen, der als historisch angesehen werden kann.'5 Wann dies geschah, ist dem Schreiben nicht zu entnehmen, jedoch wáre ein derartiges Vorkommnis plausibel im Kontext der Geschehnisse nach dem Tod Alexanders des Großen verortbar,'^ als
* Vgl. dazu den Überblick zu den Ehrungen von commes de lettre» von Bouvier (1985), 128 tabl. HI. Zu den Ehren in Delphi s. auch Habicht (2002), 21-27.
? Vit. Hesych. 123 Düring = vit. Hesych. Nr. 123 Gigon = FGrHist 131 T 3: Πυθιονίκας βιβλίον a’, £v ᾧ Mévatypov ἐνίκησεν. 1 ! 4? s. R.
Vgl. Chaniotis (1988), 296. So z.B. Brinkmann (1915), 627, und Moraux (1951), 201; s. Bousquet (1988), 98. Vgl. Diels (1901), 79 mit Anm. 1, und Chaniotis (1988), 296; zu Menaichmos von Sikyon Laqueur, RE XV, 1, 1931, 698f., s.v. (1).
" Ail. var. 14,1 = Aristot. frg. 666 Rose! = Aristot. frg. 414 Appendix B Gigon; vgl. auch Düring (1957), 401; Meissner (1992), 55 u. 116 mit Anm. 215, sowie allgemein Plezia (1951). ^ Zur Frage der Authentizität s. Düring (1957), 339f. u. 401; vgl. auch Haake (2006b), 343
mit Anm. 74. Antike Autoren waren jedenfalls davon überzeugt, daß Aristoteles Antipater Briefe sandte (Diog. Laert. 5,27). 5 Es wird in dem Brief nicht spezifiziert, was für Ehren Aristoteles aberkannt wurden; ob
sich dahinter nur die epigraphisch bezeugten Ehren verbergen oder noch weitere, unbekannte Vorrechte, ist der Stelle nicht zu entnehmen.
!5 Die gegen Alexander eingestellte öffentliche Meinung entlud sich nach dessen Tod an verschiedenen Orten in Griechenland und traf auch Personen aus seinem Umfeld - gerade Aristo-
teles war durch seine allseits bekannten Verbindungen zum Makedonenkönig als Zielscheibe prädestiniert, wie seine Flucht aus Athen nach Chalkis nach Bekanntwerden des Todes Alexanders illustriert; s. oben S. 59 f. u. Haake (2006b), 344 f. Sollte es zutreffen, daß der pinax noch
240
XVI. Delphi
ein weitverzweigtes Bündnissystem, dem auch die Phoker und Athen angehör. ten, die Griechen gegen Makedonien einte." Innerhalb der Gesamtbetrachtung von Ehrungen für Philosophen in Delphi ist diesem Dekret keine größere Bedeutung zuzubilligen, da es nicht im Zusam. menhang mit einer philosophischen Tätigkeit oder aber mit den Geehrten in ihrer Eigenschaft als Philosophen steht: Aristoteles und Kallisthenes wurden für eine gelehrte, genauer gesagt «historische Arbeit geehrt, die nicht in Verbindung zur Philosophie stand, sondern eine auf das Heiligtum bezogene Leistung darstellte.
2. Lykon aus Alexandreia Troas Bereits im Rahmen der Untersuchungen zu Athen wurde der langjáhrige peripatetische Scholarch Lykon aus Alexandreia Troas behandelt, der im Jahre 248/7 an
einer epidosis zur Rettung der Polis und zum Schutz der chora partizipierte.'® Aus der Zeit der aitolischen Vorherrschaft über Delphi stammt ein amphiktyonisches Ehrendekret, in dem Lykon, der Sohn des Astyanax, aus Alexandreia Troas auf Grund seiner erwiesenen eunoia und philotimia gegenüber dem Gott, dem Heiligtum in Delphi und dem Koinon der Amphiktyonen mit einem Lorbeerkranz ausgezeichnet wird. Die Amphiktyonen sprachen ihm außerdem prodikia, asylia im Krieg und im Frieden, asphaleia, ateleia und proedria bei allen Agonen,
die sie ausrichten, zu.'? Das Dekret läßt sich recht präzise datieren:
in besonderer Weise makedonische Geschichtsvorstellungen hinsichtlich des Zweiten Heili-
gen Krieges transportierte, wáre ein antiaristotelischer Akt um so besser vorstellbar. Marchetti (1977), 158f., hat darauf verwiesen, daß in Delphi bereits 324/3 antimakedonische Ressenti-
ments zu Tage traten; dennoch erscheint es unwahrscheinlich, die Aberkennung der Ehren des Aristoteles bereits zu diesem Zeitpunkt anzunehmen. " Vgl. dazu StV III 413; auf ein Einzelbündnis zwischen Athen und Phokis deutet möglicherweise IG II? 367 hin. Zum historischen Kontext s. Habicht (1997a), 36f., und McInerny (1999), 237; zu IG II? 367 vgl. Oikonomides (1982).
I^ Vgl. oben S. 82-89. CID IV 63 -- FD III 3, 167 = Syll? 461; hier wiedergegeben wird CID IV 63, Z. 5-8: (...) ἐπειδὴ Λύκων Aatvávax[roc Ἀλεξανδρεὺς [ἐ]ξ Αἰολίδος πᾶσαν εὔνοιαν kal φι[λοτιμίαν ἔχων διατε | Ae]ti πρός τε τὸν θεὸν καὶ τὸ ἱερὸν τὸ ἐν Δελφοῖς καὶ τὸ κοινὸν τῶ]ν Ἀμφικτυόνων, (...) - €...) weil Lykon, Sohn des Astyanax, aus Alexandreia in der Aiolis fortwährend ganzes
Wohlwollen und Eifer zeigt gegenüber dem Gott und dem Heiligtum in Delphi und dem Bund der Amphiktyonen (...). - Während Jardé (1902), 262 Nr. 12, in der editio princeps den in Z.
4f. genannten Lykon nicht mit dem homonymen Scholarchen des Peripatos in Verbindung brachte, schlugen Pomtow (1913), 168-170, und Bourguet (FD Ill 1, p. 1426) unabhängig voneinander diese Identifizierung vor. Ob in Z. 5f. wie zitiert oder aber Ἀστνάνακίτος Tpàx; Ἀλεξανδρεύς] zu ergänzen ist, ist umstritten. Letztere Variante wurde von Pomtow (1913),
2. Lykon
24]
Wurde es lange in den Zeitraum zwischen 249,8 und 240/239 gesetzt,? so ist mittlerweile das Jahr 240/39 oder 239/8 etabliert worden.?!
Über die Gründe für die Ehrung Lykons lassen sich keine Aussagen treffen, da dem «epigraphic habit delphischer Ehreninschriften entsprechend die Verdienste nicht näher spezifiziert und allein die Bezugspunkte benannt wurden, denen gegenüber die Leistungen erbracht wurden, nämlich Apollon selbst, das Heiligtum in Delphi und die Amphiktyonen. Es muß deswegen hypothetisch bleiben, den Grund für Lykons Ehrung in einem óffentlichen Vortrag im Rahmen eines delphischen Festes, also der Pythien oder Soterien, zu sehen.? In jedem Fall wurde die Verbindung Lykons zur Philosophie im Rahmen der Ehrung nicht expliziert.
169, vertreten und findet sich auch in FD III 3, 167; für die erste Variante plädierte Ricl in
LAlexandreia Troas T 169. Eine Entscheidung hinsichtlich des Ethnikons zu Alexandreia Troas kann nicht getroffen werden, da verschiedene Varianten bezeugt sind; s. Robert (1951), 96f., u. (1966b), 38 mit Anm. 1. - Einc Analyse der Lykon zugesprochenen Vorrechte bietet Lefévre (1998b), 234 f., vor dem Hintergrund des delphischen Gesamtbefundes.
? Vgl. zu den älteren Datierungsansätzen Pomtow (1915), 308, und Flaceliere (1929), 449450 Nr. 30.
2! Zu diesem überzeugenden Schluß gelangt Lefévre (1995), 194 Nr. 63, im Rahmen seiner umfassenden Erörterung der delphischen Chronologie des 3. Jh.s gemäß der «actes amphictioniques; vgl. auch Lefévre (19982), 178. Sein Ergebnis stimmt überein mit der Hypothese von Walbank (1988), 329 mit Anm. 1. ? Zuerst hat Flaceliére (1937), 260, sich dahingehend geäußert; ihm folgten Marek (1984), 212; Bouvier (1985), 122, und Sonnabend (1996), 274. Zu Recht mahnt Scholz (1998), 192
mit Anm. 26, hier Skepsis an. Zwei Indizien kónnten für die Annahme eines óffentlichen Vortrags bei den Pythien oder Soterien angeführt werden: Der Wechsel in den Z. 8-13 zwischen hieromnemones und Amphiktyonen ist problematisch; s. CID IV, p. 179 und Lefévre (1998b), 189 mit Anm. 133 u. 209 mit Anm. 216. Möglicherweise deutet diese Alternierung auf ein psephisma, das in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit einem der Feste beschlossen wurde; vgl. CID IV, p. 179. Das zweite Indiz ist das Privileg der proedria, das - wenn nicht an die hieromnemones - nur äußerst selten und dann möglicherweise allein an Personen, die in die Organisation der Pythien oder Soterien involviert waren, verliehen wurde; vgl. dazu Lefévre (1998b), 234. Mehr als eine Hypothese kónnen diese Überlegungen aber nicht darstellen. Óffentliche Vortráge von Philosophen sind im Hellenismus epigraphisch kaum bezeugt, literarisch hingegen häufig; als Beispiele scien die öffentlichen Auftritte von Stilpon (Diog. Laert. 2,119) und Arkesilaos (Timon frg. 34 di Marco = Diog. Laert. 4,42) genannt. Anders gestaltet sich dieser Befund für Historiker (s. Chaniotis [1988], 365-377), Dichter (Guarducci [192729], 631-640), Elementarlehrer (Menandros, Sohn des Daidalos, Akarnane aus Thyrreion: FD ΠῚ 3, 338 [frühes 1. Jh.]; vgl. Agusta-Boularot [1994], 690f. Nr. 31) und Árzte (Asklepiades,
Sohn des Myron, aus Perge: 1.Perge I 12 [2. Jh.] - Ehrung durch Perge und das pamphylische Seleukeia oder Seleukeia am Kalykadnos; s. Samana [2003], 439-442 Nr. 341, u. Massar [2005], 38, 66 f., 147 u. 194 £.): Für diese Berufe sind vielfach Auftritte vor einem öffentlichen Publikum
epigraphisch bezeugt.
242
XVI. Delphi 3. Menedemos als hieromnemon von Eretria
Über die Biographie des Menedemos und seine Involvierung in das óffentliche Leben seiner patris Eretria ist bereits ausführlich gehandelt worden.? Die fo]. genden Ausführungen beschránken sich auf die Prásenz des Philosophen in epi. graphischen Zeugnissen aus Delphi: Sechs Inschriften werden - teils sicher, teils sehr hypothetisch - auf Menedemos bezogen. In das Archontat des Herakleides, für das sich in der Forschung das Jahr 274/3 etabliert hat, datieren zwei amphiktyonische Dekrete, in denen Menedemos als hieromnemon
seiner Heimatpolis
Eretria
angeführt wird.
Beide
Inschriften
sagen jedoch nichts über Menedemos’ Ansehen in Delphi aus, sondern ermöglichen allein eine Aussage über seine Stellung in seiner patris: Da die hieromnemones von ihren jeweiligen Poleis oder Ethne in den Amphiktyonenrat bestellt wurden, ist ihre Erwähnung in Delphi die Konsequenz der Wahl der sie entsendenden politischen Gemeinschaften. Zwar sind die genauen Modi und Kriterien der Auswahl nicht bekannt, doch steht ein hohes Sozialprestige als wesentliches Qualifikationskriterium zu vermuten.?6
In Zusammenhang mit Menedemos' Ausübung des hieromnemon-«Amtes; steht das Fragment einer Inschrift, die in das Jahr des Archon Athambos datiert, mithin in die frühen sechziger Jahre gehórt:? Menedemos wird mit Theokritos,
der auch hieromnemon von Eretria gewesen war,? im Kontext einer rechtlichen Angelegenheit erwähnt, deren genauer Gegenstand auf Grund des Erhaltungszustandes der Inschrift nicht mehr zu eruieren ist.” Auch diese Inschrift verweist auf Menedemos' Stellung in Eretria zurück; sie zeigt zugleich aber auch, ? Vgl. oben S. 177-181. * Nur en passant erwähnt Sonnabend (1996), 299 mit Anm. 302 u. 302, die Tatsache, daß
Menedemos als hieromnemon in Delphi bezeugt ist; keine Berücksichtigung findet dieser epigraphische Befund bei Scholz (1998) und Thrams (2001).
5 CIDII 124, Z. 4 u. 20, Z. 5. Zur Datierung des Archon Herakleides s. Daux (1943), 34 G6; vgl. auch Lefévre (1995), 171. 16 Vgl. Roux (1979), 20. Zu den hieromnemones s. oben S. 180.
? CID II 129 B. Die Ansetzung des Archontats des Athambos schwankt in der Forschung zwischen 270/69 oder 269/8 (vgl. Lefévre [1995], 175, u. (1998b], 61, sowie Sánchez [2001], 524), 269/8? (so Daux [1943], 35 G11) bzw. 269/8 oder 268/7 (so Beloch [1927], 395). Nach
Knoepfler in Eretria XI, p. 405, ist das Datum 269/8 wahrscheinlich; vgl. Bousquet in CID II, P. 271.
?* Theokritos war im Archontat des Charixenos - also 277/6 oder 276/5 (vgl. Lefevre [1995], 170) bzw. 276/5 oder 275/4 (s. Sánchez [2001], 524) -- hieromnemon; vgl. CID IV 15, Z. 4. ? Vgl. CID II 129 B, Ζ. 3; s. den Hinweis von Bousquet (1956), 25 mit Anm. 2. Zur Klä-
rung des inhaltlichen Sachverhaltes vgl. Knoepfler (1995), 143, u. ders. in Eretria XI, p. 405; Lefévre (1998b), 61, und Sánchez (2001), 317 u. 507. Die von Pomtow (1921), 190 Nr. 21 zu
Text Nr. 179a im Rahmen seiner Edition vorgelegte Interpretation ist nicht zutreffend.
3. Menedemos
243
daß Menedemos in Delphi in einem gewissen Ansehen gestanden haben muß, da er sonst wohl nicht im Rahmen eines Prozesses als gewesener hieromnemon
agiert hätte. Betrachtet man die drei stark beschädigten Inschriften, die im folgenden zu diskutieren sind, so ist vorab festzustellen, daß in keiner der Name Menedemos
erhalten ist. In einem ersten Schritt ist also zu klären, ob die in der Forschung wiederholt diskutierte Verbindung mit Menedemos überhaupt zutreffend ist. Ausgangspunkt der Überlegungen ist ein Puzzle aus sieben Fragmenten, deren grundsätzliche Anordnung seit gut einem halben Jahrhundert geklärt,” deren Ausdeutung jedoch nicht in allen Einzelheiten gesichert ist. Fünf der Fragmente geben Teile eines brachygraphischen Systems wieder?' Besonderes Interesse verdienen jedoch die beiden weiteren, übereinander anzuordnenden Bruchstücke, die an eines der fünf zuerst angeführten Fragmente anpassen. Der obere Stein beinhaltet ein aus zwei Distichen bestehendes Epigramm sowie die drei ersten Zeilen eines Dekrets aus dem Jahr des Archon Charixenos, also 276/5 oder 275/4,? wäh-
rend sich auf dem unteren Bruchstück weitere fünf Zeilen des Dekrets befinden. Der Text des nicht vollständig erhaltenen Epigrammes lautet:? Ἦ πολὺ κ[αλ]λίστωι σε θεαί, M[zs--—— δώρωι ΠΙιερ]ίδες παρθένοι εἰὑπλόκαμοι),
4
αἵπερ σοι [τό]δε μούνωι ἐπιχθονίων ἀνθρώπων] ὦπασα!ν] ἐξευρεῖν πείρατα πά[ντα τέχνης].
Wahrlich, M[----], vielfach (belohnten) dich mit dem schönsten Geschenk die Göt-
tinnen, die schöngelockten jungfráulichen Musen, die dir allein von den auf Erden weilenden Menschen dies schenkten: zu erfinden die (?)vollendetsten Schópfungen der Kunst.
* Grundlegend ist Bousquet (1956).
* Die beiden ersten Bruchstücke (inv. 1637 u. 933) publizierte Tannery (1896); Bourguet gelang es in FD III 1, 558, der Inschrift ein weiteres Bruchstück (inv. 5095) hinzuzufügen, und Flaceliere (1930), 401-403, ergänzte cin weiteres Fragment (inv. 5768). Schließlich konnte Bousquet (1956) durch das Auffinden von drei weiteren Bruchstücken (inv. 4883, 6323 u. 2513)
ein «parlielles Ganzes» rekonstruieren, das seither keine weiteren Ergänzungen mehr erfahren hat. Vgl. Bousquet (1956), 20-22 u. 30, mit einer Beschreibung der Anordnung der Fragmente und einer Zeichnung, die die Ergebnisse verdeutlicht (fig. 1). - Bereits Tannery (1896), 427,
erkannte, daß die beiden von ihm publizierten Fragmente zu einem brachygraphischen System gehörten. Zu Brachygraphie, die der Platzersparnis, und Tachygraphie, die der Zeitersparnis dient, als Unterarten der Stenographie s. Birt (1930); vgl. grundlegend zum delphischen System Boge (1969), 96-98, u. (1974), 34-38.
2 Vgl. dazu CID IV, p. 26; Sánchez (2001), 524, spricht sich für 277/76 oder 276/75 aus. ? Der hier wiedergegebene Text folgt SEG XV 336. Er wurde erstmalig von Bousquet (1956), 23, publiziert; vgl. BE 1958, Nr. 261.
244
XVI. Delphi
Die wichtigste Information bleibt dem Leser auf Grund von Lücken verschlos-
sen - so steht lediglich fest, daß der Name der in Z. 1 angesprochenen Person mit einem M beginnt. Aus dem Metrum ergibt sich für den Schluß von Z. 1 folgen. des: M[z«--—--»]. Vorgaben für das zu ergänzende Verbum bestehen einerseits auf Grund des Akkusativs oe (Z. 1) und des Dativs δώρωι (Z. 2) sowie andererseits durch den inhaltlichen Kontext, der ein Verb aus dem Wortfeld ehren»,
«rühmen» «belohnen» bedingt. Bousquet hat überzeugend dargelegt, daß am Ende von Z. 1 entweder M[»—-, £yépnpav] oder aber M[-—--, γέρηραν] zu ergänzen ist, wobei die Aoristform wahrscheinlicher als die Imperfektform ist. Daf? nun ausgerechnet Menedemos zur Ergánzung in Erwágung gezogen wird - es also
M[evéónpe, yépnpav] lauten würde -, ist zwar eine verlockende These, jedoch nicht zwingend zu belegen.” Denn die Tatsache, daß Menedemos als hieromnemon in Delphi weilte und gemäß der Darstellung des Diogenes Laertios, in der allerdings ausgerechnet die Erfindung eines brachygraphischen Systems keine Erwähnung findet, ein rechtes Multitalent war, kann nicht als hinreichende Stütze der Hypothese dienen. Der stark zerstörte Text des erwähnten Dekrets, das unmittelbar im Anschluß an das Epigramm geschrieben ist, legt zwar nahe, daß er in Beziehung zum brachygraphischen System zu sehen ist; aber er läßt mehr Fragen offen als er beantwortet - so vor allem die nach dem Geehrten (CID IV 17). Daß dieses Dekret aus
dem Jahr des Archon Charixenos auf das darüber befindliche Epigramm und die darin gefeierte Tat zu beziehen ist, indiziert das Wort πραγματενθείς in Z. 2. Aber nur unter der Prämisse, daß im Epigramm in Z. 1 Menedemos zu ergänzen ist,
kann dieses Dekret auch als Ehrung für diesen aufgefaßt werden. Neben den bislang diskutierten Inschriften ist noch ein weiteres epigraphisches Zeugnis im Zusammenhang mit Menedemos zu diskutieren - doch auch dieser Fall ist nicht eindeutig, da der Name des Geehrten ebenso wie andere Teile der Inschrift nicht erhalten ist (CID IV 18). Z. 3 läßt sich entnehmen, daß der
Geehrte aus Eretria stammte und geehrt wurde, weil er ein ἀγαθῶν εὑρετὴς τῶι θεῶι καὶ τοῖς Ἕλλησιν war; diese Aussage bleibt aber hinsichtlich ihres konkreten Inhaltes unklar. Rätselhaft ist auch, wie Z. 4 aufzufassen ist.” Obwohl der Name des Archons nicht gesichert ist, ist das Dekret auf Grund der hieromnemones in
* Vgl.nach ausführlicher Diskussion Bousquet (1956) 24f.: «A supposer que cette construction soit exacte, on pourrait étre tenté de retrouver le nom commengant M dans delui de Ménédémos d'Érétrie, Μ[ενέδημε, yépnpav].» * So die Argumentation von Bousquet (1956), 25, der sich dafür allgemein auf die bei Diogenes Laerlios überlieferte Biographie des Menedemos beruft (Diog. Laert. 2,125-144). ® CID IV 18, Z. 4: [γενόμενος ..*9..]IAX καὶ τὴν ὁδὸν κεκόμικετῶι θεῶι [κ]αὶ [- -]. Vgl. Pomtow (1915), 286 mit Anm. 1, und Lefévre in CID IV, p. 98.
3. Menedemos
die Jahre 278/7, 276/5 oder 275/4 Menedemos sein kónnte, gründet Neudatierung der Inschrift in das war, stellte Pomtow die These auf,
245
zu datieren.”” Daß der unbekannte Wohltäter auf folgender Überlegung: Auf der Basis seiner Jahr 275/4, in dem Menedemos hieromnemon Menedemos sei wegen seiner bei den Pythien
dieses Jahres erworbenen Verdienste geehrt worden. Im Zusammenhang
mit
der Neuorganisation der Fragmente griff Bousquet den Gedanken auf, daß es sich bei dem anonymen Eretrier und Erfinder um Menedemos handeln kónnte.
Jedoch zog er einen anderen Grund in Erwägung: Vermittels einer suggestiven Frage stellte er die These auf, daß das vorgeblich von Menedemos erfundene brachygraphische System móglicherweise auch das Motiv für dieses Dekret gewesen sein könnte. Betrachtet man die zuletzt besprochenen Texte, so ist mit zu vielen Variablen und Prämissen zu operieren, um in Menedemos mit Sicherheit den Erfinder eines brachygraphischen Systems zu sehen, auf den das Epigramm und die beiden Dekrete zu beziehen wären, auch wenn dies nicht ausgeschlossen werden kann. Für Menedemos ergibt sich also, daß er mit Sicherheit zweimal in seiner Funktion als hieromnemon und ein weiteres Mal als ehemaliger hieromnemon in einem nicht genauer zu klärenden rechtlichen Kontext in Delphi epigraphisch bezeugt ist. Dieser Befund verweist auf eine spezifische Wahrnehmung und Stellung des Menedemos in Delphi und in der Amphiktyonie: Die beiden ersten Zeugnisse sind nämlich allein seiner Position in seiner patris geschuldet und in keiner Weise von dieser autonom zu verstehen; das dritte Zeugnis verweist darauf, daß Menedemos als ehemaliger hieromnemon in Delphi Ansehen genoß. Zu Delphi liegen aus hellenistischer Zeit für drei Personen, die mit der Philosophie in enger Verbindung standen, epigraphische Zeugnisse vor - nàmlich für Aristoteles und seinen Neffen Kallisthenes, für Lykon aus Alexandreia Troas und Menedemos aus Eretria. Keiner von ihnen wurde in den Dekreten als Philosoph ? Der Name des Archon muß entweder Pra-ochos oder aber Syl-ochos lauten. Vgl. zu dessen Datierung die Diskussion von Lefévre (1995), 171 u. 180-185, sowie Sánchez (2001), 524. Daux (1943), 35 G13, datierte die Inschrift noch in das Jahr 267/6(?); s. auch Bousquet (1938). Knoepfler (1995), 157, datierte das fragliche Archontat in das Jahr 275/4. ** Vgl. Pomtow (1921), 190 Nr. 21. Ders. (1915), 285f., war bereits davon ausgegegangen,
dafi die geehrte Person sich Verdienste im Zusammenhang mit den Pythien erworben hatte. Pomtow erwähnt in diesem Zusammenhang auch Diog. Laert. 2,136 = Antig. Karyst. frg. 25 Dorandi; s. dazu Knoepfler (1991), 191 mit Anm. 53. » Vgl. Bousquet (1956), 32. Zustimmung fand er bei Picard (1957), 90f.; Roux (1966), 4f.; Boge (1969), 98, u. (1974), 39; Knoepfler (1991), 189f. mit Anm. 51, und Lefevre (1998b), 61 mit Anm. 266; s. auch BE 1958 Nr 261; Bouvier (1985), 126, und Sánchez (2001), 310 mit Anm. 210. Zweifelnder hinsichtlich einer Verfasserschaft des Menedemos ist Chaniotis (1988), 283;
ebenso vertreten Marek (1984), 211, und Dóring (1994), 204, eine skeptische Haltung.
246
XVI. Delphi
bezeichnet, und die Texte enthalten keinerlei Indizien, die auf die Verbindung dieser Männer zur Philosophie hindeuteten. Dies läßt sich auf den Umstand zurückführen, daß das Formular delphischer Ehrendekrete meist nur in sehr
unspezifischer Weise Verdienste als eunoia charakterisierte. Ehrungen standen im hellenistischen Delphi stets im direkten Zusammenhang mit der Polis, der Amphiktyonie und dem Heiligtum gegenüber erbrachten Leistungen - und zu diesen zählte Philosophie nicht. Verdeutlichen läßt sich dies an der Ehrung des Aristoteles, in der allein sein Verdienst hinsichtlich des pinax über die Pythio.
niken thematisiert wird. Und wenn zutreffen sollte, daß das besprochene Epigramm und die beiden erwähnten Inschriften auf Menedemos zu beziehen sind, dann wäre auch der Eretrier wegen einer intellektuellen Leistung, der Erfindung
eines brachygraphischen Systems, geehrt worden. Wenn gelehrte Aktivitäten für das Heiligtum von Nutzen waren und sein Prestige steigerten, dann konnten derartige Leistungen durchaus in Delphi geehrt werden - dies zeigt die große Zahl von Sulla Damaskios: Damatrios: Damatrios: Damatrios,
308? 627? 305 f. Sohn des Arideikes: 197 f.!*, 306
Damon Lamptreus: 298 f. Daphidas von Telmessos: 2695 Deinarchos von Korinth: 19, 43 Deinomachos: 2385 Demades: 27, 63 f. Demeas: 118*9 Demetrios Poliorketes: 16-19, 25f., 35, 66, 77,91 £?2, 1141, 178, 181, 195
35f., 41-43, 60-82, 91 55, 2197, 271
Demetrios, Sohn des Phanostratos, von Phaleron (Minor): 73f., 76
Demetrios, Sohn des Philon, aus Ptelea: 287 Demetrios Lakon: 148% Demetrios von Magnesia: 4714, 62210 Demochares: 18, 20f., 28, 30, 32, 34-41, 43, 60f., 792, 81, 167
Demokrit von Abdera: 95?% Demophanes: 302-304 Demosthenes: 18, 27, 30, 32, 38, 612%, 63, 682», 82294, 95
Demoteles, Sohn des Aischylos, aus Andros: 25055, 252 Diaphanes aus Temnos: 209-211, 281
Diaphenes, Sohn des Polles, aus Temnos: 209-211, 281
Dikaiarchos, Bruder des Philonides Maior: 157
Dikaiarchos, Sohn des Philonides Maior: 149-153, 157 f., 237?
Dikaiarchos, Sohn des Philonides, aus Narthakion: 1494} Dikaiokles von Knidos: 345) Diodor: 6929 Diodoros Pasparos: 121°, 262 f? Diodoros der Perieget: 1265?! Diodoros, Sohn des Thargelion, aus lasos: 231: Diogenes: 66 f.» Diogenes Laertios: 3-5, 20-22, 28-30, 38, 47, 62210, 66 f., 70-72, 79, 83-86, 96°°°, 104, 106°®, 118-122, 124-129, 131, 146, 167, 177, 179-181, 197, 244?5, 255, 289, 301, 308”
Diogenes von Babylon: 47, 106, 108, 110, 115, 11755, 144, 201 f., 219°, 258, 289-292
Diogenes von Seleukeia: 20 f.?' Diogenes von Sinope: 2
Diokles von Magnesia: 301 Diomedon: 86 f.?'5 Dion: 313
Dion aus Paiania: 123 Dion aus Ephesos: 312f.
Dermetrios I.: 148f., 155-157
Dion von Prusa: 313
Demetrios II.: 92, 135
Dion von Syrakus: 34, 255 Dionysios: 199 Dionysios der kathegetes: 247°, 253”,
Demetrios: 63 [21 Demetrios (Sohn des Phanostratos) von Phaleron (Maior): 2, 8£.”, 17-19, 27f., 32,
309-312
378
XXIII. Indices
Dionysios, Sohn des -, aus Athen: 2532», 309, 312 Dionysios von Lamptrai: 310f.
Euphorion: 89 Euphraios von Oreos: 33, 34”
Dionysios der Ältere: 612%
Eupolemos: 77 Eupolemos: 139 £.°%
Dionysios der Jüngere: 61?”
Euporia, Tochter des Thespis, Frau des
Dionysiphanes, Vater des Praxiphanes von
Aristomenes aus Laodikeia: 300 Euripides: 170 Eurydike: 66.1.25 Eurykleides: 112f. Eurypylos: 34?! Eusebius von Caesarea: 37, 307 f. Eutokios von Askalon: 1549*, 155 Euxenides, Sohn des Eupolis, aus Phaselis: 182° Favorin von Arelate: 62?! Flamininus: 1355* T. Flavius Alexandros aus Hypata: 311° Flavius Iosephus: 308”
Mytilene: 249" Dionysodoros von Kaunos: 154, 298^ Dionysophanes, Vater des Praxiphanes von Mytilene: 249 Diophanes von Megalopolis: 304” Drakon: 80 £.2 Duris von Samos: 612%, 6824 Echekrates: 48'°! Ekdelos: 302”, 304 Ekdemos: 302-304 Epikomos, Vater des Karneades von Kyrene: 106°”
Epikrates: 186 f.? Epikrates, Sohn des Demetrios, aus Hera-
Gaius: 30f. Gallus: 58 f.
kleia: 172, 185-190, 194, 263", 280, 3121" Epikteta aus Thera: 196? Epikur: 3, 42, 54, 892, 146 f., 157, 159, 163, 165f., 175 f., 19115, 193, 208, 228f., 263, 283f.9, 296 f.5*, 299, 301, 310f.
L. Gellius Poplicola: 160
Epiphanios Ergochares: Euaion von Euandridas,
von Salamis: 248 90 Lampsakos: 34 f., 40 Sohn des Hestiaios, aus Milet:
227: Euandros aus Phokaia: 99-104, 11295, 115, 278 Euboulides (I), Sohn des Eucheir (I), aus Athen: 12955, 258
Euchares, Sohn des Euchares, aus Konthyle: 18 Eucheir (II), Sohn des Euboulides (I), aus
Athen: 257-259 Eudamos von Megalopolis: 302-304 Eudemos: 154f., 298? Eudemos: 198! Eudemos von Milet: 189: Eudemos von Rhodos: 198" Eukrates: 63, 97 f.5* Eukratidas, Sohn des Peidamos, aus Rhodos: 235f. Eumachos: 114** Eumenes I.: 85 Eumenes lI.: 100555, 112125, 1892, 201, 269%
Gelon von Akragas: 617? Georgios Synkellos: 80 f.?*! Gorgias von Leontinoi: 255 Gorgos Sphettios: 291 Gorgos Lakedaimonios: 291 C. Gracchus: 291 Grammatikos: 319 Hagnonides: 21° Harmodios: 17
Harpalos: 62 Harpokration: 682 Hedeia: 16779, 294-296
Hegesinos von Pergamon: 102-104, 11295 Herakleides: 15595 Herakleides: 180 f. Herakleides: 242 Herakleides: 298 f. Herakleides Kritikos: 14f., 169 Herakleides Lembos: 4212, 66 f.?*», 722°%, 177179, 181
Herakleides Pontikos: 186? Herakleitos: 48:52 Herakles: 612% Heraklit: 208° Hermarch: 147%, 191'5, 310
Hermippos von Smyrna: 3f., 37, 66 £.2°°, 7225, 83, 85, 177, 180f.
2. Namen
Hermogenes: 297”
379
Kallisthenes: 612%, 237 f., 240, 245
Herodot: 23, 255
Kaphis: 2385
Heron: 154°®
Karneades von Kyrene: 47'*, 106-117, 130,
Hestiaios, Sohn des Menandros, aus Milet: 227£. Hieron, Sohn des Telekles, aus Aigeira: 1072? Hieronymos: 306'?
Hieronymos von Rhodos: 8 f.*5, 195*, 198", 305-307 Hieronymos, Sohn des Simylinos, aus Tlos: 204**, 305-307 Hieronymus: 315!? Himeraios: 59, 62 f. Hippias: 78 Hippokrates: 161
Hippon, Sohn des Kratistoleos, aus Xypetaion: 122f. Horaz: 265
Hypereides: 27, 63 Hypsikrates: 308
15595, 219°, 258, 278, 288, 290, 292
Karneades aus Trinemeia: 117*55
Karystios von Pergamon: 20 f.?”, 617», 65223 Kassander: 17 f., 42, 61, 64-66, 73-78, 82
Kleanthes von Assos: 118, 129 Klearchos: 283*! Klearchos von Soloi: 283*! Kleoboulos von Lindos: 80 Kleomenes: 89
Kleopatra: 2! Kletonymos, Sohn des Mnastokles, aus Lato pros Kamara: 23°? Kotys: 301 Krateros: 63
Krates von Mallos: 144, 201 Krates von Theben: 6651, 114**', 127 Kratippos von Pergamon: 262, 264-269 Kritolaos von Phaselis: 106, 108, 110, 115, 11755, 255-259, 282
Iamblichos: 308” Iason von Nysa: 205
Laitos: 307-309
Ibn Abi Usaybi'a: 56-58, 602%, 167, 169
Laitos aus Stratos: 2372, 307-309
Idomeneus: 2965 Iolaos: 154 Iollas aus Sardeis: 213, 215 Iollas, Sohn des Iollas, aus Sardeis: 213-215, 23314, 2699 Iollas, Sohn des Metrodoros, aus Sardeis:
Lakydes: 101°%, 102”*, 104, 112%°, 269 f.*
1935, 214£.
Iphitos: 2555 Isokrates: 23 f.*, 39, 7175», 95, 170?'*, 190 (,, 255, 283"
Isokrates: 311°
C. Iulius Amynias, genannt Isokrates > Amynias C. Iulius > Caesar
Iulius Pythagoras: 318
Lamprias, Sohn des Lamprias, aus Thorai: 137 Lenaios: 16159
Leonidas, Sohn des Skythinos, aus Chytroi: 207*
Leonides von Rhodos: 198", 248 Leonteus: 295 Lucius Verus: 268 Q. Lutatius Catulus: 1089?
Lydiadas, Sohn des Eudamos, von Megalopolis: 303 f. Lykon, Sohn des Astyanax, aus Alexandreia Troas: 3, 8f.?*, 10%, 11**, 82-89, 120, 168, 188 £.?, 237, 240 f., 245, 250'°, 274, 278, 280
M. Iunius 9 Brutus
Lykurg: 18, 81, 1263»
Johannes Eugenikos: 315!"
Lykurg von Sparta: 2555 Lynkeus von Samos: 682 Lysiades, Sohn des Agathokles, aus Bereniki-
Julian: 58 f.
dai: 141f., 161, 202, 294
Kallias von Sphettos; 995! Kallikratides: 51!5* Kallimachos: 87 f.?*, 249
Lysiades, Sohn des Phaidros, aus Berenikidai: 161, 164f. Lysias: 23 f.'^, 79265, 255
Kallipos von Athen: 33 f.
Lysimachos: 20 f.?', 178, 217', 283.
380
XXIII. Indices
Mammarion: 167”, 294-296
Mithridates VI.: 272
Mammaron: 295
Mnasagoras: 289, 291
L. Manlius Torquatus: 129
Mnasagoras Alexandreus: 289
Marcus Aurelius: 268
Mnaseas: 1181
C. Marius: 205
Mnason, Sohn des Philonides, aus Narthakion: 1499? Mnesiptolemos von Kyme: 188f? Mochos: 308 Moschos: 178
Medeios von Peiraieus: 48!5!, 272 Medon: 7822
Megalophanes: 302?,, 3045 Melanion, Sohn des Theodoros, aus Iasos: 2145, 231-234, 281
Meleagros von Gadara: 169 C. Memmius: 159 L. Memmius Rufus: 94 [55 Menahem: 118*9
Menaichmos von Sikyon: 239 Menander: 19, 682% Menander, Vater des Hestiaios, aus Milet: 227 f.
Menander von Pergamon: 3085 Menandros: 5115? Menandros, Sohn des Daidalos, aus
Thyrreion: 289, 241? Menas aus Sestos: 188*
Menedemos, Sohn des Kleisthenes, aus Eretria: 177-181, 237, 242-246, 280
Sp. Mummius: 202
Nausiphanes von Teos: 301 Neanthes von Kyzikos: 188" Neanthes von Kyzikos: 255 Nikagoras, Sohn des Panaitios, aus Rhodos: 199
Nikagoras, Sohn des Panaitios, adopt. v. Ainesidamos, aus Rhodos: 199 Nikandros: 50!9 Nikandros, Sohn des Antiphanes, aus Ilion: 18?
Nikandros von Kolophon: 246* Nikanor, Sohn des Balakros und der Phila: 64 £. 224
Nikanor, Sohn des Proxenos von Atarneus:
Menedemos von Pyrrha: 178!5 Menekles von Barka: 142£.57
64 £74 Nikidion: 16779, 294, 296
Menekrates von Nysa: 205
Nikokles von Sikyon: 302 Nikosthenes: 104
Menelaos Peiraieus: 290 Menelaos aus Marathos: 290 f. Menemachos, Sohn des Menestratos, aus Lamptrai: 9936! Menippos: 94.
Menippos, Sohn des Eumedes, aus Kolophon: 115*%, 144, 217-223, 226, 274, 281
Menochares: 157 Menodoros, Sohn des Metrodoros, von Per-
Oiniades aus Skiathios / Palaiskiathios: 121? Ofellius Laetus: 307—309
Olia Pythias: 318 Olbios: 146 Gn. Octavius: 156
Opramoas von Rhodiapolis: 94 f.?* Orthokles, Sohn des Patareus, aus Delos: 251
gamon: 94,262 Menoites: 18
Menon aus Acharnai: 122f.
Menophilos: 945 Metrodor von Lampsakos: 24, 19115, 2956, 310
Panaitios, Sohn des Nikagoras, von Rhodos: 141-145, 167?*, 195, 198—205, 248, 289, 318
Panaitios, Sohn des Nikagoras, adopt. v. Euphranoridas, aus Rhodos: 199
Metrodoros aus Apameia: 292 Metrodoros Peiraieus: 292 Metrodoros von Skepsis: 266?!
Pappos: 298 Parmenion: 33
Miltiades Lamptreus: 298 f.
Patron: 160
Mithradates, Sohn des Menodotos, von
Pausanias: 119f.*5, 126, 130, 175, 302 Pausimachos aus Athen: 23? Perdikkas III.: 33 f.
Pergamon: 262 f? Mithres: 283 £.*
Parrhesia: 94
381
2. Namen
Periandros von Korinth: 80 Perikles: 72 f?* Persaios von Kition: 118 f.*5', 149, 283 Perseus: 107, 173'° Phaidon von Elis: 178
Phaidros aus Anaphlystos: 122f. Phaidros, Sohn des Lysiades, aus Berenikidai: 14157, 159-166, 1765, 271, 311
Phanarchides: 995! Phanias: 20 f£?! Phanostratos, Sohn des Demetrios (Maior), von Phaleron: 74 Pheidippides: 25**
Pherekles: 18 Pherenika: 19925 Philetairos, Sohn des Philonides, aus Narthakion: 1495? Philion: 29%
Philipp II.: 2759, 349, 38, 55 f., 827%, 2372 Philipp V.: 911.5», 111*!, 1269?
Philippides: 19? Philiskos: 20 (3), 108% Philochoros aus Athen: 19, 43, 682°! Philodamos von Rhodos: 250" Philodem von Gadara: 3f., 37, 96°, 106?*5,
Philosophos der megalomartys: 315 Philosophos, Vater des Euthynos Aurelius: 31 4! I5
Philosophos: 314, 319 Philosophos: 316 Philosophos, Sohn des Themistharetos: 315
Philosophos, Vater des Ktesiphon: 314'5 Philosophos, Vater des Sarapion: 315!!5 Philosophos, Vater des Severus und Epimachos: 315!!6 Philosophos (I), Vater des Sosisthenes (1): 316 Philosophos (II), Vater des Sosisthenes (1I): 316 Philosophos, Vater des [-- s): 315!" Phlegon von Tralleis: 160
Phokion: 27, 63f. Photios: 155 Pilia: 1659 Pittakos von Mytilene: 80 Platon: 1, 13, 27, 32-34, 36f., 39f., 42, 53, 60, 68 f., 80 f., 89?5, 105, 1179*, 178, 196, 227229, 255, 273, 276, 277, 311 £.?
Platon von Azenia: 317 Platon Brettios: 318 Platon, Hahn aus Hadrianeia: 318
125f., 129*'5, 142, 144f., 148, 191!5, 197f.,
Platon von Rhodos: 318
201, 209, 211, 213, 291f., 296, 310-312
Pleistainos: 114**, 139 £,5% Pleistarchos: 77
Philokles aus Peiraieus: 122f. Philokomos, Vater des Karneades von Kyrene: 106?» Philokrates: 131 Philokrates, Sohn des Philokrates, aus Sidon: 175f.
Philo, Tochter des Diaphenes, aus Temnos: 210*
Philologos: 319
Philon aus Alopeke: 29f., 32, 41 Philon von Athen: 301 Philon von Larissa: 160, 213!, 271 Philon, Sohn des Demetrios, aus Pithos: 287 f.? Philonides aus Laodikeia am Meer (Maior): 3, 115**?, 146??!, 148-159, 176°, 2377, 283 f.?, 298-300
Philonides, Sohn des Philonides (Minor): 149-153, 156-158, 237?
Philopoimen: 302 Philosophia, Tochter des Aristolaos und der Theodoreta, Frau des Johannes Philadel-
phos: 314
Plinius Maior: 119'% Plutarch: 3-5, 43, 66?°', 68f£?*!, 72f?59. 118, 129*'*, 130f., 145, 197, 265, 296, 3077, 311%
Polemaios: 1139 Polemaios, Sohn des Pantagnotos, aus Kolophon: 94 f.*!, 204, 217, 220-226, 281 Polemon: 13 Pollux: 20, 22, 28f., 682, 13054 M. Pomponius: 108
Polyaen: 6577, 1915, 310 Polybios: 6179, 79257, 89 f., 96°, 197, 200", 2695
Polyeuktos, Sohn des Lysistratos, aus Bate: 146f.
Polykrates von Samos: 617 Polyperchon: 64 Polythrous von Teos: 189! Polyzelos, Sohn des Apollophanes, aus Ephesos: 18?
Gn. Pompeius Magnus: 265f.
382
XXIII. Indices
C. Pomponius Panthales Diogenes Aristeas:
Simplikios: 298
94 T. Pomponius > Atticus
Skythinos aus Chytroi: 207 Smikythos aus Sypalettos: 122 f.
Pontianos: 33f.
Sokrates: 1, 23", 32 f., 38-40, 53, 954, 1109, 227-229, 273, 277
M. Porcius > Cato Censorius M. Porcius > Cato Uticensis
Poseidonios: 298f. Poseidonios von Apameia: 20f.?!, 205, 308f. Poseidonios Lamptreus: 298 f. Potamon: 1669
Solon: 30-32, 68?*, 80 Sophokles: 95?%
Sophokles, Sohn des Amphikleides, aus Sounion: 16, 19-22, 24, 26, 28-32, 41, 43, 81, 167, 271
Potamon von Mytilene: 210*, 269%
Sosibios: 87 f.?'*
Pra- / Sylochos: 245?
Sosikrates: 662?! Sositheos: 7425
Praxiphanes, Sohn des Damosthenes: 249" Praxiphanes, Sohn des Dionysiphanes, von Mytilene: 188 f.?, 1987, 247-251, 253f., 280 Proklos: 298 Prusias L: 197
Prytanis, Sohn des Astyleides, von Karystos: 11*5, 89-99, 114*!!, 136°%, 274, 278
Ptolemaios I.: 16, 66f., 1813 Ptolemaios II.: 66 f. Ptolemaios III.: 92 f.?*??, 155 Ptolemaios IV.: 155 Ptolemaios VIII. Euergetes Il.: 142 f.5? Ptolemaios: 1139? Ptolemaios al-Garib: 57-59 Ptolemaios Chennos: 15595 Ptolemaios Keraunos: 66 f.2? Pyrrhon von Elis: 256", 281?', 300-302 Pythagoras von Samos: 23” Pythagoras aus Philadelphia in Lydien: 318 Pytharatos: 14895 Pythia: 64 f.?* Python, Sohn des Aristokrates, aus Chytroi: 207 f.
Python von Ainos: 301 T. Quinctius > Flamininus 1355*
P. Rutilius Lupus: 84 App. Saufeius: 162-164, 166 L. Saufeius: 162-164, 166
Seleukos IV.: 152, 156 Seleukos Grammatikos: 318 Seleukos, Sohn des Telekles: 105
C. Sempronius > Gracchus Sidonius Apollinaris: 119 £.*%, 13054
Sotas Philosophos: 315!'* Sotion: 24'!, 42"5, 66 (.255, 72255. 177 [5 Speusipp: 13, 28°, 34, 42, 89?5, 1 ]7** Speusipp von Azenia: 317 Stephanos: 59 Sthennis: 312f. Stilpon: 178, 241?
Strabon: 78 f., 127, 198, 248, 308 Stratokles: 81???
Stratokles von Rhodos: 198", 248 Straton von Lampsakos: 82, 186 f.? Stratonike: 11295 Strepsiades: 25** Sulla: 126°, 272
Symmachus: 114 Tatian: 307 f.
Tauridas, Sohn des Dion, aus Araphenai: 137 Telekles aus Phokaia: 101755, 103-105, 112*, 168, 278f.
Telephos: 200^ Teles: 9536
Telesphoros: 19 Thales von Milet: 80 Tharsagoras: 198" Themistharetos: 315 Themistios: 85% Themistokles von Ilion: 188f£? Theodosios: 114 Theodotos: 308 Theokrit von Chios: 97?* Theokritos: 242 Theokritos, Sohn des Aristeas: 2802 Theon: 2385 Theon: 298
Theophanes von Mytilene: 266?!
3. Sachen und Begriffe Theophrast von Eresos: 19, 21, 29, 41-43, 6820 70 f., 78, 81, 248 f., 250!*
Thespis: 154, 167?9, 300 Theupompos von Knidos: 266?! Thoukritos, Sohn des Alkimachos, von Myrrhinous: 92?! Thrason, Sohn des Thrason, aus Anakaia:
383
A. Tullius Cratippus: 268 M. Tullius Cratippus > Kratippos von Pergamon
M. Tullius M. f. Cratippus: 267 M, Vipsanius > Agrippa
Timachidas: 198" Timaios von Tauromenion: 79257
Xenagion: 207 Xenokrates: 13, 25-28, 34, 36, 42, 64, 69:6, 114'*, 178 Xenon: 2845
Timasagoras: 154f.
Xenophon: 1, 39!?, 89?2
122f., 125, 128 Thukydides: 39, 72 £?*, 170, 255
Timokles: 68? Timokrates: 2959 Timokrates, Sohn des Demetrios, aus Potamos: 147
Timolaos von Kyzikos: 34 f., 40 Timon von Phleius: 24, 301 Timosthenes, Sohn des Demophanes: 18% Timotheos: 170 Tullia, Tochter des Kratippos von Pergamon: 266-269 L. Tullius Cicero: 13 M. Tullius > Cicero M. Tullius M. f. Cicero: 265 Q. Tullius Cicero: 13
Zenodoros: Zenodoros: Zenodoros: Zenodoros Zenodotos:
154, 16779, 298f. 298 f. 298 f. Lamptreus: 297-299 46-48
Zenodotos Lamptreus: 297 f. Zenon von Kition: 42, 47)", 88?21, 118-129, 167, 274?, 278, 293
Zenon von Sidon: 160 Zenon von Tarsos: 201”
-- teis, Sohn des Xenokrates, Makedone: 171-174, 187*
3. SACHEN UND BEGRIFFE Akademie: 15, 26-29, 32-37, 39, 46, 101106, 109, 117, 131, 167, 183, 197, 213!, 264 f., 278, 284, 303, 317
Bildung: 45'%, 53, 101, 273f.
Anekdote: 3, 119 andreia: 54
Biographie(n)
aner agathos: 54, 223, 226, 252
Asebie: 35, 39 - Asebieklage - gegen Theophrast: 21", 42 Asebieprozeß gegen Aristoteles: 60 ‚Athenbild‘: 13-16, 41, 43, 104 £., 117, 145f., 168-170, 220
autobiographische Schriften: 79 f., 158 basileus, basileis: 91 £., 97, 1117, 112*5, 125°, 2105, 261, 270, 283
168, 189, 194, 232,
‚Biodoxographie‘: 5? - als ,Lebensgeschichten': 3 - antike: 2f. - Philosophenbiographie(n): 3, 5, 39, 148 biographische(s) - Bild: 85
- Erfindung, ‚Konstruktion‘: 61 f., 157 - Literatur: 2, 9 - Quellen: 10 - Topoi: 303
- Traditionen / Überlieferung: 3, 9 bios: 3, 148, 221'*, 226 - epikureischer: 159
- philosophischer, eines Philosophen: 83-85
384
XXIII. Indices
- politikos: 203 - theoretikos: 203
Gesandtschaft(en): 10, 27, 63£., 92 f., 96, 106-110, 114£., 117, 140, 156%, 178, 192, 194, 199-202, 205, 2197, 22221, 224, 256,
Demokratie; 19, 26-28, 6472, 72, 82, 97
demotai: 189 diatribe: 29 Diskurs: 11
- antioligarchischer: 280
258f., 263, 272, 274, 284
gnorimos: 29 f., 70 gymnasion, gymnasia: 44", 46f., 52, 8455, 94 f?*!, 119—121, 172^, 174, 180, 187-189, 223, 232 f., 256!^, 283*!, 301, 310, 312
- athenischer: 61 - des demos in Athen: 55
hedone: 20£.?', 6179, 83
- (inner)philosophischer, philosophie-
Honoratioren(schicht): 102, 193, 215
immanenter: 12, 278f. - literarisch-philosophischer: 96, 124, 194 - Oberschichten-: 279 - óffentlicher: 5-10, 12
Hetären: 83, 16779, 294-296
Inschriften: 6-8, 10f., 16, 20, 44, 94, 125, 166 f., 187, 189, 273£., 277-282, passim
Intellektueller(r): 1, 283
—- in Athen: 16, 78, 89, 104, 141, 166-170, 22014, 274-276, 279
—- von Delos: 254, 282 -- von Delphi: 246, 282
-- von Olympia: 282 -- in den hellenistischen poleis: 190, 194, 232, 271, 279, 281 f.
-- in Rhodos: 195, 204, 282
dogmata - epikureische: 176, 296 f. doxai 148
- epikureische: 3, 108*', 148, 158, 165f., 193f., 228 f., 263, 296£."
Elementarlehrer: 47!5, 50-54, 24122, 273, 305-307 Elite(n): 46, 53, 84, 158, 168, 191, 204, 210f., 215, 225, 234, 265f., 268, 273f., 277, 282
kathegemones: 310 kathegoumenoi: 310 kathegetes, kathegetai: 163, 219, 222, 247), 253?, 309-312 Kepos: 42, 108, 147, 155 £.°”, 164, 166 f., 176, 194, 263, 294, 296 £.9, 310 Komödie: 6 £.?, 9 f., 16, 19f., 24-28, 682^, 692%, 113%, 2287, 279 ‚Lebensweise‘
- unphilosophische: 84 f. ‚Lebenswerkdekret‘: 220, 222 f. literarisches Feld: 3, 170, 194 mathemata: 52 mathetes: 29%, 702% Musen: 196
Epheben: 44-55, 168, 171-174, 187, 223,
273, 278 Ephebie: 44-55, 161, 168, 173 £.!?, 187°, 273f. ‚epigraphic habit': 732°, 241, 261
epitedeuma: 101 euergetes, euergetai: 17, 35, 56, 121*?, 148, 158 f., 172, 187, 199, 213, 215, 222, 247,
253, 267 eunoia: 35, 88, 100, 102 f., 138, 240, 246 eutaxia: 4415 54, 187, 225
neoi: 187 f.
Oberschicht(en): 23», 53-55, 84, 88, 9395, 102 f., 109%%, 113, 140, 144, 147, 159, 161, 166, 168, 179, 181, 189, 195, 198, 201, 203-205, 207, 210, 215, 221f., 227), 2325,
233, 261-266, 268, 273, 275, 277, 279281, 285, 297, 304
öffentliche Rede: 5f. - in Athen: 16, 20, 81, 274, 279
Gesandte(r): 10, 275*, 6325, 69?^*, 89, 91, 93-95, 97 f., 106, 108-110, 114**!, 115, 117, 140, 151-153, 156-158, 178f., 192f., 197, 214 £5!, 221 f., 225, 262, 264, 280, 284
- in Chytroi: 207 - in Delphi: 246
- in Pergamon: 264
- inden hellenistischen poleis: 101,275, 281 f. - in Samos: 194
3. Sachen und Begriffe Öffentlichkeit(en): 5 f., 124, 179?!, 2662, 277 - athenische: 20, 43, 55, 72, 96, 125, 166168, 228", 276, 279
- in Delos: 312
385
philosophisch(e/r/s): 157 - Leben: 83" - Lebensart: 103 - Lebensform: 11
- Polis-: 8, 87?!5, 173, 279, 281, 283f.
- Lebensführung: 188 £.?
-- griechische: 97
— -theoretisches Lebensideal: 275-277
—- von Haliartos: 172 -- von Rhodos: 204 - rómische: 15 Oligarch(en): 42, 283 Oligarchie: 27, 6929, 72, 97 f.55, 280
- Lebensstil: 9 - Lebensweise: 15 - Lehrsätze, Maximen: 2, 147, 166 Polis: 5-8, 125, 147, 181, 261, 279, passim
politeia, Bürgerrecht: 11%, 114f., 117, paideia: 45, 48, 52-55, 83, 85, 100f., 104, 111*", 141, 15455, 168-170, 172-174, 185!, 187-191, 194, 196, 204 f., 211, 218223, 225f., 232, 253%, 273-275, 280f., 306, 311f.
parrhesia: 94-98, 274, 283 pepaideumenos: 2325, 233 Peripatos: 26°°, 29 f., 37, 42, 6523, 70, 72?**, 81f., 84, 88f., 106, 167, 188 f£, 240 £.°, 256, 265, 278, 284
165 £., 185 f., 190'*, 201?*, 205, 209, 219,
227^, 247 f., 2535, 256, 265 f., 268, 288, 301
progonoi, Vorfahren, Herkunft (soziale): 11, 345) 622°, 91, 100, 102f., 106°%, 141, 144, 158f., 161, 168, 176, 181, 198, 201, 203 f.,
211, 215, 232, 254, 263, 267, 269**, 276, 278", 281, 283, 304
philomathia: 232
Rhetorik:
philoponia: 44,5, 225, 232
Rhetoriklehrer: 23”, 50-54, 273
philos, philoi: 37, 56, 65%, 99, 100*55, 125*9*, 149, 157 f., 283
Philosoph(en), philosophos: 1-12, 14, 16, 20, 22, 24, 26, 28, 35 f., 39 £., 44, 7179, 80, 86, 88, 96-98, 104, 106, 108£., 1104, 114, 118, 120, 128, 149, 15455, 166-169, 172,
174, 179%, 204 f., 237, 240, 246, 253f., 263f., 276f., 268-285, 288, 301, passim
Philosophenherrschaft: 41, 80 Philosophenherrscher: 2, 60, 78, 81 Philosophenporträts: 279 Philosophenschule(n): 4, 8, 10, 26, 54, 101, 103, 235, 279, 317 - als koinoniai: 32
- als thiasoi: 31 Philosophenvertreibungen: 20f., 25 f. Philosophie: 1-12, 14-16, 40, 54f., 94 f.?*!, 101-104, 128, 144, 168, 174, 181, 191, 203-205, 211, 215, 226, 233, 240f., 246, 251, 253f., 256, 269, 271-284, 304, 317f., passim
-
epikureische: 193 griechische: 89 f."5, 109 hellenistische: 96 platonische: 37, 40, 196
119%,
129, 143-145, 149 £.°'2, 1526174 619, 15463,
17079,
174, 191, 310
schole: 28, 138, 181, 221, 279, 282
Sieben Weisen: 23°, 80 f., 283* sophistes, sophistai, Sophist(en): 20f.!, 22-24
Statuen von Philosophen: 57'%, 106°, 110, 114-117, 119£., 126°”, 129-131, 258 Stoa: 47', 106, 118-120, 125, 128 f., 140, 167, 203, 284, 291, 293
synscholastai: 310, 312 syscholazontes: 188 f. theoria (im Sinne von Theorie): 109 theoria: 102 f., 204, 219-221
Theorie (philosophischer) - Praxis (sozialer), Verhältnis von: 1f., 10-12, 33f., 60, 67, 71£., 81, 103, 108 f., 147 f., 157-159, 166, 176, 181, 193f., 211, 263, 277 f., 280f.
theoros, theoroi: 100, 149f.°12, 153, 219 Tyrann(en): 28, 34-37, 40, 61, 622, 78, 96}, 97, 181, 272, 283, 302-304, 3 1 5117
Tyrannis: 17, 34f., 37, 39-41, 612”, 63219,
72f., 79, 97 £255, 207!, 271, 273, 302
386
XXIII. Indices
Vorlesungen, Vorträge: 44, 46 f., 49-55, 106,
MWandergelehrte(r)': 188 f.?
108 f., 112, 15955, 172, 178, 188’, 241,
‚Wanderphilosoph(en)‘: 188 f.?
252 f.5, 255!, 277-279
Wanderschüler': 188 f.?