Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt: Herausgegeben:Frey, Jörg; Schliesser, Benjamin;Mitarbeit:Niederhofer, Veronika 9783161534119, 9783161534126, 3161534115

Die Beiträge dieses Bandes gehen mehrheitlich auf eine Fachtagung zurück, die im Herbst 2013 in Zürich stattfand. Sie th

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German Pages 421 [430] Year 2015

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Table of contents :
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
JÖRG FREY: Der Philipperbrief im Rahmen der Paulusforschung
1 Brennpunkte der historischen Diskussion um den Philipperbrief
1.1 Ein Brief oder ein Briefkonglomerat?
1.2 Rom oder Ephesus?
1.3 Entwertete Vergangenheit? Paulus und seine jüdische Identität nach Phil 3,4–9
2 Theologische Themen und Diskurse im Spiegel des Philipperbriefs
2.1 Ein Fenster in die werdende Christologie? Der sogenannte „Philipperhymnus“
2.2 Paradoxien der Soteriologie?
2.3 ἐπίσκοποι und διάκονοι und die Herkunft christlicher Amtsbezeichnungen
2.4 ‚Entapokalyptisierung‘ und Hellenisierung? Die Eschatologie im Philipperbrief
2.5 Subversiv antiimperial? Das himmlische ‚Bürgerrecht‘
3 Paulus und die ‚hellenistisch-römische Welt‘ :Zum vorliegenden Band
BENJAMIN SCHLIESSER: Paulus und „seine“ Philipper: Geschäftspartner, Freund, Vereinsgründer? Sozialgeschichtliche Perspektiven auf den Philipperbrief
1 Ein Verhältnis auf „Geben und Nehmen“
1.1 Die paulinische Beschreibung des Verhältnisses
1.2 Übersicht über die verwendeten Quellen
2 Societas
2.1 Quellenmaterial
Cicero, Pro Publio Quinctio
Papyrusurkunden: P.Bour. 13
2.2 Paulus als Geschäftspartner
J. Paul Sampley
Julien M. Ogereau
2.3 Kritische Würdigung
3 Freundschaftsverhältnis
3.1 Quellenmaterial
Aristoteles, Nikomachische Ethik
Cicero, Laelius [sive] de amicitia
Seneca, de beneficiis; epistulae morales ad Lucilium
Papyrusbriefe: P.Mert. I 12
3.2 Paulus als Freund
Peter Marshall
L. Michael White
Stanley K. Stowers
Martin Ebner
John T. Fitzgerald
Joseph A. Marchal
Gerald Peterman
3.3 Kritische Würdigung
4 Benefizialwesen
4.1 Quellenmaterial
Seneca, de beneficiis
4.2 Paulus als Empfänger einer Wohltat
Gerald Peterman
Lukas Bormann
David E. Briones
4.3 Kritische Würdigung
5 Patronat
5.1 Quellenmaterial
Dionys von Halikarnassos, Antiquitates Romanae
5.2 Paulus als Patron
Lukas Bormann
5.3 Kritische Würdigung
6 Vereinswesen
6.1 Quellenmaterial
Eine „missionarische“ Kultgründung in Opos: IG X/2.1 255
Finanzielles Engagement in Vereinen
6.2 Paulus als Vereinsgründer
Richard S. Ascough
James Constantine Hanges
6.3 Kritische Würdigung
7 Zusammenfassung
7.1 Zur sozialgeschichtlichen Fragestellung: Vom „Hintergrund“ zum „Ökosystem“
7.2 Die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene
7.3 Das Problem einliniger Erklärungsmodelle
7.4 Eine Verhältnisbestimmung von Soziologie und Theologie
7.5 Paulus und „seine“ Philipper
MARKUS ÖHLER: Gründer und ihre Gründung. Antike Vereinigungen und die paulinische Gemeinde in Philippi
1 Gründungen von Vereinigungen in der Antike
1.1 Šamūmānu in Ugarit
1.2 Dionysios aus Philadelphia
1.3 Die Mysterien der Artemis Ephesia in Pisidien
1.4 Sarapis und Isis im lokrischen Opus
1.5 Men Tyrannos im griechischen Laurion
1.6 Epiktetas Familienvereinigung
1.7 Die Anfänge des Dionysos-Kultes in Magnesia
1.8 Die Ehrung des Vereinsgründers Diodoros
1.9 Zusammenfassung
2 Paulus und die Christusgläubigen in Philippi
ad 1) Welche Rolle spielt religiöse Legitimierung bei der Gründung?
ad 2) Welche Bedeutung hat die Verbreitung des Kultes als Motiv der Gründung?
ad 3) Welche Rolle spielt der Gründer im Leben der von ihm gegründeten Vereinigung?
ad 4) Welche Rolle spielt der Status der Ehre?
ad 5) Welche Rolle spielt das Patronat für die Gründung?
ad 6) Ist der Gründer Vorbild für das Verhalten der Mitglieder?
ad 7) Wo hat die Gründung ihren sozialen und physischen Ort?
3 Zusammenfassung
EVA EBEL: „Unser πολίτευμα aber ist in den Himmeln“ (Phil 3,20). Ein attraktives Angebot für viele Bewohnerinnen und Bewohner der römischen Kolonie Philippi
1 Das Lokalkolorit der Stadt Philippi
2 Römisches im Philipperbrief
3 Die Bedeutung von πολίτευμα in Phil 3,20
4 Das Bürgerrecht des Paulus im Philippi-Abschnitt der Apostelgeschichte (Apg 16,11–40)
5 Ergebnis
HEIKE OMERZU: Paulus und die römische Rechtsordnung im Spiegel des Philipperbriefes
1 Problemaufriss
2 Das römische Bürgerrecht im Spiegel des Philipperbriefes
3 Konflikte des Paulus mit der römischen Rechtsordnung im Spiegel des Philipperbriefes
3.1 Der Haftort des Paulus im Spiegel des Philipperbriefes
3.2 Weitere Hinweise auf die Haftsituation
4 Ausblick
THOMAS SCHMELLER: Zwei Narrenreden? 2Kor 11,21b–33 und Phil 3,2–11 im Vergleich
1 Phil 3 und 2Kor 11: Eine Gegenüberstellung
2 2Kor 11,21b–33: Eine Relecture
3 Phil 3,2–11: Eine Zuordnung
4 Auswertung
MANUEL BAUMBACH: Stimmung und συμμιμηταί im Philipperbrief
1 Ästhetische und existentialistische Stimmung im Philipperbrief
2 ‚Stimmung lesen‘ – συμμιμηταί im Philipperbrief
PETRA VON GEMÜNDEN: Der „Affekt“ der Freude im Philipperbrief und seiner Umwelt
1 Antike Affektpsychologie
1.1 Griechisch-römische Affektpsychologie
1.2 Alttestamentlich-jüdischer Kontext
1.3 Der griechisch-römische Freundschaftsgedanke
1.4 Das bona cogitare – die Technik der avocatio und revocatio
2 Der Philipperbrief
2.1 Der Philipperbrief unter dem Blickwinkel der Adressatenorientierung
2.2 Der Philipperbrief unter dem Blickwinkel der Autororientierung
3 Paulus Umgang mit der Freude im Vergleich zur antiken Umwelt
3.1 Gemeinschaftsfreude
3.2 Fokussierung auf das Positive
3.3 Paradoxe Freude
3.4 Gegenwärtige und zukünftige Freude
ANKE INSELMANN: Zum Affekt der Freude im Philipperbrief. Unter Berücksichtigung pragmatischer und psychologischer Zugänge
1 Emotionen erfüllen unterschiedliche Funktionen
2 Paulus freut sich über die Unterstützung seiner Gemeinde in Philippi
3 Paulus freut sich über die Gesundheit des Epaphroditus
4 Paulus formuliert in seinen Briefen ein Ideal für den Umgang mit Affekten
5 Die paulinische Affektlehre hat einen ganzheitlichen Anspruch
6 Der Philipperhymnus steigert das Freudemotiv
7 Die Freude im Herrn
8 Die Freude im Gebet
9 Synthese: Aspekte der ‚Freude‘ im Philipperbrief
TROELS ENGBERG-PEDERSEN: On Comparison: The Stoic Theory of Value in Paul’s Theology and Ethics in Philippians
1 On comparison
2 The Stoic theory of value: the Stoic ‘good’ and Paul’s ‘knowledge’ of Christ
3 The structure of the letter as pivoting around Phil 3,1
4 The connection between paraenesis and cosmology: cognition and embodiment
5 The connection between paraenesis and cosmology: χαρά
6 The Stoic connection: the ultimate, all-changing insight
7 Conclusion
PETER WICK: „Ahmt Jesus Christus mit mir zusammen nach!“ (Phil 3,17). Imitatio Pauli und imitatio Christi im Philipperbrief
1 Phil 3,17: Gemeinschaft mit Paulus oder gegenüber Paulus?
2 Jesus Christus, das Vorbild der Vorbilder
3 Die Philipper und ihre guten und ihre abschreckenden Vorbilder
4 Imitation, Partizipation, Transformation
5 Imitatio und die Inklusion hellenistischer Ideale
6 Ertrag
TOBIAS NICKLAS Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“. Ascensio Isaiae und Evangelium Veritatis
1 Die Ascensio Isaiae
2 Das Evangelium Veritatis aus Nag Hammadi (NHC I,3; XII,2)
3 Fazit
CHRISTOPH MARKSCHIES: Origenes und Paulus. Das Beispiel der Anthropologie
SAMUEL VOLLENWEIDER: Dienst und Verführung. Überlegungen zur Kommentierung des Briefs „An die Philipper“
1 Der Kommentar – ein Genre mit Sonderstatus
2 Meilensteine und Monumente
3 Wegkreuzungen und Wegscheiden
4 Erinnerungen an die Zukunft
5 Reale und virtuelle Leserschaften
6 Eine Designvision
Autorenverzeichnis
Stellenregister
Altes Testament
Neues Testament
Frühjüdisches Schrifttum
Frühchristliche und altkirchliche Schriften
Griechisch-römisches Schrifttum
Papyri
Inschriften
Autorenregister
Sach- und Namenregister
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Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt: Herausgegeben:Frey, Jörg; Schliesser, Benjamin;Mitarbeit:Niederhofer, Veronika
 9783161534119, 9783161534126, 3161534115

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Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament Herausgeber / Editor Jörg Frey (Zürich) Mitherausgeber / Associate Editors Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala) Hans-Josef Klauck (Chicago, IL) · Tobias Nicklas (Regensburg) J. Ross Wagner (Durham, NC)

353

Der Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt Herausgegeben von

Jörg Frey und Benjamin Schliesser unter Mitarbeit von

Veronika Niederhofer

Mohr Siebeck

Jörg Frey, geboren 1962; Studium der Ev. Theologie in Tübingen, Erlangen und Jerusalem; 1996 Promotion; 1998 Habilitation; Professuren in Jena und München; seit 2010 Professor für Neutestamentliche Wissenschaft mit Schwerpunkt Antikes Judentum und Hermeneutik am Theologischen Seminar der Universität Zürich. Benjamin Schliesser, geboren 1977; Studium der Ev. Theologie in Tübingen, Glasgow und Pasadena; 2006 Promotion; seit 2010 Oberassistent am Theologischen Seminar der Universität Zürich. Veronika Niederhofer, geboren 1986; Studium der Kath. Theologie in Regensburg und Leuven; 2013 Diplom in Kath. Theologie; seit 2013 Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Zürich sowie wissenschaftliche Assistentin in Regensburg.

e-ISBN PDF 978-3-16-153412-6 ISBN 978-3-16-153411-9 ISSN 0512-1604 (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ nal­bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb. de abrufbar. © 2015 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Sys­temen. Das Buch wurde von Gulde Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­­ papier gedruckt und von der Buchbinderei Spinner in Ottersweier gebunden.

Vorwort Der vorliegende Band bietet die Dokumentation der Beiträge einer internationalen Fachtagung, die zum gleichen Thema vom 10. bis 12. Oktober 2013 an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich stattfand, ergänzt durch einige zusätzliche Beiträge. Thema und Ort waren gewählt zu Ehren von Prof. Dr. Samuel Vollenweider, der kurz zuvor seinen 60. Geburtstag begangen hatte. Das Thema verbindet insofern die Forschungsinteressen des geschätzten Kollegen, der als Neutestamentler und insbesondere Paulusforscher in einer luziden und umsichtigen Weise die religiösen und philosophischen Kontexte der hellenistisch-römischen Welt und die altkirchliche Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der urchristlichen Texte erforscht, aber darüber hinaus auch Fragestellungen der neueren Kulturwissenschaft und nicht zuletzt das Gespräch mit der Naturwissenschaft verfolgt hat. Samuel Vollenweiders Kerngebiet ist schon seit langem der Philipperbrief, zu dem er nicht nur die Kommentierung im Evangelisch-katholischen Kommentar vorbereitet, sondern auch die Aufarbeitung der altkirchlichen Wirkungsgeschichte im Novum Testamentum Patristicum übernommen hat. Dieser kleine, aber komprimierte Brief des Apostels steht nicht im Zentrum der neueren Paulusforschung, doch schürzen sich in ihm zahlreiche Knoten der Interpretation, so dass er sich als ein ideales Paradigma zur Diskussion grundsätzlicher Fragen anbietet. Das Symposium wurde unterstützt aus Mitteln des von der Schweizerischen Universitätenkonferenz (SUK) geförderten gemeinsamen Doktoratsprogramms der Theologischen Fakultäten der deutschsprachigen Schweiz, dessen offizieller Beginn mit dem Eröffnungsvortrag der Tagung ebenfalls „gefeiert“ werden konnte. Benjamin Schliesser, der als Oberassistent mit beiden neutestamentlichen Lehrstühlen in Zürich verbunden ist, hat die Hauptlast der Herausgeberschaft an diesem Band getragen und eine eigene gewichtige Abhandlung beigesteuert. Die Vorbereitung der Manuskripte und einen Teil der Register hat unsere Mitarbeiterin Veronika Niederhofer übernommen. Beiden gebührt für ihre große Mühe herzlicher Dank, des weiteren Frau Ilse König vom Verlag Mohr Siebeck für ihre wie immer große Sorgfalt, Freundlichkeit und Geduld bei der Betreuung des Bandes.

VI

Vorwort

Wir hoffen, mit den gesammelten Beiträgen auch dem peritissimus der Philipperexegese Anregungen zur eigenen Forschung und zum weiteren Dialog zu bieten und legen den ‚Geburtstagsstrauß‘ gerne der breiteren Öffentlichkeit vor: „tolle, lege!“ Zürich, im September 2015

Jörg Frey

Inhaltsverzeichnis Vorwort ................................................................................................... V JÖRG FREY Der Philipperbrief im Rahmen der Paulusforschung .................................. 1 BENJAMIN SCHLIESSER Paulus und „seine“ Philipper: Geschäftspartner, Freund, Vereinsgründer? Sozialgeschichtliche Perspektiven auf den Philipperbrief .......................................................................................... 33 MARKUS ÖHLER Gründer und ihre Gründung. Antike Vereinigungen und die paulinische Gemeinde in Philippi .......................................................... 121 EVA EBEL „Unser πολίτευμα aber ist in den Himmeln“ (Phil 3,20) Ein attraktives Angebot für viele Bewohnerinnen und Bewohner der römischen Kolonie Philippi ............................................................. 153 HEIKE OMERZU Paulus und die römische Rechtsordnung im Spiegel des Philipperbriefes ..................................................................................... 169 THOMAS SCHMELLER Zwei Narrenreden? 2Kor 11,21b–33 und Phil 3,2–11 im Vergleich ....... 189 MANUEL BAUMBACH Stimmung und συμμιμηταί im Philipperbrief ........................................ 207 PETRA VON GEMÜNDEN Der „Affekt“ der Freude im Philipperbrief und seiner Umwelt .............. 223

VIII

Inhaltsverzeichnis

ANKE INSELMANN Zum Affekt der Freude im Philipperbrief. Unter Berücksichtigung pragmatischer und psychologischer Zugänge ........................................ 255 TROELS ENGBERG-PEDERSEN On Comparison: The Stoic Theory of Value in Paul’s Theology and Ethics in Philippians ....................................................................... 289 PETER WICK „Ahmt Jesus Christus mit mir zusammen nach!“ (Phil 3,17) Imitatio Pauli und imitatio Christi im Philipperbrief ............................. 309 TOBIAS NICKLAS Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“. Ascensio Isaiae und Evangelium Veritatis ...................................................................... 327 CHRISTOPH MARKSCHIES Origenes und Paulus. Das Beispiel der Anthropologie........................... 349 SAMUEL VOLLENWEIDER Dienst und Verführung. Überlegungen zur Kommentierung des Briefs „An die Philipper“ ................................................................ 373 Autorenverzeichnis ............................................................................... 395 Stellenregister ....................................................................................... 397 Autorenregister ..................................................................................... 411 Sach- und Namenregister ...................................................................... 417

Der Philipperbrief im Rahmen der Paulusforschung JÖRG FREY Der Philipperbrief steht nicht im Zentrum der Paulusforschung, sondern eher an ihrer Peripherie. Er bietet weder eine Summe des paulinischen Denkens (wie vielleicht der Römerbrief), noch dessen ältestes greifbares Stadium (wie der 1. Thessalonicherbrief), und die Annahme, der Philipperbrief wäre der letzte erhaltene authentische Brief des Apostels und damit ein signifikantes Zeugnis der Theologie seiner Spätzeit,1 vielleicht sogar sein authentisches Vermächtnis,2 basiert auf der unsicheren und strittigen Hypothese der Abfassung des Schreibens in seiner römischen Gefangenschaft, von der wir sonst nur durch den Schluss der Apostelgeschichte wissen.3 Es gab sogar Zeiten, in denen man diesen Brief für ‚gedankenarm‘ hielt und aus diesem Grund dem Apostel abzusprechen versuchte.4 Auch hinsichtlich seiner Wirkungsgeschichte5 steht der Philipperbrief deutlich hinter den Schreiben an die Galater und Römer zurück,6 was vielleicht an 1 So dezidiert U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 162f.; DERS., Paulus. Leben und Denken, Berlin 22014, 392–406, sowie bereits DERS., Wandlungen im paulinischen Denken, SBS 137, Stuttgart 1989, 31–35.45f. 2 Verglichen mit dem Römerbrief wäre der Philipperbrief freilich ein theologisch eher ‚unsystematisches‘ Vermächtnis. SCHNELLE, Paulus (s. Anm. 1), 396, verweist hier insbesondere auf das Märtyrer-Bewusstsein des Apostels. Dieses findet sich freilich in einem anderen Testament des Paulus viel ausgeprägter stilisiert, dem 2. Timotheusbrief, der allerdings nur als ein nachpaulinisches literarisches Testament zu verstehen ist. 3 Zur römischen Haft des Paulus und zur Deutung der rätselhaften Angaben des Lukas, der wohl um den Tod des Paulus weiß, diesen aber offenbar bewusst verschweigt s. jetzt die Beiträge in dem Band: A. Puig i Tárrech / J. Barclay / J. Frey (Hg., unter Mitarbeit von O. McFarland), The Last Years of Paul. Essays from the Tarragona Conference, June 2013, WUNT, Tübingen 2015. 4 So prominent F. C. B AUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und Lehre, Stuttgart 1845, 464: „eine gewisse Gedankenarmuth“. 5 Für die ältere Auslegung ist diese zusammengestellt bei B. W EISS, Der PhilipperBrief ausgelegt und die Geschichte seiner Auslegung kritisch dargestellt, Berlin 1859. 6 Eine Ausnahme bildet vielleicht der sogenannte „Philipperhymnus“, in seiner antiken Rezeption (dazu den Beitrag von Tobias Nicklas in diesem Band) und z. B. in seiner Bedeutung für die Kategorien der altprotestantischen Christologie, von der Flut der Literatur in der neueren Forschung ganz zu schweigen.

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Jörg Frey

der Disparatheit seiner Themen liegt, und für Einblicke in eine konkrete Gemeinde und ihre Probleme bietet die korinthische Korrespondenz das weitaus reichere Anschauungsmaterial. Schließlich spielt das Schreiben auch in den Diskursen um die sogenannte ‚New Perspective on Paul‘ keine zentrale Rolle, obwohl Phil 3 eine zentrale Auseinandersetzung mit judaistischen Lehrern bietet und zumindest in sachlicher Nähe zur Argumentation des Galaterbriefs steht.7 Gleichwohl eröffnet der Philipperbrief bemerkenswerte Perspektiven zu Aspekten des paulinischen Wirkens und Denkens: Einerseits ist er der wohl persönlichste der erhaltenen Paulusbriefe, adressiert an die Gemeinde, zu der der Apostel – soweit wir es erkennen können – ein außerordentlich herzliches Verhältnis pflegte, obwohl er dort weniger lange gewirkt und gelebt hatte als in Korinth oder in Ephesus. Andererseits enthält gerade dieses Schreiben einige der größten historischen Rätsel der paulinischen Briefe und enthält theologische Spannungen, die die Interpretation vor enorme Herausforderungen stellen. Einige Brennpunkte der historischen und theologischen Diskussion um den Philipperbrief sollen in dieser Einführung kurz vor Augen geführt und in den weiteren Rahmen der Paulusforschung gestellt werden, bevor das Thema dieses Bandes und der Reigen der hier versammelten Beiträge in den Blick kommen kann.

1 Brennpunkte der historischen Diskussion um den Philipperbrief Während die Authentizität des Philipperbriefs bzw. seiner Teile in der heutigen Forschung nicht mehr strittig ist,8 steht das Schreiben neben dem 2. Korintherbrief9 nach wie vor im Brennpunkt der Diskussion um Brieftei7 Vgl. immerhin J. D. G. DUNN, Philippians 3.2–14 and the New Perspective on Paul, in: ders., The New Perspective on Paul, WUNT 185, Tübingen 2003, 463–484. Dazu die knappen Bemerkungen bei S. VOLLENWEIDER, „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3 (Augustin und Johannes Chrysostomos). Ancient Perspectives im Gespräch mit der New Perspective, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul, NTOA 102, Göttingen 2013, 11–29 (13f.). 8 Zu den Bestreitern der Authentizität seit Ferdinand Christian Baur s. B. MENGEL, Studien zum Philipperbrief, WUNT 2/8, Tübingen 1982, 317–324. Die Gründe für die heute deutlich veränderte Einschätzung der Situation beschreiben I. BROER / H.-U. W EIDEMANN, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 32010, 353. 9 S. zu diesem zuletzt die sehr nüchterne und abgewogene Diskussion bei T. SCHMELLER , Der zweite Brief an die Korinther, Teilband 1: 2Kor 1,1–7,4, EKK 8/1, NeukirchenVluyn 2010, 19–38, der auch für 2. Korintherbrief eine weitgehende Einheitlichkeit für die plausibelste Hypothese hält. Entscheidend gefördert wurde die Diskussion schließlich durch die ausführliche Materialsammlung aus dem weiten Bereich der Papyrusbriefe in

Der Philipperbrief im Rahmen der Paulusforschung

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lungen im Corpus Paulinum. Außerdem ist sein Abfassungsort und damit seine Einordnung in das Wirken des Apostels nach wie vor heftig umstritten, und dies hat auch Implikationen für die Diskussion einiger theologischer Topoi. 1.1 Ein Brief oder ein Briefkonglomerat? Augenscheinliche Unterstützung erfahren solche Hypothesen dadurch, dass schon der erste explizite Zeuge des Schreibens, Polykarp von Smyrna, in seinem Brief an die Philipper (Polyk 3,2) von mehreren Briefen des Paulus an diese Gemeinde zu sprechen scheint (ἔγραψεν ἐπιστολάς). Allerdings geht derselbe Autor in Polyk 11,3 wohl von nur einem Paulusbrief an die Philipper aus, so dass sich für den Plural in Polyk 3,2 andere Erklärungen wie z. B. eine Extrapolation aus Phil 3,1 anbieten.10 Zugleich ist der Polykarpbrief das wohl historisch nächstliegende Beispiel für eine aus zwei Briefen zusammengesetzte Briefkomposition,11 wobei dort allerdings wahrscheinlich die zwei Briefe (Polyk 1–12 und Polyk 13–14) nur aneinandergefügt sind. Diese Praxis ließe sich aus antiken Schreib- und Sammelgewohnheiten leichter plausibilisieren,12 während die Annahme einer Briefkomposition aus zwei oder drei separaten Schreiben und die ‚Verschachtelung‘ mehrerer Briefe oder Briefteile unter Wegfall von Anfangs- und Schlussteilen oder auch die separate Übermittlung von einzelnen Fragmenten oder Teiltexten vor größere Probleme stellt. Die Annahme einer Briefkomposition wird in der Forschung nach wie vor in mehreren unterschiedlichen Varianten vertreten,13 allerdings haben P. ARZT-GRABNER (unter Mitarbeit von R. Kritzer), 2. Korinther, Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament 4, Göttingen 2013, 71–148, der letztlich aus methodologischen Gründen ebenfalls die Hypothese einer ursprünglich einheitlichen Abfassung durch einen „hier sehr emotional und seelsorgerlich engagiert agierenden Paulus“ (148) favorisiert. 10 Vielleicht steht hinter dem Plural in Polyk 3,2 die paulinische Aussage in Phil 3,1, aus der Polykarp eine Mehrzahl von Briefen herausgelesen haben könnte (so W. B AUER / H. P AULSEN, Die Briefe des Ignatius von Antiochia und der Polykarpbrief, HNT 18, Tübingen 1985, 116), oder – was wahrscheinlicher ist – Polykarp sieht bereits die Gesamtheit der Paulusbriefe an einen weiteren Adressatenkreis gerichtet (so A. LINDEMANN, Paulus im ältesten Christentum, BHTh 58, Tübingen 1979, 88). 11 So BROER / W EIDEMANN, Einleitung (s. Anm. 8), 355; zum zusammengesetzten Charakter des Polykarpbriefs zuerst P. N. HARRISON, Polycarp’s Two Epistles to the Philippians, Cambridge 1936. 12 Vgl. die Belege bei ARZT-GRABNER, 2. Korinther (s. Anm. 9), 138–141. 13 S. die Angaben in den neueren Einleitungen, so SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 1), 165f.; BROER / WEIDEMANN, Einleitung (s. Anm. 8), 353–356; M. THEOBALD, Der Philipperbrief, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Stuttgart 2008, 365–383 (367–375); sowie P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefes als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 16–

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Jörg Frey

die Vertreter der Einheitlichkeit zuletzt deutlich an Boden gewonnen. Eine Aufteilung in zwei Briefe unterscheidet dabei mit Varianten im Detail einen Gefangenschaftsbrief Phil 1,1–3,1a + Phil 4,10–23 von einem polemischen Kampfbrief Phil 3,1b–4,9,14 v. a. aufgrund der Beobachtung, dass die Hinweise auf die Gefangenschaft in dem polemischen Teil 3,2–4,3 fehlen, während die Schroffheit der Auseinandersetzung mit judaisierenden Gegnern in den übrigen Teilen des Briefes, in denen ein ausgesprochen herzlicher Grundton vorherrscht, keine Entsprechung hat.15 Eine größere Zahl von neueren Auslegern rechnet hingegen mit drei ursprünglichen Briefen, wobei dann noch Phil 4,10–20 als separater Dankesbrief für die empfangenen Gaben aus Philippi abgetrennt wird.16 Einen eigenständigen Teilungsvorschlag hat zuletzt Hans Dieter Betz vorgelegt, der nicht mit mehreren Briefen oder Brieffragmenten rechnet, sondern in Phil 3,1b– 21 und 4,10–20 zwei nichtbriefliche Stücke, ein autobiographisches „memorandum“ (ὑπόδειγμα) und eine dokumentarische Quittung, sieht, die der ursprünglichen Sendung beigefügt gewesen und dann im 2. Jh. von einem Redaktor, der die Gesamtkomposition geschaffen habe, eingefügt worden seien.17 Während die Zuordnung dieser beiden Stücke zu nichtbrieflichen Gattungen ernsthafte Erörterung verdient, löst die Annahme einer erst spät im 2. Jh. erfolgten Redaktion der Endgestalt des Schreibens die Probleme der Kohärenz (z. B. des ‚Stimmungsumschwungs‘ in Phil 3,1f.) nicht wirklich, sondern ersetzt sie lediglich durch zusätzliche Annahmen mit neuen Problemen,18 zumal wir von der Person und Situation eines möglichen Redaktors noch weniger wissen können als von der des Paulus.19 Im Übrigen 32. Vgl. zuletzt H. D. B ETZ, Studies in Paul’s Letter to the Philippians, WUNT 343, Tübingen 2015, 9–16. 14 So u. a. G. FRIEDRICH, Der Brief an die Philipper, NTD 8, Göttingen 91962 (= 16 1985); etwas komplizierter J. GNILKA, Der Philipperbrief. Auslegung, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 31980. 15 Vgl. die ausführliche Argumentation bei THEOBALD, Philipperbrief (s. Anm. 13), 372–376. 16 So unter den neueren Kommentatoren N. W ALTER, Der Brief an die Philipper, in: ders. / E. Reinmuth / P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1998, 8–101 (19f.); G. B ARTH, Der Brief an die Philipper, ZBK.NT 9, Zürich 1979, 10f.; vgl. ähnlich schon G. B ORNKAMM, Der Philipperbrief als paulinische Briefsammlung, in: ders., Geschichte und Glaube 2. Gesammelte Aufsätze 4, BEvTh 53, München 1791, 195–205; etwas anders auch W. SCHMITHALS, Die Briefe des Paulus in ihrer ursprünglichen Form, Zürich 1984. 17 BETZ, Studies in Paul’s Letter to the Philippians (s. Anm. 13), 10. 18 So S. W ITETSCHEK, Ephesische Enthüllungen I, BTS 6, Leuven 2008, 198: „Teilungs- und Verschachtelungshypothesen verlagern die Kohärenzprobleme nur auf den angenommenen Kompilator und schaffen so mehr Probleme, als sie zu lösen vermögen.“ 19 S. etwa die relativ vagen Erörterungen bei W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 20, die letztlich darauf hinauslaufen, bei einer Briefsammlung die Frage nach der Kohärenz zu relativieren. Wenig Zustimmung hat die These von D. TROBISCH, Die Entstehung der

Der Philipperbrief im Rahmen der Paulusforschung

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zeigt das neuerdings von Peter Arzt-Grabner zum 2. Korinther-brief vorgelegte reichhaltige Material aus den Befunden antiker Papyrusbriefe, dass eine redaktionelle Verschachtelung von zwei oder drei Briefen, wie sie in der neutestamentlichen Forschung angenommen wird, ohne wirkliche Analogie wäre.20 Daher ziehen zuletzt wieder mehr Interpreten die Annahme einer einheitlichen Abfassung des Schreibens den Briefteilungen vor,21 darunter auch der mit den Beiträgen dieses Bandes geehrte Philipperkommentator Samuel Vollenweider.22 Auch bei Annahme einer einheitlichen Abfassung stellt sich freilich die Frage, wie der Zusammenhang der unterschiedlichen Briefabschnitte zu verstehen ist. Dabei ist in der Situation der Haft natürlich auch mit Unterbrechungen zu rechnen. Insofern ist der späte Dank für die empfangene Gabe in Phil 4,10–20 weniger problematisch, und auch der ‚Stimmungsumschwung‘ bzw. der unvermittelte Übergang zur Polemik gegen judaisierende Gegner könnte sich durch eine Unterbrechung im Schreiben erklären lassen,23 zumal von einer Gegnerschaft schon zuvor die Rede ist. Charmant sind hier Vorschläge, wie im vorliegenden Band von Troels Engberg-Pedersen, dass sich die Teile Phil 1,12– 2,18 und 3,2–4,1 komplementär um den auffälligen Vers 3,1 lagern, in dem Paulus offen ausspricht, dass er sich ‚wiederholt‘, ohne dass wirklich klar wäre, worin diese Wiederholung besteht.24 Freilich stoßen alle diese Versuche, einen planvollen Aufbau des Schreibens herauszuarbeiten,25 angesichts der Unklarheiten der konkreten Abfassungsverhältnisse an enge Grenzen, und der Versuch, den überlieferten Text als einheitlich zu verstehen, ist letztlich nicht mehr als eine Möglichkeit der Lektüre, die allenfalls angesichts der noch gravierenderen Probleme der Redaktionshypothesen vorzuziehen ist.

1.2 Rom oder Ephesus? Das zweite, vielleicht noch größere historische Rätsel bildet die Frage, an welchem Ort und in welcher Phase des paulinischen Wirkens der Philipperbrief entstanden ist. Wie der Galaterbrief enthält auch der Philipperbrief Paulusbriefsammlung. Studien zu den Anfängen christlicher Publizistik, NTOA 10, Freiburg/CH 1989, 121.130, gefunden, die Zusammenstellung der Teilbriefe sei im Rahmen einer ‚Autorenrezension‘ durch Paulus selbst erfolgt. Eine Redaktion durch die Gemeinde von Philippi vermutete L. B ORMANN, Phlippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995, 128–136. 20 S. dazu ARZT-GRABNER, 2. Korinther (s. Anm. 9), 146–148. 21 So grundlegend U. B. MÜLLER, Der Philipperbrief, ThHK 11/1, Leipzig 22002, 4– 14; P. T. O’B RIEN, Philippians, NIGTC, Grand Rapids 1991, 10–18; G. D. FEE, Philippians, NICNT, Grand Rapids 1995, 21–23; M. BOCKMUEHL, The Epistle to the Philippians, BNTC, London 1998, 20–25; P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalt, BWANT 135, Stuttgart 1994. 22 S. den Beitrag von Samuel Vollenweider in diesem Band und DERS., Philipperbrief, in: M. Krieg / K. Schmid (Hg.), Erklärt – Der Kommentar zur Zürcher Bibel 3, Zürich 2 2011, 2445–2468 (2464). 23 So MÜLLER, Philipperbrief (s. Anm. 21), 44. 24 S. den Beitrag von Troels Engberg-Pedersen in diesem Band, dort Abschnitt 3. 25 So auch W ICK, Philipperbrief (s. Anm. 21).

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keine expliziten Angaben über den Ort seiner Abfassung, so dass auch die Einordnung in die paulinische Wirksamkeit große Probleme bereitet. Dies gilt auch dann, wenn man generell den von der Apostelgeschichte gebotenen zeitlichen Rahmen voraussetzt. Wenn man auf die Orientierung an diesem ‚Grundgerüst‘ der paulinischen Wirksamkeit verzichtet, wird die Anordnung der Briefe und Brieffragmente ohnehin zum Glasperlenspiel.26 Die Diskussion konzentriert sich zunächst auf die Frage nach dem Ort der Haft des Paulus und damit – im Falle der Annahme von Briefteilungen – auf die Einordnung von 1,1–3,1.27 Da in der Apostelgeschichte eine längere Haft des Paulus nur für Caesarea und Rom berichtet und Paulus selbst in seinen Briefen über die Orte von Inhaftierungen schweigt, wurde traditionell Rom und seit ca. 1800 von einer kleinen Minderheit der Exegeten auch Caesarea als Ort der Abfassung des Philipperbriefs vermutet. Erst seit Beginn des 20. Jh. hat die Forschung stärker eine mögliche (aber von Lukas nicht erwähnte) ephesische Haft des Apostels und die Abfassung des Schreibens in Ephesus in Erwägung gezogen.28 Eine eindeutige Entscheidung ist auch hier kaum möglich. Während die Argumente für eine Lokalisierung in Caesarea schwach bleiben,29 besteht unter den Exegeten nach wie vor die Alternative zwischen einer späten

26 Dass die Versuche, ohne die Apostelgeschichte eine Chronologie der paulinischen Briefe zu erstellen, zu keinem auch nur halbwegs konsensfähigen Ergebnis geführt haben, hat Rainer Riesner luzide herausgestellt (s. dazu R. R IESNER, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 9–26). Dies gilt auch für neuere Versuche, nicht zuletzt für den in seinen Authentizitätskriterien höchst idiosynkratischen und in vielen Urteilen extrem spekulativen Entwurf von D. A. CAMPBELL, Framing Paul. An Epistolary Biography, Grand Rapids 2014 (s. dazu die kritische Rezension von T. N ICKLAS, Framing Paul? – Eine Diskussion mit Douglas Campbell, in: ASE [2015; im Druck]). 27 Andere Brieffragmente werden dann ggf. in andere Phasen des paulinischen Wirkens eingeordnet, so z. B. bei GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 14), 25, der den Kampfbrief im paulinischen Aufenthalt in Korinth (vgl. Apg 20,2), „nicht allzulang nach dem zweiten Besuch in Philippi“ verortet; vgl. auch WALTER, Philipper (s. Anm. 16), 20.73f. 28 S. dazu die Angaben in dem Beitrag von Heike Omerzu in diesem Band sowie DIES., Spurensuche. Apostelgeschichte und Paulusbriefe als Zeugnisse einer ephesischen Gefangenschaft des Paulus, in: J. Frey / C. K. Rothschild / J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin 2009, 295–326 (296). 29 Diese wurde prominent vertreten von E. LOHMEYER, Der Brief an die Philipper, KEK 9/1, Göttingen (1930) 141974, 3f.; vgl. G. F. HAWTHORNE / R. P. MARTIN, Philippians, WBC 43, Nashville 2004, 44. Immerhin war Paulus dort sicher längere Zeit in Haft. Das Problem ist, dass wir von der Zeit des Paulus in Caesarea nur wenig wissen, womöglich hatte Lukas hier wenig brauchbares Quellenmaterial. Die gegen Rom einzuwendenden Argumente sprechen weithin auch gegen Caesarea.

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Ansetzung des Schreibens in der römischen Haft30 und – neuerdings etwas häufiger – einer Ansetzung in Ephesus31 und damit in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Korintherbriefen. Weder die Nennung von Angehörigen des „Hauses des Kaisers“ (Phil 4,22) noch die Erwähnung des Prätoriums (Phil 1,13) kann den Ausschlag für Rom und gegen eine der Provinzhauptstädte erzwingen.32 Theologiegeschichtliche Argumente wie die Annahme einer stärkeren ‚Hellenisierung‘ der Eschatologie im Philipperbrief (z. B. in Phil 1,21–24; 2,17) sind nicht nur in ihrer Struktur zirkulär und daher als Argumente für die Datierung wenig brauchbar,33 sondern auch am Text des Phil nicht eindeutig festzumachen, zumal der anerkanntermaßen späte Römerbrief offenbar ungebrochen Elemente traditioneller Eschatologie enthält (vgl. Röm 13,11f.) und umgekehrt 2Kor 5,1–10 mit seiner Gewandmetaphorik eine starke Rezeption hellenistischer Motive zeigt. Die in Phil 1 erkennbare Ungewissheit des Paulus über den Ausgang des laufenden Verfahrens muss keineswegs zwingend auf die letzte römische Gefangenschaft und den römischen Prozess des Paulus bezogen werden, da ja Paulus schon kurz nach dem Ephesus-Aufenthalt davon spricht, dass er zuvor in der Asia den Tod äußerst realistisch vor Augen hatte (2Kor 1,8f.).34 Die Rede vom Todesurteil (ἀπόκριμα τοῦ θανάτου, 2Kor 1,9) könnte auf einen Prozess oder eine Gefangenschaft hindeuten, doch ist auch dieser Bezug nicht eindeutig sicher zu stellen.35 30

So neben den in Anm. 1 genannten Titeln zuletzt noch einmal ausführlich begründet bei U. SCHNELLE, Paul’s Literary Activity during his Roman Trial, in: Puig i Tárrech / Barclay / Frey, The Last Years of Paul (s. Anm. 3), 433–451. Eine Abfassung im römischen Gefängnis wird ebenfalls vorausgesetzt bei H. D. BETZ, Der Apostel Paulus in Rom, Berlin 2013; vgl. DERS., Studies (s. Anm. 13), 21 u. ö. 31 S. zur Kritik der Rom-Hypothese ausführlich D. GERBER, Paul’s Literary Activity during His Roman Trial. A Response to Udo Schnelle, in: Puig i Tárrech / Barclay / Frey, The Last Years of Paul (s. Anm. 3), 453–468; weiter OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 28); U. B. MÜLLER, Der Brief aus Ephesus. Zeitliche Platzierung und theologische Einordnung des Philipperbriefes im Rahmen der Paulusbriefe, in: U. Mell / U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS Jürgen Becker), BZNW 100, Berlin 1999, 155–175, und BROER / WEIDEMANN, Einleitung (s. Anm. 8), 362–365. 32 S. dazu W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 43f.; DERS., Hellenistische Eschatologie bei Paulus?, ThQ 174 (1996), 53–64. S. auch SCHNELLE, Activity (s. Anm. 30), 439; und bereits DERS., Wandlungen (s. Anm. 1), 45–48. 33 Diese Diskussion ist im Blick auf die Datierung des Galaterbriefs von Bedeutung, s. dazu J. FREY, Galaterbrief, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werk – Briefe, 22012, 232–256 (245–247). 34 Vgl. noch die summarischen Erwähnungen von Gefangenschaften in 2Kor 6,5 und 2Kor 11,23. 35 S. dazu SCHMELLER, Der zweite Brief an die Korinther (s. Anm. 9), 69–71. Eine scharfe Kritik der Ephesusthese, v. a. aufgrund des aus dem 2. Korintherbrief zu erschließenden Ereignisverlaufs, hat M. GIELEN, Paulus – Gefangener in Ephesus, BN.NF 131 (2006), 79–103 und 133 (2007), 63–77, vorgetragen, doch scheinen dieser Rekon-

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Den Ausschlag gibt m. E. wohl doch der Blick auf die geographischen Verhältnisse. Der enge Kontakt zwischen Paulus und den Philippern und die insgesamt fünf bis acht (!) Reisen, die nach den Notizen in Phil 1–2 zwischen dem Aufenthaltsort des Paulus und Philippi bereits während der Haftzeit des Apostels erfolgt oder in naher Zukunft beabsichtigt sind,36 ließen sich nur schwer unterbringen, wenn dieser Ort das über 1000 km von Philippi entfernte Rom wäre.37 Hingegen ist ein solcher Verkehr zwischen Ephesus und Philippi leichter vorstellbar. Hier waren Reisen im Winter, wenn die Seefahrt ruhte, problemlos möglich. Ein letzter, entscheidender Grund erscheint schließlich die in Phil 2,24 geäußerte Hoffnung des Paulus, seine Philipper bald wieder zu besuchen. Wenn man diese Aussage ernst nimmt und nicht nur als Brieftopos abwertet,38 ist sie nur aus der ephesischen Situation heraus zu verstehen, nicht mehr aus der römischen, in der Paulus die lange geplante Spanienmission (Röm 15,24.28) greifbar nahe vor Augen hatte, zumal nichts im Philipperbrief andeutet, dass er hier seine Reisepläne noch einmal geändert hätte zugunsten einer Rückkehr in den Osten. Umgekehrt entspricht der Besuch in Philippi nach der Abreise aus Ephesus dem Verlauf der sogenannten dritten Missionsreise (Apg 20,1), so dass sich die Absicht, die Philipper wieder zu besuchen, wenn sie von Ephesus aus formuliert ist, ohne weiteres in das paulinische Itinerar fügt.39 Vielleicht lassen sich auch die Notizen aus Phil 1 auf dem Hintergrund der ephesischen Situation noch besser kontextualisieren:40 Die Gemeinde in Ephesus war nicht von Paulus gegründet worden, vielmehr waren dort struktion einige Misskalkulationen zugrunde zu liegen (s. zur detaillierten Kritik H. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 66–69). 36 S. A. DEISSMANN, Zur ephesinischen Gefangenschaft des Apostels Paulus, in: W. H. Buckler / W. M. Calder (Hg.), Anatolian Studies (FS W. M. Ramsay), Manchester 1923, 121–127 (124–126); P. P ILHOFER, Das Neue Testament und seine Welt. Eine Einführung, UTB 3363, Tübingen 2010, 176f.; OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 31), 302 mit Anm. 25; BROER / W EIDEMANN, Einleitung (s. Anm. 8), 362–365. 37 Die bei SCHNELLE, Activity (s. Anm. 30), 440f., angenommenen Reisezeiten setzen optimale Reisebedingungen voraus und rechnen mit den Apg 28,30f. genannten zwei Jahren Haftzeit. Dies erscheint insgesamt äußerst optimistisch gerechnet; vgl. OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 31), 302. 38 So aber SCHNELLE, Activity (s. Anm. 30), 440f. 39 OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 31), 303. 40 Dazu J. FREY, Von Paulus zu Johannes. Die Diversität ‚christlicher‘ Gemeindekreise und die ‚Trennungsprozesse‘ zwischen der Synagoge und den Gemeinden der Jesusnachfolger in Ephesus im erste Jahrhundert, in: C. K. Rothschild / J. Schröter (Hg.), The Rise and Expansion of Christianity in the First Three Centuries of the Common Era, WUNT 301, Tübingen 2013, 235–278 (242f.).

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bereits vor ihm (Apg 18,25f.) und sicher auch weiterhin neben ihm andere (jüdische) Jesusnachfolger, deren Denken nicht von Paulus geprägt war. Die Missionspraxis des Paulus könnte hier schon von Anfang an auf Skepsis und Widerstand gestoßen sein. Dazu fügt sich, dass Lukas gerade für Ephesus einen ‚Umzug‘ des Paulus aus der Synagoge in die ‚Schule des Tyrannos‘ berichtet. Während diese anderen ephesischen Jesusanhänger vermutlich noch stärker mit der Synagoge verbunden blieben, musste Paulus nach dem Bericht der Apostelgeschichte üble Nachrede seitens der Synagoge erdulden, hinzu kommt der offene Konflikt mit paganen Interessengruppen, der letztlich eine Folge der offensiven Mission unter Nichtjuden gewesen sein dürfte. Paulus selbst redet im Blick auf Ephesus von „vielen Widersachern“ (1Kor 16,9) und von „großer Bedrängnis“ und Todesnähe (2Kor 1,8f.). Wenn er in Phil 1,15–17 die unsolidarische Reaktion einiger anderer Verkündiger ihm gegenüber erwähnt, könnte dies eine Situation spiegeln, in der (jüdische?) Jesusanhänger die missionarische Zuwendung zu den Heiden, die den Apostel in Konflikte mit der paganen Stadtgesellschaft führte, nicht unterstützten. Sie könnten seine Inhaftierung als ein unnötiges, den Ruf der Jesusanhänger unter der Stadtbevölkerung schädigendes und auch die Stellung der Judenchristen gefährdendes Geschehen verstanden haben. Jedenfalls sind die in Phil 1 beklagten Differenzen in einer Situation wie der ephesischen gut zu begreifen, in der von Anfang an unterschiedlich geprägte Gruppen von Jesusanhängern nebeneinander bestanden und die paulinische Mission nicht unumstritten war. Eine solche Situation könnte schließlich auch die innere Verbindung zwischen den Aussagen über konkurrierende Verkündiger in Phil 1–2 und der Polemik gegen judaistische Gegner in Phil 3,2–16 erklären. Die konkurrierenden Verkündiger am Haftort des Paulus wären dann evtl. judenchristliche, mit der Synagoge noch stärker verbundene Verkündiger, die wenig Sympathie für die heiden-missionarischen Aktivitäten des Paulus hegten, aus denen sich nur zu leicht Konflikte mit städtischen oder gar römischen Autoritäten ergaben. Wenn die Abfassung des Philipperbriefs dann zugleich in zeitlicher Nähe zur Abfassung des Galaterbriefs steht, wäre die Heftigkeit der Polemik auch nicht zwingend durch das in Phil 1 beschriebene Verhalten der ephesischen Mit-Verkündiger motiviert, sondern eher aus den Erfahrungen in Galatien, die dem Apostel die Gefährlichkeit jener judenchristlichen Konkurrenzmission besonders deutlich vor Augen treten ließen.41 Hingegen wären die israeltheologischen Aussagen aus Phil 3 nach der Abfassung von Röm 9–11, also in einer späten Phase der römischen Gefangenschaft, nur noch schwer zu begreifen.42 41 Auch DUNN, Philippians (s. Anm. 7), 463f., sieht die beiden Herausforderungen in enger Parallelität. 42 So mit Recht WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 70–73.

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1.3 Entwertete Vergangenheit? Paulus und seine jüdische Identität nach Phil 3,4–9 Die Aussagen in Phil 3,4–9 bieten einen eigenen Schwerpunkt in der Diskussion um den Philipperbrief, die sich hier mit der Diskussion um die religiöse Identität des ‚vorchristlichen‘ Paulus und um seine nachträgliche Bewertung seiner jüdischen Herkunft und seiner vormaligen religiösen Praxis verbindet. Einerseits ist die Passage eine der Hauptquellen für die jüdische Prägung und einstige religiöse Praxis des Paulus,43 andererseits hat das hier vorliegende Kontrastschema oft Anlass geboten, Paulus eine Verwerfung seines jüdischen Erbes zu unterstellen.44 Was bedeutet es, wenn der Apostel seinen vormaligen Lebenswandel als vorbildlicher Jude als „Unrat“ und „Verlust“ bezeichnet? Wird der Völkerapostel hier gar zum ‚antijüdischen‘ Autor? Doch ist bei der Interpretation dieser Aussagen Vorsicht geboten, weil der Apostel hier aus aktuell polemischen Interessen eine Schwarz-Weiß-Zeichnung bietet.45 Wie in den unpolemischen Aussagen Röm 11,1 und 9,1–5 und in 2Kor 11,22 präsentiert sich Paulus hier als Israelit, zudem als Benjaminit (als der er den Namen des aus Benjamin stammenden ersten israelitischen Königs trägt), und somit als Glied einer traditionsbewussten jüdischen Familie. Dies wird auch durch den Ausdruck Ἑβραῖος ἐξ Ἑβραίων bekräftigt, der nicht in erster Linie auf die (Mutter-)Sprache zu beziehen ist, sondern herausstellt, dass Paulus kein Proselyt und wohl auch kein gewöhnlicher Diasporajude ist, sondern – wenngleich er außerhalb Palästinas geboren sein dürfte – Spross einer Familie, die auch in der Diaspora an Traditionen ihrer palästinischen Herkunft festgehalten hat.46 Dies verband sich im Fall des Paulus mit der Zustimmung zur pharisäischen Gesetzesauslegung und -observanz (κατὰ νόμον Φαρισαῖος) und dem „Eifer“, d. h. dem kämpferischen Einsatz für die Tora und gegen ihre Feinde (vgl. Gal

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Vgl. daneben Röm 9,1–5; 11,1; 2Kor 11,22f.; Gal 1,13f.; 2,15. G. STRECKER, Theologie des Neuen Testaments (hg. v. F. W. Horn), Berlin 1995, 24, wollte aus Phil 3,7 und Gal 1,13f. herauslesen, dass sich Paulus „fundamental vom Judentum geschieden“ wusste. 45 Vgl. ausführlich K.-W. NIEBUHR, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, WUNT 62, Tübingen 1992, 79–111; M. HENGEL / R. DEINES, Der vorchristliche Paulus, in: M. Hengel, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, WUNT 141, Tübingen 2002, 68–181; M. T IWALD, Hebräer von Hebräern. Paulus auf dem Hintergrund frühjüdischer Argumentation und biblischer Interpretation, HBS 52, Freiburg i. Br. 2008, 155–157, J. FREY, Das Judentum des Paulus, in: Wischmeyer (Hg.), Paulus (s. Anm. 33), 25–65. 46 So N IEBUHR, Heidenapostel (s. Anm. 45), 106f. Nach Hieronymus, Vir. ill. 5 und Ad Philemonem 23, kamen die Eltern des Paulus aus Gischala in Galiläa. In diesen Kontext gehört auch, dass nach Apg 23,16 die Familie seiner Schwester in Jerusalem lebte. 44

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1,13f.).47 Wie auch sonst (Gal 1,13f.; 2Kor 11,22), erwähnt Paulus diese Aspekte seiner ‚vorchristlichen‘ Existenz nur, wenn dies durch aktuelle Auseinandersetzungen gefordert ist: Im Streit mit anderen judenchristlichen Lehrern betont er seine mustergültige jüdische Identität hinsichtlich Abstammung, Traditionsbindung,48 Torapraxis und „Eifer“. Wenn er nun selbst nicht mehr auf diese Vorzüge vertraut (Phil 3,3) und diese – insbesondere den „Eifer“ des Verfolgers – nicht mehr als „Gewinn“, sondern als „Verlust“ ansieht (Phil 3,7f.), besteht auch für die Adressaten in Philippi keinerlei Anlass, sich von einer nachträglichen Beschneidung etwas zu erhoffen. Bei alledem geht es freilich nicht um die Zurückweisung des jüdischen Lebens an sich, sondern um ein spezifisches argumentum ad hominem: Gegenüber den in V. 2 polemisch eingeführten Konkurrenten, die der paulinischen Praxis der bedingungslosen Zuwendung zu den Heiden und ihrer Zulassung ohne die Beschneidungsforderung wohl kritisch gegenüberstanden und konkurrierend entgegentraten, macht der Apostel geltend, „er selbst habe das alles schon durchexerziert – und nicht nur in mittelmäßiger Weise, sondern sogar noch in Überbietung all dessen.“49 Wie in anderen Passagen ohne diesen polemischen Kontext und das entsprechende Kontrastschema deutlich wird, hat Paulus seine jüdische Identität niemals abgelegt, vielmehr blieb er auch als Jesusnachfolger und Heidenapostel unaufkündbar mit Israel verbunden,50 in Leiden (Röm 9,2),51 Fürbitte (Röm 10,1), exemplarischer Glaubensexistenz (Röm 11,1) und eschatologischer Hoffnung (Röm 11,25–32). Von diesen Anliegen des Ringens um seine ‚Brüder‘ aus Israel, das er in Röm 9–11 mit großer Intensität bekundet, ist freilich im Philipperbrief nur wenig zu erkennen. Hier steht Paulus einer weithin heidenchristlichen Gemeinde gegenüber, und ihr gegenüber argumentiert er ganz anders als im Römer- und im Galaterbrief nicht mit der Schrift,52 wenngleich auch die hier entfalteten Gedanken in vielerlei Hinsicht durch jüdische Traditionen 47 Zum Eifer des Verfolgers und seinen theologischen Hintergründen s. ausführlich HENGEL / DEINES, Der vorchristliche Paulus (s. Anm. 45), 161–182. 48 Dazu gehört auch die Beschneidung am 8. Tag. 49 So T IWALD, Hebräer von Hebräern (s. Anm. 45), 156. 50 So NIEBUHR, Heidenapostel (s. Anm. 45), 160–171. 51 Hierzu gehört auch die von ihm mehrfach erlittene Synagogenstrafe (39 Geißelhiebe) oder auch die Tatsache, dass sein Besuch in Jerusalem ihn in eine mehrjährige Gefangenschaft führte. 52 Der Philipperbrief enthält wie der 1. Thessalonicherbrief und der Philemonbrief keine expliziten Schriftzitate, im schroffen Gegensatz etwa zum Galater- und Römerbrief (s. dazu D.-A. KOCH, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums, HUTh 69, Tübingen 1986, 21–23). Auch der polemische Teil Phil 3,2–4,3 zitiert nicht die Schrift, obwohl gerade hier sachlich Verbindungen zur Thematik des Galater- und Römerbriefes vorliegen. Dies zeigt, wie stark situations- und v. a. adressatenbezogen Paulus seine Briefe gestaltet.

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und Topoi geprägt sind, sondern mit kulturellen und ethischen Kategorien, die den Heidenchristen in Philippi verständlich sein mussten, wie z. B. Kategorien der Ehre53 oder der Mimesis (Phil 3,17).54 Vermutlich ist die aktuelle Situation in Philippi erst wieder in Phil 3,17 angesprochen, während die die polemische Warnung in 3,2–16 eher prophylaktisch formuliert und von Gegnern an anderen Orten – z. B. in Galatien – her inspiriert wäre.55 Jedenfalls zeigt die schroffe Polemik gegen die judaisierenden Konkurrenzmissionare, dass Paulus sein Missionswerk und die uneingeschränkte Heilsteilhabe der Heidenchristen gefährdet weiß und Anlass hat, auch seine geliebten Philipper vor dieser fundamentalen Gefährdung des Missionswerks und auch ihres eigenen Status als Heidenchristen im Gottesvolk zu warnen

2 Theologische Themen und Diskurse im Spiegel des Philipperbriefs Damit ist endgültig die Ebene der theologischen Themen erreicht. Denn obwohl der Philipperbrief wirkungsgeschichtlich nicht zu den zentralen Paulusbriefen gehört, nimmt er doch in der Erörterung einiger Themen der paulinischen Theologie eine wichtige Position ein.56 2.1 Ein Fenster in die werdende Christologie? Der sogenannte „Philipperhymnus“ Ein Zentrum der Diskussion ist seit langem der sogenannte „Philipperhymnus“, der für die Frage nach der Entstehung der Christologie als der wichtigste ‚vorpaulinische‘ Text gilt. Wenn die in der Forschung klassisch gewordene Einschätzung zutrifft, dann bietet dieser Text, der in Philipper 2,6–11 als „Einlage“57 in ethisch-paränetischer Sekundärverwendung vorliegt, ein sehr frühes Paradigma der Christologie, eine schematische Darstellung des ‚Weges‘ des Gottessohns in die Tiefe und in den Tod und 53

So u. a. WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 149–157. Vgl. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 186–192; D. SCHINKEL, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv, FRLANT 220, Göttingen 2007, 88–90 s. außerdem den Beitrag von Manuel Baumbach in diesem Band. 55 So WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 171f. 56 Vgl. L. BORMANN, Philipperbrief, in: Wischmeyer (Hg.), Paulus (s. Anm. 33), 256– 272 (260): „In der Wirkungsgeschichte des Briefs stehen die Reflexionen über das individuelle Sterben (1,19–26), der sog. Christushymnus (2,6–11) und die Überlegungen zur Gerechtigkeit aus Glauben (3,7–11) im Mittelpunkt.“ S. weiter BROER / WEIDEMANN, Einleitung (s. Anm. 8), 366–369. 57 So W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 55. 54

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seiner folgenden Erhöhung zum Kyrios und zur universalen Herrschaft. Der Text ist insofern von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion der Genese der paulinischen (und auch der johanneischen) Christologie. Er steht im Zentrum der Diskussion um die Frage, wie früh in vorpaulinischer Zeit eine ‚hohe Christologie‘ existierte, ab wann und in welcher Form von der Göttlichkeit Christi und seiner Präexistenz die Rede sein konnte und wie diese Aussage sachlich mit der paulinischen und johanneischen Sendungs- bzw. Gesandtenchristologie und der Spitzenaussage der Inkarnation des göttlichen Logos (Joh 1,14) in Beziehung steht.58 Freilich ist der Text voll Aporien,59 in formaler, religionsgeschichtlicher und semantischer Hinsicht:60 Das erste Problem ist, dass hier natürlich kein Hymnus im Sinne der griechischen Poesie vorliegt,61 und auch die Annahme, der Text sei ein gottesdienstlich bekanntes Lied,62 bei dessen Zitierung die Adressaten womöglich gleich mitgesungen hätten oder zumindest innerlich zustimmend mitgegangen wären, klingt wohl allzu romantisch. Freilich implizieren die alternativen Vorschläge einer Gattungsbestimmung z. B. als

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Zum Verhältnis von Epiphanie- und Inkarnationsaussage in Joh 1,14 s. J. FREY, Joh 1,14, die Fleischwerdung des Logos und die Einwohnung Gottes in Jesus Christus. Zur Bedeutung der ‚Schechina-Theologie‘ für die johanneische Christologie, in: B. Janowski / E. E. Popkes (Hg.), Das Geheimnis der Gegenwart Gottes. Zur SchechinaVorstellung in Judentum und Christentum, WUNT 318, Tübingen 2014, 231–256 (237– 242). 59 So S. VOLLENWEIDER, Der ‚Raub‘ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263–284; s. auch DERS., Die Metamorphose des Gottessohns. Zum epiphanalen Motivfeld in Phil 2,6–8, ebd., 285–306. 60 Martin Hengel formulierte 1987: „Über kaum einen neutestamentlichen Text ist in den letzten 50 Jahren so viel geschrieben worden wie über diese sieben Verse“ (M. HENGEL, Das Christuslied im frühesten Gottesdienst, in: ders., Studien zur Christologie. Kleine Schriften IV, WUNT 201, Tübingen 2006, 205–258 [256]). Die ältere Forschungsgeschichte ist aufgezeichnet bei R. P. MARTIN, Carmen Christi. Philippians 2:5– 11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship, MSSNTS 4, Cambridge 1967 (21983). 61 Dessen ‚Identifikation‘ als Hymnus erfolgte grundlegend durch Ernst Lohmeyer, der allerdings eher von einem „Stück urchristlicher Psalmdichtung“ und von einem „carmen Christi“ gesprochen hatte (E. LOHMEYER, Kyrios Jesus, SHAW 1927/28, 4. Abhandlung, Heidelberg 1928 [Nachruck Darmstadt 21961], 7). Mit der griechischen Hymnendichtung ist der Text nicht vergleichbar. 62 S. grundlegend K. W ENGST, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, Gütersloh 1972; R. DEICHGRÄBER, Gotteshymnus und Christushymnus in der frühen Christenheit, StUNT 5, Göttingen 1967; zur Bedeutung der Hymnen für die Entwicklung der Christologie M. HENGEL, Hymnus und Christologie, in: ders., Studien zur Christologie (s. Anm. 60), 185–204, DERS., Das Christuslied im frühesten Gottesdienst, ebd., 205–258.

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‚epideiktische Passage‘,63 mindestens ebenso große Probleme, etwa hinsichtlich der Voraussetzung, dass Paulus einer bestimmten Form der Rhetorik verpflichtet sei.64 Eine gewisse poetische Gestalt ist diesem „christologischen Bekenntnistext“65 auch kaum abzusprechen, wenngleich eine durchgehende metrische oder rhythmische Struktur66 bisher nicht aufgewiesen werden konnte.67 Das Vokabular und die über den Kontext in Phil 2 überschießenden Inhalte legen zwar nahe, hier die Aufnahme eines vorgeformten Stückes zu vermuten, doch bleibt dessen ‚Sitz im Leben‘ – Gottesdienst oder Katechese – unsicher, auch weil wir von beiden Vollzügen in der Frühzeit wenig wissen. Auch die Einordnung des Textes als ‚vorpaulinische‘ oder besser ‚nebenpaulinische‘ Tradition, die seit Lohmeyers These weithin Gültigkeit hatte, wurde zuletzt verstärkt in Frage gestellt.68 Jedenfalls kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Apostel – in Antiochien oder anderswo im Zuge seiner Mission – an der Gestaltung dieses Textes mitgewirkt hätte.69 Fragwürdig bleiben daher auch alle Versuche, in dem Text ‚Tradition‘ und ‚Redaktion‘ zu unterscheiden und die Tradition nach bestimmten metrischen Prinzipien zu rekonstruieren.70 Ob die klimaktische Betonung des Kreuzes in der ‚überschießenden‘ Wendung θανάτου δὲ σταυροῦ die paulinische Zuspitzung einer zunächst ohne den Kreuzesbezug formulierten 63 So R. BRUCKER, ‚Christushymnen‘ oder ‚epideiktische Passagen‘?, FRLANT 176, Göttingen 1997, 318–322. Brucker klassifiziert den Text näherhin als ‚Epainos‘ (ebd., 319). 64 So bei BRUCKER, ‚Christushymnen‘ (s. Anm. 63), 290–298. 65 So G. KENNEL, Frühchristliche Hymnen?, WMANT 71, Neukirchen-Vluyn 1995, 276. 66 S. z. B. die schöne Strukturierung des ganzen Textes einschließlich der Wendung θανάτου δὲ σταυροῦ bei O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Überlegungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 21991, 8–17. 67 Nach KENNEL, Frühchristliche Hymnen (s. Anm. 65), 224, führt hier „die Kombination mehrerer Prinzipien … zu einer höchst individuellen Gestalt.“ Schön formuliert M. D. HOOKER, Philippians 2.6–11, in: E. E. Ellis / E. Gräßer (Hg.), Jesus und Paulus (FS W. G. Kümmel), Göttingen 21978, 151–164 (152): „We have here an example of poetic style rather than an actual ‚poem‘ or ‚hymn‘.“ 68 So u. a. H. R IESENFELD, Unpoetische Hymnen im Neuen Testament? Zu Phil 2,1– 11, in: J. Kilunen / V. Riekkinen / H. Räisänen (Hg.), Glaube und Gerechtigkeit (FS Rafael Gyllenberg), SESJ 38, Helsinki 1983, 153–168 (167); O’BRIEN, Philippians (s. Anm. 21), 198–202; B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 21), 120. 69 Das Argument, dass der Apostel an einem christologischen ‚Gesamtbild‘ sonst kein Interesse gehabt hätte und stets auf die Heilsbedeutung ‚für uns‘ zu sprechen gekommen wäre (so W ALTER, Philipper [s. Anm. 16], 58), ist wenig zugkräftig und spiegelt eher die Kategorien der Bultmann’schen Interpretation als den historischen Paulus. 70 D. HÄUSSER, Christusbekenntnis und Jesusüberlieferung bei Paulus, WUNT 2/210, Tübingen 2006, 227, fasst zusammen: „Elf von achtzehn Zeilen passen … nicht in das nach Lohmeyer vorauszusetzende Schema.“

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vorpaulinischen Aussage ist,71 erscheint daher fraglich. Im Hintergrund dieser Rekonstruktion steht nicht zuletzt die protestantische Stilisierung des Paulus als eines ‚exklusiven‘ theologus crucis, und die Zirkularität solcher Rückschlüsse ist problematisch. In jedem Fall setzt die paulinische Verwendung die Zustimmung zu den Aussagen voraus. Mit der Problematisierung von Form und Textbestand einer möglichen vorpaulinischen Tradition werden auch die älteren religionsgeschichtlichen Hypothesen zum Hintergrund des „Philipperhymnus“ brüchig. Die Vorschläge reichen von der Annahme eines gnostischen „Urmensch-ErlöserMythos“72 über einen hellenistisch-jüdischen „Weisheitsmythos“73 und hellenistisch-judenchristliche Spekulationen über die Gottebenbildlichkeit Adams74 bis zum Motiv des Leidenden Gerechten75 und zum Gottesknecht von Jes 53,76 doch lässt sich bestreiten, dass ein einziges Konzept für die gesamte Beschreibung des Weges des Gottessohnes Modell gestanden haben muss.77 Am schwierigsten sind die Aussagen über die „Gestalt Gottes“ (μορφῇ θεοῦ) und der Gottgleichheit (εἶναι ἴσα θεῷ) zu deuten. Diese dürfen natürlich noch nicht aus dem späteren Rahmen der Zweinaturenlehre gedeutet werden, sondern weisen auf einen breiten Horizont epiphanaler

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So ein breiter Konsens von LOHMEYER, Kyrios Jesus (s. Anm. 61), 8f., über E. KÄKritische Analyse von Phil. 2,5–11, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 51–95 (82), bis F. HAHN, Theologie des Neuen Testaments I, Tübingen 2002, 209. Anders jedoch HOFIUS, Christushymnus (s. Anm. 66), 10, zuvor bereits M. DIBELIUS, An die Thessalonicher I, II. An die Philipper, HNT 11, Tübingen 31937, 81, und zuletzt auch HÄUßER, Christusbekenntnis (s. Anm. 70), 222. Auch Vollenweider, Raub (s. Anm. 59), 264 Anm. 12. hält V. 8c und V. 11c nicht für eine paulinische Interpolation in einen ursprünglich ohne diese Aussagen formulierten Hymnus. 72 So KÄSEMANN, Kritische Analyse (s. Anm. 71), 80f.; vgl. auch R. B ULTMANN, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 91984, 132f. 73 D. GEORGI, Der vorpaulinische Hymnus Phil 2,6–11, in: E. Dinkler (Hg.), Zeit und Geschichte. Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Geburtstag, Tübingen 1964, 263– 293 (271). 74 So prononciert J. D. G. DUNN, Christology in the Making, London 1980, 114–121. 75 So E. SCHWEIZER, Erniedrigung und Erhöhung bei Jesus und seinen Nachfolgern, Zürich 1955, 35–44.51–54. 76 J. J EREMIAS, Zu Phil. 2,7: ΕΑΥΤΟΝ ΕΚΕΝΩΣΕΝ, NT 6 (1963), 182–188; zuvor schon L. CERFAUX, L’hymne au Christ-Serviteur de Dieu (Phil., II,6–11 = Is., LII,13– LIII,12), in: Recueil Lucien Cerfaux II: Études d’exégèse et d’histoire religieuse, BEThL 7, Gembloux 1954, 425–437. 77 So VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 265: „Es empfiehlt sich, auf ein monolithisches religionsgeschichtliches Modell, das alle wesentlichen Aussagen von Phil 2,6–11 erfasst, zu verzichten.“ SEMANN,

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Motive,78 die sich im hellenistischen Judentum mit Vorstellungen der „gottähnlichen Erscheinung von Engeln“79 verbanden. Von der in Joh 1,14 formulierten „Inkarnation“ ist Phil 2,6 noch weit entfernt. Andererseits ist mit Samuel Vollenweider schon in Phil 2,7 von einer tiefgreifenden Modifikation des epiphanalen Musters auszugehen, wenn von der „Entleerung“ und der Übernahme der „Gestalt eines Sklaven“ und letztlich klimaktisch vom (Kreuzes-)Tod Christi die Rede ist.80 Hingegen erklärt sich die Rede von der Erhöhung und universalen Huldigung des Kyrios in V. 9–11 eher auf dem Hintergrund der biblischen Erwartung der universalen eschatologischen Huldigung Jahwes als König (Jes 45,23 LXX). Phil 2,6–11 formuliert somit „die Offenbarung der eschatologischen Königsherrschaft Gottes in der Erhöhung des gekreuzigten Jesus Christus.“81 Dem inthronisierten Gekreuzigten kommt nicht weniger als der Gottesname (d. h. nach der LXX das artikellose κύριος) und die universale Herrschaft zu.82 Von hier aus bieten sich auch Brücken zu dem Verständnis des schwierigen ἁρπαγμός in 2,6 an,83 das Samuel Vollenweider aus dem Diskurs über „Usurpatoren der universalen Herrschaftsmacht Gottes“84 und damit auf dem Hintergrund der Erfahrung von „gottgleichen Könige(n) in der hellenistischen Welt“85 deutet. Ihnen gegenüber (und damit dem gesamten hellenistischen Streben nach Statusgewinn und Statuserhalt) erscheint der sich selbst erniedrigende Christus „als Gegenbild des sich selbst erhöhenden Herrschers“,86 dessen Statusverzicht ihn letztlich zur Herrschaft und zur universalen Verehrung qualifiziert. Der Bekenntnistext ist damit ein durchaus politisch konnotierter Text und zugleich ein probates Exempel für die ethische Paränese, in die er in Phil 2 eingefügt ist. Als Fenster in das „Laboratorium“ der frühen Christologie kann der Text gleichwohl dienen. Er zeigt, wie relativ früh – im hellenistischen Ju-

78 S. dazu U. B. MÜLLER, Die Menschwerdung des Gottessohns. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus, SBS 140, Stuttgart 1990, 21– 28. 79 So VOLLENWEIDER, Metamorphose (s. Anm. 59), 301. 80 VOLLENWEIDER, Metamorphose (s. Anm. 59), 302–305. 81 So HOFIUS, Christushymnus (s. Anm. 66), 65. 82 S. dazu HOFIUS, Christushymnus (s. Anm. 66), 41–55; zustimmend VOLLENWEIDER , Raub (s. Anm. 59), 265. 83 S. dazu erhellend VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59); zuvor N. T. WRIGHT, ἁρπαγμός and the Meaning of Philippians 2:5–11, JThS 37 (1986), 321–352; abgedruckt in: DERS., The Climax of the Covenant. Christ and the Law in Pauline Theology, Edinburgh 1991, 62–90. 84 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 271f., verweist auf Antiochus IV., Pompeius, Caligula und später Nero sowie biblische Texte wie Jes 14 und Ez 28. 85 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 274–278. 86 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 283.

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denchristentum in Antiochien87 oder anderswo – in Aufnahme von Traditionen der LXX und vermutlich schon auf der Basis der christologischen Lektüre von Psalmen wie Ps 109,1 LXX88 der Gekreuzigte als Kyrios bekannt wurde, der natürlich jene „göttliche Gestalt“, derer er sich entleerte, zuvor hatte. Ob damit schon ein Gottgleichheit oder lediglich eine nicht weiter spezifizierte Hoheitsstellung im göttlichen Bereich gemeint ist, lässt sich diskutieren.89 Jedenfalls wird diese „göttliche Gestalt“ dann in einen schroffen Kontrast zur „Sklavengestalt“ gebracht, die der Gottessohn angenommen hat, und auch bei dieser Lesart ist bereits eine Präexistenzchristologie impliziert,90 insofern sich der Gottessohn eben dieser „göttlichen Gestalt“ entleeren und die „Sklavengestalt“ annehmen konnte. Der sogenannte „Philipperhymnus“ ist insofern ein wesentliches Zeugnis für die frühe Herausbildung einer ‚hohen‘ Christologie, und diese ist nicht – wie die religionsgeschichtliche Schule meinte – ein Effekt des Einflusses paganer Religion in heidenchristlichen Gemeinden, sondern bereits in der Frühzeit der Jesusbewegung im Kontext jüdischen Denkens und unter Verwendung von (hier hellenistisch-)jüdischen Sprachformen entstanden.91 2.2 Paradoxien der Soteriologie? Eine besondere theologische Aporie bietet – nicht zuletzt im Kontext reformatorischen Denkens – die paradoxe Mahnung in Phil 2,12f. Diese, als Konsequenz aus dem Modell des Christuswegs Phil 2,6–11 formulierte Mahnung „Mit Furcht und Zittern schafft eure Rettung!“ (V. 12) akzentuiert die Tatseite des Glaubens in einer Drastik, die in der protestantischen 87

So die Vermutung bei W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 59. Dazu ausführlich M. HENGEL, „Setze dich zu meiner Rechten!“ Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110, in: ders., Studien zur Christologie (s. Anm. 60), 281–367. 89 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 280f. entscheidet sich für die letztgenannte Option, da die Interpretation des ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων als Gottgleichheit wohl zu sehr schon aus nicänischer Perspektive formuliert ist. 90 Bestritten wurde dies z. B. emphatisch von DUNN, Christology (s. Anm. 74), 114; DERS., The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids 1998, 1998, 281–288.292f., der seinerseits Phil 2,6 nur im Sinne einer Adam-Christologie, d. h. einer Aussage der Gottebenbildlichkeit Adams verstehen wollte. Dagegen jedoch überzeugend C. A. W ANAMAKER , Philippians 2,6–11. Son of God or Adamic Christology, NTS 33 (1987), 179– 193. 91 Vgl. zum Überblick zuletzt A. CHESTER, High Christology – Whence, When and Why?, Early Christianity 2 (2011), 22–50; grundlegend L. A. HURTADO, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Cambridge 2003; dazu auch J. FREY, Eine neue religionsgeschichtliche Perspektive. Larry W. Hurtados Lord Jesus Christ und die Herausbildung der frühen Christologie, in: C. Breytenbach / J. Frey (Hg.), Reflections on Early Christian History and Religion – Erwägungen zur frühchristlichen Religionsgeschichte, AJEC 81, Leiden 2012, 117–168. 88

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Exegese oft als Ausdruck der „Werkgerechtigkeit“92 empfunden wurde. So fragte Günther Bornkamm entsetzt, „Wie reimt sich der Imperativ ‚Schaffet…!‘ zusammen mit der Botschaft des Paulus, daß die Rettung im Evangelium von der iustificatio sola gratia uns aufgetan ist?“93 In seltsamer Paradoxie dazu scheint der – begründend angefügte – Satz V. 13 zu stehen: „denn Gott ist es, der in euch das Wollen und das Vollbringen bewirkt…“ Die Frage ist berechtigt, ob diese Sätze nicht „ein Widerspruch in sich selbst“ sind,94 und im Horizont der klassischen protestantischen Auslegung stellt sich das Problem, ob nicht einerseits das Ernstnehmen beider Aussagen zu einem klassischen Synergismus führt,95 bei dem der Mensch eben seinen Anteil am Heil zu bewirken hat, während andererseits, wenn man das begründende γάρ von V. 13 ernst nimmt, die Betonung der Alleinwirksamkeit Gottes die Aussage von V. 12 zu neutralisiert. Dann ist allerdings fraglich, warum der Apostel zuvor so ‚furchterregend‘ formuliert? Ist Phil 2,12–13 der Kronzeuge der paradoxen Zuordnung von Indikativ und Imperativ in der paulinischen Ethik, oder wird damit dem Apostel zu viel „Freude an einem modernen Paradox-Christentum“96 unterstellt? Die Interpretation steht hier vor der Aufgabe, feinsinnig die rhetorische Intention dieser Sätze in ihrem Kontext zu erfassen und sie nicht isoliert zu lesen – und doch die soteriologischen Implikationen zu bedenken: Es geht nach V. 12a um einen Appell an die Philipper, den „Gehorsam“ (gegenüber dem von Paulus verkündigten Evangelium, aber insofern natürlich auch gegenüber Christus und Gott), den diese in seiner Gegenwart und nun (z. B. in der Unterstützung des Paulus) noch mehr in seiner Abwesenheit praktiziert haben, unvermindert weiterzuführen. Dazu soll nicht zuletzt das Exempel von Phil 2,6–11, das ja gerade vom „Gehorsam“ Jesu Christi berichtete (2,8), motivieren.97 Die Existenz der Philipper im fortgesetzten Gehorsam gegenüber dem Apostel ist insofern nicht nur „Nachahmung“ (mimesis) des Paulus (Phil 3,17), sondern auch mimesis Christi im Kontext 92

So DIBELIUS, Philipper (s. Anm. 71), 83. G. BORNKAMM, Der Lohngedanke im Neuen Testament, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze 2, München 21963, 69–92 (91). 94 So B ORNKAMM, Lohngedanke (s. Anm. 93); vgl. auch B ARTH, Philipper (s. Anm. 16), 49. 95 LOHMEYER, Philipper (s. Anm. 29), 102, wollte hier ein Relikt pharisäischer Frömmigkeit sehen. 96 So die kritische Kommentierung bei MÜLLER, Philipper (s. Anm. 21), 116. 97 Dass die Mahnung aus den vorausgehenden Abschnitten (1,27–2,4 und 2,5–11) folgt und damit auch die Beschreibung des Weges des Gottessohnes als ‚Exempel‘ fungiert, ist durch das anknüpfende ὥστε in V. 12 deutlich und durch eine Reihe von sachlichen Verbindungen gestützt (vgl. B OCKMUEHL, Philippians [s. Anm. 21], 149). Vehement bestritten wurde dies aus vorwiegend dogmatischen Gründen bei KÄSEMANN, Kritische Analyse (s. Anm. 61), 81: „Er ist Urbild, nicht Vorbild.“ 93

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einer Welt, deren Wertmaßstäbe sich von denen des Evangeliums, dem Statusverzicht und der Orientierung nicht am Eigenen, sondern an dem der Anderen (Phil 2,3f.; vgl. 1Kor 11,1) – fundamental unterscheiden (Phil 1,27–2,4).98 „Furcht und Zittern“ bezeichnet hier also kaum die drohende Möglichkeit des Heilsverlusts,99 die bei Paulus zwar nicht ausgeschlossen, aber in der hier vorliegenden, sehr herzlich eingeführten Mahnung nicht im Fokus ist, ebensowenig freilich das „aufgeregt klopfende Herz“ eines Liebenden.100 Sie hat nicht nur zu tun mit dem Erschrecken vor den mächtigen Taten Gottes,101 sondern auch mit der Angefochtenheit der Gemeinde in den widrigen Umständen einer anders ausgerichteten Stadtgesellschaft,102 in der es – trotz der göttlichen Verheißung – alles andere als selbstverständlich erscheint, dass die Gemeinde ihrer Berufung entsprechend zum Ziel gelangen kann. Darum wird ihr in V. 13 wie bereits in 1,6 der Zuspruch gegeben, dass Gott sein Werk in den Glaubenden vollenden wird. Die „Rettung“, die die Philipper „schaffen“ sollen, ist daher trotz des ἑαυτῶν nicht auf den individuellen Heilserwerb bezogen,103 vielmehr ist durch die inhaltliche Betonung der Einheit und gegenseitigen Fürsorge der Gemeinde der gemeinschaftliche Aspekt deutlich im Blick:104 Die Gemeinde soll untadelig zum Ziel kommen (vgl. Phil 2,15), dabei ist die eschatologische Vollendung und der „Ruhm“ des Paulus am „Tag Christi“ (Phil 2,16) ebenso im Blick wie der Gedanke der gegenwärtigen lebenspraktischen Orientierung am Evangelium. Insofern ist auch das κατεργάζεσθαι hier nicht ein heilsbegründendes Handeln, sondern das fortgesetzte, 98 Zur Mimesis s. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 186–192, grundlegend H. D. B ETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967, sowie die Beiträge von Peter Wick und Manuel Baumbach in diesem Band. 99 Gegen W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 65. Klar DIBELIUS, Philipper (s. Anm. 71), 63f.: „die Worte sind also nicht auf Sündenangst zu beziehen,“ in Verbindung mit V. 13 liege „eine im optimistischen Ton gehaltene Ermunterung“ vor. 100 W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 65. 101 So die meisten Kommentatoren aufgrund der Verwendung des Ausdrucks in der LXX und anderen paulinischen Stellen s. z. B. O’BRIEN, Philippians (s. Anm. 21), 282f.; GNILKA Philipperbrief (s. Anm. 14), 149: „die Erschrockenheit von Menschen, die in die Nähe Gottes geraten sind, an denen Gott ihr Werk begonnen hat“. Zum Gebrauch der Wendung s. ausführlich S. PEDERSEN, „Mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12–13), StTh 32 (1978), 1–31. 102 Vgl. H. GIESEN, Furcht und Zittern – vor Gott? Zu Philipper 2,12, Theologie der Gegenwart 31 (1988), 86–94. 103 Gegen LOHMEYER, Philipper (s. Anm. 29), 103, der hier ganz von der Martyriumssituation her interpretiert. Gerade in dem Pronomen ist die Gemeinde im Plural angesprochen, wie GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 14), 149, beobachtet. 104 B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 21), 151, weist mit Recht darauf hin, dass die Alternative individuell/sozial hier verfehlt ist. S. die ausführliche Diskussion bei O’B RIEN, Philippians (s. Anm. 21), 277–281.

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schon im bisherigen Gehorsam praktizierte tätige Handeln gemäß den Maßstäben des Evangeliums, zu dem Paulus seine Gemeinde hier warmherzig ermahnt und durch den Zuspruch der Wirksamkeit Gottes in V. 13 ermuntert. Die Intensität der Mahnung hat dabei eine Entsprechung in der ähnlich paradoxen Formulierung Phil 3,12, die in ihrer Schärfe vielleicht doch aus der angespannten Situation der Gefangenschaft und Todesnähe des Apostels zu verstehen ist. Ein Widerspruch zum paulinischen Evangelium, das diesen lebenspraktischen Aspekt ja nicht aus-, sondern stets einschließt, liegt daher in Phil 2,12f. nicht vor – bzw. nur dann, wenn die Aussagen aus ihrem literarischen und sozialen Kontext herausgerissen und im Horizont anachronistischer Debatten gelesen werden. Noch mit einer zweiten Passage erlangt der Philipperbrief Bedeutung für die soteriologische Diskussion. Gerade angesichts der im angloamerikanischen Raum entwickelten „New Perspective on Paul“, die für die Paulusforschung zweifellos bedeutsame Impulse gebracht hat,105 aber in dessen Rahmen die paulinische Soteriologie zunehmend missionspragmatisch im Sinne der Relativierung spezifischer jüdischer Abgrenzungsbestimmungen (vgl. Gal 2,11–21) und der Eingliederung der Heiden (-Christen) in den Gottesbund interpretiert wurde, muss die Formulierung in Phil 3,9 irritieren, wo Paulus die „eigene Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt“ und die Gerechtigkeit „durch den Glauben an Christus (διὰ πίστεως Χριστοῦ), die aus Gott kommt durch den Glauben“, in einen schroffen Gegensatz zueinander bringt. Man wird hier „die Grundsätzlichkeit der Aussagen kaum bestreiten können.“106 Die Rede von der Partizipation („in Christus“) und die forensische Dimension der aufgrund des Glaubens geschenkten „Gerechtigkeit“ „vor Gott“ lassen sich hier nicht trennen.107 Die nicht bloß autobiographische, exemplarisch-existentielle Redeweise in Phil 3 macht jedenfalls deutlich, dass es in der paulinischen Gerechtigkeitsauffassung um mehr als nur um die Einbeziehung der Heiden in das Gottesvolk geht – diese steht ja hier gar nicht zur Debatte –, sondern viel grundsätzlicher um die Stellung des Menschen zu Gott. Hier hat die reformatorisch geprägte Paulusauslegung ihr bleibendes Recht, und es ist kaum verwunderlich, dass der Philipperbrief bei den Vertretern der sogenannten „New Perspective“ nur eine untergeordnete Rolle spielt. 105 S. dazu FREY, Das Judentum des Paulus (s. Anm. 45), 55–63; sowie die gründliche Diskussion bei S. WESTERHOLM, Perspectives Old and New on Paul. The ‚Lutheran‘ Paul and His Critics, Grand Rapids 2004 und D. A. CARSON / P. T. O’BRIEN / M. SEIFRID (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Band 1: The Complexities of Second Temple Judaism, WUNT 2/140, Tübingen 2001; dies. (Hg.), Justification and Variegated Nomism, Band 2: The Paradoxes of Paul, WUNT 2/181, Tübingen 2004. 106 So H. LÖHR, Philipperbrief, in: F. W. Horn (Hg.) Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 203–210 (209). 107 Dies gesteht auch DUNN, Philippians (s. Anm. 7), 479, zu.

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2.3 ἐπίσκοποι und διάκονοι und die Herkunft christlicher Amtsbezeichnungen Einen Einblick in die Entwicklung frühchristlicher Termini und Strukturen verspricht die auffällige Erwähnung von ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι in der adscriptio Phil 1,1. Nirgendwo sonst in seinen authentischen Briefen erwähnt Paulus die Amtsbezeichnung ἐπίσκοπος, die im Neuen Testament sonst nur in den Pastoralbriefen (1Tim 3,2; Tit 1,7) und dann bei den Apostolischen Vätern, besonders bei Ignatius begegnet.108 Auch διάκονος findet sich zwar sich noch an einigen weiteren paulinischen Stellen, aber nur noch einmal, in Röm 16,1 als Bezeichnung für ein gemeindliches ‚Amt‘ der Phoebe. Die Formulierung erscheint somit als „ein merkwürdiger Findling in einer Umwelt, die sonst nichts dergleichen zu bieten hat.“109 Zu bedenken ist ja, dass im 1. Korintherbrief vermutlich nur kurz zuvor nicht von ἐπίσκοποι und διάκονοι die Rede ist, sondern eine charismatischen Leitungsstruktur vorzuliegen scheint, in der nur Propheten und Lehrer als Personen mit habitualisierten Leitungsaufgaben genannt werden (1Kor 12,28).110 Auffällig ist hier, dass offenbar eine Pluralität von ἐπίσκοποι in Philippi vorausgesetzt wird, was sich von der späteren Entwicklung zum „monarchischen Episkopat“ mit dem Ideal des einen ‚Bischofs‘ in einer Stadt deutlich unterscheidet. Was für ‚Ämter‘ oder Funktionen sind also hier bezeichnet, und wie fügt sich Phil 1,1 in die Entwicklung der Struktur gemeindlicher Ämter ein? Die Diskussion ist hier natürlich stark von konfessionellen Interessen an der Legitimierung oder Delegitimierung der altkirchlichen Ämterordnung111 beeinflusst. Auf der einen Seite steht die kritische Ausscheidung: Ferdinand Christian Baur hatte auch unter Verweis auf Phil 1,1c den Philipperbrief für nachpaulinisch erklärt, und Wolfgang Schenk112 wollte die artikellose Erwähnung der Episkopen und Diakone als späte Interpolation der Redaktion ansehen. Auf der anderen Seite steht das konservative Interesse, bereits bei

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1Petr 2,25 ist der Terminus auf Christus bezogen. So K. NIEDERWIMMER, Theologie des Neuen Testaments. Ein Grundriss, Wien 2003, 397. 110 S. zum Überblick J. FREY, Ämter, in: Horn (Hg.), Paulus Handbuch (s. Anm. 106), 408–412. 111 Zu den hier wirksamen Interessen s. FREY, Ämter (s. Anm. 110), 408; ausführlicher T. SÖDING, Geist und Amt. Übergänge von der apostolischen zur nachapostolischen Zeit, in: T. Schneider / G. Wenz (Hg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Band 1: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg i. Br. 2004, 189–263 (194–200). 112 W. SCHENK, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart 1984, 78– 82.334; auch W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 33. 109

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Paulus zumindest „Anfänge einer Verfassung“ der Kirche113 und damit in nuce schon ein ‚Bischofsamt‘ zu finden. Im Rahmen seiner Überzeugung, dass das dreigliedrige kirchliche Amt noch in der apostolischen Zeit entstanden sei, postulierte auch der gelehrte Bischof Joseph Barber Lightfoot für die neutestamentliche Zeit die Identität der Ämter des ἐπίσκοπος und des πρεσβύτερος,114 um dann Phil 1,1c frei mit „the presbyters and deacons“ wiederzugeben.115 Die neuere Forschung muss hier historisch stärker differenzieren. Zum einen lässt sich beobachten, dass – offenbar erst in nachpaulinischer Zeit – die Strukturen einer Ältestenordnung und die einer Leitung durch ἐπίσκοποι zusammengeführt wurden (vgl. Apg 20,17.28 und Tit 1,5.7), was impliziert, dass diese ‚Ämter‘ von Anfang an nicht identisch waren bzw. dass die Termini in unterschiedlichen Kontexten verwendet wurden, um Leitungsfunktionen zu bezeichnen.116 Versucht man zu bestimmen, welche Funktion hier mit ἐπίσκοπος bezeichnet sein soll, dann muss man aus der Verwendung in Phil 1,1 zumindest folgern, dass sich bestimmte Personen in Philippi angesprochen wussten, d. h. dass die Bezeichnung bereits eine gewisse habituell ausgeübte Funktion und insofern ein gemeindliches ‚Amt‘ bezeichnete. Der Terminus begegnet zwar auch in der LXX für ‚Aufseher‘ über verschiedene Bereiche, ist aber v. a. im hellenistischen Bereich als relativ unspezifische Bezeichnung für Verwaltungs-

113 So K.-H. SCHELKLE, Paulus. Leben – Briefe – Theologie, EdF 152, Darmstadt 1981, 105. Vgl. auch GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 14), 39: „Ob wir es hier noch mit geistgewirkten Ämtern zu tun haben oder mit Ämtern, für die man durch Bestimmung oder Wahl bestellt wurde, bleibt unsicher, das letztere ist jedoch wahrscheinlicher.“ 114 J. B. LIGHTFOOT, Saint Paul’s Epistle to the Philippians. A Revised Text with Introduction, Notes and Dissertations, London 1913, 95. Ebd., 196: “The Episcopate was formed not out of the apostolic order by localisation but out of the presbyterial by elevation: and the title, which originally was common to all, came at length to be appropriated to the chief among them.” 115 LIGHTFOOT, Philippians (s. Anm. 114), 82. Damit seien eben jene ‚officers‘ bezeichnet, die für die Zuwendung der Gemeinde an Paulus verantwortlich gewesen seien. 116 Vgl. M. T IWALD, Die vielfältigen Entwicklungslinien kirchlichen Amtes im Corpus Paulinum und ihre Relevanz für heutige Theologie, in: T. Schmeller / M. Ebner / R. Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle im Kontext, QD 239, Freiburg i. Br. 2010, 101–128 (117): „Wie wir wissen, entwickelte sich die episkopal-diakonale Konzeption in den hellenistischen Gemeinden, während die presbyteriale Verfasstheit in den judenchristlichen Gemeinden zum Tragen kam. Diese zwei konkurrierenden Konzeptionen werden schon von Lukas ineinander geblendet und harmonisierend miteinander identifiziert. … Ähnliche Tendenzen finden sich in den Past, die die Episkopenverfassung nun auch in presbyterial geleiteten Gemeinden durchsetzen wollen.“ Vgl. auch J. ROLOFF, Kirche im Neuen Testament, GNT 10, Göttingen 1993, 261f.

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und Vereinsbeamte belegt.117 Da gerade in Philippi auch andere Vereine Bezeichnungen aus dem Bereich der Magistratsverwaltung (wie aedilis, curator und procurator) übernommen haben,118 ist die Vermutung ansprechend, dass die Bezeichnung hier ebenfalls dem öffentlichen Bereich entlehnt wurde, vielleicht zunächst als „ein auf Philippi begrenzter Sonderfall,“119 der dann allerdings, vielleicht unter Einfluss von Phil 1,1, Schule gemacht hätte. Der auffällige Plural zeigt zugleich, dass hier noch nicht die Funktion eines einzigen Leiters gemeint sein kann; vielmehr ist (durchaus im Einklang mit den aus Korinth ungefähr zeitgleich bekannten Gemeindestrukturen) eher an Vorsteher oder auch Patrone unterschiedlicher Hausgemeinden zu denken, die nicht zuletzt für die materielle Unterstützung der Gemeinde sorgten, aber natürlich auch andere Aufgaben der Ordnung des Gemeinschaftslebens und vielleicht auch der Verkündigung und Lehre wahrnahmen.120 Die Annahme, dass diese dann auch für die Unterstützung des inhaftierten Paulus Verantwortung trugen und deshalb eigens genannt werden, ist zwar nicht belegbar, aber doch plausibel, so dass sich die Nennung dieser Funktionsträger in der Adresse des Schreibens erklären könnte. Liest man die adscriptio also nicht anachronistisch auf dem Hintergrund der später entwickelten kirchlichen Ämterordnung, sondern in Aufnahme der Einsichten aus den vielfältigen Quellen zum griechischen und römischen Verwaltungs- und Vereinswesen, dann ergeben sich erhellende Einblicke in die Herausbildung von Verantwortungsstrukturen in den frühchristlichen Gemeinden, nicht zuletzt in die Kreativität und Flexibilität, in der sich die werdende Kirche in der jeweiligen Einfügung in ihren Lebenskontext Strukturen gegeben hat.

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S. bereits H. LIETZMANN, Zur altkirchlichen Verfassungsgeschichte, ZWTh 25 (191), 97–153 (105f.) und die breite Materialsammlung bei DIBELIUS, Philipper (s. Anm. 71), 52f. 118 Belege bei P. P ILHOFER, Philippi, Band 1: Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995, 144–146; vgl. D.-A. KOCH, Die Entwicklung der Ämter in den frühchristlichen Gemeinden Kleinasiens, in: Schmeller / Ebner / Hoppe (Hg.), Neutestamentliche Ämtermodelle (s. Anm. 116), 166–206 (176). 119 So KOCH, Entwicklung (s. Anm. 118), 176; ebenso P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 118), 147, der die Bezeichnung als Pendant zu dem lateinischen procuratores, das als Funktionsbezeichnung auf einer Bank im Heiligtum von Kipia gefunden wurde (s. ebd., 98f.). 120 A. HENTSCHEL, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT 2/226, Tübingen 2007, 176f., schreibt sogar den Verkündigungsdienst insbesondere den διάκονοι zu, während die ἐπίσκοποι eher Aufseherfunktionen wahrnahmen. Wie in Vereinen dürften sich auch in Hausgemeinden beide Funktionen vermischt haben. Vgl. O’B RIEN, Philippians (s. Anm. 21), 43, der mit Recht ein weites Aufgabenspektrum dieser Personen voraussetzt.

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2.4 ‚Entapokalyptisierung‘ und Hellenisierung? Die Eschatologie im Philipperbrief

Eine zentrale Rolle nimmt der Philipperbrief im Rahmen der Diskussion um die paulinische Eschatologie ein, ist er doch – neben 2Kor 5,1–10 – der Kronzeuge für eine oft ‚hellenistisch‘ genannte individuelle Eschatologie des Paulus.121 V. a. in Verbindung mit der Spätdatierung in die römische Gefangenschaft ergäbe sich so das Bild einer spezifischen ‚Wandlung‘ in der paulinischen Eschatologie,122 von der primären Orientierung an der apokalyptischen Parusieerwartung im 1. Thessalonicherbrief hin zu einer stärker am individuellen Tod ausgerichteten Eschatologie, in der die apokalyptischen Motive zurück- und hellenistische Vorstellungen stärker in den Vordergrund treten.123 Insbesondere Phil 1,23 erscheint in dieser Perspektive als „Zielpunkt einer folgerichtigen Entwicklung.“124 Die methodologischen Probleme eines solchen Entwicklungsmodells können hier nicht erörtert werden. Doch ist auch ohne eine Spätdatierung des Schreibens ernstzunehmen, dass Paulus im Philipperbrief (wie auch im 2. Korintherbrief) mit der Möglichkeit des eigenen Todes vor der Parusie rechnet, während er diese in 1Thess 4,17 und 1Kor 15,51f. noch zu erleben hoffte. Insofern ist durchaus mit einer Veränderung in der Zeitwahrnehmung des Apostels zu rechnen. Andererseits findet sich im Philipperbrief sehr wohl die Erwartung der Auferstehung der Toten (Phil 3,10f.) und der Parusie Christi (Phil 3,20f.), dreimal erscheint der Hinweis auf den „Tag Christi“ (Phil 1,6.10; 2,15f.), und gegen Ende formuliert Paulus fast proklamatorisch ὁ κύριος ἐγγύς (Phil 4,5). Die Rede von der erwarteten Verwandlung in die Herrlichkeitsgestalt des Kyrios in Phil 3,21 stimmt vorstellungsmäßig durchaus mit 1Kor 15,52–54 und 2Kor 5,2 überein.125 Von einer Preisgabe apokalyptischen Denkens oder auch nur dessen Zurücktreten kann daher im Blick auf den Philipperbrief kaum die Rede sein. Insofern wird man auch die anders konnotierte Aussage Phil 1,23 nicht isoliert, sondern nur im Kontext der erwähnten anderen Aussagen und natürlich im speziellen Kontext der unmittelbaren Erwartung des Martyriums (Phil 2,17) zu lesen haben. In dieser Situation kann der Apostel für sich persönlich eine bereits im antiken Judentum entwickelte Konzeption aufnehmen, nach der die Märtyrer in besonderer Weise im Tod zu Gott Vgl. zu 2Kor 5,1–10 N. W ALTER, Hellenistische Eschatologie bei Paulus, ThQ 176 (1996), 53–64. 122 Vgl. SCHNELLE, Wandlungen (s. Anm. 1), 45–48; DERS., Paulus (s. Anm. 1), 398– 401; DERS., Activity (s. Anm. 30), 442f. 123 SCHNELLE, Wandlungen (s. Anm. 1), 47. 124 So SCHNELLE, Wandlungen (s. Anm. 1), 47 Anm. 45. 125 M. HENGEL, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: ders., Paulus und Jakobus (s. Anm. 45), 302–417 (389). 121

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versetzt werden.126 Eine grundsätzliche Änderung der paulinischen Hoffnung liegt jedoch kaum vor, sondern eher ein Indiz für die situations- und adressatenbezogene Wahl der Formulierungen, die sich gerade in eschatologicis nicht zu einem geschlossenen System zusammenfügen.127 Verzichtet man darauf, dem Apostel ein Abrücken von den apokalyptischen Vorstellungen zu unterstellen, dann kann gerade die Vielfalt der Vorstellungs- und Bildwelt, mit der Paulus seine eschatologischen Hoffnungen äußert, faszinierende Perspektiven eröffnen. Denn Phil 1,21–25 bietet gerade im Kontext antiker philosophischer Aussagen über Leben, Tod und ggf. den selbst zu wählenden Tod eine erstaunliche Reflexion des eigenen Todesgeschicks, in der Paulus entschlossen für das aktive, dem Heil der anderen dienende Leben votiert.128 Der Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Eschatologie liegt nicht in der Annahme einer ‚konsequenten‘ Entwicklung, sondern in der Wahrnehmung, wie der Apostel in großer kultureller Kompetenz Traditionen und Bilder der biblischfrühjüdischen Überlieferung und Aspekte und Modelle aus der Welt seiner Adressaten miteinander verbindet und so die traditionelle Hoffnung in die hellenistisch-römische Welt ‚übersetzt‘. 2.5 Subversiv antiimperial? Das himmlische ‚Bürgerrecht‘ Mit der Erwartung des Parusiechristus „vom Himmel“ (Phil 3,20b) ist zugleich jene auffällige Rede vom πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς (Phil 3,20a) verbunden, die der Exegese besondere Rätsel aufgibt. Was ist mit diesem neutestamentlichen Hapaxlegomenon πολίτευμα gemeint, und in welcher Weise bietet Paulus hier und mit dem anderen seltenen Lexem πολιτεύεσθαι (Phil 1,27; vgl. noch Apg 23,1) eine spezifische Perspektive auf die Welt des ‚Politischen‘ bzw. das Imperium? Ist die Rede von der „himmlischen Heimat“ gar ein spezifischer Ausdruck jener „Diasporamentalität“, die weite Teile des (zumindest antiken) Christentums kennzeichnet.129 Und sind Formulierungen wie Phil 3,20f. gar in expliziter Antithese zu imperialen Macht- und Heilsansprüchen formuliert? Diese Thesen sind keineswegs neu: Schon Ernst Lohmeyer hat in seiner Studie 126 Vgl. Weish 3,1–6; 4,7–19; 2Makk 7,36; vgl. 4Makk 13;17; 16,5; 17,17–19 etc. Dazu MÜLLER, Philipper (s. Anm. 29), 66f. 127 Mit Recht weist W ALTER, Philipper (s. Anm. 16), 44, darauf hin, dass Paulus, was er hier in der Situation seiner Haft so formuliert, „nach der Entlassung aus der Haft auch wohl wieder anders ausdrücken“ konnte. 128 S. zu diesen Kontexten S. VOLLENWEIDER, Die Waagschalen von Leben und Tod. Phil 1,21–26 vor dem Hintergrund der antiken Rhetorik, in: ders., Horizonte (s. Anm. 59), 237–262. 129 Von „Diasporamentalität“ spricht C. MARKSCHIES, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt a. M. 22001, 98. Ebd., 9f. auch der Hinweis auf Phil 3,20.

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zum „Philipperhymnus“ formuliert: „Der römischen Bürgerschaft auf Erden, deren Haupt der kaiserliche Soter ist, steht die Bürgerschaft der Christusgläubigen im Himmel gegenüber, die ihren Soter Jesus Christus zu dauerndem Verweilen in ihrer Mitte erst erwartet. So läßt sich nur schwer der Schluß abweisen, daß hier zum erstenmal Jesus, der Kyrios des Christuskultes, und der römische Cäsar, der Kyrios des Kaiserkultes, in bewußtem Gegensatz einander gegenübergestellt werden.“130 Ob diese Gegenüberstellung tatsächlich die erste ist oder andere, subtilere ihr vorausgehen, kann man diskutieren. Jedenfalls rückt der Philipperbrief auch in Anbetracht des Forschungstrends, neutestamentliche Texte im Horizont des römischen Imperiums damit evtl. als Ausdruck einer mehr oder weniger subtilen Kritik an der römischen Herrschaft und ihrer Ideologie zu lesen, ins Zentrum der Diskussion.131 Dafür gibt es gute Gründe. Neben Korinth ist Philippi die am stärksten römisch geprägte Stadt im paulinischen Wirkungsgebiet. In der Colonia Iulia Augusta Philippensis ist der Anteil von römischen Bürgern besonders hoch, die Prägung durch römische Institutionen, römische Kultur und – natürlich auch – die imperiale Propaganda besonders intensiv.132 Ungeachtet der Frage, ob der Brief in Rom oder in einer anderen Provinzhauptstadt verfasst wurde, stellt sich zumindest angesichts der Adressaten die Frage, inwiefern sich hier besondere Spuren der Auseinandersetzung mit dem Imperium erkennen lassen, und eine besonders deutliche ‚politische Theologie‘ hervortritt. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass Paulus selbst in Haft ist. Damit ist er einerseits existentiell von dem Konflikt zwischen dem Evangelium und den herrschenden Mächten betroffen, andererseits dürfte die Situation der Haft auch zu gewissen Einschränkungen geführt haben, wenn der Apostel im Wissen um die Zensur von Briefen aus dem Gefängnis bzw. um ungebetene „Mitleser“ seine Aussagen entsprechend vorsichtig formulieren musste, um sich selbst und ggf. auch die Adressaten

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E. LOHMEYER, Christuskult und Kaiserkult, Tübingen 1919, 28. S. dazu speziell S. VOLLENWEIDER, Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 457–469; weiter A. STANDHARTINGER, Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, VWGTh 29, Gütersloh 2006, 364–382. Zu den methodologischen Problemen der Identifikation einer ‚verborgenen‘ Kritik am Imperium s. zuletzt C. HEILIG, Hidden Criticism? The Methodology and Plausibility of the Search for a Counter-Imperial Subtext in Paul, WUNT 2/392, Tübingen 2015. 132 So P. OAKES, Philippians. From People to Letter, MSSNTS 110, Cambridge 2001, 174: „Imperial ideology was all around: on coins, in status, in processions, games and feasts, in pictures and in inscriptions.” 131

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nicht zu gefährden.133 Eine offene Kritik des Imperiums oder auch der Herrscherverehrung ist gerade hier am wenigsten zu erwarten. Umso mehr stellt sich die Frage, ob der Brief eine subtil-kritische Lektüre nahelegt oder gar intendiert. Auch zu diesem Thema hat Samuel Vollenweider in gewohnter Abgewogenheit Stellung genommen.134 Für ihn ist der Philipperbrief einerseits „vielleicht das am meisten politische Implikationen enthaltende Schreiben des Apostels,“135 andererseits warnt er mit Recht davor, „bei jedem potentiell politischen Schlagwort unter der Hand eine virtuelle Antithese zu postulieren.“136 Natürlich ist die Weltherrschaft des Kyrios in einer gewissen Antithese zur Weltherrschaft des Princeps und anderer weltlicher Herrscher formuliert, aber auch und gerade die von Christus berichtete ‚Tugend‘, sein Verzicht auf arrogante Anmaßung und sein Statusverzicht, markieren eine radikale Alternative zur Werteordnung der Welt der Mächtigen.137 Der Aufruf zum πολιτεύεσθαι entsprechend den Maßstäben des Evangeliums (Phil 1,27) nimmt in gewisser Weise die Rede von „unserem πολίτευμα“ (Phil 3,20) schon vorweg und zielt also nicht auf eine entsprechende Aktivität im öffentlichen, politischen Leben,138 sondern auf „das Wahrnehmen des dem Evangelium entsprechenden himmlischen Bürgerrechts (3,20f).“139 Mit dieser Formulierung – ganz ungeachtet des-

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Vgl. dazu H. FÖRSTER / P. SÄNGER, Ist unsere Heimat im Himmel? Überlegungen zur Semantik von πολίτευμα in Phil 3,20, Early Christianity 5 (2014), 149–177 (168– 177), die die Aussage des Paulus aus der Situation der Haft und der Rücksichtnahme auf die „Mitleser“ im Gefängnis zu erklären versuchen. Ob Paulus den „Mitlesern“ allerdings durch die Aussage subtil vermitteln will, dass er ja Jude und damit Glied einer alteingesessenen Religionsgemeinschaft ist, um so für seinen Prozess einen günstigeren Ausgang zu erreichen (so ebd., 176), erscheint mir allzu subtil und sachlich abwegig. Anders und bedenkenswert J. M. G. B ARCLAY, Why the Roman Empire Was Insignificant to Paul, in: ders., Pauline Churches and Diaspora Jews, WUNT 275, Tübingen 2011, 363–387 (381): „[I]t is hard to imagine Paul, whose preaching frequently landed himself and his converts in trouble, being afraid to speak his mind in his letters… Indeed, if he thought the letter to the Philippians might be read by hostile authorities, he foolishly blows the cover of Christians (in Rome?) by sending greetings from believers in the household of Caesar (4.22)!“ Vgl. auch A. STANDHARTINGER, Aus der Welt eines Gefangenen. Die Kommunikationsstruktur des Philipperbriefs im Spiegel seiner Abfassungssituation, NT 55 (2013), 140–167. 134 VOLLENWEIDER, Politische Theologie (s. Anm. 131). 135 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 59), 282. 136 VOLLENWEIDER, Politische Theologie (s. Anm. 131), 468. 137 Dazu VOLLENWEIDER, Politische Theologie (s. Anm. 131), 461f. 138 Irreführend ist somit die Interpretation der Zürcher Bibelübersetzung die die Stadt, in der ‚politisch‘ gelebt wird, zu vereindeutigen sucht: „Ihr sollt als Bürger eurer Stadt leben, wie es dem Evangelium von Christus entspricht…“ 139 VOLLENWEIDER, Politische Theologie (s. Anm. 131), 459.

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sen, ob πολίτευμα nun „Bürgerrecht“, oder „Gemeinschaft“140 bedeutet – entwirft Paulus „ein Gegenprogramm zur civitas Romana, die als politisches Band Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft und Religion im römischen Weltreich vereint.“141 Die Antithese bleibt virtuell, sie braucht auch nicht weiter ausgeführt zu werden, um doch den Adressaten ihre ganz andere Identität, ‚Beheimatung‘ und Hoffnung zu vermitteln, die ihnen für ihren Kampf (Phil 1,30) inmitten der Verhältnisse ihrer Lebenswelt den Rückhalt bietet.142 Nimmt man jedoch den Horizont des ‚Politischen‘ im weiteren Sinne ernst, dann lässt sich mit Samuel Vollenweider beobachten, „dass Paulus vor allem seine ekklesiologische Reflexion vielfach im Kontext der politischen Sprache und der sozialen wie politischen Ideale seiner Zeit artikuliert.“143 Dann aber verspricht es einen hohen Ertrag, diese Ideale und die Strukturen der städtischen Lebenswelt der paulinischen Adressaten zu studieren, weil auf diesem Hintergrund die kulturelle Vermittlungskompetenz deutlich wird, die Paulus in seinen Briefen zur Geltung bringt und die ihn in besonderem Maße befähigte, die Botschaft der palästinischjüdischen Jesusbewegung in die hellenistisch-römische Welt zu transportieren.

3 Paulus und die ‚hellenistisch-römische Welt‘: Zum vorliegenden Band Diese Vermittlungskompetenz gründet darin, dass Paulus als Jude und wohl in Jerusalem ausgebildeter pharisäischer Schriftgelehrter ein Bewohner der „hellenistisch-römischen Welt“ war.144 Jenseits der alten Fragen 140

So zuletzt FÖRSTER / SÄNGER, Ist unsere Heimat im Himmel? (s. Anm. 133), 157– 164, die v. a. auf die im Judentum geprägte Verwendung für Gemeinwesen auch ohne Polis-Verfassung und Bürgerrecht verweist. 141 So Eva Ebel in diesem Band (s. S. 162). 142 Vgl. das vielleicht etwas zu zurückhaltende Urteil bei BARCLAY, Why the Roman Empire Was Insignificant to Paul (s. Anm. 133), 379: „And if, as Paul asserts, ‚our πολίτευμα is in heaven‘, this statement is placed in antithesis not to a civic πολίτευμα (in Philippi or Rome), but to the conceptual and psychological commitment to ‚earthly things‘ (οἱ τὰ ἐπίγεια φρονοῦντες, Phil 3.19–20).“ 143 VOLLENWEIDER, Politische Theologie (s. Anm. 131), 468. 144 Diese ist daher nicht einfach als „Umwelt“ des frühen Christentums (so die ältere Sprachregelung, etwa bei J. Leipoldt / W. Grundmann (Hg.), Umwelt des Urchristentums I–III, Berlin 81990; E. LOHSE, Umwelt des Urchristentums, GNT 1, Göttingen 91989), sondern als dessen „Mitwelt“ (so V. GÄCKLE, Historische Analyse II: Die griechischrömische Mitwelt, in: H.-W. Neudorfer / E. J. Schnabel [Hg.], Das Studium des Neuen Testaments. Einführung in die Methoden der Exegese, Wuppertal 2006, 101–140), „Kontext“ (J. FREY, Auf der Suche nach dem Kontext des vierten Evangeliums, in: ders. / U.

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nach der ‚Abhängigkeit‘ oder ‚Beeinflussung‘ paulinischer oder frühchristlicher Vorstellungen und Lebensäußerungen und der falschen Alternative jüdischer oder hellenistisch-römischer ‚Hintergründe‘145 hat die neuere Forschung nicht nur Paulus, sondern auch das antike Judentum – zumal in der Diaspora – als Teil der hellenistisch-römischen Welt zu sehen gelernt, an deren Sprache und Kultur Juden und Jesusanhänger partizipieren.146 Der Kontext der hellenistisch-römischen Welt, ihrer Städte und Herrschaften, ihrer Bildungstraditionen, gesellschaftlichen Konventionen und Werte ist daher als der Rahmen zu berücksichtigen, in dem sich die paulinische Mission ereignete, und nur durch seine kulturelle Kompetenz als Diasporajude konnte Paulus zu jenem Apostel der Völker werden, der – nach allem, was wir wissen – entscheidend dazu beigetragen hat, dass die Bewegung der Anhänger des Messias Jesus nicht eine Sondergruppe innerhalb des Judentums blieb, sondern sich darüber hinaus zu einer universalen Bewegung entwickeln konnte. Die neutestamentliche Forschung hat sich in den letzten Jahrzehnten intensiv nicht nur der Erforschung der hellenistisch-römischen Welt gewidmet, in der die frühen Christen lebten, sondern auch konkret die lokalgeschichtliche Erforschung frühchristlicher Zentren. Die Geschichte, Verwaltungsstruktur und sozialen Verhältnisse und natürlich auch die religiöse Situation in Philippi wurden intensiv erforscht,147 und insbesondere Peter Pilhofer hat das Verdienst, die Inschriften in großer Vollständigkeit

Schnelle [Hg.], Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religionsund traditionsgeschichtlicher Perspektive, WUNT 175, Tübingen 2004, 1–45 [44], unter Bezug auf H.-J. KLAUCK, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief, NTA 15, Münster 1982, 4) oder „Lebensraum“ (so M. EBNER, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I, GNT 1,1, Göttingen 2012) aufzufassen. 145 Diese Entgegensetzung hatte die Forschungen der Religionsgeschichtlichen Schule und zahlreiche Diskussionen in der Folgezeit beherrscht. Die Überwindung der problematischen Alternativen wurde bereits durch das epochemachende Werk von M. HENGEL, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr., WUNT 10, Tübingen 1973 (31988), erreicht, s. zu Paulus z. B. T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001; auch ders. (Hg.) Paul in His Hellenistic Context, Edinburgh 1994. 146 S. die provokante These von HENGEL, Judentum und Hellenismus (s. Anm. 145), 193, dass letztlich selbst das palästinische Judentum um die Zeitenwende als ‚hellenistisches Judentum‘ zu erfassen sei. 147 Vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 118), der im Vorwort (IX) noch auf die Forschungslücke hinweist; vgl. zeitgleich BORMANN, Philippi (s. Anm. 19), sowie OAKES, Philippians (s. Anm. 132). Vgl. zur lokalgeschichtlichen Methode auch P. P ILHOFER, Zur lokalgeschichtlichen Methode, in: ders., Die frühen Christen und ihre Welt, WUNT 145, Tübingen 2002, 1–57.

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zusammengestellt zu haben.148 Die Felder der möglichen Bezüge sind dabei denkbar weit zu fassen: Von den politischen Herrschaftsstrukturen über die Philosophie und Ethik, der Epistolographie und Rhetorik, die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse bis hin zu den sozialen und kulturellen Wahrnehmungen von Ehre und Status, Familienbanden und Freundschaft, Freude und Leiden, Tugend und Laster sind alle Lebensbereiche relevant,149 weil sich die Botschaft des Evangeliums gerade in diesen Strukturen, in Anknüpfung und gelegentlich signifikanter Unterscheidung vermittelt hat. Theologische und kulturelle Dimensionen lassen sich dabei nicht trennen, denn einerseits lässt sich die theologische Bedeutung der paulinischen Aussagen z. B. über das Kreuz keineswegs hinreichend in den Kategorien von „Ehre und Schande“ interpretieren, andererseits wird die theologische Relevanz einzelner Aussagen erst auf dem Hintergrund der präzisen Beleuchtung der Konventionen und Kategorien der jeweiligen „Mitwelt“ erkennbar. Insofern bietet die hellenistischrömische Welt (einschließlich des in ihr in Palästina und in der weiten Diaspora beheimateten zeitgenössischen Judentums) einen weiten Erkenntnisraum zum Verständnis neutestamentlicher Texte. Diesem Erkenntnisraum – und damit auch dem spezifischen Forschungsinteresse Samuel Vollenweiders – gelten die Beiträge des vorliegenden Bandes. Den Reigen eröffnet der breite forschungsgeschichtliche Überblick von Benjamin Schliesser über die neueren sozialgeschichtlichen Modelle zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi, der das Dickicht der intensiven sozialgeschichtlichen Forschungen und die Argumente für und wider die einzelnen Paradigmen (Freundschaft, Vertragsverhältnis [societas], Wohltäterwesen, Patronat, Vereinswesen) luzide sichtet. Drei weitere Beiträge widmen sich der sozialgeschichtlichen und politischen Dimension des Briefes: Markus Öhler untersucht das Verhältnis von Vereinen zu ihren Vereinsgründern und stellt für Paulus als den Begründer der Ekklesia der Christusgläubigen in Philippi heraus, wo Ähnlichkeiten und spezifische Differenzen zu diesem Modell bestehen. Heike Omerzu erörtert das Verhältnis des Paulus zur römischen Rechtsordnung anhand des Philipperbriefs und skizziert die daraus folgenden Implikationen für die Interpretation des Schreibens, und Eva Ebel beschreibt, inwiefern gerade das Modell des ‚himmlischen‘ πολίτευμα für die Christinnen und Christen in Philippi ein attraktives Angebot sein konnte. 148

P. P ILHOFER, Philippi, Band 2: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 119, Tübingen 2000 (22009). Vgl. neuerdings auch C. Brélaz (Hg.), Corpus des inscriptions grecques et latines de Philippes, Tome II: La colonie romaine, Partie 1: La vie publique de la colonie, École française d’Athènes. Études épigraphiques 6, Paris 2014. 149 S. das Panorama der Themen in J. P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World. A Handbook, Harrisburg 2003.

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Einen instruktiven Vergleich mit der philosophischen Ethik bietet der Beitrag von Troels Engberg-Pedersen, der die paulinische Rede von der „Erkenntnis Christi“ in den Horizont der stoischen Auffassung der Werte und des Guten stellt und zudem einen interessanten Vorschlag zur strukturellen Entsprechung von Phil 1,12–2,18 und Phil 3,2–4,1 zur Diskussion stellt. Das seit langem auffällige Thema der ‚Freude‘ (Phil 4,4–7) wird in zwei komplementären Beiträgen bearbeitet: Zunächst bietet Petra von Gemünden eine Analyse der Beurteilung der Freude als ‚Affekt‘ im Horizont der zeitgenössischen Philosophie, während Anke Inselmann im Horizont moderner Kommunikationswissenschaft der Funktion der Freude nachgeht und dann die konkreten Aspekte der Freude im Philipperbrief untersucht. Ebenfalls zwei Beiträge widmen sich dem zentralen Aspekt der imitatio bzw. mimesis: Während Peter Wick das Verhältnis der beiden mimesisRelationen, der imitatio Christi und der imitatio Pauli reflektiert, stellt Manuel Baumbach die Aufforderung des Paulus, seine ‚Mitdarsteller‘ zu werden (Phil 3,17), in den Horizont moderner Ästhetik und Stimmungstheorie als einen Versuch, die Adressaten in seine Stimmung einzubeziehen und diese zu vermitteln. Thomas Schmeller bietet einen Vergleich der beiden synkriseis in 2Kor 11 und Phil 3, der luzide die Gemeinsamkeiten und Differenzen dieser beiden ‚Narrenreden‘ herausarbeitet. Zwei Beiträge gelten in unterschiedlicher Weise Bezügen der Wirkungsgeschichte. Tobias Nicklas geht anhand zweier ausgewählter christlicher Apokryphen den Wirkungsspuren der Narration von Erniedrigung und Erhöhung Christi in Phil 2,6–11 nach und zeigt, wie dieser Text in unterschiedlichen nachapostolischen Kontexten seine Anziehungskraft entfalten konnte. Christoph Markschies hingegen reflektiert das Verhältnis des Origenes zu Paulus am Beispiel der Anthropologie, nicht ohne interessante Bezüge zu neueren Entwürfen aus Zürich einzuflechten. Das letzte Wort hat Samuel Vollenweider, der in seinem Essay unter den Stichworten „Dienst“ und „Verführung“ Perspektiven für den von ihm vorbereiteten Kommentar vorlegt. Ob die hier zu einem Strauß zusammengebundenen Forschungsblüten seiner eigenen Arbeit letztlich dienen konnten oder sie gar zu neuen Wegen verführen konnten, muss bis zum Erscheinen dieses opus magnum offenbleiben. Dass der Philipperbrief und die vielfältigen Aspekte der hellenistisch-römischen Welt ein anregendes und intensiv bearbeitetes Forschungsfeld darstellen, stellt der vorliegende Band bereits lebhaft vor Augen.

Paulus und „seine“ Philipper: Geschäftspartner, Freund, Vereinsgründer? Sozialgeschichtliche Perspektiven auf den Philipperbrief BENJAMIN SCHLIESSER Die Literaturproduktion zum Philipperbrief trägt fast schon industrielle Züge. Im neutestamentlichen Forschungsbetrieb herrscht ein enormer Produktions- und Innovationsdruck, der die Halbwertszeit älterer exegetischer „Werkstücke“ immer kürzer werden und diese nicht selten in Vergessenheit geraten lässt. Umso wichtiger sind regelmäßige Inventuren, die den Gang ins Archiv wagen und die teils angestaubten wissenschaftlichen Erzeugnisse hervorholen und sie vergleichend neben neuere Modelle stellen. Der vorliegende Beitrag ist der Versuch einer solchen Inventur. Sein Thema ist das Verhältnis des Paulus zu „seinen“ Philippern im Lichte zeitgenössischer sozialer Konventionen und Beziehungsformen.1 Seit gut dreieinhalb Jahrzehnten wird diese sozialgeschichtliche Frage in der Philipperforschung kontrovers diskutiert, doch es fehlt eine aktuelle Dokumentation und Bewertung der verschiedenen Zugänge. 2 Ich konzent1

Die hier geleistete Aufarbeitung der sozialgeschichtlichen Forschung zum Philipperbrief wird dem Jubilar Samuel Vollenweider zwar nicht eigene Erkundungsgänge abnehmen können, doch ich hoffe, dass sie seinem in Arbeit befindlichen Philipperkommentar zugutekommen mag. Ich selbst habe bei der Abfassung des Beitrags sehr von seinen sachkundigen Anmerkungen profitiert. 2 Lukas Bormann hat den Gang der Forschung in seiner Dissertation nachgezeichnet (L. B ORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995, 161–205), doch ist seine Darstellung mittlerweile fast 20 Jahre alt und hat etwa im Vereinswesen eine Leerstelle (vgl. aber jetzt die knappe, skeptische Bemerkung in L. B ORMANN, Philipperbrief, in: O. Wischmeyer [Hg.], Paulus. Leben-Umwelt-WerkBriefe, UTB 2767, Tübingen/Basel 22012, 257–272 [269f.]). John Reumanns großer Anchor-Kommentar kennt und nennt fast alle wichtigen Positionen, ist aber aufgrund seiner abbreviativen und unübersichtlichen Darstellung nur mit Mühe auszuwerten (J. REUMANN, Philippians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33B, New Haven 2008, v. a. 693–698). Andere Übersichten sind unbefriedigend, weil sie zu knapp gehalten sind bzw. die Position anderer zugunsten der eigenen Aussageabsicht ignorieren oder verzeichnen (vgl. zuletzt z. B. J. M. OGEREAU, Paul’s Koinonia with the

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riere mich auf Phil 4,10–20, also auf den Teil des Briefes, in dem Paulus in mutmaßlich „unkonventioneller“ Weise auf die finanzielle Unterstützung der Philipper reagiert und zugleich die Einzigartigkeit ihres reziproken Verhältnisses herausstreicht: „Ihr in Philippi wisst ja selbst, dass am Beginn der Ausbreitung des Evangeliums, als ich von Makedonien aufbrach, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft hatte im Geben und Nehmen außer euch“ (Phil 4,15).3 Fünf antike soziale Paradigmen wurden in der Forschung vorgeschlagen, um das besondere Verhältnis des Paulus zur Philippergemeinde zu charakterisieren: (1.) die societas, (2.) die Freundschaftsbeziehung, (3.) das Benefizialwesen, (4.) das Patronat und (5.) das Vereinswesen. Es ist offensichtlich, dass die jeweiligen Paradigmen als soziologische Kategorien nicht ein und derselben Gattung angehören: Societas und Verein stehen auf einer (quasi)institutionellen Ebene, Patronat und Freundschaft bezeichnen ein asymmetrisches bzw. symmetrisches Beziehungsgefüge zwischen Individuen, und mit Wohltäterschaft ist zunächst das Ethos innerhalb eines Sozialverhältnisses umschrieben. Hinzu kommt, dass die genannten Paradigmen nicht voneinander zu trennen sind, sondern offene Ränder aufweisen und miteinander verschränkte Teilphänomene einer komplexen sozialen Wirklichkeit darstellen.4 Grundsätzlich ist ein Vergleich nur dann sinnvoll, wenn für die zu vergleichenden Phänomene ein „analytischer Fokus“ und ein übergeordneter Bezugsrahmen bestimmt werden. Daraus ergibt sich das tertium comparationis, das „analytisch einschlägig sein [muss], um in empirischer Hinsicht verschiedene Gegenstände miteinander in Beziehung setzen zu können.“5 Der analytische Fokus richtet sich im vorliegenden Beitrag auf die spezifische Gestalt des Verhältnisses zwischen Paulus und der christlichen Gemeinde in Philippi, wie Paulus es im Philipperbrief aus seiner Sicht und in bestimmter Absicht in Worte fasste und wie es sich vor dem Hintergrund der antiken Sozialgeschichte darstellt. Das tertium comparationis liegt in der Rolle bzw. Funktion, die Paulus in dem Beziehungsgefüge zuzuweisen ist: Tritt er der

Philippians. A Socio-Historical Investigation of a Pauline Economic Partnership, WUNT 2/377, Tübingen 2014, 311–316). 3 Die Übersetzung der biblischen Stellen folgt meist der Zürcher Bibel. 4 S. u. S. 109f. Ogereau beobachtet darüber hinaus in der neutestamentlichen Forschung „[a] common lack of precision and clarity vis-à-vis ancient conventions“ (OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 315). 5 V. KRECH, Wie lassen sich religiöse Sachverhalte miteinander vergleichen?, in: A. Mauz / H. von Sass (Hg.), Hermeneutik des Vergleichs. Strukturen, Anwendungen und Grenzen komparativer Verfahren, Interpretation interdisziplinär 8, Würzburg 2011, 149– 176 (151).

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Gemeinde primär als Geschäftspartner, Freund, Empfänger einer Wohltat, Patron oder Vereinsgründer entgegen?6 Die einzelnen Abschnitte sind analog aufgebaut. Sie bieten einführend eine konzentrierte Darstellung des relevanten Quellenmaterials, die zwar die paulinischen Formulierungen und Denkfiguren im Hinterkopf hat, aber nicht gleich nach Einflüssen und Abhängigkeiten fragt. Vielmehr sollen die Texte in ihrer Eigenart als Teil der komplexen „ecology“ der antiken Welt wahrgenommen werden,7 als Dokumente von ineinander verflochtenen Diskursen und Konventionen, mit denen Paulus als „Reiseexistenz“8 auf vielfältige Weise in Berührung kam und an die er als kreativer Kulturhermeneut und veritabler Denker eigenständig anschließt. In einem weiteren Schritt wird der Ertrag forschungsgeschichtlich relevanter Arbeiten präsentiert. Der Abschnitt „kritische Würdigung“ wägt die Überschneidungen und die Unterschiede zwischen dem jeweils vorgeschlagenen antiken Modell und der Beziehung des Paulus mit der Philippergemeinde ab und macht die „Überstände“ kenntlich, die einer vollständigen Einpassung in das jeweilige Modell im Weg stehen. Den Schluss bilden einige Reflexionen zur sozialgeschichtlichen Methode in der Exegese, die sich aus der Zusammenschau der Forschungsansätze ergeben. Die Frage nach der Beziehung des Paulus zu „seinen“ Philippern erweist sich m. E. als ein Modellfall für die Komplexität der sozialgeschichtlichen Fragestellung wie auch für die Kurzsichtigkeit von einlinigen und an Moden orientierten Erklärungsmodellen. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass Paulus’ κοινωνία εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως, die er mit den Philippern pflegte, der Aus-

6 Auch andere Rollen und Funktionen werden erwogen; sie fließen teils mit den hier diskutierten zusammen: Paulus als Oberhaupt eines Hauses (pater familias) bzw. als „Vater“ (vgl. C. GERBER, Paulus und seine „Kinder“. Studien zur Beziehungsmetaphorik der paulinischen Briefe, BZNW 136, Berlin 2005), als Pädagoge (vgl. S. EASTMAN, Imitating Christ Imitating Us. Paul’s Educational Project in Philippians, in: J. R. Wagner / C. K. Rowe und A. K. Grieb [Hg.], The Word Leaps the Gap [FS R. B. Hays], Grand Rapids 2008, 427–450), als Haupt einer philosophischen Schule oder als Vorsteher einer christlichen „Synagogengemeinschaft“ (vgl. W. A. MEEKS, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven [1983] 22003, 74–83; s. zur neueren Diskussion E. ADAMS, First-Century Models for Paul’s Churches. Selected Scholarly Developments Since Meeks, in: T. D. Still / D. G. Horrell [Hg.], After The First Urban Christians. The Social-Scientific Study of Pauline Christianity Twenty-Five Years Later, London / New York 2009, 60–78; ferner J. M. G. B ARCLAY, Introduction, in: ders., Pauline Churches and Diaspora Jews, WUNT 275, Tübingen 2011, 3–33). 7 Zum Begriff „ecology“ in diesem Zusammenhang vgl. A. J. MALHERBE, Introduction, in: ders., Light from the Gentiles. Hellenistic Philosophy and Early Christianity Collected Essays, 1959–2012, Band 1 (hg. von C. R. Holladay / J. T. Fitzgerald / J. W. Thompson / G. E. Sterling), NT.S 150, Leiden 2013, 1–8 (4). S. u. S. 108f. 8 So U. SCHNELLE, Paulus. Leben und Denken, Berlin 22014, 1.

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druck eines „neuen“ sozialen Phänomens ist.9 Zwar lässt sich das Neue – entwicklungstheoretisch gesprochen – „komponentiell vollständig mit den Kategorien des Bisherigen durchbuchstabieren,“ doch ist damit sein Charakter noch nicht hinreichend erfasst. Denn „[d]as Neue ist kausal nicht auf diese Komponenten und Kategorien des Bisherigen zu reduzieren. Es hat ein eklatantes ‚Mehr‘, das durch Sprünge und Brüche ent-steht.“10 Auf diesem „Mehr“ und auf der treibenden Kraft, die es aus sich heraussetzt, liegt daher ein besonderes Augenmerk.

1 Ein Verhältnis auf „Geben und Nehmen“ 1.1 Die paulinische Beschreibung des Verhältnisses Zur Gemeinde in Philippi wusste sich Paulus – so die gängige Meinung – auf besondere, herzliche Weise verbunden (Phil 2,2–4; 4,1): „If Paul had a favourite church, it would have been the church in Philippi.“11 Dieses einzigartige Verhältnis ist schon im Proömium ersichtlich. Mit Freude verrichtet Paulus sein Gebet (1,4), in dem er Gott dankt für „eure Teilhabe hinsichtlich des Evangeliums“ (κοινωνία ὑμῶν εἰς τὸ εὐαγγέλιον) (1,5); er dankt, dass die Philipper „meine Mitteilhaber an der Gnade“ (συγκοινωνοὶ μου τῆς χάριτος) (1,7) sind. Hier fallen bereits Schlüsselbegriffe, die dem ganzen Brief sein Gepräge geben und die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern auf prägnante Weise charakterisieren.12 Die Gemeinschaft bzw. Teilhabe, auf die Paulus die Gemeinde anspricht, ist nun nicht in einem allgemeinen Sinn, sondern von der Anteilnahme der Philipper an der Bedrängnis des Paulus (4,14: συγκοινωνήσαντές μου τῇ θλίψει) her zu verstehen. „[D]ie Beziehung zu 4,14 legt wohl nahe, daß Paulus auch auf die Liebesgaben der Gemeinde anspielt, mit denen sie ihn als Apostel bei seiner Missionsarbeit unterstützt hat.“13 In seiner Erwiderung auf die fi-

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Vgl. M. B OCKMUEHL, The Epistle to the Philippians, BNTC, London 1998, 36. Die Formulierungen stammen von Berndt Hamm, der so das Phänomen der Reformation zu begreifen versucht (B. HAMM, Die Emergenz der Reformation, in: ders. / M. Welker [Hg.], Die Reformation. Potentiale der Freiheit, Tübingen 2008, 1–27 [16]). 11 J. D. G. DUNN, Beginning from Jerusalem, Christianity in the Making 2, Grand Rapids 2008, 1017. Vgl. R. P ESCH, Paulus und seine Lieblingsgemeinde. Paulus – neu gesehen. Drei Briefe an die Heiligen von Philippi, HerBü 1208, Freiburg i. Br. 1985. 12 Vgl. weiter die Begriffe κοινωνία (Phil 1,5; 2,1; 3,10), συγκοινωνός (1,7), συγκοινωνεῖν (4,14) und κοινωνεῖν (4,15). 13 U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/1, Leipzig 22002, 42. Zu einem anderen Ergebnis kommt freilich, wer die literarische Integrität des Philipperbriefes bestreitet. So beispielsweise REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 145 (vgl. 152 u. ö.): „Letter A (see 4:10–20) earlier thanked the Philippians for gifts of money and a 10

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nanzielle Unterstützung der Philipper liegt ihm daran zu betonen, dass er, als er von Makedonien aufbrach, mit keiner anderen Gemeinde eine vergleichbare Austauschbeziehung „im Geben und Nehmen“ hatte (4,15: οὐδεμία μοι ἐκκλησία ἐκοινώνησεν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως εἰ μὴ ὑμεῖς μόνοι). Weitere Motive belegen die besondere Nähe des Paulus zu den Philippern: sein Wunsch, bei der Gemeinde zu sein (1,7–8; 4,1; vgl. 2,26), das solidarische Engagement für die Sache des Evangeliums auch in beschwerlichen Zeiten (1,7; 2,17–18; 4,14), Einmütigkeit (1,27: ἐν ἑνὶ πνεύματι; μιᾷ ψυχῇ; 2,2: τὸ αὐτὸ φρονεῖν; σύμψυχοι; τὸ ἓν φρονεῖν; vgl. 4,2: τὸ αὐτὸ φρονεῖν), ein am himmlischen πολίτευμα ausgerichtetes Leben (3,20).14 Der Briefteil Phil 4,10–20 wird zumeist als eine inhaltlich kohärente Einheit angesehen, die nach einem (erneuten) Ausdruck der Freude (4,10: ἐχάρην δὲ ἐν κυρίῳ μεγάλως) mit einer apostolischen Selbstdarstellung einsetzt, bei der die Philipper nicht wie in Phil 4,10.14–20 Gesprächspartner, sondern Publikum sind.15 Der Abschnitt ist geprägt von Begriffen, die auf einen Lernprozess anspielen (ἔμαθον, οἶδα [bis], μεμύημαι),16 der umfassend angelegt ist (ἐν οἷς εἰμι, ἐν παντὶ, ἐν πᾶσιν) und ein konkretes Lernziel hat: αὐτάρκης εἶναι. Für unsere Fragestellung sind die religionsgeschichtliche Verortung der paulinischen „Autarkie“ und die Interpretation des „Adiaphorakatalogs“ von untergeordneter Bedeutung;17 der Hinweis mag genügen, dass „Autarkie“ ein Schlüsselbegriff der kynisch-stoischen Philosophie ist und von Paulus subtil auf seine Mangelsituation und die Unterstützung der Philipper (περισσεύειν καὶ ὑστερεῖσθαι) hin gewendet wird (4,12). Wenn er im Anschluss nun die Quelle seiner Kraft und Unabhängigkeit benennt, tut er das in einer offenen Formulierung: „Alles vermag ich durch den, der mir die Kraft dazu gibt“ (4,13).18

Im Neueinsatz Phil 4,14 kommt Paulus wieder auf die Hilfsmaßnahme der Philipper zu sprechen. Schon sehr früh, spätestens seit dem 4. Jh., wurde in helper, Epaphroditus. There is no need to strain for references in 1:3–11 to Paul’s thanks for the Philippians gifts.“ 14 Vgl. S. K. STOWERS, Friends and Enemies in the Politics of Heaven. Reading Theology in Philippians, in: J. M. Bassler (Hg.), Pauline Theology 1: Thessalonians, Philippians, Galatians, Philemon, Minneapolis 1991, 105–121 (109f.), der diese Motive der griechischen φιλία-Konzeption zuordnet. 15 Vgl. M. EBNER, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, FzB 66, Würzburg 1991, 332. 16 Vgl. W. SCHENK, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart 1984, 32f. 17 Vgl. hierzu EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 338–345. 18 Die „Leerstelle“, die darin besteht, dass Paulus das Partizip ἐνδυναμοῦντι nicht präzisiert, ist von den Rezipienten auszufüllen. Dabei dürfte den Philippern die christologische Durchdringung der paulinischen Theologie nicht verschlossen geblieben sein, d. h. sie werden die Leerstelle mit „Christus“ ergänzt haben (so auch etliche spätere Textzeugen: ἐνδυναμοῦντι Χριστῷ). Manche lehnen dies zu Unrecht als „harmonisierende Konjektur“ ab und vermuten stattdessen, Paulus habe sich eine „fremde Maske“ übergezogen und sei „in die Rolle eines kynischen Wanderphilosophen“ geschlüpft (BORMANN, Philippi [s. Anm. 2], 150).

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der Philipperexegese darauf hingewiesen, dass Paulus sich in Phil 4,15–18 der Sprache des Marktes und des Bankwesens bedient.19 Auffallen musste es freilich schon den ersten Rezipienten des Briefes, denn die terminologischen Übereinstimmungen sind frappierend. Doch zunächst sei daran erinnert, wie Paulus nach seiner Selbstdarstellung nun die Philipper anspricht: Er verwendet mit der Bezeichnung Φιλιππήσιοι eine Form, die schlicht das lateinische Philippenses übersetzt und die sich „in der gesamten griechischen Literatur vor Paulus nirgendwo nachweisen“ lässt.20 Es ist sicherlich keine psychologisierende Überinterpretation, wenn man darin eine emphatische Anrede – „sit up and take note of what I am about to say“21 – und zugleich eine respektvolle Höflichkeit gegenüber seiner Gemeinde sieht.22 Auf das Verb κοινωνεῖν23 in Phil 4,15 folgt mit der Formel εἰς λόγον ein „kaufmännischer Ausdruck“24 bzw. ein „Kontoführungsterminus“25 der in zahlreichen antiken Dokumenten im Zusammenhang von geschäftlichen Vorgängen belegt ist und eine Verbuchung „auf ein Konto“ bzw. „zur Abrechnung“ meint. Die Gegenseitigkeit der „Geschäftsbeziehung“ wird durch die zweigliedrige Formel δόσις καὶ λῆμψις zum Ausdruck gebracht, die in der Buchhaltung auf die Transaktionen auf der „Einnahmen (Haben)“- und „Ausgaben (Soll)“-Seite verweist.26 Das kommerzielle Sprachspiel setzt sich fort in der Formulierung ἐπιζητεῖν τὸ δόμα, die „möglicherweise terminus technicus für die Einforderung der Zinszahlung“ ist,27 sowie in der Wendung καρπός … εἰς λόγον ὑμῶν, mit welcher der Ertrag eines Geschäftes bezeichnet wird, der einem Konto – hier dem Konto der Philipper – gutgeschrieben wird. Am Ende des Ab19 Vgl. die Angaben bei H. A. A. KENNEDY, The Financial Colouring of Philippians 4.15–18, ExpT 12 (1900/1901), 43–44. – Eine detaillierte Untersuchung des kommerziellen Hintergrunds von Phil 4,15–18 mit zahlreichen Belegen aus der griechischen Literatur und Papyri bietet P. MARSHALL, Enmity in Corinth. Social Conventions in Paul’s Relations with the Corinthians, WUNT 2/23, Tübingen 1987, 157–164. 20 P. P ILHOFER, Philippi, Band 1: Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995, 116. 21 G. D. FEE, Paul’s Letter to the Philippians, NICNT, Grand Rapids 1995, 439 Anm. 10. 22 So W. M. RAMSAY, The Philippians and Their Magistrates, JThS 1 (1900), 114–116 (116). Etwas vorsichtiger PILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 117, der vermutet, „daß Paulus ganz bewußt die völlig ungriechische Form Φιλιππήσιοι gewählt haben muß, falls er diese Form nicht sogar selbst geprägt hat.“ 23 Auch κοινωνεῖν mag für die Rezipienten eine finanzielle Nuance gehabt haben (vgl. Röm 15,27; Gal 6,6; aber auch Phil 1,5.7; 4,14). 24 M. DIBELIUS, An die Thessalonicher I, II. An die Philipper, HNT 11, Tübingen 3 1937, 96. 25 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 333. 26 Vgl. Sir 42,7: καὶ δόσις καὶ λῆμψις, πάντα ἐν γραφῇ; Epictet, diss. 2,9,12. 27 J. GNILKA, Der Philipperbrief. Auslegung, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 1968, 179.

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schnittes steht mit ἀπέχω δὲ πάντα nochmals ein Fachterminus aus dem Geschäftsleben: „ἀπέχω ist das Quittungswort der Antike,“28 und es gibt zu erkennen, dass Paulus den Empfang des Geldbetrags bescheinigt. „[I]t must be observed that he uses the technical word ἀπέχω have received – found on thousands of commercial documents to acknowledge the receipt of money or goods; a word as unmistakable as the mark of a rubber stamp on a bill, PAID.“29 Das Verb πληροῦν schließlich kann für die „volle Zufriedenstellung durch Zahlung“ stehen.30 An zwei Stellen leuchten agrarische bzw. gärtnerische Metaphern auf, nämlich dort, wo Paulus seiner Freude Ausdruck verleiht, dass die Philipper „wieder aufblühen“ (ἀναθάλλειν) (4,10), sowie in seiner Bemerkung, dass er die „Frucht“ (καρπός) der Philipper mehrt (4,17). Von Interesse sind hier noch das Eingeständnis des Paulus, dass ihn die Gabe der Philipper in einer Situation des „Mangels“ bzw. „Bedarfs“ erreichte (Phil 4,16; vgl. 2,25), ein Eingeständnis, das Paulus kontrastiert mit der Bemerkung, sich eine „genügsame“ (αὐτάρκης) Haltung angeeignet zu haben (Phil 4,11). Ab Phil 4,18b verschwindet die Geschäftsterminologie von der Bildfläche und macht Wendungen Platz, die dem Bereich des Sakralen entlehnt sind: Paulus apostrophiert die Gabe der Philipper als einen „lieblichen Duft, ein willkommenes, Gott wohlgefälliges Opfer.“ Der eigenartige „danklose Dank für die angenommene Liebesgabe der Philipper“ am Ende des Briefes hat schon Carl Holsten,31 „de[n] geistvollste[n] und scharfsinnigste[n] Schüler“ F. C. Baurs,32 irritiert und ihn zum Urteil bewogen, dass der Philipperbrief „nicht im Geiste und Bewusstsein des Paulus, sondern in einem fremden Geiste und Bewusstsein … entstanden ist.“33 Statt eines Dankes für die „Gabe der Liebe … weist Paulus die Philipper in aller Weise darauf hin, dass seinetwegen die Gabe nicht notwendig gewesen sei und übergiesst die Wärme der Liebe, die sich innig gefreut hat, des Paulus Not lindern zu können, mit dem Eiswasser stolzer

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DIBELIUS, An die Philipper (s. Anm. 24), 97. F. W. BEARE, A Commentary on the Epistle to the Philippians, BNTC, London 1959, 150. Für Beare und zahlreiche andere impliziert die Quittierformel einen kurzen Zeitraum zwischen Empfang der Gabe und „Dankesbrief“ und damit die Notwendigkeit, Phil 4,10–20 aus dem vorliegenden Zusammenhang herauszulösen; eine Quittung gehöre in eine „direkte Antwort“ (BORMANN, Philippi [s. Anm. 2], 112). Dagegen z. B. GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 27), 179 Anm. 152: „Die relativ späte ‚Quittierung‘ zwingt aber durchaus nicht zu Annahme eines selbständigen Briefes.“ 30 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 333. 31 C. HOLSTEN, Der Brief an die Philipper. Eine exegetisch-kritische Studie, Jahrbücher für protestantische Theologie 2 (1876), 58–165 (164). Die Bezeichnung „dankloser Dank“ hat sich in der Folgezeit zu einem geflügelten Wort verselbständigt. 32 So B. WEISS, Lehrbuch der Einleitung in das Neue Testament, Berlin 21889, 13. 33 HOLSTEN, Der Brief an die Philipper (s. Anm. 31), 164. 29

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Ablehnung.“34 Eine solche kalte und abwehrende Reaktion sei „für Paulus unnatürlich und unmöglich.“35 Heutzutage wird die Echtheit des Briefes zwar nicht mehr ernsthaft bestritten, so dass die markante Betonung seiner Bedürfnislosigkeit anders erklärt werden muss. Lässt sie sich einer spezifischen philosophischen Richtung zuordnen – der aristotelisch-epikureischen, der kynischen oder der stoischen?36 Oder zeigt sich hier allgemein seine Teilhabe am breitgefächerten zeitgenössischen Moraldiskurs, die ihn zu den „Moralisten“ seiner Zeit gesellt?37 Oder sollte die paulinische „Autarkielehre“ in ihrem eigenen Recht und von ihren eigenen – christologischen – Voraussetzungen her betrachtet werden, ohne sogleich disparate Gedankensysteme mit einem bestimmten Interesse zu vergleichen?38 Mindestens ebenso wie die Selbstdarstellung jedoch bereitete die Verkettung des „danklosen Dankes“ mit der Kaufmanns- und Banksprache Kopfzerbrechen: Will Paulus sie im wörtlichen Sinne verstanden wissen und damit eine kommerzielle Austauschbeziehung oder eine vertraglich fixierte Rechtsbeziehung bezeichnen, die er mit den Philippern unterhält? Oder ist Paulus als „well-to-do bourgeois“ peinlich berührt von seiner Mangelsituation und kann die finanzielle Zuwendung der Philipper nur dann annehmen, wenn er dem ganzen Vorgang einen geschäftlichen Stempel aufdrückt?39 Oder läuft er durch die Annahme der Zuwendung Gefahr,

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HOLSTEN, Der Brief an die Philipper (s. Anm. 31), 160. HOLSTEN, Der Brief an die Philipper (s. Anm. 31), 161. – Gerhard Friedrich hält die Reaktion zumindest für „fast unhöflich“ (G. FRIEDRICH, Der Brief an die Philipper, in: J. Becker / H. Conzelmann / G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonischer und Philemon, NTD 8, Göttingen 41990, 125–175 [127]; zustimmend zitiert bei H. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 279). 36 Vgl. z. B. T. ENGBERG-P EDERSEN, Self-Sufficiency and Power. Divine and Human Agency in Epictetus and Paul, in: J. M. G. Barclay / S. J. Gathercole (Hg.), Divine and Human Agency in Paul and His Cultural Environment, London 2006, 117–139 (135). – S. a. auch den Beitrag von Troels Engberg-Pedersen im vorliegenden Band. 37 Vgl. MALHERBE, Introduction (s. Anm. 7), 7. Vgl. seine frühere Untersuchung A. J. MALHERBE, Paul’s Self-Sufficiency (Philippians 4:11), in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament, NT.S 82, Leiden 1996, 125–139 = in: ders., Light from the Gentiles (s. Anm. 7), 325– 338. 38 Vgl. J. M. G. B ARCLAY, Security and Self-Sufficiency. A Comparison of Paul and Epictetus, Ex Auditu 24 (2008), 60–72 (mit einem Fokus auf grundlegende Differenzen). 39 So die psychologisierende Deutung bei C. H. DODD, The Mind of Paul: I, in: ders., New Testament Studies, Manchester 1953, 67–82 (72). Vgl. a. a. O., 71f.: „Here Paul is trying to say a graceful word of thanks for a gift of money. How much he hated taking it, we may infer from 1 Cor 9.15–18. He can scarcely bring himself to acknowledge that the 35

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von der Rolle des Patrons in die Rolle Klienten gedrängt zu werden, was ihm als Gemeindegründer nicht behagen kann? Oder hat eine solche kommerzielle Sprache ihren Ort auch in ‚nicht-kommerziellen‘ Sozialformen wie dem Freundschaftsverhältnis40 und ist daher im übertragenen Sinne zu verstehen? Oder hatte er lediglich im Sinn, sein Verhältnis zu den Philippern gleichnishaft zum Ausdruck zu bringen, und sich dabei „zu einem brillierenden Sprachspiel, mit einem feinen Humor“ hinreißen lassen, wohl wissend, dass die Leser die „Anführungszeichen“ wahrnehmen und sogleich heraushören: es geht um ihr „geistliches Konto“?41 Je mehr der sozialgeschichtliche Kontext und die Konventionen der antiken Welt in die Auslegung einbezogen werden, desto konturierter und plastischer erscheint die Austauschbeziehung zwischen Paulus und den Philippern, gerade auch in ihrer Besonderheit. Lange Zeit wurde die Forschung zum Philipperbrief und zum paulinischen Gemeinschaftsgedanken von einem theologischen Auslegungsparadigma beherrscht, das mit dem Ziel antrat, „die Eigenaussagen des Paulus aus[zu]schöpfen, bevor man nach außertextlichen Analogien und Erklärungsmöglichkeiten sucht.“42 Mit dem Aufkommen sozialgeschichtlicher und sozialwissenschaftlicher Methoden in der neutestamentlichen Exegese43 rückte spätestens seit den 1980er Jahren auch die Frage nach der money was welcome to him, and covers up his embarrassment by piling technical terms of trade, as if to give the transaction a severely ‚business‘ aspect.“ 40 Schon im ‚alten‘ Wettstein findet sich ein Verweis auf Cicero, Lael. 58 und das lateinische Äquivalent zur Wendung λόγος δόσεως καὶ λήμψεως: ratio acceptorum et datorum (J. J. WETTSTEIN, Novum Testamentum Graecum…, Band 2, Amsterdam 1752, 280; s. u. S. 58f.). 41 N. B AUMERT, Der Weg des Trauens. Übersetzung und Auslegung des Briefes an die Galater und des Briefes an die Philipper, Würzburg 2009, 338f. Ähnlich GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 27), 177f.: „Es ist freilich ein eigenartiges Soll und Haben, das sie verbindet. Auf dem einen Blatt stehen πνευματικά, auf dem anderen σαρκικά (vgl. 1Kor 9,11).“ Am Anfang dieser beliebten Deutungslinie steht offensichtlich die Paraphrase des Chrysostomos: εἰς λόγον δόσεως σαρκικῶν καὶ λήψεως τῶν πνευματικῶν (zitiert z. B. bei J. B. LIGHTFOOT, St. Paul’s Epistle to the Philippians. A Revised Text with Introduction, Notes and Dissertations, London 1868, 163, der jedoch Chrysostomos’ Auslegung „plainly inappropriate“ findet: „for the intermingling of different things destroys the whole force of the clause εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως which is added to define the kind of contributions intended.“). 42 So J. HAINZ, ΚΟΙΝΩΝΙΑ bei Paulus, in: L. Bormann / K. Del Tredici / A. Standhartinger (Hg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World (FS D. Georgi), NT.S 74, Leiden 1994, 375–391 (391). Er bleibt damit seinem eigenen Ansatz treu, den er in seiner Habilitationsschrift ausführlich entfaltet hatte (J. HAINZ, Koinonia. „Kirche“ als Gemeinschaft bei Paulus, BU 16, Regensburg 1982). 43 Vgl. den Überblick bei D. G. HORRELL, Introduction. Social-Scientific Interpretation of the NT. Retrospect and Prospect, in: ders. (Hg.) Social-Scientific Approaches to

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Eigenart des paulinischen κοινωνία-Verständnisses im Gegenüber zu „paganen“ Gemeinschaftsformen ins Blickfeld. Man suchte nach Vergleichskategorien, die Paulus’ Beziehung zu seiner „Lieblingsgemeinde“ in ihrem sozialen Kontext zu erhellen vermögen. Dabei wurde der Brief(teil) Phil 4,10–20 in der sozialgeschichtlich interessierten Philipperexegese am intensivsten diskutiert, und er verspricht in der Tat den größten Ertrag. Es machte sich bald die Einsicht breit, dass moderne westliche Annahmen über soziale Reziprozität („Geben und Nehmen“) oder die kulturellen Codes des Dankes nur sehr begrenzte Aussagekraft für die Gestalt und Gestaltung sozialer Konventionen im westlichen Mittelmeerraum zur Zeit des Paulus haben. Es vollzog sich ein Perspektivenwechsel, der die Beziehungen zwischen Paulus und den Philippern „in die dominierende Lebenswirklichkeit der Gemeinde“ einzuzeichnen suchte.44 Wie sehr sich die Realisierung dieses Programms davon beeinflussen lässt, welche Texte zum Vergleich herangezogen werden, welche „heuristic lens“45 getragen wird und welche Forschungsgegenstände gerade en vogue sind, wird der Gang der vorliegenden Untersuchung erweisen. 1.2 Übersicht über die verwendeten Quellen In den einzelnen Abschnitten stehen jedem Vergleichsparadigma ausgewählte Texte voran, die deren Sachgehalt und „Geist“ im originären Zusammenhang zu erfassen suchen, zugleich aber in Hinsicht auf terminologische und gedankliche Korrespondenzen zum Philipperbrief referiert werden. Zunächst sei jedoch ein Überblick über die in der Forschung primär herangezogenen Quellen geboten: (1) Der Versuch, das Verhältnis der Paulus zu den Philippern in Analogie zum römischen Rechtsinstitut der societas (unius rei) zu bestimmen, rekurriert zunächst auf meist recht späte juristische Texte zum Sozietätsrecht (ius societatis). Herangezogen werden v. a. die Institutionen des Gaius (161 n. Chr.) sowie aus dem Corpus Iuris Civilis (533/534 n. Chr.) die Institutionen des Justitinian (3,25), der Codex Iustinianus (4,37) und die Digesten (17,2), „die mit vierundachtzig Fragmenten und teilweise detaillierten Untergliederungen am ausführlichsten sind“.46 Zeitlich näher New Testament Interpretation, Edinburgh 1999, 3–12, sowie ausführlich R. HOCHSCHILD, Sozialgeschichtliche Exegese. Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestamentlichen Forschungsrichtung, NTOA 42, Freiburg/CH 2000. 44 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 163 und 164 Anm. 10. 45 So die Metapher bei D. E. Briones, Paul’s Financial Policy. A Socio-Theological Approach, LNTS 494, London 2013, 225. 46 A. M. FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen. Ein Beitrag zu den konzeptionellen und historischen Grundlagen der Aktiengesellschaft, Forschungen zum römischen Recht 55, Köln 2010, 121. Zu einer Übersicht des Quellenmaterials, das – verglichen mit ande-

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zum Philipperbrief stehen zwei Gerichtsreden des Cicero, die er in Zivilprozessen vorgetragen hat: Pro Publio Quinctio und Pro Quinto Roscio comoedo. Erst in jüngster Zeit werden vermehrt Papyrustexte und inschriftliche Überlieferungen einbezogen, um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die dokumentarischen Quellen der Sprache des Neuen Testamentes näher stehen als Prosatexte.47 Eine Auswertung des Materials legt nahe, dass die Termini κοινωνία, κοινωνός und κοινωνεῖν im Zusammenhang mit einer ökonomischen Partnerschaft stehen können.48 Wohlgemerkt sind die κοινωνία-Belege recht spärlich; viel häufiger findet sich κοινωνός im Sinne von „Geschäftspartner“. (2) Diejenigen Autoren, die den Philipperbrief (bzw. Phil 4,10–20) im Lichte der Freundschaft lesen, greifen zunächst auf Aristoteles’ Beschreibung der φιλία in der Nikomachischen Ethik zurück,49 die in ihrer popularisierten und durch zahllose Interpreten und Adepten fortgeführten Form weite Verbreitung gefunden hat. Wichtig sind auch lateinische Autoren, darunter Cicero, der nicht unbeeinflusst von Aristoteles eine ausführliche eigene Abhandlung über die Freundschaft verfasste (Laelius de amicitia)50 und über 900 Briefe hinterließ, von denen viele an Freunde gerichtet waren. Anschaulich wird der Charakter einer Freundschaftsberen Instituten des antiken Rechts- und Wirtschaftslebens – recht umfangreich ist, vgl. a. a. O., 121–123. 47 Zum Informationsgehalt dieser Quellen hinsichtlich organisatorischer und struktureller Fragen vgl. aber das caveat bei FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen (s. Anm. 46), 121.135. 48 Vgl. die Dokumentation und Analyse von zahlreichen dokumentarischen Quellen in OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2) (v. a. 353–390: „Appendix A: Κοινων-Cognates in Inscriptions“; 391–499: „Appendix B: Κοινων-Cognates in Papyri“). Ein Extrakt findet sich in J. M. OGEREAU, Paul’s κοινωνία with the Philippians. Societas as a Missionary Funding Strategy, NTS 60 (2014), 360–378 (364–370). 49 Aristoteles widmet der Freundschaft auffällig viel Raum (das 8. und 9. Buch; vgl. auch das 7. Buch der Eudemischen Ethik). Schon Plato hatte das Wesen der Freundschaft eingehend erörtert (Lysis; Symposium), und auch bei Epikur erlangte sie eine hohe Bedeutung. Text und Übersetzung in: Aristoteles, Die nikomachische Ethik, übers. von O. Gigon; neu hg. von R. Nickel, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2001. Vgl. hierzu u. a. A. W. PRICE, Love and Friendship in Plato and Aristotle, Oxford 1989; DERS., Friendship (VIII und IX), in: O. Höffe (Hg.), Aristoteles. Die Nikomachische Ethik, Klassiker auslegen 2, Berlin 1995, 229–251; S. STERN-GILLET, Aristotle’s Philosophy of Friendship, New York 1995; L. SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship, Cambridge 2003. 50 Text und Übersetzung folgen auch hier der Tusculum-Ausgabe: Cicero, Cato der Ältere über das Alter. Laelius über die Freundschaft: lateinisch-deutsch (hg. von M. Faltner), Sammlung Tusculum, Düsseldorf 31999. Vgl. hierzu B. FIORE, The Theory and Practice of Friendship in Cicero, in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship, SBL.RBS 34, Atlanta 1997, 59–76; SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 105–122.

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ziehung auch in einer Reihe von Papyrus-Briefen, von denen der „Freundschaftsbrief“ Papyrus Merton I 12 in der Philipperexegese am häufigsten herangezogen wird.51 (3) Ein häufig zitierter Referenztext zur Freundschaftsthematik ist auch Senecas Werk de beneficiis,52 dessen sieben Bücher zwischen 56 und 64 n. Chr. entstanden53 und welches somit auch zeitlich dem Philipperbrief sehr nahe steht.54 Bloß mahnt die Tatsache, dass Seneca das Thema „Freundschaft“ nur am Rande verhandelt, zur Zurückhaltung. Zwar ist Seneca der Auffassung, dass dem Gabentausch eine freundschaftsstiftende Wirkung innewohnt, doch sieht er darin einen „Spezialfall der vielen verschiedenen Möglichkeiten, die mit dem Erweis von Wohltaten gegeben sind.“55 Die meisten neueren Autoren interpretieren Senecas Schrift in einem weiteren Rahmen, der die Freundschaftskonzeption zwar einschließt, sie aber nicht zur Leitkategorie erhebt. Seine Abhandlung „über die Wohltaten“ sei vor dem Hintergrund des kaiserzeitlichen Benefizialwesens bzw. der die römische Gesellschaft durchdringenden sozialen Reziprozität zu verstehen.56 (4) Eine spezifische Gestalt sozialer Reziprozität manifestiert sich im Patronatswesen. Auch hierbei rekurrieren manche neueren Studien auf Senecas de beneficiis, was aber nicht unproblematisch ist.57 Wichtiger für die Rekonstruktion der Patron-Klient-Beziehung ist für die Forschung zum Philipperbrief die idealisierte Darstellung in den Antiquitates Romanae

51 Vgl. grundlegend S. K. STOWERS, Letter Writing in Graeco-Roman Antiquity, LEC 5, Philadelphia 1986; J. L. W HITE, Light from Ancient Letters, Philadelphia 1986. Beide verweisen auf den genannten Brief P.Mert. I 12. 52 Text und Übersetzung in: Seneca, Philosophische Schriften: lateinisch und deutsch (hg. von M. Rosenbach), Band 5: De clementia. De beneficiis. Über die Milde. Über die Wohltaten, Darmstadt 1989. Zur Interpretation vgl. M. T. GRIFFIN, Seneca on Society. A Guide to De Beneficiis, Oxford 2013; Jan WOLKENHAUER, Senecas Schrift De beneficiis und der Wandel im römischen Benefizienwesen, Göttingen 2014. 53 Vgl. GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 92. 54 Vgl. G. W. P ETERMAN, Paul’s Gift from Philippi. Conventions of Gift Exchange and Christian Giving, MSSNTS 92, Cambridge 1997, 52; REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 681: „Lucius Annaeus Seneca …, De beneficiis …, is esp. pertinent for Philippi.“ 55 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 171. Die ältere Forschung neigte dazu, de beneficiis als Traktat über die Freundschaft zu lesen (vgl. z. B. W. H. ALEXANDER, Lucius Annaeus Seneca de Beneficiis Libri VII: The Text Emended and Explained, University of California Publications in Classical Philology 14 [1950], 1–45). 56 Auch Senecas Epistolae morales ad Lucilium, die wohl zeitgleich mit den späten Teilen des Werks de beneficiis entstand (ca. 62–64 n. Chr.), verhandeln an manchen Stellen das Ineinander von Geben und Nehmen innerhalb persönlicher Beziehungen, auch innerhalb von Freundschaften (so z. B. epist. 3, 6, 9, 40, 81, 94). 57 GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 33.

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(ant. 2,9–11) des Dionys von Halikarnassos, veröffentlicht im Jahr 7 v. Chr.58 (5) Die Rolle des Patrons oder Wohltäters war gerade im antiken Vereinswesen von herausragender Bedeutung. Auch wenn zahlreiche Vereine Mitgliedsbeiträge einforderten, hingen sie finanziell zumeist am Tropf eines oder mehrerer wohlhabender Patrone, deren Zuwendungen etwa die Durchführung von Festen gewährleisteten. Diejenigen Forschungsarbeiten, die die Gemeinschaftsstruktur der Christen in Philippi in Hinsicht auf das hellenistisch-römische Vereinswesen zu beschreiben versuchen, legen das Augenmerk zunächst auf Inschriften, die aus Philippi und dem gesamten makedonischen Raum überliefert sind, beschränken sich aber nicht auf das regionale Vergleichsmaterial, da die Anzahl der Inschriftentexte aus dieser Gegend schlicht zu gering wäre.59 Aus diesen einführenden Bemerkungen, in denen die paulinische Selbstbeschreibung seines Verhältnisses zu den Philippern rekapituliert und das relevante Quellenmaterial skizziert wurde, ergibt sich nun der sozialgeschichtliche Fragehorizont, der nun anhand einschlägiger Forschungsbeiträge ausgeleuchtet werden soll.

2 Societas Eine societas „entstand durch Abschluß eines Konsensualvertrages (consensus) zw[ischen] zwei, manchmal auch drei oder mehr Gesellschaftern (socii), die zu Geld- oder Sacheinlagen, aber auch zu Dienstleistungen für die s[ocietas] verpflichtet waren.“60 Die in unserem Zusammenhang rele58 Text und englische Übersetzung in der Loeb-Ausgabe: The Roman Antiquities of Dionysius of Halicarnassus, 7 Bände, übers. von E. Cary, Cambridge 1937–1950. Zu ant. 2,9–11 vgl. jetzt J. NICOLS, Civic Patronage in the Roman Empire, Mnemosyne Supplements 365, Leiden 2014, 88–92. 59 Vgl. R. S. ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations. The Social Context of Philippians and 1 Thessalonians, WUNT 2/161, Tübingen 2003, 19. Zum Quellenmaterial vgl. P. P ILHOFER, Philippi, Band 2: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 119, Tübingen 22009; J. S. KLOPPENBORG / R. S. ASCOUGH, Greco-Roman Associations. Texts, Translations, and Commentary, Band 1: Attica, Central Greece, Macedonia, Thrace, BZNW 181, Berlin 2011; R. S. ASCOUGH, P. A. HARLAND und J. S. KLOPPENBORG, Associations in the Greco-Roman world. A Sourcebook, Waco 2012. Eine umfassende Präsentation und Auswertung der Vereinszeugnisse wird vom Copenhagen Associations Project erwartet. 60 J. ANDREAU, Art. Societas, DNP 11, 664f. (664). Vgl. ausführlich FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen (s. Anm. 46), 119–143. Andreas Fleckner hat die folgenden Abschnitte zur societas dankenswerterweise durchgesehen und mir zudem einen Entwurf seines Aufsatzes „Roman Business Associations“ zur Verfügung gestellt, der im Band „Roman Law and Economics“ (hg. von G. Dari-Mettiacci) erscheinen wird.

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vante Form der societas unius rei bzw. unius negotiationis61 wurde von einem genau bestimmten „Geschäftszweck“ (z. B. Geld-, Warengeschäfte oder Sklavenhandel) zusammengehalten und konnte auf Wunsch eines oder mehrerer socii nach Beendigung des Geschäfts oder im Todesfall aufgelöst werden.62 Eine societas hat „keine vom Willen ihrer Teilhaber unabhängige Existenz.“63 In den Institutionen des Gaius aus dem 2. Jh. n. Chr. findet sich in kodifizierter Form der alte Grundsatz, dass eine societas besteht, solange die Beteiligten gleichen Sinnes sind, d. h. solange über den „Geschäftszweck“ Übereinstimmung besteht: Manet autem societas eo usque, donec in eodem sensu perseverant (Gai. Inst. 3,151).64 Es stand Menschen aus allen Bevölkerungsschichten offen, eine societas einzugehen. 2.1 Quellenmaterial Cicero, Pro Publio Quinctio Ciceros Rede Pro Publio Quinctio, die das älteste Dokument der Tätigkeit Ciceros als Anwalt darstellt,65 hat eine societas zum Gegenstand. Zankapfel ist in dem Rechtstreit ein Landgut in Gallien, das Publius Quinctius zusammen mit seinem Geschäftspartner Sextus Naevius bewirtschaftete (Quinct. 12: societas earum rerum, quae in Gallia comparabantur). Aufgrund eines – so die Anklage – vertragswidrigen Verhaltens des Naevius kam es zum Rechtstreit, den der 25jährige Cicero für Quinctius als Ankläger führte.66 Juristisch besteht zwischen den Streitparteien eine sachenrechtliche societas hinsichtlich der gemeinsamen Ländereien und Sklaven, wobei jedoch auffällt, dass Cicero daraus „im Verhältnis von Naevius und Quinctius Pflichten zu besonderer Rücksichtnahme und Loyalität ableitet“ und damit Maßstäbe geltend macht, die nicht eigentlich zur sachenrechtlichen, sondern zur schuldrechtlichen Gemeinschaft gehören.67 „Denn wenn 61

Gewöhnlich werden drei societas-Formen unterschieden: 1. societas omnium/universorum bonorum (Vereinigung des gesamten Vermögens), 2. societas negotiationis alicuius (Betrieb eines beliebigen Geschäfts), 3. societas unius rei (Partnerschaft mit einem „Geschäftszweck“) (vgl. FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen [s. Anm. 46], 126f.). OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 24.337f. unterscheidet vier Typen. 62 Vgl. Institutiones Iustiniani 3,25,4–6. Zur zwingenden Auflösung einer societas in bestimmten Konstellationen vgl. F LECKNER, Roman Business Associations (s. Anm. 60), den Abschnitt „Mandatory dissolution, withdrawal, seizure.“ 63 FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen (s. Anm. 46), 342. 64 Vgl. Gaius, Institutiones = Die Institutionen des Gaius, hg., übers. und kommentiert von U. Manthe, Texte zur Forschung 81, Darmstadt 2004, 280. 65 Vgl. J. P LATSCHEK, Studien zu Ciceros Rede für P. Quinctius, Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 94, München 2005, 1. 66 Zum zugrunde liegenden Sachverhalt vgl. P LATSCHEK, Studien (s. Anm. 65), 11f. 67 P LATSCHEK, Studien (s. Anm. 65), 24.

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die Freundschaft durch Wahrhaftigkeit, das Gesellschaftsverhältnis durch Treue, die Verwandtschaft durch Liebe erhalten wird, bekennt zwangsläufig derjenige, der versucht hat, einen Freund, einen Gesellschafter, einen Verwandten seines guten Rufs und seines Vermögens zu berauben, dass er falsch ist, treulos und lieblos“ (Quinct. 26). Nach Cicero hat Naevius durch sein rücksichtsloses Verhalten seine Treuepflicht (fides) verletzt und der societas massiv geschadet. Papyrusurkunden: P.Bour. 13 Weitere Quellen, v. a. juristische aus späterer Zeit, könnten an dieser Stelle präsentiert werden, doch treten die charakteristischen Wesenszüge einer societas schon in der Rede Ciceros ausreichend hervor. Das Inschriftenund Papyrusmaterial belegt die weite Verbreitung und Vielgestaltigkeit von Geschäftsbeziehungen, bringt aber ebenfalls keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte. Aus den wenigen Textbeispielen, in denen κοινωνία als ökonomische Partnerschaft zu fassen ist, ragt P.Bour. 13 aus dem ägyptischen Memphis heraus (98 n. Chr.). Zwei Händler vereinbaren ein „joint venture“, das den Verkauf von Linsen auf dem örtlichen Markt regelt: „Petosiris … und Petermouthis … bestätigen, dass sie miteinander eine Partnerschaft und eine (geschäftliche) Gemeinschaft (μετοχὴν καὶ κοινωνίαν) eingegangen sind.“68 Das Nebeneinander von μετοχή und κοινωνία legt nahe, dass es sich bei der vorliegenden Übereinkunft um einen rechtlich bindenden „Gesellschaftsvertrag“ handelt, der die beiden Männer zu einer – so die spätere Terminologie – societas unius negotiationis zusammenschließt.69 2.2 Paulus als Geschäftspartner J. Paul Sampley Ende der 1970er Jahre entfaltete Paul Sampley die These, dass die Rechtsform der societas für das im Philipperbrief zutage tretende Gemeinschaftsverständnis Pate stand.70 68 Text und Übersetzung nach OGEREAU, Paul’s κοινωνία (s. Anm. 48), 369; Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 462; zur Interpretation vgl. a. a. O. 206f. 69 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 206, mit Verweis auf P. M. MEYER, Juristischer Papyrusbericht V, ZRG 48 (1928), 615. 70 J. P. SAMPLEY, Pauline Partnership in Christ. Christian Community and Commitment in Light of Roman Law, Philadelphia 1980, 51–77 (zum Philipperbrief). (Die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf dieses Werk. Analoges gilt für alle weiteren besprochenen Arbeiten.) Mit seiner Monographie erweitert Sampley eine These, die er erstmals im Jahr 1977 präsentierte: J. P. SAMPLEY, Societas Christi. Roman Law and Paul’s Conception of Christian Community, in: W. Meeks / J. Jervell (Hg.), God’s Christ and His People (FS N. A. Dahl), Oslo 1977, 158–174. – Schon einige Jahre zuvor gelang-

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Die Kardinalzeugen für seine Auffassung sind die Ciceroreden Pro Publio Quinctio und Pro Quinto Roscio comoedo, die Institutionen des Gaius sowie der Titel Pro socio aus den Digesten. Die freiwillige societas sei charakterisiert durch ein gemeinsames Ziel („shared goal“), zu dem alle Partner nach ihrem Vermögen beitragen, und durch eine gleichberechtigte, brüderliche („quasi-brotherly“) Partnerschaft, die auch gravierende Statusunterschiede wie zwischen Sklaven und Freien überwindet (17).

Anhand dieses Modells habe Paulus sowohl die Beziehung zwischen ihm und der philippischen Gemeinde als auch die innere Struktur der Gemeinde gestaltet. Paulus und die Philipper bilden nach Sampley eine societas Christi (72), sie sind „equal partners in living and preaching the gospel“ (61).71 Der paulinische Terminus κοινωνία ist Äquivalenzbegriff zu societas (60–62). Aus dem Text des Philipperbriefes erhebt Sampley nun drei Merkmale, die ihn das Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern als gegenseitige Geschäftspartnerschaft verstehen lassen. (1) Das Wort χρεία (Phil 2,25; 4,16) bezeichnet nach Sampley nicht lediglich den persönlichen „Mangel“ oder „Bedarf“ des Paulus, sondern ein formal eingereichtes Begehren an die Philipper. Sie mögen ihrer partnerschaftlichen Pflicht nachkommen und ihn für seine Auslagen materiell entschädigen. Wenn Paulus dann die Annahme der Unterstützung durch das Verb ἀπέχειν bezeichnet (Phil 4,18), bringe er zum Ausdruck, dass er die angeforderte Ausgleichszahlung gemäß geltendem Recht erhalten habe. (2) Die Kaufmannsprache, die Paulus in Phil 4,10–20 verwendet, impliziere eine Gemeinschaftsform, die auch wirtschaftliche Züge trägt. „The commercial technical terms … leave it unmistakable that the partnership is societas“ (60f.) (3) In einer societas ist es unabdingbar, hinsichtlich des gemeinsamen Zieles „eines Sinnes“ zu sein und zu bleiben (15). Entgleitet der Partnerschaft das gemeinsame Ziel oder das gegenseitige Vertrauen, wird sie aufgelöst. Unter Berufung auf den häufig wiederkehrenden Gedanken des φρονεῖν im Philipperbrief (1,7; 2,2.5; 3,15.19; 4,2.10), v. a. des τὸ αὐτὸ φρονεῖν (2,2; 4,2), folgert Sampley, dass auch die Partnerschaft zwischen Paulus und seiner Gemeinde auf einer solchermaßen rechtlich gefassten Gesinnungsgenossenschaft gründe (62–72). Gerade durch ihre materielle Unterstützung hätten die Philipper signalisiert, dass sie weiterte Jean Fleury zum Ergebnis, dass Paulus mit den Philippern eine Geschäftspartnerschaft unterhielt; vgl. J. FLEURY, Une société de fait dans l’Eglise apostolique (Phil 4:10 à 22), in: Mélanges Philippe Meylan, Band 2, Lausanne 1963, 41–59; kritisch jedoch Sampley, a. a. O., 58–60). 71 Auf die Frage, warum sich gerade mit den Philippern ein solches Verhältnis anbot, antwortet Sampley u. a.: „The church was apparently little marked by internal strife it was early and enduringly a stable, unified Christian community“ (SAMPLEY, Pauline Partnership [s. Anm. 70], 104). Eine vergleichbar arrangierte Partnerschaft kennzeichne allerdings auch sein Verhältnis mit Philemon (a. a. O., 79–81) und mit Petrus, Jakobus und Johannes (a. a. O., 21–50; zu Gal 2,9).

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hin ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und dadurch zum gemeinsamen Ziel beitragen: der Ausbreitung des Evangeliums (Phil 4,10).72 Julien M. Ogereau Inspiriert von Sampley (und Jean Fleury) hat Julien Ogereau in einer jüngst erschienenen großen Monographie argumentiert,73 „that Paul employed the term κοινωνία in reference to the strategic economic partnership he established with the Philippians, whereby they cooperated in his missionary activities by providing material and human resources, while he performed the work of the ministry“ (15). Eine umfassende Analyse von 100 Inschriften und 370 Papyri lässt ihn zum Schluss kommen, dass mit der Wortgruppe κοινων- eine geschäftliche Partnerschaft bezeichnet wird, die aus sozialökonomischer und rechtlicher Sicht mit einer römischen societas korrespondiere. Paulus brachte ars et opera in die Partnerschaft ein, die Philipper pecunia (50.349). Fixiert wurden die Details und die Bedingungen des Abkommens wohl in mündlichen Absprachen (290). Bei aller Kritik, die an Sampley zu richten sei, bestätige sich also dessen Grundannahme. Die paulinische Rede von der κοινωνία … εἰς τὸ εὐαγγέλιον (Phil 1,5) sei als ein kollaboratives Engagement an einer gemeinsamen Sache (res), d. h. der Förderung (προκοπή) des Evangeliums (1,15) zu verstehen, weshalb sich das Verhältnis zwischen ihm und den Philippern am besten als societas unius rei – im Sinne einer societas evangelii – fassen lasse (25.338.349). Die kommerzielle Sprache in 4,10–20 sei nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu nehmen: Paulus sei gewissenhaft („scrupulously“) der entsprechenden ökonomischen Konvention gefolgt und habe das Modell einer Geschäftspartnerschaft in innovativer Weise für seine Zwecke realisiert (308). Angesichts seiner begrenzten finanziellen Mittel sei das societasModell für Paulus attraktiv gewesen, da dies allein auf dem consensus beider Parteien basiert und er so nicht in die Abhängigkeit eines wohlhabenden Patrons geriet (344). Entgegen theologisch enggeführter Annah72 In Anlehnung an Sampley wollte Brian Capper eine Entwicklung von einer societas hin zu „nascent canon law“ nachweisen (B. CAPPER, Paul’s Dispute with Philippi. Understanding the Argument of Philippians 1–2 from Paul’s Thanks in 4.1–20, ThZ 49 [1993], 193–214 [196]). Auf der Grundlage von Phil 4,10 versuchte er zu zeigen, dass die Philipper temporär aus dem Vertrag ausgestiegen sind, weil Paulus als Inhaftierter seinen Gesellschafterpflichten nicht mehr nachkommen konnte (zur Kritik vgl. B ORMANN, Philippi [s. Anm. 2], 186f.). 73 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2); vgl. die Zusammenfassung DERS., Paul’s κοινωνία (s. Anm. 48), ferner J. M. OGEREAU, Customs Law of the Roman Province of Asia (lex portorii Asiae), in: S. R. Llewelyn / J. R. Harrison / E. J. Bridge (Hg.), New Documents Illustrating Early Christianity. A Review of the Greek Inscriptions and Papyri Published between 1988 and 1992, North Ryde 2012, 95–109 (105f.).

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men zum paulinischen Gemeinschaftsverständnis sei davon auszugehen, dass Paulus sein Missionsgeschäft proaktiv und strategisch gemanagt habe, um sich die nötigen Mittel und die finanzielle Unterstützung für seine Arbeit zu beschaffen (349). 2.3 Kritische Würdigung Wie nicht anders zu erwarten, nahmen sich die Reaktionen auf Sampleys Vorstoß zwiespältig aus. Während Josef Hainz in seiner Untersuchung zur „Kirche“ bei Paulus indigniert feststellte, dass Sampley den „paulinischen Koinoniagedanken gründlich verdorben“ habe,74 äußerte Wolfgang Schenk volle Zustimmung: Paulus gestaltete seine Beziehung zur philippischen Gemeinde nach dem „ganz spezifische[n] Modell der ‚gegenseitigen Geschäftspartnerschaft‘ (societas = κοινωνία) auf gegenseitigen Gewinn und Verlust“ – und zwar „im vollen rechtlichen und nicht nur metaphorischen Sinne.“75 Unbestreitbar entwirft Sampley ein „beeindruckende[s] Gesamtbild“,76 das nach wie vor Anziehungskraft besitzt und das von Ogereau in ein erheblich detail- und farbenreicheres Bild umgearbeitet wurde. Es macht wahrscheinlich, dass die Philipper Anklänge – wenngleich nicht (bewusste) Anspielungen – auf das ihnen wohl geläufige Rechtsinstitut der societas wahrgenommen haben. Zugleich trägt es der Tatsache Rechnung, dass sich Paulus in Phil 4,10–20 geradezu „ungeniert kaufmännischer Termini“ bedient,77 eine freiwillige Gegenseitigkeit im „Geben und Nehmen“ zugrunde legt und den Gemeinschaftsgedanken eng mit einer Gesinnungsgenossenschaft verkettet.78 Offensichtlich ist: „Paul had actually received some kind of material contribution.“79 Ogereau hat in seiner Untersuchung der dokumentarischen Quellen nachgewiesen, dass der Begriff κοινωνία

74 HAINZ, Koinonia (s. Anm. 42), 189. Hainz steht in der Tradition derer, die den paulinischen Begriff κοινωνία apriorisch als religiösen Terminus interpretieren (vgl. H. SEESEMANN, Der Begriff κοινωνία im Neuen Testament, BZNW 14, Gießen 1933, 99: „Nirgends ist uns κοινωνία bei Paulus als ‚Gemeinschaft‘ im Sinn von societas = Genossenschaft begegnet.“). 75 W. SCHENK, Der Brief des Paulus an Philemon in der neueren Forschung (1945– 1987), ANRW 2,25,4, Berlin 1987, 3439–3495 (3474f.; vgl. aber Schenks Sicht zur Freundschaft, s. u. S. 65 Anm. 129). 76 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 181. 77 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 152. 78 Vgl. G. W. HANSEN, The Letter to the Philippians, PNTC, Grand Rapids 2009, 307, der mit Sampleys Entwurf sympathisiert. Auch G. HAWTHORNE / R. P. MARTIN, Philippians, WBC 43, Nashville 2004, 274. Gegen Sampley betont Ogereau, dass eine societas eine stabile Beziehung zwischen den Vertragspartnern voraussetzt, nicht aber hervorbringt (OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 335f.347: „Trustworthy relationships were a prerequisite rather than a by-product of partnerships.“). Vgl. hingegen zur intrinsischen Instabilität einer societas jetzt FLECKNER, Roman Business Associations (s. Anm. 60) („the high level of instability has been neglected so far“). 79 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2)

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im Sinne einer kommerziellen Partnerschaft belegt ist (allerdings sehr selten!)80 und dass mit κοινωνός ein Geschäftspartner bezeichnet werden konnte. Schließlich mag noch in Anschlag gebracht werden, dass manche Mitglieder der philippischen Gemeinde möglicherweise als Geschäftsleute (aus Kleinasien) nach Philippi gelangt sind 81 und folglich mit den Konventionen einer ökonomischen κοινωνία vertraut waren.

Gleichwohl ergeben sich gewichtige Einwände gegen Sampleys innovativen Ansatz. Die Kritik an Sampley trifft im Grundsatz auch Ogereaus Reformulierung der societas-These, denn er stellt sie zwar auf eine breitere Quellenbasis und argumentiert weitaus differenzierter, bleibt im Ergebnis aber von Sampley abhängig.82 Die schiere Masse der von Ogereau beigebrachten dokumentarische Belegtexte für den Wortstamm κοινων- vermag die Beweiskraft der These nur bedingt zu verstärken, da diese Quellen über die Struktur und die Organisation der societas nur spärliche Informationen enthalten. So bleibt auch Ogereau in seiner rechtshistorischen Analyse wie Sampley auf späte juristische Texte angewiesen. Problematisch sind in beiden Ansätzen (1.) ihr stark konstruktiver Charakter, der vorschnell von sprachlichen auf sachliche Konvergenzen schließt, und (2.) das Verständnis der paulinischen Ekklesiologie im Sinne einer vertragsbasierten Gemeinschaftsbildung. 1. Manche der exegetischen Urteile Sampleys und Ogereaus strapazieren die paulinischen Formulierungen ungebührlich, um sie an die Ausgangsthese anzupassen. Noch häufiger wird e silentio argumentiert. Wie Ogereau selbst einräumt, repräsentiert seine Rekonstruktion der paulinischen societas ein „exercise in historical imagination“,83 da der kurze Brief des Paulus nur wenige Details preisgibt. In der Tat braucht es ein 80 Neben P.Bour. 13 (s. o.) kann Ogereau auf lediglich vier weitere Papyri verweisen, in denen κοινωνία eine ökonomische Färbung annimmt (vgl. OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 207f.), weshalb er selbst von einem „rare use of κοινωνία“ spricht (a. a. O. 207): P.Flor. III 370 (Hermopolis, 132 n. Chr.), P.Princ. II 36 (Herkunft unklar, 195–197 n. Chr.?), P.Lond. V 1795 (Hermopolis, 6. Jh. n. Chr.) und P.CtYBR inv. 616 (Herkunft unklar, 99 n. Chr. [unveröffentlicht]). Auch zum Inschriftenbefund räumt Ogereau ein: „Inscriptions in which κοινωνία denotes a business partnership, or even a commercial organisation, are admittedly rather rare“ (a. a. O. 172). Eine Weiheinschrift aus dem Nymphenheiligtum von Kafizin IKafizin 119 (Zypern, 225–218 v. Chr.) dokumentiert beispielsweise die Existenz einer Gesellschaft (κοινωνία) für den Flachs- und Leinsamenhandel. 81 Vgl. L. P ORTEFAIX, Sisters Rejoice. Paul’s Letter to the Philippians and Luke-Acts as Seen by First-century Philippian Women, CB.NT 20, Uppsala 1988, 137. 82 Ogereau beanstandet an der Argumentation Sampleys insbesondere dessen unkritischen und lückenhaften Umgang mit Quellentexten, seine linguistischen Prämissen und seine unpräzisen Beschreibungskategorien für die Art der paulinischen societas (OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 22–27). Gleichwohl hält er fest: „Along with Fleury, Sampley deserves to be acknowledged as one of the trail-blazers who provided much of the impetus and inspiration for the present study“ (27). 83 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 339.

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großes Maß an geschichtlicher und exegetischer Vorstellungskraft, um ausgehend von der paulinischen Formulierung κοινωνία εἰς (!) τὸ εὐαγγέλιον auf eine societas evangelii (oder Christi) zwischen ihm und den Philippern zu schließen. Aus linguistischer Sicht wurde Sampleys apriorische Ineinssetzung von κοινωνία und rechtlich konnotierter societas schon früh in Frage gestellt. Auch Ogereau hält die sprachliche Analyse Sampleys für unzureichend, da sie die Vieldeutigkeit des societasBegriffes unterschlägt. Dennoch ist er davon überzeugt, „that a meticulous investigation of the documentary evidence gives support to Sampley’s initial intuition that κοινωνία could correspond to the legal and commercial Roman concept of societas.“84 Außerdem ist zwar richtig, dass eine societas die gleiche Gesinnung und „guten Glauben“ voraussetzt, doch daraus kann nicht umgekehrt abgeleitet werden, dass eine Verbindung in eodem (con)sensu und bona fide notwendig die Sozialform einer rechtlichen societas impliziert. Gänzlich unplausibel ist schließlich Sampleys Annahme, dass χρεία zugleich „Bedarf“ und (formal eingereichtes) „Gesuch“ meint, denn für eine solche Doppelbedeutung gibt es keine linguistische Evidenz. Paulus macht ja auch unmissverständlich klar, dass er nicht auf die Gabe der Philipper aus war (Phil 4,17: οὐχ ὅτι ἐπιζητῶ τὸ δόμα), geschweige denn einen Antrag gestellt hat. Es bleiben viele Fragen offen, über die sich mangels einschlägiger Briefaussagen nur spekulieren lässt und die zusammengenommen die Gesamtthese brüchig werden lassen:85 War Paulus überhaupt mit den ökonomischen Konventionen im vorausgesetzten Maße vertraut? Was bewog ihn missionsstrategisch, mit den 84 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 219. Zur Kritik an Sampleys philologischen Prämissen vgl. zunächst G. H. R. HORSLEY, New Documents Illustrating Early Christianity, Band 3, North Ryde 1983, 19; sodann REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 146 Anm. 21; B. W ITHERINGTON, Paul’s Letter to the Philippians. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 2011, 279; B RIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 72. PETERMAN, Paul’s Gift from Philippi (s. Anm. 54), 125f., fasst den Einwand so zusammen: „The fact that κοινωνία can have the meaning ‚partnership‘ does not demonstrate that κοινωνία was used by Greek speakers as a label for the Roman association of societas, nor does it demonstrate that Paul employs κοινωνία in Philippians with the meaning societas. These assertions must be demonstrated by harder evidence. Since Sampley is attempting to attribute a specialized, technical meaning to κοινωνία, the burden of proof must rest with him to demonstrate a connection between societas and κοινωνία.“ Es ist Ogereaus erklärtes Ziel, den von Peterman eingeforderten Beweis durch sein Studium der dokumentarischen Quellen zu führen (OGEREAU, a. a. O, 152). 85 Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob und inwieweit römisches Recht in diesem Teil des Reiches überhaupt Anwendung fand. Vgl. A. M. F LECKNER, Europäisches Gesellschaftsrecht, in: S. Grundmann et al. (Hg.), Unternehmen, Markt und Verantwortung (FS K. J. Hopt), Band 1, Berlin 2010, 659–687 (666): „Auch die Ausbreitung des römischen Reiches begründete kein gemeines … Gesellschaftsrecht. Denn die Römer zeigten wenig Interesse daran, ihr Recht in den eroberten Gebieten einzuführen.“

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Philippern eine solche singuläre Beziehungsform einzugehen? Wann drängte sich den socii der Eindruck auf, dass ihre Gemeinschaft in eine „Evangeliumsgenossenschaft“ münden sollte? Wer hat das Vertragsverhältnis initiiert und wodurch erlangte es seine rechtliche Bindekraft – durch die Übergabe der Unterstützung durch die Philipper oder durch die Quittierung (ἀπέχειν) derselben durch Paulus in Thessalonich, durch eine mündliche Übereinkunft, durch einen Vertrag? Wer stand Paulus als socius gegenüber – die gesamte Gemeinde, einzelne Leitungspersönlichkeiten (vgl. Phil 1,1), Epaphroditus?86 Wie wurde der Referenzrahmen des „Unternehmensgegenstands“ vertraglich fixiert, handelt es sich doch um eine nichtmaterielle, nichtmessbare Größe – mittels einer Näherbestimmung der einzubringenden Leistungen (ars et opera, pecunia), durch eine Zielvereinbarung hinsichtlich der Zahl der Konvertiten oder neugegründeter Gemeinden, durch eine kontraktierte Missionsstrategie? Wie ließ sich die Partnerschaft angesichts der geographischen Distanz der Partner und anderer Unwägbarkeiten (z. B. Haft des Paulus) in die Tat umsetzen – durch gegenseitige Besuche und schriftliche Korrespondenz, mithilfe eines Gelddepots, auf das beide Parteien bei Bedarf zugreifen konnten? Wäre nicht zu erwarten, dass der vom Tode bedrohte „Gesellschafter“ Paulus wenigstens in einer Anspielung auf das möglicherweise bevorstehende Ende der societas Bezug nimmt? 2. Fragt man weiter, wie Paulus selbst das Zustandekommen einer christlichen Gemeinschaft sieht, fällt sogleich seine christologische Begründungsstruktur auf: Die Glaubenden teilen miteinander ihren Glauben nicht „auf Grund einer freiwilligen Übereinkunft …, sondern weil sie in eine von Christus her bestimmte Beziehung eingetreten sind.“87 Auch hinsichtlich der Eigenart des gemeinsamen Ziels herrscht eine Diskrepanz zwischen einer societas und einer christlichen Gemeinde, die weder Sampley noch Ogereau hinreichend reflektieren: Die Genossenschaft der socii bezieht sich auf einen einzigen, „externen“ Geschäftszweck (z. B. Linsenhandel), nicht wie bei Paulus auf einen ganzheitlichen Lebensentwurf, der religiöse, soziale und ethische Fragen einbezieht. Mit dem Etikett societas Christi bzw. societas evangelii wird die sonst klar abgegrenzte „gemeinsame Sache“ innerhalb einer societas sehr vage umschrieben. Es geht einer societas unius rei um ein fest umrissenes wirtschaftliches Interesse zwischen Vertragspartnern, das der von Paulus angestrebten geschwisterlichen Sampley und Ogereau scheinen Ersteres vorauszusetzen. Vgl. aber FLECKNER, Antike Kapitalvereinigungen (s. Anm. 46), 135: „[D]en Quellen zur societas [ist] eines gemein: Fast alle Vereinigungen scheinen aus ganz wenigen, oft allein zwei Teilhabern zu bestehen.“ Zahlreiche in Ogereaus Werk abgedruckte Papyri und Inschriften bestätigen gerade diesen Sachverhalt! 87 P. MÜLLER, Der Brief an Philemon, KEK 9/3, Göttingen 2012, 124f. Anm. 248. 86

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„Gemeinschaft im Evangelium“ (Phil 1,5) und der „Förderung des Evangeliums“ (1,12) kaum als Folie dienen konnte.88 Die paulinische Ekklesiologie sperrt sich sodann gegen die Annahme, dass er mit einer Gemeinde eine besondere, rechtlich ausgestaltete Partnerschaft unterhielt und mit anderen nicht. Die Finanzsprache in Phil 4,10–20, mit der Paulus sein besonderes Verhältnis zu den Philippern umschreibt, muss sich durchaus nicht auf eine rechtliche Vertragspartnerschaft beziehen, sondern kann schlicht den für die gemeinsame Sache geleisteten finanziellen Einsatz der Gemeinde meinen oder aber im übertragenen Sinn verstanden werden. Letztere Sicht steht im Mittelpunkt des nun folgenden Paradigmas, der Freundschaft.

3 Freundschaftsverhältnis Der weitere Gang der Forschungsgeschichte zeigt: „Sampley’s view was superseded by application of ‚friendship‘.“89 In der Tat hatte in den 1990er Jahren eine alternative Sicht Hochkonjunktur, die das Verhältnis des Paulus zur Gemeinde in Philippi im hellenistisch-römischen Paradigma der Freundschaft verstehen will – bei allen Differenzierungen und Differenzen im Detail. Das Bedeutungsspektrum der griechischen φιλία ist sehr breit und kann sogar eine Geschäftspartnerschaft einschließen: „[T]he Greek word φιλία can cover all bonds of affection, from the closest erotic and familial ties to political loyalties, humanitarian sympathies, business partnerships, and even love for inanimate things.“90 Die φιλία ist nicht deckungsgleich mit der römischen amicitia.91 Die amicitia erstreckt sich beispielsweise nicht auf verwandtschaftliche Beziehungen. Andererseits ist Freundschaftsterminologie innerhalb des spezifisch römischen Patronatswesens gebräuchlich. Umstritten ist unter Althistorikern, ob sich die beiden Kategorien teilweise überschnei88

Vgl. B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 36: „It is in any case less than plausible to construe Paul’s unique ‚partnership in the gospel‘ with the Philippians in predominantly material terms.“ Sampley ist sich freilich im Klaren, dass sich eine societas auf wirtschaftliche und finanzielle Bereiche erstreckt (SAMPLEY, Pauline Partnership [s. Anm. 70], 18 Anm. 10; vgl. 13f.). Einen Beleg aus dem Bereich des Religiösen können weder er noch Ogereau anführen. 89 REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 695; vgl. 147. 90 SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 2. Vgl. umfassend D. KONSTAN, Friendship in the Classical World, Key Themes in Ancient History, Cambridge 1997, sowie zum römischen Freundschaftsverständnis C. A. W ILLIAMS, Reading Roman Friendship, Cambridge 2012. 91 Um eine scharfe Unterscheidung bemüht sich u. a. W ILLIAMS, Reading Roman Friendship (s. Anm. 90), 32: „The two words do not have the same set of associations and resonances, let alone denotative range. Amicitia, in short, is as uniquely and quintessentially Roman as such concepts as patria potestas, clientele, or pietas.“

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den oder ob sie klar unterscheidbar bleiben. Während beispielsweise Richard Saller für einen zum Patronat hin offenen Freundschaftsbegriff plädiert, beharrt etwa David Konstan auf einer scharfen Trennung: Amicus „means only ‚friend‘, and does not mean ‚client‘ at all.“92

Dessen ungeachtet interessieren sich die in der Philipperexegese zum Vergleich herangezogenen Philosophen – Aristoteles, Cicero und Seneca – jedoch primär für einen spezifischen Ausschnitt des Freundschaftsparadigmas, nämlich die Idealgestalt der Freundschaft zwischen guten, tugendhaften, statusgleichen Individuen.93 Wesentliche Impulse erhielt die bibelwissenschaftliche Erschließung der φιλία bzw. amicitia durch Abraham Malherbes Vortrag „Hellenistic Moral Philosophy and the New Testament“ aus dem Jahr 1990. Seine Anregungen fanden breiten Widerhall, und es entstanden in den Folgejahren einschlägige Sammelbände zur Freundschaftskonzeption in der griechisch-römischen Welt94 und im Neuen Testament, mit einem ausdrücklichen Fokus auf Paulus und den Philipperbrief.95 Mittlerweile ist die Literatur Legion, und Freundschaft ein „major buzzword“96 in der Philipperforschung. Die große Zahl an Exegetinnen und Exegeten, die den Philipperbrief vor dem Hintergrund des Freundschaftsethos lesen, sieht das Schreiben regelrecht von φιλία-Terminologie und -Motivik durchtränkt97 und nimmt ein überlegtes und gewandtes Spiel des Paulus mit der Sprache der Freundschaft wahr.98 Verwiesen wird dabei

92 Vgl. R. P. SALLER, Patronage and Friendship in Early Imperial Rome, in: A. Wallace-Hadrill (Hg.), Patronage in Ancient Society, London/New York 1989, 50–62 (56); D. KONSTAN, Patrons and Friends, Classical Philology 90 (1995), 328–342 (329). 93 Eine knappe Übersicht mit für den Philipperbrief relevanten Belegen aus dem griechisch-römischen Schrifttum bietet REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 680–682. 94 Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 50). Dieser Band ist wie auch der in folgender Fußnote erwähnte die Frucht einer SBLArbeitsgruppe, die sich auf Malherbes Impulse hin formierte. 95 Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech (s. Anm. 37). Den Philipperbrief behandeln die folgenden Beiträge: J. REUMANN, Philippians, Especially Chapter 4, as a ‚Letter of Friendship‘. Observations on a Checkered History of Scholarship, 83–106; K. L. B ERRY, The Function of Friendship Language in Philippians 4:10–20, 107–124; A. J. MALHERBE, Paul’s Self-Sufficiency (Philippians 4:11) (s. Anm. 37), 125– 139; J. T. FITZGERALD, Philippians in the Light of Some Ancient Discussions of Friendship, 141–160. 96 J. A. MARCHAL, With Friends Like These… A Feminist Rhetorical Reconsideration of Scholarship and the Letter to the Philippians, JSNT 29 (2006) 77–106 (78). 97 Vgl. STOWERS, Friends and Enemies (s. Anm. 14), 106f.; A. C. MITCHELL, „Greet the Friends by Name.“ New Testament Evidence for the Greco-Roman Topos on Friendship, in: Fitzgerald (Hg.), Greco-Roman Perspectives on Friendship (s. Anm. 50), 225– 262 (233); MALHERBE, Introduction (s. Anm. 7), 6. 98 MALHERBE, Paul’s Self-Sufficiency (s. Anm. 37), 338 („deft use of the language of friendship“).

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u. a. auf Phil 1,6–11.21–27; 2,2.6–11.17–18.25–30; 3,18; 4,1–3.10–20.99 Der „Schlüssel“ des Briefes sei – so G. Walter Hansen – Freundschaft,100 und ihr sprachlicher „Höhepunkt“ die Anrede in Phil 4,1: „Paul’s use of the language of friendship throughout his letter to the Philippians comes to is the climax in an accumulation of friendship terms in 4:1: ‚my brothers and sisters, you whom I love and long for, my joy and crown, dear friends.‘“101 3.1 Quellenmaterial Aristoteles, Nikomachische Ethik Die Nikomachische Ethik des Aristoteles bietet die ausführlichste Abhandlung zum Thema der Freundschaft aus dem klassischen griechischen Schrifttum. Ihrer Darstellung widmet Aristoteles mehr Raum als allen anderen Tugenden. Bekanntlich unterscheidet er zwischen drei Arten von Freundschaften: Nutzenfreundschaft, Lustfreundschaft und Tugendfreundschaft. Sie entspringen den Motiven, deretwegen man liebt: das Nützliche (τὸ χρήσιμον), das Angenehme (τὸ ἡδύ) und das Gute (τὸ ἀγαθόν) (8,3 [1156a 6–12]).102 Am wenigsten kann er der Nutzenfreundschaft abgewinnen, denn sie ist an äußeren Werten (Besitz, Bildung) und nicht an inneren Werten (Charakter) interessiert, egozentrisch, meist kurzlebig und anfällig für Enttäuschungen.103 Gleichwohl ist die Nutzenfreundschaft im alltäglichen Leben weit verbreitet. Die vorzügliche Form der Freundschaft erwächst aus der Ausrichtung am Guten. „Jede Freundschaft beruht auf Gemeinschaft (ἐν κοινωνίᾳ … πᾶσα φιλία ἐστίν)“ (8,14 [1161b 11]), und sie beruht auf Gleichheit, ja sie ist – wie man (sprichwörtlich) sagt – Gleichheit (φιλότης ἰσότης) (8,7 [1157b 36]): „Alle Sprichwörter stimmen damit überein: ‚eine Seele (μιὰ ψυχή)‘, ‚unter Freunden ist alles gemeinsam (κοινὰ τὰ φίλων)‘, ‚Freundschaft ist Gleichheit‘ und ‚das Knie ist näher als die Wade‘“ (9,8 [1168b 6–8]). In ihrer idealen Gestalt ist Freund99

Vgl. REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 680. Vgl. G. W. HANSEN, Transformation of Relationships. Partnerships, Citizenship, and Friendship in Philippi, in: A. M. Donaldson / T. B. Sailors (Hg.), New Testament Greek and Exegesis (FS G. F. Hawthorne), Grand Rapids 2003, 181–204 (198–204). 101 HANSEN, Philippians (s. Anm. 78), 6. Man beachte die Übersetzung von ἀγαπητοί mit „dear friends“ (vgl. auch a. a. O., 169)! 102 Vgl. ausführlich SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 37–56. 103 Vgl. dagegen die Auffassung Epikurs: „Jede Freundschaft ist um ihrer selbst willen erstrebenswert, ihren Ursprung aber hat sie vom Nutzen“ (πᾶσα φιλία δι’ ἑαυτὴν , ἀρχὴν δὲ εἴληφεν ἀπὸ τῆς ὠφελείας). Dazu E. BROWN, Epicurus on the Value of Friendship (Sententia Vaticana 23), Classical Philology 97 (2002), 68–80 (der die Frage nach der viel diskutierten Emendation in der editio princeps des Gnomologium Vaticanum aus dem Jahr 1888, die αἱρετή für ἀρετή setzte, neu aufrollt). 100

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schaft eine Verbindung zwischen tugendhaften Männern: „Vollkommen ist die Freundschaft der Tugendhaften und an Tugend Ähnlichen (τελεία δ᾽ ἐστὶν ἡ τῶν ἀγαθῶν φιλία καὶ κατ᾽ ἀρετὴν ὁμοίων)“ (8,4 [1156b 7–8]). Eine Freundschaftsbeziehung ist immer auch eine Austauschbeziehung. Wer eine Gabe oder Wohltat empfangen hat, ist verpflichtet, sie in angemessener Weise zu erwidern. Auch Aristoteles verweist auf das reziproke, verpflichtende Wesen der Freundschaft: „Schön ist es nun, Gutes zu tun ohne die Absicht, Gutes zu erfahren, nützlich aber, Gutes zu erfahren. Wer also kann, soll den Gegenwert dessen, was er erhalten hat, geben, und zwar freiwillig (δυναμένῳ δὴ ἀνταποδοτέον τὴν ἀξίαν ὧν ἔπαθεν καὶ ἑκόντι)“ (8,15 [1162b 36–1163a 2]). Der innerhalb einer Freundschaftsbeziehung Unterlegene kann seine Schuldigkeit auch durch Ehrerweise (τιμή) ableisten (8,16 [1163b 3]).

Recht ausführlich diskutiert Aristoteles die Frage nach dem Verhältnis von Selbstgenügsamkeit und Freundschaft.104 In ihr äußert sich die Spannung zwischen der „göttlichen“ Natur, die frei ist von Bedürfnissen, und der „politischen“ Natur des Menschen, die auf Gemeinschaft angelegt ist. Im Eingangsteil seiner Ethik gibt Aristoteles Auskunft über das „Endziel (τέλος) des Handelns“ (1,5 [1097a 22f.]): Es besteht in der „Glückseligkeit (εὐδαιμονία)“, die u. a. mit einer uneingeschränkten „Selbstgenügsamkeit (αὐτάρκεια)“ einhergeht. Dasjenige ist selbstgenügsam, „was für sich allein das Leben begehrenswert macht, so dass es keines weiteren bedarf. Für etwas Derartiges halten wir die Glückseligkeit, und zwar so, dass sie das Wünschenswerteste ist, ohne dass irgendetwas anderes hinzugezählt werden könnte“ (1,5 [1097b 15–18]).105 Bedarf nun der Glückselige der Freunde oder nicht? Manche seien, so Aristoteles, nämlich der Auffassung, „dass die Glückseligen und die sich selbst genug sind, keiner Freunde bedürfen (οὐθὲν … δεῖν φίλων τοῖς μακαρίοις καὶ αὐτάρκεσιν)“ (9,9 [1169b 4f.]). Weil nun aber der Mensch als soziales Wesen geschaffen ist und sein Leben besser mit Freunden und Tugendhaften als mit Fremden und Beliebigen verbringt, „bedarf der Glückselige der Freunde“ (9,9 [1169b 22]). Und weil im Zusammenleben mit dem tugendhaften Freund Tugend geübt wird, „bedarf der Glückselige tugendhafter Freunde“ (9,9 [1170b 18f.]). Aristoteles’ Darlegungen lösen die Spannung nicht auf,106 und er vererbt diese Spannung an die beiden Römer Cicero und Seneca weiter. Denn auch sie ringen mit dem Nebeneinander der beiden Gedankenlinien, dass einer104 Vgl. A. W. H. ADKINS, „Friendship“ and „Self-Sufficiency“ in Homer and Aristotle, Classical Quarterly 13 (1963), 30–45; STERN-G ILLET, Aristotle’s Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 123–145; S. LYNCH, Philosophy and Friendship, Edinburgh 2005, 44–53. 105 Vgl. PRICE, Friendship (s. Anm. 49), 231: Aus dem paradoxen Gedanken, dass ein Freund ein „anderes Selbst“ darstellt (vgl. 9,4 [1166a 31f.]), ergeben sich Fragen: „How can one person’s eudaimonia extend over others? … Why is the extension desirable for the agent? And what are the limits of the resultant altruism?“ 106 STERN-GILLET, Aristotle’s Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 54.

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seits der Weise vollkommen selbstgenügsam ist und sich andererseits doch Freundschaften herbeiwünscht und ihrer bedarf.107 Cicero, Laelius [sive] de amicitia Ciceros Laelius gehört ebenfalls zu den wirkmächtigsten antiken Abhandlungen über die Freundschaft. Er gibt hier die Gedankengänge eines Gesprächs wieder, das der Staatsmann und Scipio-Freund Laelius mit seinen beiden Schwiegersöhnen wenige Tage nach dem Tod Scipios geführt hat. Ausdrücklich wird die Frage gestellt, ob die Freundschaft zwischen Laelius und Scipio aus Not und Bedürfnissen entstand: „Was meint ihr denn? Hat mich etwa Africanus [sc. Scipio] ‚gebraucht‘? Bei Herkules nicht! Aber auch ich ‚brauchte‘ ihn nicht“ (30). Doch sein Verständnis der Freundschaft als Aktivität, die aus Liebesdiensten und Hilfestellungen besteht, treibt ihn in einen Widerspruch. Denn im weiteren Verlauf führt er aus: „Es wäre vielleicht gar nicht einmal gut, wenn die Freunde überhaupt nie etwas bräuchten. Denn worin hätte sich die Kraft unserer gegenseitigen Liebe auswirken können, wenn Scipio niemals meines Rates, niemals meiner Bemühungen bedurft hätte, weder im Frieden noch im Krieg? Es ist also nicht zuerst der Nutzen (utilitas) und dann erst die Freundschaft gekommen, sondern Freundschaft war zuerst da, und sie hatte den Nutzen zur Folge“ (51).108

Es zeigt sich hier die Unterscheidung zwischen „wahrer, vollkommener (vera et perfecta) Freundschaft“ und „alltäglicher und unvollkommener (vulgaris et mediocris) Freundschaft“. In ihrer alltäglichen Gestalt kann Freundschaft zwar „Freude und Nutzen“ spenden, erreicht aber niemals die Höhe einer wahren Freundschaft: Nur diese macht ein Leben lebenswert, verleiht dem Glück hellen Glanz und macht das Unglück durch gemeinsame Anteilnahme leichter zu ertragen (22).109 Wahre, vollkommene Freundschaft ist nur zwischen „Guten“ möglich, wobei „gut“ nicht im ‚sophistischen‘, d. h. für Cicero alltagsfernen und abgehobenen Sinn zu verstehen ist, sondern im ‚stoischen‘, d. h. innerhalb dessen, „was im Bereich der alltäglichen Lebenserfahrung liegt“ (18). Am Anfang einer wahren Freundschaft stehen nicht „menschliche Schwäche und Bedürftigkeit“ (imbecillitas atque inopia), sondern – wie das Wort amicitia andeutet – der aus der angeborenen Natur hervorgegangene amor. „Die Liebe nämlich, amor, wovon das Wort ‚amicitia‘ abgeleitet ist, gibt den ersten 107 108

SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 115. Vgl. SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49),

117f. 109 In zwei ausführlichen Redegängen gibt Laelius seinen Schwiegersöhnen Regeln und Ratschläge für die beiden Gestalten von Freundschaft an die Hand (Lael. 36–76 und 77–99).

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Impuls, ein Band der gegenseitigen Zuneigung zu knüpfen“ (26).110 Zur Liebe treten „Güte“ (benevolentia) (49–50), „Festigkeit“ (constantia) (62– 64) und „Treue“ (fides) (65).111 Sollten freilich notvolle Situationen und Gefahren drohen, wird der wahre Freund daran erkannt, dass er freimütig Gefahren auf sich nimmt (24) und im Unglück Gefährte ist: amicus certus in re incerta cernitur (64, ein Ennius-Zitat). Ihrem Wesen nach ist Freundschaft „nichts anderes als die Übereinstimmung (consensio) in allen irdischen und überirdischen Dingen, verbunden mit Zuneigung und Liebe“ (20), „eine uneingeschränkte Gemeinschaft (communitas) in allen Angelegenheiten, Plänen und Wünschen“ (61). Durch die Liebe vermag es ein Mensch gar, „eine so vollkommene Wesensvereinigung zu vollziehen, dass er sozusagen fast eines aus zweien macht“ (81). Die innere seelische Verbindung zwischen zwei Menschen lässt es so erscheinen, wie wenn der eine im anderen „ein Vorbild seiner selbst“ (exemplar … sui) erblickt. „So kommt es, dass Abwesende zugegen, Arme reich, Schwache stark und, was man kaum mit Worten bezeichnen kann, Tote lebendig sind“ (23). Status- und Standesunterschiede, die unleugbar Teil der sozialen Wirklichkeit sind, werden im Raum der Freundschaft unbedeutend. „Von größter Wichtigkeit in der Freundschaft ist es, dass man sich einem niedriger Stehenden gleichstellt“ (69), was wiederum umgekehrt heißt, „dass sich die Niedrigerstehenden gewissermaßen emporheben sollen“ (72). Insofern consensio und communitas wesentlich zur Freundschaft gehören, kann Verschiedenheit ihr Ende bedeuten: „Wenn nämlich die Charaktere (mores) und demzufolge die Interessen (studia) verschieden sind, dann löst diese Verschiedenheit die Freundschaft auf (dissimilitudo dissociat amicitias)“ (74).

Der Ertrag der Freundschaft ist nicht etwas von außen Hinzukommendes, sondern besteht in der Liebe selbst (31: omnis eius fructus in ipso amore inest); die Liebe unter Freunden ist „gleich stark und von derselben Art“, und ist sie erst entzündet, entsteht ein „ehrenvoller Wettstreit“ (honesta certatio), der „größte Nützlichkeiten“ (utilitates … maximae) zeitigt (32). Wer eine Freundschaft eingeht, um von ihr zu profitieren oder um Geben und Nehmen aufzurechnen (58: ratio acceptorum et datorum), sitzt einem groben Missverständnis auf und hat von wahrer Freundschaft nichts verstanden. Denn: „friendship is greater than a calculus of equality.“112 Darin, dass eine utilitaristisch-berechnende Form der Freundschaft die Bezeichnung „Freundschaft“ im Grunde gar nicht verdient, ist er sich mit Seneca einig.113 110 An anderer Stelle kann Cicero auch sagen, dass die „Tugend (virtus)“ als das „höchste Gut (summum bonum)“ es ist, „die Freundschaft hervorbringt und zusammenhält“ (Lael. 20). 111 Vgl. FIORE, Theory and Practice of Friendship (s. Anm. 50), 60–62. 112 FIORE, Theory and Practice of Friendship (s. Anm. 50), 64. 113 Vgl. SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 111: „Against Epicurus, both Cicero and the Roman Stoic philosopher Seneca argue that if friendship is simply utilitarian, and if it is openly regarded as such, it cannot be relied upon to fulfill even the narrow function assigned to it.“

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Seneca, de beneficiis; epistulae morales ad Lucilium In seinem der Wohltätigkeit und dem Gabentausch gewidmeten Werk de beneficiis kommt Seneca en passant auch auf die Freundschaft zu sprechen.114 Der Konnex zwischen Wohltaten und Freundschaft könnte so beschrieben werden: „Receiving a benefit creates a relationship of friendship which is then consolidated by further interchanges of benefit.“115 Eindrücklich veranschaulicht Seneca, dass die Wahl eines Wohltäters mehr Sorgfalt erfordert als die Wahl eines Gläubigers. „Diesem nämlich muss ich wiedergeben, wieviel ich erhalten habe, und wenn ich zurückgegeben habe, bin ich ledig und frei hingegeben jenem muss ich erstens mehr zahlen, und zweitens hängen wir nichtsdestoweniger auch dann miteinander zusammen, wenn der Dank abgestattet ist; ich muss nämlich, wenn ich erwidert habe, von neuem beginnen, und es bleibt die Freundschaft“ (2,18,5). Insbesondere im sechsten Buch stellt Seneca Überlegungen zur Freundschaft an. Er spottet dort etwa über die üble Angewohnheit der Hochmütigen, das „Volk der Freunde“ (populus amicorum) (6,34,1) in Klassen einzuteilen. Sie haben „Freunde erster Klasse, hatten Freunde zweiter Klasse, niemals wahre Freunde“ (6,34,2) und machen dies dadurch kenntlich, dass sie die einen unter vier Augen empfangen, die anderen in kleinen Gruppen usw. Doch wahre Freunde, so Seneca, werden nicht im Atrium, sondern „im Herzen“ (in pectore) gesucht und „im Gefühl“ (in sensus) festgehalten (6,34,5). In seinen Briefen, auf die hier nicht vertieft eingegangen werden kann, vertritt Seneca rigoros das stoische Ideal, dass der wahrhaft Weise „aufrecht [steht] – unter jedwedem Gewicht“ und „seine Kräfte kennt: er weiß, er ist dazu da, Belastung zu tragen“ (epist. 71,26). Er ist „mit sich selber zufrieden (contentus)“ (epist. 9,3). „Derart ist der Weise mit sich zufrieden, daß er nicht ohne Freund sein will, sondern kann. Und das, was ich ‚kann‘ nenne, ist folgendes: Verlust [des Freundes] trägt er mit Gleichmut“ (epist. 9,5). Gleichwohl scheint er angesichts des Todes eines Freundes unter diesem Ideal zu zerbrechen: „Das schreibe ich dir, derjenige, der ich den Annaeus Serenus, der mir am teuersten, so maßlos beweint habe“ (epist. 63,14). „Seneca’s ideal of self-sufficiency simply breaks down in the face of his deep need for friendship, which he has not fully accepted or understood. He is, by his own admission, not wholly wise.“116 Die schon bei Aristoteles beobachtete Spannung tritt hier in existentieller Weise zutage.

Papyrusbriefe: P.Mert. I 12 Ein faszinierendes Beispiel dafür, wie freundschaftliche Umgangsformen in einer alltäglichen Situation Gestalt gewinnen können, ist der „Freund114 Vgl. REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 682: „Sen[eca] treats benefits apart from friendship or only on the margin of amicitia.“ W OLKENHAUER, De beneficiis (s. Anm. 52), 27. 115 GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 28. 116 SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 116.

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schaftsbrief“ Papyrus Merton I 12. Als Abfassungsdatum lässt sich der 26. April 59 n. Chr. erschließen117; er stammt wohl aus Oxyrhynchos oder Hermopolis (Ägypten). Ein gewisser Chairas bedankt sich bei dem Arzt Dionysios für die Übersendung zweier Rezeptabschriften und bittet ihn um ergänzenden medizinischen Rat. Der Briefinhalt weist auf zwei (nicht vorschnell zu verallgemeinernde) Sachverhalte hin: Unter Freunden ist es ungebräuchlich, einen Gefallen mit einem verbalisierten Dank zu erwidern; gleichwohl nimmt die erwiesene Gunst in die Pflicht und verlangt einen (materiellen) Ausgleich. „Chairas seinem lieben Dionysios (Χαιρᾶς Διονυσίωι τῶι φιλτάτωι) vielmals Grüße und allezeit Gesundheit. Als ich deinen Br[ief] erhielt, war ich so voller Freude, [als ob] ich tatsächlich zu Hause wäre, denn o[hne] das ist (alles) nichts. Dir große Danksagungen (μεγάλας εὐχαριστίας) zu schreiben, verbietet sich jedoch; denn nur denen, die keine Freunde sind, muß man mit Worten Dank sagen (δεῖ γὰρ τοῖς μὴ φίλοις οὖσι διὰ λόγων εὐχαριστεῖν). Ich vertraue aber darauf, daß ich in einer gewissen heiteren Ruhe ganz munter bin, und wenn dir vielleicht auch nicht dasselbe (τὰ ἴσα) zu bieten ist, werde ich doch wenigstens etwas Kleines für deine Liebe zu mir bieten… Lebewohl, und denk an das Gesagte! … [Rückseite] An den Arzt Dionysios.“118

3.2 Paulus als Freund Peter Marshall Einer der ersten, der sich dem Trendthema „Freundschaft“ aus neutestamentlicher Perspektive annäherte, war Peter Marshall. In seine Arbeit „Enmity in Corinth“, die bereits im Jahr 1987 veröffentlicht wurde,119 flossen zahlreiche Anregungen seines Lehrers E. A. Judge,120 aber auch Impulse von Abraham Malherbe ein.121 Wie der Titel des Buches vermuten lässt, sind die Ausführungen zu den relevanten Philipperbriefpassagen recht knapp gehalten (157–164). Der Wert der Arbeit für die Philipperexegese liegt v. a. in der materialreichen Dokumentation einschlägiger Texte 117 Vgl. A. J ÖRDENS, Griechische Texte aus Ägypten, in: B. Janowski / D. Schwemer (Hg.), Texte zur Heilkunde, TUAT.NF 5, Gütersloh 2010, 317–350 (335 Anm. 62). 118 Erstveröffentlichung in H. I. Bell / C. H. Roberts, A Descriptive Catalogue of the Greek Papyri in the Collection of Wilfred Merton, Band 1, London 1948. Deutsche Übersetzung in J ÖRDENS, Griechische Texte aus Ägypten (s. Anm. 117), 335; vgl. STOWERS, Letter Writing (s. Anm. 51), 61f.; W HITE, Light from Ancient Letters (s. Anm. 51), 145. 119 MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19). 120 Vgl. u. a. E. A. J UDGE, The Social Pattern of the Christian Groups in the First Century. Some Prolegomena to the Study of New Testament Ideas of Social Obligation, London 1960; DERS., The Early Christians as a Scholastic Community, JRH 1 (1960/1961), 4–15.125–137; DERS., St. Paul and Classical Society, JAC 15 (1972), 19– 36. 121 Marshall verweist auf A. J. MALHERBE, Social Aspects of Early Christianity (1977), Philadelphia 21983.

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zur antiken φιλία-Konzeption. Aus ihnen rekonstruiert er ein Freundschaftsethos, das wesentlich in der Korrespondenz von „Geben und Nehmen“, d. h. in einem auf Gegenseitigkeit beruhenden Austausch besteht.122 Ein so breit angelegter Freundschaftsbegriff umfasst nicht nur Sozialbeziehungen zwischen Statusgleichen, sondern auch zwischen Patronen und Klienten. Marshall ist sich wohlbewusst, dass Paulus an keiner Stelle die Begriffe φιλία und φίλος verwendet, auch nicht dort, wo sie sich seiner Meinung nach nahelegen würden (133). Dennoch hält fest: „[W]e will find that Paul does not dismiss the practice of friendship and that many of its conventions continue to govern his relationships with others“ (134). Paulus habe sich faktisch als Teil eines freundschaftlich-patronalen Beziehungsgeflechts gesehen („patronal friendship“123), doch habe ihn seine Vorstellung von christlicher Gemeinschaft davon abgehalten, sie in φιλία-Terminologie zu kleiden. Er habe – sehr zum Erstaunen seiner Gegenüber – „servile terms“ bevorzugt, sowohl für sich und seine apostolische Tätigkeit als auch für seine Partner und deren Engagement (133f.).124 Insofern der patronalen Freundschaft das Statusdenken inhärent sei, tauge der Begriff φιλία für Paulus nicht als Beschreibungskategorie für die Beziehung unter Glaubenden (146: „deliberate reaction against traditional notions of status distinction“). Die Unterordnung unter Christus schaffe eine Einheit, die alle Glaubenden unterschiedslos zusammenbindet. Dennoch findet Marshall in den Paulusbriefen fünf Aspekte, die ein Freundschaftsverhältnis auszeichnen, von denen der letzte für die Interpretation des Philipperbriefes von besonderer Relevanz ist: „hospitality, patronal relations, recommendation, the antithetical relationship of enmity, and giving and receiving“ (136; vgl. 137–157).

Wenn sich Paulus in Phil 4,15 mittels der Formulierung κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως der Sprache des Kommerzes bediene, tue er dies möglicherweise in der Absicht, die Gabe der Philipper als „investment“ zu deklarieren, das von Gott mit Zinszahlungen erwidert werde (159). Wichtiger ist für Marshall allerdings die Tatsache, dass Cicero eine äquivalente Formulierung verwendet: ratio acceptorum et datorum (Lael. 58; s. o.) – und das in seiner Abhandlung über die Freundschaft. Dort allerdings charakterisieren diese Worte, wie Marshall eingesteht, eine defizitäre, „alltägliche“ Gestalt von Freundschaft, die lediglich auf einen 122

Marshall macht hier das kultursoziologische Modell des „Gabentauschs“ von Marcel Mauss fruchtbar. Dazu jüngst S. MOEBIUS, Geben, nehmen, erwidern, opfern und anerkennen. Zur Soziologie und Diskussion von Marcel Mauss’ Essai sur le don, JBTh 27 (2012), Neukirchen-Vluyn 2013, 3–21. 123 Marshall will zwischen „patronage“ und „friendship in the patronal sense“ bzw. „patronal friendship“ unterscheiden (MARSHALL, Enmity in Corinth [s. Anm. 49], 143), wobei er die Beziehungen des Paulus zu seinen „Freunden“ und Förderern als „patronal friendship“ betrachtet. Er ist sich dabei über die Schwierigkeit im Klaren, dass eine patronale Beziehung immer Statusungleichheit impliziert (a. a. O., 145). 124 Marshall orientiert sich hier an E. A. J UDGE, Paul as a Radical Critic of Society, Interchange (1974), 191–203 (196f.). Im Philipperbrief ist nach Marshall an die Begriffe σύζυγος (4,3), συνέργος (2,25; 4,3) oder δουλεύειν (2,22) zu denken bzw. an die Selbstbezeichnung δοῦλος (1,1).

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Ausgleich zwischen Geben und Nehmen und damit auch auf den eigenen Nutzen aus ist. Marshall lässt sich von Ciceros Kritik einer „berechnenden“ Freundschaft allerdings nicht beirren und macht darauf aufmerksam, dass ein solches Kalkül durchaus auch in einem neutralen Sinne zu finden sei. Um die reziproke Austauschbeziehung einer Freundschaft sprachlich abzubilden, griffen die antiken Autoren regelmäßig auf kommerzielle Termini zurück, ob abwertend oder neutral. Diese Ambivalenz sei darauf zurückzuführen, dass jede Beziehung, auch eine Freundschaft, nach antiken Verständnis von einer ‚Gegenseitigkeitsethik‘ geregelt sei, die auch eine kommerzielle Dimension in sich berge. Für die Auslegung von Phil 4,15 heißt das: „[G]iven the financial basis of the majority of friendships and the common use of commercial language and ideas in describing them, it is fair to suggest that the entire phrase, κοινωνεῖν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως, is an idiomatic expression indicating friendship“ (163).125 Die Annahme der Gabe der Philipper sieht Marshall im Kontrast zur Ablehnung der korinthischen Unterstützung. Die Korinther seien über die „Inkonsistenz“ des paulinischen Verhaltens im Bilde gewesen: „His refusal of their gift was construed by them as a hostile act and a refusal of friendship and his acceptance of gifts from his Philippian friends led to the charge that he viewed the Corinthians unfavourably“ (257). Marshall will sich nicht auf eine Hilfskonstruktion einlassen, die die Inkonsistenz auf ein „höheres Prinzip“ oder eine „übergreifende Strategie“ zurückführt: „The chameleon in Paul must be allowed its full range of colours“ (402).

Marshalls Vorschlag, Phil 4,10–20 und v. a. 4,15 vor dem Hintergrund des griechisch-römischen Freundschaftsethos’ zu lesen, wurde v. a. in der angelsächsischen Forschung breit rezipiert und fand eine zumeist wohlwollende Aufnahme in Kommentaren und Aufsätzen.126 Im Folgenden werden einige Studien aufgeführt, die auch andere Passagen des Philipperbriefes im Lichte des Freundschaftsparadigmas lesen.

125 Vgl. MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 163 Anm. 147 u. a. die Verweise auf Aristoteles, eth. Nic. 2,7 (1107b 8f.); 4,1 (1119b 25 und 1120a 8f.) (für die Wendung δόσις καὶ λῆψις); Cicero, Lael. 26 (ut dandis recipiendisque meritis); Seneca, benef. 1,1,1 (quam quod beneficia nec dare scimus nec accipere). 126 Vgl. z. B. P. T. O’BRIEN, The Epistle to the Philippians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids 1991, 534f.; FEE, Philippians (s. Anm. 21), 440–447; W ITHERINGTON, Philippians (s. Anm. 84), 235 mit Anm. 11.270f.278. Eine völlig konträre (und ausdrücklich gegen Marshall gerichtete) Sicht auf das Klima im Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern nimmt Davorin Peterlin ein (D. P ETERLIN, Paul’s Letter to the Philippians in the Light of Disunity in the Church, NT.S 79, Leiden 1995).

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L. Michael White Michael Whites Arbeit „Morality Between Two Worlds“, erschienen in der Festschrift für Abraham Malherbe (1990),127 orientiert sich weitgehend an Marshalls Analyse und appliziert die in ihr erhobenen Wesenszüge einer Freundschaft auf den „Philipperhymnus“, um diesen freundschaftsethisch zu deuten. Das Modell der Freundschaft als Tugend dient ihm als „key moral paradigm“, um sowohl den Hymnus als auch seinen Kontext im Philipperbrief zu verstehen (211). Das Heilsdrama von Christi Selbsterniedrigung und Erhöhung, sein Geschick und sein Verhalten zeigten exemplarisch, wie Freundschaft im Zusammenleben der Gemeinde und im Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern Gestalt gewinnen könne. „The model of selflessness, the willingness to give up one’s own status and share another’s troubles, is the ultimate sign of true friendship. As Aristotle says: ‚To a noble man there applies the true saying that he does all for the sake of his friends … if need be, even to the point of death‘ (Eth. Nic. 1169a …)“ (210f.). Mit Blick auf das Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern spekuliert White, dass Phil 4,10–20 eine Störung der Freundschaft widerspiegelt, provoziert möglicherweise durch Euodia und Syntyche, die eine weitere Unterstützung des Paulus ablehnten (214 mit Anm. 59). Stanley K. Stowers In seinem Aufsatz „Friends and Enemies in the Politics of Heaven“ (1991) notiert Stanley Stowers für den Philipperbrief eine fast schon überwältigende Zahl von Verbindungen mit antiken Freundschaftsmotiven.128 Über die häufig genannten Motive hinaus weist er auf „antithetical models“ hin, d. h. auf Passagen, wo das Freundschaftsverhältnis via negationis zum Ausdruck kommt: Die Gegner, die nicht Teil des ‚Freundeskreises‘ sind, werden als neidisch, streitlustig und unlauter (Phil 1,15–17) apostrophiert und mit den Etiketten „Widersacher“ (1,28) und „Feinde des Kreuzes Christi“ (3,18) versehen. Stowers bereichert die Diskussion um die Beobachtung, dass Paulus in absentia moralische Instruktionen per Brief gibt, um den Tugendfortschritt (1,25: προκοπή) der Philipper zu fördern. Daher seien die ethischen Mahnungen (1,27–2,13) umrahmt von Verweisen auf die Anwesenheit und Abwesenheit des Apostels (1,27; 2,12). Stowers nimmt den Faden von White auf, indem er die hellenistische Morallehre 127 L. M. W HITE, Morality Between Two Worlds. A Paradigm of Friendship in Philippians, in: D. L. Balch, W. A. Meeks und E. Ferguson (Hg.), Greeks, Romans, and Christians (FS A. J. Malherbe), Minneapolis 1990, 201–215. 128 STOWERS, Friends and Enemies (s. Anm. 14), 106f. („massive, almost overwhelming number of connections with ancient, especially Greek, friendship motifs“).

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als Basis der ethischen Ermahnung des Paulus versteht: Phil 2,6–11 „would have recalled … stories about those who gave up their own lives for their friends“ (119). Martin Ebner Auch in der deutschsprachigen Forschung hielt der Trend, die Beziehung zwischen Paulus und den Philippern im Lichte der Freundschaftsthematik zu erklären, zu Beginn der 1990er Jahre Einzug.129 Recht ausführlich befasst sich Martin Ebner in seiner von Hans-Josef Klauck130 betreuten Dissertation „zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus“ mit dem Thema „Freundschaft und Autarkie“ in Phil 4,10–20.131 Auch Ebner knüpft an Marshalls Studie an, ergänzt das beigebrachte Material und wertet es für die Philipperpassage aus. Dabei will er zwischen zwei Konzepten unterscheiden, die sich bei Paulus überlagern: die auf Quantität ausgerichtete „commercial language“ des Gebens und Nehmens (346–356) und die an der Qualität interessierte „Freundschaftskoinonia“ (356–358). Ebner rekurriert ebenfalls auf das lateinische Äquivalent zum paulinischen εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως bei Cicero und resümiert, dass „Freundschaft für den einfachen Mann eine Art ‚Darlehensgeschäft‘ [ist], bei dem jeder … auf seine Kosten kommen will und sich dafür den Gesetzen des Kreditgeschäftes unterwirft“ (348). Wie Marshall geht Ebner sodann von einem weitgefächerten Freundschaftskonzept aus, unter welches er auch das bei Seneca dargelegte Reziprozitätsethos subsumiert. Mit Marshall hält er schließlich fest, dass der „Mann von der Straße“ wie auch der Philosoph kommerzielle Sprache zur Beschreibung von Freundschaftsbeziehungen verwendet (349). Im metaphorischen Gebrauch von Banktermini ließen sich einzelne Nuancen zum Ausdruck bringen, die ein Freundschaftsverhältnis charakterisieren, darunter ihre Ausgewogenheit, ihr Verpflichtungscharakter und die agonistische Maxime, sich an Gefälligkeiten übertreffen zu wollen (351.358). Da sich die Gegenseitigkeit einer Freundschaft auch in einem Aus129 Ein Vorläufer dieser Entwicklung ist Wolfgang Schenks Kommentar. Er geht davon aus, dass der Ausdruck τὸ ὑπὲρ ἐμοῦ φρονεῖν in Phil 4,10 ein Zitat aus einem Schreiben der Philipper darstellt. „Unter dem gleichen Archilexem des griechischen Freundschaftskonzepts sagen die Philipper mit ihrer Wendung [sc. τὸ ὑπὲρ ἐμοῦ φρονεῖν] dasselbe, was Paulus in seiner Sprache V. 14f. als synonyme Bezeichnung verwendete. So gehören φρονεῖν wie κοινωνεῖν hier als Hyponyme zu dem Wortfeld φιλία“ (SCHENK, Philipperbriefe [s. Anm. 16], 65). 130 Auch Klauck trat mit einer Arbeit zur Freundschaft im frühen Christentum hervor: H.-J. KLAUCK, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, MThZ 42 (1991), 1–14; Vgl. DERS., Gemeinde zwischen Haus und Stadt. Kirche bei Paulus, Freiburg i. Br. 1992, 108–113. Ferner J. SCHOON-J ANSSEN, Umstrittene „Apologien“ in den Paulusbriefen, GTA 45, Göttingen 1991, 136–138, 145: „Paulus tritt den Philippern wohl ganz bewußt … als Freund entgegen.“ P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 149–157. 131 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 331–364.

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tausch von finanziellen Zuwendungen ausdrücken kann, will Ebner von einer „Realmetapher“ sprechen (351). Ebner bekräftigt das Auslegungsmodell, das bereits Chrysostomos propagierte, und erklärt das Geben der Philipper im Sinne ihrer finanziellen Unterstützung und das Geben des Paulus im Sinne seiner „Evangeliumsverkündigung“ (353): Paulus’ Währung ist geistlicher Natur – er gibt „als ‚Wissender‘“ –, und die Philipper erwidern ihrerseits in materieller Weise (354).132 Nach Ebner hat Paulus selbst die Zweiseitigkeit der Beziehung durch die Wahl der Bankmetaphorik herausgestellt, um dem Eindruck zu wehren, es handle sich um eine einseitige Aktion der Philipper. Aus Phil 4,17 (ἐπιζητῶ τὸν καρπόν) liest Ebner heraus, dass Paulus auch von den Philippern „geistliche“ Frucht erwarte, die allerdings nicht ihm zugutekommen soll, sondern ihnen selbst. Im Blick auf die zweite Ebene, die „Freundschaftskoinonia“ kommt Ebner zum Schluss, dass die wesentlichen Komponenten griechischer Freundschaftskoinonia, die sich in der gemeinsamen Teilhabe am Geld (finanziell), der Wohnung (lokal) und der Stimmungslage (moralisch) darstellen, mit dem paulinischen (συγ-)κοινωνεῖν „völlig parallel“ stünden (358).

Die von vielen Auslegern intuitiv wahrgenommene Ambivalenz von Freude und „unhöflicher“ Zurückhaltung hänge „sachlich mit der Entgegensetzung von Autarkie und Freundschaft zusammen“ (360), die auch in den klassischen Abhandlungen zum Freundschaftsthema diskutiert werde: Wer nichts braucht, braucht auch keinen Freund. In der „Kontraposition zum Freundschaftsmodell ist offensichtlich der Sinn und Zweck des Autarkiekataloges zu suchen“ (361). Paulus intendiere, das Freundschaftsverständnis der Philipper in zwei Schritten zu korrigieren: zunächst durch die ruppige Proklamation seiner Autarkie, die er durch die Wendung καλῶς ἐποιήσατε wieder auffangen musste (361), sodann durch zwei markante Rollenwechsel, mit denen er das Raster des Freundschaftsmodells durchbreche: In Phil 4,17 und in 4,19 schlüpfe er in die Rolle des „Bankbeamten“ bzw. „Vermittlers“, der nicht mehr als freundschaftlichgeschäftliches Gegenüber der Philipper fungiere und seinen Verpflichtungen nachkomme, sondern der ihre Interessen an eine andere Stelle weiterleite (359). Gott sorge dafür, dass die „geistliche“ Frucht (καρπός) der Philipper bei ihnen selbst zu Buche schlage (4,17), und Gott komme auch für die partnerschaftlichen Ansprüche der Philipper an Paulus auf (4,19). In 4,18 schlüpft er in die Rolle des Priesters, der als Mittelsmann für die Philipper Opfer darbringt. Ziel der Korrektur sei es, dass Gott den Platz des Paulus in der Beziehung einnimmt, dass also die von den Philippern vorausgesetzte wechselseitige „Freundschaftskoinonia“ in eine dreidimensionale „Koinonia mit Gott“ transformiert wird (364). „Der Intermediator Paulus tritt zurück und reicht die Gemeinde an Gott als direktem Partner weiter“ (363). 132

Vgl. EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 354 Anm. 139: „Insgesamt ergeben sich also drei Stufungen im Gebrauch der Banktermini: (1) Realsinn in 4,18; (2) Realmetapher für die Seite der Philipper in 4,15; (3) reine Metapher für die Seite des Paulus.“ Zu Chrysostomos s. o. S. 41 Anm. 41.

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John T. Fitzgerald In seiner Studie „Philippians in the Light of Some Ancient Discussions of Friendship“ (1996)133 erkennt John Fitzgerald in den Worten des Paulus eine subtile Korrektur des Freundschaftsverständnisses der Philipper. In Phil 4,8 zähle Paulus eine Reihe von Tugenden auf, die alle eine Nähe zur φιλία-Thematik aufweisen, genauer: zu der von Aristoteles bevorzugten Tugendfreundschaft. „My conjecture, simply put, is this: Throughout Philippians Paul is seeking to elevate the Philippians’ understanding of friendship and place it on a higher plane.“ (157). Paulus stehe also auf der Seite derjenigen Philosophen, die mittels der Begrifflichkeit der Freundschaft eine utopische, ideale Gemeinschaft zugleich beschreiben und formen wollen („both descriptive and prescriptive“). Paulus rekurriere beständig auf das antike Freundschaftsideal, etwa wenn er von einem „würdigen“ Lebenswandel spricht (Phil 1,27: ἀξίως), ein nichtutilitaristisches Ethos propagiert, das – wie Christus (Phil 2,5–11) – nicht auf den eigenen Nutzen abhebt (Phil 2,4), sondern auf die Sache Christi (Phil 2,21; vgl. 2,20: Timotheus; 2,30: Epaphroditus; 4,3: σύζυγος). Indem Paulus seine Genügsamkeit (Phil 4,11) herausstelle, rücke er die auf den Nutzen (Phil 4,16: χρεία) bedachte Tat der Philipper zurecht. „Indeed, as Abraham J. Malherbe has suggested, it is likely that the Philippians sent a letter to Paul in conjunction with their gift, and in that letter they indicated that, as the apostle’s friends, they wanted to meet his needs. Because Paul insisted on his αὐτάρκεια, however, he refused to accept the gift on that basis. He nevertheless accepted the benefaction and did so joyfully, because they did well to send it and thereby partake of his affliction (4:14)“ (158).134 Die Klimax dieser Gedankenreihe bilde der Begriff ἀρετή in Phil 4,8: Er ist der Inbegriff des paulinischen Anliegens, die Gemeinschaft der Philipper von einer Nutzenfreundschaft in eine Tugendfreundschaft zu transformieren.

133 F ITZGERALD, Philippians (s. Anm. 95). Vgl. DERS., Paul and Friendship, in: J. P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World. A Handbook, Harrisburg 2003, 319– 343; DERS., Christian Friendship. John, Paul, and the Philippians, Interpr. 61 (2007), 284–296. 134 Vgl. A. J. MALHERBE, Did the Thessalonians Write to Paul?, in: R. T. Fortna und B. R. Gaventa (Hg.), The Conversation Continues (FS J. L. Martyn), Nashville 1990, 246–257 (254 Anm. 44).

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Joseph A. Marchal Der Aufsatz „With Friends Like These“ von Joseph Marchal (2006)135 markiert insofern eine Kehre in der Forschung, als er wie Peter Marshall hierarchische Aspekte des Freundschaftstopos ins Zentrum rückt, diese aber aus der Perspektive einer feministisch-befreiungstheologischen Hermeneutik beleuchtet. Nicht die egalitären Freundschaften innerhalb der sozialen Elite sind für Marchal interessant, sondern (in Anlehnung an Sallers offenen Freundschaftsbegriff) die vielfältigen asymmetrischen amicitia-Konstellationen, die durch Unterordnung und Machtausübung charakterisiert sind (85).136 Hier sieht Marchal ein Defizit der früheren Philipperexegese, die das ausbeuterische Moment einer Freundschaft nicht hinreichend berücksichtigt habe: „To the extent, then, that friendship terms, images and institutions become intertwined and linked with this system that only worked when it was exploiting (rather than providing for) the majority in Roman society, ‚friendship‘ would carry some very unfriendly (in modern terms) associations for most people under Roman rule, including quite possibly Paul’s audience at Philippi“ (90). Derlei „unfreundliche“ und unerfreuliche Begleitvorstellungen werden bei den Philippern nach Marchal geweckt, wenn Paulus sich in „verstörender Häufigkeit“ als Modell inszeniert (96), wenn er sich in dissoziativer Weise mit der göttlichen Sphäre in Verbindung bringt (96f.) oder wenn er durch die Formulierung „Furcht und Zittern“ drohend Gehorsam einfordert (97). Letztlich wende Paulus die gleiche Verschleierungstaktik an wie die Römer, die ihre imperiale Expansion und ihre ausbeuterische Politik in Freundschaftsterminologie kleide. Marchal will diese rhetorische Strategie entlarven und ist davon überzeugt, dass es auch den „statussensiblen“ Philippern nicht entgangen sein konnte, dass Paulus im Grunde seine autoritative Stellung konsolidieren wollte (98f.). Gerald Peterman In einer kleinen, aber recht einflussreichen Arbeit aus dem Jahr 1991 zum „danklosen Dank“ des Paulus untersucht Gerald Peterman 25 PapyrusBriefe, in denen Privatpersonen auf den Erhalt von Gütern oder Gefälligkeiten antworten.137 Hauptzeuge für eine regelrechte „‚thankless thanks‘ convention“ (262) ist für Peterman der oben im Ausschnitt wiedergegebe135 MARCHAL, With Friends Like These (s. Anm. 96); daneben u. a. DERS., Hierarchy, Unity, and Imitation. A Feminist Rhetorical Analysis of Power Dynamics in Paul’s Letter to the Philippians, SBL Academia Biblica 24, Atlanta 2006. 136 Marchal verweist auf H. HUTTER, Politics as Friendship. The Origins of Classical Notions of Politics in the Theory and Practice of Friendship, Waterloo 1978, 109. 137 G. W. PETERMAN, „Thankless Thanks“. The Epistolary Social Convention in Philippians 4:10–20, TynBul 42 (1991) 261–270.

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ne Brief des Chairas an Dionysios (P.Mert. I 12), in dem der Schreiber explizit darauf verweist, dass innerhalb einer Freundschaftsbeziehung übertriebene Dankesbekundungen fehl am Platze sind. Lediglich vier der untersuchten Briefe weisen eine Dankesformel auf,138 weshalb Peterman das Fazit zieht: „[T]hese letters allow us to assert that Paul’s response to the Philippians’ gift is not remarkable owing to the lack of εὐχαριστέω. Among these documents his so-called ‚thankless thanks‘ are not at all unusual“ (265f.). Ein fehlender „Dank“ sei also geradezu ein Ausdruck von Nähe und Wärme. Seine Erkundungen in die antike Epistolographie hat Peterman in seiner gleich vorzustellenden Dissertation noch um grundsätzliche Erwägungen zum römischen Benefizialwesen ergänzt, wobei er sich letztlich nicht um eine scharfe Unterscheidung müht. 3.3 Kritische Würdigung Im Rahmen einer kritischen Würdigung ist festzuhalten, dass sich im Philipperbrief zweifelsohne Begriffe und Vorstellungen finden, die auch im antiken Freundschaftsdiskurs prominent sind. Das gilt sowohl für die ersten drei Kapitel, besonders aber für das vierte.139 Der in vielfältigen Formulierungen wiederkehrende Gedanke der Einmütigkeit und Eintracht (vgl. Phil 1,27; 2,2; 4,2), die Verknüpfung von Freundschaft und „Gemeinschaft“ (κοινωνία) (vgl. 1,5.7; 2,2; 3,10; 4,14–15), in der Freud (2,18–19) und Leid (4,14) geteilt werden und gemeinsam für dieselbe Sache gekämpft wird (1,30).140 Die Sehnsucht, räumliche Trennung zu überwinden (1,27; 2,12) und mit den „Brüdern“ (ἀδελφοί) und „Geliebten“ (ἀγαπητοί) (4,1; vgl. 2,25) zusammen zu sein,141 ist ein charakteristisches Motiv in freundschaftlichen Korrespondenzen.142 Die „Tugend“ (ἀρετή), die in Phil 4,8 explizit genannt und durch acht Näherbestimmungen anschaulich wird, bestimmt auch das Wesen der nobelsten Gestalt der Freundschaft. Auch die von Paulus als singulär bezeichnete Reziprozität seiner Beziehung mit den Philippern (4,15: „Geben und Nehmen“), die er u. a. in die Sprache des Kommerzes und „Gärtnerischen“ (4,17: καρπός; vgl. 4,10: ἀναθάλλειν) hüllt, hat treffliche Analogien in den genannten Abhandlungen zur Freundschaft, und sein Verhältnis zu Epaphroditus mag als „ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft“ bezeichnet werden.143 Ein „handfeste[s] Geldgeschenk“, wie es Paulus von den Philippern erhalten hat, ist erforderlich,

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Vgl. PETERMAN, „Thankless Thanks“ (s. Anm. 137), 265–268. Vgl. F ITZGERALD, Philippians (s. Anm. 95), 144: „[C]hapter four marks the culmination of friendship language in Philippians, not its inception.“ 140 Zu bedenken sind noch auf die zahlreichen Komposita mit σύν (Phil 1,7.27; 2,17– 18.25; 2,2.28–29; 3,1; 4,1.10). 141 Zur Anrede ἀδελφοί (die zweifellos Frauen einschließt: Phil 4,2) vgl. 1,12; 3,1.13.17; 4,1.8 (daneben 2,25; 4,21). 142 Vgl. z. B. E.-M. B ECKER, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen/Basel 2002, 32f. 143 Vgl. R. METZNER, In aller Freundschaft. Ein frühchristlicher Fall freundschaftlicher Gemeinschaft (Phil 2.25–30), NTS 48 (2002), 111–131. 139

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wenn ein Freund in Not gerät,144 und ein Freund weiß um den rechten Zeitpunkt (4,10: καιρός) der Hilfe. Der eigenartige „danklose Dank“ des Paulus mag vor dem Hintergrund freundschaftlicher Konventionen besser verständlich werden,145 insofern sich in ihm eine paulinische Variation auf die häufig diskutierte Spannung zwischen Selbstgenügsamkeit und Freundschaft widerspiegle. Schließlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Tonalität des Briefes die „ingroup features“ der philippischen Gemeinde und damit ihre kollektive Identität zu stärken in der Lage ist.146

Als Minimalkonsens lässt sich daher festhalten, dass sich der Philipperbrief „als Ausdruck einer freundschaftlichen Beziehung zu den AdressatInnen“ lesen lässt,147 womit freilich noch nicht gesagt ist, was das Attribut „freundschaftlich“ impliziert (vgl. z. B. P. Marshall vs. J. A. Marchal). Ein merkwürdiger, erklärungsbedürftiger Befund ist allerdings bereits der Totalausfall der Begriffe φιλία und φίλος. Dafür muss es einen triftigen Grund geben. Liegt es daran, dass die Semantik des hellenistischrömischen Freundschaftsdiskurses selbstredend die Beziehungsform der φιλία einschließt und daher nicht eigens benannt werden muss?148 Oder lässt sich die Leerstelle auf einen ideologiekritischen Impetus des Paulus zurückführen, mit dem er die Gefahr eines Status- oder Verpflichtungsdenkens vermeiden wollte?149 Oder markiert seine Rede καθ’ ὑστέρησιν eine höhere Gesprächsebene, die der Freundschaftsterminologie nicht mehr bedarf?150 Oder liegt es schlicht daran, dass Paulus „Freundschaft“ nicht zu seiner Leitkategorie erhob? Die nächstliegende Antwort scheint mir auch die sachgemäßeste. Es ist zu bezweifeln, dass Paulus seine Beziehung zu den Philippern intentional nach dem Muster der Freundschaft gestaltete und ihnen mit dem Philipperbrief einen „Freundschaftsbrief“ zukommen ließ, der den Stempel einer „deliberative Graeco-Roman rhetoric“ trägt.151 Mit Blick auf die vorgestellten Studien sind u. a. folgende Aspekte zu bedenken: (1.) der Philipperbrief als „Freundschaftsbrief“, (2.) die von den 144

EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 352. Vgl. v. a. P ETERMAN, „Thankless Thanks“ (s. Anm. 137). John Reumann zählt acht Erklärungsversuche auf und stimmt schließlich Peterman zu: „Friendship … provides the most promising explanation“ (REUMANN, Philippians [s. Anm. 2], 686). 146 So S. ROSELL NEBREDA, Christ Identity. A Social-Scientific Reading of Philippians 2.5–11, FRLANT 240, Göttingen 2011, 252. Vgl. auch die Verwendung von fides = Loyalität im Zusammenhang der Freundschaft bei Cicero (Lael. 65) und Seneca (epist. 81,12); dazu MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 21f. 147 GERBER, Paulus und seine „Kinder“ (s. Anm. 6), 28. Vgl. FEE, Philippians (s. Anm. 21), 4 („modified expression of ‚friendship‘“). 148 In diesem Sinne F ITZGERALD, Paul and Friendship (s. Anm. 133), 331; DERS., Christian Friendship (s. Anm. 133), 286–289. 149 So MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19). 150 So MALHERBE, Paul’s Self-Sufficiency (s. Anm. 37), 338. 151 So aber B. W ITHERINGTON, Friendship and Finances in Philippi: The Letter of Paul to the Philippians, NTinC, Valley Forge 1994, 11. 145

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Philosophen propagierte Gestalt der Freundschaft im Verhältnis zur paulinischen Austauschbeziehung, (3.) die Stilisierung des Paulus einerseits als „Moralphilosoph“, andererseits als „Machtmensch“, (4.) die Kondeszenz Christi im Rahmen des antiken Freundschaftsdiskurses und (5.) Fallstricke einer komparatistischen Hermeneutik am Beispiel des Freundschaftstopos. 1. Die häufig vollzogene Rubrizierung des Philipperbriefes unter die Gattung „Freundschaftsbrief“ ist aus mehreren Gründen zu hinterfragen. Auch wenn das Schreiben Übereinstimmungen mit antiken Freundschaftsbriefen aufweist, etliche Termini und Topoi der Freundschaftsrhetorik verwendet und einen „philophronetischen“ Ton anschlägt, bleiben doch etliche Abweichungen vom Formular des Freundschaftsbriefes. So kam es in der Forschung zu qualifizierenden Bezeichnungen – etwa „hortatory letter of friendship“152 – oder es wurden alternative antike Brieftypen als Gattungsmodelle vorgeschlagen wie der Familienbrief153 oder der Trostbrief.154 David Aunes viel zitierte Feststellung scheint sich auch hier zu bestätigen: „Most early Christian letters are multifunctional and have a ‚mixed‘ character, combining elements from two or more epistolary types.“155 Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, ob Paulus bewusst eine solche Vermengung von Briefgattungen herbeiführte bzw. ob er aufgrund seines Bildungshintergrunds überhaupt dazu in der Lage war.156 Doch schon der Umstand, dass der Philipperbrief nicht an eine Einzelperson, sondern an eine Gruppe gerichtet ist157 und nicht nur ein privat gehaltenes Gelegenheitsschreiben darstellt, sondern über die gegenwärtige Situation hinaus Relevanz beanspruchen kann, weist über die Gattung des Freundschaftsbriefes hinaus. John Reumann fasst m. E. die gattungskriti-

152 STOWERS, Friends and Enemies (s. Anm. 14), 107; daran anknüpfend FEE, Philippians (s. Anm. 21), 12: „Christian ‚hortatory letter of friendship‘.“ 153 L. C. A. ALEXANDER, Hellenistic Letter Forms and the Structure of Philippians, JSNT 37 (1989), 87–101; W ICK, Philipperbrief (s. Anm. 130), 153–157. 154 P. A. HOLLOWAY, Consolation in Philippians. Philosophical Sources and Rhetorical Strategy, MSSNTS 112, Cambridge 2001, 55–83 155 D. E. AUNE, The New Testament in Its Literary Environment, LEC 8, Philadelphia 1987, 203 156 Vgl. den allzu kühnen Schluss von Tor Vegge, der behauptet, dass „Paulus eine literarische Ausbildung in ihrer allgemeinen griechisch-hellenistischen Form erhielt und … die Progymnasmata durchlief, wodurch er sich die Grundlage seiner literarischen Virtuosität verschaffte“ (T. VEGGE, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus, BZNW 134, Berlin 2006, 462). 157 Vgl. P. HARTOG, Philippians, in: D. E. Aune (Hg.), Blackwell Companion to the New Testament, Chichester 2009, 475–488 (482): „[T]here are no known examples of one person sharing a letter of friendship with a collective group.“

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sche Diskussion zutreffend zusammen, wenn er sagt: „A topos, not a Gattung is involved.“158 2. Die ideale Gestalt der Freundschaft zwischen weisen und tugendhaften Individuen stellt eine Sonderform der φιλία dar, in der die menschliche Liebe auf bedeutungsvollste und reichste Weise Gestalt gewinnt. „Complete friendship is the friendship of men who are good, and alike in virtue.“159 Diese Einsicht jedenfalls kennzeichnet die φιλία-Konzeption des Aristoteles und aller bedeutenden griechisch-römischen Autoren nach ihm.160 In der allein erstrebenswerten Form der Freundschaft kommt es zu einer singulären „intellektuellen Symbiose“ und zu einer vollkommenen Form moralischer Erfahrung.161 Als ein „Interaktionsverdichtungsmodell“ – so könnte man mit Niklas Luhmann sagen – ist Freundschaft nach antikphilosophischem Verständnis „ein, wenn nicht das, Perfektionsprinzip der Gesellschaft.“162 Der Interaktionsbereich, in dem nicht nur Intellektualität und Moralität gepflegt werden, sondern auch ein „ehrenvoller Wettstreit“ über den Austausch von Wohltaten ausgetragen wird, ist die soziale Oberschicht.163

Wer also „Freundschaft“ zum Schlüssel des Philipperbriefes erklärt, muss davon ausgehen, dass Paulus nicht die Idealform der Freundschaft vor Augen gehabt hat, sondern eine alltägliche bzw. – nach dem Urteil der Philosophen – niedrige und „vulgäre“ Form. Und in der Tat legen manche der vorgestellten Arbeiten einen weit ausgedehnten Begriff von Freundschaft an, der sowohl Beziehungen zwischen Statusgleichen als auch zwischen Patronen und Klienten usw. umfasst.164 U. a. stehen folgende Aspekte im Kontrast zur Idealgestalt der Freundschaft, wie sie oben skiz158 REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 685. An anderer Stelle hatte Reumann auf den interessanten Sachverhalt hingewiesen, dass die griechischen Kirchenväter nirgendwo zu erkennen geben, dass sie den Philipperbrief für einen Freundschaftsbrief halten (REUMANN, Philippians, Especially Chapter 4 [s. Anm. 95], 100–105). Vgl. jetzt auch die Diskussion bei BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 125f. und OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 234–243. 159 PRICE, Friendship (s. Anm. 49), 234. 160 Vgl. SMITH P ANGLE, Aristotle and the Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 2. 161 Vgl. STERN-GILLET, Aristotle’s Philosophy of Friendship (s. Anm. 49), 54. 162 N. LUHMANN, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt 4 1991, 577. 163 Der von Marchal herangezogene Satz Ciceros, dass Freunde wohlhabend, mächtig und tugendhaft sind (Lael. 51; vgl. MARCHAL, With Friends Like These [s. Anm. 96], 82), ist entgegen seinem Urteil gerade kein Ausdruck einer Hierarchie – im Gegenteil: diese Eigenschaften treffen auf beide Seiten des symmetrisch gedachten Beziehungsgefüges zu! Es ist unerklärlich, wie man unter Berufung auf diese Cicero-Passage zu folgender Aussage gelangen kann: „[F]riendship in the ancient sense presupposes a hierarchical relationship between the actors“ (J. T. LAMOREAUX, Ritual, Women, and Philippi. Reimagining the Early Philippian Community, Matrix: The Bible in Mediterranean Context Series 8; Eugene 2013, 16f.). 164 Vgl. auch die Kritik bei G. O. KIRNER, Apostolat und Patronage (I). Methodischer Teil und Forschungsdiskussion, ZAC 6 (2002), 3–37 (6).

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ziert wurde: die „Seniorität“165 bzw. „die autoritäre Selbstthematisierung des Paulus“;166 die Zusammensetzung der paulinischen Gemeinden aus Frauen und Männern, aus Menschen verschiedenen Standes und Ranges, aus verschiedenen Ethnien; schließlich der Umstand, dass es sich um eine Beziehung zwischen einem Einzelnen und einer Gruppe handelt, „deren Zusammensetzung ohne Einfluß des Partners wechselt.“167 Auch der in der vorgestellten Literatur häufig wiederkehrende Rekurs auf Ciceros Formulierung ratio acceptorum et datorum (Lael. 58) als sprachliche und sachliche Parallele zum paulinischen λόγος δόσεως καὶ λήμψεως sowie auf die „commercial language“ insgesamt muss im Zusammenhang gelesen werden. Cicero hatte – wie auch Aristoteles und Seneca – für eine utilitaristisch motivierte, berechnende und auf die Balance von Geben und Nehmen fixierte Freundschaft wenig übrig. 3. Dadurch steht man vor dem merkwürdigen Befund, dass Paulus eine von den Philosophen unisono für vulgaris et mediocris gehaltene Form der Freundschaft, wie sie sich „der einfache Mann“ vorstellt,168 für einzigartig und lobenswert erachtet hätte. Ebner und Fitzgerald versuchen dem Problem zu begegnen, indem sie aus dem Text herauslesen, dass Paulus das Freundschaftsverständnis der Philipper aufpolieren wollte. Nach Ebner beabsichtigte Paulus, die „begeisterten Freundschaftsbezeugungen“169 der Philipper ihm gegenüber zu dämpfen und in eine dreiseitige „Koinonia mit Gott“ zu überführen, die letztlich in eine „Abkoppelung der freundschaftlichen Beziehungen zwischen der Gemeinde und ihm“170 mündet. Fitzgerald nimmt an, dass Paulus die „Nutzenfreundschaft“ der Philipper auf eine höhere, an der Tugend orientierte Freundschaft heben wollte. Beide Thesen stellen attraktive Denkexperimente dar, sind aber auf ein subtiles und letztlich labiles exegetisches Argumentationsgerüst angewiesen. Zu einem völlig anderen, kaum plausibleren Ergebnis kommt Marchal, der die paulinische Freundschaftsrhetorik einer Hermeneutik des Verdachts unterzieht. Nach seiner Rekonstruktion tritt Paulus den Philippern nicht in pädagogischer Absicht, sondern als machtbewusster Patron entgegen, der unter dem Deckmantel der Freundschaft seine Machtposition untermauern will und somit Teil des gesellschaftlich dominanten Ausbeutungssystems wird. Mithin werden dem Apostel auf der Basis desselben Gemeinschaftsmodells, d. h. der Freundschaft, zwei völlig konträre Rollenkonzepte übergestülpt: Den einen erscheint er als ein christlicher „Moralphilosoph“, 165

B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 34. GERBER, Paulus und seine „Kinder“ (s. Anm. 6), 29. 167 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 170. 168 So EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 346. 169 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 364. 170 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 363.

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der das hellenistische φιλία-Ethos religiös formatiert, indem er das bilateral angelegte Freundschaftsverhältnis in eine „Dreiecksbeziehung“ umgestalten bzw. ein defizitäres Freundschaftsverständnis an einem christlich modellierten Tugendideal ausrichten will.171 Auf der anderen Seite steht der „Machtmensch“ Paulus, der die hierarchische Struktur einer Freundschaft geschickt zu nutzen weiß, um die eigene Stellung gegenüber dem sozial schwächeren Partner zu stärken. 4. Einige der Studien äußern sich zum Einfluss von Freundschaftsmotiven auf den sog. „Philipperhymnus“. Die immer wieder aufgeworfene und wohl nie abschließend zu klärende Frage, ob der „Philipperhymnus“ primär ethisch-paränetisch, christologisch-soteriologisch, ekklesiologisch oder mystisch zu lesen sei, kann hier nicht aufgerollt werden.172 So viel ist jedoch zu sagen, dass die von White eingeführte und von Stowers aufgenommene These, Christus als wahren Freund und tugendhaftes Exempel zu präsentieren, sowohl der Paulus- als auch der Aristoteles-Passage keinesfalls gerecht wird. Am wenigsten überzeugt die zugrundeliegende Prämisse, dass das freundschaftsethische Sterben „für ein anderes“ (eth. Nic. 9,8 [1169a 25]) mit Statusverzicht einhergehe.173 Denn Aristoteles ist überzeugt, dass wenn sich ein Partner einer Tugendfreundschaft dahingibt, er höchste Ehre und Gewinn erlangen wird. So ist nicht selbstlose Liebe das Movens des Sterbens, sondern die bewusste Entscheidung für „ein Großes und Edles“: αἱροῦνται δὴ μέγα καλὸν ἑαυτοῖς (9,8 [1169a 26]). Bei Paulus hingegen sticht in Phil 2,9 der zentrale Subjektwechsel ins Auge: Gott tritt als Subjekt auf den Plan, der Christus wegen seines Gehorsams erhöht (διό), und er ist es, dem am Ende die Ehre zuteil wird (2,11). Die Pointe von Phil 2,6–11 ist nicht in der Analogie zum φιλία-Denken zu suchen, sondern – wie Samuel Vollenweider herausgestellt hat – im Kontrast zum Herrschaftsdiskurs: Christus ist nicht Vorbild und Typ des wahren, selbstlosen Freundes, sondern wird „als Gegenbild zum Typ des sich selbst erhöhenden Herrschers dargestellt.“174 171 Vgl. auch R. RAMSARAN, In the Steps of the Moralists. Paul’s Rhetorical Argumentation in Philippians 4, in: T. H. Olbricht / A. Erikson (Hg.), Rhetoric, Ethic and Moral Persuasion in Biblical Discourse. Essays from the 2002 Heidelberg Conference, New York 2005, 284–300 (293). 172 Zu dieser Typisierung vgl. REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 341. Allein die letzten drei Jahre sahen mindestens drei monographische Versuche, den „Mt. Everest of Philippian study“ (REUMANN, Philippians [s. Anm. 2], 333) oder mindestens eine seiner Steilwände zu bewältigen: R OSELL NEBREDA, Christ Identity (s. Anm. 146); W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35); P.-B. SMIT, Paradigms of Being in Christ. A Study of the Epistle to the Philippians, LNTS 476, London 2013. 173 Vgl. PETERMAN, Paul’s Gift from Philippi (s. Anm. 54), 115f.; B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 167 Anm. 25. 174 S. VOLLENWEIDER, Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien

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5. Diese knappen Bemerkungen zur Anwendung aristotelischer Denkkategorien auf den Philipperhymnus sind in einen übergeordneten Problemhorizont einzuzeichnen. Sie betreffen die Frage nach dem Sinn und der Durchführbarkeit eines „Systemvergleichs“.175 Die wenigsten der in diesem Beitrag vorgestellten Studien geben Rechenschaft darüber, wie ein Vergleich zwischen einem situationsgebundenen, persönlich gehaltenen, „christlichen“ Gelegenheitsschreiben und rhetorisch stilisierten philosophischen Entwürfen methodisch zu kontrollieren ist. Je weiter Anlass und Grundanschauung zweier zu vergleichender Schriften auseinandertreten, desto wichtiger ist es, die Aussagekraft der Konvergenzen auf den Prüfstand zu stellen, ist deren Zahl auch noch so überwältigend. Die Nikomachische Ethik des Aristoteles kann als Beispiel dienen: Seine grundlegende Argumentationsform liegt in der „Elimination des Nicht-Zutreffenden“,176 d. h. in seiner Behandlung der Freundschaft gliedert er alle Fragestellungen aus, die sich dem menschlichen Einfluss entziehen (z. B. das Göttliche, Freundschaft mit Gott). Das entspricht konsequent seinem Programm, das er zuvor in seiner Tugendlehre entfaltet hatte: „Wir überlegen uns also die Dinge, die in unserer Gewalt (ἐφ’ ἡμῖν) sind und ausführbar sind. Denn das ist das einzige, was übrig bleibt“ (1112a 30f.). Alles, was dem menschlichen Zugriff entzogen ist, bleibt außer Betracht. Es fällt schwer, den Philipperbrief des Theologen Paulus hier einzuzeichnen, dessen Tugendbegriff (Phil 4,8) Grundlage einer an der „Evangeliumsgemeinschaft“ (1,5) orientierten Ethik ist,177 dessen αὐτάρκεια (vgl. 4,11) sich darin erweist, dass Christus ihn ermächtigt (4,13), der als das „höchste Gut“ die eschatologische σωτηρία (2,12) erkennt, zu deren Erlangen Gott „Wollen und Vollbringen“ gibt (2,13). Die „Freude“ (χαρά) im Philipperbrief mag an den Freundschaftsdiskurs anklingen 178 und von ferne an die Vorstellung der „Glückseligkeit“ erinnern, doch avisiert Paulus nicht wie Aristoteles „the best possible life“179 des einzelnen Tugendhaften,

zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263–284 (283). 175 Vgl. hierzu auch S. VOLLENWEIDER, Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament, in: ders. (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit?, SAPERE 22, Tübingen 2013, 119–162 (127–129). Dazu auch den Beitrag von Troels Engberg-Pedersen in diesem Band. 176 Vgl. R. NICKEL, Einführung, in: Aristoteles, Die nikomachische Ethik (s. Anm. 49), 467–474 (469). 177 Vgl. B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 170: „Die mit dieser Sozialbeziehung verbundenen Tugenden bilden keine gemeinschaftsorientierte Ethik, wie sie für die paulinischen Gemeinden charakteristisch ist, sondern orientieren sich am Individuum bzw. an der Freundschaftsbeziehung zweier männlicher Individuen.“ 178 Vgl. die Zwischenüberschrift bei METZNER, In aller Freundschaft (s. Anm. 143), 119: „Freundschaft und Freude“. 179 So will John Ackrill die aristotelische εὐδαιμονία verstanden wissen: „The word eudaimonia has a force not at all like ‚happiness,‘ ‚comfort,‘ or ‚pleasure,‘ but more like ‚the best possible life‘ (where ‚best‘ has not a narrowly moral sense)“ (J. L. ACKRILL, Aristotle on Eudaimonia [I 1–3 und 5–6], in: Höffe [Hg.], Aristoteles [s. Anm. 49], 50).

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sondern „eine Heilsgabe, die ihren eschatologischen Charakter darin bewährt, daß sie auf die Verwirklichung der Gemeinschaft der Christen aus ist.“180

Angesichts solcher Grunddifferenzen zweier Gedankensysteme erscheint die Brücke, die von einer freundschaftsethischen „simple two-way transaction“181 zu einer dreidimensionalen „Koinonia mit Gott“ hinüberführt, zumindest brüchig. Kann die Freundschaft noch als Paradigma vorausgesetzt werden, wenn wie bei Marshall oder Ebner kurzerhand eine göttliche Dimension eingefügt oder die Erwiderung der Gabe in die „geistliche“ Sphäre verlagert wird (Phil 4,19)? Beide Denkfiguren sind in der antiken Freundschaftskonzeption schlechterdings nicht vorgesehen. Der Ansatz von Gerald Peterman eröffnet bereits die Darstellung und Diskussion des Benefizialwesens. Sein Vorschlag, den „danklosen Dank“ des Paulus im Spiegel von nichtliterarischen Papyri zu lesen, fand in der Philipperforschung große Zustimmung,182 lässt aber methodisch und inhaltlich Fragen offen. In der Tat zeigt der Blick auf P.Mert. I 12, dass innerhalb einer Freundschaftsbeziehung verbale Dankesbekundungen zurückgehalten werden können, doch einerseits sollte die schmale Vergleichsbasis nicht zu Generalisierungen verleiten und andererseits bleibt offen, weshalb Chairas die mutmaßlich allgemein akzeptierte Konvention, innerhalb von Freundschaften von einem (großen!) Dankeswort abzusehen, seinem Freund gegenüber explizit benennt.183 Überdies wird nun auch der folgende Abriss der Seneca-Schrift de beneficiis belegen, dass auch dieser einen mit Worten geäußerten Dankeserweis keineswegs für maßgebend hält. Er hält sich an das „stoische Paradoxon“,184 dass schon die Haltung der Dankbarkeit eine angemessene Erwiderung auf eine Wohltat sei.

4 Benefizialwesen Das lateinische Wort beneficium weist eine beachtliche Bedeutungsvielfalt und erschließt sich nur vor dem Hintergrund des komplexen römischen 180 D. GEORGI, Die Geschichte der Kollekte des Paulus für Jerusalem, ThF 38, Hamburg 1965, 53. 181 MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 163. 182 Vgl. exemplarisch S. E. FOWL, Philippians, Two Horizons New Testament Commentary, Grand Rapids 2005, 190; DERS., Know Your Context. Giving and Receiving Money in Philippians, Int 56 (2002) 45–58; Briones nennt weitere Autoren, die Peterman folgten (D. E. B RIONES, Paul’s Intentional „Thankless Thanks“ in Philippians 4.10–20, JSNT 34 (2011), 47–69 [48 Anm. 7]). 183 Vgl. zur Kritik auch OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 34f. Er weist darauf hin, dass eine Suche der Duke Databank of Documentary Papyri für das Verb εὐχαριστεῖν über 200 Treffer erzeugte. 184 GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 109.

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Gesellschaftssystems, das seine zwischenmenschlichen Beziehungen nach dem Prinzip der Reziprozität gestaltete. So kann beneficium durchaus umschrieben werden als „jede Wohltat, die der Geber aus innerer Freiheit leistet und die einzig auf das Wohl des Empfängers gerichtet ist,“185 wenngleich damit noch nicht erfasst ist, dass dem Erweis einer Wohltat eine bindende Kraft innewohnt und der Empfänger zu einer Gegenleistung (officium) verpflichtet wird. Wohltaten werden innerhalb von Freundschaften ausgetauscht, wie der Auszug aus dem Brief des Chairas an den Arzt Dionysios zeigte (P.Mert. I 12). Mehr aber noch prägen beneficia das Verhältnis zwischen Patron und Klient: Der sozial und wirtschaftlich Höhergestellte lässt dem Schwächeren Unterstützung zukommen, die sich nicht im Materiellen erschöpft, sondern auch dessen gesellschaftliches Standing im Blick hat; in der Kaiserzeit war dies „vor allem ein System privater Sozialfürsorge und leistete das, wozu heute die Systeme staatlicher Existenzsicherung … dienen.“186 Aus diesem Grund wäre es durchaus naheliegend, das Benefizialwesen in Verbindung mit dem Patron-KlientSystem zu verhandeln. Zwei Gründe sprechen allerdings für eine Differenzierung: Zum einen liegt dem am häufigsten angerufenen Zeugen Seneca nach eigenem Bekunden weniger an den realen gesellschaftlichen Strukturen und Machtmechanismen als an der korrekten Handlungspraxis und ihrer theoretischen Fundierung. „What Seneca is concerned with in De beneficiis, … is, a social code of conduct: what has been called ‚un’etica e un’etichetta‘, or a style of giving.“187 Zum anderen erscheinen in Senecas Werk hierarchische Verhältnisse de haut en bas allenfalls am Rande der Betrachtung. Ihn interessieren primär auf Gleichheit beruhende Beziehungen, und zwar deshalb, weil er seinen Überlegungen ein zeitloses und universales moralischen Gesetz zugrunde legt: „zeitlos durch seine Einbindung in die unabänderliche kosmische Ordnung, universal, weil es alle Menschen, ungeachtet ihrer Stellung und Herkunft, gleichermaßen verpflichten will.“188

185

B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 175f. M. ROSENBACH, Vorbemerkungen zur Übersetzung, in: Seneca, Philosophische Schriften 5 (s. Anm. 52), VI–X, VI. 187 GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 35 mit einem Zitat von M. LENTANO, La gratitudine e la memoria. Una lettura del De beneficiis, Bollettino di studi latini 39 (2009), 1–28 (19). 188 W OLKENHAUER, De beneficiis (s. Anm. 52), 12. Wolkenhauer setzt sich in seiner kürzlich veröffentlichten Arbeit das Ziel, hinter die stoisch konzipierten, zeitlosen und universalen Grundanschauungen zu blicken und den Text auf seine Zeitgebundenheit hin durchsichtig zu machen. Der von Seneca vertretene Verhaltenskodex, seine Idealvorstellungen von Verhaltensweisen und seine moralische Urteile weisen seine Schrift als „ein charakteristisches Produkt ihrer Entstehungszeit“ aus (a. a. O. 21; vgl. 380f.). 186

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4.1 Quellenmaterial Seneca, de beneficiis Austauschbeziehungen sind nach Senecas Überzeugung der soziale „Klebstoff“ der römischen Gesellschaft. Bei den beneficia handle es sich um eine Sache, die „die menschliche Gesellschaft am meisten zusammenhält“ (1,4,2). Menschen bedürfen der Regelungen und der Unterweisung, um das empfindliche Equilibrium sozialer Gegenseitigkeit wahrzunehmen und nicht durch Unwissenheit oder Willkür zu gefährden. In ausgedehnten und nicht ohne predigthaftes Pathos vorgetragenen Gedankengängen legt Seneca dar, wie sich die Dialektik von beneficium und officium, von Gabe und Gegengabe im praktischen Lebensvollzug zu bewähren hat. Seine praktische Ethik des Gebens setzt ein mit dem Grundsatz, dass ein Wohltäter um der Gabe selbst willen geben soll, nicht um Anerkennung zu erheischen oder um Profit herauszuschlagen. Interessant ist hier die buchhalterische Diktion: „Bei Wohltaten ist die Rechnung (ratio) einfach: soviel wird ausgegeben; wenn der Empfänger etwas erstattet, ist es ein Gewinn, wenn er nicht erstattet, ist es kein Verlust. Ich habe das gegeben, um zu geben (ego illud dedi, ut darem). Niemand schreibt seine Wohltaten in das Schuldverzeichnis (in calendario)… Schäbiger Wucher (turpis feneratio) ist es, eine Wohltat als Ausgabe zu buchen“ (1,2,3).189 Ein beneficium zu geben ist „ein Merkmal von sittlicher Vollkommenheit“ (3,18,4), unabhängig von äußeren Umständen.190 Die Gunst wird aus innerer Freiheit heraus, ohne Zögern und in Freundlichkeit erwiesen.191 Er könne es nicht oft genug wiederholen und sage es, „sooft es das Thema duldet: achten muss man auf die Freude (gaudium), die aus dem Wunsch des Empfangenden folgt“ (2,10,4).192

189 Unter den Kriterien, die allesamt als movenda für Wohltaten ausscheiden, nennt Seneca außerdem u. a. folgende kommerzielle Termini: „Gewinn“ (lucrum) (benef. 4,11,1), „(schmutzige) Berechnung“ ([sordida] computatio) (4,11,2). Wenn er Wohltat als „Kredit“ (creditum) bezeichnet, dann im Sinne eines „Bildes“ (imago) oder einer „Übertragung“ (translatio) (4,12,1). 190 Daher kann auch ein Sklave seinem Herrn eine Wohltat zuteilwerden lassen (benef. 3,18,4) 191 Vgl. MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 8, mit zahlreichen Belegen. Vgl. auch Seneca, epist. 81,17 (und Apg 20,35). 192 Vgl. die definitorische Aussage benef. 1,6,1: „Was also ist eine Wohltat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude schenkt und empfängt, dadurch, daß sie schenkt, zu dem, was sie tut, geneigt und aus eigenem Antrieb bereit.“ Ferner 2,31,2: „Wer eine Wohltat erweist, was nimmt er sich vor? Zu nutzen dem, dem er sie erweist, und ihm eine Freude zu machen. Wenn er geschafft hat, was er wollte, und seine Gesinnung mich erreicht und mich meinerseits mit Freude erfüllt, hat er davongetragen, was er sich wünscht.“

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Auch die fügliche Annahme einer Wohltat orientiert sich an gewissen Regeln. Entscheidend ist eine Haltung der Dankbarkeit. Ein Geschenk oder eine Wohltat abzulehnen, ist inakzeptabel,193 es in einer Haltung der Undankbarkeit anzunehmen, „schimpflich“ (turpe) (3,1,1). Undankbarkeit ist das schlimmste Verbrechen und die Wurzel aller anderen Verbrechen.194 „Undankbar ist, wer eine Wohltat empfangen zu haben bestreitet, die er empfangen hat, undankbar, wer sie verleugnet, undankbar, wer sie nicht vergilt, am undankbarsten von allen, wer sie vergisst“ (3,1,3). An anderer Stelle ist ergänzend zu lesen: „Undankbar ist, wer eine Wohltat ohne Zinsen (usura) zurückzahlt: daher wird man auch auf diesen Sachverhalt Rücksicht nehmen, wenn man vergleicht Einnahmen und Ausgaben.“195 Zuallererst wird Dank aber dadurch abgestattet, dass wir eine erwiesene Gunst „mit guten Gedanken entgegennehmen“ (2,35,1); paradox formuliert: Schon die gewogene Annahme ist eine Form der Erwiderung (2,30,2: qui libenter beneficium accipit, reddidit).196 Die Erfordernis, mit Worten Dank zu äußern, ist nicht Gegenstand der Betrachtung.197 „[T]he first reward of a benefit is the consciousness of having performed a virtuous act; the secondary rewards are good repute and any material gain.“198 Doch auch das in der Sache der Wohltat Liegende muss vergolten werden: „Daher – obwohl wir sagen, jener habe Dank abgestattet, der eine Wohltat gern entgegennimmt – heißen wir ihn dennoch, auch etwas dem Ähnlichen, was er empfangen hat, seinerseits zu schenken (iubemus tamen et simile aliquid ei, quod accepit, reddere)“ (2,35,1). Wer eine Wohltat nicht erwidert, beweist einen Mangel an „Loyalität“ (fides),199 doch wäre dies eine weniger tragische Verfehlung als gar keine Wohltat zu erweisen: „Wer eine Wohltat nicht vergilt, verfehlt sich mehr, wer sie nicht erweist, schneller (qui beneficium non reddit, magis peccat; qui non dat, citius)“ (1,1,13).200 Nur für den Fall, dass unverschuldet die „Mög-

193 Seneca (benef. 5,6,2–7) verweist wie Aristoteles als exzeptionelles Beispiel auf Sokrates’ Ablehnung, sich der Entourage von König Archelaos anzuschließen (vgl. MARSHALL, Enmity in Corinth [s. Anm. 19], 16f.). 194 Vgl. benef. 1,10,4: „Geben wird es Mörder, Gewaltherrscher, Diebe, Ehebrecher, Räuber, Tempelschänder, Verräter; unterhalb all dessen befindet sich der Undankbare, nur dass all das von dem Undankbaren herrührt…“ 195 Seneca, epist. 81,18. In diesem Brief „wimmelt es geradezu von Banktermini“ (EBNER, Leidenslisten [s. Anm. 15], 347). 196 Mit Verweis auf benef. 7,22 erklärt Griffin die hyperbolischen Forderungen als pädagogische Strategie „that sets an impossibly high standard in order to achieve something sufficient and possible“ (GRIFFIN, Seneca on Society [s. Anm. 52], 337). 197 Vgl. C. MOUSSY, Gratia et sa famille, Paris 1966, 264. Kritisiert wird lediglich der, der verstohlen Dank sagt, „im Winkel und in das Ohr“; der Dankende muss (wie der Wohltäter) Öffentlichkeit schaffen (benef. 2,23,1–2). 198 GRIFFIN, Seneca on Society (s. Anm. 52), 46. 199 Seneca, epist. 81,12. 200 Nach Brad Inwood liegt darin die Hauptbotschaft der Abhandlung: „man’s ingratitude should never incite (and cannot justify) the abandonment of giving“ (B. INWOOD, Reading Seneca. Stoic Philosophy at Rome, Oxford 2005, 91).

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lichkeit“ (facultas), d. h. die nötigen (finanziellen) Mittel fehlen oder die „Gelegenheit“ (occasio) ungünstig ist, kann begründet von einer raschen Entgegnung der Wohltat abgesehen werden (4,40,3). In Ausnahmefällen besteht für Seneca sogar die Möglichkeit, dass mit den Göttern eine „dritte“ Partei die Gegenseitigkeit der Beziehung aufrechterhält: Ein Schiffbrüchiger, dem ein Wohltäter ein Schiff baut, wird keine Gegenleistung erbringen können, sondern „beauftragt als Schuldner … die Götter und bittet sie, sie mögen statt seiner Dank abstatten“ (4,11,3).

Es gehört zum Wesen antiker sozialer Austauschbeziehungen, dass derjenige, der die Initiative ergreift und ein Geschenk gibt, sich in einer Machtposition befindet. Der Empfänger steht ab sofort in der Schuld des Wohltäters und muss versuchen, diesen einzuholen. Seneca malt diese ‚Zwangslage‘ mit einem Zitat Chrysipps sinnfällig vor Augen: „Wer dankbar zu sein beabsichtigt, möge, schon während er entgegennimmt, über den Dank nachdenken. Chrysippos hat einmal gesagt, jener müsse wie auf einen Wettlauf eingestellt und von den Schranken eingeschlossen seine Zeit erwarten, bei der er wie nach einem Startzeichen aufspringe; und er hat gewiss große Anstrengung nötig, große Schnelligkeit, um den vor ihm Laufenden einzuholen“ (2,25,3). Die beiden Parteien sollen sich, so Seneca, auf einen „in höchstem Grade sittlichen Wettstreit (honestissima contentio), mit Wohltaten Wohltaten zu übertreffen“, einlassen. Auch hier greift Seneca wieder auf ein Bild Chrysipps zurück, der sagt „man müsse fürchten, weil die Chariten Zeus’ Töchter sind, sei sich zu wenig dankbar zu verhalten Glaubensfrevel (sacrilegium), und so schönen Mädchen geschehe Unrecht“ (1,4,4). 4.2 Paulus als Empfänger einer Wohltat Gerald Peterman Mit Senecas de beneficiis als Basistext und „guide“ (51) untersucht Gerald Peterman in seiner Dissertation „Paul’s Gift from Philippi“ (1997) die sozialen Konventionen des Gebens und Nehmens in der griechischrömischen Welt.201 Er greift dort u. a. auf Marshalls Überlegungen zur hellenistisch-römischen Freundschaftskonzeption zurück, will sich aber nicht auf das Paradigma der Freundschaft beschränken, sondern fasst seine Leitkategorie weiter als „soziale Reziprozität“ – eine Bezeichnung, die bei ihm wiederum synonym zu „Geben und Nehmen“ (6 Anm. 19) bzw. mit „Austausch von Verpflichtungen“ (54) steht. „Social reciprocity is a general convention and may operate at many levels and between various groups and individuals within a society. Thus friendship and patronage relation-

201 P ETERMAN, Paul’s Gift from Philippi (s. Anm. 54). S. zum Folgenden das Kapitel „Giving and Receiving in the Greco-Roman world“ (a. a. O. 51–89). Peterman beleuchtet auch den alttestamentlichen (a. a. O., 22–37) und jüdischen Kontext (a. a. O., 37–50).

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ships are different manifestations of the same underlying phenomenon. Mutual obligations may be formed between economically equal individuals, between a rich and a poor individual, between one person and a group, between groups of persons or between countries, to name a few possible combinations“ (4; vgl. 195f.).

Aufgrund des „Transaktionscharakters“ (89) aller sozialen Verhältnisse in der griechisch-römischen Welt können nach Peterman auch Begriffe aus der Welt des Handels Verwendung finden; die kommerzielle Sprachform verweise auf den Verpflichtungscharakter einer Beziehung, die zwar einen Austausch von Geldern einschließen könne, im Wesentlichen aber eine soziale Verpflichtung darstelle (65). Aus seiner Analyse des griechisch-römischen Materials ergeben sich für Peterman beachtliche Konsequenzen für die Exegese des Philipperbriefs, insbesondere für Phil 4,10–20 und Paulus’ vermeintlich „unkonventionelle“ Reaktion auf die Gabe der Philipper. In der Forschung zu dieser Passage sei es häufig zu fragwürdigen Hypothesen gekommen, weil statt des antiken sozialen Kontextes neuzeitliche Vorstellungen interpretationsleitend waren (11–15.122).202 Nicht der Verzicht auf das Wort εὐχαριστεῖν sei auffällig, sondern vielmehr wäre im Sinne der sozialen Reziprozität ein Ausdruck wie ὀφείλειν oder ἀποδιδόναι χάριν zu erwarten gewesen (148), der angibt, dass der Beschenkte durch die Annahme der Gabe „in die Pflicht genommen“ wurde. Eben das wolle Paulus vermeiden! Kein Wort über eine von ihm zu erwartende Gegenleistung oder über seine Absicht, das Geldgeschenk zu erwidern. Paulus setze alles daran, sein Verhältnis zu den Philippern nicht als Abhängigkeitsverhältnis erscheinen zu lassen (8.147). In kritischer Reflexion der herrschenden Konventionen verbinde Paulus seine Wertschätzung der Gabe mit der Betonung seiner Unabhängigkeit (Phil 4,11) (134–138), füge persönliche Betrachtungen an, gebe ethischen Rat und deute die Gabe theologisch (158). Durch diese Kommunikationsstrategie habe Paulus ein mögliches Missverständnis der Philipper bereits im Keim erstickt: „Paul has not become socially obligated, and thereby in a sense inferior, by accepting their gifts. Rather, because he has accepted their gifts, they have been elevated to the place of partners in the gospel“ (159; vgl. 72 Anm. 63). So mache Paulus deutlich, dass die Philipper durchaus eine „Vergeltung“ zu erwarten haben (vgl. Phil 4,17). Diese aber werde ihnen von Gott her zuteil. Peterman entlastet Paulus vom Vorwurf eines „chamäleonartigen“, inkonsistenten Verhaltens in seiner „Finanzpolitik“.203 Nach dem Kriterium der Präsenz/Absenz rekonstru-

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Als Negativbeispiel verweist Peterman mehrfach auf C. H. Dodds Auslegung, die in die Psyche des Paulus hineinzuhorchen versuchte (vgl. PETERMAN, Paul’s Gift from Philippi [s. Anm. 54], 11 mit Anm. 39, 122 Anm. 4, 158 Anm. 196; s. o. S. 40). 203 Vgl. oben MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 402.

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iert Peterman drei Unterstützungsszenarien (164–166):204 (1) Solange Paulus in einer Gemeinde weilt, nimmt er keine monetäre Hilfe an (2Kor 11,9; 12,14), selbst wenn ihm offensichtlich nach eigener Überzeugung eine Unterstützung zustünde (1Kor 9,11–12). (2) Wenn er sich auf den Weg macht, nimmt er Geld von der gastgebenden Gemeinde für die Reise an und fordert es sogar ein (vgl. 1Kor 16,6; 2Kor 1,16: προπέμπειν). (3) Für seine missionarische Tätigkeit, d. h. in Zeiten der Abwesenheit, empfängt er materielle Güter – wie etwa von der Gemeinde in Philippi (Phil 4,16; vgl. 2Kor 11,9).

Lukas Bormann Auch Lukas Bormann kann dem Modell des Benefizialwesens einiges abgewinnen, wenngleich er mit dem Patronatssystem ein anderes favorisiert (s. u.): „Paulus bewegt sich in seinem Umgang mit der philippischen Spende im Rahmen der Möglichkeiten, die die hellenistische Ethik in der Institution des beneficium zur Verfügung stellt“ (181). Sein Ergebnis stimmt insofern mit Petermans überein,205 als auch er in Paulus’ ambivalenter Reaktion auf die Gabe dessen Versuch erkennt, sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis zu den Philippern zu begeben. Die missliche Lage, in der er sich als Gefangener befand, machte es ihm unmöglich, eine Gegenleistung zu erbringen, und so steckte er nach Bormanns Darstellung in einer Zwickmühle: Einerseits läuft er Gefahr, dass er schon durch die bloße Annahme der Gabe der Philipper in ein verhängnisvolles „Schuldverhältnis“ zu ihnen gerät (155). Aufgrund ihres Engagements haben sie nämlich „Rechte“ an ihn, wie er es „ausdrücklich anerkennt und hervorhebt“ (153). Doch solange er eingekerkert ist, werden sie ihre Rechte nicht geltend machen können, und dieser Umstand gefährde „die so wichtige Parität der Beziehung“ (159). Andererseits sollte er entsprechend der etwa bei Seneca dargelegten Etikette die Gabe in großer Dankbarkeit in Empfang nehmen, denn „die widerwillige Annahme einer Wohltat“ ist aufs schärfste zu verurteilen (178). Paulus’ Ausweg führt über ein „interpretierendes“ Akzeptieren der Gabe: er will die Situation als „Bewährung“ verstehen, wie sie etwa aus der „Verführung durch materielle Güter“ erwachsen kann (178 mit Anm. 63).

Bormann legt in Phil 4,10–20 drei Ebenen frei, die spannungsvoll miteinander verknüpft seien und „Unsicherheiten und Brüche“ hervorrufen (206): eine „rhetorische Parenthese“ (4,11–13), in der Paulus in die „Rolle eines [autarken] kynischen Wanderphilosophen“ schlüpfe (150f.), eine opfermetaphorische Interpretation der ethischen Praxis der Philipper (4,18) (158) und die „Einbettung der konkreten Vorgänge in soziale Beziehungsmuster und Konventionen der hellenistisch-römischen Welt“ (206).

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Peterman folgt W. PRATSCHER, Der Verzicht des Paulus auf finanziellen Unterhalt durch seine Gemeinden. Ein Aspekt seiner Missionsweise, NTS 25 (1978/79), 284–298. 205 Bormann stand die Dissertation von Peterman nach eigenen Angaben nicht zur Verfügung (B ORMANN, Philippi [s. Anm. 2], 137 Anm. 44).

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David E. Briones David Briones’ Artikel „Paul’s Intentional ‚Thankless Thanks‘ in Philippians 4.10–20“ (2011), dessen These er in seiner jüngst veröffentlichten Dissertation weiter entfaltete,206 müsste eigentlich unter der Rubrik des Patronatswesens vorgestellt werden. Doch weil sich Briones ebenfalls an Senecas de beneficiis orientiert – „Seneca is suitable ideologue for dialogue on gift with Paul“207 – und weil er sein eigenes „Brokerage Model“ unter den weiten Schirm antiker Reziprozität stellt, wird sein Entwurf an dieser Stelle eingeordnet. Briones nimmt seinen Ausgangspunkt in einer Kritik des Freundschaftsparadigmas als eines angemessenen Modells für das Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern. Denn es sei nicht in der Lage, der „dritten Partei“, d. h. dem göttlichen Bereich, einen systemimmanenten Platz einzuräumen. Briones will sich mit einer solchen Konstruktion nicht abfinden und schlägt vor, das römische Patronatswesen zur Leitkategorie zu erheben, und zwar in einem spezifischen Zuschnitt: „[U]nder the ancient system of Roman patronage resides a fiscal, social relationship called brokerage. It involves three participants, a source (patron), a mediator (broker) and a recipient (client) in reciprocal exchange of goods“ (51). Hinter Paulus’ Verhalten als Klient stehe der Gedanke, dass nur demjenigen Dank abzustatten sei, auf den die Gabe zurückgeht (Gott), nicht aber dem Vermittler (Philipper). Der Klient sei verpflichtet, dem Patron Ehre, Loyalität, Gefolgschaftstreue oder öffentliche Dankesbekundungen zukommen zu lassen, um dessen Ansehen zu mehren. Durch die Ermöglichung des Austauschs zwischen Patron und Klient könne auch der „Broker“ Ehre erlangen und, was wichtiger sei, seinen Patron erfreuen (53). Briones unterscheidet zwischen einer „empirischen“ und einer „theologischen“ Dimension der Austauschbeziehung zwischen Paulus und den Philippern. Die „empirische“ Sicht erkennt im eingekerkerten Paulus den bedürftigen Empfänger einer Gabe und in den Philippern die sozial bedeutendere Quelle der Gabe (53f.). Die „theologische“ Argumentationsstrategie des Paulus ziele nun nicht darauf, das horizontale, auf Gegenseitigkeit angelegte Band zwischen ihm und den Philippern zu zerschneiden, sondern im Sinne eines „three-way knot“ neu zusammenzubinden: Gott ist die dritte Partei, der sich Paulus wie auch die Philippergemeinde verpflichtet wissen.208 Wenn Paulus am Beginn des Ab206

BRIONES, Paul’s Intentional „Thankless Thanks“ (s. Anm. 182). Vgl. DERS., Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 58–130 (zum Philipperbrief); daneben DERS., Mutual Brokers of Grace. A Study in 2 Corinthians 1.3–11, NTS 56 (2010), 536–556. In seiner Dissertation 207 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 25. Vgl. die ausführliche Darstellung des Traktats a. a. O., 41–57. 208 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 78; vgl. zur Konsequenz des dreigliedrigen Beziehungssystems a. a. O., 120: „Because God provides the immaterial and

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schnitts Phil 4,10–20 von seiner „Freude im Herrn“ spreche, dann in der Absicht, Gott ins Spiel zu bringen, der durch die Philipper am Wirken sei (4,10). Sodann kennzeichne Paulus seine „Autarkie“ (4,11–13) im Gegensatz zum stoischen Ideal als Abhängigkeit von Gott (59: „self-sufficienty is divine-dependence“). Das Moment einer dreigliedrigen Reziprozität (4,15–20) vervollständige das propagierte „Brokerage“-Modell: Der finanzielle Einsatz, mit dem die Philipper dem Paulus zur Seite sprangen (4,16: χρεία), werde ihnen in materieller und eschatologischer Weise vergolten (4,19: χρεία) (61).209

Als Teilhaber an der göttlichen Heilsökonomie werden die Glaubenden in ein „‚pay it forward‘ momentum of χάρις“ hineingezogen und zu gegenseitigen Gnadenvermittlern gemacht (63). Im Kreislauf der Gnade strömt die χάρις von Gott, dem Patron, aus zu den Glaubenden und kehrt schließlich in Gestalt der εὐχαριστία wieder zu Gott zurück (64). 4.3 Kritische Würdigung Zweifellos finden wiederum eine Reihe von Motiven und Vorstellungen aus dem Benefizialwesen Widerhall in den Formulierungen des Paulus, die von ihm allerdings durchweg theologisch akzentuiert werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich folgende Elemente: Begriffe aus der Buchhaltung und kommerzielle Sprachformen (vgl. v. a. Phil 4,15–18), darunter auch die Rede vom Zins (vgl. 4,17), sind bei Seneca geläufig und reflektieren das reziproke Wesen antiker Sozialbeziehungen. Die Freude, die durch eine Gabe geweckt wird und die nach Seneca als Motivation für das Geben vollkommen ausreicht, leitet den „Dankesabschnitt“ Phil 4,10–20 ein; sie ist bei Paulus freilich christologisch gewendet: Ἐχάρην … ἐν κυρίῳ (4,10; vgl. 3,1; 4,4).210 Wohltaten sind in einer Haltung der Dankbarkeit in Empfang zu nehmen und angemessen – durch „Ähnliches“211 – zu erwidern. Paulus sollte man eine solche dankbare Haltung nicht einfach aufgrund eines fehlenden „Dankeschöns“ absprechen! Allerdings übergibt er die Verantwortung für die „Kontogutschrift“ an Gott und verknüpft dies mit dem Gedanken eines weiteren, opfertheologischen Bildfelds, dass material benefits that Paul and the Philippians reciprocate, no party can claim ownership of their gifts. All gifts are God’s.“ 209 In Phil 4,19 sei χρεία weder nur „geistlich“ (so A. P LUMMER, A Commentary on St. Paul’s Epistle to the Philippians, London 1919, 105f.) noch nur materiell zu verstehen (so HAWTHORNE / MARTIN, Philippians [s. Anm. 78], 274), sondern umfasse beide Seiten (so auch FEE, Philippians [s. Anm. 21], 452). 210 Die Kritik von Briones (BRIONES, Paul’s Intentional „Thankless Thanks“ [s. Anm. 182], 48 Anm. 1) an Schenk (vgl. SCHENK, Philipperbriefe [s. Anm. 16 83) ist vorschnell. Schenk schlägt vor, die Freude (Phil 4,10) als Ausdruck der Dankbarkeit zu verstehen, was nach der Lektüre von Senecas Abhandlung durchaus legitim erscheint. Briones moniert: „[A]lthough joy may in fact communicate thankfulness, an unequivocal word of thanks is still missing.“ Nach Seneca jedenfalls ist ein „unequivocal word of thanks“ abkömmlich, nicht aber eine „Haltung der Dankbarkeit“. Auch Griffin betont „Seneca’s insistence on mental attitudes as the essence of the social exchange of favours“ (GRIFFIN, Seneca on Society [s. Anm. 52], 109; vgl. a. a. O., 205: „… the main emphasis being on a grateful attitude“, zu benef. 2,35,5.). 211 So Seneca, benef. 2,35,1 (simile aliquid). Vgl. P.Mert. I 12 (τὰ ἴσα).

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nämlich die materielle Wohltat als immaterieller Wohlgeruch Gott zukommt (4,18). Gott handelt nicht nach dem Ähnlichkeitsprinzip zwischenmenschlicher Beziehungen, sondern vergilt nach seinem Reichtum ἐν δόξῃ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ (4,19), d. h. in Hinsicht auf die „eschatologische Vollendung“.212 Dass sich in der Erwiderung der Gabe Verzögerungen ergeben oder die Gelegenheit dazu ungünstig ist, ist nicht auszuschließen,213 ja Seneca kennt sogar „die Möglichkeit, die Reziprozität der Beziehung über die göttliche Sphäre aufrechtzuerhalten.“214 Paulus’ Ankündigung, dass Gott die Unterstützung der Philipper angesichts seiner Inhaftierung ausgleichen werde (vgl. 4,19), mag manche Leser von Ferne daran erinnern.

Betrachtet man die einzelnen motivischen und begrifflichen Überschneidungen in ihrem jeweiligen Kontext, drängt sich keineswegs eine Identifikation der paulinischen Austauschbeziehung mit dem Benefizialwesen auf. Im Gegenteil! Der Philipperbrief des Paulus und der Traktat des Seneca stehen in ihren Prämissen und Anliegen weit voneinander entfernt. Zu bedenken sind (1.) die maßgebliche theonome Formatierung sozialer Beziehungen bei Paulus und (2.) dessen Verweis auf eine externe, göttliche Kraftquelle, die es ihm ermöglicht, „in allen Lagen unabhängig zu sein“ (Phil 4,11). Kritik ist (3.) auch da angebracht, wo die paulinischen Aussagen in das enge Korsett eines hypothetisch rekonstruierten Modells eingezwängt werden. 1. Seneca müht sich um eine Ethik und Etikette des Gebens und Nehmens. Ausgehend von den bestehenden gesellschaftlichen Zuständen und Missständen stößt er mit einem Gespür für die situative Erfordernis in grundsätzliche Dimensionen vor.215 Demgegenüber ist die paulinische Darstellung durchwirkt von seinem grundlegenden theologischen Commitment: Er beschreibt seine Partnerschaft mit den Philippern als κοινωνία εἰς τὸ εὐαγγέλιον (Phil 1,5), die sich auch – abhängig von der Situation – in einer konkreten materiellen Unterstützung ausdrücken kann.216 In der agonistischen Metaphorik bei Seneca äußert sich eine frappierende Intensität, vielleicht sogar eine „geradezu aggressive Verbissenheit“, die dazu aufruft, einander an Wohltaten zu übertreffen.217 Paulus lässt es nicht zu einem solchen „Gegenseitigkeitsdruck“ kommen, er lässt sich durch die Gabe der 212

MÜLLER, Philipper (s. Anm. 13), 209. „[This] was the reason for the Philippians’ delay, and so, on that basis, he accepts their gift with joy (v. 10).“ So Fitzgerald, allerdings in Bezug auf die Freundschaft, von der in der genannten Stelle in de beneficiis nicht die Rede ist (FITZGERALD, Philippians [s. Anm. 95], 152). 214 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 179. 215 Inwood sieht in de beneficiis ein Beispiel für das stoische moralische Denken, „which mediates between the need for situational sensitivity and the demand for stable general principles“ (B. INWOOD, Rules and Reasoning in Stoic Ethics, in: K. Ierodiakonou [Hg.], Topics in Stoic Philosophy, Oxford 1999, 95–127 [110]). 216 B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 258. 217 ROSENBACH, Vorbemerkungen (s. Anm. 52), VIIf. 213

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Philipper nicht verpflichten, sondern führt mit seiner Charakterisierung der Gabe als wohlgefälliges Opfer (Phil 4,18) eine Deutekategorie ein, die „dem strikt innerweltlich denkenden Seneca nicht zur Verfügung“ stand.218 Auch ist nach Seneca ein göttliches Eingreifen in das Gegenseitigkeitsethos, das dem Geber der Gabe zu seinem Recht verhilft, höchstens als Ausnahme vorstellbar. Für Paulus ist die „Dreiseitigkeit“ hingegen konstitutiv.219 Insofern das solidarische Verhalten der Philipper dem Willen Gottes entspricht, erlangt es eine Bedeutung, die nicht auf das Hier und Jetzt beschränkt bleibt. Paulus verlagert den eigentlich bedeutsamen Vorgang in den Raum des Göttlichen und Jenseitigen, während Seneca ganz mit den „practicalities of ethical reasoning“220 befasst ist und des göttlichen Beistands nur innerhalb dieses Rahmens bedarf. 2. Wie bereits angedeutet, sind auch für Seneca Dankesworte nicht alles entscheidend; was zählt, sind eine Haltung der Freude und die angemessene Erwiderung der Gabe. „Moderns … may overdo courtesy (‚Danke schön, Bitte schön‘)“221 – für die Zeitgenossen des Paulus galten andere Formen der Höflichkeit. Doch ist der zurückhaltende „Dank“ des Paulus ist nicht zuallererst nach Höflichkeitskriterien zu beurteilen, sondern im Kontext der theologisch motivierten Parenthese (Phil 4,11–13), die er unter das Vorzeichen seiner apostolischen Unabhängigkeit stellt. Der Einschub mag die Rezipienten des Briefs stutzig gemacht haben, aber als offener Affront gegen die Etikette kann er nach dem Ausdruck der großen Freude (4,10) nicht gelten. Befremdlicher mutet es im Spiegel zeitgenössischer Ideale an, dass Paulus sich bewusst vom Bild des Weisen distanziert, der, so Seneca, stets „aufrecht [steht]“ und „seine Kräfte kennt.“222 Paulus nennt Christus als seine externe, göttliche Kraftquelle, die ihn ermächtigt. 3. Insbesondere in Auseinandersetzung mit Peterman ist Briones darauf bedacht, die dritte, göttliche Dimension in sein soziologisches Modell einzubinden: Paulus belässt es nicht bei der bilateralen Reziprozität, sondern fügt auf der Basis theologischer Überlegungen eine weitere Partei ein. Das 218

B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 180. Zu weiteren weltanschaulichen Differenzen zwischen Paulus und Seneca vgl. auch T. R. B LANTON, The Benefactor’s Account-book. The Rhetoric of Gift Reciprocation according to Seneca and Paul, NTS 59 (2013), 396– 414. 219 Peterman vermutet dahinter das jüdische Erbe des Paulus (vgl. P ETERMAN, Paul’s Gift from Philippi [s. Anm. 54], 49f.). Er behauptet allerdings irrtümlich, dass in den griechisch-römischen Quellen von einer Entlohnung oder Gegenleistung durch Gott nirgendwo die Rede sei. Überhaupt zeichnet sich Petermans Arbeit durch zahlreiche Generalisierungen aus, die der Komplexität der Praxis des Gabentausches nicht gerecht wird (vgl. die Kritik bei OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 30–34). 220 INWOOD, Rules and Reasoning (s. Anm. 215), 110. 221 REUMANN, Philippians (s. Anm. 2), 685. 222 Seneca, epist. 71,26; vgl. MÜLLER, Philipper (s. Anm. 13), 206.

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hat zur Folge, dass die Philipper nun nicht mehr „Geber“, sondern lediglich „Vermittler“ sind. Abgesehen davon, dass Briones für die griechischrömische „Vermittlungspraxis“ des Brokers lediglich auf einige, kaum in diese Richtung auswertbare Briefstellen Plinius’ des Jüngeren verweist,223 muss die Frage erlaubt sein, was durch die Erweiterung des zugrunde gelegten Basismodells um eine dritte Kategorie sachlich gewonnen ist? Es bleibt dabei, dass Paulus als eigenständiger Hermeneut seiner Kultur die komplexen sozialen Realitäten dem Evangelium gemäß deutet und seiner Missionsstrategie unterordnet. Briones’ Ansatz insinuiert umgekehrt, dass Paulus seine Beziehung zu den Philippern in die Schablone eines zeitgenössischen „dreidimensionalen“ Modells eingepasst hat. Die auf Gegenseitigkeit beruhenden sozialen Beziehungen in der antiken Welt sind – wie Briones richtig bemerkt – „[a] tangled web of complexity“, 224 daher verwundert es, dass er mit dem „Brokerage Model“ ein recht differenziertes und zudem historisch fragwürdiges Modell zu seiner „heuristischen Brille“ macht. Briones selbst gesteht am Ende ein: „[T]his heuristic lens also fails to capture fully Paul’s vision of triangulated bonds of gift.“225

5 Patronat Wie aus dem eben skizzierten Ansatz von David Briones ersichtlich ist, lassen sich die Kategorien des Patronats- und Benefizialwesens nicht voneinander trennen. Briones selbst spricht von einer „perplexing difficulty in determining the convergence or divergence of patronage and benefaction.“226 Es ist hier allerdings nicht der Ort, diese Diskussion aufzu223 Vgl. zuerst BRIONES, Mutual Brokers of Grace (s. Anm. 206), 542. Es ist fraglich, ob sich aus dem vermittelnden Eintreten des Plinius vor dem Kaiser Trajan zugunsten seines Freundes Accius Sura (vgl. Plinius, epist. 10,12) ein (quasi-)institutionalisiertes „Brokerage-Modell“ ableiten lässt. Als Gewährsleute für dieses Modell dienen immer wieder Andrew Wallace-Hadrill sowie Shmuel Noah Eisenstadt (vgl. A. W ALLACEHADRILL, Patronage in Ancient Society, London 1989, 81–84; S. N. EISENSTADT / L. RONIGER, Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge 1984, 228–245). Auch Joshuah Rice rekurriert in seiner Studie zum 1. Korintherbrief auf das „Brokerage-Modell“, gesteht aber ein: „Historical research has failed to gather comprehensive data on this figure [sc. broker/mediator] on its own. Therefore, we will look to modern social-science research to fill this particular hole. The result is the fleshing out of a historical model of ancient patronage“ (J. R ICE, Paul and Patronage. The Dynamics of Power in 1 Corinthians, Eugene 2013, 28). 224 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 26. 225 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm.45), 225. 226 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 30. Die Trennlinie, die Stephan Joubert zwischen das Benefizial- und das Patronatssystem zu ziehen versuchte, ist zu scharf (S. J OUBERT, Paul as Benefactor. Reciprocity, Strategy and Theological Reflection

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arbeiten,227 vielmehr müssen einzelne forschungsgeschichtliche Hinweise zum Phänomen und zur Definition des Patronats genügen. Seit den 1980er Jahren wird in der sozialgeschichtlich interessierten Exegese darauf aufmerksam gemacht, dass die Sozialbeziehungen der frühchristlichen Gemeinden beachtliche Analogien zum Patronatswesen aufweisen. Seinen Ursprung hat das römische Patronatswesen in der agrarischen Frühzeit Roms, und bis in die Zeit des Prinzipats gab es der römischen Gesellschaft ein unverwechselbares Gepräge. Diese Form der Austauschbeziehung war nicht nur in den römischen Kolonien von eminenter Bedeutung – also auch in paulinischen Gemeinden wie Korinth228 und Philippi – sondern auch in den hellenistischen Städten der östlichen Provinzen. Häufig wird das Patronat in der neutestamentlichen Forschung nicht nur als Modell für innergemeindliche Verhältnisse herangezogen, sondern es dient darüber hinaus als theologisches Paradigma, das die Beziehung zwischen Gott und Mensch in einen kulturellen Kontext stellt. Die Konstellationen sind äußerst variantenreich und müssen hier nicht weiter erörtert werden. Was die Rolle des Paulus innerhalb des Patronatsmodells angeht, so stellen ihn die einen in die Reihe der Klienten Gottes ein und sehen seine Aufgabe in der Verkündigung der von Christus als „Broker“ vermittelten Gnade,229 andere wollen Paulus und die Christusgläubigen als Klienten Christi verstehen,230 wieder andere, darunter David Briones, identifizieren Paulus als Vermittler, der im Auftrag des göttlichen Patrons handelt; schließlich ist der gleich zu diskutierende Versuch von Lukas Bormann zu nennen, der dem Apostel die Rolle des Patrons zuweist, dem die Gemeinde als dessen Klientel gegenübersteht.

Häufig rekurriert die sozialgeschichtlich arbeitende Exegese auf die populäre (aber nicht unumstrittene) dreigliedrige Beschreibung des Patronatswesens von Richard Saller. Dieser versteht das Patronat als ein umfassendes gesellschaftliches Phänomen, das auch dann wirksam ist, wo die

in Paul’s Collection, WUNT 2/124, Tübingen 2000; ders., One Form of Social Exchange or Two? „Euergetism“, Patronage, and Testament Studies, BTB 31 (2001), 17–25; vgl. die Kritik bei Z. A. CROOK, Reconceptualising Conversion. Patronage, Loyalty, and Conversion in the Religions of the Ancient Mediterranean World, BZNW 130, Berlin 2004, 59–66. 227 Vgl. hierzu jetzt B. A. LOWE, Paul, Patronage, and Benefaction. A „Semiotic“ Reconsideration, in: S. E. Porter / C. D. Land (Hg.), Paul and His Social Relations, Pauline Studies 7, Leiden 2013, 57–84. Dort auch die neuere althistorische und neutestamentliche Literatur. 228 Vgl. hierzu J. K. CHOW, Patronage and Power. A Study of Social Networks in Corinth, JSNT.S 75, Sheffield 1992; RICE, Paul and Patronage (s. Anm. 223). 229 Vgl. z. B. B. J. MALINA / J. J. P ILCH, Social-Science Commentary on the Letters of Paul, Minneapolis 2006, 384f. 230 Vgl. z. B. P. LAMPE, Paul, Patrons, and Clients, in: Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World (s. Anm. 133), 488–523 (505f.). Vgl. zur Kritik an der Applikation des Patronatsmodells auf die Beziehung zwischen Gott und Mensch D. J. DOWNS, Is God Paul’s Patron? The Economy of Patronage in Pauline Theology, in: B. W. Longenecker / K. D. Liebengood (Hg.), Engaging Economics. New Testament Scenarios and Early Christian Reception, Grand Rapids 2009, 129–156.

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spezifischen Begrifflichkeiten (patrocinium, patronatus, cliens) nicht verwendet werden: „First, it involves the reciprocal exchange of goods and services. Secondly, to distinguish it from commercial transactions in the marketplace, the relationship must be a personal one of some duration. Thirdly, it must be asymmetrical, in the sense that the two parties are of unequal status and offer different kinds of goods and services in the exchange – a quality which sets patronage off from friendship between equals.“231

In einer späteren Veröffentlichung hat Saller in Aufnahme der weiteren Forschung einen vierten Wesenszug ergänzt, der besagt, dass das Patronatsverhältnis auf einer freiwilligen Übereinkunft gründet.232 Ein Patronatsverhältnis lässt sich demzufolge beschreiben als eine freiwillige Austauschbeziehung zwischen Männern ungleichen Ranges oder Standes. Sallers Definition wurde von Claude Eilers u. a. als zu weit kritisiert. Sie halten an einem geschlossenen, „institutionellen“ Verständnis des Patronats fest und wollen es nur dann in Anschlag bringen, wenn die entsprechende Terminologie präsent ist.233 Dies ist etwa der Fall in einem häufig zitierten Abschnitt aus den Antiquitates Romanae des Dionys von Halikarnassos, eines griechischen Rhetors und Historikers, der zwischen 30 und 8 v. Chr. in Rom lebte. Es handelt sich bei diesem Abschnitt um einen der wenigen Texte, „die sich mit dem Selbstverständnis und der inneren Beziehungsstruktur eines Klientelverhältnisses befassen.“234 Für Lukas Bormann bildet er die Grundlage für die sozialgeschichtliche Einordnung der Beziehung zwischen Paulus und den Philippern. 5.1 Quellenmaterial Dionys von Halikarnassos, Antiquitates Romanae Dionys von Halikarnassos idealisiert die glorreiche Frühzeit des Klientelwesens, das von Romulus eingerichtet worden sei und eine stabile und verlässliche Sozialordnung geschaffen habe, in der Patrizier und Plebejer in größter Achtsamkeit miteinander lebten, sich stützten und einander Dienste und Hilfen gewährten. Erst die machtlüsternen Neigungen der Gracchen ließen dieses harmonische Gefüge zerbröckeln. Ant. 2,9–11 ist Teil der größeren Einheit ant. 2,7–29, die Romulus zum „Gestalter des 231

R. P. SALLER, Personal Patronage under the Early Empire, Cambridge 1982, 1. R. P. SALLER, Status and Patronage, in: A. K. Bowman / P. Garnsey / D. Rathbone (Hg.), The Cambridge Ancient History, Band 11: High Empire, A.D. 70–192, Cambridge 2 2000, 817–854 (838). Vgl. auch P. GARNSEY / R. SALLER, Patronal Power Relations, in: R. A. Horsley (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997, 96–103. 233 Vgl. C. EILERS, Roman Patrons of Greek Cities, Oxford 2002, 7. 234 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 200. 232

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römischen Gemeinwesens für alle kommenden Zeiten“ erhebt, der nicht nur das Politische ordnete, sondern auch für das zahlenmäßige Wachstum und die sittliche Überlegenheit des römischen Volkes sorgte.235 Die Anfangszeit Roms ist für Dionys Norm und Ideal für die Gestaltung der Jetztzeit des frühen Prinzipats. Romulus teilte die Gesellschaft in zwei Gruppen ein und wies ihnen spezifische Funktionen zu: Die Patrizier hatten religiöse und politische Leitungsämter inne, die Plebejer waren für die Nahrungsmittelproduktion zuständig. Er eröffnete jedem Plebejer die freie Wahl seines Patrons, um ihn vor Willkürakten zu schützen, gab dem Unterstützungsverhältnis den sinnigen Namen πατρωνεία (2,9,3), übertrug beiden Seiten „förderliche Aufgaben“ (ἔργα χρηστά) und schuf aus den Patron-Klient-Verhältnissen auf Mitmenschlichkeit und Gemeinschaftssinn beruhende Verbindungen (συζυγίαι) (2,9,3). Zu den Pflichten der Patrone gehörte es, ihren rechtsunkundigen Klienten im Streitfall beratend zur Seite zu stehen, sich um ihr Habe oder ihre Verträge zu kümmern und sich bei Vertragsverletzungen oder Verleumdungen auf einen Rechtsstreit zugunsten ihrer Schützlinge einzulassen. Alle privaten und öffentlichen Angelegenheiten der Klienten sind dem Schutz der Patrone anheimgestellt. Dionys vergleicht die Patrone gar mit Vätern, die für ihre Kinder sorgen (2,10,1). Zum Pflichtenkatalog der Klienten gehörte es, ihre Patrone bei einem finanziellen Engpass in der Mitgift zu unterstützen, im Entführungsfall Lösegeld zu bezahlen, Prozesskosten oder Strafzahlungen zu übernehmen (als Liebes- bzw. Dankesgaben [χάριτες], nicht als Darlehen!) sowie Aufwendungen mitzutragen, die aus öffentlichen Ämtern erwuchsen (2,10,2). Drakonische Strafen warteten auf den, der sich nicht an die Verpflichtungen hielt: Er galt als vogelfrei und durfte von jedem ergriffen und dem unterirdischen Zeus als Opfer überantwortet werden (2,10,3). Im Idealfall jedoch unterschied sich das Patron-Klient-Verhältnis nicht vom Verhältnis zwischen Blutsverwandten. Es sei ein regelrechter „Wettbewerb“ (ἀγών) entbrannt, einander in gegenseitigem Wohlwollen durch Gunstbezeugungen zu übertreffen. Für viele Jahrhunderte sorgten die Fügungen des Stadtgründers Romulus dafür, dass „das Leben gefüllt war mit allerlei Freude (ἡδονή), und der Maßstab des Glücks war Tugend (ἀρετή) und nicht Zufall (τυχή)“ (2,10,4). Am Ende lässt Dionys seine Leser mit zwei Optionen zurück: „[O]ppression of the poor by the powerful or acceptance of the patronclient system initiated by Romulus.“236 235 J. VON UNGERN-STERNBERG, Romulus-Bilder. Die Begründung der Republik im Mythos (1993), in: ders., Römische Studien. Geschichtsbewusstsein – Zeitalter der Gracchen – Krise der Republik, Beiträge zur Altertumskunde 232, München 2006, 30–50 (34). 236 JOUBERT, Paul as Benefactor (s. Anm. 226), 62.

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5.2 Paulus als Patron Lukas Bormann Die Darlegungen des Dionys von Halikarnassos dienen Lukas Bormann in seiner Dissertation „Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus“ (1998)237 als Kardinalbelege, um den „angemessenen Verstehenshorizont für die Austauschbeziehung zwischen Paulus und den Philippern“ zu skizzieren (206). Im sogenannten Dankesbrief Phil 4,10–20, dessen literarische Selbständigkeit Bormann voraussetzt,238 spiegle sich „die Legitimation und Interpretation eines konkreten sozialen Vorganges und sein realer Vollzug (Sendung und Empfang einer Geldspende)“ (203). Insofern erweist sich dieser Text für Bormann als „Schlüssel zum Verständnis der Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde in Philippi“ (128; vgl. 136– 160). Andere paulinische Briefe lässt er programmatisch außer Acht, um sich seine Auslegung nicht von andernorts gewonnenen Deutemöglichkeiten vorgeben zu lassen. In Abgrenzung zu seinem Doktorvater Dieter Georgi hält Bormann fest, dass Paulus sein Verhältnis zu den Philippern als Gemeinschaft beschreibt, „die auf einem ganz anderen Prinzip beruht als das Modell der religiös-ethisch herausragenden Persönlichkeit, nämlich auf einem echten Austausch des Gebens und Nehmens“ (151).239 Eine solche Beziehungsstruktur zwischen einer paulinischen Gemeinde und Paulus sei singulär. Denn wie aus 2Kor 11,9 hervorgeht, nahm Paulus von den Korinthern keine Unterstützung an, weil ihm makedonische „Brüder“ – wohl Philipper – halfen, und in Phil 4,15 betont Paulus, dass sich auch sein Verhältnis zu den Philippern von dem zu anderen makedonischen Gemeinden unterscheidet. Das Klientelverhältnis bietet sich nach Bormann schon deshalb als Deutemodell an, da es „dem weitgereisten und mit der Kultur der Mittelmeerwelt vertrauten Paulus bekannt“ und „für die Philipper … ein Teil ihrer kulturellen und sozialen Welt“ (216).

Inwiefern lässt sich die spezifische Austauschbeziehung zwischen Paulus und den Philippern nun als Patron-Klient-Verhältnis konzipieren? Paulus identifiziere sich „biographisch“ (208) mit der Rolle des Patrons, der „die gemeinsame Sache (das Evangelium) nach außen“ vertritt und seine Klientel regelmäßig besucht (vgl. Phil 1,26; 2,24) (214), während die Philipper ihren Verpflichtungen durch regelmäßige Geldzuwendungen und sonstige 237

B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2). Zur Begründung seiner eigenen, „neuen Teilungshypothese“ (118) s. das ausführliche Kapitel „Einleitungswissenschaftliche Fragen“ (87–126). Bormann ist der Auffassung, dass erst Teilungshypothesen „eine angemessene Erklärung der historischen und theologischen Problematik einiger Briefe (Röm, II Kor, Phil) und der Geschichte der paulinischen Mission“ ermöglichen (119). Sein Vorschlag lautet: Brief A = Phil 4,10– 20.21–23; Brief B = Phil 1,1–3,1; 4,2–7; Brief C = Phil 3,2–4,1; 4,8–9. 239 Gegen Dieter Georgi, der annimmt, dass Paulus – wie in 1Kor 9,11 – das Paradigma des Pneumatikers vor Augen hat, der von der Gemeinde für seine „pneumatische[] Leistungen“ Unterstützung erwarten darf (GEORGI, Geschichte [s. Anm. 180], 45). 238

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Hilfeleistungen nachkommen. Gerade im Prozess des Paulus zeige sich „die klassische Situation des Zusammenwirkens von Patron und Klientel“ (213). „Die Philipper interpretierten diese Situation [vgl. Phil. 2,25–30; 4,10–20] im Rahmen des Klientelverhältnisses als eine Solidarität herausfordernde gemeinsame Notsituation. Paulus ist in seiner Funktion als öffentlicher Verkünder des Evangeliums in eine Rechtsstreitigkeit geraten. Dieser Prozeß ist damit nicht seine Privatsache, sondern wird von den Philippern als eine ihre Zusammengehörigkeit betreffende Angelegenheit verstanden. Ganz im Sinne der Darstellung des Dionys verstehen sie die Kosten aus der Ausübung eines öffentlichen Amtes ihres ‚Patrons‘ Paulus als eigene Kosten“ (212).

Nach der (idealisierenden) Darstellung des Dionys waren die Klienten verpflichtet, ihren Patron in seinem öffentlichen Wirken zu unterstützen und bei Bedarf Zahlungen zu leisten (204). Epaphroditus, der als Beauftragter der Gemeinde zu Paulus gesandt wird und ihm finanzielle Unterstützung zukommen lässt, wird von Paulus „in einer ihm gleichberechtigten Position (ἀδελφός, συνεργός, συστρατιώτης)“ gesehen (212). Es sei im Übrigen zu vermuten, „daß er Paulus in seinen Prozeßschwierigkeiten behilflich sein sollte. Die Gemeinde von Philippi ließ Paulus vor Gericht nicht allein.“ Vielmehr hätten die Philipper bei diesem „Prozeß vor einem römischen Gericht“ „ihre Beziehungen zu Freigelassenen und Sklaven des kaiserlichen Hauses (4,22)“ genutzt (213). Das Selbstverständnis der Gemeinde als Klientel bringt nach Bormann Implikationen mit sich, „die zu einer Neubewertung des Verhältnisses der Philippergemeinde zu ihrer städtischen Umwelt führen“ (207). Da die Colonia Iulia Augusta Philippensis unter dem Patronat des julisch-claudischen Hauses stand, musste ein selbständig organisiertes Klientelverhältnis notwendig zum Konflikt mit der römischen Obrigkeit und mit der „offiziellen, gesellschaftstragenden und herrschaftslegitimierenden religiös-politischen Ideologie des frühen Prinzipats“ führen (224). Denn die philippische Gemeinde trug die Kennzeichen einer „das Verhältnis zum Staat belastende[n] Religion“, die als „falsche Religion“ betrachtet wurde und niederzuhalten war (221).

5.3 Kritische Würdigung Mit seinem Versuch, das römische Klientelwesen für die Philipperexegese fruchtbar zu machen, hat Bormann die Diskussion um eine weitere wichtige und wohlbegründete Perspektive erweitert. Zweifellos weisen gewisse Züge des Verhältnisses zwischen Paulus und den Philippern Analogien zum Patronatswesen auf, darunter das Engagement für eine „gemeinsame Sache“ oder die durch Solidarität charakterisierte Beziehung zwischen Patron und Klient, die auch finanzielle Bürden zu tragen bereit ist. Es steht auch außer Frage, dass die Colonia Iulia Augusta Philippensis „eine durch

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und durch römische Stadt“ war240 und dass auch ihre religiöse Identität primär römisch geprägt war.241 In diesem kulturell-religiösen Milieu werden die paulinischen Worte an die Philippergemeinde als auf das Patronatswesen hin offen gehört worden sein, und möglicherweise beabsichtigte er im Sinne einer adressatenspezifischen Kommunikation gar solche Assoziationen. Doch führt es zu weit, das Patron-Klient-Verhältnis nach dem Muster des julisch-claudischen Hauses zum „Schlüssel“ seiner Austauschbeziehung mit den Philippern zu erklären. Die wichtigsten Einwände betreffen (1.) die Quellenbasis des Vergleichs, (2.) die Diskrepanz zwischen den vorausgesetzten Rollenmodellen und dem tatsächlichen Verhalten des Paulus und der Philippergemeinde, (3.) die Einseitigkeit, mit der die paulinischen Aussagen in das zugrunde gelegte Modell eingelesen werden. 1. Bormann ist sich bewusst, dass die tendenziösen Ausführungen des Dionys „mit Vorsicht“ interpretiert werden müssen: „Sie beruhen auf einer aus politischen Interessen der caesarisch-augusteischen Epoche erwachsenen Idealisierung des Patronatsverhältnisses“242 und dürfen nicht mit den „hinter ihr stehenden sozialen Realitäten“ in eins gesetzt werden.243 Trotz dieses caveat leitet Bormann weitreichende Thesen aus dessen Darstellung ab, die überdies auch umfangmäßig nur wenige auswertbare Abschnitte umfasst. Auch der zum Vergleich herangezogene paulinische Textbestand 240

P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 91; vgl. a. a. O., 92: „Gewiß waren die Römer zahlenmäßig nicht in der Mehrheit, wie es das römische Gepräge der Stadt vermuten lassen könnte, aber das Lebensgefühl war durch und durch römisch.“ 241 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 63f. Bormann müht sich um den Aufweis, dass der häufig behauptete religiöse Pluralismus mit einem Nebeneinander von römischen, hellenistischen, thrakischen, ägyptischen und kleinasiatischen Religionen zur Zeit des Paulus nicht bestanden habe; vielmehr seien all diese Kulte in den offiziellen Kaiserkult integriert worden (vgl. ausführlich a. a. O., 30–67). Dagegen P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 47f.: „Auch wenn man die Bedeutung des Kaiserkultes stärker herausstreichen kann als ich das tue …, halte ich es für verfehlt, so einseitig die römische Perspektive zu betonen, wie das bei Bormann der Fall ist. Bei ihm wird der römische Bevölkerungsanteil und dessen Einfluß auf die religiösen Gegebenheiten bei weitem überschätzt. Daß auch im ersten Jahrhundert (zahlenmäßig) v. a. Thraker und Griechen im Territorium der Colonia Iulia Augusta Philippensis leben, gerät völlig in Vergessenheit. Diese Menschen haben möglicherweise auch dem Kaiserkult gehuldigt – aber haben sie deswegen ihre πάτρια vergessen, will sagen Bendis, den Thrakischen Reiter, Dionysos usw.?“ Pilhofers Kritik muss freilich auch als Einräumung eines eigenen Defizits gelesen werden, denn er vernachlässigt die Rolle des öffentlichen Kultes, der die lokalen Kulte in sich aufnahm, fast völlig. 242 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 201. 243 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 203. Vgl. SCHMELLER, Hierarchie und Egalität (s. Anm. 251), 57: Zur Zeit des Prinzipats habe die von Bormann vorausgesetzte Klientelbeziehung nicht mehr existiert. Gerade die Darstellung des Dionys „hat mit der Realität im 1. Jh. n. Chr. nichts zu tun“ (a. a. O., 58).

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ist recht begrenzt, so dass zurecht der Einwand laut wurde, dass „die Basis des sogenannten Dankbriefleins von Phil 4,10–20 und sein Sujet der philippischen Gaben für den gefangenen Paulus doch zu schmal [sind], um das Erklärungsmodell Bormanns überzeugend zu machen.“244 2. Was die Rollen innerhalb der angenommenen Patronatsstruktur angeht, erscheint die philippische Gemeinde als mitunter übereifrige Akteurin, die ihr „eigenständiges Werk des Gemeindeaufbaus“ betreibt.245 Ihr Selbstbewusstsein und ihr Gestaltungswille gehen sogar so weit, dass sie ihrem „Patron“ als „emanzipierte Klientel“246 entgegentreten, die von ihm weder materiell noch sozial abhängig ist und die ihr Verhältnis zu Paulus engagiert gestaltet und sein Tun kritisch begleitet.247 Andererseits schlüpft der „Patron“ Paulus (in Phil 4,11–13) „in die Rolle des um Geld buhlenden, aber sich als vom Geld unabhängig präsentierenden Wanderpredigers, ohne sich biographisch mit dieser Rolle zu identifizieren.“248 Er, der Patron (!) nimmt von den Philippern das von Bormann als beneficium249 eingestufte Geldgeschenk an und ist auf Prozesshilfe angewiesen. Nur mit einiger Mühe lassen sich darin die Darlegungen des Dionys über das Verhältnis zwischen Patron und Klient wiedererkennen. Jedenfalls ist die Gemeinde keineswegs ein idealtypischer Klient und Paulus kein idealtypischer Patron.250 Fast würde sich „eine genau umgekehrte Zuweisung der Rollen von Patron und Klient“ nahelegen.251 Aufschlussreich sind in dieser Hinsicht die qualifizierenden Wendungen, die Bormann gebraucht: So sei die die Gemeinde als „emanzipierte“252 Klientel einzustufen und das Verhältnis der Philipper zu Paulus entspreche (lediglich) „strukturell“ der Klientenbeziehung.253 Die Überzeugungskraft mancher Schlussfolgerungen Bormanns wird infolgedessen relativiert. Dass Paulus mit einer Unterstützung durch die Philipper rechnet, ist nicht

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HAINZ, ΚΟΙΝΩΝΙΑ bei Paulus (s. Anm. 42), 386f. B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 216. Vgl. ebd.: „Der außergewöhnliche Einsatz der Philipper steht in Gefahr, bisweilen über das Ziel hinauszuschießen.“ 246 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 206–217. 247 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 217. 248 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 208. 249 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 207. 250 Vgl. auch KIRNER, Apostolat und Patronage (s. Anm. 164), 23 Anm. 55 251 T. SCHMELLER, Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechisch-römischer Vereine, SBS 162, Stuttgart 1995, 57. 252 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 217. Vgl. B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 37: „The inadequate explanatory power of this model is suggested in the fact that even Bormann … as one of its advocates finds himself resorting to the notion of an ‚emancipated‘ clientele – thus threatening to burst that very category.“ 253 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 214. 245

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zwingend „auf eine von beiden Seiten akzeptierte Form der Beziehung“254 zurückzuführen – das wurde sie durch Jahrhunderte der Philipperexegese nicht –, sondern kann ebenso gut in dem vertrauensvollen und verbindlichen Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern begründet liegen. Auch ist deutlich, dass sie Epaphroditus aus eigenem Antrieb heraus dem Apostel zu Hilfe schicken, nicht aufgrund einer dem Patronatsverhältnis entspringenden Verpflichtung.255 3. Manche theologische Aussagen des Paulus scheinen das „Fassungsvermögen“ des Erklärungsmodells zu überfordern: Paulus macht nirgendwo kenntlich, dass er sich „biographisch“ oder „strukturell“ auf ein Klientelverhältnis mit der Gemeinde eingelassen habe und ihr als Patron gegenübertrete, sondern er wählt für sich den Titel δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ (Phil 1,1). Daher wird das Rühmen der Christen bei der Ankunft des Paulus (1,26) auch nicht auf das Patronatsdenken zurückzuführen sein,256 sondern liegt „in Christus Jesus“ begründet; ihr Ruhm mehrt sich, „weil er als Apostel ihnen das Evangelium verkündet hat und wenn er wieder zu ihnen kommt, er erneut zu ihrer Glaubensfreude beitragen wird.“257 Wenn er ein Gemeindeglied mit σύζυγε anspricht (Phil 4,3), dann hat er doch nicht – wie Dionys – „eine philanthropische und politische Kameradschaft“ (συζυγία) im Blick,258 sondern ersucht eine einzelne, vertraute Person, einen „bewährten Genossen“, den gemeindeinternen Streit zu schlichten. Der hohe Stellenwert und die besondere Dringlichkeit der Besuche259 entspringen weniger der Unterordnung unter die Konvention des 254 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 208. Hier zeigt sich ein gewisser innerer Widerspruch in der Darstellung Bormanns: Einerseits ordnet er die Unterstützung als Hilfe in einer akuten Notsituation (Prozess) ein, andererseits werde sie „nicht ad hoc aufgrund der besonderen Notsituation zusammengestellt, sondern ist Teil der auf die Initiative der Gemeinde zurückgehenden, schon länger währenden Unterstützung, mit der Paulus fest rechnet“ (a. a. O., 212; vgl. HAINZ, ΚΟΙΝΩΝΙΑ bei Paulus [s. Anm. 42], 387). 255 Vgl. W ITHERINGTON, Philippians (s. Anm. 84), 31: „[I]t is clear that the Philippians are acting as free agents when they send Epaphroditus to help Paul, not as contractual partners.“ 256 So aber B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 215: Der Besuch des Patrons vermehrt den Ruhm des Klienten. 257 So MÜLLER, Philipper (s. Anm. 13), 72f. In einem solchen „remapping of honor and shame“ zeigt sich die kontrakulturelle Dimension des Evangeliums: „This would be something most pagans could hardly understand or admire – exulting in a crucified Jewish manual worker who some Jews claimed rose from the dead“ (W ITHERINGTON, Philippians [s. Anm. 84], 93). Vgl. aber SCHMELLER, Hierarchie und Egalität (s. Anm. 251), 57: „Am ehesten überzeugend ist m.E. der Hinweis auf den Selbstruhm … der Gemeinde beim Besuch des Paulus… Das Prestige eines Patrons färbt gleichsam auf die Klienten ab.“ 258 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 203. 259 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 216 (vgl. 2Kor 2,12–13; 7,5: Umweg über Philippi).

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Patronatssystems und der Absicht, die Erwartungen der Philipper zu erfüllen, als vielmehr seinem apostolischen Selbstverständnis. Auch gegenüber anderen Gemeinden – deren Verhältnis zu Paulus ja nach Bormann nicht als Patron-Klient-Verhältnis zu charakterisieren ist – äußert Paulus wiederholt den Wunsch, sie zu besuchen. Zukünftige oder geplante Reisen zu thematisieren ist gängige epistolographische Praxis.260 Methodisch ist also wiederum eine Unterscheidung zu treffen: Haben die beiden „Parteien“ der Austauschbeziehung, haben Paulus und die Philipper ihr Verhältnis bewusst und aktiv nach dem Modell des Patronats gestaltet, auf den „korrekten Vollzug“ geachtet,261 „Erwartungen und Ansprüche abgeleitet,“262 oder zeigt ein solcher Vergleich nicht vielmehr auf, wie zeitgenössische Außenstehende und mit den Konventionen vertraute philippische Gemeindeglieder einzelne Elemente der Beziehungsform beurteilt haben könnten263 und worin Analogien zwischen Klientelverhältnis und Gemeindestruktur bestanden haben? Jedenfalls weist das Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern Gestaltungs- und Wesensmerkmale auf, die die Kategorien des Patronatswesens sprengen und auf andere Impulse zurückgehen müssen bzw. gar das Modell als solches in Frage stellen. Selbst wenn zugestanden wird, dass Paulus in seinen Formulierungen die soziale Realität des römischen Patronats vor Augen hatte, so fällt doch weit stärker ins Gewicht, dass er offensichtlich die Gruppenidentität der christlichen Gemeinde in zutiefst „unrömischer“ Weise formen wollte. Mit der geradezu subversiven Forderung μόνον ἀξίως τοῦ εὐαγγελίου τοῦ Χριστοῦ πολιτεύεσθε (Phil 1,27) stellt er sich und die Gemeinde außerhalb der Romanitas Philippis, außerhalb des Imperium Romanum.264

6 Vereinswesen Im zivilen Bereich prägt die Patronatsstruktur das allseits gegenwärtige Vereinswesen. Der Vereinspatron gründet den Verein, lässt ihm Gründungskapital zukommen, leitet ihn, steht ihm als Autorität gegenüber, sorg für stetigen Geldfluss und/oder stellt in seinem Haus Versammlungsräume zur Verfügung. Vereine können definiert werden als „groups ‚of men and/or women organized on the basis of freely chosen membership for a common purpose‘.“265

260 Vgl. z. B. T. Y. MULLIN, Visit Talk in the New Testament Letters, CBQ 35 (1973), 350–358. 261 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 210. 262 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 208. 263 Vgl. M. B OCKMUEHL, Rez. von L. Bormann, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, JThSt 47 (1996), 232–239 (238). 264 Vgl. hierzu P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 135 mit Verweis auf R. MACMULLEN, Enemies of the Roman Order. Treason, Unrest, and Alienation in the Empire, Cambridge 1966. Vgl. auch den Beitrag von Eva Ebel im vorliegenden Band. 265 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 3 Anm. 9 (dort weitere Definitionsvorschläge). Kloppenborg und Ascough unterscheiden zwischen den folgen-

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Mit dem Thema „Vereine“ eröffnet sich ein pulsierendes und kaum mehr zu überschauendes Forschungsfeld. Die Gegenüberstellung von paganem Vereinswesen und frühchristlichen Gemeindeformen ist jedoch keineswegs neu, sondern erlebte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jh. eine erste Blütezeit.266 Während in dieser Phase, für die v. a. die Namen von Edwin Hatch und C. F. G. Heinrici stehen,267 insbesondere über strukturelle Parallelen zwischen Vereinen und Gemeinden gemutmaßt wurde, richtet sich das Forschungsinteresse derzeit darauf, „die christlichen Gemeinden in den Markt der religiös-geselligen Möglichkeiten der Antike einzuzeichnen und so das Profil der Gemeinschaft der Christinnen und Christen herauszuarbeiten.“268 Dabei lässt sich ein „phänomenologischer“ von einem „lokalgeschichtlichen“ Zugang unterscheiden. Entweder werden spezifische soziale Ausdrucksformen oder Rituale im christlichen Zusammenleben (z. B. die Mahlgemeinschaft) mit Phänomenen des Vereinswesens ins Gespräch gebracht269 oder aber man nimmt eine einzelne frühchristliche Schrift in den Blick und interpretiert die darin zutage tretende Lebenswirklichkeit der betreffenden Gemeinde(n) im Lichte des Vereinswesens.270

6.1 Quellenmaterial Für die Frage nach dem Verhältnis des Paulus zur Gemeinde in Philippi verspräche der „lokalgeschichtliche“ Zugang den größten Ertrag, doch sind aus Philippi nicht genügend Inschriften erhalten, die einen sinnvollen, rein lokalgeschichtlichen Vergleich mit der philippischen Gemeinde erlauben würden. Jeder komparatistische Ansatz ist auf Quellen aus anderen Gegenden des römischen Reiches angewiesen und arbeitet mit der Prämisse, dass einzelne Aspekte sinnvoll per analogiam auf das Vereinswesen an einem anderen Ort bezogen werden können. Die wenigen Dokumente, die hier nun präsentiert werden, sind ausgewählt in Hinsicht auf die Frage, ob und inwieweit Elemente des Vereinswesens die Beziehung zwischen Paulus und der Philippergemeinde zu erhellen vermögen. Die viel umfassendere den Vereinsformen: cultic, professional, immigrant, domestic, and neighborhood (KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations [s. Anm. 59], V). 266 So E. EBEL, Mit vereinten Kräften Profil gewinnen. Antike Vereine und frühe christliche Gemeinden – ein lohnender Vergleich, VF (2010), 71–79 (72). 267 Vgl. die folgenden forschungsgeschichtlichen Studien: T. SCHMELLER, Zum exegetischen Interesse an antiken Vereinen im 19. und 20. Jahrhundert, in: A. Gutsfeld / D.-A. Koch (Hg.), Vereine, Synagogen und Gemeinden im kaiserzeitlichen Kleinasien, STAC 25, Tübingen 2006, 1–19; D.-A. KOCH / D. SCHINKEL, Die Frage nach den Vereinen in der Geistes- und Theologiegeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung des zeitgenössischen Vereinswesens und der ‚Wende‘ in der protestantischen Theologie nach 1918, a. a. O., 129–148. 268 EBEL, Mit vereinten Kräften (s. Anm. 266), 72. 269 So z. B. SCHMELLER, Hierarchie und Egalität (s. Anm. 251). 270 Vgl. EBEL, Mit vereinten Kräften (s. Anm. 266), 72. Ebels eigene Dissertation lässt sich in diese Kategorie einordnen, insofern sie die korinthische Gemeinde und ihre Probleme „im Spiegel griechisch-römischer Vereine“ zu verstehen versucht (E. EBEL, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine, WUNT 2/178, Tübingen 2004).

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Frage, wie das Verhältnis von Vereinen und frühchristlichen Gemeinden zu bestimmen ist, bleibt weitgehend außer Acht. Eine „missionarische“ Kultgründung in Opos: IG X/2.1 255 Eine makedonische Inschrift (IG X/2.1 255271) aus dem 1./2. Jh. v. Chr. berichtet, dass Serapis einem gewissen Xenainetos zweimal im Traum erschienen sei (vgl. Apg 16,9–10) und ihn eindringlich ermahnt habe, seinem politischen Rivalen Eurynomos die Nachricht zukommen zu lassen, ein Serapeion in Opos, einer Stadt in der östlichen Lokris (Nordküste des Korinthischen Golfs), zu gründen. Als Xenainetos nach seinem zweiten Traumerlebnis erwachte, fand er einen (versiegelten) Brief unter seinem Kissen. Den händigte er nach seiner Rückkehr nach Opos an Eurynomos aus und setzte ihn mündlich über seine Vision ins Bild. Die Übereinstimmung zwischen Visionsbericht und Briefinhalt überzeugte Eurynomos. Er fügte sich dem Willen der Götter, „empfing“ (ὑπεδέξατο) Serapis und Isis und verschaffte ihnen Gastrecht im „Haus“ (οἶκος) der Sosinike, die ihrerseits die Götter in den ‚Pantheon‘ ihrer Hausgötter aufnahm und ihnen als erste ‚Hohepriesterin‘ Opfer darbrachte. Nach der Kultgründung in Opos wurde die Begebenheit wohl im 3. oder 2. Jh. v. Chr.272 in einer Inschrift dokumentiert und eine Kopie der Inschrift nach Thessalonich verbracht, wo die Begebenheit in die örtlichen Kulttradition aufgenommen wurde. Die vorhandene Inschrift stellt ein Duplikat aus dem 1./2. Jh. n. Chr. dar und wurde im Serapeion in Thessalonich aufgestellt. Der Text wurde als „fully pagan ‚missionary‘ text“ bezeichnet.273 „The story is a typical example for the missionary style of the Egyptian religion, where the god himself initiates the movement of his cult to new areas.“274 Die Inschrift belegt überdies „translocational links“ zwischen zwei geographisch weit auseinanderliegenden Vereinen.275 Die Legende lässt die Gründung des 271

Vgl. KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 357–362 (mit ausführlicher Literatur); J. C. HANGES, Paul, Founder of Churches. A Study in Light of the Evidence for the Role of „Founder-Figures“ in the Hellenistic-Roman Period, WUNT 292, Tübingen 2012, 248–259. 272 KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 360. 273 So J. G. COOK, P 50 (P.Yale I 3) and the Question of Its Function, in: T. KRAUS / T. N ICKLAS, Early Christian Manuscripts. Examples of Applied Method and Approach, TENTS 5, Leiden 2010, 115–128 (124 Anm. 64). 274 H. KOESTER, Archaeology and Paul in Thessalonikē, in: ders., Paul and His World. Interpreting the New Testament in Its Context, Minneapolis 2007, 38–54 (51). Vgl. ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 34; HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271), 25 („the personal call of the deity, by vision, dream, or oracle, is the long-established sine qua non of the Greek narrative genre of the foundation-legend and of the paradigm of the founder-figure“). 275 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 97.

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Kultvereins im Serapeion in Thessalonich beginnen (Traumerlebnis) und mündet am Ende in der Erinnerung des Geschehens in Thessalonich. Schließlich zeigt die Inschrift, dass in Kultvereinen Frauen hohe Leitungsämter innehatten. Finanzielles Engagement in Vereinen Die Zugehörigkeit zu einem Verein ging mit einem teils erheblichen finanziellen Einsatz einher, dessen Motivation und Ziel vielfältig sein konnten. Eine Inschrift aus dem 2. Jh. n. Chr., die stellvertretend für etliche verwandte Inschriften zitiert sei,276 erwähnt eine Thrakerin namens Manta, deren Kind im Alter von 26 Jahren verstorben ist. „Manta ihrem eigenen Kind Soudios … zum Andenken. Ich hinterlasse den Kalpapuritanischen Totengräbern (?) 150 Denare. Sie sollen einmal im Jahr am Rosalienfest opfern.“277 Von den Zinsen der Stiftung sollen die Ausgaben für das jährliche Fest der Rosen (rosalia) bestritten werden.278 In Philippi stand das Rosalienfest in Verbindung mit dem Dionysoskult: „Die Stiftungen werden dem Mysten des Dionysos überwiesen, der Mysterienverein soll die Rosalien begehen und jährlich am Grab des Stifters ein Rosalienmahl abhalten.“279 Ein weiteres Beispiel sind vier den Silvanuskult betreffende Inschriften, die auf der Akropolis von Philippi gefunden wurden. Darunter befinden sich aus dem 2. Jh. n. Chr. eine Mitgliederliste der Silvanusverehrer sowie eine Liste mit Spendern.280 Unter den cultores Silvani finden sich Sklaven, Freigelassene und Freie, wohingegen die städtische Elite nicht vertreten zu sein scheint. „Trotz der stattlichen Mitgliederzahlen geht es hier mehr als bescheiden zu.“281 Dennoch verwaltete der Verein beträchtliche Geldsummen, welche von den Mitgliedern angelegt wurden. Im Falle des Silvanusvereins hatte ein gewisser Publius Hostilius Philadelphus die Rolle 276

Vgl. die Aufzählung bei P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 220. P ILHOFER, Philippi II (s. Anm. 59), 29; vgl. 28–31: „Inschrift der Μάντα (029/G215)“ (mit Literatur und Kommentar); KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 33. 278 P ILHOFER, Philippi II (s. Anm. 59), 31: „Die hier verfügte Stiftung ist für Philippi spezifisch. Sie hängt aufs engste mit dem Rosalienfest zusammen.“ 279 M. P. NIELSSON, Das Rosenfest, in: ders., Opuscula selecta linguis anglica, francogallica, germanica conscripta, Band 1, Lund 1951, 311–329 (325) (zitiert bei P ILHOFER, Philippi I [s. Anm. 20], 104). 280 Zu den Silvanusinschriften insgesamt vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 108– 113; KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 315–324. Zu der Spenderliste (164/L001) vgl. P ILHOFER, Philippi II (s. Anm. 59), 205–210 (Übersetzung 207f.). Daneben EBEL, Attraktivität (s. Anm. 270), 51–53, 226f. 281 P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 109. Auf den Listen finden sich über 100 Namen. 277

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des „Kassenwarts“ inne282 und trug überdies die Kosten für die genannten Listen; auch hat er „für die zum Heiligtum Heraufsteigenden auf eigene Kosten den Felsen herausgehauen“ – also eine Art Treppe angelegt. Unter den Spenden, die dem collegium durch die Mitglieder zugeflossen sind, befinden sich sowohl Sachleistungen (z. B. 400 Dachziegel) als auch Geldbeträge von 15 bis 250 Denaren. Unter Berufung auf die genannten und einen reichen Fundus weiterer Inschriften mehren sich nun in jüngster Zeit die Stimmen, die Analogien zwischen Vereinen und frühchristlichen, paulinischen Gemeinden erkennen und die paulinische Mission als die Aktivität einer „Gründerfigur“ erweisen wollen. Der Philipperbrief wird dabei als ein Dokument gelesen, das die Beziehungsstruktur Patron-Verein voraussetzt und das dem „Vereinsgründer“ Paulus dazu dient, die Geschicke und das Verhalten seiner „Gründung“ lenken.283 6.2 Paulus als Vereinsgründer Richard S. Ascough In seiner 1997 abgeschlossenen, aber erst 2003 veröffentlichten Dissertation „Paul’s Macedonian Associations“284 hat sich Richard Ascough folgendes Programm vorgenommen: „This book attempts to summarise the nature of voluntary associations in antiquity and to raise and address a number of problematic areas for using the associations to understand the formation of Christian community, particularly Pauline communities.“ (13). Ascough macht zunächst auf den bereits notierten forschungsgeschichtlichen Sachverhalt aufmerksam, dass bereits im 19. Jh. mit großer Intensität an einem Vergleich zwischen christlichen Gemeinden und antiken Vereinen gearbeitet wurde, dieser Weg dann aber wieder abgebrochen wurde – zum einen, weil das Quellenmaterial nur schwer zugänglich war (18 Anm. 21) und zum andern, weil der jüdische Synagogenverband als Grundmodell des Vergleichs dominierte (1f.). Bekanntlich ist Ascough dem Missstand, dass große Teile des relevanten Materials verstreut und ungeordnet vorliegen, mittlerweile selbst begegnet. Zusammen mit seinem Doktorvater John Kloppenborg veröffentlichte er jüngst den ersten einer auf drei Bände angelegten Reihe mit einer Auswahl an Inschriften und Papyri zum griechisch-römischen Vereinswesen. Aus Makedonien enthält der Band 21 Texte.285 Was die Bedeutung der Synagoge für die Gestaltwerdung frühchristlicher Ge282

P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 111. Vgl. auch den Aufsatz von Markus Öhler in diesem Band. 284 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59). Schon davor ist Ascough mit Arbeiten zum Vereinswesen und zu den Verbreitungsbedingungen des Christentums hervorgetreten: vgl. u. a. R. S. ASCOUGH, What are They Saying about the Formation of Pauline Churches?, New York 1998. 285 KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 295–378. Die Herausgeber beschränken sich bewusst auf diejenigen Inschriften, die für die organisato283

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meinden angeht, so betont Ascough, dass er für das 1. Jh. (gegen das Zeugnis der Apostelgeschichte) nicht mit der Existenz von Synagogen in Makedonien rechnet und damit auch nicht mit ihrer formativen Kraft bei der Entstehung der Gemeinde in Philippi.286

Ascough versucht den Nachweis zu erbringen, dass die Gemeinde in Philippi am besten in Analogie zu einem Kultverein zu verstehen sei (110– 161): „Overall if the Philippian community is to be classified as analogous to a voluntary association, it is the religious associations rather than the professional associations that makes the best analogue“ (161).287 Außenstehende Betrachter hätten die Gemeinde als einen solchen Verein wahrgenommen, und auch die Organisationsstruktur und Praxis der Gemeinde seien einem kultischen Verein vergleichbar (114). Die Marktplatzrhetorik im Philipperbrief lasse darauf schließen, dass sich die Philippergemeinde primär aus Handwerkern und Händlern zusammensetze („lower ranks“, „lower status“, 128f.), denn Eliten hatten für das Kleingewerbe nicht viel übrig (121). Die Terminologie, mit der die Leitungsstruktur beschrieben wird – ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι (Phil 1,1) – sei so gewählt, dass sie unmittelbar an das Vereinsdenken anschlussfähig war (131). Und da Frauen regelmäßig leitende Ämter in den Vereinen bekleideten (31.34f. u. ö.), sei es auch nicht verwunderlich, dass sie auch in der Gemeinde in Philippi herausragende Rollen innehatten (vgl. Phil 4,2–3) (134). Eine weitere Analogie sieht Ascough im Gebrauch von Freundschaftsterminologie (139f.), und den Begriff κοινωνία im Philipperbrief assoziiert er mit der gebräuchlichen Vereinsbezeichnung τὸ κοινόν (142). Die Rede vom „Zins“ (vgl. Phil 4,17) und von finanziellen „Einlagen“ finde ebenso einen Widerhall in Vereinsinschriften (150f.) wie der Brauch, den Gründer mit Geldzuwendungen zu bedenken (152f.) – nur dass Paulus von der Regel abweiche, da er das Geld auch zugunsten anderer Gemeinschaften verwende. Seine eigenartig zurückhaltende Reaktion auf die Unterstützung durch die Philipper erklärt Ascough so, dass Paulus sich als Gründer der Gemeinde und als ihr Patron nicht in die Rolle des Klienten drängen lassen durfte, denn das würde ihn in die merkwürdige Lage versetzen, der Gemeinde Ehre erweisen zu müssen. Die Rollen würden dadurch vertauscht. Um das zu vermeiden, bezeichne er die Gabe als „Gerische und strukturelle Gestalt frühchristlicher Gemeinden von Bedeutung sind. „Without aspiring to a comprehensive publication of inscriptions, the present volume aims at a representative selection which illustrates the variety of types of associations, their activities, leadership structures, membership profiles, recruitment strategies, and finances“ (VII). 286 Vgl. den „Appendix: Jewish Communities in Macedonia“ (ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations [s. Anm. 59], 191–212). 287 Anders dagegen die Gemeinde in Thessalonich, die eine größere Nähe mit einer berufsständischen Vereinigung aufweise (ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations [s. Anm. 59], 162–190).

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schenk“ (δόμα) (Phil 4,17), ohne ihren finanziellen Charakter durchsichtig zu machen (154–156). Die weitreichendste Konsequenz der Arbeit Ascoughs betrifft die Frage der weithin angenommenen lokalen Begrenzung griechisch-römischer Vereine. Ascough bestreitet diese Annahme und stellt ihr eine Doppelthese entgegen: „[S]ome voluntary associations in antiquity had translocal links and … Christianity was more locally based than is often assumed. Thus, both Christian congregations and voluntary associations were locally based groups with limited translocal connections. By establishing this, what is often thought to be the greatest obstacle to the use of the associations as an analogy for early Christianity will be overcome…“ (93).288

James Constantine Hanges In seinem monumentalen Buch „Paul, Founder of Churches“ (2012),289 das auf den Philipperbrief allerdings nur beiläufig eingeht, äußert James Hanges seine grundlegende Zustimmung zum komparativen Ansatz Ascoughs und der „Toronto School“ (27 Anm. 78) und reformuliert deren These in zugespitzter Form: „[T]he emic categorization of early Christian groups was unequivocal inclusion among traditional Greco-Roman voluntary cult associations“ (7 Anm. 21). Er sieht durch Ascoughs Arbeit v. a. die These widerlegt, dass sich das Christentum gegenüber den Vereinen durch seine Universalität und Translokalität auszeichne.290 Seine eigene Fragestellung richtet sich nun auf die Rolle von Gründerfiguren in paganen Kultvereinen, und er vergleicht sie mit der Rolle des Paulus. Paulus habe sich bewusst ein aus der hellenistischen Religiosität vertrautes Rollenmodell angeeignet und seine Funktion in der Linie eines Kultvereingründers verstanden (17). Eine solche Gründerfigur vereine zahlreiche Eigenschaften und Aktivitäten auf sich, von denen jedoch die Verbreitung des Kultes herausrage („transferrer of cult“, 51.165.397). Auf der Grundlage ausgewählter Kultgründungslegenden rekonstruiert Hanges ein übergreifendes Erzählmuster: Die Gestalt des Gründers wird von der Gottheit ausgewählt (häufig durch eine Traumvision), dieser tritt als „gefährlicher, fremder Wanderprediger“ seine Mission an (378), legitimiert die Existenz des neuen Kultes und agiert als dessen Bewahrer (259). An diesem Muster habe auch Paulus sein Rollenverständnis ausgerichtet:

288 Vgl. ausführlich R. S. ASCOUGH, Local and Translocal Relationships among Voluntary Associations and Early Christianity, JECS 5 (1997), 223–241. 289 HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271). 290 Vgl. HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271), 25 Anm. 72, 38 Anm. 126, 44 Anm. 146, 253 Anm. 341 mit Verweis auf IG X/2.1 255, 416 Anm. 136.

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„Finding his way through a colonized, multi-layered world of competing hegemonies, we have seen the apostle Paul found, legitimize and contest the identity of, order and manage his ἐκκλησίαι in ways not only consistent with the ubiquitous pattern exhibited in the formation of other cultic institutions of the period, but in ways that reveal his own awareness that these patterns simply reflect the way things are done in his world“ (451).

6.3 Kritische Würdigung Vereine sind in der hellenistisch-römischen Welt allgegenwärtig. Ohne Frage waren Paulus und die Philipper mit dem Vereinswesen und -leben vertraut. Sie prägten das städtische Leben der Colonia Iulia Augusta Philippensis, und Paulus kam auf seinen Reisen mit den vielfältigsten Ausprägungen von Vereinen in Berührung. Die genannten Arbeiten vermögen interessante terminologische und sachliche Überschneidungen zwischen frühchristlichen Gemeinden und Vereinen herauszustellen. Mit Blick auf den Philipperbrief sind exemplarisch zu nennen die Sprache des Marktes und der Finanzwelt (z. B. „Einlagen“ zur Förderung des gemeinsamen „Vereinsziels“), Freundschaftsterminologie, Begriffe zur Leitungsstruktur (ἐπίσκοπος, διάκονος), die Mitgliedschaft und Leitungsverantwortung von Frauen sowie die Rolle des von Gott eingesetzten Gründers, der die „Kulttradition“ bewahrt, weiterreicht und eine Vorbildfunktion einnimmt.291 Zur paulinischen Formel vom „Geben und Nehmen“ (Phil 4,15) hat v. a. Peter Pilhofer eindrückliches Material zusammengetragen,292 das deutlich macht, dass sich der λόγος δόσεως καὶ λήμψεως „in allen Bereichen der Gesellschaft der Kolonie [findet]. Man geht nicht zu weit, wenn man ihn als ein konstitutives Prinzip dieser Gesellschaft bezeichnet. Er ist den Gliedern der Gemeinde in Philippi mithin von Kindesbeinen an vertraut.“293 Eine Hinwendung zum Christentum hatte „notwendigerweise auch eine Umorientierung des finanziellen Engagements zur Folge. Als Christ investiert man nicht in den Brunnen am Forum und nicht in den Tempel der Silvanusfreunde.“294 Schließlich belegen einzelne Inschriften, dass manche Vereine (Dionysiasten, Isis- und Serapiskollegien) nicht nur auf einen Ort begrenzt waren, sondern auch überregionale Verbindungen pflegten.

An dieser Stelle muss jedoch die kritische Rückfrage an das Paradigma des Vereins einsetzen. Sie thematisiert (1.) die immer noch virulente Frage nach der strukturellen Vergleichbarkeit von frühchristlichen Gemeinden und griechisch-römischen Vereinen, u. a. mit Blick auf ihre translokalen

291 Zur Vorbildfunktion der Gründerfigur vgl. die Hinweise von Markus Öhler im vorliegenden Band. 292 P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 148. Pilhofer stellt infrage, dass die kommerzielle Sprache im Rahmen des Freundschaftsdiskurses zu interpretieren sei. „[G]eht es hier wirklich um φιλία? Gewiß ist die Kategorie ‚Freundschaft‘ nicht völlig unangebracht, aber weder aus der Sicht des Paulus noch aus der Sicht der Christen in Philippi erfaßt sie das Wesentliche.“ 293 P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 151. 294 P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 152.

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Bezüge, (2.) die Rolle des Gemeindegründers Paulus und (3.) die formative Kraft der neuartigen christlichen Botschaft. 1. Selbst wenn der Nachweis erbracht ist, dass Vereine auch überregional vernetzt sind, so steht diese Form der Translokalität doch im Kontrast zu dem überregionalen Verbund der christlichen Gemeinden. Er geht zurück auf die „bewusst transnationale, transkulturelle und schichtenübergreifende mitgliederwerbende Mission des frühen Christentums,“ die „in ihrem Ausmaß, ihrer Geschwindigkeit und ihrem Erfolg in der Antike ohne Analogie“ ist.295 Paulus hatte hier maßgeblichen Anteil, gerade weil er seine Mission mit einer klaren strategischen Dimension betrieb. Die universale Perspektive und die Dynamik der paulinischen Missionstätigkeit widerstrebt der Vorstellung, er habe sich mit der Rolle eines lokalen Vereinspatrons identifiziert, und die These dass Paulus in einer translokal angelegten „Vereinsgründungskampagne“ hier (Philippi) einen kultischen, dort (Thessalonich) einen berufsständischen Verein gründete und sich dann als Patron dieser seiner Gründungen verstand, überzeugt noch weniger. Letztlich bleibt die überregionale Struktur des frühen Christentums eine „singuläre Erscheinung im Rahmen der in der Colonia Iulia Augusta Philippensis sonst vertretenen Kulte.“296 Die Ausschau nach „ready analogies“297 zwischen Philippergemeinde und Verein, zwischen Paulus und Vereinsgründer mag dazu verleiten, Korrespondenzen überzuinterpretieren und Differenzen zu übersehen. Es ist hier nicht nötig, alle Aspekte zu wiederholen, die christliche Gemeinden von antiken Vereinigungen strukturell unterschieden. Erinnert sei jedoch an die markantesten Wesenszüge frühchristlicher Gemeinschaftsbildung, die alle mit der neuartigen Botschaft der Christen zusammenhängen: Der Beitritt zur Gemeinde war anders als bei den Vereinen nicht mit finanziellen Hürden verknüpft, Status- und Geschlechtergrenzen wurden programmatisch in Frage gestellt und zumindest im Ansatz überwunden, die Sozialbeziehungen in den Gemeinden erreichten eine außerordentliche Intensität und Verbindlichkeit298 und schlossen die Mitglieder „in eine umfassende und exklusive Lebensgemeinschaft“ ein,299 die auch finanziellen Einsatz mit sich brachte. Was die „Translokalität“ der paulinischen Gemeinden angeht, so liegt es 295

SCHNELLE, Paulus (s. Anm. 8), 161. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 20), 138. Pilhofer veranschaulicht diese These anhand dreier Kultvereinigungen: die Verehrer des Thrakischen Reiters, die Anhänger des (griechischen) Dionysos und die Anhänger des (römischen) Silvanus. Vgl. noch T. SCHMELLER, Neutestamentliches Gruppenethos, in: J. Beutler (Hg.), Der neue Mensch in Christus. Hellenistische Anthropologie und Ethik im Neuen Testament, QD 190, Freiburg i. Br. 2001, 120–134. 297 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 3.114.190. 298 B ORMANN, Philipperbrief (s. Anm. 2), 269f. 299 SCHMELLER, Hierarchie und Egalität (s. Anm. 251), 17. 296

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m. E. näher, an eine Analogie zur Synagoge (und zu philosophischen Schulen) zu denken als an eine Nähe zum Vereinswesen. Mehrfach stellt Ascough klar, dass es ihm keineswegs darum gehe, das Judentum und seine Prägekraft bei die Entstehung der paulinischen Gemeinden „herabzusetzen“, 300 doch so recht mag man ihm das nicht abnehmen. Paulus jedenfalls macht in Ascoughs Darstellung den Eindruck, als ob er seine jüdische Herkunft und Bildung gänzlich hintanstellt oder gar verleugnet und sich die sprachlichen und strukturellen Gepflogenheiten des philippischen Vereinsdenkens restlos aneignet. Zu hinterfragen ist auch Ascoughs negative Beurteilung der historischen Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte. Um den dominanten Einfluss des Vereinswesens auf die Herausbildung der christlichen Gemeindestruktur herauszustellen, muss er den jüdischen möglichst gering halten; die lukanische Berichterstattung wird ihm historisch wertlos, gerade auch, was die Existenz jüdischer Gemeinschaften im mazedonischen Raum angeht. Diese negative Einschätzung der Apostelgeschichte, die für seine These nicht unbedeutend ist, entspricht nicht dem aktuellen Diskussionsstand zur Apostelgeschichte.301 Um seine Argumentation zu stärken, konstruiert Ascough einen scharfen Gegensatz zwischen Verein und Synagoge, so dass es ihm gar nicht in den Sinn kommen kann, dass es auch zwischen Diasporasynagogen und Vereinen einander korrespondierende Organisationsstrukturen und Praktiken gegeben hat.302

2. Auch im Blick auf das Verhältnis des Gemeindegründers Paulus303 zu den Philippern fallen Besonderheiten ins Auge, die nicht aus dem Vereinsmodell ableitbar sind und ebenfalls von den christologischen Grundanschauungen motiviert sind: Bereits genannt wurde die ausgeprägte 300

Vgl. z. B. ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 1.133 Anm. 104.191 („disparage“). 301 Zur Begründung verweist er lediglich auf die Arbeiten von Haenchen und Lüdemann (ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations [s. Anm. 59], 192 Anm. 4). Vgl. die differenzierte Sicht bei D. MARGUERAT, Lukas, der erste christliche Historiker. Eine Studie zur Apostelgeschichte, AThANT 92, Zürich 2011, 15–31. 302 Z. B. legt Ascough den Sachverhalt, dass die Bezeichnungen ἐπίσκοποι und διάκονοι (Phil 1,1) auch in den Vereinen gebräuchlich sind, einseitig dahingehend aus „that at Philippi the leadership structure of the Christian community has adopted nomenclature that would immediately be understood in light of its use among voluntary associations“ (ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations [s. Anm. 59], 131). Dabei berücksichtigt er nicht ausreichend, dass „beide Bezeichnungen weit über christliche Gemeinden und antike Vereine hinaus verbreitet [sind]“ (so C. STENSCHKE, Rezension von R. S. Ascough, Paul’s Macedonian Associations und E. Ebel, Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden, NT 53 [2011], 300–306 [302]) und dass Paulus – ihm vielleicht mehr als den Philippern – auch der jüdische Verwendungszusammenhang vor Augen stand. Zur Verhältnisbestimmung Verein – Synagoge – Philosophenschule vgl. z. B. B ARCLAY, Introduction (s. Anm. 6), 14: „Jewish communities in the Diaspora constituted a form of ethnic ‚association‘… Pauline assemblies … bore some resemblance to Jewish associations… In fact, we might say, they are most like Diaspora synagogues at the point where both assemblies and synagogues were most like philosophical schools.“ 303 Nicht reflektiert wird übrigens der Umstand, dass die christliche Gemeinde in Philippi nach Ausweis von Apg 16 drei Gründer (Vereinspatrone?) hat: Paulus, Silas und Timotheus.

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Missionstätigkeit des Paulus, die in keinem Vereinstext eine Parallele findet, auch nicht in einem „‚missionary‘ text“ wie dem eingangs erwähnten. Hinzu kommt, dass Paulus zwar mehrfach seine göttliche Legitimierung betont – auch im Philipperbrief (vgl. bereits im Präskript: δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ), zugleich aber unmissverständlich klar macht, dass nicht er für das (eschatologische!) Geschick seiner Gründung verantwortlich ist, sondern Gott (Phil 1,6); eine solche vermittelnde Funktion ist für einen Vereinsgründer nicht vorgesehen. Des Weiteren ist zwar zutreffend, dass Paulus in Analogie zum Selbstverständnis einer Gründerfigur in das Gemeinschaftsleben eingreift und sich zum Vorbild stilisiert. Doch erfolgt dies im Falle des Paulus aus der Distanz mittels Briefen, und es geht Paulus nicht darum, durch das Wohlverhalten der Philipper sein patronales Prestige zu mehren, sondern um die δόξα θεοῦ πατρός (2,11; vgl. 1,11). Paulus verbindet sich mit den Philippern im Anliegen, durch den Anschluss an Jesus Christus und zugunsten der Gemeinschaft freiwillig auf Ehre zu verzichten. Ein solches Ansinnen musste seinen Adressaten „weitgehend fremd“ anmuten.304 „[It] presupposes a wholesale inversion of the relational orientation of the dominant culture.“305 Auch der Umstand, dass ein „Gründer“ auf die finanziellen Zuwendungen seiner Gründung angewiesen ist, kommt einer Umkehrung der gängigen Praxis gleich, da sich eigentlich der Vereinspatron um die finanzielle Ausstattung des Vereins kümmert. Dass Paulus verklausuliert vom δόμα (4,17) spricht, um dem Anschein eines Rollentausches innerhalb des Patron-Klient-Verhältnisses zu entgehen, ist wenig plausibel. Fast schon kurios ist der Versuch, auch Phil 3,9 vor dem Hintergrund des Vereinswesens zu verstehen: Ein gemeinschaftsorienterter Vereinspatron strebe die Tugend der δικαιοσύνη an; als Gefangenem seien Paulus die Hände gebunden, so dass er keine „eigene Gerechtigkeit“ erweisen kann und auf die Gerechtigkeit angewiesen ist, die „von Gott“ kommt. 306

3. Im Resultat stehen die spezifischen Wesenszüge der christlichen Gemeinschaft aus der Sicht der vereinserfahrenen Philipper für eine Neukonfiguration ihres Wertesystems: Sie zeigt sich in der kultischen Verehrung einer jüdischen Gottheit, die alle göttlichen Merkmale preisgab und einen schändlichen Tod starb, und in der Hochachtung einer Gründerfigur, die einen unehrenhaften Ruf genoss, gegen die es auch in Philippi zu Maßnahmen gekommen war (vgl. 1Thess 2,2; Apg 16,19–24), die finanziell am Tropf seiner Unterstützer hängt und die mit Ausnahme von einzelnen Be304

W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik (s. Anm. 35), 155. J. H. HELLERMAN, Reconstructing Honor in Roman Philippi. Carmen Christi as Cursus Pudorum, SNTS.MS 132, Cambridge 2005, 129. 306 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 156 Anm. 210 unter Berufung auf F. W. DANKER, Benefactor. Epigraphic Study of a Graeco-Roman and New Testament Semantic Field, St. Louis 1982, 669. 305

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suchen durch Abwesenheit glänzt.307 Äußern sich in diesen Wesenszügen lediglich Variationen des Standardmodells, die nicht überinterpretiert werden dürfen? Stehen sie gar schlicht für den Wettbewerbsvorteil der Christen auf dem „Markt der religiös-geselligen Möglichkeiten“, der ihre Gruppe als einen neuen Kultverein für die Bevölkerung attraktiv erscheinen ließ? Mir scheinen sie durchaus etwas Neuartiges anzuzeigen, das nicht einfach lückenlos aus dem kulturell Vorfindlichen erklärbar wäre. In jedem Fall sollte die differentia specifica der christlichen Gemeinden vor einem allzu großen Optimismus warnen, der sich in Thesen wie den folgenden Ausdruck verschafft: dass sich die Christusgläubigen absichtsvoll in die Reihe der griechisch-römischen Vereine einordneten308 und ihr Gemeindeleben an der Struktur und Praxis der Vereine ausrichteten,309 oder dass Paulus entschlossen in die Rolle eines Vereinsgründers schlüpfte310 und die Gemeinde in Philippi ausdrücklich in Analogie zu einem (kultischen) Verein formte und leitete.

7 Zusammenfassung Die vorliegende „Inventur“ und Auswertung einer über 35jährigen Forschungsphase konzentrierte sich auf ein Spezialproblem der sozialgeschichtlich interessierten Paulusexegese: dem Verhältnis des Apostels zu „seinen“ Philippern. Die am häufigsten herangezogenen und als Dialogpartner in Frage kommenden Quellen wurden mit Blick auf diese Sachfrage skizziert, die für den Verstehenshorizont relevanten sozialen Paradigmen analysiert und die wesentlichen Forschungsbeiträge besprochen. Am Ende soll der Ertrag der Studie in fünf Etappen zusammengefasst werden: (1.) zur sozialgeschichtlichen Fragestellung, (2.) die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene, (3.) das Problem einliniger Erklärungsmodelle und (4.) eine Verhältnisbestimmung von Soziologie und Theologie. Den Schluss bildet (5.) ein knappes Resümee zur Ausgangsfrage nach dem Verhältnis zwischen Paulus und „seinen“ Philippern. 307 Nachdem Paulus die Philippergemeinde zusammen mit Silas und Timotheus auf der sog. Zweiten Missionsreise gegründet hatte (im Jahr 49/50 n. Chr.; vgl. Apg 16,11– 40), besuchte er sie mindestens noch ein weiteres Mal, als er unterwegs nach Jerusalem war (vgl. Apg 20,6). 308 So HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271), 7 Anm. 21. 309 Vgl. KLOPPENBORG / ASCOUGH, Greco-Roman Associations (s. Anm. 59), 13: „Christ-groups did not originate or flourish in a cultural vacuum; given the density and distribution of associations throughout the Mediterranean, it is inevitable that Christgroups came into contact with numerous associations and formed their polity and practices by imitating and adapting the practices they observed.“ 310 HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271), 17.

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7.1 Zur sozialgeschichtlichen Fragestellung: Vom „Hintergrund“ zum „Ökosystem“ Abraham Malherbe zeichnete jüngst die methodologische Entwicklung der religionsgeschichtlichen Erforschung des frühen Christentums anschaulich anhand von dominanten Forschungsparadigmen nach.311 Die lange Zeit vorherrschende Rede vom „Hintergrund“ des frühen Christentums wurde abgelöst durch die Begriffe „Umwelt“ bzw. „Kontext“, um deutlich zu machen, dass die antike Welt nicht lediglich die Bühne des frühen Christentums ist, auf der sich das Eigentliche abspielt. Während die Rede von der „Umwelt“ bzw. dem „Kontext“ des frühen Christentums der antiken Welt eine aktive, formative Rolle einräumt, bleibt es – so Malherbe – dennoch bei einem weitgehend statischen Bild. Er bevorzugt das Bild eines komplexen „Ökosystems“ (ecology), in dem die verschiedensten kulturellen, intellektuellen und sozialen Traditionen beheimatet sind, gemeinsamen Existenzbedingungen und denselben externen Einflüssen ausgesetzt sind, ihre eigene Dynamik entfalten und in vielfacher Weise miteinander interagieren.312 Mit einer solchen Sicht der Dinge wird der Anspruch obsolet, eindeutige genealogische Verhältnisbestimmungen oder eindeutige religionsgeschichtliche Ableitungen zwischen Texten, Traditionen oder sozialen Vollzügen zu konstruieren.313 Die Kategorien der societas, der Freundschaft, der Wohltätigkeit, des Patronats und des Vereinslebens lassen sich m. E. als solche Elemente verstehen, die in ihrer je eigenen Geschichte, Integrität und Dynamik aufeinander bezogen sind. Frühchristliche Sozial- und Interaktionsformen stehen nicht isoliert, sondern sind Teil des antiken „Ökosystems“ und bilden darin wie alle kulturellen Phänomene ihr eigenes Profil heraus, indem sie Impulse aufnehmen und (mehr oder weniger reflektiert) verarbeiten. Hinsichtlich des paulinischen Verhältnisses zu den Philippern verdienen 311

Zum Folgenden vgl. MALHERBE, Introduction (s. Anm. 7), 3f. MALHERBE, Introduction (s. Anm. 7), 4: „I use ecology … as a concern ‚with the interrelationship of organisms and their environments‘“ (so nach der Definition des Merriam-Webster’s Collegiate Dictionary). „The point is, then, that we are dealing with an environment in which there is movement as particular elements, with their own integrity, are stimulated or react as they come in contact with similar or different elements that are responding to the same stimuli, or that they evolve within their context as they respond with an awareness of the larger environment.“ 313 Es ist aufschlussreich, wie Malherbe selbst seine ursprünglich stoische Kontextualisierung der paulinischen αὐτάρκεια-Figur (s. o.) revidiert: „I suggest, then, that the notion of αὐτάρκεια not be viewed in isolation or in light of a Stoic view, but that the range be extended to include various options proposed in the moral discourse of the day. That places Paul in his ecological environment, where he is one among other moralists. As they conceived of the virtue in terms of their own commitments, so does Paul make sense of it within his theological framework“ (MALHERBE, Introduction [s. Anm. 7], 7). 312

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daher zwei Aspekte Beachtung: Erstens, die Komplexität der antiken sozialen Beziehungsformen und Konventionen, in welche die Gemeindebeziehungen des Paulus einzuzeichnen sind, und zweitens, die Unzulänglichkeit einliniger Herleitungen und Erklärungsmodelle für die Rekonstruktion seines Verhältnisses zu den Philippern. 7.2 Die Vielschichtigkeit sozialer Phänomene Die Gliederung des vorliegenden Beitrags mag den Eindruck erwecken, dass sich die besprochenen sozialen und ethischen Paradigmen sowohl klar definieren als auch scharf voneinander abgrenzen lassen. Weder das eine noch das andere ist der Fall. Gleichwohl ist die vorgenommene Unterscheidung sinnvoll, weil die einzelnen Phänomene je eigene Spezifika aufweisen und sich auf bestimmte antike Texte und dokumentarische Quellen berufen können. Eine societas (unius rei) ist eine vertragsbasierte Partnerschaft, mit dem zwei Teilhaber einen externen „Geschäftszweck“ verfolgen, das antike Freundschaftsverhältnis hingegen ein „Interaktionsverdichtungsmodell,“314 das in seiner von Aristoteles, Cicero oder Seneca hochgehaltenen Idealgestalt statusgleiche Individuen in einer ethisch konnotierten und um ihrer selbst willen existierenden Gemeinschaft zusammenbindet.315 Ein Patronatsverhältnis zeichnet sich dadurch aus, dass ein wohlhabender Mann „eine Gruppe von sozial niedriger gestellten Freien/Freigelassenen um sich schart und sie gegen Ehrbezeigung finanziell unterstützt.“316 Das Benefizialwesen wiederum beschreibt Seneca als einen Austausch von Wohltaten, der aus freien Stücken erfolgt und in dem der Nutznießer zwar im Sinne des Gegenseitigkeitsethos in die Pflicht genommen wird, er aber die Gabe schon dadurch vergelten kann, dass er sie „mit guten Gedanken“ empfängt. Ein antiker Verein schließlich stellt ein durch Freiwilligkeit ausgezeichnetes, durch je eigene Regularien und Usancen organisiertes soziales Netzwerk dar („voluntary association“), das „Sozialformen und Ordnungsmuster von Haus und Stadt kombiniert“317 und in dem ein kultisches Element konstitutiv ist. Wie eng die genannten Phänomene im Gewebe antiker Sozialbeziehungen miteinander verflochten sind, mag am Beispiel der Freundschaft deutlich werden. Jede antike Freund314

LUHMANN, Soziale Systeme (s. Anm. 162), 577. Vgl. das häufig zitierte Bonmot Friedrich Nietzsches: Freundschaft ist „[d]as Höchste, was die bewußte Ethik der Alten erreicht hat.“ F. N IETZSCHE, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 7: Nachgelassene Fragmente (hg. von G. Colli und M. Montinari), München/Berlin 1980, 25, (inkorrekt) zitiert u. a. bei METZNER, In aller Freundschaft (s. Anm. 143), 111. 316 M. EBNER, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen, Das Urchristentum in seiner Umwelt 1, GNT 1.1, Göttingen 2012, 386. 317 So z. B. EBNER, Stadt (s. Anm. 316), 190. 315

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schaft stellt eine Austauschbeziehung dar, die sich aus dem gegenseitigen Geben und Nehmen von (möglichst gleichwertigen) Wohltaten nährt. Sie kann aber auch (vorübergehend) die Gestalt einer Patron-Klient-Beziehung annehmen, etwa dann, wenn eine Seite die erwiesene Gunst nicht mehr mit ebenbürtigen Gegenleistungen erwidern kann. Oder es kann eine Patron-Klient-Beziehung auf Freundschaft hin angelegt sein, wenn sich beispielsweise „junge Männer am Beginn ihrer Karriere unter die Protektion eines älteren, arrivierten Mannes“ stellen.318 Grundsätzlich basiert eine ‚idealtypische‘ Freundschaft aber darauf, dass Statusgleichheit besteht oder möglich ist, während ein Patronatsverhältnis Statusgleichheit ausschließt. Sowohl in einem Freundschafts- als auch in einem Patronatsverhältnis spielen beneficia (Geld, Naturalien, soziale Fürsorge) eine entscheidende Rolle, doch sind sie im Falle der (‚idealen‘) Freundschaft in einen „höchst ehrenwerten Wettstreit“ über Wohltätigkeiten eingebunden und im Falle des Patronats in das pragmatische Kalkül, durch öffentliche Ehrerweise der Klientel Ansehen zu mehren. Eine vertrauensvolle Beziehung im Geist der Freundschaft wird selbstverständlich auch in einer geschäftlichen Zusammenarbeit (societas) begrüßt,319 weshalb Geschäftspartnerschaften auch gerne innerhalb einer familia oder eines collegium geschlossen wurden. Es kann daher auch nicht überraschen, dass in Vereinsinschriften ein weites Spektrum an Freundschaftsterminologie anzutreffen ist.320 In diesen knappen Andeutungen zur Stellung der Freundschaft, die weiter auszudifferenzieren wären, wird die Komplexität antiker Beziehungs- und Sozialformen deutlich.

7.3 Das Problem einliniger Erklärungsmodelle Paulus’ Beziehung zu den Philippern hat ihren Ort in diesen miteinander verflochtenen Sozialstrukturen der antiken Welt und sperrt sich gegen eindimensionale sozialgeschichtliche Herleitungen. Markus Bockmuehl hat mit Recht ein „Schubladendenken“ („pigeonholing“) kritisiert, das den Befund des Philipperbriefes in das jeweils präferierte Modell einzwängt, Unterschiede kleinredet und Konvergenzen und Analogien überbetont.321 Er warnt zudem vor der Versuchung, das herangezogene Vergleichsmaterial allzu schematisch und präskriptiv auf die paulinischen Texte anzuwenden.322 In der Tat wurde in den vorgestellten Studien kaum je darüber reflektiert, wie sowohl das Sachinteresse als auch der materiale Ausgangspunkt einer Analyse auf ihr Ergebnis einwirkt. Denn je nachdem, welche Brille aufgesetzt wird, schärft sich der Blick für Begriffe und Vorstellungen eines bestimmten sozialen Paradigmas, während andere 318

Vgl. SCHMELLER, Hierarchie und Egalität (s. Anm. 251), 23. Zur Rolle der Freundschaft (amicitia) in einer societas vgl. K. VERBOVEN, The Economy of Friends. Economic Aspects of Amicitia and Patronage in the Late Republic, Brüssel 2002, 279–281. Vgl. auch die Kritik Ogereaus gegenüber Peterman: „Introducing a dichotomy between social reciprocity and business interaction, or between friendship and commercial partnership, ultimately leads to an inadequate appreciation of the social reality of the ancient world“ (OGEREAU, Paul’s Koinonia [s. Anm. 2], 39). 320 Vgl. ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 140. 321 B OCKMUEHL, Rez. Bormann (s. Anm. 263), 238. 322 B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 37. 319

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ausgeblendet werden. Nicht selten wird zeitlich, sachlich und geographisch disparates Quellenmaterial angehäuft, um die Überzeugungskraft der eigenen Theorie zu stärken. „Eindrücklich“ ist auch umgekehrt, was manche Interpreten auf der Grundlage des kleinen Paulustextes „alles über die erste Christengemeinde in Philippi und ihr Verhältnis zu Paulus wissen zu können mein[en].“323 Was Paulus nicht sagt, wird in den Text eingetragen, was er sagt überinterpretiert. Schließlich fällt das mangelnde Bewusstsein dafür auf, wie auch in der Exegese Design und Realisierung von Forschungsprojekten durch Moden und Trends bestimmt werden.324 Zu hinterfragen sind folglich v. a. diejenigen Ansätze, die das jeweils propagierte Erklärungsmodell allzu optimistisch in Anschlag bringen und etwa behaupten, dass Paulus systematisch und mit Bedacht die Muster des antiken Vereinsmanagements umgesetzt habe (J. C. Hanges) oder skrupulös den ökonomischen Konventionen einer societas gefolgt sei (J. M. Ogereau); noch problematischer ist es, wenn sich Joseph Marchal gar nicht mehr dafür interessiert, ob Freundschaftsrhetorik zur Anwendung kommt, sondern nur noch, wie dies geschieht.325 Die Mehrzahl der besprochenen Arbeiten gibt sich weniger zuversichtlich und intendiert keine volle Identifikation der paulinischen Gemeindebeziehung mit einem antiken sozialen Paradigma. Wo größere methodische Sorgfalt waltet, sind die Ergebnisse weniger eindeutig. Der Abstand zum gewählten „Idealmodell“ wird kenntlich gemacht durch qualifizierende Wendungen – z. B. „patronal friendship“ (P. Marshall),326 „emanzipierte Klientel“ (L. Bormann)327 – oder durch einschränkende Reflexionen: Beispielsweise betont Paul Sampley, dass Paulus bestimmte Wesenszüge der societas nach den situativen Erfordernissen anpasste und bei Bedarf auch auf andere Gemeinschaftsformen zurückgreifen konnte,328 Martin Ebner stellt heraus, dass die Rolle des Paulus changiert vom Freund über den Bankbeamten zum Priester, und Richard Ascough weist darauf hin, dass Paulus gängige „Vereinssatzun323

So die Kritik Martin Reses an die Adresse Bormanns (M. RESE, Rez. von L. Bormann, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, ThZ 54 [1998], 178f. [179]). 324 War die Diskussion der paulinischen Sozialbeziehungen in den 90er Jahren fast ausschließlich auf das Thema Freundschaft konzentriert, so erlebt das Studium des Vereinswesens seit einigen Jahren eine neue Blüte. Vgl. zu diesem Problem jetzt grundsätzlich L. W. HURTADO, Fashions, Fallacies and Future Prospects in New Testament Studies, JSNT 36 (2014), 299–324. 325 MARCHAL, With Friends Like These (s. Anm. 96), 82f.; vgl. 95: „[T]his article seeks to initiate a shift in emphasis from whether these types of images are used to how they are deployed rhetorically“. 326 MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 143; vgl. MARCHAL, With Friends Like These (s. Anm. 96), 92. 327 B ORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 206–217. 328 SAMPLEY, Pauline Partnership (s. Anm. 70), 113f.

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gen“ variierte, indem er die finanziellen Mittel auch zugunsten von anderen „Vereinen“ einsetzte.329 In solchen Formulierungen und Gedankengängen zeigt sich die Einsicht, dass sich Paulus’ Beziehung zu den Philippern nicht in das Prokrustesbett eines vorausgesetzten Idealmodells einzwängen lässt (das ohnehin ‚nur‘ ein wissenschaftliches Konstrukt ist). 7.4 Eine Verhältnisbestimmung von Soziologie und Theologie

Damit ist eine hermeneutische Frage verknüpft: Wie und worin wird die den Philipperbrief beherrschende christologische bzw. theologische Perspektive fassbar und wie wirkt sie sich auf die Gestalt des paulinischen Verhältnisses zu den Philippern aus? Offensichtlich erzeugt auch sie „Überstände“, die in einem Standardmodell nicht darstellbar sind – mehr noch: sie motiviert ein charakteristisches „Mehr“, in dem sich das Auftreten neuer sozialer Formen anzeigt. Die vorgestellten Arbeiten suchen solche theologisch begründeten Überhänge mit einschlägigen Formulierungen zu fassen wie societas Christi (J. P. Sampley),330 societas evangelii (J. M. Ogereau),331 Freundschaft unter dem Diktat des Evangeliums (P. Marshall),332 „Koinonia mit Gott“ (M. Ebner),333 „Christian giving“ (G. Peterman),334 „theology of giving and receiving“ (D. E. Briones),335 die „gemeinsame Sache“ des Evangeliums (L. Bormann),336 oder „Christian ‚association‘“ (R. S. Ascough).337 Doch was ist damit gemeint? Solche Schlagwörter stellen vor das Problem der Zuordnung von sozialer Form und theologischer Formatierung. Alle vorgestellten Ansätze sind zwischen zwei Extremen anzusiedeln: Auf der einen Seite steht ein theologisches Auslegungsparadigma, das von einer „sakralen Sozialität“ des frühen Christentums ausgeht, die Priorität der Eigenaussagen des Paulus im Philipperbrief betont und auf von außen herangetragene soziologische Erklärungsmodelle verzichtet. Auf der anderen Seite steht ein sozialgeschichtliches Auslegungsparadigma, das die frühchristlichen Sozialformen ganz vor dem Hintergrund antiker sozialer Konventionen und Konstrukte versteht, ihre Eigentümlichkeit minimiert ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 152f. SAMPLEY, Pauline Partnership (s. Anm. 70), 72. 331 OGEREAU, Paul’s Koinonia (s. Anm. 2), 25.338.349. 332 MARSHALL, Enmity in Corinth (s. Anm. 19), 164: „… Paul is willing to diverge from the norm and follow what he considers are the dictates of the gospel.“ 333 EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 15), 364. 334 PETERMAN, Paul’s Gift from Philippi (s. Anm. 54) (Untertitel). 335 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 21f.25.226; vgl. 18 u. ö. („economy of χάρις“). 336 BORMANN, Philippi (s. Anm. 2), 214; vgl. 120.212. 337 ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations (s. Anm. 59), 133. 329 330

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und das spezifisch christliche „Mehr“ zur quantité négligeable erklärt. Keine der vorgestellten Arbeiten ist in das eine oder andere Extrem einzuordnen (und längst nicht alle reflektieren das hermeneutische Problem). Doch geben die Resultate der Forschungsarbeiten ihre Tendenz klar zu erkennen. In der Analyse von Gerald Peterman beispielsweise ist die soziale Umwelt für Paulus lediglich ein Nebenschauplatz. Das Evangelium überragt alles,338 auch seine Austauschbeziehung mit den Philippern, welche letztlich eine Sozialform sui generis darstelle und nicht mit zeitgenössischen Modellen kommensurabel sei. Ganz anders die von postkolonialer Hermeneutik inspirierte Einschätzung von James Hanges: „Christianity, or more accurately, the cultural forms associated with it, can no longer be protected from the convulsive realities of cultural encounter. All attempts to do so are simply methodologically obsolete, if not embarrassingly obviously apologetic, strategies to insist that selected difference is diagnostic and thereby sufficient to distinguish Christian phenomena from inclusion in a higher order category, particularly Greek or Roman genera.“339 In den Arbeiten von Peterman und Hanges, die anderthalb Jahrzehnte auseinanderliegen, dokumentiert sich nicht nur ein divergierender individueller hermeneutischer Ansatz, sondern auch eine übergreifende Tendenz in der Forschung, die einem kulturellen Sonderstatus des Christentums und seiner Sozialformen zunehmend skeptisch gegenübersteht.

Eine recht sensible Auseinandersetzung mit der Fragestellung bietet David Briones’ vermittelnde Position, die „Soziologie“ und „Theologie“ in einem Ansatz kombiniert und aufeinander bezieht. „This dialectical relationship between sociology and theology will not only demonstrate that Paul, as a theologian, engaged in and influenced by the social practices of his cultural milieu, but that his social context also naturally influenced his theology. Both played a pivotal role in constructing Paul’s monetary policy.“340 Mit seinem „socio-theological approach“ versucht er, der Dialektik zwischen Soziologie und Theologie gerecht zu werden,341 doch bleiben die beiden Größen zwei voneinander geschiedene, gleichberechtigte Analysekategorien. Im Bild gesprochen: Soziologie und Theologie existieren nebeneinander – nun nicht mehr als Feinde, sondern als Freunde.342 338 PETERMAN, Paul’s Gift from Philippi (s. Anm. 54), 8. Peterman betont wiederholt, dass Paulus sein Verhältnis zu den Philippern zwar in Worte kleide, deren Semantik auf das antike Gegenseitigkeitsideal verweise, doch diese Korrespondenz spiele sich nur auf einer sehr allgemeinen Ebene ab. „Partnerschaft im Evangelium“ sei ein einzigartiges Verhältnis und bedürfe letztlich einer eigenen Definition. Der Apostel wusste um die Kraft sozialer Reziprozität, aber: „Paul always gave the gospel top priority… [T]he advance of the gospel message, both its geographic spread and the obedience to it rendered by individuals, was of the utmost importance.“ 339 HANGES, Paul, Founder of Churches (s. Anm. 271), 12. 340 BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 19. 341 Vgl. BRIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 19–23. 342 Vgl. B RIONES, Paul’s Financial Policy (s. Anm. 45), 21: „They [sc. sociology and theology] now exist peaceably as friends rather than antagonistically as foes.“

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Die Figur eines schiedlich-friedlichen Nebeneinanders von Soziologie und Theologie scheint mir allerdings das komplexe Sachproblem nicht hinreichend zu erfassen. Weiterführend mag ein Gedankenexperiment sein, das die sozialgeschichtliche Perspektive auf das frühe Christentum mit der sprachgeschichtlichen in Analogie setzt, um so das Neu- und Andersartige christlicher Sozialformen in der formativen Phase des frühen Christentums in den Blick zu bekommen. In seinen revolutionären philologischen Studien kämpfte Adolf Deissmann zeit seines Lebens gegen das Postulat einer „sakrale[n] Gräcität des Urchristentums“,343 indem er zu zeigen versuchte, dass die neutestamentlichen Autoren sich keineswegs einer spezifischen „heiligen“ Sprache, sondern schlicht und einfach der Koine bedienten. Sein erklärtes Ziel war die Säkularisierung der dogmatischen Philologia sacra.344 Gleichwohl rechnete Deißmann damit, dass das Christentum wie alle „neuen Kulturbewegungen“ neue Begriffe prägte und bestehende Ausdrucksmöglichkeiten modifizierte: „die Vertreter eigenartiger Gedanken bereichern die Sprache stets durch individuelle Begriffe. Diese Bereicherung erstreckt sich aber nicht auf die ‚Syntax‘, deren Gesetze vielmehr auf neutralem Boden entstehen und sich modificieren.“345 Die vergangenen Jahrzehnte intensiver sozialgeschichtlicher Erforschung des Neuen Testaments haben mit Erfolg und zu Recht das Postulat einer „sakralen Sozialität“ des früheren Christentums kritisiert und eine dogmatische Sociologia sacra „säkularisiert“. Das frühe Christentum hat keine „sakralen“ Sozialformen herausgebildet, sondern wurzelt im „neutralen“ Boden der zeitgenössischen sozialen Gegebenheiten, der antiken „ecology“. Spezifisch christlich ist nicht die „Grammatik“ des Zusammenlebens, sondern die in der Kulturbewegung des Christentums erfolgte Bereicherung und Adaption vorhandener Ausdrucksformen. Die ersten Christen vertraten in ihrem kulturellen und sozialen Umfeld „eigenartige Gedanken“ und machten dadurch auf sich aufmerksam, dass ihre „Gedanken“ ihr Miteinander durchdrang und vorfindliche Traditionen und Konventionen durch individuelle Aspekte bereicherte und veränderte. Für Deissmann bedeutete der Abschied von der Philologia sacra gerade den Durchbruch zum „wirklichen Sacrum“, nämlich „zur prädogmatischen, naiven Frömmigkeit des Meisters und seiner alsbald sich um ihn im Kult scharenden Gemeinde.“346 Mit etwas weniger Pathos könnte man mit dem Abschied von einer Sociologia sacra das Ziel verbinden, jenseits apologe343 A. DEISSMANN, Bibelstudien. Beiträge, zumeist aus den Papyri und Inschriften, zur Geschichte der Sprache, des Schrifttums und der Religion des hellenistischen Judentums und des Urchristentums, Marburg 1895, 59. 344 A. DEISSMANN, Adolf Deissmann, in: E. Stange (Hg.), Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1925, 42–78 (62). 345 DEISSMANN, Bibelstudien (s. Anm. 343), 59 Anm. 1. 346 DEISSMANN, Adolf Deissmann (s. Anm. 344), 62.

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tischer Befangenheit das Eigenprofil und die Singularität christlicher Sozialformen herauszuarbeiten. Die „theologische“ Dimension der sozialgeschichtlichen Fragestellung besteht dann darin, das neuartige Gedankengut als die treibende Kraft hinter der selektiven Aneignung und den inkommensurablen „Überständen“ kenntlich zu machen und ihre schöpferische Wirkung auf die Formatierung sozialer Beziehungen nachzuvollziehen. So würde erkennbar, dass die frühchristlichen Gemeinden zwar in ein komplexes kulturell-religiöses „Ökosystem“ eingebettet sind, sich aber vorschnellen und vollständigen Identifikationen mit hellenistischrömischen sozialen Paradigmen verweigern. Wie alle kulturprägenden geschichtlichen Phänomene weisen sie ein „eklatantes ‚Mehr‘ auf, das durch Sprünge und Brüche entsteht“ und zu einer „Neukonfiguration“ der vorhandenen Paradigmen führt, die „weder … vorhersehbar noch nachträglich herleitbar“ ist.347 In diesem Sinn kann auch die Zusammenschau der facettenreichen sozialgeschichtlichen Erforschung der Beziehung des Paulus zu „seinen“ Philippern deutlich machen, dass die paulinische κοινωνία weder ohne das Bisherige und Vorhandene denkbar, noch auf das Vorfindliche reduzierbar ist. 7.5 Paulus und „seine“ Philipper Die „Neukonfiguration“ vorhandener Paradigmen und Denkmuster zeigt sich schon darin an, dass mit Paulus ein jüdischer Apostel offensiv Heidenmission betreibt, zum Glauben an einen jüdischen Messias als σωτήρ auffordert und Gemeinschaften gründet, die gleichermaßen aus Juden und Heiden zusammengesetzt sind und die er als „Heilige in Christus Jesus“ ansprechen kann (Phil 1,1).348 Überdies fordert er programmatisch die Nonkonformität mit den gesellschaftlichen Idealen des Imperium Romanum (1,27) und erklärt das himmlische Bürgerrecht zum wahrhaft erstrebenswerten (3,20). Die treibende Kraft, die ihn entsprechend seiner Selbstdarstellung zu seinem Engagement motiviert, entspringt der „individuellen Dynamik des Christusgeschehens.“349 Daraus ergibt sich auch die grundlegende christologische Formatierung, seine „vision of Christ“,350 die sein Schreiben an die Philipper vom ersten bis zum letzten Vers kennzeichnet und mit der er seine Beziehung zur Philippergemeinde charakterisiert (1,5). Schon allein deshalb wäre es sicher verfehlt, die fi347 So HAMM, Die Emergenz der Reformation (s. Anm. 10), 16.18. Vgl. die emergenztheoretischen Studien in dem Aufsatzband W. Krohn / G. Küppers (Hg.), Emergenz. Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, stw 984, Frankfurt a. M. 1992. 348 Vgl. B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 38. 349 So BORMANN, Philipperbrief (s. Anm. 2), 269. 350 S. E. P ORTER / C. D. LAND, Paul and His Social Relations: An Introduction, in: dies. (Hg.), Paul and His Social Relations (s. Anm. 227), 1–6 (3).

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nanzielle Transaktion oder die Austauschbeziehung an sich zum Schlüssel des Philipperbriefes zu erklären.351 Indessen war Paulus auch als δοῦλος Χριστοῦ Ἰησοῦ (1,1) Kind seiner Zeit. Seine Sprach- und Denkwelt ist Teil des zeitgenössischen kulturellen Milieus, er war durch seine Ausbildung und seine Reisetätigkeit mit den hellenistisch-römischen sozialen Codes und Konventionen vertraut, und er war in der Lage, auf relevante Diskurse einzugehen, Geistestraditionen aufzunehmen und zu verarbeiten. Seine Briefe zeichnen sich durch ein hohes Maß an kommunikativer Kompetenz und argumentativer Strategie aus, die nicht zuletzt die religiöse Sozialisierung der Angesprochenen und lokale Eigenheiten der Adressatengemeinden berücksichtigen. Die Erkenntnisse der diskutierten sozialgeschichtlichen Perspektiven zum Verhältnis des Paulus zur Philippergemeinde lassen sich abschließend bündeln. Es steht m. E. außer Frage, dass die Gruppe der Christen in der vereinserfahrenen Stadtkultur Philippis – nicht zuletzt von den städtischen Behörden – in die Reihe der Kultvereine eingestellt wurde (R. S. Ascough). Jedoch wird sie aus einer distanzierten Betrachtung des christlichen „Vereins“ heraus wohl nur mit Mühe die Person des Paulus als die prägende Gestalt und den Patron des Vereins wahrgenommen haben, da dieser kaum vor Ort war und seinen Einfluss aus der Distanz, mit der Macht des Wortes und ausschließlich im Blick auf gemeindeinterne Angelegenheiten ausübte. Finanzielle Zuwendungen ließ er der Gemeinde im Gegensatz zu Vereinspatronen nicht zukommen – im Gegenteil! Paulus selbst hatte als weltläufiger römischer Bürger und als Besucher Philippis selbstverständlich einen Einblick in das zeitgenössische hellenistischrömische Vereinswesen gewonnen, war in Philippi mit Vereinsmitgliedern wie den cultores Silvani zusammengetroffen und konnte in Vereinen engagierte Menschen für den neuen Glauben gewinnen und sie zu einer Neuausrichtung ihres Engagements bewegen – auch ihres finanziellen Engagements. Die These, dass sich Paulus selbst als Gründer einer „voluntary cult association“ verstand und dass er sein „cultic project“ in der Manier eines Vereinspatrons nach außen repräsentierte (J. C. Hanges), ist aber trotz der genannten Analogien zwischen Paulus und uns bekannten Gründerfiguren sehr unwahrscheinlich. Es trifft zu, dass er seine missionarische Tätigkeit religiös legitimierte, seine Vorbildfunktion herausstellte und gestaltend in das Leben der Gemeinde eingriff (allerdings durch Briefe); kaum „gründerkonform“ sind aber u. a. seine universale Perspektive, mit 351 Vgl. die Kritik bei B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 9), 258f.: „Contrary to the impression given in a number of recent treatments, the present passage is not about ‚finances at Philippi‘ as defining the nature of Paul's relationship with the Philippians, but about a uniquely comprehensive partnership for the gospel which also expresses itself in material support.“

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der sein außergewöhnlicher missionarischer Eifer einhergeht, und seine kontroverse Botschaft, die auch gesellschaftlich-politische Sprengkraft besaß und schon in Philippi Nachstellungen aus der Bevölkerung und Maßnahmen der Behörden mit sich brachte. An der inneren Dynamik der Gemeinschaft zwischen Paulus und den Philippern setzen diejenigen Interpreten an, die das Paradigma der Freundschaft zum Schlüssel des Philipperbriefes erklären. Paulus verwende unverhüllt „friendship terminology“, 352 „friendship language“353 oder „a ‚rhetoric of friendship‘“.354 Die (nicht im modernen Sinn misszuverstehende) „freundschaftliche“ Verbindung zwischen Apostel und Gemeinde sei für die charakteristische Häufung von Freundschaftstermini verantwortlich, die Paulus mit Bedacht setze und die den Philipperbrief möglicherweise gar der Gattung eines Freundschaftsbriefs zuordnen lassen. Es kann nicht in Abrede gestellt werden, dass Motive des Freundschaftsdiskurses anklingen und von gebildeten Adressaten auf dieser Diskursebene rezipiert wurden. Auch hat die Wendung „Geben und Nehmen“ auffällige sprachliche Parallelen in den philosophischen Abhandlungen (P. Marshall). Doch falls zutrifft, dass Paulus die φιλία als Modell vor Augen gestanden hätte, dann keineswegs der Idealtypus einer Freundschaft, sondern eine asymmetrische, von den Philosophen abwertend als alltäglich und unvollkommen bezeichnete „Nutzenfreundschaft“, die nicht über eine ratio acceptorum et datorum hinausreicht (Cicero, Lael. 58). Auch hier scheint eine methodische Zurückhaltung sachgemäßer: Analogien zu freundschaftlichen Konventionen und Wendungen belegen noch keine bewusst angewandte Freundschaftsrhetorik, und die Präsenz von Begriffen aus dem antiken φιλία-Diskurs macht aus der paulinischen Ekklesiologie noch keine „Society of Friends.“355 So führt es auch zu weit, Paulus zum christlichen Moralphilosophen zu erklären, der seine(n) Freundschaftsbrief(e) an die Philippergemeinde verfasste in der Absicht, durch seine christologischen Reflexionen die φιλία zum „key moral paradigm“ zu implementieren (L. M. White), die Tugendhaftigkeit der Philipper zu fördern (S. K. Stowers), ihr defizitäres φιλία-Verständnis auf eine höhere Ebene zu heben (J. T. Fitzgerald) oder sie in eine unmittelbare „Koinonia mit Gott“ hineinzustellen, die eine Vermittlungsfunktion des Apostels überflüssig macht (M. Ebner). Völlig abwegig ist es m. E., Paulus

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Vgl. z. B. FITZGERALD, Paul and Friendship (s. Anm. 133), 338. Vgl. als Beispiel B ERRY, Friendship Language (s. Anm. 95). Die Studie geht zurück auf eine an der Yale University eingereichten, unveröffentlichten Dissertation mit dem Titel „The Function of Friendship Language in Paul’s Letter to the Philippians“. 354 ROSELL NEBREDA, Christ Identity (s. Anm. 146), 253. 355 So mit ironischem Zungenschlag REUMANN, Philippians, Especially Chapter 4 (s. Anm. 95), 106. 353

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als Machtmenschen zu stilisieren, der mittels Freundschaftsrhetorik seinen Führungsanspruch in der Gemeinde zementieren will (J. A. Marchal). In der Kritik am Vereinsmodell klangen bereits Schwächen eines weiteren Erklärungsmodells an: des Patronatswesens. Während durchaus zutreffen mag, dass die Verbindung der philippischen Gemeinde zu Paulus gewisse Überschneidungen mit dieser weit verbreiteten Sozialgestalt aufweist, so ist es doch recht unwahrscheinlich, dass sie in der bei Dionys idealisierten Form das Muster abgab, an dem sich Paulus und die Christen in Philippi orientierten (L. Bormann). Abgesehen davon, dass diese Form möglicherweise in der Zeit des Prinzipats gar nicht mehr „stilbildend“ war, lassen sich v. a. die vorausgesetzten Rollenzuweisungen an Paulus (Patron) und die Philipper (Klientel) nicht durchhalten und legen mitunter gar eine Umkehrung nahe – etwa dann, wenn die Gemeinde offensichtlich aus freien Stücken (und nicht aus einer Klientel-Verpflichtung heraus) Paulus eine finanzielle Wohltat zukommen lässt. Auch eine spezifische Variante des Patronats („brokerage“), die Gott die Rolle des Patrons und Paulus eine Vermittlerfunktion zuweist, muss viel in den Text hineinlesen und mit einer äußerst differenzierten und nirgendwo explizierten Umsetzung eines (historisch fragwürdigen) sozialen Modells durch den Apostel rechnen (D. E. Briones). Der Gegenseitigkeitscharakter des Verhältnisses zwischen Paulus und den Philippern führte manche Ausleger zu der Annahme, dass das besondere Gepräge dieser Austauschbeziehung vor dem Hintergrund des römischen Benefizialwesen zu verstehen ist (im Anschluss an Seneca). Vielleicht hat Paulus bei seinem Aufenthalt in dieser von römischem Lebensgefühl durchdrungenen Stadt gespürt, dass in diesem kulturellen Milieu der Austausch von Gaben und Gefälligkeiten einen hohen Bindungs- und Verpflichtungsgrad herstellt. Das mag ihn dazu bewogen haben, die Gabe als Geschenk zu deklarieren und seine apostolische „Autarkie“ herauszustreichen. Letztlich bleiben die Korrespondenzen jedoch auf einer allgemeinen Ebene (G. W. Peterman) und belegen nicht mehr, als dass die paulinische Beziehung zur Philippergemeinde in das Ethos der Gegenseitigkeit eingebunden ist, das Paulus freilich hin zu einer „theonomen Reziprozität“ transformiert. Am wenigsten überzeugt m. E. trotz neu beigebrachter Quellen der Vorschlag, das societas-Modell als Folie für die Sozialbeziehung zwischen Paulus und den Philippern heranzuziehen. Zwar können die Protagonisten dieser These auf terminologische und gewisse sachliche Überschneidungen hinweisen, bleiben aber den Nachweis schuldig, dass eine auf ökonomische Kooperation hin angelegte Partnerschaft auch in den nichtmateriellen Bereich übertragen werden kann. Es gibt keinen Beleg dafür, dass die gemeinsame Sache (res) bzw. der Geschäftszweck (negotiatio) sich auf eine „geistliche“ Größe wie eine religiöse Botschaft (J. M. Ogereau) oder die Gestalt eines Religionsstifters (J. P. Sampley) beziehen kann. Es ist wohl

Paulus und „seine“ Philipper

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auszuschließen, dass Paulus einen Konsensualvertrag mit den Philippern schloss und ihre Beziehung nach den Konventionen einer societas gestaltete, und auch die Adressaten seines Briefes mögen kaum mehr als Anklänge an dieses Rechtsinstitut wahrgenommen haben. Der Erfolg der paulinischen „Sinnbildung“ liegt in ihrer kulturellen Anschlussfähigkeit, Plausibilität und Erneuerungskraft begründet. Das von Paulus repräsentierte Christentum wies diese Anschlussfähigkeit in besonderem Maße auf, „denn es integrierte und transformierte gleichermaßen jüdische, hellenistisch-jüdische und griechisch-römische Vorstellungen.“356 Allerdings rührt die Attraktivität des paulinischen Evangeliums nicht nur von der Errichtung und dem Angebot einer neuen Sinnwelt und einem alternativen Identitätskonzept her, sondern auch von einer „Neukonfiguration“ der sozialen Konventionen und des Gemeinschaftsgedankens. Die christliche Sinnwelt bleibt nicht im Abstrakten, sondern realisiert sich in Gemeinschaftsformen und -strukturen, von denen auch der Philipperbrief Zeugnis gibt. Paulus ist nicht nur als bedeutender, kreativer Denker zu würdigen, der sich vorhandene Deutesysteme selektiv aneignete und nach seinen theologischen Grundüberzeugungen transformierte, sondern auch als „agent of social change“357: Er war in der Lage, Topoi, Themen, Motive und Vorstellungen antiker Sozialkonventionen zu adaptieren, sie adressatenorientiert zu kontextualisieren und eigenständig umzuformen durch einen Fokus auf zentrale christologische und ethische Fragen. Mit den Philippern pflegte er eine besonders intensive Gemeinschaft auf Geben und Nehmen (Phil 4,15), zur Förderung und zur Freude im Glauben (1,25).

356 357

SCHNELLE, Paulus (s. Anm. 8), 170. Vgl. a. a. O. 6–15.658. PORTER / LAND, Paul and His Social Relations (s. Anm. 227), 3.

Gründer und ihre Gründung

Antike Vereinigungen und die paulinische Gemeinde in Philippi MARKUS ÖHLER Einen Verein zu gründen bedarf heutzutage eines mehr oder weniger komplizierten Procederes: Ein Statut muss verfasst, Bezeichnung und Ziele müssen definiert, Funktionäre gewählt werden. Die Initiatoren legen das fest und bestimmen zumindest in den Anfängen die Geschicke ihrer Gründung. Sie erstatten die Anzeige bei einer Vereinsbehörde und das Vereinsleben kann beginnen. In der griechisch-römischen Antike war die Schaffung einer Vereinigung ähnlich und doch auch anders: Wie auch heute brauchte es eine oder mehrere Personen, die den Verein gründen wollten und wie auch heute waren Fragen des gemeinsamen Anliegens und der Ordnung zu klären, eine Bezeichnung festzulegen, eine erste Versammlung abzuhalten.1 Nur in den seltensten Fällen wurde allerdings eine Bewilligung eingeholt, denn die meisten Vereinigungen der griechisch-römischen Antike konnten bestehen, solange sich durch ihre Tätigkeit oder bloße Existenz nicht bestimmte Gefährdungen ergaben.2 Dazu kommt, dass die Etablierung einer Vereinigung in der griechisch-römischen Welt auch eine religiöse Konnotation hatte, da die Konstituierung der Gemeinschaft stets eine Ver1 Vgl. dazu F. P OLAND, Geschichte des griechischen Vereinswesens, Leipzig 1909, 271–276; I. N. ARNAOUTOGLOU, Thusias heneka kai sunousias. Private religious associations in Hellenistic Athens, Yearbook of the Research Centre for the History of Greek Law 37 Suppl. 4, Athen 2003, 125–130. 2 Vgl. zur rechtlichen Lage u. a. M. ÖHLER, Römisches Vereinsrecht und christliche Gemeinden, in: M. Labahn / J. Zangenberg (Hg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft, TANZ 36, Tübingen 2002, 51–71; H. G. KIPPENBERG, „Nach dem Vorbild eines öffentlichen Gemeinwesens“. Diskurse römischer Juristen über private religiöse Vereinigungen, in: ders. / G. Folke Schuppert (Hg.), Die verrechtlichte Religion. Der Öffentlichkeitsstatus von Religionsgemeinschaften, Tübingen 2005, 37–63; A. BENDLIN, Associations, Funerals, Sociality, and Roman Law. The collegium of Diana and Antinous in Lanuvium (CIL 14.2112) Reconsidered, in: M. Öhler (Hg.), Aposteldekret und antikes Vereinswesen. Gemeinschaft und ihre Ordnung (WUNT 280), Tübingen 2011, 207–295 (223–247).

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bindung mit einer Gottheit oder mehreren einschloss. Diese Gottheit musste gewählt werden und ihr Kult stellte ein wesentliches Merkmal von Identität und Praxis der Vereinigung dar.3 Die antike Rechtslage ist nun aber nicht Thema des vorliegenden Beitrags, vielmehr soll es um die Beziehung von Gründungsgestalten zu den von ihnen geschaffenen Vereinigungen gehen. Dabei werden wir uns zunächst einzelnen antiken Vereinigungen zuwenden, um aufgrund dieses Befundes anschließend die Verhältnisse der philippischen Gemeinde genauer in den Blick zu nehmen. Zwei Vorbemerkungen sind zunächst aber noch nötig: Zumeist liegen Informationen über das Entstehen einer antiken Vereinigung aufgrund des Quellenbefundes völlig im Dunklen. Die erhaltenen Inschriften und Papyri sowie literarische Zeugnisse haben in der Regel gänzlich andere Anliegen: Sie ehren einen Wohltäter oder ein verdientes Mitglied, sind einer oder mehreren Vereinsgottheiten gewidmet, halten die Namen von Mitgliedern in einer Liste fest oder – leider auch das relativ selten – gewähren Einblicke in die Vereinsordnung. Dass wir dennoch über einige Gründungsgeschichten Bescheid wissen, ist also rein zufällig, und repräsentative Schlüsse sind daraus nur mit Vorbehalt zu ziehen. Frühchristliche Gemeinden entsprechen in vielen Aspekten griechischrömischen Vereinigungen. Die Diskussion ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass man mit guten Gründen nicht mehr danach fragen muss, ob die Gemeinschaften der ersten Christusgläubigen – zumal die paulinischen – sich in die Formen von Vereinigungen der Antike einordnen lassen, sondern vor allem zu untersuchen hat, wie sie dies taten. Schon allein deshalb ist es sinnvoll, sich aus der Perspektive des Neutestamentlers und zum Geburtstag eines Neutestamentlers damit zu beschäftigen. Darüber hinaus ergeben sich aus den Forschungsergebnissen zu antiken Vereinigungen auch zahlreiche neue Fragen bzw. Fragestellungen, auf die hin dann auch die neutestamentlichen Texte – wie hier der Philipperbrief – befragt werden können. Das betrifft die unterschiedlichsten Aspekte, im Folgenden konkret die Frage nach der Beziehung von Gründer und Gründung.

3 Für die Auswahl konnten ethnische, berufliche oder familiäre Kriterien ebenso von Bedeutung sein wie persönliche Vorlieben. Dass die Wahl der Gottheit in den Zeugnissen über Gründungen gerne als Auswahl durch die Gottheit beschrieben wird, wird unten zu zeigen sein. Vgl. zu diesem und anderen Aspekten antiker Gründungen die ausführliche Studie von J. C. HANGES, Paul, Founder of Churches. A Study in the Light of the Evidence for the Role of „Founder-Figures“ in the Hellenistic-Roman Period, WUNT 292, Tübingen 2012, z. B. 376: „Founders consistently describe their own experiences in terms of the ancient model of the personal, oracular selection, or call, of the founder by the deity.“ Vgl. auch 70–77.

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1 Gründungen von Vereinigungen in der Antike Bevor im Folgenden einzelne Beispiele angeführt werden sollen, die zeigen, wie vielfältig Gründungsakte und die darüber informierenden Nachrichten gestaltet werden konnten, und was sich daraus für die Beziehungen zwischen den Gründungsgestalten und den von ihnen eingerichteten Gemeinschaften erkennen lässt, ein paar Bemerkungen zur Terminologie: Franz Poland geht in seiner grundlegenden Studie zum Griechischen Vereinswesen auf einige Begriffe etwas näher ein.4 „Der üblichste ist ... συνάγειν“, formuliert Poland, um dann auch συνίστασθαι, κτίζειν, καθειδρύειν und θεμελιοῦν anzuführen.5 Kloppenborg und Ascough fügen dem noch φέρειν hinzu.6 Eine Durchsicht der Belege lässt freilich erkennen, dass die Bestimmung, ob es sich tatsächlich um die Gründung einer Vereinigung handelt, sehr unsicher bleiben muss. Das gilt unter anderem für die häufigere Formulierung συνάγειν θίασον und ähnliche Zusammenstellungen7, da damit in der Regel die Zusammenführung der Mitglieder einer bereits bestehenden Vereinigung gemeint ist.8 Die Belege für Gründungsberichte sind daher auch nicht so zahlreich, wie man annehmen möchte.9 POLAND, Geschichte (s. Anm. 1), 271–273. POLAND, Geschichte (s. Anm. 1), 272. Für die Bezeichnung als κτίστης einer Vereinigung vgl. IG IV 581 (Argos, aus röm. Zeit); IG XII/1 127 (Rhodos, 2./1. Jh. v. Chr.); IG XII/3 1098 (Melos, o. Dat.). Diese Texte sind für unsere Fragestellung allerdings zu knapp, um sie sinnvoll auswerten zu können. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 65 Anm. 67, betont zu Recht, dass die Gestaltung von Gründungslegenden bzw. -berichten sprachlich nicht auf diese auf Städtegründungen konzentrierte Terminologie beschränkt war. 6 J. S. KLOPPENBORG / R. S. ASCOUGH, Greco-Roman Associations. Texts, Translations, and Commentary, Band 1: Attica, Central Greece, Macedonia, Thrace, BZNW 181, Berlin 2011 (= GRA I), 227. Als Belege für eine Gründung sind allerdings IG II 2 1012 (= GRA I 42) und IG II2 1326 (= GRA I 36) m. E. nicht zu deuten, vielmehr handelt es sich dort um eine Zusammenkunft unter vielen. 7 IG II 2 1322,1f.; IG XI,4 1227; ID 1403. 1412. 1417. 2225; G. SIEBERT, Sur l'histoire du sanctuaire des dieux syriens à Délos, BCH 92 (1968), 359–347. Die Deutung von συνάγειν im Sinne von „gründen“ ist m. E. zu eng gefasst. Das gilt wohl z. B. auch für die Attaliden von Teos (CIG 3069 = OGIS 326; Teos, 146–133 v. Chr.). Tatsächlich von einer Gründung ist hingegen unter Verwendung von συνάγειν in einer Vereinsregelung die Rede, die auf die Entstehung eines Eranos verweist, allerdings ohne eine Einzelperson hervorzuheben (IG II2 1369 = GRA I 49; Liopesi, 2. Jh. n. Chr.; vgl. dazu auch ARNAOUTOGLOU, Thusias (s. Anm. 1), 125). Weitere Belege nennen KLOPPENBORG / ASCOUGH, GRA I 227, die meine Skepsis zum Ausdruck συνάγειν teilen (229). 8 Ein entsprechender Sprachgebrauch findet sich auch in der Apostelgeschichte (14,27; 15,30). Vgl. ARNAOUTOGLOU, Thusias (s. Anm. 1), 95. Eine Ausnahme stellt hingegen IG II 2 1343 = GRA I 48 dar; dazu s.u. mit ausführlicher Diskussion. 9 Nicht behandelt werden im Folgenden jene Vereinigungen, die den Namen einer Person in der Selbstbezeichnung tragen, da die Gründung hier zwar möglich, aber nicht 4 5

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1.1 Šamūmānu in Ugarit

Etwa um 1200 v. Chr. hielt ein gewisser Šamūmānu in einem Keilschrifttext Folgendes fest:10 Die Vereinigung, die Šamūmānu in seinem Haus gegründet hat. Jetzt habe ich für euch unseren Speiseraum hergerichtet. Wenn ich euch hinauswerfe aus meinem Haus, werde ich 50 Silber(schekel) bezahlen.

Drei Punkte sind aus dieser kurzen Notiz für uns von besonderem Interesse: Vor allem geht es darum, dass Šamūmānu als Gründer der Gemeinschaft auftritt. Dies schließt in diesem rechtlich konnotierten Dokument ein, dass der Marzeah11 sich in Šamūmānus eigenem Haus versammelt, wofür dieser allerdings auch Miete einhebt.12 Der Marzeah und Šamūmānu, sein Gründer, sind damit rechtlich eng aneinander gebunden und können nur durch (Rück-)Zahlung der entsprechenden Summe wieder getrennt werden. Da Šamūmānu, wie auf der Rückseite des Stückes einführend festgehalten wird, zugleich Leiter der Vereinigung ist, ist eine solche Trennung wenigstens solange unwahrscheinlich, als er dieses Amt innehat. 1.2 Dionysios aus Philadelphia

Auch unter Neutestamentlern relativ bekannt und vielfach bearbeitet ist eine Inschrift aus dem lydischen Philadelphia, die aus dem 2. oder 1. Jh. vor Christus stammt (LSAM 20 = SIG3/4 985). Der Text ist relativ lang, sodass hier nur die für unsere Fragestellung wesentlichen Passagen zitiert und interpretiert werden sollen13: sicher ist. Zu den nach Personen benannten Vereinigungen vgl. P OLAND, Geschichte (s. Anm. 1), 73–78 (75: „Ob sie Gründer, Reformatoren oder Vorstände der Kollegien waren, ist im einzelnen Falle nicht zu entscheiden.“); R. S. ASCOUGH, Redescribing the Thessalonians‘ ‚Mission‘ in Light of Graeco-Roman Associations, NTS 60 (2014), 61–82 (69). 10 CAT 3.9. Text und englische Übersetzung bei J. L. MCLAUGHLIN, The Marzēaḥ in the Prophetic Literature. References and Allusions in Light of the Extra-Biblical Evidence, VT.S 86, Leiden 2001, 20–24; vgl. auch L. MIRALLES M ACIÁ, Marzeaḥ y thíasos. Una institucíon convival en el Oriente Próximo Antiguo y el Mediterráneo, ʼIlu. Revista de ciencias de las religiones. Anejo 20, Madrid 2007, 64f.; 271f. 11 Mit Marzeah ist hier wahrscheinlich nicht nur eine Speisegruppe gemeint, sondern tatsächlich eine Vereinigung; vgl. MCLAUGHLIN, Marzēaḥ (s. Anm. 10), 22. x;zEr>m; gibt die LXX in Jer 16,5 daher auch mit θίασος wieder. 12 Die Rückseite der Tafel enthält dementsprechend auch eine Bestätigung der Zahlung. 13 Die Inschrift wurde außerhalb des ursprünglichen Kontextes entdeckt, über Dionysios ist aus weiteren Texten nichts zu erfahren. Wir sind also ganz auf diesen Text angewiesen. Die Übersetzung orientiert sich an Eva EBEL, Die Attraktivität früher christ-

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Zu gutem [Gelingen]! Aufgeschrieben wurden für die Gesundheit und das [gemeinsame Heil] und den besten Ruf die dem Dionysios im Schlaf eingegebenen [Anweisung]en; dieser [gewährt Zugang] in sein eigenes Haus Männern [und Frauen], Freien und Sklaven. [Denn in diesem] sind [Altäre] des Zeus Eumenes und der Hestia, seiner [Helferin], und der anderen Götter [zum Heil] und der Eudaimonia und des Plutos und der Arete [und der Hygieia] und der Agathe Tyche und des Agathos [Daimon und der Mne]me und der Chariten und der Nike [errichtet worden]. Diesem hat Zeus Anweisung[en] gegeben, die Heiligungen und die Reinigungen und [die Mysterien aus]zuführen gemäß den althergebrachten Sitten und wie es nun [geschrieben ist].14

Die wesentliche Information zu seiner Vereinigung gibt Dionysios gleich zu Beginn: Er gewährt Zugang (πρόσοδον [rekonstruiert!] l.3) zu seinem Haus. Es handelt sich mithin hier erneut – wie schon zuvor in Ugarit – um eine Vereinigung, die sich in nicht-öffentlichem – genauer: häuslichem – Kontext zusammenfindet. Dionysios legt darauf offenbar besonderen Wert: Es ist „sein eigenes Haus“ (τὸν ἑαυτοῦ οἶκον l.5), ein Haus, das – wie wir gegen Ende der Inschrift erfahren – zudem unter dem Schutz und der Herrschaft der Göttin Agdistis steht (ll.51f.). Die Aufnahme einer Vereinigung in das eigene Haus findet sich auch sonst vereinzelt in der griechisch-römischen Antike. Möglicherweise stellte es gerade für die Anfangsphase einer Vereinigung den typischen Fall dar, zumal es nur zwei Alternativen gab: die Anmietung eines Raumes (was Finanzmittel voraussetzte)15 oder eine Zusammenkunft unter freiem Himmel (was u. U. unpraktisch war und bisher nicht dokumentiert ist). M. W. handelt es sich hier bei Dionysios allerdings um den bisher einzigen licher Gemeinden. Die Gemeinde von Korinth im Spiegel griechisch-römischer Vereine, WUNT 2/178, Tübingen 2004, 230–232; vgl. auch T. SCHMELLER , Hierarchie und Egalität. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung paulinischer Gemeinden und griechischrömischer Vereine, SBS 162, Stuttgart 1995, 96–99. Editionen: J. KEIL / A. V. P REMERSTEIN, Bericht über eine dritte Reise in Lydien und den angrenzenden Gebieten Ioniens, ausgeführt 1911 im Auftrage der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, DAWW.PH 57/1, Wien 1914, 18–21 (18); O. WEINREICH, Stiftung und Kultsatzungen eines Privatheiligtums in Philadelpheia in Lydien, SAHW.PH 16, Heidelberg 1919, 4–6; SIG III3/4 985; F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées de l’Asie Mineure, Travaux et memoires 9, Paris 1955, 53–55 (No. 20); S. C. B ARTON / G. H. R. HORSLEY, A Hellenistic Cult Group and the New Testament Churches, JAC 24, 1981, 7–41, bes. 8f. Ergänzungen sind in der Übersetzung durch eckige Klammern angezeigt. 14 LSAM 20,1–14: Ἀγαθῆι Τ[ύχηι] | ἀνεγράφησαν ἐφ' ὑγιείαι κα[ὶ κοινῆι σωτηρίαι] | καὶ δόξηι τῆι ἀρίστηι τὰ δοθέ[ντα παραγγέλμα]|τα Διονυσίωι καθ' ὕπνον π[ρόσοδον διδόν]||τ' εἰς τὸν ἑαυτοῦ οἶκον ἀνδρά[σι καὶ γυναιξὶν] | ἐλευθέροις καὶ οἰκέταις. Διὸς [γὰρ ἐν τούτωι] | τοῦ Εὐμενοῦς καὶ Ἑστίας τ[ῆς παρέδρου αὐ]|τοῦ καὶ τῶν ἄλλων θεῶν Σωτ[ήρων καὶ Εὐδαι]|μονίας καὶ Πλούτου καὶ Ἀρετῆς [καὶ Ὑγιείας] || καὶ Τύχης Ἀγαθῆς καὶ Ἀγαθοῦ [Δαίμονος καὶ Μνή]|μης καὶ Χαρίτων καὶ Νίκης εἰσὶν ἱδ[ρυμένοι βωμοί.] | τούτ[ωι] δέδωκεν ὁ Ζεὺς παραγγέλ[ματα τούς τε ἁ]|γνισμοὺς καὶ τοὺς καθαρμοὺς κ[αὶ τὰ μυστήρια ἐπι]|τελεῖν κατά τε τὰ πάτρια καὶ ὡς νῦν [γέγραπται. 15 Entsprechende Räume sind an Tempel angebaut (sog. Hestiatoria) oder waren in Tavernen verfügbar.

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eindeutigen Fall einer griechisch-römischen Vereinsgründung im eigenen Haus. Häufiger sind Belege zu finden, aus denen deutlich wird, dass ein Vereinspatron sein Haus oder einen Teil davon der Gemeinschaft für ihre Versammlungen zur Verfügung stellte.16 Der Stifter Dionysios stellt nun aber nicht sein ganzes Haus oder Teile davon zur Verfügung, sondern gewährt bloß Zugang. Ihm als dem Gründer der Vereinigung verbleibt das vollständige Eigentumsrecht. Die häusliche Kultvereinigung entsteht, und auch dies ist durchaus auffällig, nicht aus dem gemeinsamen Interesse einiger Personen, die sich aus welchem Grund auch immer versammeln. Im Gegenteil: Sie geht auf die Initiative des Dionysios zurück. Mangels einer Mitgliederliste oder Ähnlichem wissen wir nicht einmal mit Sicherheit, ob sich irgendjemand diesem Interesse jemals anschloss. Die Gemeinschaft, die Dionysios im Blick hatte, sollte aus „Männern und Frauen, Freien und Sklaven“ (ἀνδράσι καὶ γυναίξιν ἐλευθέροις καὶ οἰκέταις ll.5f., 15f.) zusammengesetzt sein. Das hat einen egalitären Touch, der an paulinische Aussagen erinnert, nach denen ethnische, soziale und Geschlechterdifferenzen in Christus aufgehoben sind (Gal 3,28; vgl. 1Kor 12,13). Dabei ist aber zu beachten, dass es sich in der Aufzählung des Dionysios um jene Gruppen handelt, aus denen ein Haushalt (οἴκος) besteht.17 Dieser Kontext ist für die Beurteilung des egalitären Charakters der Vereinigung wie auch ihrer generellen Ausrichtung wichtig: Es handelt sich nämlich nicht um eine jener kultischen Vereinigungen, wie wir sie allenthalben in der griechisch-römischen Welt finden, sondern um eine, die ganz konkret an das Hausgebäude und den Haushalt gebunden ist. Die Verwendung von οἴκος in der Inschrift verweist nämlich sehr wahrscheinlich auf beides: Es ist das Hausgebäude des Dionysios, zu dem er Zutritt gewährt, und es ist sein Haushalt, in den nicht nur die bereits dort befindlichen Personen kommen können, sondern auch darüber hinaus weitere Männer und Frauen, Freie und Sklaven.18 16 Vgl. etwa das Haus des G. Fl. Furius Aptus in Ephesus (Hanghaus 2, Wohneinheit 6), das der Familie des M. Gavius Squilla Gallicanus und seiner Frau Pompeia Agripinilla in Torre Nova (IGUR I 160) oder die Synagoge in Stobi (IJO I Mac 1). Das hängt allerdings nicht notwendig mit einer Gründung durch den bzw. die Gastgeber zusammen. 17 Vgl. dazu besonders S. K. STOWERS, A Cult from Philadelphia. Oikos Religion or Cultic Association?, in: A. J. Malherbe / F. W. Norris / J. W. Thompson (Hg.), The Early Church in Its Context (FS E. Ferguson), NT.S 90, Leiden 1998, 287–301 (294). 18 Anders STOWERS, Cult (s. Anm. 17), 301. Vgl. dagegen BARTON / HORSLEY, Hellenistic Cult Group (s. Anm. 13), 16f.; P. A. HARLAND, Associations, Synagogues, and Congregations. Claiming a Place in Ancient Mediterranean Society, Minneapolis 2003, 31. Zugleich werden Unterschiede zwischen Freien und Sklaven weitergeführt, v. a. im Blick auf Sexualität; vgl. K. NEUTEL, Slaves Included? Sexual Regulations and Slave Participation in Two Ancient Religious Groups, in: S. Hodkinson / D. Geary (Hg.),

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Voraussetzung für eine Aufnahme in die Gemeinschaft ist freilich, dass sich diejenigen, die kommen, auch an die Regeln halten, die in etwa einer Haustafel entsprechen (ll.15–25)19: Wenn sie in dieses Haus kommen, sollen Männer [und Frauen], Freie und Sklaven bei [allen] Göttern [schwören], dass sie weder eine List gegen einen Mann oder [eine Frau] kennen noch ein für Menschen schädliches Gift, dass sie böse [Zauber]sprüche weder kennen noch [anwenden], dass sie [keinen] Liebestrank, kein Abtreibungsmittel, kein Verhütungsmittel und nicht [irgendetwas anderes, was für Kinder] tödlich ist, selbst anwenden oder [einem anderen an]raten oder bei einem anderen davon wissen, dass sie [nämlich] nicht aufhören, diesem Haushalt wohl gesonnen zu sein, und dass sie, wenn [irgendjemand etwas von diesem] tut oder vorhat, es weder zulassen noch [verschweigen], sondern es ans Licht bringen und verhindern.20

In dieser Tonart geht es noch weiter, wobei im Folgenden vor allem sexuelle Vergehen angesprochen werden. „Nicht aufzuhören, diesem Haushalt wohl gesonnen zu sein“ (ἀποστερ[οῦντες δὲ μη]|δὲν εὐνοεῖν τῶι οἴκωι τῶιδε ll.23f.), bringt die Forderungen auf einen Nenner. Diese gehen auf einzelne Vergehen ein: Verschiedene tödliche Mittel sowie magische Beeinflussungen werden aufgezählt, später ausführlicher und differenziert sexuelle Vergehen von Männern und Frauen. Dabei geht es nicht nur um tatsächliche Verfehlungen, sondern auch um Planung, Ausführung und Mitwisserschaft.21 Im jüdisch-christlichen Bereich sind ähnliche Vorgaben im Zwei-Wege-Traktat zusammengestellt (Did 1–6; Barn 18–20).22 Slaves, and Religions in Graeco-Roman Antiquity and Modern Brazil, Cambridge 2012, 133–148 (136–139). 19 Vgl. dazu zuletzt ausführlicher u. a. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 294–303. 20 LSAM 20,15–25: πορευ]||όμενοι εἰς τὸν οἶκον τοῦτον ἄνδρε[ς καὶ γυναῖκες] | ἐλεύθεροι καὶ οἰκέται τοὺς θεοὺς [πάντας ὁρκούσ]|θωσαν δόλον μηθένα μήτε ἀνδρὶ μή[τε γυναικὶ εἰδό]|τες μὴ φάρμακον πονηρὸν πρὸς ἀνθ[ρώπους, μὴ ἐπωι]|δὰς πονηρὰς μήτε γινώσκειν μή[τε ἐπιτελεῖν, μὴ] || φίλτρον, μὴ φθορεῖον, μὴ [ἀτ]οκεῖον, μ[ὴ ἄλλο τι παιδο]|φόνον μήτε αὐτοὺς ἐπιτελεῖν μήτε ἑτέρωι συμβου]|λεύειν μηδὲ συνιστορεῖν, ἀποστερ[οῦντες δὲ μη]|δὲν εὐνοεῖν τῶι οἴκωι τῶιδε, καὶ ἐάν τ[ις τούτων τι ποι]|ῆι ἢ ἐπιβο[υλε]ύῃ, μήτε ἐπιτρέψειν μή[τε παρασιω]||[πήσ]ειν, [ἀλ]λ' ἐμφανιεῖν καὶ ἀμυνεῖσθ[αι. 21 Vgl. zu dieser Ausweitung A. CHANIOTIS, Reinheit des Körpers – Reinheit des Sinnes in den griechischen Kultgesetzen, in: J. Assmann / T. Sundermeier (Hg.), Schuld, Gewissen und Person. Studien zur Geschichte des inneren Menschen, Studien zum Verstehen fremder Religionen 9, Gütersloh 1997, 142–179 (160–162.172f.). 22 Dies betrifft folgende Elemente: Das Verbot, gegen andere Übles zu planen (Did 2,6/Barn 19,3/Dionysios: l.17), Gift einzusetzen (Did 2,2/Barn 20,1/Dionysios: l.18) oder Magie zu verwenden (Did 2,2; 3,4/Barn 20,1/Dionysios: ll.19f.); das Abtreibungsverbot (Did 2,2/Barn 19,5/Dionysios: l.20) und das der Kindestötung (Did 2,2; 5,2/Barn 19,5; 20,2/Dionysios: l.20); die Verbote bezüglich des Ehebruchs (Did 2,2; 5,1/Barn 19,4; 20,1/Dionysios: ll.25–41) bzw. der Pädophilie (Did 2,2/Barn 19,4/Dionysios: l.27). Vgl. zu dem Traktat u. a. K. NIEDERWIMMER, Die Didache, KAV 1, Göttingen 21992, 48–64; F. E. PROSTMEIER, Der Barnabasbrief, KAV 8, Göttingen 1999, 106–111.

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Gründung und Regeln sind nun aber sehr explizit und viel deutlicher als etwa in anderen Vereinsdokumenten in eine religiöse Legitimation eingebettet, denn die Etablierung der Kult-Vereinigung führt Dionysios auf einen Traum zurück: Im Schlaf sei ihm dies eingegeben worden.23 Die Anweisungen stammten von Zeus Eumenes, dem Wohlgesonnenen (ll.12– 14): Diesem hat Zeus Anweisung[en] gegeben, die Heiligungen und die Reinigungen und [die Mysterien aus]zuführen gemäß den althergebrachten Sitten und wie es nun [geschrieben ist].24

Zeus ist in dieser Gemeinschaft trotz der dominierenden Rolle der Agdistis im Haus die Leitgottheit, denn er wird nicht nur im Zusammenhang der Gründung genannt, sondern auch in einem Schwur, den Dionysios als Selbstverpflichtung am Ende der Inschrift leistet (ll.60–64): [Zeus] Soter, nimm die Berührung [des Dionysios gnädig und wohlwollend] an und [freundlich gewähre ihm und seiner Familie] gute Vergeltung, [Gesundheit, Heil, Frieden, Sicherheit] zu Lande und zu Wasser.25

Zeus ist also jener, der die ethischen und kultischen Anweisungen durch Dionysios mitteilte, und dem gegenüber sie auch einzuhalten waren. Daneben werden aber auch viele andere Gottheiten genannt, die zum Teil eng mit dem Haushalt verbunden sind: Hestia, Hygieia, Agathe Tyche und der Agathos Daimon. Sie und einige andere werden im Haus und durch den Haushalt verehrt. Hinzu kommt auch noch Agdistis, die später explizit als Wächterin und Herrin des Hauses genannt wird, eine Göttergestalt aus dem phrygischen Attismythos.26 Wer die Regeln übertritt, wird hingegen, so 23 Die Gründung einer Vereinigung durch die Gottheit selbst findet sich etwa auch – ohne Erwähnung eines Traumes oder eines Beauftragten – in einer Inschrift von Sabbatisten aus Kilikien (JHS 12, 1891, 233,16 = LSAM 80; vgl. R. S. Ascough / P. A. Harland / J. S. Kloppenborg, Associations in the Greco-Roman world. A Sourcebook, Waco 2012, 213): ἔδοξε τοῖς ἑταίροις καὶ Σαββατισταῖς θεοῦ [προν]οίαι Σαββατιστοῦ συνηγμένοις. 24 LSAM 20,12–14: τούτ[ωι] δέδωκεν ὁ Ζεὺς παραγγέλ[ματα τούς τε ἁ]|γνισμοὺς καὶ τοὺς καθαρμοὺς κ[αὶ τὰ μυστήρια ἐπι]|τελεῖν κατά τε τὰ πάτρια καὶ ὡς νῦν [γέγραπται. 25 [Ζεῦ] Σωτή[ρ], τὴν ἀφὴ[ν τοῦ Διονυσίου ἵλεως καὶ] | [εὐμεν]ῶς προσδέχου καὶ προ[σηνὴς αὐτῶι καὶ τῶι γένει] | [πάρεχ]ε ἀγαθὰς ἀμοιβάς, [ὑγίειαν, σωτηρίαν, εἰρήνην,] | [ἀσφάλεια]ν ἐπὶ γῆς καὶ ἐπὶ θαλάσσης [. 26 Überlegt wurde, ob die Einrichtung des vereinsmäßig organisierten Hauskultes von Dionysios nicht unter anderem deshalb vorgenommen wurde, um die in der Familie gepflegte phrygische Religiosität (Agdistis) mit der klassisch Griechischen (Zeus) zu verbinden; vgl. im Anschluss an E. SCHWERTHEIM , Kleinasien in der Antike. Von den Hethitern bis Konstantin, München 2005, 100–102; HANGES, Founder (s. Anm. 3), 273f.288–290; M. EBNER, Die Stadt als Lebensraum der ersten Christen. Das Urchristentum in seiner Umwelt I, GNT 1,1, Göttingen 2012, 221.

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Dionysios wiederholt in seiner Inschrift, von den Göttern nicht geduldet (ll.34f.) bzw. bestraft (ll.48–50): Große Götter sind nämlich in diesem (Haus) aufgestellt und [diese beaufsichtigen] sie und werden die, welche die Anweisungen übertreten, [nicht dul]den.27 [Wenn aber] einige übertreten, werden eben diese sie hassen und ihnen schwere Strafen auferlegen.28

Das Offenbarungsmittel, das Zeus für Dionysios wählte, ist der Traum. Träume als Wege göttlicher Botschaften sind in der griechisch-römischen Antike und darüber hinaus verbreitet und finden sich gerade auch dann wieder, wenn neue Kulte oder Organisationsformen begründet werden sollen.29 Abgesehen vom Vereinskontext, den wir später noch in zwei Beispielen betrachten werden, ist der Traum selbstverständlich auch im Neuen Testament ein probates Mittel, um die Lenkung der Menschen durch Gott zu begründen und Entscheidungen durch göttliche Anweisung zu legitimieren.30 Die Inschrift schließt mit dem oben angeführten Schwur des Dionysios (ll.60–64), der mit einer Berührung der Inschriftenstele verbunden ist und die Selbstverpflichtung zur Bewahrung aller Vorschriften inkludiert. Er ist verbunden mit der Bitte, dass Zeus Soter Dionysios und seine Familie (γένος [rekonstruiert!] l.61) belohnen möge. Der Gründer der Vereinigung präsentiert sich damit als Vorbild für alle anderen.31 Die Besonderheiten dieser Inschrift im Blick auf unser Thema – der Gründer und seine Gründung – sind die Betonung der religiösen Legitimation, die Festlegung von Regeln durch den Gründer, die enge lokale und soziale Bindung an das Haus des Gründers, der damit auch zugleich die Rolle eines Patrons übernimmt, sowie seine Selbstpräsentation als vorbild27 LSAM 20,34f.: θεοὶ γ[ὰ]ρ ἐν αὐτῶι ἵδρυνται μεγάλοι καὶ τ[αῦτα ἐπισκοποῦ]|σιν καὶ τοὺς παραβαίνοντας τὰ παραγ[γέλματα οὐκ ἀνέ]||ξονται. 28 LSAM 20,48–50: ἐὰν δέ τι]|νες παραβαίνωσιν, τοὺς τοιούτους [μισήσουσι καὶ με]||γάλας αὐτοῖς τιμωρίας περιθήσου[σιν. 29 Vgl. dazu u. a. G. WEBER, Traum und Alltag in hellenistischer Zeit, ZRGG 50, 1998, 22–39: Solche Träume fungierten u. a. „als klar bezeichnete Aufträge eines Gottes, die erfolgreich als Argument eingesetzt werden konnten ... Mit diesen Träumen und mit der Berufung auf sie war die Möglichkeit gegeben, sich anderen gegenüber als besonderer Günstling der Götter darzustellen – nicht jeder dedizierte κατ’ ὄναρ – und eigene Handlungen darauf abzustellen.“ HANGES, Founder (s. Anm. 3), 270, Anm. 25. 30 Vgl. etwa M. FRENSCHKOWSKI, Traum und Traumdeutung im Matthäusevangelium. Einige Beobachtungen, JAC 41, 1998, 5–47; B. J. KOET, Trustworthy Dreams? About Dreams and References to Scripture in 2 Maccabees 14–15, Josephus’ Antiquitates Judaicae 11,302–347 and in the New Testament, in: ders., Dreams and Scripture in LukeActs, CBET 42, Leuven 2006, 25–50. 31 Die Öffentlichkeit, die durch die Inschrift angesprochen wird, ist jene des Hauses. Daher ist m. E. die Legitimation des Kultes an sich nicht das Thema, vielmehr die Legitimation der durch Dionysios aufgestellten Regeln.

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liches Mitglied, das die göttlich autorisierten und von ihm vermittelten Regeln einhält. 1.3 Die Mysterien der Artemis Ephesia in Pisidien

Nicht ausdrücklich eine Vereinsgründung, sondern die Etablierung und Erhaltung eines Mysterienkultes lässt sich aus folgender Inschrift entnehmen, die auf die 1. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. datiert wird.32 Der Text lautet wie folgt: Τροκονδαν Οσαειτος τοῦ Ἑρμαίου τὸν παρειληφότα κατὰ διαδoχὴν ἱερέα Ἀρτέμιδος Ἐφεσίας διὰ γένους, οἵτινες κατεσκεύασαν τόν τε ναὸν καὶ τὸ ἄγαλμα, τετηρηκότα ἁγνῶς καὶ θεοπρεπῶς τὰ εὑρεθέντα καὶ παραδοθέντα ἱεροτελῆ μυστήρια τῆς θοῦ καὶ εἰς αὔξησιν πλείονα ἀγειωχότα, καὶ Ἄρτεμɛιν Τροκονδου τὴν ἑαυτοῦ θυγατέρα τὴν καὶ αὐτὴν παραλαμβάνο ν υσαν τὴν ἱερατείαν καὶ ὁμοίως εὐσ ν εβοῦσαν· ν Ἀσύριος καὶ Οσαεις καὶ Τροκονδας καὶ Πία καὶ Ἑρμαστα οἱ Ερπιου τὸν ἑαυτῶν πάπον καὶ τὴν ἑαυτῶν μητέρα εὐσεβείας καὶ τειμῆς ἕνεκεν.

(Sie ehrten) den Trokondas, Sohn des Osaeis und Enkel des Hermaios, den Priester der Artemis Ephesia, der (die Priesterschaft) empfangen hat in der Nachfolge durch die Familie, die den Tempel und die Statue bereitgestellt haben. In Redlichkeit und einer der Gottheit entsprechenden Weise hat er die ehrwürdigen Mysterien der Göttin gehütet, die gefunden und tradiert wurden, und er führte sie zum größeren Wachstum durch. Und (sie ehrten) Artemeis, Tochter des Trokondas, seine eigene Tochter, die auch selbst das Priestertum empfangen hat und entsprechend fromm handelte. As(s)yrios, Osaeis, Trokondas, Pia und Hermasta, die Kinder des Herpias, (ehren) ihren eigenen Großvater und ihre Mutter wegen der Frömmigkeit und Ehrfurcht.

Auf den ersten Blick ist zu sehen, dass es sich ganz offenbar um eine Familie handelte, die über Generationen hinweg die Mysterien der Artemis Ephesia pflegte. Irgendwo in Pisidien angesiedelt, wahrscheinlich im südlich gelegenen Kremna33, war jahrzehntelang jene Verehrung der Artemis gepflegt worden, die in Ephesus ihren eigentlichen Ort hatte. Aus der Inschrift sind fünf Generationen erkennbar: Hermaios, sein Sohn Osaeis, dessen Sohn und zugleich einer der Geehrten mit Namen Trokondas, dessen Tochter Artemeis, die ebenfalls geehrt wird und mit Herpias verheiratet war, sowie die Kinder As(s)yrios, Osaeis, Trokondas, Pia und Hermasta, die die Ehreninschrift mit dem Relief erstellen ließen. 32 Edition, Übersetzung und Besprechung finden sich in G. H. R. HORSLEY, The Mysteries of Artemis Ephesia in Pisidia. A New Inscribed Relief, AnSt 42 (1992), 119–150; vgl. auch DERS., The Greek and Latin Inscriptions in the Burdur Archaeological Museum, Regional Epigraphic Catalogues of Asia Minor V, The British Institute at Ankara. Monograph 34, Ankara 2007, No. 24; SEG 42 (1992), 1223. 33 Vgl. dazu HORSLEY, Mysteries (s. Anm. 32), 129–135; S. MITCHELL, Cremna in Pisidia. An Ancient City in Peace and in War, London 1995, 54–56.

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Da die Inschrift aufgrund der Buchstabenform auf die 1. Hälfte des 1. Jh. n. Chr. datiert wird, verweist sie also zurück mindestens in die Anfänge des 1. Jh. v. Chr.34 Über diese lange Zeit von 125–150 Jahren hatte die Familie die Priesterschaft der Artemis Ephesia weitergegeben bis hin zu einer Tochter, die nach der Göttin Artemeis hieß. Die Gründung selbst muss dabei nicht gleich mit der Errichtung eines Tempels verbunden gewesen sein35, später wurde er aber wahrscheinlich zusammen mit der Kultstatue durch die anscheinend vermögende Familie finanziert. Das die Inschrift begleitende Relief verweist mit seinen Säulen auf diesen Tempel. Für unseren Zusammenhang besonders interessant ist die Angabe, dass die Mysterien der Göttin „gefunden“ wurden. Das hier verwendete τὰ εὑρεθέντα ist wahrscheinlich nicht so zu verstehen, dass sie „erfunden“ worden sein sollen. Das ist auch angesichts der Tatsache, dass es diesen Kult ja schon lange zuvor in Ephesus selbst gab, nicht sehr wahrscheinlich. Eher wird man, so etwa auch G. H. R. Horsley, vermuten dürfen, dass τὰ εὑρεθέντα auf Dinge verweist, die „entdeckt“ wurden. Das könnten kultische Instrumente sein, die wir nicht kennen, ein Kultbild der Artemis, oder vielleicht ein entsprechendes Dokument, das die Einrichtung des Kultes legitimiert.36 Die Unklarheit der Inschrift muss dabei nicht auch einem Unwissen entsprechen, sondern ist vielleicht gerade so gewählt, dass nur die Eingeweihten wirklich Bescheid wissen. Die Inschrift selbst, zusammen mit dem Relief, das wohl Trokondas und seine Tochter Artemis zeigt, ist darauf ausgerichtet, die Priesterschaft der beiden und damit auch die Sukzession durch die nächste Generation zu garantieren. Sie sind die Traditionsträger jener Geheimnisse, die die Mysterien auszeichnen. Die ehrende Beschreibung des Wirkens von Vater und Tochter in der Inschrift bedeutet – unabhängig davon, wie es tatsächlich gewesen sein mag – für die Leser und Leserinnen, vor allem aber auch für die Stifter und Stifterinnen, dass sie sich selbst an diesen Vorbildern orientieren wollen und sollen. Redlichkeit, Gottgemäßheit, Frömmigkeit sind Haltungen, die auch für zukünftige Generationen von Verehrern und Verehrerinnen der Artemis in Stein gemeißelt werden. Der auf dem Relief abgebildete Tempel sowie der Umstand, dass die Verehrung der Artemis Ephesia in der Mitte des 3. Jh. n. Chr. auf Münzen aus Kremna als Poliskult dokumentiert ist37, lassen zugleich aber den Schluss zu, dass es sich nicht um eine reine Familienangelegenheit handel34 HORSLEY, Mysteries (s. Anm. 32), 134; vgl. auch G. P ETRIDOU, Artemidi to ichnos: Divine Feet and Hereditary Priesthood in Pisidian Pogla, AnSt 59 (2009), 81–93 (90). 35 HORSLEY, Mysteries (s. Anm. 32), 134: „perhaps even established in Hermaios’ own oikos“. 36 Unklar bleibt auch, wo dies geschehen ist. PETRIDOU, Artemidi (s. Anm. 34), 91, vermutet einen Zusammenhang mit einer Reise zum Tempel der Artemis in Ephesus. 37 Siehe dazu MITCHELL, Cremna (s. Anm. 33), 214f.

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te. Vielmehr ist eine größere Gruppe von Anhängern und Anhängerinnen des Kultes zu vermuten, denen gegenüber diese Ehrung auch die Legitimität und Ehrenhaftigkeit der Priesterfamilie anzeigt. Der Verweis auf das „größere Wachstum“ könnte schlagwortartig auf diese Entwicklung verweisen, allerdings ist die Formulierung εἰς αὔξησιν πλείονα ἀγειωχότα so mehrdeutig, dass auch ein tieferes Eintreten in die Mysterien oder eine größere geographische Ausbreitung der Verehrung der Artemis damit gemeint sein kann.38 Für die Frage nach der Beziehung zwischen dem Gründer und seiner Vereinigung sind erneut der numinose Anfang wesentlich, sowie die enge Bindung an die Gründerfamilie, die über Generationen die Leitung und das Patronat innehat, und die vorbildliche Rolle der früheren Generationen. 1.4 Sarapis und Isis im lokrischen Opus

Wir hatten oben bereits angedeutet, dass mythische Zeugnisse wie göttliche Briefe, so genannte „Himmelsbriefe“, bei der Gründung bzw. Etablierung von Kulten und entsprechenden Gemeinschaften von Bedeutung waren. Aus dem Kontext der Isisverehrung sei dazu eine Inschrift vorgestellt, die ausführlich davon erzählt.39 Die Inschrift aus dem Sarapeion von Thessalonich stammt zwar aus dem 1. Jh. n. Chr., der darauf enthaltene Text geht aber auf das 3./2. Jh. v. Chr. zurück. Er berichtet davon, dass sich ein gewisser Xenainetos in Thessalonich aufhielt und einen Traum hatte (wahrscheinlich im Sarapeion selbst, also beim Tempelschlaf40). Darin erschien ihm Sarapis und gab ihm den Auftrag, im heimatlichen Opus (Lokris) seinen politischen Gegner namens Eurynomos 38 Vgl. dazu auch die Übersetzungsvorschläge bei HORSLEY, Mysteries (s. Anm. 32), 121 („for her/their greater magnification“), MITCHELL, Cremna (s. Anm. 33), 54 („enhanced the cult“) und PETRIDOU, Artemidi (s. Anm. 34), 90 („he advanced them even further“). Vom Wachstum der Vereinigung ist etwa in IG II2 1297 (= GRA I 24; Athen, 236/235 v. Chr.) die Rede: Der Archeranistes Sophron wird u. a. geehrt für den Willen αὔξειν τὸ κοινὸν ἐκ τῶν ἰδίων. Auch sonst gehört das Wachstum öfters zu den wesentlichen Anliegen einer Vereinigung; vgl. ASCOUGH, Redescribing (s. Anm. 9), 71f. Von einer Gründung der Vereinigung durch Sophron ist im Übrigen nicht auszugehen (so etwa P OLAND, Geschichte [s. Anm. 1], 272), da eine deutlich ältere Inschrift derselben Vereinigung Sophron noch nicht erwähnt; vgl. GRA I 135. 39 Die Erstedition in IG X/2.1 255 = RICIS 113/0536 unterscheidet sich von der Rekonstruktion in F. SOKOLOWSKI, Propagation of the Cult of Sarapis and Isis in Greece, Greek, Roman, and Byzantine Studies 15 (1974), 441–448, die auch in G. H. R. HORSLEY, New Documents Illustrating Early Christianity, Band 1: A Review of the Greek Inscriptions and Papyri Published in 1976, North Ryde 1981, 6 und GRA I 77 aufgenommen wurde; vgl. auch HANGES, Founder (s. Anm. 3), 249f. 40 Das ist die wahrscheinlichste Annahme. Skeptischer ist C. STEIMLE, Religion im römischen Thessaloniki. Sakraltopographie, Kult und Gesellschaft 168 v. Chr. – 324 n. Chr., STAC 47, Tübingen 2008, 123.

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damit zu beauftragen, den Kult für die ägyptischen Götter einzurichten. Das wurde dann auch tatsächlich durch einen Brief, den Xenainetos beim Aufwachen unter seinem Kissen fand und den er Eurynomos gab, bestätigt. Himmelsbriefe waren ein Mittel, um die Gründung bzw. Reform eines Kultes zu legitimieren. So beschreibt etwa Pausanias die im Traum angekündigte Auffindung eines Briefes, der die Mysterien der Großen Göttin von Andania enthielt (4,26,8). Am Ende seiner Beschreibung Griechenlands erzählt er ebenfalls von einem wunderbaren Schreiben: Der Asklepios-Kult sei durch einen fast Blinden begründet worden. Dieser habe durch eine Dichterin einen Brief des Gottes auf einer Wachstafel empfangen und bei der Öffnung des Siegels sei er gesund geworden. Daraufhin habe er die Verehrung des Asklepios eingeführt (10,38,13).41 In unserer Inschrift aus Thessalonich erfolgt die Gründung des Kultes über mehrere Personen (Xenainetos, Eurynomos), bis schließlich im Haus einer gewissen Sosinike die Verehrung des Sarapis und der Isis aufgenommen und eine Gemeinschaft von Anhängern und Anhängerinnen etabliert wird. Ihre Nachfolgerin als Priesterin mit Namen Eunosta setzt dies dann fort, die Traditionsweitergabe wird also dokumentiert.42 Der Kult beginnt im Haushalt, wurde aber allein schon durch jene, die ihn von Thessalonich in das ca. 280 km entfernte Opus brachten, und deren Angehörige als eine Art Kultvereinigung im häuslichen Kontext etabliert. Der Umstand, dass die Inschrift etwa 200 Jahre später im SarapisTempel in Thessalonich aufgestellt wurde, ist Ausweis dafür, dass auch zu dieser Zeit der Kult in Opus weiter gepflegt wurde. Die Inschrift sollte aber außerdem dokumentieren, dass von Thessalonich aus die Ausbreitung des Sarapis und Isis-Kultes geschah, was im Übrigen auch für Herakleia Lynku an der Via Egnatia and Stobi im Norden nachgewiesen ist.43 Auch nach dieser Inschrift führt sich die Gründung über Mittlerpersonen auf göttliche Intervention zurück, sie war wahrscheinlich auch AnWeitere Beispiele für solche wunderbaren Schreiben finden sich im Kontext wunderbarer Heilungen; vgl. dazu J. SCHNEIDER , Brief, RAC 2 (1954), 564–585 (572f.); SOKOLOWSKI, Propagation (s. Anm. 39), 443. Auch die Inschrift zur Etablierung des Sarapis-Kultes auf Delos nennt eine göttliche schriftliche Mitteilung (IG XI,4 1299 = RICIS 202/0101); vgl. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 254. 42 Vgl. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 256f. 43 Vgl. M. B OMMAS, Neue Heimat in der Fremde. Isis in Makedonien, AW 31 (2000), 617–624 (620). Zu Verbindungen zwischen Kultvereinigungen der ägyptischen Götter vgl. R. S. ASCOUGH, Paul’s Macedonian Associations. The Social Context of Philippians and 1 Thessalonians, WUNT 2/161, Tübingen 2003, 95–98. Die Verbreitung des Sarapis/Isis-Kultes in hellenistischer Zeit ist – verbunden mit einer Art „Gründung“ – u. a. auch in einer Inschrift aus Delos zu erkennen, die von der stufenweisen Etablierung eines Heiligtums über drei Generationen berichtet (IG XI,4 1299 = RICIS 202/0101). HANGES, Founder (s. Anm. 3), 253, nimmt an, dass die Wiederholung der Inschrift in Thessalonich auch für einen engeren politischen Zusammenhalt mit Opus steht. 41

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liegen des zentralen Sarapis-Heiligtums in Thessalonich. Die Vorbildfunktion der Gründungsfiguren – Gehorsam, Überwindung politischer Gegnerschaft, Gastfreundschaft – ist in der Erzählung impliziert. Die eigentliche Gründung erfolgte im sozialen Kontext eines Haushalts, die Aufnahme ist durchaus als patronales Handeln zu verstehen. 1.5 Men Tyrannos im griechischen Laurion

Der aus Kleinasien nach Griechenland gebrachte Kult des Men Tyrannos bestand wahrscheinlich seit dem 4. Jh. v. Chr. im attischen Bergwerksort Laurion.44 In zwei Inschriften aus dem 2./3. Jh. n. Chr. sind zahlreiche Anweisungen überliefert, die den Kult regeln sollen.45 Der Text der ausführlicheren Inschrift setzt folgendermaßen ein (ll.1f.): Xanthos, der Lykier des Gaius Orbius, weihte den Tempel [des Men] Tyrannos, ausgewählt von Gott, auf gutes Gelingen.46

Die religiöse Legitimierung der Tempelgründung wird durch die göttliche Auswahl ausgedrückt.47 Die Erwählung durch Men berechtigt Xanthos als autoritativen Kultbegründer und Priester dann auch, die Regeln des Kultes festzulegen. Diese entsprechen Vorgaben, wie wir sie in Sakralvorschriften auch sonst finden: Reinigungen nach dem Verzehr bestimmter Speisen (Knoblauch, Schweinefleisch), nach Sexualverkehr, Menstruation, Geburt oder Leichenkontakt. Daraus wird u. a. ersichtlich, dass Männer und Frauen am Kult teilhaben können.48 Neben den Reinheitsvorschriften ist u. a. auffallend, dass Xanthos generell verlangt, dass jene, die Opfer darbringen 44 Vgl. IG II2 2940. Aufgrund der langen Verankerung des Kultes in Attica ist m. E. nicht von einem Kulttransfer zu sprechen, der durch Xanthos Jahrhunderte später noch einmal durchgeführt wird; anders HANGES, Founder (s. Anm. 3), 399. 45 IG II² 1365+1366 = GRA I 53. Abbildungen (sowie der Text) finden sich bei E. N. LANE, Corpus Monumentorum Religionis die Menis (CMRDM), Band 1: The Monuments and Inscriptions, EPRO 19, Leiden 1971, Tafeln VIII–X; Band 2: Interpretations and Testimonia, Leiden 1976, 7–16, werden die Texte kommentiert. Deutlich scheint, dass es sich primär um die Einrichtung eines Heiligtums für Men Tyrannos handelt, an den eine Kultvereinigung permanent oder nur ad hoc angeschlossen war. 46 IG II² 1366,1f.: Ξάνθος Λύκιος Γαΐου Ὀ̣ρβίου καθειδρύσατο ἱερ[ὸν τοῦ Μηνὸς]Τυράννου, αἱρετίσαντος τ̣ο̣ῦ θεοῦ, ἐπ’ ἀγαθῇ τύχῃ. 47 Auf eine Anweisung Mens gehandelt zu haben (κατ’ ἐπιταγήν), wird auch in anderen Inschriften vermerkt; vgl. G. H. R. HORSLEY, New Documents Illustrating Early Christianity, Band 3: A Review of the Greek Inscriptions and Papyri Published in 1978, North Ryde 1983, 23. Auf einen Traum im Zusammenhang einer Weihung für Men verweist auch eine kaiserzeitliche Inschrift aus dem pisidischen Antiochien: Μηνὶ εὐχαριστήριον [κα]τὰ ὄναρ (E. N. LANE, Corpus Monumentorum Religionis die Menis [CMRDM], Band 4: Supplementary Men-Inscriptions from Pisidia, EPRO 19, Leiden 1978, 137). 48 Vgl. HORSLEY, New Documents 3 (s. Anm. 47), 23f.

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oder in anderer Weise am Heiligtum Dienst tun, dies mit „schlichtem Gemüt“ tun sollen, damit ihnen die Gottheit mit Erbarmen begegnet (ll.11f.).49 Zahlreiche Texte vor allem aus der hellenistischen Periode und der Kaiserzeit zeigen, dass die Reinheit der Seele (LSCGSup 59) und der Gedanken (LSCG 139) für Kultregeln von großer Bedeutung war. Nicht nur die äußeren Handlungen sollten der für die Begegnung mit der Gottheit und ihre Verehrung notwendigen Reinheit entsprechen, vielmehr musste der Mensch gerade auch in den Gedanken, im Herzen, in der Seele ebenfalls gereinigt und gut sein.50 Der von Xanthos verwendete Begriff ἁπλοῦς ist dabei zwar sonst nicht zu finden, ist aber wohl nur eine sprachliche Variante desselben Gedankens: Die kultische Reinheit betrifft sowohl den physische Zustand als auch die psychisch-moralische Dimension. Dem Gründer des Kultes ist grundsätzlich auch die Kontrolle der Opferhandlungen wichtig (ll.7f.): Niemand darf ein Opfer darbringen ohne Zustimmung dessen, der den Tempel geweiht hat. Wenn jemand dies mit Gewalt erzwingt, wird das Opfer für die Gottheit nicht annehmbar sein.51

Zudem gibt der Gründer an, dass ausschließlich von ihm autorisierte Personen im Tempel handeln dürften, falls er selbst verhindert oder gar verstorben ist (ll.13f.). Und zuletzt bedenkt er auch noch die Etablierung eines ἔρανος, also einer ad hoc etablierten oder permanenten Vereinigung von Men-Verehrern und Verehrerinnen, die im Tempel ein Bankett abhalten wollen (ll.21–25). Gegenüber seiner Gründung – den Kultanhängern und -anhängerinnen sowie dem Eranos – präsentiert sich der Gründer auch in diesen Inschriften also als göttlich legitimiert und reklamiert damit die Autorität, die Regeln festzulegen und das Verhalten der Gottheit kund zu tun. Wichtig ist ihm dabei auch, dass er die Kontrolle über die Vorgänge im Tempel wie in der Kultgemeinschaft auf Dauer behält.52 1.6 Epiktetas Familienvereinigung

Aus der Zeit zwischen 210–195 v. Chr. stammt eine ausführliche Stiftungsinschrift, mit der Epikteta auf der Kykladeninsel Thera eine Vereinigung von Angehörigen ihrer Familie stiftete (IG XII,3 330).53 Die IG II² 1366,11f.: καὶ εὐείλατος γένοιτ̣ο ὁ θεὸς τοῖς θεραπεύουσιν ἁπλῇ τῇ ψυχῇ. Vgl. dazu v. a. CHANIOTIS, Reinheit (s. Anm. 21), 148–158.164–166. 51 IG II² 1366,7f.: καὶ μηθένα θυσιάζειν ἄνε[υ] τοῦ καθειδρυσαμένου τὸ ἱερόν· ἐὰν δέ τις βιάσηται, ἀπρόσδεκτος ἡ θυσία παρὰ τοῦ θεοῦ. 52 Vgl. ASCOUGH, Redescribing (s. Anm. 9), 70; HANGES, Founder (s. Anm. 3), l315f. 53 Vgl. dazu u. a. A. WITTENBURG, Il Testamento di Epikteta, Università degli Studi di Trieste. Dipartimento di Scienze dell’ Antichità 4, Triest 1990; E. LUPU, Greek Sacred 49

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Besonderheit ist hierbei, dass es sich um eine testamentarische Verfügung handelt, mit der Epikteta einen Auftrag ihres bereits verstorbenen Mannes erfüllt. Dieser hatte bereits begonnen, ein Musenheiligtum zu errichten, um seinen Sohn, sich selbst und andere Heroen darin verehren zu lassen. Epikteta vollendet jetzt diese Gründung, indem sie u. a. auch eine Vereinigung der Verwandten (κοινεῖνον τῶν συγγενῶν bzw. κοινὸς τοῦ ἀνδρείου) gründet, die in regelmäßigen Abständen zusammentreten und die von Epikteta überlassenen Stiftungsgelder für Feste und Mähler verwenden soll. Genaue Regeln legen Opfer- und Mahlbestimmungen fest, geben an, wer aller zu der Vereinigung überhaupt zugelassen ist und welche Ämter eingerichtet werden müssen. Das alles wird bis in das letzte Detail festgelegt. Ihrer Tochter gibt Epikteta zudem den testamentarischen Auftrag, dies weiterzuführen und das Musenheiligtum und den Bezirk der Heroen (zu denen sie dann auch selbst gehören wird) zu schützen. In weiterer Folge setzt Epikteta darüber hinaus ihren Enkel als Priester ein und bestimmt die Regeln für die Übertragung an die nächsten Generationen. Zwar werden zahlreiche Vereinsagenden der Vereinigung selbst zur Bestimmung überlassen, die Auflösung, das Aussetzen der Feiern oder der Abzug des Geldes sind allerdings verboten. Die Stiftungsinschrift der Epikteta erhebt keinen expliziten Anspruch auf religiöse Legitimation, sondern ist vielmehr rechtlich ausgerichtet: Sie ist einerseits Erfüllung des Versprechens und andererseits ökonomische Sicherung des Bestands der Vereinigung. Wesentlich ist zudem die Ehrung der Familie, die Gründer und Patron zugleich ist, im Kontext des Heroenund Musenkultes. 1.7 Die Anfänge des Dionysos-Kultes in Magnesia

Erneut ein Blick auf die Einführung eines neuen Kultes, diesmal des Dionysos. Die Inschrift, die in mythologischer Weise auch über die Gründung von Thiasoi berichtet, wird in die Zeit Hadrians datiert, der ursprüngliche Text stammt aber aus dem 3. Jh. v. Chr.54 In der Inschrift wird zunächst von einer wunderbaren Erscheinung berichtet: Ein Bild des Dionysos finLaw. A Collection of New Documents (NGSL), RGRW 152, Leiden 2005, 86f. Ähnliche Familienvereinigungen sind die Gründungen durch Diomedon (SIG 1106 = LSCG 177; Kos, spätes 4./frühes 3. Jh. v. Chr.) und Poseidonius (SIG 1044 = LSAM 72; Halikarnassos, frühes 3. Jh. v. Chr.); vgl. dazu F. SOKOLOWSKI, Lois sacrées des cités Grecques, École Française d’Athènes 1969, 307–313, und DERS., Lois sacrées de l’Asie Mineure (s. Anm. 13), 167f. Für die römische Welt vgl. etwa CIL V 7906 (Cemelenum, 3. Jh. n. Chr.). 54 Text und franz. Übersetzung bei A. F. JACCOTTET, Choisir Dionysos. Les associations dionysiaques ou la face cachée du dionysisme, Band 2: Documents, Zürich 2003, No. 146; englische Übersetzung in Ascough / Harland / Kloppenborg, Associations (s. Anm. 23), 122f.

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det sich in einem Baum bzw. Busch, zusätzlich macht es ein durch Wind verursachtes lautes Geräusch.55 Das Orakel von Delphi wird dazu befragt und gibt als Auskunft, dass die Magnesier den Dionysoskult bei sich einführen sollten. Sie sollten Tempel weihen und einen passenden und heiligen (εὐάρτιον ἁγνόν) Priester bestellen. Drei Mänaden aus Theben (vgl. Euripides) würden ihnen die ὄργια καὶ νόμιμα beibringen und in der Stadt Kultvereinigungen (θίασοι) gründen.56 Diese drei Bakchosgemeinschaften werden dann auch genannt: Der Thiasos der Plantane (nach dem Baum, in dem das Bild aufgetaucht war), der Thiasos πρὸ πόλεως57 und der Thiasos von Kataibatai. Die Gründerinnen sind also Mänaden (μαινάδες), Frauen, die in dionysischen Riten eine wichtige Rolle spielen.58 Sie sind wohl keine mythischen Figuren, sondern als reale Personen gedacht, deren Zahl als Ätiologie für das Bestehen der drei Dionysosvereinigungen gelten kann. Die Gründung wird durch Erscheinung und Orakel religiös legitimiert und durch namentlich bekannte Gründerinnen, die aus einem anderen Ort stammen, durchgeführt. Wieder geht es um die Verbreitung eines Kultes, die nicht ohne Begründung von Kultgemeinschaften, die dafür konstitutiv sind, geschieht. Dabei ist die Nennung eines heiligen Priesters sowie die Erwähnung des Stifters der Inschrift Apollonios Mokollos als Hinweis auf Vorbilder zu verstehen, an denen sich die drei Kultgemeinschaften bzw. ihre leitenden Amtsträger orientieren sollen. 1.8 Die Ehrung des Vereinsgründers Diodoros

Ein letztes und durch seine Betonung der Vorbildwirkung besonders eindrückliches Beispiel für das Verhältnis einer Vereinigung zu ihrem Gründer findet sich in einer Athener Inschrift aus dem späten 1. Jh. v. Chr.59 Die Gemeinschaft (κοινόν, σύνοδος) bezeichnet sich als Soteriasten, Verehrer der Artemis, und Diodoros wird als einer (!) ihrer Gründer geehrt, der bei der ersten Zusammenkunft (συλλογή) mitwirkte.60 In einem für Vereinigungen typischen cursus honorum stieg er vom Schatzmeister über den Vorsitzenden bis zum Priester auf. 55 Vgl. dazu zuletzt A. HENRICHS, Göttliche Präsenz als Differenz. Dionysos als epiphanischer Gott, in: R. Schlesier (Hg.), A Different God? Dionysos and Ancient Polytheism, Berlin 2011, 105–117 (113). 56 Die Gründung wird mit καθ(ε)ιδρύειν bezeichnet (l.34). 57 Das kann entweder „vor der Stadt“ oder „für die Stadt“ bedeuten; vgl. zu der Formulierung die Übersicht in GRA I 384. 58 Vgl. Paus. 10,4,3; 6,4; 32,7; siehe dazu im Überblick T. HEINZE, Mänaden, DNP 7 (1999), 639–641. 59 IG II2 1343 = GRA I 48. 60 So in l.12 (τὴν σύνοδον αὐτὸς κτίσας), l.15 (τοῦ θεμελιωθῆναι τὴν σύνοδον), l.42 (τὸν κτίσαντα).

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Die Inschrift will, wie viele Ehreninschriften gerade aus dem Bereich der Vereinigungen, dazu motivieren, dass andere Mitglieder dem Beispiel des Diodoros folgen und sich ebenso für die Gemeinschaft einsetzen (ll.40–42). Daher werden nicht nur Ehrungen festgelegt (Bekränzung, Proklamation und Aufstellung der Inschrift im Heiligtum), sondern auch die Eigenschaften und Haltungen aufgezählt, die Diodoros auszeichneten: εὔνους „freundlich“, ἀκοπίατος „unermüdlich“, mit σπουδή „Eifer“, φιλοτιμία „Ehrgeiz“ und ἐκτένεια „Beflissenheit“, ἀφιλάργυρος „freigiebig“, „die Gemeinschaft bewirtend“ (ἑστιᾶν). Wer dies ebenso tue, werde wie er dazu helfen, das Wachstum der Synodos zu stärken (ll.40–42). All dies führt dazu, dass Diodoros als Zeichen der Anerkennung die Ehrung und das Gedächtnis der Soteriasten erhält. Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Gründer und Gründung ist hier in besonderer Weise die Vorbildfunktion des Mit-Gründers zu nennen: Bisherige Leistungen sowie lobenswerte Eigenschaften werden als Anlass der Ehrung aufgezählt und öffentlich bekanntgemacht. Der Geehrte war einer von mehreren Gründern und übernahm verschiedene Ämter in der Vereinigung. 1.9 Zusammenfassung

Überblickt man diese Beispiele, so lassen sich einige Besonderheiten festhalten, die im Zusammenhang von Vereinsgründungen und der Rolle, die die Gründungsgestalten für diese und in diesen spielte, von Bedeutung sind: Auffällig ist die hohe Bedeutung religiöser Legitimation, die etwa bei Dionysios in Philadelphia, der Entstehung des Sarapis und Isis-Kultes in Opus oder der Dionysos-Verehrung in Magnesia begegnet, aber auch knapp für den Artemis-Kult in Kremna und die Verehrung des Men in Laurion genannt wird. Die Gründerfiguren berufen sich selbst darauf (Dionysios, Xanthos) oder die Berichte nennen dies als wichtiges Element. Eng damit verbunden – aber nicht notwendig, wie das Beispiel der Epikteta zeigt – ist die Aufstellung von Kultregeln, die durch die Verbindung zur Gottheit autorisiert sind. Mithilfe dieser Vorschriften konnten die Gründer die Vorgänge in der Vereinigung und teilweise (z. B. Dionysios, Xanthos) sogar darüber hinaus regeln. Im Kontext dieser religiösen Legitimation ist auffallend, dass in mehreren Zusammenhängen die Verbreitung des Kultes ein wichtiges Anliegen der Begründung der jeweiligen Gemeinschaft darstellte: In Opus die Sarapis und Isis-Verehrung, in Kremna die der Artemis Ephesia, in Magnesia die des Dionysos. Dabei mögen die Motive und die Trägergemeinschaften durchaus unterschiedlich gewesen sein, sie teilen aber das Anliegen der Etablierung eines bereits vorhandenen Kultes an einem neuen Ort. Dazu

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war u. a. eben auch die Gründung einer Gruppe von Anhängern und Anhängerinnen – häufig verbunden mit einem Haushalt – von großer Bedeutung. Ein weiteres wichtiges Element der angeführten Inschriften ist die Betonung des Vorbildcharakters der Gründungsgestalten. Das hängt zum einen damit zusammen, dass es sich um Ehreninschriften handelt, die diese verweisende Funktion in sich tragen61, zum anderen wird dies aber auch auf andere Weise artikuliert: Dionysios ist selbst der Erste, der sich den Regeln durch Schwur unterwirft, und die Verantwortlichen für die Einrichtung des Sarapis- und Isis-Kultes werden beschrieben als Menschen, die Hindernisse überwanden. Auffällig ist auch, dass die Gründergestalten in der Regel auch Ämter in den Vereinigungen innehatten: Sie oder ihre Nachfahren waren selbst Priester (Diodoros, Trokondas, Xanthos, Epiktetas Sohn), Dionysios aus Philadelphia durch die Gründung selbst die prägende Gestalt, ohne dass ein Amt erwähnt werden muss. Die führende Rolle von Gründern und Gründerinnen hat auch einen engen Konnex mit deren religiöser Legitimierung, da diese für die Wahrnehmung der Leitungsfunktion besonders qualifiziert. Zugleich wird erkennbar, dass die Bewahrung dieser Rolle auch selbst Thema der Inschrift sein konnte (z. B. beim Men-Kult des Xanthos). Ebenfalls zu beachten ist der enge Konnex zwischen der Gründung einer Vereinigung und der Einbindung in den Haus- bzw. Familienkontext. Der Zusammenhang fand sich bei Dionysios aus Philadelphia, beim Sarapis- und Isis-Kult in Opus, bei der Einführung des Artemis Ephesia-Kultes in Kremna und selbstverständlich auch bei Epiktetas Familienvereinigung. Schon in Ugarit ließ sich dafür ein Beleg finden.62 Damit hängt schließlich auch zusammen, dass die Gründer eine patronale Rolle für die Gemeinschaft, die auf ihre Initiative zurückgeht, spielten. Dabei geht es nicht immer nur um Autorität, sondern auch um Verantwortung. Bei Epikteta ist dies v. a. ökonomisch ausgerichtet, bei Dionysios hingegen wie auch bei Xanthos im Blick auf die Bewahrung eines positiven Gottesverhältnisses.

Das gilt etwa für die Generationen, die den Artemis-Kult nach Kremna brachten und weiterführten, für Epikteta und ihre Familie und besonders für Diodoros. 62 Möglicherweise ist dies auch bei Vereinigungen, die nach Personen benannt sind, ein besonderes Charakteristikum. 61

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Für das folgende Studium des Verhältnisses zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde in Philippi63 lassen sich so die folgenden Leitfragen formulieren: 1) Welche Rolle spielt religiöse Legitimierung bei der Gründung? 2) Welche Bedeutung hat die Verbreitung des Kultes als Motiv der Gründung? 3) Welche Rolle spielt der Gründer im Leben der von ihm gegründeten Vereinigung? 4) Welche Rolle spielt der Status der Ehre? 5) Welche Rolle spielt das Patronat für die Gründung? 6) Ist der Gründer Vorbild für das Verhalten der Mitglieder? 7) Wo hat die Gründung ihren sozialen und physischen Ort?

Diese Fragen stellen zwar nur einen Ausschnitt aus den vielfältigen möglichen Fragestellungen dar, sind aber durch die Quellen selbst nahegelegt. Ihre Anwendung auf das Verhältnis zwischen Paulus und der Gemeinschaft von Christusgläubigen in Philippi soll zum einen Einblicke eröffnen, die zeigen, wie sehr sich auch in dieser Hinsicht die Christusgläubigen nicht anders als andere Vereinigungen der griechisch-römischen Antike verhielten, und zum anderen auch das spezifische Profil der paulinischen Gemeinden deutlicher erkennbar machen.

2 Paulus und die Christusgläubigen in Philippi Hinsichtlich des Verhältnisses des Apostels Paulus zur Gemeinschaft von Christusgläubigen in Philippi sind für die Beantwortung der oben genannten Leitfragen ausgesprochen viele Informationen vorhanden, wie wir sie für die oben genannten Inschriften nicht einmal annähernd zur Verfügung haben. Nicht allein aus dem Philipperbrief, sondern auch aus dem 1. Thessalonicherbrief, den Korintherbriefen und der Apostelgeschichte lassen sich entsprechende Rückschlüsse ziehen.64 63 Zu Paulus als Gründer und den dazugehörigen Forschungspositionen siehe HANGES, Founder (s. Anm. 3), 2–14. Wie weit Silvanus und Timotheus bzw. auch der Verfasser der Apostelgeschichte sich als Gründer verstanden bzw. verstanden wurden, lässt sich nicht erheben, ist aber wohl auch für Paulus hier nicht weiter von Bedeutung. 64 Zu Datierung und Lokalisierung: Ich halte den Philipperbrief für ein Schreiben des Paulus aus Ephesus, also aus den Jahren 52–54. Die Ausführungen zu Gesetz und judäischer Identität sind m. E. Reflexe der galatischen Krise und nicht durch Vorfälle in Makedonien hervorgerufen. Die Argumente für diesen Ansatz bietet u. a. Heike Omerzu im vorliegenden Band. Die Apostelgeschichte, entstanden in den 90er Jahren, stammt wohl nicht von einem Augenzeugen, ist aber hinsichtlich der historischen Umstände von hoher Bedeutung.

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ad 1) Welche Rolle spielt religiöse Legitimierung bei der Gründung?

Aus der lukanischen Perspektive ist klar: Schon allein die Tatsache, dass Paulus seit dem Ruf des Herrn als „ausgewähltes Werkzeug“ den Namen des Kyrios „vor Völker, Könige und die Söhne Israels“ bringen sollte (Apg 9,15), ist an sich ausreichende religiöse Legitimierung für die Gründung der philippischen Gemeinde. Dazu tritt aber in Apg 16 eine doppelte Konkretisierung: Zum einen wird Paulus (mit Silas und Timotheus) vom Geist daran gehindert, in die Asia oder nach Bithynien zu gehen (Apg 16,6f.), zum anderen hat er eine nächtliche Vision – vielleicht auch einen Traum – eines makedonischen Mannes, der ihn um Hilfe bittet (Apg 16,9). Dieses ὅραμα benötigt zusätzlich Interpretation: ὅτι προσκέκληται ἡμᾶς ὁ θεὸς εὐαγγελίσασθαι αὐτούς „dass Gott uns herbeigerufen hat, ihnen das Evangelium zu verkündigen“ (Apg 16,10). Dass sich dies dann bei unterschiedlichen Gelegenheiten in Philippi (und auch Thessalonich) bestätigt, und zwar trotz aller Widerstände, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Aber auch der Philipperbrief selbst enthält selbstverständlich deutlichste Hinweise darauf, dass die Gründung der Gemeinde nicht auf Pauli eigene Initiative erfolgte. Die Selbsttitulierung im Präskript als „Sklave Gottes“, gemeinsam mit Timotheus, kann schon so gedeutet werden. Explizit wird Paulus in 1,5f.: Gott selbst hat das gute Werk (τὸ ἔργον ἀγαθόν), d. h. die Gemeinschaft der Philipper am Evangelium, angefangen. Zur Verteidigung ebendieses Evangeliums ist Paulus eingesetzt (1,17), so weit, dass er sein Leben dafür hingeben würde (1,21). Den Glauben der Philipper versteht Paulus als geschenkt (1,29; 4,9). Dabei ist zentral, dass Gott diesen von ihm gesetzten Anfang auch zur Vollendung bringt (1,6), denn er bewirkt Wollen und Vollbringen (2,13), freilich nicht unabhängig von menschlichem Bemühen (2,12). Das alles ist nicht ungewöhnlich für das paulinische Verständnis seiner Verkündigungstätigkeit und die damit verbundene Etablierung von Gemeinden.65 Bei aller Selbstverständlichkeit ist aber dennoch zu beachten, dass Paulus sich damit einerseits als befugt präsentiert, der Gemeinschaft Belehrung und Anweisung zu geben, sich andererseits aber auch entlastet: Es ist Gottes Werk, das er begonnen hat und weiterhin vollzieht, nicht sein eigenes Unternehmen. Der Gedanke, dass ein sich als göttlich Beauftragter verstehender Gründer einer Gemeinschaft sich auch als Mittler verstehen konnte, nicht als 65 Vgl. nur 1Thess 1,1–2,13; Gal 1,12; v. a. mit Blick auf den Galater- und den 1. Korintherbrief dazu auch HANGES, Founder (s. Anm. 3), 382–391. Bezugnahme auf göttliche Beauftragung kann freilich auch dort eine Rolle spielen (wie im Römerbrief), wo Paulus die Gemeinschaft nicht gegründet hat. Sie legitimiert dann das Eingreifen, nicht aber das Entstehen der Gemeinde.

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Patron (dazu s. u.), rückt das theologische Moment stärker in den Vordergrund. Denn für Paulus geht gewiss alles von Gott aus, was die Philipper empfangen haben.66 Im Vergleich zu den oben erwähnten Beispielen aus der paganen Umwelt ist dies doch eine gewisse Differenz, die aber auch nicht überbewertet werden sollte. Paulus verhält sich nicht anders als andere Gründungsgestalten, indem er die göttliche Legitimierung für sein Eingreifen in die Angelegenheiten der von ihm gegründeten Gruppe hervorstreicht.67 ad 2) Welche Bedeutung hat die Verbreitung des Kultes als Motiv der Gründung?

Philipperbrief und Apostelgeschichte haben ganz selbstverständlich die Verbreitung der Christusverehrung im Blick. Das braucht keinen breiten Nachweis.68 Im Philipperbrief wird dies an einigen Stellen explizit gemacht, denn die „Teilhabe am Evangelium“ (1,5) meint wohl nicht nur den Glauben an das Evangelium, sondern auch die Beteiligung der Philipper an der Evangeliumsverkündigung, sei es durch eigenes Wirken, sei es durch die Unterstützung des Paulus (vgl. 4,4).69 Die Förderung der Verkündigung (προκοπὴ τοῦ εὐαγγελίου; 1,12) ist ein wesentliches Anliegen des Briefes wie des gesamten Verhältnisses zwischen Paulus und der Gemeinde, auch wenn andere dies ebenfalls betreiben (1,14–18). ad 3) Welche Rolle spielt der Gründer im Leben der von ihm gegründeten Vereinigung?

Paulus war mehrfach in Philippi: Dem ersten überlieferten Aufenthalt im Jahr 49/50 (1Thess 2,2; Apg 16), bei dem die Gemeinde gegründet worden war, folgte 5–6 Jahre später ein zweiter Besuch in Makedonien, von dem wir im 2. Korintherbrief erfahren (2Kor 2,13; 7,5; vgl. 1Kor 16,5; 1Tim 1,3). Er war bereits zuvor geplant gewesen, aber aufgeschoben worden (2Kor 1,16). Zusätzlich verweist 2Kor 11,9 auf einen Besuch von Gemeindegliedern aus Makedonien in Ephesus, was sehr wahrscheinlich Personen aus Philippi einschließt, da hier die im Philipperbrief angesprochene finan66 Vgl. etwa D. E. BRIONES, Paul’s Intentional „Thankless Thanks“ in Philippians 4.10–20, JSNT 34 (2011), 47–69 (61–64); M. KEOWN, The Christ–Pattern for Social Relationships. Jesus as Exemplar in Philippians and other Pauline Epistles, in: S. E. Porter / C. D. Land (Hg.), Paul and His Social Relations, Pauline Studies 7, Leiden 2013, 301–331 (303f.). 67 Autorität kommt also nicht durch Wahl zustande, sondern durch göttliche Auswahl des Gründers; vgl. dazu u. a. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 459. 68 Vgl. grundsätzlicher dazu HANGES, Founder (s. Anm. 3), 397–400. 69 Vgl. dazu etwa G. W. HANSEN, The Letter to the Philippians, PNTC, Grand Rapids 2009, 48f.

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zielle Versorgung angesprochen wird. Schließlich erfolgte relativ kurz nach dem 2. Besuch ein letzter Aufenthalt während der Reise nach Jerusalem (Apg 20,1–6). Der Philipperbrief fällt wahrscheinlich in die Phase zwischen erstem und zweitem Aufenthalt, vielleicht in das Jahr 53 oder 54. Der Brief selbst ist Ausweis der Tatsache, dass der Gründer der Gemeinde in dieser eine wichtige Rolle spielte und auch spielen wollte, und dies auch aus geographischer Distanz tat. Das ist gegenüber den Texten, die wir oben näher betrachtet haben, ein durchaus gewichtiger Unterschied: Vereinigungen werden von ihren Gründern, so weit wir wissen, nicht aus der Ferne gesteuert, vielmehr sind diese auf Dauer präsent. Der Ausdruck von Verbundenheit in An- wie Abwesenheit, wie wir ihn im Philipperbrief finden (1,27), ist daher in Inschriften nicht zu erwarten.70 Er ergibt sich vielmehr aus der Reisetätigkeit des Gründers und ist daher nicht notwendig als besondere Nahebeziehung des Apostels zu seiner Gemeinde im Unterschied zu anderen Vereinigungen zu deuten.71 Paulus musste ja Briefe schreiben, um das tun zu können, was Gründer sonst tun. Ebenso dem Verhältnis zwischen Paulus und den Philippern eigen ist die finanzielle Unterstützung, die Paulus von der Gemeinde mehrfach empfing und die einer der Briefanlässe war (4,10–20).72 Zahlungen oder gar freiwillige ökonomische Unterstützung des Gründers kennen wir aus Vereinstexten nicht. Was allerdings zahlreich belegt ist, sind entweder materielle Stiftungen der Gründer – also gerade umgekehrt – oder Ehrungen der Gründer durch die Vereinsmitglieder. In einem weiten Sinn lässt sich die finanzielle Unterstützung, die Paulus empfängt, durchaus als Äquivalent für diese letztgenannten Ehrungen verstehen, auch wenn Paulus dies selbst nicht in diesem Sinne ausdrückt.73 Die Sendung von Gesandtschaften mit Geldsummen demonstriert freilich das nachhaltige Interesse der Philipper, sich der Aktivität ihres Gründers auch in seiner Abwesenheit zu versichern. Paulus bestätigt ihnen, dass sie in diesem Bemühen auch erfolgreich sind: „Ich habe euch in mei70 Hinzu kommt zusätzlich die durch die Briefform selbst bereits nahegelegte emotionale Tönung, die für Inschriften, die zudem mehr oder weniger öffentlich waren, nicht üblich war. 71 Vgl. auch HANGES, Founder (s. Anm. 3), 416, der im Folgenden auch spekuliert, ob Paulus schriftliche Anweisungen hinterließ. 72 Vgl. dazu insgesamt den Forschungsüberblick und Ansatz von D. E. BRIONES, Paul’s Financial Policy. A Socio-Theological Approach, LNTS 494, London 2013. 73 Vgl. dazu u. a. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 465, der für die ökonomischen Privilegien von Gründungsgestalten allerdings kaum Parallelen bei Paulus aufzeigen kann. Der Umstand, dass Paulus sich im Philipperbrief nicht als Apostel präsentiert, sondern den Begriff neutraler verwendet (Phil 2,25), ist ebenfalls als Hinweis auf das positive Verhältnis zur Gemeinde zurückzuführen. Seine Autorität ist nicht gefährdet.

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nem Herzen“ (1,7). Ebenso ist aber auch Paulus intensiv daran interessiert, sich in die Gemeinde einzubringen, auch wenn er selbst nicht da ist, neben dem Brief auch durch Boten: Timotheus und Epaphroditus sind Repräsentanten Pauli, der selbst den Herrn repräsentiert (2,19–30). Die Behandlung dieser Gesandten durch die Gemeinde – im Falle des Epaphroditus möglicherweise nicht ganz spannungsfrei74 – ist für das Verhältnis des Paulus zur von ihm gegründeten Gemeinschaft entscheidend. Paulus geht sogar so weit, die Todessehnsucht zugunsten der Philipper hintanzustellen (1,23–26). Sein Leben und sein Einsatz für das Evangelium sind für die Philipper notwendig, weil sie dadurch vorankommen. Der Apostel präsentiert sich damit als jener, der sich mit Haut und Haar (wie übrigens auch Epaphroditus) für sie einsetzt. Der gemeinsame Kampf für den Glauben und die Verbreitung des Evangeliums verlangt von ihm wie von den Philippern, die darin ja nicht hinter Paulus zurückstehen können, nichts anderes als alles (1,27). Aus dieser engen Verbindung, in der sich Paulus als leitende und vorbildhafte (s.u.) Figur präsentiert, ergeben sich auch die Imperative im Philipperbrief: „Wandelt würdig des Evangeliums!“ (1,27) – „Erfüllt meine Freude!“ (2,2) – „Habt diese Gesinnung!“ (2,5) – „Bewirkt euer Heil!“ (2,12) – „Tut alles ohne Murren!“ (2,14) – „Freut euch und freut euch mit mir!“ (2,18; vgl. 3,1; 4,4) – „Nehmt Epaphroditus auf und ehrt ihn! (2,29) – „Seht auf die Hunde!“ (3,2) – „Seid meine Nachahmer!“ (3,17) – „Steht fest im Herrn!“ (4,1) – „Sorgt euch nicht!“ (4,6) – „Bedenkt das Tugendhafte!“ (4,8) – „Tut, was ich euch sage!“ (4,9). Euodia und Syntyche werden ermahnt, Frieden zu halten (4,2), ein persönliches Eingreifen des Paulus, das in den echten Briefen einzigartig ist. Andere werden als vorbildhaft hervorgehoben (2,25–30; 4,3). In 4,8 gibt Paulus eine Reihe von ethischen Vorgaben, die sich an hellenistisch-römischen Tugenden orientieren, wie sie selbstverständlich auch in Vereinigungen – wenigstens informell – gelten sollten: wahrhaft (ἀληθής), geachtet (σεμνός), recht (δίκαιος), tadellos (ἁγνός), beliebt (προσφιλής), anerkannt (εὔφημος), mit Tugend (ἀρετή) und Lob (ἔπαινος) verbunden, das Ethos der Philipper soll sich daran orientieren.75 Der Apostel mischt sich also sehr intensiv in die von ihm gegründete Gemeinschaft ein, von den Einzelheiten bis zum großen Ganzen. Das hat, wie J. C. Hanges gezeigt hat, sehr viel mit dem Zu Phil 2,25–30; 4,18 vgl. etwa M. SILVA, Philippians, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids 22005, 138–142; H. H. DRAKE W ILLIAMS III, Honouring Epaphroditus. A Suffering and Faithful Servant Worthy of Admiration, in: Porter / Land (Hg.), Paul and His Social Relations (s. Anm. 66), 333–355. 75 Vgl. zu dieser Reihe H. WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 256–263, der die gesellschaftliche Verankerung der von Paulus angeführten „Werte“ aufzeigt. 74

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Selbstverständnis als Gründer zu tun, der den Anspruch, die Angelegenheiten seiner Gründung zu bestimmen, selbstverständlich erhebt und in anderen Fällen auch verteidigt.76 ad 4) Welche Rolle spielt der Status der Ehre?

Auch Paulus geht es um Ehre: Laut Apostelgeschichte nahm er die Entehrung durch Prügelstrafe und Gefängnis in Kauf (Apg 16,22–24), um dann aber doch auf den Status als römischer Bürger zu verweisen (16,37f.). Der Philipperbrief rückt das Thema der Ehre immer wieder ins Zentrum und zwar in vielerlei Hinsicht:77 Paulus ist angetrieben von dem festen Vorsatz, vor Christus am Tag des Gerichts nicht in Schande dazustehen. Das Festhalten am Evangelium motiviert sich u. a. daraus (1,20), denn dann ist auch das Sterben Gewinn (1,21). Seinen Status der Ehre vor Gott bzw. Christus bindet Paulus allerdings an das Verhalten der Philipper: Im Blick auf sie macht sich Paulus Sorgen, wenn er von ihnen genaue Prüfung des Verhaltens verlangt, um „lauter und unanstößig (εἰλικρινεῖς καὶ ἀπρόσκοποι) am Tag des Christus“ vor ihm stehen zu können (1,10; vgl. 1,27).78 Sein Wirken in Christus macht den jetzigen Ruhm der Gemeinde aus (1,26).79 Vor allem aber: Als ἄμεμπτοι καὶ ἀκέραιοι (untadelig und unverdorben) müssen sie vor Gott dastehen, damit Paulus Ruhm bei Christus hat (2,15f.) und den Siegeskranz erreicht (4,1). Die Öffentlichkeit, vor der der Apostel geehrt wird, ist niemand geringerer als Gott. Ehre wird von Paulus auch als Paradoxon eingesetzt, wenn er gegen Vorzüge aufgrund judäischer Abstammung das Christusbekenntnis setzt, das alles zum Verlust macht. Den Gewinn erwartet er allein von Gott, was freilich das eigene Mühen gerade einschließt (3,12). Paulus rückt das Verhältnis von Ehre und Schande im Philipperbrief unter eine eschatologische, transzendente Perspektive: Die δόξα – also jene Vorzüge, die Menschen aufgrund ihrer Herkunft hatten – wird zur αἰσχύνη, sie liegt im himmli76 Vgl. HANGES, Founder (s. Anm. 3), 406–416 und 392: „The model of the founder’s role is the crucial element in Paul’s exercise of authority over his congregations.“ 77 Vgl. dazu u. a. J. H. HELLERMAN, Reconstructing Honor in Roman Philippi. Carmen Christi as cursus pudorum, MSSNTS 132, Cambridge 2005. 78 Die Textüberlieferung zu 1,11 zeigt eine auffällige Varianz: Während die Überlieferung im Sinaiticus, Vaticanus und etlichen anderen Majuskeln die in NA28 übernommene Lesart bietet, wonach der Ruhm Gott zukommt (εἰς δόξαν καὶ ἔπαινον Θεοῦ), liest Chester Beatty II (P 46) εἰς δόξαν Θεοῦ καὶ ἔπαινον ἐμοί und die Majuskeln Augiensis (F) und Boernerianus (G) bieten gemeinsam mit dem Ambrosiaster gar nur εἰς δόξαν καὶ ἔπαινόν μοι; vgl. dazu u. a. B. W ITHERINGTON, Paul’s Letter to the Philippians. A Socio-Rhetorical Commentary, Grand Rapids 2011, 67. 79 Vgl. U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/I, Leipzig 2 2002, 72f.

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schen Bürgerrecht (3,19f.; vgl. 3,3). Im Himmel ist wahre δόξα als Verwandlung des Leibes zu erwarten (3,21). Die Wertschätzung der Gemeinde für sich und sein Wirken erfährt Paulus jetzt durch die Geldgabe, wobei auch hier die Schwergewichte umgedreht werden: Der Apostel präsentiert es als Ehrung für die Philipper, dass er Geld von ihnen annimmt (4,15), um sie so an seinem Erfolg zu beteiligen (4,17).80 Zwar befreit die Gabe der Philipper Paulus aus dem Status der Schande – Hunger und Mangel – hin zu einem weniger prekären Status (er bleibt ja Gefangener), doch kann er auch gut in Schande leben. Indem die ökonomische Unterstützung von Paulus als Opfer für Gott gedeutet wird (4,18), gewinnt er auch dieser Gabe einen transzendenten Aspekt ab, sodass das „Ehrenkonto“ (4,17) der Philipper im Plus steht. Schließlich aber ist Doxa im Eigentlichen das, was Gott zukommt: Herrlichkeit und Lob Gottes sind das Ziel allen Handelns (1,11), der so genannte Christushymnus (2,6–11) rückt den Ehrenstatus des Apostels und der Gemeinde ins rechte Licht: In Christus werden sich schließlich alle Knie beugen und alle seine Herrschaft bekennen. Im Blick auf die genannten Texte von Vereinigungen ist sicherlich auffällig, dass Paulus für sich, aber auch für seine Adressaten Ehre zunächst nicht in der Gemeinschaft, geschweige denn in der Öffentlichkeit sucht. Ansehen und Status spielen vor allem vor Gott eine Rolle. Zugleich sind sie aber auch in der Gemeinschaft eben gerade nicht unbedeutend: So sehr Paulus betont, dass das Verhalten der Christusgläubigen für seinen Status bei Gott wichtig ist, so sehr wirbt er im Brief auch um Zustimmung und Anerkennung seines Handelns. Explizit tut er dies für seinen „Bruder, Mitarbeiter und Mitstreiter“ Epaphroditus (2,25), für den er tatsächlich Ehre einfordert (2,29): Mit der Umschreibung καὶ τοὺς τοιούτους ἐντίμους ἔχετε ist doch wohl auch er selbst in diese Forderung nach Anerkennung eingeschlossen. ad 5) Welche Rolle spielt das Patronat für die Gründung?81

Grundsätzlich ist klar: Die Tatsache, dass die Gemeinschaft auf das Wirken des Paulus zurückgeht, rückt ihn an die Spitze der Gemeinschaft. Wo 80 WITHERINGTON, Philippians (s. Anm. 78), 274, hält zu recht fest, dass die Freude des Paulus sich nicht allein auf die Behebung einer ökonomischen Notsituation richtet, sondern vor allem auf die erneuerte Beziehung zwischen ihm und den Christusgläubigen in Philippi. 81 Wenn im Folgenden von „Patronat“ die Rede ist, dann nicht im Sinne eines formalen Patron-Klienten-Verhältnisses, sondern einer soziologischen Konstellation, die für die Antike in unterschiedlichen Formen prägend war; vgl. dazu u. a. B. A. LOWE, Paul, Patronage, and Benefaction. A „Semiotic“ Reconsideration, in: Porter / Land (Hg.), Paul and his Social Relations (s. Anm. 66), 57–84.

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wir von Gründungen erfahren, die ausdrücklich mit einzelnen Personen verbunden wurden – und Paulus tut dies von Beginn des Briefes an explizit – stehen diese auch in einem Verhältnis zu ihren Gründern, das sich als Patronat bestimmen lässt.82 Auch die Hinwendung des Paulus zu den Philippern durch den Brief stellt so etwas wie ein patronales Eingreifen in ihre Angelegenheiten dar. Er erwartet ja selbstverständlich, dass seine Anweisungen, die das Leben der Gemeinschaft massiv betreffen, erfüllt werden. Abgesehen von dieser allgemeinen Rolle als übergeordnete autoritative Figur lässt sich eine patronale Struktur noch weiter konkretisieren. Vor allem Lukas Bormann hat darauf hingewiesen, dass die paulinischen Aussagen zur finanziellen Unterstützung durch die Philipper (4,10–20) und die Sendung das Epaphroditus (2,25–30) einem Klienten-Patron-Verhältnis am ehesten entsprechen würden.83 In der Tat: Das positiv gestimmte Verhältnis zwischen Paulus und den „Heiligen“ in Philippi scheint mir mit der Kategorie der „Freundschaft“ nicht ausreichend beschrieben zu sein.84 Auch wenn Paulus die finanzielle Unterstützung bitter notwendig hatte – verklausuliert wird dies aus 4,11f. m. E. doch deutlich – er versteht sich gerade nicht in der Rolle des Abhängigen.85 Er hat doch die Gemeinschaft als Beauftragter des Herrn erst gegründet!86 Im Gegenteil: Er füllt die patronale Rolle aus. Sein Wirken ist nun allerdings nicht darin zu erkennen, dass er die Gemeinde selbst finanziell unterstützen würde, wie dies Patrone von Vereinigungen in der Regel tun. Vielmehr wirkt er in zweierlei Hinsicht stellvertretend für sie: Als Gefangener setzt er sich einerseits – möglicherweise mit Unterstützung durch Epaphroditus – im Kontext der 82 In diesem Sinne sollte gegenüber L. B ORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995, 214, ergänzt werden: Nicht nur die Verkündigung des Evangeliums und die Besuche in Philippi sind die (Gegen-)Leistung des Paulus, die Gründung ist die das Patron-Klienten-Verhältnis konstituierende Leistung, die die Beziehung zwischen Paulus und den Christusgläubigen in Philippi auch weiterhin bestimmen wird, ungeachtet der finanziellen Unterstützung. 83 BORMANN, Philippi (s. Anm. 82), 206–217; vgl. auch BRIONES, Thankless Thanks (s. Anm. 66), 52–62. Anders etwa J. H. HELLERMAN, Brothers and Friends in Philippi. Family Honor in the Roman World and in Paul's Letter to the Philippians, BTB 39, 2009, 15–25 (19f.); W ITHERINGTON, Philippians (s. Anm. 78), 31. 84 Vgl. zu diesem Ansatz die Darstellung der Forschungsgeschichte bei BRIONES, Thankless Thanks (s. Anm. 66), 49; ders., Policy (s. Anm. 72), 73–79. Die Beschreibung des Philipperbriefs als „Freundschaftsbrief“ trägt dieser soziologischen Einordnung auch rhetorisch Rechnung; vgl. etwa zuletzt wieder HANSEN, Philippians (s. Anm. 69), 6–12. Hansen (a. a. O. 307f.), deutet die Beziehung zwischen Paulus und der Gemeinde im Anschluss an Paul Sampley als societas, die einer Vereinigung von Geschäftspartnern entsprechen würde. 85 Vgl. BRIONES, Thankless Thanks (s. Anm. 66), 63. 86 Vgl. auch W ITHERINGTON, Philippians (s. Anm. 78), 270: „In such a setting it is the one who initiates the relationship that sets up its terms, and in this case that would be Christ and his apostle Paul.“

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paganen Gesellschaft und imperialen Ansprüche für das Evangelium ein, an dem sie selbst auch teilhaben.87 Ihre Gemeinschaft in der Bedrängnis ist nicht gering zu achten (4,14), aber er trägt „die Fesseln in Christus“ (1,13).88 Das ist auch ihr Kampf, den er da austrägt, in dem er ihnen Vorbild war und ist. Andererseits tritt er für sie vor Gott ein: Er tut dies im Gebet um die Bewahrung ihres Status (1,9–11) und darum, dass „sein Gott“ den Ausgleich für die Gabe schaffen wird, die ihm jetzt hilft, den Kampf auszutragen (4,19). Dies betrifft sehr wahrscheinlich nicht nur „geistliche Güter“, sondern wohl auch die sehr reale Erhaltung der Gemeinschaft.89 ad 6) Ist der Gründer Vorbild für das Verhalten der Mitglieder?

Wohl in keinem anderen Brief rückt Paulus sich selbst so sehr als Vorbild in den Vordergrund wie im Philipperbrief.90 Er verbindet seine eigene Lage mit der der Adressaten und Adressatinnen: Sie sind im selben Agon engagiert, in dem sie ihren Apostel selbst kämpfen gesehen haben und von dem ihnen Paulus im Brief berichtet (1,30). Selbstverständlich ist sein eigenes Verhalten – Christus soll groß werden, sei es durch Leben oder Tod (1,20) – dabei vorbildhaft.91 Die Haltung der Freude trotz Leiden für das Evangelium sollen auch sie einnehmen (2,17f.). In 3,17–4,1 wird dies weiter ausgeführt, denn Paulus fordert explizit zur Nachahmung auf, und zwar zur Nachahmung seiner selbst sowie jener, die sich ebenfalls recht verhalten.92 Dass Paulus sich hier nicht auf die Ebene der Adressaten und Adressatinnen begibt, wird durch das angehängte mou deutlich: Sie sollen

87 Vgl. zum imperialem Hintergrund u. a. die exemplarische Studie von W. P OPKES, Philipper 4.4–7. Aussage und situativer Hintergrund, NTS 50 (2004), 246–256. 88 Zur Situation der Gefangenschaft vgl. zuletzt A. STANDHARTINGER, Aus der Welt eines Gefangenen. Die Kommunikationsstruktur des Philipperbriefs im Spiegel seiner Abfassungssituation, NT 55 (2013), 140–167. 89 Vgl. auch BRIONES, Thankless Thanks (s. Anm. 66), 61. 90 Vgl. dazu zuletzt u. a. A. STANDHARTINGER, ‚Join in imitating me‘ (Philippians 3.17). Towards an Interpretation of Philippians 3, NTS 54 (2008), 417–435. Standhartinger betont zu Recht u. a. den biographischen Kontext der Typos-Paränese (427– 430.434f.). Ausführlich diskutiert die Nachahmungsthematik W OJTKOWIAK, Christologie (s. Anm. 78), passim. Den Aspekt der Vorbildfunktion des Gründers lässt Hanges – wie auch sonst den Befund im Philipperbrief – außer Acht. 91 Wichtig ist dabei, dass die Aufforderung zur μίμησις von einer Forderung nach Gehorsam zu unterscheiden ist; vgl. etwa STANDHARTINGER, Join (s. Anm. 90), 431 Anm. 76. 92 Gedacht ist wohl an Timotheus und Epaphroditus (2,19–30), die Paulus aber wohl übertrifft; vgl. STANDHARTINGER , Join (s. Anm. 90), 434; W OJTKOWIAK, Christologie (s. Anm. 75), 275.

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zusammen Nachahmer von ihm werden (3,17a).93 Er ist der tu,poj, auf den sich ihre Aufmerksamkeit richten soll (3,17b). In seiner Niedrigkeit und Hingabe ist er Vorbild, so wie Christus auch für ihn selbst Vorbild ist (2,6–11).94 Die Feinde des Kreuzes sind Feinde der Niedrigkeit und wollen für sich Ehre behaupten, wo doch gerade die Berufung auf diese Vorzüge in das Verderben führt (3,18f.). Die Alternativstellung – ich oder die anderen – lässt den Philippern nur diese zwei Möglichkeiten: Der richtigen Entscheidung – der Orientierung am Vorbild Pauli – wird das Heil zugesagt. Ihn nachzuahmen schließt selbstverständlich auch ein, sein Ethos nachzuahmen (4,9): lernen – übernehmen – hören – sehen. Im persönlichen Auftreten wie im Brief ist er so Vorbild für seine Gemeinde. ad 7) Wo hat die Gründung ihren sozialen und physischen Ort?

Im Philipperbrief erwähnt Paulus keine „Hausgemeinden“.95 Auch die Bezeichnung von Funktionsträgern als ἐπίσκοποι καὶ διάκονοι (Phil 1,1) ist für diese Frage nicht auszuwerten, da sie auf keinen spezifischen sozialen Kontext verweist. Ihre Verwendung im Kontext von Vereinigungen ist ebenfalls unspezifisch.96 Deutlicher ist freilich die Apostelgeschichte, die von Christusgläubigen im Haus der Lydia (16,15.40) und des Gefängniswärters (16,31–34) berichtet. Stehen hinter diesen Nachrichten wenigstens rudimentär historisch verlässliche Informationen, was für Lydia wahrscheinlicher ist als für den namenlosen Kerkermeister und seinen Haushalt, so entspricht dies mehr oder weniger deutlich jenem Vorgang, den wir auch für Vereinsgründungen erkennen können. Der Anfang wird, wenn von ihm überhaupt berichtet wird, relativ häufig in einem Haus gesetzt. Am deutlichsten entspricht der Vorgang jenem, den wir bei der Sarapis-Verehrung in Opus erkennen können: Veranlasst durch externe Personen wird der Kult in einem Haushalt verankert, (zunächst) im Kontext der häuslichen Religiosität. Denn auch in 93 Vgl. STANDHARTINGER, Join (s. Anm. 90), 430; WOJTKOWIAK, Christologie (s. Anm. 75), 190f. 94 BORMANN, Philippi (s. Anm 83), 208; STANDHARTINGER, Join (s. Anm. 90), 432, unterstellen Paulus, sich bewusst von der Rolle eines religiösen Heroen zu distanzieren, was für meinen Geschmack zu scharf formuliert ist. Zwar versteht Paulus seine Rolle selbstverständlich nicht im Sinne herkömmlicher Heroen, wenn er die Berufung auf Vorzüge ἐν σαρκί zurückweist (3,3f.), er präsentiert sich aber als jener, der die in der ingroup anerkannten Haltungen vorbildhaft lebt, indem er selbst Christus nachahmt; vgl. zuletzt auch WOJTKOWIAK, Christologie (s. Anm. 75), 275–277.297–299. 95 Der Verweis auf „Brüder aus dem Haushalt des Kaisers“ (4,22) bezieht sich weder auf die Gemeinde in Philippi noch steht dahinter eine „Hausgemeinde“. Zu Hausgemeinden in Philippi vgl. J. REUMANN, Philippians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33B, New Haven 2008, 84–86. 96 Vgl. dazu ASCOUGH, Macedonian Associations (s. Anm. 43), 81–83.

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Philippi stellt Paulus nicht sein Haus zur Verfügung (oder wenigstens einen Raum bei seiner Werkstatt bzw. seine Mietwohnung), damit sich die ἐκκλησία (Phil 4,15) versammeln kann, sondern andere tun dies. Wenn Paulus „gründet“, dann eben nicht als jener, der Raum oder andere Ressourcen zur Verfügung stellt, sondern als jener, der den kultisch-religiösen Input gibt, sodass sich eine Gemeinschaft konstituiert.

3 Zusammenfassung Paulus, der Begründer der Ekklesia der Christusgläubigen in Philippi, stand in einer Reihe mit anderen Begründern und Begründerinnen von Vereinigungen.97 Viele Aspekte betrafen auch ihn und seine Gemeinde, zumal sie insgesamt Themen der antiken Gesellschaft waren. An einzelnen Elementen wird durchaus erkennbar, dass Überschneidungen bestehen, die auf der speziellen Rolle von Gründern und Gründerinnen in den und für die auf sie zurückgehenden Gemeinschaften beruhen: Göttliche Autorisierung für die Errichtung der religiösen Gemeinschaft sowie die Vorgabe von Regeln und Anweisungen gehören ebenso dazu wie die Thematisierung von Statusdiskursen oder die besondere Rolle als Vorbild. Paulus und die Philipper lassen sich vielfach in diese sozialen Konstellationen einordnen. Zugleich sollte aber auch deutlich geworden sein, dass einerseits die spezifischen historischen Verhältnisse – vor allem räumliche Trennung, Leiden und Gefangenschaft sowie die prekäre ökonomische Situation des Apostels – zu spezifischen Variationen dieser Konstellation beitrugen. Andererseits ist das Verhältnis zwischen Gründer und Gründung im Falle der Gemeinde von Philippi durch die Orientierung an dem Gekreuzigten neu ausgerichtet, der unter anderem durch den Philipperhymnus in das Zentrum gerückt wird. Die Erhöhung des Christus, der Sklavengestalt annahm und den Tod am Kreuz starb und der damit zu der Leitfigur schlechthin wurde, von der das Evangelium im Eigentlichen ausgeht, rückt auch die Rolle des

97 Zu diesem Ergebnis kommt auch Hanges, der festhält, dass Paulus in seinem Handeln als Gründer nicht nur mit anderen Gründungsgestalten in seinem Denken und Handeln übereinstimmt, sondern dies auch bewusst einsetzt (HANGES, Founder [s. Anm. 3], 451; auch 17.467). Wie weit sich aber Paulus als „struggling for the legitimacy of his cultic project“ verstehen lässt (a. a. O., 462), hängt davon ab, wie stark man den Aspekt der Öffentlichkeit wertet (vgl. a. a. O., 466). Mir scheint der Apostel vor allem intern – etwa in der Korintherkorrespondenz – um Legitimität zu kämpfen und eben nicht um die der Gemeinde als „cultic project“, sondern um die seines Anspruchs, die Geschicke der Gemeinde zu bestimmen.

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realen Gründers Paulus in ein anderes, seine Bedeutung relativierendes Licht.98

98 Vgl. dazu u. a. KEOWN, Christ-Pattern (s. Anm. 66), 310–314; WOJTKOWIAK, Christologie (s. Anm. 75), 134–144.

„Unser πολίτευμα aber ist in den Himmeln“ (Phil 3,20)

Ein attraktives Angebot für viele Bewohnerinnen und Bewohner der römischen Kolonie Philippi EVA EBEL Zu den herausragenden missionarischen Fähigkeiten des Paulus gehört es, für die Adressatinnen und Adressaten seiner Briefe den richtigen Ton zu finden. Es gelingt ihm, die religiöse und soziale Herkunft der potentiellen oder neu gewordenen Christinnen und Christen aufzunehmen und lokale Besonderheiten in seine Formulierungen und Argumentationen einfließen zu lassen. Dieses Talent, seine Botschaft an die Verstehensmöglichkeiten und Bedürfnisse der Hörerinnen und Hörer seiner Predigt und die Leserinnen und Leser seiner Briefe anzupassen, beschreibt der Apostel mit eigenen Worten folgendermaßen (1Kor 9,20–23): καὶ ἐγενόμην τοῖς Ἰουδαίοις ὡς Ἰουδαῖος, ἵνα Ἰουδαίους κερδήσω· τοῖς ὑπὸ νόμον ὡς ὑπὸ νόμον, μὴ ὢν αὐτὸς ὑπὸ νόμον, ἵνα τοὺς ὑπὸ νόμον κερδήσω· τοῖς ἀνόμοις ὡς ἄνομος, μὴ ὢν ἄνομος θεοῦ ἀλλ’ ἔννομος Χριστοῦ, ἵνα κερδάνω τοὺς ἀνόμους· ἐγενόμην τοῖς ἀσθενέσιν ἀσθενής, ἵνα τοὺς ἀσθενεῖς κερδήσω· τοῖς πᾶσιν γέγονα πάντα, ἵνα πάντως τινὰς σώσω. πάντα δὲ ποιῶ διὰ τὸ εὐαγγέλιον, ἵνα συγκοινωνὸς αὐτοῦ γένωμαι.

„Und den Juden bin ich ein Jude geworden, damit ich Juden gewinne; denen unter dem Gesetz einer unter dem Gesetz, obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin, damit ich die unter dem Gesetz gewinne; denen ohne Gesetz wie einer ohne Gesetz, obwohl ich vor Gott nicht ohne Gesetz bin, sondern Christus für mich gesetzgebend ist, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne; allen bin ich alles geworden, damit ich in jedem Fall einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, damit ich Anteil an ihm bekomme.“

Eine solche Selbstbeschreibung des Paulus stellt Exegetinnen und Exegeten vor die Aufgabe, den Einfluss lokaler Gegebenheiten auf einzelne paulinische Briefe zu prüfen. Im Blick auf den Philipperbrief gilt es deshalb, zunächst den spezifischen Charakter der Stadt Philippi zu ermitteln. Auf dieser Grundlage ist dann zu diskutieren, ob Auffälligkeiten der paulinischen Wortwahl und Argumentation im Philipperbrief auf örtliche Besonderheiten anspielen, ob also – zugespitzt formuliert – der Apostel den Bewohnerinnen und Bewohnern Philippis ein Philipper geworden ist.

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Aus neutestamentlicher Perspektive ist Philippi nicht nur wegen des paulinischen Briefes an die dort ansässige Gemeinde von besonderem Interesse, sondern auch wegen eines umfangreichen Abschnittes der Apostelgeschichte, in welchem die Gründung der Gemeinde durch Paulus geschildert wird (Apg 16,11–40). Nachdem im Folgenden der Einfluss der lokalen philippischen Verhältnisse auf den Philipperbrief erörtert worden ist, soll aus diesem Grund darüber hinausgehend geprüft werden, ob Paulus und Lukas die spezielle Prägung dieser Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner in vergleichbarer Weise für ihre Zwecke nutzen oder dabei unterschiedliche Strategien verwenden.

1 Das Lokalkolorit der Stadt Philippi Die Stadt Philippi liegt im nördlichen Teil des heutigen Griechenlands, der sich in der Antike ebenso wie auch heute nicht ohne politische Brisanz als Makedonien versteht.

Eindrücklich ins Bild gesetzt wird dieses Selbstverständnis vom Verfasser der Apostelgeschichte: Es ist dezidiert ein „makedonischer Mann“ (ἀνὴρ Μακεδών), der Paulus nach einigen Irrwegen in Kleinasien nachts in einem Traum erscheint und mit seiner dringlichen Aufforderung „Komm herüber nach Makedonien und hilf uns!“ (διαβὰς εἰς Μακεδονίαν βοήθησον ἡμῖν) die Wege der Missionare in eine neue Richtung lenkt (Apg 16,9f.). Nun geht es zielgerichtet von Alexandria Troas auf dem Seeweg nach Makedonien und damit erstmals nach Europa (Apg 16,11f.).1

Das antike Philippi ist nach heutigen Kategorien eine „Multi-Kulti-Stadt“, die in mehreren Etappen immer neuen Gruppen von Migrantinnen und Migranten zur Heimat wird. Die ersten Siedler dort sind Thraker, deren Ursprünge im Balkan liegen, dann kommen Griechen und schließlich Römer.2 Sie alle bewahren in der neuen Heimat Elemente ihrer eigenen Kultur und bringen verschiedenste Religionen in die Stadt.3 Nicht einmal die dort gebrauchte Sprache ist zur Zeit des Paulus einheitlich: In lateinischer Sprache werden die offiziellen Dokumente und Inschriften verfasst,

1 Zu diesem Übergang von Asien nach Europa vgl. P. P ILHOFER, Philippi, Band 1: Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995, 153–159. 2 Zur Bevölkerung Philippis in neutestamentlicher Zeit vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 49–92. 3 Von der geographischen Lage der Kultstätten innerhalb der Stadt lässt sich eine Hierarchie der Kulte ableiten: Sie reicht von den Priesterinnen der vergöttlichten Livia auf dem Forum bis zu den Verehrern des Silvanus hoch auf den Felsen der Akropolis. Für ein Portrait ausgewählter Kulte in Philippi mit völlig unterschiedlicher Reputation vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 92–113.

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die Umgangssprache der einfachen Leute aber ist Griechisch.4 Namen wie Dizazelmis und Zekaloge illustrieren, dass zumindest in dieser Form auch die thrakische Sprache noch lange Zeit lebendig bleibt.5 Prominente antike Machthaber haben in und mit dieser Stadt Zeichen gesetzt und ihre Herrschaftsansprüche jeweils in deren Namen dokumentiert: Der makedonische König Philipp II., der Vater Alexander des Großen, nimmt die griechische Stadt, die noch Krenides („kleine Quellen“) heißt, vermutlich 356 v. Chr. in Besitz und benennt sie nach sich selbst in Φίλιπποι um. Die Alexander dem Großen nachfolgenden makedonischen Könige führen vom Ende des 3. Jh. bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. drei Kriege mit den Römern. Nach der abschließenden Niederlage gegen die römischen Truppen unter Aemilius Paullus im Jahr 167 v. Chr. wird das makedonische Königtum abgesetzt. Als exzellenter Kenner der Geschichte der Stadt präsentiert sich Lukas, indem er Philippi in Apg 16,12 als „Stadt des ersten Bezirks von Makedonien“6 bezeichnet. Diese Angabe spielt darauf an, dass nach der Absetzung des makedonischen Königtums das Land in vier selbständige „Bezirke“ (μερίδες) mit Hauptstädten Amphipolis, Thessaloniki, Pella und Pelagonia eingeteilt wird, die man von Osten nach Westen mit 1 bis 4 durchnummeriert.

Als Philippi schon mehr als 120 Jahre zum römischen Herrschaftsgebiet gehört, rückt es in den Fokus des ganzen Reiches: Die Caesarmörder Brutus und Cassius unterliegen 42 v. Chr. in unmittelbarer Nähe der Stadt Antonius und Octavian, dem späteren Augustus. Anschließend wird ein Teil der siegreichen Soldaten von Antonius in Philippi angesiedelt. Dieses wird zu einer römischen Kolonie, also einer „Tochterstadt“ Roms mit römischem Verwaltungs- und Rechtssystem.7 4 Das Nebeneinander der griechischen und lateinischen Sprache erschließt sich bei der Lektüre der Inschriften der Stadt, die P. P ILHOFER, Philippi, Band 2: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 119, Tübingen 22009, zusammengestellt und mittels einer Datenbank mit Suchfunktion und zahlreichen Fotografien auch online zugänglich gemacht hat (www.philippoi.de/inschriften.php). 5 Es handelt sich um die Inschriften P ILHOFER, Philippi II (s. Anm. 4), Nr. 554 und 615. 6 Diese die historischen Verhältnisse zutreffend wiedergebende Lesart ist jedoch in keiner der erhaltenen griechischen Handschriften überliefert. Setzt man profunde Lokalkenntnisse des Lukas voraus, wäre sie durch weniger kundige Abschreiber rasch verlorengegangen und erst durch einzelne Handschriften lateinischer Bibelübersetzungen sowie eine Konjektur des griechischen Textes durch Clericus wieder in die textkritische Diskussion eingebracht worden. Zu diesem textkritischen Problem vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 159–165. 7 Zur Gründung der Kolonie durch Antonius vgl. L. B ORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995, 11–15.

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Auch dieser zur Abfassung der Apostelgeschichte immer noch aktuelle Status Philippis wird von Lukas aufgenommen: In seiner Vorstellung der Stadt bezeichnet er sie als „Kolonie“ (Apg 16,11).8 Er verwendet dabei das lateinische colonia in der griechischen Transkription κολωνία. An der Spitze der philippischen Beamten stehen die duumviri iure dicundo, die unter ihrer griechischen Bezeichnung στρατηγοί in Apg 16,20.22.38 erscheinen. Ihnen untergeordnet sind die lictores, die als ῥαβδοῦχοι in Apg 16,35.38 begegnen.9

Zur Erinnerung an den militärischen Erfolg trägt die Kolonie zunächst den Namen colonia Victrix Philippensis. Nach der Schlacht bei Actium, welche die endgültige Entscheidung zwischen Octavian und dem mit Kleopatra gemeinsam agierenden Antonius bringt, will der siegreiche Octavian die Verbundenheit der Kolonie mit seinem Widersacher auflösen. Er vollzieht deshalb 30 v. Chr. eine Neugründung der Kolonie und gibt ihr einen neuen Namen, der sein nomen gentile aufnimmt: In Anlehnung an die gens Iulia heißt sie nun colonia Iulia Augusta Philippensis. Die Kolonie wächst nochmals durch die Ankunft einer größeren Zahl neuer Bewohnerinnen und Bewohner aus Italien.10 Der Status Philippis als römische Kolonie ist entscheidend für das Lebensgefühl seiner Bewohnerinnen und Bewohner.11 Religiös finden die römische Prägung und die starke Bindung der Kolonie an deren Neugründer Augustus ihren Niederschlag darin, dass neben einigen anderen Kulten auch der Kaiserkult12 und besonders die Verehrung der Livia, der vergött-

8 Diese Angabe ist deshalb besonders auffällig, da Lukas bei den anderen von den Missionaren besuchten Kolonien darauf verzichtet, nämlich bei Antiochia in Pisidien (Apg 13,14; 14,19.21), Iconium (Apg 13,51; 14,1.19.21; 16,2), Lystra (Apg 14,6.8.21; 16,1f.), Alexandria Troas (Apg 16,8.11; 20,5f.), Korinth (Apg 18,1; 19,1), Ptolemais (Apg 21,7), Syrakus (Apg 28,12) und Puteoli (Apg 28,13). 9 Zu den Beamten in Philippi vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 191–199. 10 Zur Neugründung der Kolonie durch Augustus vgl. B ORMANN, Philippi (s. Anm. 7), 15–24. 11 Die römische Prägung der Stadt betont durchgängig BORMANN, Philippi (s. Anm. 7), 11–67. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 91 konstatiert: „Philippi ist im ersten und zweiten Jahrhundert eine durch und durch römische Stadt […].“ In einem späteren Aufsatz (Antiochien und Philippi. Zwei römische Kolonien auf dem Weg nach Spanien, in: ders., Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996–2001. Mit Beiträgen von J. B ÖRSTINGHAUS und E. EBEL, WUNT 145, Tübingen 2002, 154–165) arbeitet er heraus, dass Philippi für Paulus gerade auf Grund seiner „Romanness“ ein ideales Übungsfeld für die geplante spätere Mission im lateinischsprachigen Westen des Imperium Romanum darstellt (158–164). 12 Zum Kaiserkult in Philippi vgl. B ORMANN, Philippi (s. Anm. 7), 41–61; D. SCHINKEL, Die himmlische Bürgerschaft. Untersuchungen zu einem urchristlichen Sprachmotiv im Spannungsfeld von religiöser Integration und Abgrenzung im 1. und 2. Jahrhundert, FRLANT 220, Göttingen 2007, 107–112.

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lichten Gattin des Augustus13, in Philippi gepflegt werden. Juristisch ist bedeutsam, dass jede Person, die das städtische Bürgerrecht der Kolonie Philippi besitzt, auch das römische Bürgerrecht, die civitas Romana, erhält. Jeder römische Bürger gehört gewissermaßen als Stimmbezirk einer Abteilung der römischen Bürgerschaft, einer tribus, an. Für die Bewohner der Kolonie Philippi ist dieses die tribus Voltinia. Ob ein civis Romanus dieses Stimmrecht in der Hauptstadt wahrnimmt oder überhaupt schon einmal in Rom war, ist dabei völlig unerheblich, entscheidend sind für die fernab von Rom lebenden cives Romani die mit dem römischen Bürgerrecht verknüpften politischen Partizipationsmöglichkeiten vor Ort und dessen Funktion als Statussymbol.

2 Römisches im Philipperbrief Fragt man vor dem Hintergrund des skizzierten römischen Profils der Stadt Philippi nach „Römischem“ im Philipperbrief, lassen sich sowohl auf inhaltlicher wie auf semantischer Ebene Anleihen und zugleich auch Abgrenzungen von römischer Herrscherideologie und römischen Institutionen finden: Zum einen können der Philipperbrief insgesamt und insbesondere der sogenannte Philipperhymnus (Phil 2,5–11), wie der hier zu ehrende Samuel Vollenweider gezeigt hat, in seiner Gesamtaussage „politisch“ und damit als Gegentext zu römischen Herrschaftsansprüchen gelesen werden:14 „Der Philipperbrief ist vielleicht das am meisten politi13 Zu den Livia-Priesterinnen in Philippi vgl. BORMANN, Philippi (s. Anm. 7), 41–44. Zur Entwicklung des Kults der Livia schon zu deren Lebzeiten und nach ihrem Tod vgl. R. STEPPER , Zur Rolle der römischen Kaiserin im Kultleben, in: C. Kunst / U. Riemer (Hg.), Grenzen der Macht. Zur Rolle römischer Kaiserfrauen, Potsdamer Altertumswissenschaftliche Beiträge 3, Stuttgart 1990, 61–72 (63–66). 14 S. VOLLENWEIDER, Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), NTS 45, 1999, 413–433; wieder abgedruckt in: DERS., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, Tübingen 2002, WUNT 144, 263–284 (danach im Folgenden zitiert); DERS., Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 457–469. Weitere Arbeiten des Jubilars zum Philipperhymnus sind: Die Metamorphose des Gottessohns. Zum epiphanialen Motivfeld in Phil 2,6–8, in: U. Mell / U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW 100, Berlin 1999, 107–131; wieder abgedruckt in: DERS., Horizonte, 285–306; „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament, in: I. U. Dalferth / P. Stoellger (Hg.), Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name, RPT 35, Tübingen 2008, 173–186 (180–184); Christozentrisch oder theozentrisch? Christologie im Neuen Testament, in: E. Gräb-Schmid / R. Preul (Hg.), Christologie, MThSt 113, Leipzig 2011, 19–40 (23–25).

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sche Implikationen enthaltende Schreiben des Apostels.“15 Zum anderen scheinen einzelne Begriffe, die Paulus in seinem Brief an die Christinnen und Christen in Philippi verwendet, direkt auf das dort besonders präsente römisch geprägte Lebensgefühl und Wertesystem anzuspielen, um so die christliche Botschaft in eine adressatinnen- und adressatengerechte Form zu bringen. Besonders ins Auge sticht dabei Phil 3,20f.: ἡμῶν γὰρ τὸ πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς ὑπάρχει, ἐξ οὗ καὶ σωτῆρα ἀπεκδεχόμεθα κύριον Ἰησοῦν Χριστόν, ὃς μετασχηματίσει τὸ σῶμα τῆς ταπεινώσεως ἡμῶν σύμμορφον τῷ σώματι τῆς δόξης αὐτοῦ κατὰ τὴν ἐνέργειαν τοῦ δύνασθαι αὐτὸν καὶ ὑποτάξαι αὐτῷ τὰ πάντα.

„Unser Bürgerrecht aber ist in den Himmeln, von dort erwarten wir auch als Retter den Herrn Jesus Christus, der unseren armseligen Leib verwandeln wird in die Gestalt seines herrlichen Leibes aufgrund der Macht, mit der er sich auch das All zu unterwerfen vermag.“

In diesen Versen lassen sich zwei Besonderheiten beobachten: Das in Phil 3,20 genannte πολίτευμα ist paulinisches Hapaxlegomenon und der Apostel legt in Phil 3,21 zum ersten und einzigen Mal Christus den Titel σωτήρ bei, der zwar nicht in Philippi, aber andernorts in griechischen Inschriften vielfach dem römischen Kaiser zugeschrieben wird.16 Während der Philipperhymnus mit seinen einprägsamen Bildern von Erniedrigung und Erhöhung im gesamten Imperium Romanum ohne Weiteres als Kritik an römischen Herrschaftsansprüchen lesbar ist, scheint mit der einmaligen Verwendung von πολίτευμα durch Paulus in Phil 3,20 eine Anspielung auf das Lokalkolorit Philippis vorzuliegen, die deshalb im Folgenden genauer betrachtet werden soll.

3 Die Bedeutung von πολίτευμα in Phil 3,20 Angesichts der historischen und demographischen Gegebenheiten in Philippi ist es wohl kein Zufall, dass Paulus das Wort πολίτευμα ausgerechnet und ausschließlich in Phil 3,20 verwendet. Er benutzt es genau dann, als er sich an Menschen wendet, die in der vom römischen Geist durchdrungenen Stadt Philippi wohnen. Diejenigen unter den Bewohnerinnen und BewohVOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 14), 282. Vgl. dazu auch A. STANDHARTINGER, Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, VWGTh 29, Gütersloh 2006, 364–382. 16 M. KARRER, Jesus, der Retter (Sôtêr). Zur Aufnahme eines hellenistischen Prädikats im Neuen Testament, ZNW 93 (2002), 153–176 (158–161.174f.); F. J UNG, ΣΩΤΗΡ. Studien zur Rezeption eines hellenistischen Ehrentitels im Neuen Testament, NTA.NF 39, Münster 2002, 24–31. 15

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nern der Stadt, welche das städtische und damit auch das römische Bürgerrecht besitzen, dokumentieren dieses mit Stolz und öffentlich sichtbar, wie auf zahlreichen Ehreninschriften und Grabsteinen bis heute zu lesen ist.17 Der Begriff πολίτευμα ist nicht leicht konkret zu füllen18, folglich gibt es zu seiner Bedeutung in Phil 3,20 umfangreiche Diskussionen.19 Angesichts der in der Kolonie Philippi besonders spürbaren Wertschätzung des römischen Bürgerrechts liegt es gewissermaßen aus lokalen Gründen nahe, πολίτευμα in Phil 3,20 mit „Bürgerrecht“ zu übersetzen.20 Alternativ wird auch die Bedeutung „Heimat“ vertreten, welche bisweilen mit einem „Verblassen“ oder einer „Abschwächung“ der ursprünglichen politischen Wortbedeutung begründet wird.21

An dieser Stelle sei zu Ehren des Jubilars ein Vergleich mit Schweizer Verhältnissen erlaubt: Kaum ein Land ist besser als die Schweiz geeignet, um den Graben zwischen den Varianten „Heimat“ und „Bürgerrecht“ aufzuzeigen, der weit mehr ist als nur ein „Verblassen“: Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben einen Bürgerort, mit dem sie vielleicht nur wenig verbindet, in dem sie möglicherweise kaum einmal gewesen sind, ihre „Heimat“ ist nämlich ganz woanders.

17 P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 122f. weist auf die auffallend häufige Nennung der tribus Voltinia in den Inschriften Philippis hin: „Betrachtet man nur die Inschriften aus der Stadt selbst im zeitlichen Rahmen des ersten und zweiten Jahrhunderts, so findet man das VOL auf jedem zweiten Exemplar!“ 18 Zum Bedeutungsspektrum vgl. W. RUPPEL, Politeuma. Bedeutungsgeschichte eines staatsrechtlichen Terminus, Philologus 82 (1927), 268–312.433–454; H. STRATHMANN, πόλις κτλ., ThWNT VI (1959), 516–535; G. LÜDERITZ, What is the Politeuma?, in: J. W. van Henten / P. W. van der Horst (Hg.), Studies in Early Jewish Epigraphy, AGJU 21, Leiden 1994, 183–225; SCHINKEL, Bürgerschaft (s. Anm. 12), 54–63; K.-H. OSTMEYER, Politeuma im Neuen Testament und die Politeuma-Papyri von Herakleopolis, in: J. Herzer (Hg.), Papyrologie und Exegese, WUNT 2/341, Tübingen 2012, 159–171 (160–162). 19 Eine Zusammenstellung der in Kommentaren und Bibelübersetzungen vertretenen Bedeutungen bietet OSTMEYER, Politeuma (s. Anm. 18), 159, Anm. 2 und 3. 20 Für die Bedeutung „Bürgerrecht“ von πολίτευμα in Phil 3,20 plädieren H. G. LIDDELL / R. J ONES / H. S. SCOTT / R. MC KENZIE , A Greek-English Lexicon. With a revised supplement, Oxford 1996, s.v. πολίτευμα, 1434; L. PORTEFAIX, Sisters Rejoice. Paul’s Letter to the Philippians and Luke-Acts as Seen by First-century Philippian Women, CB.NT 20, Uppsala 1988, 139; P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 127–134; A. M. SCHWEMER, Himmlische Stadt und himmlisches Bürgerrecht bei Paulus (Gal 4,26 und Phil 3,20), in: M. Hengel / S. Mittmann / A. M. Schwemer, (Hg.), La Cité de Dieu/Die Stadt Gottes, WUNT 129, Tübingen 2000, 195–243 (229); KARRER, Jesus (s. Anm. 16), 174f. mit Anm. 109; VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 14), 465f. Die Bedeutung „Bürgerschaft“ im Sinne einer „Gemeinschaft von Bürgern“ bevorzugt SCHINKEL, Bürgerschaft (s. Anm. 12), 59. 21 Vgl. K. ALAND, Die Christen und der Staat nach Phil. 3,20, in: A. Benoit / M. Philonenko / C. Vogel (Hg.), Paganisme, Judaïsme, Christianisme. Influences et affrontements dans le monde antique (FS Marcel Simon), Paris 1978, 247–259.

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So sehr die lokalen Verhältnisse für die Bedeutung „Bürgerrecht“ von πολίτευμα in Phil 3,20 sprechen, so wenig geben diese Anlass, in den Ausführungen des Paulus eine Anspielung auf ein jüdisches πολίτευμα im Sinne eines juristischen Sonderstatus der Angehörigen dieser Religionsgemeinschaft zu vermuten.22 Für das gesamte 1. Jh. n. Chr. fehlen in Philippi archäologische Beweise für einzelne jüdische Bewohnerinnen oder Bewohner in Form von Grabsteinen o.ä. und erst recht für ein organisiertes jüdisches Gemeindeleben in Form eines Synagogengebäudes.23

Der einzige literarische Hinweis auf zumindest mit dem Judentum sympathisierende Menschen im Philippi des 1. Jh. n. Chr. ist ein neutestamentlicher: Lukas schreibt in Apg 16,13, dass Paulus und Silas am Sabbat gezielt eine προσευχή24 aufsuchen, an der sich zumindest an diesem Tag ausschließlich Frauen versammeln. Im lukanischen Doppelwerk erscheint προσευχή 12mal, wobei es an allen zehn anderen Stellen und darüber hinaus im gesamten Neuen Testament das „Gebet“ meint, in Apg 16,13.16 jedoch den Ort des Gebets, also die „Gebetsstätte“, bezeichnet. Für das jüdische „Gebetshaus“ gebraucht auch Lukas ansonsten den im Neuen Testament üblichen Terminus συναγωγή („Versammlungshaus“). Auch wenn προσευχή und συναγωγή synonym verwendet werden können25, handelt es sich eindeutig um eine sprachliche Auffälligkeit im lukanischen Bericht über den Gründungsaufenthalt des Apostels in Philippi, für die mehrere Erklärungen wie etwa detaillierte Kenntnisse des Lukas oder seiner Quelle über den besonderen Sprachgebrauch vor Ort oder eine bewusste Differenzierung zwischen einem festen Gebetshaus und einer provisorischen Gebetsstätte denkbar sind.

22 Zu einem solchen jüdischen πολίτευμα vgl. P. ARZT-GRABNER , Die Stellung des Judentums in neutestamentlicher Zeit anhand der Politeuma-Papyri und anderer Texte, in: Herzer (Hg.), Papyrologie (s. Anm. 18), 127–158 (127–149); OSTMEYER, Politeuma (s. Anm. 18), 162f. ARZT-GRABNER , Stellung, 138 definiert: „Bei einem Politeuma handelt es um eine Organisation von Fremden in einem fremden Land, die dort die Autorität erhalten, in dieser Organisationsform ihre Rechtsfälle nach eigenem traditionellen Recht abzuhandeln.“ 23 Der erste epigraphische Nachweis für das Wort συναγωγή in Philippi findet sich erst auf einem Grabstein vom Ende des 3./Anfang des 4. Jh. n. Chr., vgl. C. KOUKOULICHRYSANTAKI, Colonia Iulia Augusta Philippensis, in: C. Bakirtzis / H. Koester (Hg.), Philippi at the Time of Paul and after His Death, Harrisburg 1989, 5–35 (28–35). 24 Zur Lokalisierung der προσευχή in Philippi vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 165–174. 25 Vgl. dazu M. HENGEL, Proseuche und Synagoge. Jüdische Gemeinde, Gotteshaus und Gottesdienst in der Diaspora und in Palästina, in: G. Jeremias / H.-W. Kuhn / H. Stegemann (Hg.), Tradition und Glaube (FS K. G. Kuhn), Göttingen 1971, 157–184; wieder abgedruckt in: ders.: Judaica und Hellenistica. Kleine Schriften I, WUNT 90, Tübingen 1996, 171–195; F. G. HÜTTENMEISTER, „Synagoge“ und „Proseuche“ bei Josephus und in anderen antiken Quellen, in: D.-A. Koch / H. Lichtenberger (Hg.), Begegnungen zwischen Christentum und Judentum in Antike und Mittelalter (FS H. Schreckenberg), Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 1, Göttingen 1993, 163–181.

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Wie verhält es sich also mit dem Bürgerrecht der von Paulus angeschriebenen philippischen Christinnen und Christen?26 Haben sie einen solchen gehobenen Status und damit hohes Sozialprestige und politische Gestaltungsmöglichkeiten? Bedauerlicherweise reichen Angaben zu einzelnen Personen im Philipperbrief nicht aus, um ein soziales Profil der Adressatengemeinde zu erstellen. Obwohl die Gemeinde von Philippi als Lieblingsgemeinde des Apostels das Privileg besitzt, ihren Gründer finanziell unterstützen zu dürfen (Phil 4,14–16)27, ist nicht anzunehmen, dass besonders viele wohlhabende und einflussreiche Menschen zu ihr gehören. Kaum werden unter den Gemeindegliedern Frauen oder Männer mit städtischem und römischem Bürgerrecht zu finden sein. Sie sind vermutlich alle Bewohnerinnen und Bewohner Philippis zweiter Klasse, die am politischen Leben ihrer Stadt nicht partizipieren können. In der Apostelgeschichte erzählt Lukas von zwei Menschen, die sich in Philippi mit ihrem „Haus“ taufen lassen und die beide nicht zur Oberschicht der Stadt gehören: die Purpurhändlerin Lydia (Apg 16,11–14.40)28 und der Gefängniswärter (Apg 16,25–34).

Folgt man dieser Spur, gilt aller Wahrscheinlichkeit nach auch für die Gemeinde in Philippi das, was Paulus über die Christinnen und Christen in Korinth schreibt (1Kor 1,26): Βλέπετε γὰρ τὴν κλῆσιν ὑμῶν, ἀδελφοί, ὅτι οὐ πολλοὶ σοφοὶ κατὰ σάρκα, οὐ πολλοὶ δυνατοί, οὐ πολλοὶ εὐγενεῖς.

„Schaut doch auf eure Berufung, Brüder: Da sind nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Vornehme.“29

Verlockend erscheint da das Angebot des Paulus: Das Christsein ändert zwar nichts an dem juristisch-politischen Status der Christinnen und Christen auf Erden, sie können jedoch auf ihr πολίτευμα in den Himmeln hoffen und darauf ihr Selbstbewusstsein gründen. In den Himmeln sind sie Bürger erster Klasse mit allen Rechten.30 Paulus bietet auf diese Weise mehr als

26 Zum πολίτευμα der Philipper vgl. P ILHOFER, Philippi I, 122f.127–134; SCHINKEL, Bürgerschaft (s. Anm. 12), 119–122; ARZT-GRABNER, Stellung (s. Anm. 22), 150–152; OSTMEYER, Politeuma (s. Anm. 18), 163–165. 27 Zum Stolz des Paulus, sich durch seiner eigenen Hände Arbeit zu ernähren, vgl. 1Thess 2,9; 2Kor 11,7. 28 Für ein Porträt dieser Frau vgl. J.-P. STERCK-DEGUELDRE, Eine Frau namens Lydia. Die lukanische Komposition von Apg 16,11–15.40, WUNT 2/176, Tübingen 2004, 133– 153; E. EBEL, Lydia und Berenike. Zwei selbständige Frauen bei Lukas, Biblische Gestalten 20, Leipzig 22012, 21–76. 29 Zu einer solchen Auslegung dieses Verses vgl. D. SÄNGER, Die δυνατοί in 1 Kor 1 26, ZNW 76 (1985), 285–291. 30 Den Aspekt der Vollbürgerschaft, der das himmlische πολίτευμα auch gegenüber dem irdischen jüdischen πολίτευμα auszeichnet, betont ebenfalls ARZT-GRABNER , Stellung (s. Anm. 22), 152.

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nur einen seelsorgerlichen Trost für die Gemeinde in Philippi, entwirft er doch mit dem „Bürgerrecht in den Himmeln“ ein Gegenprogramm zur civitas Romana, die als politisches Band Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft und Religion im römischen Weltreich vereint. Für den Apostel gilt: Alle Christinnen und Christen, ob sie nun in Jerusalem, Antiochia, Ephesus, Korinth oder Philippi wohnen, ob sie zuvor heidnische Gottheiten verehrten oder dem Judentum angehörten, ob sie Frauen oder Männer sind, sie alle verbindet unterschiedslos das πολίτευμα in den Himmeln. Wie der Kaiser in Rom die zentrale Figur für die Bürgerinnen und Bürger seines Reiches ist, so sollen sich die Christinnen und Christen auf ihren Herrn (κύριος) Christus ausrichten, dessen Wiederkunft nach Phil 3,20 unmittelbar bevorsteht. Kaum zufällig schreibt deshalb Paulus genau hier Christus den Titel σωτήρ zu, der in der Ehrung weltlicher Herrscher zentrale Bedeutung hat.31 Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn zusätzlich zum Lokalkolorit der Briefempfängerinnen und Briefempfänger noch die aktuelle Situation des Verfassers in den Blick kommt: Der Apostel schreibt den Brief an die Christinnen und Christen in Philippi, während er wegen seiner Verkündigung des Evangeliums in einem römischen Gefängnis sitzt (Phil 1,7.13f.17.19–24).32 Die paulinische Hervorhebung des himmlischen Bürgerrechts gegenüber sämtlichen irdischen Bürgerrechten steht vielen neutestamentlichen Aussagen nahe, die das Spannungsverhältnis zwischen Hinwendung und Abkehr von der Welt und Gesellschaft beschreiben.33 Die Abgrenzung der ersten Christinnen und Christen von der sie umgebenden Gesellschaft wird wiederholt und insbesondere im 1. Petrusbrief als „Fremdheit“ beschrie31 Programmatisch M. CLAUSS, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001, 342: „Unter den zahlreichen Prädikaten hellenistischer Herrscher war dasjenige des Soter, des Retters, Helfers, Bewahrers, vielleicht das wichtigste.“ 32 Zur Haftsituation des Paulus und dem daraus erschlossenen möglichen Abfassungsort des Philipperbriefes vgl. in diesem Band den Beitrag von Heike Omerzu. 33 Zur Beschreibung dieses Spannungsfeldes werden verschiedene Begriffspaare gewählt: „Weltflucht oder Weltverantwortung“ (E. DASSMANN, Weltflucht oder Weltverantwortung. Zum Selbstverständnis frühchristlicher Gemeinden und zu ihrer Stellung in der spätantiken Gesellschaft, JBTh 7, Neukirchen-Vluyn 1992, 189–208), „Anpassung und Abgrenzung“ (D.-A. KOCH, Die Christen als neue Randgruppe in Makedonien und Achaia im 1. Jahrhundert n. Chr., in: H. P. Müller / F. Siegert [Hg.] Antike Randgesellschaften und Randgruppen im östlichen Mittelmeerraum, Münsteraner Judaistische Studien 5, Münster 2000, 158–188 [159]), „Integration und Distanz“ (H. E. LONA, Zur Struktur von Diognet 5–6, VigChr 54 [2000], 32–43), „Integration und Abgrenzung“ (SCHINKEL, Bürgerschaft [s. Anm. 12], 12.119) oder auch „Identitätsverlust und Identitätsgewinn“ (E. P LÜMACHER, Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeitlicher Stadt und frühem Christentum, BThS 11, NeukirchenVluyn 1987).

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ben.34 Das Bild des „Bürgerrechts in den Himmeln“ betont stattdessen den Ort der wirklichen Zugehörigkeit35 und wird so zu einer Quelle für eine ganz eigene Identität und zur Grundlage einer Gemeinschaft, die irdische Diskriminierungen überwindet: Die Christinnen und Christen fühlen sich nicht nur auf Erden fremd, sondern haben auch völlig unabhängig von ihrem juristischen Status eine mit allen Rechten und Pflichten verbundene Vollmitgliedschaft im Reich der Himmel.36 Die wirkliche Hoffnung und Zugehörigkeit der Christinnen und Christen liegt also nicht in Philippi, Rom oder irgendeiner anderen irdischen Stadt, sondern im Himmel. Daraus folgt für Paulus jedoch nicht, dass die „Himmelsbürger“ ihr irdisches Dasein in Passivität und reinem Abwarten verbringen sollen. Um zu beschreiben, wie sie leben sollen, verwendet der Apostel schon an früherer Stelle in seinem Brief das unmittelbar auf πολίτευμα verweisende Verb πολιτεύεσθαι37 (Phil 1,27–30): Μόνον ἀξίως τοῦ εὐαγγελίου τοῦ Χριστοῦ πολιτεύεσθε, ἵνα εἴτε ἐλθὼν καὶ ἰδὼν ὑμᾶς εἴτε ἀπὼν ἀκούω τὰ περὶ ὑμῶν, ὅτι στήκετε ἐν ἑνὶ πνεύματι, μιᾷ ψυχῇ συναθλοῦντες τῇ πίστει τοῦ εὐαγγελίου καὶ μὴ πτυρόμενοι ἐν μηδενὶ ὑπὸ τῶν ἀντικειμένων, ἥτις ἐστὶν αὐτοῖς ἔνδειξις ἀπωλείας, ὑμῶν δὲ σωτηρίας, καὶ τοῦτο ἀπὸ θεοῦ· ὅτι ὑμῖν ἐχαρίσθη τὸ ὑπὲρ Χριστοῦ, οὐ μόνον τὸ εἰς αὐτὸν πιστεύειν ἀλλὰ καὶ τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν, τὸν αὐτὸν ἀγῶνα ἔχοντες, οἷον εἴδετε ἐν ἐμοὶ καὶ νῦν ἀκούετε ἐν ἐμοί.

„Lebt allein würdig des Evangeliums Christi, damit ich – sei es, dass ich komme und euch sehe, sei es, dass ich abwesend bin – über euch höre, dass ihr in einem Geist feststeht und mit einer Seele zusammen für den Glauben an das Evangelium kämpft38 und euch in nichts einschüchtern lasst von den Widersachern, was für die ein Beweis des Verderbens ist, aber eures Heils, und dies von Gott, weil es euch geschenkt wurde für 34 1Petr 1,1; 2,11; Eph 2,19; Hebr 11,8–16 u. ö. Grundlegend dazu vgl. R. FELDMEIER, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief, WUNT 64, Tübingen 1992. 35 FELDMEIER, Christen (s. Anm. 34), 81f. bezeichnet deshalb das Motiv der himmlischen Zugehörigkeit als „positives Pendant“ zum Motiv der Fremdheit. 36 Sehr nahe steht diesem paulinischen Modell eine Formulierung im Brief an Diognet: ἐπὶ γῆς διατρίβουσιν, ἀλλ’ ἐν οὐρανῷ πολιτεύονται (Diog 5,9) „Auf der Erde verweilen sie, im Himmel aber sind sie Bürger“. Zu dieser Stelle, an der nicht das Substantiv „Bürger“ (πολίτης), sondern ebenso wie in Phil 1,27 das Verb „Bürger sein“ (πολιτεύεσθαι) verwendet wird, vgl. K. SCHNEIDER , Die Stellung der Juden und Christen in der Welt nach dem Diognetbrief, JAC 42 (1999), 20–41. 37 Ganz im Sinne des eingangs zitierten Verses 1Kor 9,22 erkennt R. R. BREWER, The Meaning of POLITEUESTHE in Philippians 1:27, JBL 73 (1954), 76–83 (83) eine „tendency of Paul to adapt his language and his thought to the varied situations he confronted in his preaching and in the pastoral care of the churches“. 38 Zur agonistischen Metaphorik (συναθλοῦντες in V. 27 und ἀγῶν in V. 30) vgl. U. P OPLUTZ, Athlet des Evangeliums. Eine motivgeschichtliche Studie zur Wettkampfmetaphorik bei Paulus, HBS 43, Freiburg i. Br. 2004, 298–304; M. BRÄNDL, Der Agon bei Paulus. Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik, WUNT 2/222, Tübingen 2006, 337–344.

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Christus, nicht nur an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden, indem ihr denselben Kampf habt, den ihr an mir gesehen habt und nun auch von mir hört.“

Spätestens dann, wenn die Leserinnen und Leser des Briefes im 3. Kapitel auf das πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς stoßen, wird deutlich, dass Paulus nicht einen „bürgerlichen Wandel“ von den Christinnen und Christen in Philippi fordert, der auf Unauffälligkeit oder einer Anpassung an römische Ideale beruht. Als „Himmelsbürger“ auf Erden sollen die Christinnen und Christen „würdig des Evangeliums39 Christi“ (ἀξίως τοῦ εὐαγγελίου τοῦ Χριστοῦ) leben (Phil 1,27). Und diese Forderung gilt ungeachtet möglicher negativer Konsequenzen für die persönliche Lebensführung und Freiheit: Der Apostel weiß aus eigener Erfahrung nur zu genau, dass es bei einer solchen Ausrichtung auf das Evangelium immer wieder zu Konflikten mit den römischen Behörden kommen kann, und stellt dieses mit seiner Aufforderung zur Nachahmung auch den Christinnen und Christen in Philippi als mögliches Szenario vor Augen (Phil 1,28–30).

4 Das Bürgerrecht des Paulus im Philippi-Abschnitt der Apostelgeschichte (Apg 16,11–40) In seinem Bericht über den Gründungsaufenthalt des Paulus in Philippi gibt Lukas, wie bereits oben gezeigt worden ist, deutliche Hinweise auf das römische Gepräge der Stadt: Er bezeichnet sie ausdrücklich als κολωνία (Apg 16,11) und lässt mit den στρατηγοί bzw. duumviri iure dicundo (Apg 16,20.22.38) und den ῥαβδοῦχοι bzw. lictores (Apg 16,35.38) römische Beamte auftreten. Dieses römische Flair ist nicht nur Kulisse für das, was Paulus und seinem Begleiter Silas in der Stadt widerfährt, sondern dient vielmehr dazu, die Botschaft der Missionare zu profilieren. Der Verfasser der Apostelgeschichte bietet ausgerechnet in Philippi zunächst eine Szene, die auf eine Unvereinbarkeit von römischen Wertvorstellungen und christlicher Botschaft hindeutet und mit der Inhaf39 In der Verwendung des Begriffes εὐαγγέλιον liegt eine erneute Spitze gegen römische Ideologie vor, wie sich anhand der sogenannten Kalenderinschrift von Priene (IPriene 105) illustrieren lässt: In diesem Edikt des Statthalters der Provinz Asia aus dem Jahr 9 v. Chr. wird die Geburt des Augustus mit dem Plural εὐαγγέλια als „frohe Botschaften“ verkündet und als Beginn eines neuen Zeitalters gefeiert; vgl. dazu C. ETTL, Der „Anfang der … Evangelien“. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs εὐαγγέλοιν. Mit einer Anmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: S. H. Brandenburger / T. Hieke (Hg.), Wenn drei das gleiche sagen. Studien zu den ersten drei Evangelien. Mit einer Werkstattübersetzung des QTextes, Münster 1998, 121–151; H.-J. KLAUCK, Das göttliche Kind. Variationen eines Themas, in: ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien, WUNT 152, Tübingen 2003, 290–313 (298–300).

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tierung der Missionare endet (Apg 16,19–24). Die Konfrontation findet ihren Höhepunkt, als die aufgebrachten40 Bewohnerinnen und Bewohner Philippis die von ihnen als jüdisch eingestuften Verkündiger vor den höchsten römischen Beamten der Stadt mit folgenden Worten anklagen (Apg 16,20f.): οὗτοι οἱ ἄνθρωποι ἐκταράσσουσιν ἡμῶν τὴν πόλιν, Ἰουδαῖοι ὑπάρχοντες, καὶ καταγγέλλουσιν ἔθη ἃ οὐκ ἔξεστιν ἡμῖν παραδέχεσθαι οὐδὲ ποιεῖν Ῥωμαίοις οὖσιν.

„Diese Leute bringen unsere Stadt durcheinander, sie sind Juden und verkünden Sitten, die wir als Römer weder übernehmen noch ausführen dürfen.“

Diese Einschätzung der Unvereinbarkeit von Römischsein41 und christlicher Lehre aber wird bald darauf in Person des Paulus selbst widerlegt: Nach einem nächtlichen Intermezzo, an dessen Ende die Taufe des Gefängniswärters und seiner Familie steht (Apg 16,25–34), sollen die Gefangenen heimlich entlassen werden, worauf sich Paulus aber mit dem Hinweis auf sein römisches Bürgerrecht nicht einlässt (Apg 16,37): δείραντες ἡμᾶς δημοσίᾳ ἀκατακρίτους, ἀνθρώπους Ῥωμαίους ὑπάρχοντας, ἔβαλαν εἰς φυλακήν, καὶ νῦν λάθρᾳ ἡμᾶς ἐκβάλλουσιν; οὐ γάρ, ἀλλ’ ἐλθόντες αὐτοὶ ἡμᾶς ἐξαγαγέτωσαν.

„Ohne Urteilsspruch ließen sie uns öffentlich geißeln, obwohl wir römische Bürger sind, und ins Gefängnis werfen. Und jetzt wollen sie uns heimlich fortschicken? Nein, sie sollen kommen und uns selber hinausgeleiten.“

Der lukanische Paulus erweist sich hier nicht nur als kundig in römischen Sitten (ἔθη bzw. mos42), indem er im Sinne des römischen Rechts argumentiert, er ist sogar ein civis Romanus, also gewissermaßen ein Vollmitglied des römischen Volkes, und verweist mit Trotz und Selbstbewusstsein darauf.

40 Auf der Erzählebene liegt der Grund der Erregung in der Austreibung eines wahrsagenden Geistes aus einer Sklavin, wodurch ihre Besitzer finanzielle Einbußen erleiden (Apg 16,16–18). Für eine Auslegung dieser Szene vgl. E. EBEL, Geschäftsschädigende Intervention. Die Heilung der wahrsagenden Sklavin (Apg 16,16–22), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der frühchristlichen Wundererzählungen, Band 2: Wunder der Apostel, Gütersloh 2014 (im Druck). 41 Lukas verwendet in Apg 16,21.37; 22,27.29; 23,27 das Adjektiv Ῥωμαίος in Verbindung mit den Verben ὑπάρχειν und εἶναι, in Apg 22,25f. ist von Paulus als einem ἄνθρωπος Ῥωμαῖος die Rede. Der Verfasser der Apostelgeschichte verwendet im Blick auf das römische Bürgerrecht nur einmal einen Begriff mit dem Stamm πολι-: Der römische Hauptmann spricht in Apg 22,28 über den käuflich Erwerb seiner πολιτεία. 42 Zur Auslegung von ἔθη im Sinne des mos maiorum vgl. P ILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 191–193.

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Völlig unabhängig von der Historizität des römischen Bürgerrechts des Apostels43 und der juristischen Plausibilität dieser Szene44 kann gefragt werden, welche Wirkung ein solches Auftreten des lukanischen Paulus auf die ersten Leserinnen und Leser der Apostelgeschichte hat: Wer selbst zu den angesehenen römischen Bürgern gehört und bereits Christ ist oder mit der neuen Religion sympathisiert, kann ermutigt werden, für sein Leben selbstbewusst und mutig einen gangbaren Weg zu finden, auf dem beide Aspekte seiner Person berücksichtigt werden. Wer als potentieller oder tatsächlicher Christ kein römisches Bürgerrecht besitzt und der Mittel- und Unterschicht angehört, kann durch den lukanischen Bericht über antichristliche Proteste und behördliche Willkür eher abgeschreckt werden, weil für ihn die Gefahr einer doppelten Diskriminierung auf Grund seines Glaubens und seines sozialen Status besteht. Liest man Apg 16,19–24.35–39 im Spiegel des Philipperbriefes, ergibt sich je nach sozialem Status ein unterschiedlicher Befund: Das von Paulus in Phil 3,20f. propagierte πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς ist als alternatives Angebot zum römischen Bürgerrecht für die Gruppe der privilegierten römischen Oberschicht der Stadt nicht sehr werbewirksam, während es für die große Gruppe der Angehörigen der Mittel- und Unterschicht einen Ausgleich irdischer Benachteiligung in Aussicht stellt. Darüber hinaus gilt es, bei der Lektüre der Apostelgeschichte eine weitere Lesergruppe in den Blick zu nehmen: Vertreter der römischen Staatsgewalt werden durch eine solche Szene, wie sie Lukas für Philippi präsentiert, angeregt, eventuell bestehende Vorurteile infrage zu stellen und nicht grundsätzlich von einem Widerspruch zwischen römischer und christlicher Gesinnung auszugehen. Hier wird in aller Deutlichkeit das Anliegen des Lukas spürbar, nach außen für eine Akzeptanz der neuen Religion und ihrer Anhängerinnen und Anhänger zu werben, während Paulus seinen Blick ausschließlich nach innen auf die Stärkung der Gemeinde richtet, der vorrangig Menschen ohne römisches Bürgerrecht angehören.

43 Die Diskussion beginnt mit T. MOMMSEN, Die Rechtsverhältnisse des Apostels Paulus, ZNW 2 (1901), 81–96; die letzte umfangreiche Studie zu diesem Thema hat Heike OMERZU, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin 2002, 17–52 vorgelegt. Für eine Zusammenstellung der wichtigsten immer wieder vorgetragenen Argumente vgl. E. EBEL, Das Leben des Paulus, in: O. Wischmeyer (Hg.), Paulus. Leben – Umwelt – Werke – Briefe, UTB 2767, Tübingen/Basel 22012, 105–118 (111–113). 44 Vgl. dazu H. W. T AJRA, The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles, WUNT 2/35, Tübingen 1989, 3–14.24–29; OMERZU, Prozeß (s. Anm. 43), 111–166.

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5 Ergebnis Sowohl Paulus als auch Lukas nehmen die spezielle römische Prägung der colonia Iulia Augusta Philippiensis in ihren Schriften auf. Besondere Bedeutung kommt dabei im Philipperbrief ebenso wie in der Apostelgeschichte dem Stolz der Bewohnerinnen und Bewohner Philippis auf ihr Römischsein und im besten Fall auf ihr römisches Bürgerrecht zu. Paulus wird im Sinne einer Orientierung an den Vorstellungen und Haltungen seiner Leserinnen und Leser und frei nach 1Kor 9,20–23 beim Verfassen des Philipperbriefes zu einem Philipper und Lukas wird von manchen Exegeten auf Grund seiner detaillierten Lokalkenntnisse sogar in Philippi beheimatet.45 Im argumentativen Vorgehen und in der Verhältnisbestimmung von irdischen und himmlischen Mächten und Institutionen zeigen die von beiden neutestamentlichen Autoren formulierten Aussagen zum Bürgerrecht jedoch keinerlei Gemeinsamkeiten: Paulus entwirft mit dem πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς (Phil 3,20) ein Gegenprogramm zu bestehenden irdischen Institutionen wie dem städtischen Bürgerrecht und der civitas Romana. Mit dieser – wie es der Jubilar formuliert hat – „virtuellen Antithese“46 und damit der Überbietung der Privilegien lediglich irdischer Bürgerrechte47 löst der Apostel bei Leserinnen und Lesern aus der Oberschicht möglicherweise Irritation und Ablehnung aus. Zugleich aber bietet er den zahlreichen Angehörigen der Mittel- und Unterschicht eine Alternative zu dem von den wenigen privilegierten Bewohnerinnen und Bewohnern Philippis mit Leidenschaft und Stolz auch nach außen präsentierten städtischen bzw. römischen Bürgerrecht an. Das „Bürgerrecht in den Himmeln“ stellt allen Christinnen und Christen zumindest nach dem irdischen Leben eine mit allen Rechten versehene Vollmitgliedschaft in Aussicht. Lukas hingegen betont in seinem Abschnitt über Philippi die mögliche Kompatibilität von römischem Bürgerrecht und christlicher Verkündigung und Lebensführung (Apg 16,20f.37). Der Verfasser der Apostelgeschichte präsentiert in apologetischer Absicht einen Paulus, der weniger als Identifikationsfigur für Menschen der Unter- und Mittelschicht dienen kann, stattdessen aber für römische Bürger ein mögliches Lebensmodell aufzeigt, das Anforderungen 45 Zu der Beheimatung des Lukas in Philippi vgl. PILHOFER, Philippi I (s. Anm. 1), 153–205.248–254; DERS., Lukas als ἀνὴρ Μακεδών. Zur Herkunft des Evangelisten aus Makedonien, in: ders., Die frühen Christen (s. Anm. 11), 106–112; STERCK-DEGUELDRE, Lydia (s. Anm. 28), 196–200; H. KLEIN, Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt, KEK I/3, Göttingen 2006, 68. 46 VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 14), 466. 47 Zum Modell der „Überbietung“ im Sinne einer „besseren Alternative“ vgl. VOLLENWEIDER, Raub (s. Anm. 14), 469; STANDHARTINGER , Theologie (s. Anm. 15), 382.

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der römisch geprägten Gesellschaft und christliche Ideen miteinander verknüpft. Abschließend sei ein kleines Gedankenspiel erlaubt: Falls Paulus tatsächlich, wie es Lukas angibt, römischer Bürger ist (Apg 16,21.37; 22,25– 29; 23,27), erhält sein Hinweis auf „unser Bürgerrecht in den Himmeln“ (Phil 3,20) noch eine zusätzliche Pointe. Dann nämlich verzichtet der Apostel bewusst darauf, sich als civis Romanus mit den privilegierten Bürgerinnen und Bürgern Philippis auf eine Stufe zu stellen und sich ihnen als gesellschaftlich adäquates Gegenüber zu präsentieren. Stattdessen wird er durch seinen Statusverzicht in Anlehnung an 1Kor 9,20–23 den Bewohnerinnen und Bewohnern Philippis ohne Bürgerrecht zu einem Philipper ohne Bürgerrecht. Paulus richtet unter dieser Voraussetzung seine Verkündigung gezielt darauf aus, den vielen Bewohnerinnen und Bewohnern Philippis, denen es an irdischen Bürgerrechten mangelt, eine attraktive himmlische Alternative zu bieten, und folgt mit dieser solidarischen Erniedrigung dem Beispiel Jesu Christi, das er selbst mittels des Philipperhymnus zur Nachahmung empfohlen hat (Phil 2,5–8).

Paulus und die römische Rechtsordnung im Spiegel des Philipperbriefes HEIKE OMERZU

1 Problemaufriss Der Philipperbrief ist unter den echten Paulusbriefen im Blick auf das Imperium Romanum von besonderem Interesse. Dies liegt unter anderem am Status der Stadt Philippi als römischer Kolonie, dem augenfälligen Gebrauch politisch-konnotierter Begrifflichkeiten wie z. B. κύριος und σωτήρ oder πολίτευμα / πολιτεύομαι und nicht zuletzt daran, dass der Brief von einem römischen Bürger in einem römischen Gefängnis abgefasst wurde. Im Folgenden möchte ich einige dieser Aspekte, die naturgemäß miteinander verflochten sind, näher untersuchen, um abschließend die Implikationen für die Interpretation des Philipperbriefes zu skizzieren. Vorab ist zu bemerken, dass ich im Einklang mit der jüngeren Forschung grundsätzlich von der Einheitlichkeit des Philipperbriefes ausgehe.1 Teilungshypothesen können hier jedoch auch deshalb außer Acht gelassen werden, da auch unter Annahme mehrerer Brieffragmente die oben angeführten Beobachtungen gültig sind.

2 Das römische Bürgerrecht im Spiegel des Philipperbriefes Obwohl es von Paulus selbst nicht erwähnt wird, gehe ich davon aus, dass er im Besitz des römischen Bürgerrechts war, wie Lukas in Apg 16,37–38 Vgl. z. B. U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/1, Leipzig 1993, 4–14; G. D. FEE, Paul’s Letter to the Philippians, NICNT, Grand Rapids 1995, 21– 23; M. B OCKMUEHL, The Epistle to the Philippians, BNTC, Grand Rapids 1998, 20–25. Vgl. auch M. T HEOBALD, Der Philipperbrief, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Kohlhammer Studienbücher Theologie 6, Stuttgart 2008, 365–383 (367–372) für einen Überblick über die verschiedenen Positionen. Theobald selbst votiert dafür, dass die Abschnitte Phil 3,1b–11; 4,8f. einem Phil B zuzuordnen sind (ebd., 372f.). 1

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im Zuge der Mission des Paulus in Philippi sowie in Apg 22,25–29 und 23,27 im Kontext seines römischen Prozesses berichtet. Gemäß Apg 22,28 wurde Paulus bereits als römischer Bürger geboren. Dies bedeutet, dass schon seinen Vorfahren das Bürgerrecht verliehen worden sein musste. Am wahrscheinlichsten scheint mir, dass dies im Zuge einer Freilassung aus einer Kriegsgefangenschaft (manumissio) geschah.2 Als Römer hätte Paulus einen dreiteiligen Namen bestehend aus praenomen (Vorname), nomen gentile (Geschlechtsname) und cognomen (Beiname) führen können. Lukas bezeichnet den Apostel jedoch bis zu Apg 13,9 sowie in Verbindung mit dem Damaskusereignis in Apg 9,4.17; 22,7.13; 26,14 als Saulus und verwendet für die Folgezeit die gräzisierte Form des seltenen lateinischen Namens Paul(l)us. Der Apostel selbst benutzt ausschließlich diesen Namen, bei dem es sich vermutlich um ein cognomen handelt.3 Trotz der Namensverwandtschaft mit dem in Apg 13,7.12 erwähnten Statthalter Sergius Paul[l]us ist nicht von einem Patronatsverhältnis4 zwischen den beiden auszugehen. Die Tatsache, dass Paulus sowohl nach seinem Selbstzeugnis als auch nach dem Bericht der Apostelgeschichte wiederholten Haft- und Prügelstrafen ausgesetzt war (vgl. 2Kor 6,4f.; 11,24f.; 12,10; Phil 1,7.13f. 30; 1Thess 2,2; Apg 16,22–24.37f.), wird häufig als Argument gegen die Authentizität der Nachricht vom römischen Bürgerrecht vorgebracht. Die Schwäche dieser Kritik liegt teils darin, dass das Bürgerrecht nicht grundsätzlich vor Inhaftierung schützte. Bedenkenswert ist jedoch vor allem, dass Paulus – aus welchen Gründen auch immer – sein Privileg nicht immer zur Geltung gebracht haben muss. Ein entsprechendes „Fallbeispiel“ bietet Lukas für die Inhaftierung in Philippi, wo sich der Apostel erst nach der Freilassung aus der Haft auf sein Bürgerecht beruft (vgl. Apg 16,22–40). Darüber hinaus wird als Einwand gegen die lukanische Notiz vom römischen Bürgerrecht des Paulus oft erhoben, dass der Apostel selbst es weder erwähnt, noch seinen vollständigen Namen benutzt. Für beide Sachverhalte lassen sich jedoch sowohl Erklärungen als auch Analogien finden. Die Paulusbriefe sind am ehesten mit Privatbriefen zu vergleichen, die dem Apostel vermutlich keinen Anlass boten, seinen offiziellen Namen zu verwenden, zumal er sich in ihnen überwiegend an Nichtrömer richtete. In den Briefen steht darüber hinaus die christliche Identität des Paulus, nicht diejenige als römischer Bürger im Vordergrund.5 In Analogie dazu, dass wir 2 Vgl. H. OMERZU, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte, BZNW 115, Berlin 2002, 36–39. 3 Vgl. C. J. HEMER, The Name of Paul, TynB 36 (1985), 179–183. 4 Vgl. R. R IESNER , Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie, WUNT 71, Tübingen 1994, 126f. 5 Im Blick auf Phil 1,27 und 3,20 ist freilich zu fragen, ob hier nicht implizit ein Gegenmodell zum römischen Bürgerrecht aufgestellt wird. Das gilt freilich auch

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über das römische Bürgerrecht des Paulus nur durch Lukas unterrichtet sind, wissen wir von einem jüngeren Zeitgenossen des Apostels, dem Schriftsteller und Philosophen Plutarch, nur aus einer delphischen Inschrift (CIG 1713 = SIG3 842), dass er den Gentilnamen Mestrius führte und folglich das römische Bürgerrecht besaß. Dieses hat er, wie aus einer anderen Inschrift hervorgeht (IG VII 3423), auf seine Nachkommen vererbt. Plutarch selbst erwähnt jedoch in keiner seiner Schriften den römischen Namen oder das Bürgerrecht. Während Ulrich von Willamowitz annahm, dass er sich dafür allzu sehr als Hellene fühlte,6 meint C. P. Jones vielmehr: „Plutarch’s failure to mention his citizenship is no attempt to maintain the appearance of a Hellene. In his circle, the citizenship was like affluence, too familiar to deserve comment.“7 Die Beweggründe für das Schweigen über Bürgerrecht und römischen Namen sind im Falle des Plutarch höchst wahrscheinlich anders gelagert als bei Paulus. Die Analogie vermag aber dennoch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der lukanischen Nachrichten vom paulinischen Bürgerrecht zu mindern, wenngleich auch nicht vollständig zu zerstreuen. Es bleibt schließlich die Frage zu beantworten, ob das Bürgerrecht des Paulus nicht indirekt Niederschlag in seinen Briefen gefunden hat. Im Blick auf den Philipperbrief scheint mir hier vor allem der im Corpus Paulinum singuläre Gebrauch des Wortstamms πολίτ* auffällig. In Phil 1,27 ermahnt Paulus die Philipper, „allein des Evangeliums Christi würdig zu leben“ (μόνον ἀξίως τοῦ εὐαγγελίου τοῦ Χριστοῦ πολιτεύεσθε); in Phil 3,20 erinnert er die Gemeinde daran, dass „unser πολίτευμα aber im Himmel ist; von dorther erwarten wir als Retter den Herrn Jesus Christus“ (ἡμῶν γὰρ τὸ πολίτευμα ἐν οὐρανοῖς ὑπάρχει, ἐξ οὗ καὶ σωτῆρα ἀπεκδεχόμεθα κύριον Ἰησοῦν Χριστόν). In Apg 23,1 findet sich das einzige weitere Vorkommen von πολιτεύομαι im Neuen Testament, und zwar in der Rede des Paulus vor dem Synhedrium und in Bezug auf seine Lebensführung insgesamt. Apg 22,28 steht πολιτεία für das römische Bürgerrecht (vgl. auch Eph 2,12 in Bezug auf Israel), häufiger aber wird dieses von Lukas umschrieben als Ῥωμαίοις ἐστιν (z. B. Apg 16,21.38; Apg 22,26f. 29 u. ö.). Mit dem Jubilar gehe ich davon aus, dass „das Lexem, das der Apostel sonst nicht verwendet, in unserem Kontext nicht allgemein auf den ‚Lebenswandel‘ (περιπατεῖν) abhebt, sondern eine prägnante, spezifische Semantik zum Zug bringt: ‚Bürger sein‘, ‚sich als Bürger verhalten‘, ‚als unabhängig von der Frage, ob Paulus römischer Bürger war, d. h. in Bezug auf die Perspektive der Adressaten (s. u.). 6 Vgl. K. ZIEGLER, Plutarchos von Chaironeia, Stuttgart 21964, 14; C. P. J ONES, Plutarch and Rome, Oxford 1971, 45 mit Anm. 37. 7 JONES, Plutarch (s. Anm. 6), 45.

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Bürger leben‘.“8 Ähnlich argumentiert Ulrich B. Müller, der allerdings annimmt, dass Paulus die ursprüngliche Tradition der griechischen Polis aufgreift und damit „den Gedanken der den einzelnen Christen verpflichtenden neuen Gemeinschaft betont“.9 Paulus überträgt jedenfalls den Anspruch, den ein Bürgerrecht umfasst („Würdigkeit“), – ich zitiere hier nochmals Samuel Vollenweider – „vom politischen auf ein transzendentes Niveau. Es geht in Phil 1,27 also … um das Wahrnehmen des dem Evangelium entsprechenden himmlischen Bürgerrechts (3,20f.).“10 Das Bürgerrecht verweist auf die himmlische Macht, welche die irdische Existenz der Christen bestimmt, nämlich Christus. Der Philipperbrief entfaltet dann in weiten Teilen des Briefes mit Hilfe politischer und philosophischer Rhetorik, wie dieses Bürgerrecht würdig auszuüben ist, etwa durch ein Leben in Eintracht.11 Es gilt grundsätzlich, dem Beispiel Christi zu folgen. Es stellt sich nun die Frage, warum Paulus gerade im Philipperbrief diese Argumentation benutzt, wobei es nachrangig ist, ob er dabei eine Tradition aufgreift oder frei formuliert. Es geht mir auch nicht um die Identifikation der konkreten Gegner, die Paulus in 3,2ff. im Blick hat, sondern vielmehr um die Motivation seiner Ausdrucksweise. Denkbar wäre diesbezüglich einerseits, dass der Status Philippis als römischer Kolonie ihm entsprechenden Anlass geboten hat.12 Es ist wohl auch kaum ein Zufall, dass 8 S. VOLLENWEIDER, Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes. Exegetische Studien zur paulinischen und johanneischen Theologie und Literatur, WUNT 198, Tübingen 2006, 457–469 (459). 9 MÜLLER, Philipper (s. Anm. 1), 74. 10 VOLLENWEIDER, Theologie (s. Anm. 8), 459. Vgl. auch FEE, Philippians (s. Anm. 1), 162 zu 1,27: „Paul … uses the verb metaphorically, not meaning ‚live as citizens of Rome‘ … but rather ‚live in the Roman colony of Philippi as worthy citizens of your heavenly homeland‘.“ Während Fee vorauszusetzen scheint, dass die meisten Christen in Philippi das römische Bürgerrecht besaßen (vgl. ebd., 161: „Paul is here making a play on their ‚dual citizenship‘“), differenziert B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 1), 98, zurecht: „It is worth noting, however, that Paul neither highlights his own Roman citizenship nor in any way presupposes that of his readers; indeed by writing in Greek he is clearly appealing to a wider audience than that of the Latin-speaking highest echelons of Philippian society.“ MÜLLER, Philipper (s. Anm. 1), 74 Anm. 19 spricht sich gegen einen Zusammenhang von 1,27 und 3,20 aus, „da der Gedanke der Fremdlingsschaft der Christen auf Erden, insofern ihr ‚Staat‘ im Himmel ist, in 1,27 fernliegt“. Später vertritt er allerdings eine andere Deutung von πολίτευμα, die der oben skizzierten näher liegt: „Vom ‚Staat‘ im Himmel ist insofern die Rede, als die Existenz der Christen von einer im Himmel lebenden Macht bestimmt ist, dem erhöhten Christus“ (ebd., 180). 11 Vgl. VOLLENWEIDER, Theologie (s. Anm. 8), 460–462. 12 Vgl. für eine differenzierte Analyse möglicher Implikationen des Kolonialstatus J. A. MARCHAL, Hierarchy, Unity, and Imitation. A Feminist Rhetorical Analysis of Power Dynamics in Paul’s Letter to the Philippians, Leiden 2006, 99–112. Vgl. auch S. ROSELL NEBREDA, Christ Identity. A Social-Scientific Reading of Philippians 2.5–11, FRLANT 240, Göttingen 2011, 274: „Assuming that the political language of Phil 3.20f. is linked

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Lukas ausgerechnet in der Philippierzählung erstmals das paulinische Bürgerrecht erwähnt, das eigentlich erst später im Verlauf des römischen Prozesses, und zwar insbesondere im Blick auf die Berufung des Paulus auf den Kaiser rechtliche Bedeutung für die Erzählung hat. Paulus könnte mit der Rede vom „Bürgerrecht im Himmel“ neben der spezifischen Kritik an Gegnern, die „nach dem Irdischen trachten“, gleichsam einen allgemein paränetischen Aspekt verbinden, der die Christen in der „römischen“ Stadt Philippi dessen versichert, dass sie keineswegs benachteiligt sind, weil die Mehrzahl von ihnen wohl nicht das römische Bürgerrecht besaß, das in der paganen Umwelt hoch angesehen war.13 Andererseits, und diese Erklärung schließt die zuvor entfaltete keineswegs aus, könnte die Gefangenschaftssituation des Paulus Anlass für die singulären Ausführungen zu πολίτευμα und πολιτεύομαι geboten haben. Denkbar wäre z. B., dass Paulus sich genötigt sah zu erklären, warum bzw. wahrscheinlicher, warum er sich nicht auf sein Bürgerrecht berufen hat. Dass Paulus dies nicht eindeutiger formuliert, etwa in Form einer offenen Abwertung des römischen Bürgerrechts, könnte gerade in der Situation der Haft begründet sein, worauf im Folgenden noch einzugehen ist.

3 Konflikte des Paulus mit der römischen Rechtsordnung im Spiegel des Philipperbriefes Dass Paulus wiederholt in Konflikt mit dem römischen Recht und dessen Instanzen geraten ist, bezeugt wiederum vor allem Lukas. In der römischen Kolonie Philippi wurde der Apostel gemäß Apg 16,19–24 wegen Unruhestiftung angeklagt, gefoltert und inhaftiert, worauf Paulus selbst in 1Thess 2,2 und Phil 1,30 hinweist. Die abschließenden Kapitel der Apostelgeschichte berichten ausführlich vom römischen Prozess des Paulus. Demzufolge muss sich der Apostel nach seiner Verhaftung im Jerusalemer Tempel im Statthaltersitz Caesarea Maritima u. a. vor den Prokuratoren Felix und Festus wegen des Vorwurfs der Unruhestiftung, eventuell sogar der Majestätsbeleidigung verantworten. Paulus appelliert im Zuge des Prozesses an den Kaiser und wird schließlich nach Rom gesandt (Apg 21–28). Die Apostelgeschichte endet bekanntlich ohne explizite Angaben über den to the claims being advanced by those whose position Paul is opposing, we may suggest that seeking ‚status‘ as a politeuma of ‚Israelites‘ provided an alternative to the persistent danger of suspicion and persecution.“ 13 Vgl. auch BOCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 1), 98: „The rhetorical force of Paul’s language is to play on the perceived desirability of citizenship in Roman society at Philippi, and to contrast against this the Christian version of enfranchisement and belonging.“

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Ausgang des Prozesses in Rom, und schließt mit der Bemerkung, dass Paulus zwei Jahre lang in offener Haft verwahrt wurde, während er „alle aufnahm, die zu ihm kamen, und das Reich Gottes predigte und von dem Herrn Jesus Christus lehrte mit allem Freimut ungehindert (μετὰ πάσης παρρησίας ἀκωλύτως)“ (Apg 28,30b–31). Falls der Philipperbrief in Rom abgefasst ist, bietet er uns einen Einblick in diese Zeit der Inhaftierung, worauf zurück zu kommen ist. Während die Apostelgeschichte impliziert, dass Paulus – aus der Sicht des Lukas freilich zu Unrecht – der seditio oder des crimen maiestatis angeklagt wurde, verbleibt Paulus unbestimmter, wenn er sich über Rechtsstreitigkeiten auslässt. Im 2. Korintherbrief verweist er etwa darauf, dass er sich „in Schlägen, in Gefängnissen (und) in Verfolgungen“ (2Kor 6,5: ἐν πληγαῖς, ἐν φυλακαῖς, ἐν ἀκαταστασίαις) als Diener Christi erwiesen habe, ja, dass er im Vergleich zu seinen Gegnern „öfter gefangen war, mehr Schläge erlitten hat und oft in Todesnöten war“ (2Kor 11,23: ἐν φυλακαῖς περισσοτέρως, ἐν πληγαῖς ὑπερβαλλόντως, ἐν θανάτοις πολλάκις). Der Anlass für diese Inhaftierungen und Folterungen bleibt in den Peristasenkatalogen jedoch genrebedingt offen. Darüber hinaus finden sich in der Korintherkorrespondenz verschiedentliche Andeutungen auf lebensbedrohliche Konflikte in der Provinz Asia bzw. in Ephesus. Deutlicher wird Paulus hingegen im Philipperbrief; hier erwähnt der Apostel ausdrücklich, dass er während der Abfassung des Briefes in Haft sitzt.14 In Phil 1,7.13f.17 bezeichnet Paulus sich selbst als „Gefangener“ und verweist auf seine „Ketten“ (οἱ δεσμοί μου). Phil 1,12–14 hebt Paulus hervor, dass sich seine Situation „– wider Erwarten positiv – zur Förderung der apostolischen Sache entwickelt“15. Seine „Fesseln in Christus“ (τοὺς δεσμούς μου … ἐν … Χριστῷ, Phil 1,13) sind bekannt geworden und seine Gefangenschaft trägt zur Verkündigung des Evangeliums bei. Darüber hinaus dürfte auch der Verweis in Phil 1,7 darauf, dass die Philipper Teil haben sowohl an der Gefangenschaft als auch der Verteidigung und Bekräftigung des Evangeliums des Paulus (ἔν τε τοῖς δεσμοῖς μου καὶ ἐν τῇ ἀπολογίᾳ καὶ βεβαιώσει τοῦ εὐαγγελίου συγκοινωνούς μου τῆς χάριτος πάντας ὑμᾶς ὄντας), in diesem Sinne zu interpretieren sein. Gemäß Phil 1,29f. leiden sowohl die Philipper als auch Paulus selbst „für ihn“, d. h. Christus (τὸ ὑπὲρ αὐτοῦ πάσχειν, τὸν αὐτὸν ἀγῶνα ἔχοντες, οἷον εἴδετε ἐν ἐμοὶ καὶ νῦν ἀκούετε ἐν ἐμοί). Ein konkreter Hinweis auf einen römischen Kontext der Haftsituation findet sich in 1,13 mit der Bemerkung, dass es „im ganzen Prätorium … offenbar geworden sei, dass Paulus seine Fesseln in Christus trage“. Darüber hinaus richtet er in 4,22 Grüße aus von Gläubigen „aus dem Haus des Kaisers“ (οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας). 14 15

Vgl. auch Phlm 1.9: δέσμιος, Phlm 10.13: ἐν τοῖς δεσμοῖς. MÜLLER, Philipper (s. Anm. 1), 50.

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Bei der Abfassung des Briefes scheint der Ausgang des Prozesses noch ungewiss zu sein. Phil 1,19–24 und 2,17 deuten darauf hin, dass Paulus sowohl mit einem Freispruch als auch mit dem Todesurteil rechnet. Dies illustriert den Ernst des Konfliktes, wenngleich der in Phil 2,24 der philippischen Gemeinde in Aussicht gestellte Besuchswunsch bedeuten kann, dass Paulus eher optimistisch gestimmt ist. Der Abschnitt 3,2–4,1 könnte sogar bereits eine veränderte Situation widerspiegeln. Die Haft wird hier nicht mehr direkt angesprochen und Paulus wirkt zuversichtlicher. In jedem Fall ist jedoch Vollenweider beizupflichten, dass bei Paulus selbst „[a]nders als in der Apostelgeschichte … nicht das leiseste kritische Wort über seine möglichen Exekutoren [fällt]“,16 zumindest nicht explizit. Überhaupt fehlt jegliche private Bemerkung über sein Leben als Gefangener, wie wir sie ansonsten aus antiken Gefangenschaftsbriefen kennen, bei denen es sich freilich in der Regel um „Bittbriefe an Höhergestellte“17 handelt. Angela Standhartinger hat in diesem Zusammenhang auf die „Gefährdungspotentiale“18 von antiken Gefängnisbriefen hingewiesen: „Die Gefahr, dass der Brief eines Gefangenen von den Anklägern, Gefängnisaufsehern, Richtern oder verzweifelten Mithäftlingen gelesen und gegen Paulus verwendet wird, war hoch. Die Gefahr auch die Empfänger zu gefährden nicht minder. Daher bleiben alle Aussagen über die Situation des Paulus, seinen Prozess, den Haftort, das Verhältnis zu [sic] dortigen Gemeinde und seine Zukunftspläne vage.“19 Standhartinger operiert daher für die Analyse des Philipperbriefes mit dem Modell des „public“ und „hidden transcript“ des Politikwissenschaftlers James C. Scott.20 Die Schwierigkeit dieses Zugangs liegt jedoch, wie

VOLLENWEIDER, Theologie (s. Anm. 8), 467. MÜLLER, Philipper (s. Anm. 1), 51 unter Hinweis auf P.Petr. III 36. Vgl. für weitere Beispiele von Papyrusbriefen aus dem Gefängnis auch A. STANDHARTINGER , Aus der Welt eines Gefangenen. Die Kommunikationsstruktur des Philipperbriefs im Spiegel seiner Abfassungssituation, NT 55 (2013), 140–167 (148f. Anm. 38; 156 Anm. 75). Vgl. außerdem als literarisches Beispiel den in Philostratus, v. Apoll. 4,46 gebotenen Briefwechsel zwischen Apollonius und dem inhaftierten Musonius (ebd., 156 Anm. 77). Leider werden in keinem der Beispiele die Bedingungen oder Möglichkeiten für die Abfassung von Gefängnisbriefen näher beleuchtet. 18 STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 157. 19 STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 166; vgl. bereits DIES., Paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29, Gütersloh 2006, 364–382. 20 Vgl. J. C. SCOTT, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven 1990; STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 145f. u. ö. 16 17

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ich an anderer Stelle gezeigt habe,21 darin, dass für Texte der Vergangenheit die „verborgene Nachricht“ oder das „hidden transcript“ immer nur aus dem „öffentlichen Protokoll“, dem „public transcript“, rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie der gleichzeitige unverhüllte Gebrauch politisch-konnotierten Vokabulars wie Evangelium, Friede, Einheit, Tag des Herrn vor dem Hintergrund dieses Modells zu bewerten ist. Genauer gesagt ist fraglich, ob ein kritischer Subtext wirklich vor unerwünschten Lesern hätte verborgen werden können. In jedem Fall sollte aber die Tatsache, dass Paulus den Philipperbrief als Häftling geschrieben hat, bei jedem Interpretationsversuch bedacht sein.22 Wie von Lukas für die Haft in Rom in Apg 28,17–30 illustriert, ist Paulus auch nach seinem Selbstzeugnis im Philipperbrief als Gefangener nicht isoliert: Er empfängt wiederholt Besuch (Timotheus: 1,1; 2,19–23; Epaphroditus: 2,25.28; 4,18) und kann Briefe schreiben oder schreiben lassen. Letzteres, also dass Paulus den Philipperbrief einem Sekretär diktiert hat, ist nicht eigens im Brief erwähnt, aber durchaus als Möglichkeit zu erwägen. Timotheus wird als Mitabsender des Briefes genannt (1,1), aber anders als Epaphras in Phlm 23 und Andronikus und Junia in Röm 16,7 nicht als Mitgefangener (συναιχμάλωτος) des Paulus bezeichnet. Vielmehr stellt Paulus der philippischen Gemeinde in 2,19–23 sogar den Besuch des Timotheus in Aussicht. Sein Mitarbeiter muss sich also in einer anderen Situation befunden haben als der Apostel selbst. Paulus hat offensichtlich auch regelmäßigen Kontakt zur christlichen Gemeinde am Haftort, die wohl nicht von ihm gegründet worden ist und seine Gefangenschaft kontrovers beurteilt (1,13–18). Wie bereits erwähnt, nutzt Paulus seine Haft zur Verkündigung des Evangeliums und es zählen auch Angehörige des Kaiserhauses (4,22: οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας) zur Gemeinde. Im Unterschied zu manchem seiner anderen Briefe erwähnt Paulus im Philipperbrief nicht, in welcher Stadt oder Region er sich während der Abfassung befindet. Die Hinweise auf eine Haft in einem römischen Gefängnis sowie die zahlreichen Kontakte des Gefangenen mit der Gemeinde in Philippi haben in der Forschung vielfach Anlass zu Spekulationen über den Ort der Gefangenschaft geboten. Als Möglichkeiten werden in der Regel Rom, Caesarea Maritima und Ephesus genannt.23 21 Vgl. H. OMERZU, Paulus als Politiker. Das paulinische Evangelium zwischen Ekklesia und Imperium Romanum, in: V. A. Lehnert / U. Rüsen-Weinhold (Hg.), Logos – Logik – Lyrik (FS K. Haacker), Leipzig 2007, 267–287. 22 So auch STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 145. 23 Die folgenden Ausführungen sind eine überarbeitete Fassung von H. OMERZU, Spurensuche. Apostelgeschichte und Paulusbriefe als Zeugnisse einer ephesischen Gefangenschaft, in: J. Frey / C. K. Rothschild / J. Schröter (Hg.), Die Apostelgeschichte im Kontext antiker und frühchristlicher Historiographie, BZNW 162, Berlin 2009, 295–326 (299–305).

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Der Haftort ist im Folgenden zu diskutieren, zunächst aufgrund der Angaben des Philipperbriefes, dann auch darüber hinaus. 3.1 Der Haftort des Paulus im Spiegel des Philipperbriefes

Die Lokalisierung in Rom reicht bis in die Zeit der Alten Kirche zurück und wird u. a. durch die subscriptiones der Codizes B1, 075, 6, 1739, 1881, den Mehrheitstext sowie durch den marcionitischen Prolog belegt.24 Die Annahme, dass Paulus den Philipperbrief während seiner Haft in Rom verfasst hat, war bis in das 19. Jh. hinein weitgehend unstrittig.25 Im Jahr 1799 brachte Heinrich Eberhard Gottlob Paulus meines Wissens als erster Caesarea als möglichen Abfassungsort in die Diskussion ein,26 was sich in der Forschung jedoch nie wirklich durchsetzen konnte.27 Die EphesusHypothese wurde erst gut hundert Jahre danach, zunächst durch Heinrich Lisco28 (1900) und etwas später, aber unabhängig von ihm, durch Adolf Deissmann29 (1908) vertreten und in der Folgezeit vor allem von Paul Feine30, Wilhelm Michaelis31 und George S. Duncan32 ausführlich entfaltet. 24 Vgl. Nestle-Aland27 ad loc. und F. STEGMÜLLER (Hg.), Repertorium Biblicum Medii Aevi 1: Initia Biblica, Apocrypha, Prologi, Madrid 1940, 295 Nr. 715. 25 Vgl. zur Forschungsgeschichte W. MICHAELIS, Einleitung in das Neue Testament, Bern 21954, 204–211. Zu den Hauptvertretern der Rom-Hypothese im 20. Jh. gehören J. SCHMID, Zeit und Ort der paulinischen Gefangenschaftsbriefe. Mit einem Anhang über die Datierung der Pastoralbriefe, Freiburg i. Br. 1931 und C. H. DODD, The Mind of Paul II, in: ders., New Testament Studies, Manchester 1953, 83–128; vgl. auch W. G. KÜMMEL, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 171973, 284 Anm. 5; P. V IELHAUER , Geschichte der urchristlichen Literatur. Einleitung in das Neue Testament, die Apokryphen und die Apostolischen Väter, Berlin 1975, 166–170; U. SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 1999, 153–156. 26 Vgl. M ICHAELIS, Einleitung (s. Anm. 25), 205; SCHMID, Zeit (s. Anm. 25), 2 Anm. 1; vgl. als Vertreter der Caesarea-Hypothese vor allem E. LOHMEYER , Der Brief an die Philipper, KEK 9/1, Göttingen (1930) 141974, 3f.; G. F. HAWTHORNE / R. P. M ARTIN, Philippians, WBC 43, Nashville 2004, 44. 27 KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 25), 288 bemerkt: „Wirklich triftige Einwände gegen Caesarea als Abfassungsort des Phil gibt es nicht, aber auch keinen besonderen Hinweis im Phil auf Caesarea als Abfassungsort, und so wird diese Lokalisierung heute fast allgemein, doch wohl allzu rasch, abgelehnt.“ J. GNILKA, Der Philipperbrief, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 31980, 19 weist darauf hin, dass „eine caesareensische Abfassung des Phil eigentlich mehr widerlegt als begründet wurde“. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass die Caesarea-Hypothese die gleichen Argumente wie die Rom-Hypothese gegen sich hat, aber außer Apg 24–26 keine für sich. 28 Vgl. H. LISCO, Vincula Sanctorum, Berlin 1900; DERS., Roma Peregrina, Berlin 1901. 29 Vgl. A. DEISSMANN, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen (11908) 41923, 1165f., 4201f.; DERS., Paulus. Eine kultur- und religionsgeschichtliche Skizze, Tübingen (11911) 21925, 111, 2 13f. mit Anm. 2; mündlich vertrat Deissmann diese These bereits 1897, vgl. DERS., Zur

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Als Ansatzpunkt für die Lokalisierung des Philipperbriefes wird oft auf die Erwähnung des Prätoriums in 1,13 (ἐν ὅλῳ τῷ πραιτωρίῳ) sowie die Grüße der Angehörigen des Kaiserhauses in 4,22 (ἀσπάζονται ὑμᾶς … οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας) verwiesen. Beide Angaben sind allerdings so unspezifisch, dass sie sich sowohl auf einen Haftort in Rom als auch in einer römischen Provinzhauptstadt wie zum Beispiel Ephesus oder Caesarea beziehen könnten. Das griechische Lehnwort πραιτώριον bzw. das lateinische praetorium bezeichnet ursprünglich das Hauptquartier eines Praetors, später auch die Praetorianerkohorte bzw. -garde. Darüber hinaus findet sich in den Provinzen der Terminus u. a. für den Amts- oder Wohnsitz des Statthalters oder eines hohen Beamten, wie es etwa von den Evangelien für die Residenz des Pilatus in Jerusalem bezeugt wird (vgl. Mk 15,16 par.; Mt 27,27; Joh 18,28.33; 19,9).33 Laut Apg 23,35 nutzte der römische Statthalter Felix den ehemaligen Herodespalast als Prätorium und ließ Paulus dort verwahren (κελεύσας ἐν τῷ πραιτωρίῳ τοῦ Ἡρῴδου φυλάσσεσθαι αὐτόν). Standhartinger hält diese Unterbringung für ein Privileg, aber nicht die Regel, da der Begriff „nirgendwo ein offizielles Gefängnis“34 bezeichne. Sie deutet daher das πραιτώριον in Phil 1,13 auch nicht als Haftort des ephesinischen Gefangenschaft des Apostels Paulus, in: W. H. Buckler / W. M. Calder (Hg.), Anatolian Studies Presented to Sir William Mitchell Ramsay, Manchester 1923, 121–127 (122). 30 Vgl. P. FEINE, Die Abfassung des Philipperbriefes in Ephesus mit einer Anlage über Röm. 16,3–20 als Epheserbrief, BFChTh 20,4, Gütersloh 1916. 31 Vgl. W. MICHAELIS, Die Gefangenschaft des Paulus in Ephesus und das Itinerar des Timotheus. Untersuchungen zur Chronologie des Paulus und der Paulusbriefe, Neutestamentliche Forschungen 1/3, Gütersloh 1925; DERS., The Trial of St. Paul at Ephesus, JThS 29 (1928), 368–375; DERS., Pastoralbriefe und Gefangenschaftsbriefe, Neutestamentliche Forschungen 1/6, Gütersloh 1930; DERS., Die Datierung des Philipperbriefes, Neutestamentliche Forschungen 1/8, Gütersloh 1933; DERS., Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11, Leipzig 1935, 2–6; DERS., Einleitung (s. Anm. 25), 204–211. 32 Vgl. G. S. DUNCAN, St. Paul’s Ephesian Ministry. A Reconstruction with Special Reference to the Ephesian Origin of the Imprisonment Epistles, London 1929; DERS., A New Setting for Saint Paul’s Epistle to the Philippians, ET 43 (1931/1932), 7–11; DERS., The Epistles of the Imprisonment in Recent Discussion, ET 46 (1934/1935), 293–298; DERS ., Were Paul’s Imprisonment Epistles Written from Ephesus?, ET 67 (1955/1956), 163–166; DERS., Paul’s Ministry in Asia – The Last Phase, NTS 3 (1956/1957), 211–218; DERS ., Chronological Table to illustrate Paul’s Ministry in Asia, NTS 5 (1958/1959), 43– 45. 33 Vgl. W. B AUER, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von K. und B. Aland, Berlin 61988, 1397f.; GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 27), 57f. Vgl. auch MÜLLER, Philipper (s. Anm. 1), 52 Anm. 25 zur Widerlegung der älteren Annahme, πραιτώριον könne nicht den Sitz eines Prokonsuls einer senatorischen Provinz wie der Asia bezeichnen sowie OMERZU, Prozeß (s. Anm. 2), 416–418 zum Herodespalast in Caesarea Maritima. 34 STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 149 Anm. 40.

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Paulus, sondern lediglich als dessen Gerichtsstätte. Meines Erachtens ist zwar nicht auszuschließen, dass Lukas in Apg 23,35 tatsächlich eine Ausnahme bezeugt und Paulus im Prätorium einsaß, aber aufgrund der Fortführung durch καὶ τοῖς λοιποῖς πᾶσιν ist der Ausdruck ἐν ὅλῳ τῷ πραιτωρίῳ in Phil 1,13 ohnehin nicht auf ein Gebäude, sondern auf die Bewohner bzw. die darin tätigen Beamten und Soldaten zu beziehen.35 In jedem Fall gilt aber, dass sich das Prätorium, in dem die christliche Botschaft laut Paulus Anklang gefunden hat, sowohl in Rom als auch in einer Provinzmetropole wie Caesarea oder Ephesus befunden haben könnte und die Angabe daher keine exakte Bestimmung des Haftortes des Paulus erlaubt.36 Ähnliches gilt für die in Phil 4,22 als οἱ ἐκ τῆς Καίσαρος οἰκίας umschriebenen Personen. Die in der Forschung gängige Deutung des Ausdrucks auf eine Gruppe von Sklaven und Freigelassenen des Kaisers hat keinen Anhalt an zeitgenössischen Quellen, wie Standhartinger hervorhebt:37 Das lateinische familia Caesaris ist ein moderner Ausdruck, und wenn griechischsprachige Autoren οἰκία Καίσαρος verwenden, bezieht sich dies entweder auf den Kaiserpalast38 oder die kaiserliche Familie im engeren Sinne39; beide Möglichkeiten sind für Paulus wohl auszuschließen. Der Ausdruck dürfte in Phil 4,22 daher wörtlich auf Personen hinweisen, „die sich in einem Caesar gehörendem Haus befinden“,40 z. B. Mitgefangene oder aber auch Bewacher des Paulus. Auch dies führt jedoch in der Frage des Abfassungsortes des Philipperbriefes nicht weiter. Ebenso ist eine nähere Identifizierung aufgrund der in Phil 1,14–18 skizzierten gegnerischen Parteien unter den Christen am Gefangenschaftsort kaum möglich. Die reservierte Haltung des Paulus ihnen gegenüber lässt, wie bereits erwähnt, vermuten, dass er die Gemeinde nicht persönlich gegründet hat, was allerdings für alle diskutierten Haftorte gilt. Als indirekter Hinweis auf den Abfassungsort des Philipperbriefes werden darüber hinaus oft die häufigen, brieflichen wie persönlichen Kontakte zwischen dem Gefangenen und seinen Mitarbeitern und der Gemeinde in Philippi genannt. Diese deuten auf eine gewisse geographische Nähe zwischen dem Haftort und der makedonischen Stadt, ohne dass diese 35 Vgl. GNILKA, Philipperbrief, 58 (s. Anm. 27): „Die Sache Pauli wurde vor den Beamten des Prätoriums und den sonst bei den Verhandlungen Anwesenden bekannt“. 36 Gegen STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 149: „Der Prätorium genannten [sic] Gerichtsort ist daher das Hauptargument für eine Abfassung des Philipperbriefes in einer östlichen Provinz.“ Ähnlich H. LÖHR, Philipperbrief, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 203–210 (206); vgl. auch STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 149 Anm. 42 gegen eine Lokalisierung nach Rom. 37 Vgl. STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 160f. Anm. 95. 38 Vgl. Plutarch, Caes. 63,9; Cic. 28,2; 47,6. 39 Vgl. Philo, Flacc. 35. 40 STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 160f. Anm. 95.

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Schlussfolgerung jedoch zwingend ist. Abhängig davon, wie man die entsprechenden Angaben des Philipperbriefes interpretiert, lassen sich bis zu acht sukzessive Reisen zwischen dem Abfassungsort des Philipperbriefes und der Gemeinde rekonstruieren, die bei der Abfassung des Briefes entweder bereits stattgefunden haben oder für die nahe Zukunft geplant sind:41 Udo Schnelle, der von einer Abfassung des Philipperbriefes in Rom ausgeht, rechnet für die über 1000 km lange Strecke zwischen Rom und Philippi mit einer Reisezeit von zwei bis maximal vier Wochen für die einfache Strecke, was allerdings optimale Reise- und Wetterbedingungen voraussetzt.42 Ein zwingender Grund gegen Rom als Abfassungsort liegt damit aber freilich nicht vor. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Angabe in Apg 28,30 belastbar ist, dass Paulus ganze zwei Jahre in Rom inhaftiert war, was genügend Zeit für die verschiedenen Reisen geboten hätte.43 Demgegenüber weist die in Phil 2,24 geäußerte Hoffnung des Paulus, die Philipper bald persönlich besuchen zu können (καὶ αὐτὸς ταχέως ἐλεύσομαι), deutlicher nach Ephesus als nach Rom. Laut Röm 15,24.28 wollte Paulus von Rom aus weiter nach Spanien und eben nicht zurück in den Osten reisen.44 In Rom verfasst würde der Besuchswunsch in Phil 2,24 – sofern er nicht bloß dem Briefformular folgt, wie etwa Schnelle vermutet,45 – eine umfassende Änderung der Reisepläne des Paulus voraussetzen, 41 Vgl. KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 25), 285; DEISSMANN, Gefangenschaft (s. Anm. 29), 124–126. Zuerst müssen die Philipper irgendwie von der Gefangenschaft des Paulus erfahren (1. Reise). Daraufhin schicken sie Epaphroditus zu dem gefangenen Apostel (2. Reise: Phil 2,25–30) und erhalten im Anschluss Nachricht von dessen Erkrankung (3. Reise). Als Paulus wiederum von ihrer Sorge um Epaphroditus erfährt (4. Reise), schickt er diesen zurück (5. Reise: Phil 2,28) und plant außerdem Timotheus nach Philippi zu senden (6. Reise), damit dieser ihm aus der Gemeinde berichten könne (7. Reise). Schließlich kündigt Paulus seinen eigenen Besuch an (8. Reise). 42 SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 25), 155; vgl. für weniger optimistische Berechnungen R. RECK, Kommunikation und Gemeindeaufbau. Eine Studie zu Entstehung, Leben und Wachstum paulinischer Gemeinden in den Kommunikationsstrukturen der Antike, SBB 22, Stuttgart 1991, 85–87. Vgl. auch B. M. RAPSKE, Acts, Travel, and Shipwreck, in: D. W. J. Gill / C. Gempf (Hg.), The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting, The Book of Acts in Its First Century Setting 2, Grand Rapids 1994, 1–47 (6– 14.22–29); I. B ROER, Einleitung in das Neue Testament, Band 2: Die Briefliteratur, die Offenbarung des Johannes und die Bildung des Kanons, NEB.NT.E. 2/2, Würzburg 2001, 386–391 (389). 43 Ebenso M. GIELEN, Paulus – Gefangener in Ephesus? Teil 1, BN 131 (2006), 79– 103 (87). 44 Diese Reisepläne sind hingegen mit einer Gefangenschaft in Caesarea durchaus kompatibel: Sofern Paulus als freier Mann nach Rom gereist wäre, hätte er auch den Weg über Makedonien wählen können. 45 Diese Möglichkeit erwägt S CHNELLE, Einleitung (s. Anm. 25), 155.

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was unwahrscheinlich, aber wiederum nicht undenkbar ist.46 Darüber hinaus würde jedoch ein Besuch des Paulus in Philippi im Anschluss an die Freilassung aus einer (potentiellen) Gefangenschaft in Ephesus mit dem Verlauf der so genannten dritten Missionsreise übereinstimmen, wie sie Apg 20,1–6 schildert und welche durch 1Kor 16,5; 2Kor 2,13; 7,5 gestützt wird.47 Hierzu kommt, dass Paulus in Phil 1,26.30 und 4,15f. (vgl. auch 2,12.22) suggeriert, nach dem Gründungsaufenthalt nicht mehr persönlich in Philippi gewesen zu sein.48 Dies steht in Einklang mit einer Gefangenschaft vor der in Apg 20,1–6 beschriebenen Reise, nicht aber mit einer Haft in Rom.49 In Phil 1,29f. vergleicht Paulus die Situation der um Christi willen leidenden Gemeinde mit seinen eigenen Erfahrungen sowohl während des Gründungsaufenthaltes in Philippi50 als auch zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes. Daraus lässt sich jedoch wiederum keine Lokalisierung ableiten, da der Hinweis auf die geteilte Erfahrung von Leid vor allem dem Trost der Gemeinde dient.51 Schließlich führt auch der Umstand, dass die Kollekte im Philipperbrief nicht erwähnt wird, in der Frage der Datierung und Lokalisierung des Briefes nicht weiter. Das von Befürwortern der Vgl. entsprechend SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 25), 155: „Die geplante Spanienreise wäre durch einen Besuch in Philippi … nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben.“ 47 Vgl. W. T HIESSEN, Christen in Ephesus. Die historische und theologische Situation in vorpaulinischer und paulinischer Zeit und zur Zeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe, TANZ 12, Tübingen/Basel 1995, 118. 48 GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 27), 20 erinnert an 2Kor 12,14; 13,1, wo Paulus „den Korinthern wohl ins Gedächtnis [ruft], zum wievielten Male er kommt. Darum wird man für Phil 1,26 sagen dürfen, daß παρουσία πάλιν am ersten Besuch orientiert ist.“ 49 Vgl. MICHAELIS, Einleitung (s. Anm. 25), 207. 50 Dies könnte auf die Apg 16,22f. zugrundeliegenden Ereignisse bezogen sein. 51 Anders KÜMMEL, Einleitung (s. Anm. 25), 290: „Das deutet auf einen Vorgang der jüngsten Vergangenheit, nicht auf die jahrelange Haft in Caesarea und Rom.“ Ähnlich U. B. MÜLLER, Der Brief aus Ephesus. Zeitliche Platzierung und theologische Einordnung des Philipperbriefes im Rahmen der Paulusbriefe, in: U. Mell / U. B. Müller (Hg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker), BZNW 100, Berlin 1999, 155–171 (158). BROER, Einleitung 2 (s. Anm. 42), 388 weist hingegen zu Recht darauf hin, dass in 1,30 auf den Gründungsbesuch angespielt sein kann, „ohne einen inzwischen evtl. erfolgten Besuch, bei dem solche Erfahrungen keine Rolle spielten, zu erwähnen“. G IELEN, Paulus 1 (s. Anm. 43), 86 bezieht den ἀγῶν in Phil 1,30 nicht allgemein auf die Gefangenschaft des Paulus, sondern auf die Verteidigung des Evangeliums im Verlauf einer Gerichtsverhandlung, was durchaus bedenkenswert ist. Daraus ein Argument für eine römische Abfassung abzuleiten, insofern Paulus „[d]iese Chance … freilich erst mit der Eröffnung seines Prozesses in Rom, nicht aber während der vorausgehenden längeren Inhaftierungsphase“ (ebd.) bekam, ist nicht schlüssig, da eine Übersendung nach Rom ohne vorausgehenden Prozess oder Verhandlung am Ort der Gefangennahme (vgl. Apg 21–26!) unplausibel ist. Darüber hinaus wäre es wohl auch im Verlauf einer langwierigen Gefangenschaft in Ephesus zu einer Verhandlung gekommen. 46

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Rom-Hypothese vorgebrachte Argument, dieses Schweigen sei so zu deuten, dass die Sammlung für Jerusalem bereits abgeschlossen war,52 lässt sich nicht unabhängig stützen. Man könnte ebenso gut erwägen, ob die Kollekte „in Makedonien nicht erst nach der Ephesuszeit [eventuell wieder; H. O.] in Gang kommt – als der Brief längst geschrieben ist“.53 Darüber hinaus ist auch in diesem Zusammenhang zu erwägen, ob Paulus mit Blick auf eine mögliche Zensur die Geldsammlung nicht erwähnt. Er könnte z. B. befürchtet haben, dass das Geld auf dem Weg zu ihm abgefangen würde. Alle Erklärungen beruhen jedoch auf einem argumentum e silentio und bieten daher kein sicheres Indiz für die Lokalisierung des Abfassungsortes des Philipperbriefes. Auch eine Beurteilung der polemischen Auslassungen gegen das Gesetz und Israel in Phil 3 im Vergleich zu insbesondere dem Galater- und Römerbrief führt in dieser Angelegenheit nicht weiter, zumal diese Frage in der Forschung kontrovers diskutiert wird. Für Müller gilt z. B., dass „Paulus den Phil kaum nach der differenzierenden Sicht des Röm geschrieben haben [kann] – es sei denn um den Preis erheblicher Inkonsequenz seines Denkens“.54 Marlis Gielen kritisiert an derlei Deutungen den Versuch, „die theologische Argumentation des Paulus zu systematisieren, statt sie in der brieflichen Gebrochenheit konkreter Abfassungssituationen und unterschiedlich akzentuierter Gemeindeprobleme wahrzunehmen und zu würdigen“.55 Die unterschiedlichen Haltungen zur Gesetzes- und Israelthematik führt sie vielmehr auf die Situationsgebundenheit der paulinischen Briefe zurück.56 Gielen ist daher zuzustimmen, dass ein theologischer Vergleich von Philipper-, Galater- und Römerbrief keinerlei Rückschlüsse auf deren chronologische Anordnung ermöglicht.

Vgl. z. B. SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 25), 154. MÜLLER, Philipperbrief (s. Anm. 1), 15 mit Hinweis auf J. B ECKER, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 21992, 27. GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 27), 24 erwägt, ob Paulus zunächst „sein eigenes Geschick sicher absehen wollte, ehe er die Kollektensache wieder vorantrieb“ oder ob die „Erörterung und Durchführung dieses Projektes durch die Boten des Apostels“ erfolgte. T HEOBALD, Philipperbrief (s. Anm. 1), 378 betont: „[I]hn plagten andere Sorgen, auch lag ihm der Dank an die Philipper für ihre Großzügigkeit näher“. 54 MÜLLER, Brief (s. Anm. 51), 157. 55 GIELEN, Paulus 1 (s. Anm. 43), 96. 56 Vgl. mit der gleichen Tendenz SCHNELLE, Einleitung (s. Anm. 25), 155. GIELEN, Paulus 1 (s. Anm. 43), 103 geht davon aus, dass sich „Phil 3 ebenso wie Gal und Röm 1– 8 einer innerchristlichen Auseinandersetzung verdanken“, während in Röm 9–11 „die Frontstellung Heidenchristen vs nichtchristusgläubige Juden bestimmend“ sei. 52 53

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3.2 Weitere Hinweise auf die Haftsituation

Die Abfassungssituation des Philipperbriefes wird oft mit der des Philemonbriefes verglichen. Dazu ist allerdings zu sagen, dass auch der Philemonbrief keine expliziten Hinweise auf den Haftort des Paulus bietet und allenfalls noch deutlicher nach Kleinasien als Abfassungsort verweist als der Philipperbrief. Hinzu kommt, dass der Philemonbrief in Anbetracht der wiederholten Gefangenschaften des Paulus (2Kor 6,5; 11,23), der unterschiedlichen Prozessperspektive sowie der Kürze des Briefes nicht notwendigerweise unter der gleichen Haft wie der Philipperbrief abgefasst sein muss.57 Sowohl die Korintherkorrespondenz als auch die Apostelgeschichte deuten allerdings auf eine längere Gefangenschaft des Paulus noch vor der Haft in Caesarea und Rom, während derer der Philipperbrief abgefasst worden sein könnte.58 Paulus selbst erwähnt in den Korintherbriefen Bedrohungen in der Asia bzw. in Ephesus, wo er auch den 1. Korintherbrief geschrieben hat (vgl. 1Kor 16,8): Laut 1Kor 15,32 hat er in Ephesus mit wilden Tieren gekämpft (ἐθηριομάχησα). Dies ist wohl nicht wörtlich, sondern metaphorisch in dem Sinne zu verstehen, dass Paulus auf eine ernste Auseinandersetzung unter Einsatz seines Lebens anspielt (vgl. IgnRöm 5,1).59 Die „wilden Tiere“ sind dann als Metapher für jene Gegner des Paulus aufzufassen, die auch in 1Kor 16,9 erwähnt werden (ἀντικείμενοι πολλοί), ohne dass sich genauer sagen ließe, wie diese ihn in Lebensgefahr gebracht haben.60 Auf einen anderen Konflikt weist Paulus in 2Kor 1,8–10 hin.61 Offensichtlich hat er in der Zwischenzeit seine in 1Kor 16,5–8 skizzierten Reisepläne, von Ephesus aus über Makedonien nach Korinth zu reisen, mehrfach ändern müssen.62 Daher sind die Ereignisse, auf die Paulus in 2Kor 1,8–10 hinweist, den Korinthern scheinbar bislang unbekannt (V. 8: Vgl. dazu OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 23), 305–308. Die nachfolgenden Ausführungen sind eine gekürzte und überarbeitete Fassung von OMERZU, Spurensuche (s. Anm. 23), 308–315.321.325f. 59 Vgl. die ausführliche Diskussion bei W. SCHRAGE, Der erste Brief an die Korinther, Teilband 4: 1Kor 15,1–16,24, EKK 7/4, Zürich 2001, 242–245; unentschieden BAUER / ALAND, Wörterbuch, s.v. 60 Vgl. G. D. FEE, The First Epistle to the Corinthians, NICNT, Grand Rapids 1991, 771; C. K. B ARRETT, A Commentary on the First Epistle to the Corinthians, New York 1968, 366. 61 Die umstrittene Frage der literarischen Integrität des 2. Korintherbriefes kann hier außer Acht gelassen werden, da davon auszugehen ist, dass alle Teile in die Zeit nach dem Ephesusbesuch des Paulus im Rahmen der so genannten dritten Missionsreise zu datieren sind (vgl. 2Kor 7,5). 62 Vgl. zum Folgenden M. GIELEN, Paulus – Gefangener in Ephesus? Teil 2, BN 131 (2007), 63–77 (66–69); T. SCHMELLER , Der zweite Korintherbrief, in: Ebner / Schreiber (Hg.), Einleitung (s. Anm. 1), 326–346 (337f.). 57 58

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οὐ γὰρ θέλομεν ὑμᾶς ἀγνοεῖν) und haben sich vermutlich63 erst nach der Absendung des „Tränenbriefes“ (vgl. 2Kor 2,1–4; 7,8) zugetragen. Es handelt es sich um eine Notlage, die Paulus gemeinsam mit anderen in der Provinz Asia erfahren hat64 und deren tödlicher Ausgang so unvermeidlich schien,65 dass die Abwendung der Todessituation als göttliche Rettung erfahren wurde66. Asia steht hier wohl metonym für die Provinzhauptstadt Ephesus,67 diese ist aber in jedem Fall als Ort der erlittenen Todesgefahr keineswegs auszuschließen. Obwohl τὸ ἀπόκριμα τοῦ θανάτου eindeutig ein „technischer Ausdruck der Amts- und Gerichtssprache“68 ist, wird die Wendung gelegentlich auf andere lebensbedrohliche Umstände wie z. B. Krankheit (vgl. 2Kor 12,7–10), Überfall oder Schiffbruch (2Kor 11,25f.) 69 oder eine „depressive Stimmung“70 des Paulus gedeutet. Mir scheint es jedoch am wahrscheinlichsten, dass Paulus in 2Kor 1,8–10 auf einen schwerwiegenden Konflikt mit kleinasiatischen, eventuell ephesischen Behörden anspielt, in dessen Verlauf er und sein(e) Begleiter im Gefängnis um ihr Leben fürchteten. Diese Begebenheit zählt dann zu den wiederholten Gefängnisaufenthalten, die Paulus in den Peristasenkatalogen in 2Kor 6,5 und 11,23 erwähnt. Auf einen ähnlichen Kontext wie 2Kor 1,8–10 verweist Röm 16,4a, wo Paulus in der Grußliste erwähnt, dass Priska und Aquila „ihren Hals für mein Leben hingehalten haben“ (οἵτινες ὑπὲρ τῆς ψυχῆς μου τὸν ἑαυτῶν τράχηλον ὑπέθηκαν), was wohl meint, dass sie ihr eigenes Leben für den Apostel aufs Spiel gesetzt haben, möglicherweise während Paulus in Haft saß.71 Es könnte sein – und dies ist bewusst als Hypothese formuliert –, dass sie allein durch die Unterstützung des Gefangenen Paulus den Behörden suspekt geworden sind72 und dass sich ein solches Szenario in Ephesus 63 C. W OLFF, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 25 vermutet: „Von dem Vorfall als solchem scheinen die Korinther freilich bereits Kenntnis zu haben; denn Paulus macht keine näheren Angaben, weder zur Art der Bedrängnis noch zu den Umständen der Errettung.“ 64 Vgl. 2Kor 1,8a: ὑπὲρ τῆς θλίψεως ἡμῶν τῆς γενομένης ἐν τῇ Ἀσίᾳ. 65 Vgl. 2Kor 1,8b–9a: ὥστε ἐξαπορηθῆναι ἡμᾶς καὶ τοῦ ζῆν ἀλλ’ αὐτοὶ ἐν ἑαυτοῖς τὸ ἀπόκριμα τοῦ θανάτου ἐσχήκαμεν. Vgl. zu dem Ausdruck τὸ ἀπόκριμα τοῦ θανάτου F. B ÜCHSEL, κρίνω κτλ. ThWNT 3 (1938), 920–922.933–955 (947): „[W]ir erhielten in uns selbst den auf ,Tod‘ lautenden Bescheid“. 66 Vgl. 2Kor 1,10a: ὃς ἐκ τηλικούτου θανάτου ἐρρύσατο ἡμᾶς. 67 Vgl. auch Apg 19,22; 20,4.18; 21,27.29. 68 BÜCHSEL, κρίνω (s. Anm. 65), 947; vgl. auch H. WINDISCH, Der Zweite Korintherbrief, KEK 6, Göttingen 91924, 46. 69 Vgl. dazu THIESSEN, Christen (s. Anm. 47), 135. 70 GIELEN, Paulus 2 (s. Anm. 62), 72. 71 Vgl. dazu bereits DEISSMANN, Licht (s. Anm. 29), 494f. 72 Vgl. dazu B. M. RAPSKE, The Book of Acts and Paul in Roman Custody, The Book of Acts in Its First Century Setting 3, Grand Rapids 1994, 369–392 (388): „Helping the

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zugetragen hat, wo sich das Ehepaar nach übereinstimmender Auskunft von 1Kor 16,19 und Apg 18,19 (vgl. Apg 18,26) gemeinsam mit Paulus aufgehalten hat. Falls der lebensgefährliche Einsatz für Paulus in Ephesus stattgefunden hat, könnte dies erklären, warum Priska und Aquila schon bald darauf die Stadt verlassen haben. Dies muss in jedem Fall vor der Absendung des Römerbriefes (aus Korinth) geschehen sein, in dem Paulus sie grüßen lässt (Röm 16,3f.). Nach Rom konnten sie zurückkehren, da das Claudius-Edikt des Jahres 49 n. Chr., das laut Apg 18,2 ihre Ausweisung aus der Stadt zur Folge hatte (vgl. Sueton, Claud. 25,4), wahrscheinlich mit dem Tod des Kaisers im Herbst 54 n. Chr. aufgehoben war.73 Als Hauptargument gegen eine ephesische Gefangenschaft des Paulus gilt das Schweigen der Apostelgeschichte über eine solche. Dem ist allerdings entgegenzuhalten, dass Lukas auch sonst manches nicht berichtet, was uns aus den Paulusbriefen bekannt ist wie z. B. der antiochenische Zwischenfall (Gal 2,11–14) oder der Plan der Spanienreise (Röm 15,24.28). Bekanntlich ist der kurze Gefängnisaufenthalt in Philippi (Apg 16) der einzige, von dem die Apostelgeschichte vor dem römischen Prozess des Paulus berichtet, während der Apostel zuvor selbst auf wiederholte Gefangenschaften anspielt (vgl. 2Kor 6,5; 11,23).74 Da Lukas von einem langen Aufenthalt des Paulus in Ephesus ausgeht (vgl. Apg 19,8.10: zwei Jahre und drei Monate; 20,31: drei Jahre) und dies in Apg 19 in mehreren Einzelepisoden darstellt,75 erscheint es unwahrscheinlich, dass er von einer ephesischen Haft nichts gewusst haben könnte.76 Im Gegensatz zu den Aufenthalten in Philippi (Apg 16), Thessaloniki (Apg 17) und Korinth (Apg 18)77 umfasst der Bericht über die paulinische Wirksamkeit in Ephesus jedoch keine Verhör- oder Gerichtsszene im eigentlichen Sinne. Der Aufstand der Silberschmiede endet sogar mit der Belehrung der Aufrührer, dass es sich nicht um ein ordentliches Verfahren handele (Apg 19,38–40). prisoner could pose significant threats to the safety and well-being of the helper. Officials were often very rough characters. Consequently, helpers might be harassed out of a desire for personal gain or even for sport.“ 73 Vgl. R. KATZOFF, Roman Edicts and Ta'anit 29a, CP 88 (1993), 141–144 (143). 74 Vgl. auch 1Clem 5,6. 75 Vgl. P. TREBILCO, The Early Christians in Ephesus from Paul to Ignatius, WUNT 166, Tübingen 2004, 107: „In the section of Acts relating to Ephesus, as elsewhere, Luke concentrates on Paul’s arrival in a city (‚beginnings‘), his departure (‚endings‘) and in between gives us what could be called ‚notable incidents‘.“ 76 Vgl. aber R. STRELAN, Paul, Artemis, and the Jews in Ephesus, BZNW 80, Berlin 1996, 204, der weitere Vertreter anführt, die hinter der Ephesuserzählung keinerlei Augenzeugenkenntnis des Lukas, vielmehr legendarisches und verworrenes Material erkennen. 77 Vgl. dazu OMERZU, Prozeß (s. Anm. 2), 111–274.

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Aufgrund des lukanischen Berichtes scheint es am wahrscheinlichsten, dass Paulus in Ephesus von Seiten der paganen Bevölkerung angeklagt wurde. In der Folge wurden sowohl der Apostel und seine Begleiter (Gaius und Aristarch?), aber auch einige Juden (Alexander?) zur Rechenschaft gezogen und inhaftiert. Über die genauen Umstände und die Dauer der Haft lässt sich freilich nichts sagen,78 und auch über die Gründe des Lukas, diese Ereignisse zu verschweigen, lässt sich nur spekulieren. Es ist denkbar, dass er den unvorteilhaften Ausgang des Prozesses und die vermutlich längere Haft des Paulus, anders als etwa in Apg 16, nicht positiv umdeuten konnte.79 Neben dieses apologetische Interesse tritt wohl die rhetorische Absicht, die „Inszenierung“ des Angeklagten und Gefangenen Paulus dem späteren römischen Prozess vorzubehalten. Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass die Annahme, Paulus habe den Philipperbrief geschrieben, während er in Ephesus im Gefängnis saß, trotz des Mangels an expliziten Nachrichten plausibel gemacht werden kann. Der Philipperbrief wäre dann nicht das letzte literarische Zeugnis des Apostels, sondern in einigem zeitlichen Abstand zu seiner letzten Reise nach Jerusalem bzw. Rom entstanden.80

4 Ausblick Die Situation der Gefangenschaft ist in der Rezeption des Paulusbildes sehr einflussreich gewesen. Davon legen bereits innerhalb des Neuen Testamentes etliche Schriften Zeugnis ab. Neben dem Philipper- und Philemonbrief vor allem die Apostelgeschichte, der 2. Timotheusbrief sowie der Kolosser- und Epheserbrief. Dies setzt sich in nachapostolischer Zeit fort, etwa mit 1Clem 5 oder den Paulusakten, wo Paulus zunehmend zum Märtyrer wird. Was den rechtsgeschichtlichen Hintergrund dieser Gefangenschaft angeht, scheint mir die singuläre Bezugnahme auf das Wortfeld „Bürgerrecht“/„als Bürger leben“ im Philipperbrief allenfalls indirekt durch das römische Bürgerrecht des Paulus, eher jedoch durch den spezifiÄhnlich TREBILCO, Christians (s. Anm. 75), 83–87. T HIESSEN, Christen (s. Anm. 47), 142 vermutet: „Die Spannungen in der Gemeinde, die aufgrund der Verhaftung des Paulus entstanden sind, passen ebensowenig in sein [sc. Lukas’] Konzept wie eine Infragestellung der Heidenmission durch die Gemeindemitglieder.“ 80 STANDHARTINGER, Welt (s. Anm. 17), 150 vermutet, dass die plötzliche Wendung von dem nahezu sicheren Todesurteil zur Freilassung (vgl. Phil 1,20–23; 2,17f. mit 2Kor 1,8–10) möglicherweise in Zusammenhang stehen könnte mit einer Amnestie von politisch Gefangenen beim Kaiserwechsel von Claudius zu Nero; allerdings ist dies bloße Spekulation. 78

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schen Status Philippis als römischer Kolonie bedingt zu sein.81 Falls die Annahme korrekt ist, dass der Philipperbrief in Ephesus entstanden ist, so ist er wohl ungefähr in die Mitte der 50er Jahre des 1. Jh. unserer Zeitrechnung zu datieren. Über den genauen Anlass der Inhaftierung lässt sich aufgrund der Quellenlage nur spekulieren, sie steht aber gewiss mit der Missionstätigkeit des Paulus im Zusammenhang. Paulus selbst nutzt in jedem Fall die Haft, während der er den Philipperbrief verfasst, zur Verkündigung und Ausbreitung des Evangeliums, sowohl in seinem persönlichen Umfeld als auch in Briefform gegenüber der Gemeinde in Philippi. Davon lässt er sich weder durch mögliche Gefahrenpotentiale wie feindlich gesinnte Gefängniswärter oder Mithäftlinge, noch durch eine mögliche Zensur seiner Briefe abhalten. Letzteres könnte ein Grund dafür sein, warum sich Paulus nicht kritisch über seine Haftsituation oder die verantwortlichen Behörden äußert. Diese Möglichkeit gebietet jedoch auch Vorsicht gegenüber politischen Interpretationen von Traditionen wie dem „Philipperhymnus“ oder der Rede vom Evangelium oder vom „Tag des Herrn“. Paulus verwendet regelmäßig, und nicht nur im Philipperbrief Begriffe und Vorstellungen, die natürlich auch durch die nicht-biblische Umwelt geprägt sind. In diesem Sinne schwingen auch politische Konnotationen mit, die aber nicht notwendigerweise bewusst gewählt sein müssen. In jedem Fall sind sie so subtil ausgefallen, dass sie keinen Anstoß bei der Zensur gefunden haben, wenn man nicht von einem Sekretär außerhalb des Gefängnisses ausgehen will.

Vgl. auch J. A. MARCHAL, The Politics of Heaven. Women, Gender, and Empire in the Study of Paul, Minneapolis 2008, 118: „Increasing attention to the dynamics of … ethnic reasoning … could inspire critics to ‚provincialize‘ the study of Paul’s assemblies, or the Roman Empire in general. On the historical level, such an effort would involve decentering Paul and Rome in lieu of a focus on the people in the provinces and the peripheries.“ 81

Zwei Narrenreden?

2Kor 11,21b–33 und Phil 3,2–11 im Vergleich THOMAS SCHMELLER Mit Samuel Vollenweider verbindet mich neben vielem anderen auch die Zusammenarbeit im Kommentatorenkreis des Evangelisch-Katholischen Kommentars. Deshalb lag es nahe, zu seiner Ehrung ein Thema auszusuchen, das gerade die beiden Paulusbriefe betrifft, die wir in diesem Rahmen bearbeiten, d. h. den Philipper- und den 2. Korintherbrief. Ein Thema also, das unsere persönliche Verbundenheit sozusagen auf brieflicher Ebene darstellt. Zwischen diesen Briefen gibt es eine ganze Reihe von Berührungspunkten. Möglich wäre es z. B., über Unterhalt und Unterhaltsverzicht des Paulus zu schreiben, über seine Gedanken zum Tod, über die Selbstentäußerung Jesu als Vorbild, über die Verbindung mit den Christusleiden oder über das Bildfeld Heimat und Fremde. Wenn ich mich für einen Vergleich zwischen 2Kor 11 und Phil 3 entschieden habe, dann deshalb, weil m. E. hier besonders viele Anregungen für die Auslegung des Phil zu erwarten sind. Weil zur Ehrung des Jubilars der Blick vom 2Kor zum Phil gehen soll, nicht andersherum, werde ich mich dabei nicht oder kaum mit der Frage nach den Gegnern beschäftigen, die in beiden Texten ähnlich beschrieben werden. Davon wäre zwar ein Gewinn zu erwarten, aber der Gewinn beträfe wohl mehr das Verständnis des 2Kor als des Phil. An Phil 3 kann man lernen, dass Paulus ein Gegnerszenario entwerfen kann, dem nicht unbedingt eine aktuelle Gegnerschaft entsprechen muss1. Ähnliches gilt meiner Meinung nach für den 2Kor. Aber davon soll eben nicht die Rede sein. Es geht mir vielmehr darum, Phil 3 von 2Kor 11 her besser zu verstehen. Im Mittelpunkt steht die Frage: Kann der Umgang mit dem Selbstruhm, den wir in 2Kor 11 finden, etwas dazu beitragen, den Umgang mit der eigenen Vergangenheit in Phil 3 besser zu verstehen? Ist die Abwertung bestimmter Vorzüge vergleichbar? Findet sich die Narrheit Vgl. den treffenden Titel eines Aufsatzes von M. D. HOOKER, Philippians. Phantom Opponents and the Real Source of Conflict, in: I. Dunderberg / C. Tuckett / K. Syreeni (Hg.), Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity (FS H. Räisänen), NT.S 103, Leiden 2002, 377–395. 1

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eines Selbstruhms κατὰ σάρκα auch in Phil 3? Ist also auch dieser Text eine Narrenrede? Ich werde in drei Schritten vorgehen. Im ersten Schritt stelle ich einen Auslegungstyp vor, der in beiden Texten eine radikale Umwertung findet, also den Ersatz eines Wertesystems durch ein anderes, nämlich des jüdischen durch ein christliches. Im zweiten Schritt werde ich fragen, ob diese Sicht 2Kor 11 wirklich gerecht wird. Es wird sich dabei zeigen, dass der Gegensatz zwischen der von Paulus abgelehnten und der von ihm vertretenen Position viel geringer ist, als es zunächst den Anschein hat. Diese Zweifel an einer radikalen Umwertung werde ich in meinem dritten und letzten Schritt an Phil 3 herantragen: Sind solche Zweifel auch hier berechtigt? Oder verfolgt dieser Text vielleicht doch eine härtere, kompromisslosere Linie als 2Kor 11?

1 Phil 3 und 2Kor 11: Eine Gegenüberstellung Die beiden Texte Phil 3,2–11 und 2Kor 11,21b–33 lassen auf den ersten Blick viele Gemeinsamkeiten erkennen. Hier wie dort tritt das Ich des Paulus in einen Vergleich mit einer anonymen Gruppe, die wir der Einfachheit halber als „Gegner“ bezeichnen. Der Vergleich läuft jeweils auf eine Überbietung dieser Gegner durch Paulus hinaus, allerdings ist der Weg dahin unterschiedlich lang. In 2Kor 11 wird zunächst in V. 22 ein Gleichstand festgestellt (zwei Mal heißt es „ich auch“), bevor ab V. 23 die paulinische Überlegenheit nachgewiesen wird („ich noch mehr“). In Phil 3 ist der Gleichstand höchstens in V. 4a zu finden: Paulus könnte wie andere auf das Fleisch vertrauen. Noch im selben Vers wird aber deutlich, dass er „mehr“ zu solchem Vertrauen berechtigt ist. Er erscheint hier also praktisch von Anfang an als der Überlegene. Der Vergleich hat mit Selbstruhm zu tun. Die Gegner rühmen sich offenbar bestimmter Vorzüge, die Paulus genauso und noch mehr für sich beanspruchen könnte. Sich solcher Dinge zu rühmen wird in Phil 3,3f. als Vertrauen auf das Fleisch gekennzeichnet. Paulus will nicht „auf das Fleisch vertrauen“, obwohl er es könnte. 2Kor 11,21b–33 enthält dazu zwar keine Entsprechung, aber sie findet sich kurz vorher in der Einleitung zur Narrenrede. In 11,18 heißt es: „Da sich viele nach (Art des) Fleisches (κατὰ σάρκα) rühmen, werde auch ich mich (so) rühmen“. Beide Texte handeln also von fleischlichem Selbstruhm. Inhaltlich ist damit zunächst die Abstammung gemeint. Nach 2Kor 11 gehört Paulus wie seine Gegner zu den „Hebräern“ und den „Israeliten“. Beide Ehrentitel können vermutlich auch die in Phil 3 bekämpften Gegner vorweisen, obwohl das hier nicht eindeutig ist. In welchem der Gehalte

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von V. 5 – Beschneidung am 8. Tag, Zugehörigkeit zu Israel (und darin zum Stamm Benjamin), Hebräer, Pharisäer – Paulus sich mit den Gegnern verbindet und mit welchen er die Gegner überbietet, ist nicht klar. Jedenfalls werden hier Qualitäten genannt, die in 2Kor keine Entsprechung haben. Neben die Abstammung treten andere Vorzüge: der Einsatz und die Leistungen, die Paulus erbracht hat; anders formuliert: neben zugeschriebene Statusmerkmale treten erworbene2. Gemeinsam ist den Texten die Nennung seines Dienstes. In 2Kor 11,23 gehört Paulus wie die Gegner zu den „Dienern (διάκονοι) Christi“; in Phil 3,3 beansprucht er für sich, im Geist Gottes zu dienen (dabei wird allerdings λατρεύω verwendet). Es liegt nahe, wird hier aber nicht explizit gesagt, dass auch die Gegner sich als Dienende verstehen. Immerhin sind sie ἐργάται, Arbeiter, ein Titel, den auch die Gegner im 2Kor an anderer Stelle bekommen (11,13). Der Einsatz des Paulus wird ansonsten aber sehr unterschiedlich als Ruhmestitel verwendet. In 2Kor 11 werden seine Leidensbereitschaft und sein Durchhaltevermögen in der Mission gerühmt. Er weicht auch harten Anstrengungen, großen Gefahren und schlimmen Bestrafungen nicht aus. Die Synagogenstrafe der 39 Schläge zum Beispiel erträgt er ganze fünf Mal, obwohl andere schon beim ersten Mal unter dieser Strafe sterben. Demgegenüber wird in Phil 3 nicht der Einsatz für das Evangelium, sondern für das jüdische Gesetz hervorgehoben, der auch zur Verfolgung der Kirche geführt hat. Nicht der Eifer des christlichen Missionars wird hier gerühmt, sondern der des Pharisäers, der gegen die Christen vorgeht. Bisher haben wir erstens gesehen, dass in beiden Texten die Gegner ähnlich beschrieben werden, und zweitens, dass der Selbstruhm des Paulus hier wie dort auf seiner Abstammung und seiner Leistung beruht. Diese Abfolge ist in beiden Texte gleich, aber inhaltlich wird nur die Abstammung ähnlich beschrieben, die Leistung dagegen sehr unterschiedlich. Soweit ist der Befund nicht strittig. Die genannten Gemeinsamkeiten und Unterschiede sind den Texten deutlich zu entnehmen. Umstrittenes Gebiet betreten wir aber, wenn wir weiterfragen, ob auch der jeweilige Umgang mit dem Selbstruhm der gleiche ist. Konkret heißt das: Ist die Aussage in 2Kor 11,30, wo der Selbstruhm auf Schwachheiten begrenzt wird, Ausdruck derselben theologischen Haltung wie der Umschlag in Phil 3,7–9, wo der Wert fleischlicher Ruhmestitel bestritten wird? Und wenn ja: Wie kann man diese theologische Haltung näher beschreiben? Ich gehe

2 Vgl. C. STRECKER, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 116.

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von der Position Sigurd Grindheims3 aus, weil sie als typisch für diejenigen Exegeten gelten kann, die auch hier eine Entsprechung sehen. In der Sicht Grindheims findet in beiden Texten eine radikale Umwertung statt, die jede Möglichkeit des Selbstruhms zunichte macht. In Phil 3,8 heißt es: Was bisher Gewinn war – gemeint sind die Zugehörigkeit zum erwählten Volk Israel, die Verfolgertätigkeit, die Tadellosigkeit im Gesetz –, das wurde zu Verlust, ja sogar zu „Dreck“ oder zu „Kot“ (V. 8: σκύβαλα). Der einzige religiöse Wert, der in der neuen Sphäre zählt, ist die Erkenntnis Christi. Diese wird aber – so Grindheim – nur dann real, wenn der Glaubende dem Gekreuzigten gleichgestaltet wird, d. h. an seinen Leiden und seiner Erhöhung partizipiert. Paulus selbst wird zum Vorbild der Glaubenden, insofern er diese vollständige Umwertung übernommen und alle Ansprüche auf religiösen Status, die er vorher hatte, preisgegeben hat. „Paulus deutet die Christusgeschichte als ein Muster von Erniedrigung und folgender Verherrlichung, Leiden und folgender Rehabilitation, Statusverlust und folgender Erhöhung. Für Paulus ist das ein Muster, das auch für das Leben der Christen gilt und Grund zur Freude gibt.“4

Die Glaubenden vertrauen auf das, was der menschlichen Erfahrung widerspricht. Leiden ist keine Deprivation, sondern Bereicherung, weil es mit Christus verbindet. Statusverlust ist in Wirklichkeit Statusgewinn, weil darin ein ganz neuer Status „in Christus“ erfahrbar wird. Diese Erkenntnis unterscheidet Paulus von den Gegnern, die er in 3,2 bekämpft:

„Die Beschneidungsleute, die Paulus in 3,2 im Sinn hat, passen sich nicht dem Muster Christi an. Anstatt sich im Herrn zu freuen, rühmen sie sich ihrer eigenen religiösen Statusansprüche. Anstatt auf die Gerechtigkeit, die von Gott stammt, Vertrauen zu setzen, vertrauen sie auf ihre eigene Gerechtigkeit, die vom Gesetz stammt. Anstatt ihr Vertrauen auf das zu richten, das dem Anschein widerspricht, verlassen sie sich auf das, was zum sichtbaren Reich des Fleisches gehört, ihre Ahnentafel, ihre Tradition und ihre Gesetzesbefolgung.“5

3 S. GRINDHEIM, The Crux of Election. Paul’s Critique of the Jewish Confidence in the Election of Israel, WUNT 2/202, Tübingen 2005. 4 GRINDHEIM, Crux (s. Anm. 3), 131: „Paul interprets the Christ story as a pattern of humiliation and subsequent glorification, suffering and subsequent vindication, loss of status and subsequent exaltation. For Paul, this is a pattern that applies to the life of Christians as well, and gives cause for joy.“ 5 GRINDHEIM, Crux (s. Anm. 3), 133: „The people of the circumcision that Paul has in mind in 3:2 do not conform to the Christ pattern. Instead of rejoicing in the Lord, they boast in their own religious status claims. Instead of putting faith in the righteousness that is from God, they take confidence in their own righteousness, that which is of the law. Instead of directing their faith towards that which is contrary to appearances, they rely on that which belongs to the visible realm of the flesh, their pedigree, their tradition, and their law observance.“

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Im Gegensatz zu dieser Haltung ist für Paulus Selbstruhm nicht mehr möglich, denn alles, dessen er sich früher rühmte, ist ihm durch das Kreuz aus der Hand genommen. Eine entsprechende Umwertung findet Grindheim in 2Kor 11. Charakteristisch für seine Deutung (und die vieler anderer) ist, dass er den Peristasenkatalog für eine Parodie hält. Die 1. Person Singular weckt in Verbindung mit den Zahlenangaben, die z. T. unbestimmt (πολλάκις), z. T. sehr genau sind (ἅπαξ, τρίς, πεντάκις), bei den Lesern die Erwartung, eine griechisch-römische Ruhmeschronik bzw. Tatenliste präsentiert zu bekommen. In solchen Listen wurden die Erfolge und Leistungen eines Herrschers oder einer anderen prominenten Person in der Form eines Katalogs zusammengestellt. Das berühmteste Exemplar ist das Monumentum Ancyranum des Augustus. Paulus weckt solche Erwartungen bewusst, enttäuscht sie aber ebenso bewusst, indem er gerade nicht, wie es der Gattung entsprechen würde, besondere Fähigkeiten, Erfolge oder Ehrungen auflistet, sondern Notlagen und entehrende Bestrafungen. Der Schlüssel zum Verständnis ist in dieser Sicht V. 30: Im Gegensatz zu seinen Gegnern rühmt sich Paulus gerade nicht seiner Stärken, sondern seiner Schwächen. Dieser paradoxe Selbstruhm beginnt nach Grindheim in V. 23. Während V. 22 noch einen Selbstruhm κατὰ σάρκα darstellt und Paulus hier noch mit den Gegnern konkurriert, geht er in V. 23 zu einer Art von Selbstruhm über, die nicht „fleischlich“ ist und die den Wertvorstellungen der Gegner diametral entgegensteht. Die Schande, die er vor allem mit der Nennung von Bestrafungen freiwillig auf sich nimmt, wird besonders deutlich in der Anekdote über die Flucht aus Damaskus in V. 32f. Grindheim versteht sie als einen Appendix zum Peristasenkatalog. Mit Edwin Judge sieht er hier eine Parodie der heldenhaften Tat eines Soldaten, die im römischen Heer mit einer hohen Auszeichnung belohnt wurde: Beim Angriff auf eine feindliche Stadt bekam derjenige Soldat die sogen. corona muralis verliehen, der als erster auf der Stadtmauer stand. Paulus macht sich zum Gegenbild eines besonders tapferen und wagemutigen Soldaten, denn er lässt sich von der Mauer abseilen, statt sie zu bestürmen. Wie in Phil 3 hat für Grindheim auch diese Umkehrung der Werte in 2Kor 11 eine christologische Basis: Sowohl am Anfang von Kap. 10–13 (10,1) wie in der Zusammenfassung dieser Kapitel (13,4) verweist Paulus auf die Niedrigkeit und Schwachheit Christi, der, wie es in 13,4 heißt, „gekreuzigt wurde aufgrund von Schwachheit, aber lebt aufgrund der Kraft Gottes. Denn auch wir sind schwach in ihm, aber wir werden mit ihm leben aufgrund der Kraft Gottes im Hinblick auf euch“. Zusammengefasst sieht Grindheim Deutung von 2Kor 11 so aus: „Während die Gegner sich der Erscheinungen von Kraft rühmten, rühmte sich Paulus in Christus, dessen Kraft er zutraute, in Erscheinungen der Schwäche wirksam zu sein. Of-

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fensichtliche Schwäche war genau die Wirkweise der Kraft Christi (2Kor 4,10–11; 8,9; 13,4)“6

Diese Deutung möchte ich in meinem zweiten Schritt kritisch befragen, bevor ich dann im 3. Schritt eine Zuordnung von Phil 3 versuche.

2 2Kor 11,21b–33: Eine Relecture Wir verschaffen uns zunächst kurz einen Überblick über den Text. In V. 23–29 finden wir einen langen Peristasenkatalog, der die Überlegenheit des Paulus in seinem Dienst nachweisen und illustrieren soll. Am Anfang werden vier Bereiche von Leidenssituationen genannt (Mühen, Gefängnisse, Schläge, Todesgefahren), die der Text zunächst unsystematisch konkretisiert. V. 27 listet dann allgemeine Mühen und Mangelzustände wie Hunger, Durst und Kälte auf. V. 28f. enthalten Belastungen, die aus der Für-sorge für die Gemeinden und aus der Empathie des Paulus resultieren. Klar abgesetzt sind die Deuteverse 30f., in denen Paulus sich zum Selbstruhm in Schwachheiten bekennt und eine Wahrheitsbeteuerung anfügt, und die V. 32f., in denen er von einer einzelnen gefährlichen Situation erzählt: von der Flucht vor Aretas aus Damaskus in einem Korb. Diese letzten vier Verse sind schwer einzuordnen: Wo sind die Schwachheiten zu suchen, deren Paulus sich rühmen will? Wie verhält sich die angefügte Anekdote zum Peristasenkatalog: Ist sie ein Nachtrag, eine Konkretion, eine Zuspitzung? Warum ist sie vom Katalog abgesetzt? Ich komme auf alle diese Fragen zurück, gebe aber zunächst einige Hinweise zur Interpretation des Texts. Der neue Abschnitt greift auf 11,18 zurück. Paulus will sich rühmen, weil sich auch seine Gegner rühmen und damit in der Gemeinde Erfolg haben. Der erste Punkt, in dem er sich mit ihnen vergleicht, ist ihre Legitimation durch die Herkunft. Die drei Bezeichnungen „Hebräer“, „Israeliten“ und „Same Abrahams“ sind offenbar Ehrentitel, die Selbstbewusstsein und Stolz auf die Zugehörigkeit zum Judentum zum Ausdruck bringen. Bei Ἑβραῖοι geht es vor allem um Geographie, Sprache und Kultur7. Die Bezeichnung kann familiäre Beziehungen nach Palästina, die Kenntnis des Hebräischen und/oder Aramäischen und Teilhabe an der jüdischen Kultur zum Ausdruck bringen. Dagegen haben Ἰσραηλίται und σπέρμα Ἀβραάμ stärker religiöse Konnotationen und beziehen sich auf die 6 GRINDHEIM, Crux (s. Anm. 3), 103: „Whereas the opponents boasted in manifestations of power, Paul boasted in Christ, whose power he trusted to be effective in manifestations of weakness. Apparent weakness was the very operative mode of Christ’s power (2Cor 4:10–11; 8:9; 13:4).“ 7 Vgl. z. B. Phil 3,5; Apg 6,1; 4Makk 5,2; 8,2; Philo, conf. 129; mut. 71.

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Erwählung und die Verheißungen Israels. Zusammengenommen enthalten die drei Titel ein klares Bekenntnis zur Vorrangstellung des Judentums gegenüber der paganen Welt. Neben die Herkunft tritt in V. 23 als zweiter Vergleichspunkt eine Legitimation, die den Gegnern durch ihre Funktion zukommt. Eine Konkurrenz für Paulus sind sie auch und vor allem als „Diener Christi“. Wir haben gesehen, dass für Grindheim der Vergleich in V. 23 umschlägt. In seiner Sicht werden die Kriterien, an denen sich der Dienst Christi bemisst, von hier an ganz neu bestimmt. In V. 22 hatte Paulus noch einen Gleichstand auf der von den Gegnern vorgegebenen Skala beansprucht; ab V. 23 misst er seinen überragenden Dienst an einer ganz neuen Skala, die die Gegnern dafür nie verwendet hätten. Jetzt qualifiziert er sich auf eine unerwartete Weise als „Diener Christi“, nämlich dadurch, dass er dafür die Gebiete „Mühen, Gefängnisaufenthalte, Schläge, Todesgefahren“ einführt, während die Gegner eher auf ihre Wundertaten, Missionserfolge und rhetorische Fähigkeiten verwiesen. So gesehen, dient der gesamte Peristasenkatalog dazu, wahre Stärke nachzuweisen, die, wie es in 12,10 heißt, in der Schwachheit zu finden ist. Damit laufen die gegnerischen Ansprüche ins Leere. Die gerade skizzierte, sehr beliebte Interpretation8 wird m. E. dem Text nicht gerecht. In der Einleitung (V. 21b) wird angekündigt, dass im Folgenden ein oder mehrere Gebiete behandelt werden, in denen Paulus sich genauso kühn rühmen kann wie die Gegner. In V. 22 wird diese Ankündigung ohne Zweifel umgesetzt: Auf dem Gebiet der Herkunft beansprucht er denselben Status wie die Rivalen. Die Satzstruktur, die in V. 22 begonnen und drei Mal realisiert wird, endet hier aber nicht, sondern geht in V. 23 weiter. Dass dabei die „Narrheit“ zu „Wahnsinn“ und „ich auch“ zu „ich noch mehr“ wird, berechtigt nicht zu der Annahme, dass sich die gesamte Argumentation ändert. Zunächst weist nichts darauf hin, dass ab 11,23 plötzlich Stärken durch Schwächen ersetzt werden. Dass in V. 23 unverändert der Vergleich mit den Gegnern weitergeht, wird vor allem durch eine makrostrukturelle Beobachtung nahegelegt. Der 8 In diese Richtung gehen z. B. die Beiträge von M. EBNER, Leidenslisten und Apostelbrief. Untersuchungen zu Form, Motivik und Funktion der Peristasenkataloge bei Paulus, FzB 66, Würzburg 1991, 130–133; V. P. FURNISH, II Corinthians, AncB 32A, New York 1984, 36; J. R. HARRISON, In Quest of the Third Heaven. Paul & His Apocalyptic Imitators, VigChr 58 (2004), 24–55 (48 mit Anm. 79); U. HECKEL, Kraft in Schwachheit. Untersuchungen zu 2. Kor 10–13, WUNT 2/56, Tübingen 1993, 36; K. W. N IEBUHR, Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, WUNT 62, Tübingen 1992, 124f.; H. G. SUNDERMANN, Der schwache Apostel und die Kraft der Rede. Eine rhetorische Analyse von 2Kor 10–13, EHS.T 575, Frankfurt a. M. 1996, 137–143; D. ZELLER, Der erste Brief an die Korinther, KEK 5, Göttingen 2010, 210.

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Aufbau von 11,21b–33 hat eine Parallele in 12,1–9a. Die folgende Tabelle zeigt die Entsprechungen: Einleitung

Selbstruhm I

Deuteverse mit Bekräftigung

Selbstruhm II

11,21b:

11,22–29:

11,30f.:

11,32f.:

Bereitschaft zur Konkurrenz in Narrheit 12,1:

Bereitschaft zum Selbstruhm trotz Nutzlosigkeit

Herkunft und Peristasen 12,2–4:

Himmelsreise

Selbstruhm in Schwachheit, keine Lüge 12,5–7a:

Selbstruhm in Schwachheit, Wahrheit

Flucht aus Damaskus 12,7b–9a:

Stachel als Warnung vor Hochmut

Die offensichtliche Parallelität der Abfolge lässt vermuten, dass die einander jeweils entsprechenden Elemente eine analoge Funktion besitzen. Es ist deshalb anzunehmen, dass der Selbstruhm im Blick auf Herkunft und Peristasen im Gedankengang keine andere Aufgabe hat als der Selbstruhm mit der Himmelsreise. Nun wird von niemandem bestritten, dass die Himmelsreise etwas ist, mit dem Paulus auch bei den Gegnern punkten konnte. Sie gehört in das Gebiet der „Visionen und Offenbarungen“, das in 12,1 eröffnet wird und das Paulus wahrscheinlich nur deshalb betritt, weil die Gegner auf ihre Erfahrungen in diesem Bereich stolz waren. Wenn er sich aber hier auf eine echte Konkurrenz einlässt, dann ist dasselbe für die Peristasen anzunehmen, d. h. dann muss auch dieser Vergleich auf gemeinsamen Kriterien beruhen. Oder umgekehrt: Wer den Peristasenkatalog als Parodie einer Tatenliste auffasst, muss auch die Himmelsreise als eine Parodie ansehen. Es gibt zwar Vertreter dieser Sichtweise,9 aber sie ist m. E.

9 Sie wurde begründet durch H. D. BETZ, Der Apostel Paulus und die sokratische Tradition. Eine exegetische Untersuchung zu seiner „Apologie“ 2Korinther 10–13, BHTh 45, Tübingen 1972, 93. Viele haben sich seiner Deutung angeschlossen, so z. B. B. B OSENIUS, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm. Der zweite Korintherbrief als Beispiel für die Brieflichkeit der paulinischen Theologie, TANZ 11, Tübingen 1994, 180–185.189; W. HARNISCH, Der leidende Apostel als „Funktionär“ des Gekreuzigten, in: ders., Rhetorik und Hermeneutik in der Apokalyptik und im Neuen Testament, SBAB 45, Stuttgart 2009, 148–201 (187–193); HARRISON, Quest (s. Anm. 8), 52f.; J. W. MCCANT, Paul’s Thorn of Rejected Apostleship, NTS 34 (1988), 550–572 (562.564); B. K. PETERSON, Eloquence and the Proclamation of the Gospel in Corinth, SBL.DS 163, Atlanta 1998, 124f.; SUNDERMANN, Apostel (s. Anm. 8), 161.178f.

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kaum zu begründen10. Erst durch die Deuteverse wird jeweils eine neue, relativierende Sicht auf die vorgetragenen Inhalte des Selbstruhms eingeführt. Das heißt: Paulus konkurriert auch in der Aufzählung seiner Peristasen mit den Gegnern11. Es ist möglich, dass auch sie ähnliche Kataloge zusammenstellten. Jedenfalls dürften sie die Leiden nicht als Situationen der Schwachheit, sondern als Gelegenheiten zum Erweis von Stärke verstanden haben. Wenn wir V. 23–29 so lesen, könnte mit V. 30 ein neuer Abschnitt beginnen. Das nehmen in der Tat manche Ausleger an: Das Futur in καυχήσομαι sei ernst zu nehmen, der Selbstruhm in Schwachheit finde erst in den folgenden Versen statt12. Dann hätte der Peristasenkatalog mit Schwachheit nichts zu tun, sondern wäre allein ein Feld der Ehre. Das dürfte kaum richtig sein, denn 12,10 erläutert rückblickend, was denn unter Schwachheiten zu verstehen ist: „Misshandlungen, Notlagen, Verfolgungen und Ängste“, also gerade das, was im Peristasenkatalog aufgezählt wird. Andererseits kann aber auch die entgegengesetzte Sichtweise nicht stimmen, die V. 30 nur auf das Voranstehende bezieht und den Katalog als reinen Erweis der Schwachheit deutet, denn dann wäre ein Selbstvergleich mit den Gegnern, der von diesen ernst genommen werden kann, nicht mehr möglich. Für den Anschluss von V. 30 ergibt sich daraus, dass er weder allein auf den vorangehenden noch allein auf den folgenden Text bezogen werden darf. Er gehört zu beidem, aber inwiefern? Wir fragen zunächst nach seinem Verhältnis zum vorangehenden Text. Wird durch V. 30 die Wahrnehmung der zuvor aufgezählten Leidenssituationen verändert? In V. 23 wurden diese als Beweise dafür eingeleitet, dass Paulus seine Gegner übertrifft. Weil er sich mehr für den Dienst anstrengt und mehr in ihm durchsteht als sie, hat er auf den Ehrentitel „Diener Christi“ einen höheren Anspruch. Die Peristasen werden – von V. 23 her gelesen – als Leistungen verstanden: Es steht nicht im Vordergrund, wie Als Argumente für die Einschätzung der Himmelsreiseerzählung als Parodie werden u. a. angeführt, dass Paulus in 12,3 sein Nichtwissen über die körperliche oder unkörperliche Art der Entrückung angibt und dass ihr Ziel nur der dritte, nicht der siebte Himmel ist. Das Nichtwissen ist aber durchaus gattungsgemäß, denn es hebt gerade das Geheimnisvolle und Wunderbare der Entrückung hervor. Der dritte Himmel ist hier wohl als der höchste Himmel vorausgesetzt, denn die Gegenüberstellung in V. 5 würde einiges an Wirkung verlieren, wenn die Entrückung nur ein halber Erfolg wäre. 11 So bes. auch O. W ISCHMEYER, Der höchste Weg. Das 13. Kapitel des 1. Korintherbriefes, StNT 13, Gütersloh 1981, 85f. 12 So etwa B OSENIUS, Abwesenheit (s. Anm. 9), 171f.; J. N. COLLINS, Diakonia. Reinterpreting the Ancient Sources, New York 1990, 200f.; M. J. HARRIS, The Second Epistle to the Corinthians, NIGTC, Grand Rapids 2005, 816; B. K. P ETERSON, Conquest, Control, and the Cross. Paul’s Self-Portrayal in 2 Corinthians 10–13, Interpretation 52 (1998), 258–270 (261); M. E. THRALL, A Critical and Exegetical Commentary on the Second Epistle to the Corinthians, Band 2, ICC, Edinburgh 2000, 759–761. 10

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schmerzhaft und demütigend die 39 Schläge für Paulus waren, sondern dass er ihnen nicht ausgewichen ist und sie fünf Mal in vollem Umfang ertragen und überlebt hat; nicht, dass er unter die Räuber gefallen ist und was er von ihnen erlitten hat, sondern dass er seine Missionsreisen trotz dieser und vieler anderer Gefahren weitergeführt hat; nicht, dass er an Nahrung Mangel hatte, sondern dass er diesen Mangel auf sich nahm, um das Evangelium zu verbreiten. In V. 30 wird demgegenüber ein anderer Aspekt hervorgehoben. Von diesem Vers her sind die Peristasen nun echte Leiden; sie demonstrieren die Schwachheit des Paulus und zeigen ihn als verletzlich, ausgeliefert, beschränkt und endlich. Im Rückblick (aber eben erst im Rückblick!) unterscheidet sich der Katalog deutlich von den Tatenlisten, in denen die Mühen aufgezählt wurden, die Herrscher auf ihrem Weg zum Erfolg überwinden mussten. Er ist nun keine Erfolgsstory mehr. Er ist jetzt einfach eine lange Liste von Niederlagen und Misserfolgen, von „Dingen, die mit Schwachheit zu tun haben“ (τὰ τῆς ἀσθενείας), wie Paulus in V. 30 formuliert. Wie ist dann das Verhältnis von V. 30 zum folgenden Text zu beurteilen? Die in ihrer Funktion sehr umstrittene Anekdote von der Flucht aus Damaskus ist ein klarer Beleg für die Schwachheit des Paulus. Mit dieser Geschichte kann er nicht mit seinen Gegnern konkurrieren, denn sie demonstriert weder Durchhaltevermögen noch Tapferkeit oder Leistungsfähigkeit. Was sie zeigt, ist allein ein Rettungsmanöver mit fast schon grotesken Zügen, bei dem Paulus von Sympathisanten zur Flucht verholfen wird. Wie gesagt, wird das Ereignis oft, z. B. von Grindheim, als Parodie der heldenhaften Tat eines Soldaten verstanden, die im römischen Heer mit der corona muralis belohnt wurde. Dass dieser Bezug tatsächlich intendiert ist, scheint mir sehr fraglich, denn dem Wettbewerb um das Ersteigen der Mauer entspricht hier kein Wettbewerb im Abseilen13. Aber auch ohne einen solchen Bezug ist der Vorfall das Gegenteil einer ruhmreichen Tat. Er hat sogar etwas Demütigendes. Paulus hält der Verfolgung in Damaskus nicht stand, sondern entzieht sich ihr durch eine ungewöhnliche Flucht. Ungenannte Helfer, vermutlich Mitglieder der Gemeinde in Damaskus, setzen ihn in einen geflochtenen Korb, eine σαργάνη. Eine solche σαργάνη wurde sonst gern zum Transport von Fischen verwendet. Den Geruch des Korbes kann man sich leicht vorstellen; vielleicht ist er ein Teil der Pointe. Auf jeden Fall gilt: „[D]iese eher komische Szene dient als Illustration für 13 Das Moment des Wettbewerbs, das für die Auszeichnung der corona muralis entscheidend ist, fehlt in 2Kor 11,33 völlig und wird von den Verfechtern dieser Deutung meist unter der Hand eingetragen (z. B. von E. A. J UDGE, The Conflict of Educational Aims in the New Testament [1966], in: ders., The First Christians in the Roman World. Augustan and New Testament Essays, hg. von J. R. Harrison, WUNT 229, Tübingen 2008, 693–708 [708]: „Paul’s point is devastatingly plain: he was first down“ – von „first down“ steht nichts im Text!)

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die Demütigungen, die Paulus ohne falschen Stolz erträgt, wenn es nur der Evangeliumsverkündigung weiterhilft“14. Die Anekdote passt deshalb gut zu V. 30. Anders als der Peristasenkatalog ist sie ein eindeutiges Beispiel für Selbstruhm mit „Dingen, die mit Schwachheit zu tun haben“ (τὰ τῆς ἀσθενείας). Sie ist also keine nachgetragene Peristase, sondern sie ist ein Beleg für die Art des Selbstruhms, wie sie V. 30 vorgibt. Aus diesem Kurzdurchgang durch den Text ergibt sich: Die Deutung Grindheims (und vieler anderer) lässt sich nicht bestätigen. Es ist nicht richtig, dass die Gegner sich ihrer Stärke, Paulus dagegen seiner Schwachheit gerühmt hätte. Das Verhältnis ist sehr viel komplizierter. Wenn wir auch den 2. Teil des Selbstruhms, 12,1–10, einbeziehen – was hier natürlich nur andeutungsweise möglich ist –, ergibt sich eine andere Perspektive. In 11,22–29 und in seinem Gegenstück 12,2–4, wo von einer Entrückung erzählt wird, verweist Paulus zunächst auf einen Pluspunkt, den auch die Gegner als berechtigten Anlass zum Selbstruhm anerkennen müssten. Im ersten Text werden die Herkunft und der Einsatz des Dieners, im zweiten Text die Würde des Himmelsreisenden und Offenbarungsempfängers herausgestellt. Deuteverse (11,30f.; 12,5–7a) leiten jeweils zu einer Erzählung über, die für Paulus, nicht aber für seine Gegner einen Grund zum Selbstruhm darstellt (11,32f.: die Flucht aus Damaskus; 12,7b– 9a: der bleibende Stachel im Fleisch). Dieser zweite Selbstruhm ist in beiden Fällen der wichtigere; er ersetzt den ersten aber nicht und macht ihn nicht ungültig. Der Unterschied ist also: Zunächst wird der Konflikt nach allgemein, d. h. von den Gegner, Paulus und der Gemeinde, anerkannten Normen ausgetragen, in einem zweiten Durchgang nach Normen des Paulus, die von den Gegnern sicher abgelehnt werden, die aber von der Gemeinde akzeptiert werden sollten. Für Paulus widersprechen sich diese Normen (oder die dahinter liegenden Wertvorstellungen) nicht. Dafür, dass er die Schwachheit so stark hervorhebt (er will sich nur der Schwachheiten rühmen), dürften vor allem strategische Überlegungen verantwortlich sein. Sein Ziel ist, den Vorwurf eines schwachen Auftretens (vgl. bes. 10,1–11) zu entkräften, der sich wohl vor allem am Zwischenbesuch festmachte. Paulus streitet diese Schwäche nicht ab. Stattdessen bekennt er sich ausdrücklich zu ihr, deutet sie aber neu. Bei genauerem Hinsehen ist der Gegensatz nicht so groß, wie er zunächst scheint. Paulus mutet der Gemeinde keine völlig neue Wertordnung zu. Er versucht, sie zu einer positiven Sicht auf seine Schwäche zu bewegen, ohne dass damit seine Stärke in Frage gestellt würde. Um das zu erreichen, gleicht er die eigentlich gegensätzlichen Darstellungen aneinander an. Er beschreibt die Stärke so, dass sie mit der Schwäche 14

H.-J. KLAUCK, 2. Korintherbrief, NEB.NT 8, Würzburg 31994, 91.

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koexistieren kann. Schon in der Schilderung seines missionarischen Einsatzes und seiner Himmelsreise werden die Lesererwartungen in gewisser Hinsicht enttäuscht (konkret heißt das: es werden nur Leiden, keine Erfolge berichtet und es wird keine himmlische Offenbarung weitergegeben). Dadurch wird die jeweils folgende Darstellung der Niedrigkeit vorbereitet. Die Schwachheit tritt nicht an die Stelle der Stärke, sondern wird aus ihr entwickelt. Sie ist keine Aufhebung, sondern eine Zuspitzung der vorher erzählten Stärke unter einer bestimmten Hinsicht. Meistens wird allerdings angenommen, die Aussagen zur Schwachheit seien wie in 4,7–12 (der Schatz in tönernen Gefäßen) eine kreuzestheologische Deutung in dem Sinne, dass die empirisch wahrnehmbare Schwäche in Wahrheit, d. h. in der Perspektive des Glaubens, Partizipation am Leiden Christi, damit aber auch an der Kraft der Auferstehung sei.15 Der Zusammenhang spricht m. E. gegen diese Auffassung. Es wird hier nicht kreuzestheologisch argumentiert, jedenfalls nicht in demselben Sinn wie in 4,7–12. Erst in 13,4 kommt der Gekreuzigte in den Blick. Zwischen 12,10 und 13,4 stehen aber längere Passagen zu ganz anderen Themen, die es schwer machen, die beiden Texte direkt aufeinander zu beziehen.16 Zudem führt in Kap. 11 und 12 der Weg der Argumentation – sehr plakativ gesprochen – von der Stärke zur Schwäche, nicht umgekehrt. Kreuzestheologie wäre für diesen Zusammenhang nicht geeignet, denn sie setzt bei der Schwäche an und zeigt, wie diese in Stärke umschlägt. In 11,21b–12,10 dagegen ist die Schwäche mit der Stärke innerlich verbunden. Die große Durchhaltekraft des Paulus (11,23–29) und seine eindrucksvolle Himmelsreise (12,2–4) sind Wirkungen derselben göttlichen Kraft wie die Flucht aus Damaskus und vor allem wie der Erhalt des Stachels, und hier wie dort zeigt sich zugleich seine menschliche Begrenztheit – im jeweils zweiten In diese Richtung gehen die Deutungen von EBNER, Leidenslisten (s. Anm. 8), 186f.190; FURNISH, II Corinthians (s. Anm. 8), 550; E. GRÄSSER, Der zweite Brief an die Korinther, Band 2: Kapitel 8,1-13,13, ÖTBK 8/2, Gütersloh 2005, 204; HARNISCH, Apostel (s. Anm. 9), 193; HECKEL, Kraft (s. Anm. 8), 93f.; E. KÄSEMANN, Die Legitimität des Apostels. Eine Untersuchung zu II Korinther 10–13, ZNW 41 (1942), 33–71 (54f.); KLAUCK, 2. Korintherbrief (s. Anm. 14), 95; M. T HEOBALD, Die überströmende Gnade. Studien zu einem paulinischen Motivfeld, FzB 22, Würzburg 1982, 250; C. W OLFF, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther, ThHK 8, Berlin 1989, 249; J. ZMIJEWSKI, Der Stil der paulinischen „Narrenrede“. Analyse der Sprachgestaltung in 2Kor 11,1–12,10 als Beitrag zur Methodik von Stiluntersuchungen neutestamentlicher Texte, BBB 52, Köln 1978, 383f. 16 Natürlich kann man im weiteren Sinn alle drei Stellen als „kreuzestheologisch“ bezeichnen, aber die Ausprägung dieser Theologie ist jeweils vom Kontext abhängig und sehr verschieden. 13,4 ist wie 12,10 eine für Paulus untypische und von 4,7–12 theologisch weit entfernte Aussage. Aber auch 13,4 und 12,10 unterscheiden sich voneinander deutlich, denn in der zuerst genannten Stelle geht es um eine Abfolge von Schwachheit und Kraft, in der zweiten ist beides simultan. 15

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Teil des Selbstruhms natürlich sehr viel deutlicher als im ersten. Hier, im zweiten Teil, ist Paulus am Ende seiner Möglichkeiten angekommen. Wenn dieses Ende wider Erwarten doch nicht das Ende ist, sondern sein Leben weitergehen und Frucht bringen kann, ist das noch offensichtlicher der göttlichen Kraft zu verdanken. Deshalb besteht zwischen der Schwachheit, die die Korinther an ihm kennengelernt haben, und seinem Anspruch auf Autorität kein Widerspruch; vielmehr wird Letzteres durch Ersteres legitimiert. Die Sentenz in 12,10: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark“ meint also: Die Kraft Gottes, die Paulus zu außergewöhnlichen Missionsleistungen und zu ekstatischen Erfahrungen verhilft, wirkt auch in seiner Schwachheit. Dort ist sie sogar besonders deutlich wahrnehmbar, denn dieses Wirken kann keinesfalls mit menschlichem Vermögen erklärt werden.

3 Phil 3,2–11: Eine Zuordnung Wir hatten bereits oben festgestellt, worin die Gemeinsamkeiten des PhilTexts mit dem Abschnitt aus 2Kor 11 liegen. Knapp rekapituliert sind das: 1. die Synkrisis des Paulus mit Gegnern, also der Eintritt in einen Wettbewerb; 2. die Zweiteiligkeit dieser Synkrisis und die Abfolge der Teile (hier wie dort beginnt der Vergleich mit Vorzügen κατὰ σάρκα, die in einem zweiten Teil relativiert oder abgewertet werden); 3. die Zweiteiligkeit und Abfolge auch der fleischlichen Vorzüge (zunächst geht es jeweils um die Abstammung, dann um die Leistungen). Gegenüber Exegeten wie Sigurd Grindheim, die aus diesen formalen oder strukturellen Gemeinsamkeiten auf eine gemeinsame theologische Aussage schließen, ist zu betonen, dass die Synkrisis bei näherem Zusehen doch sehr unterschiedlich ausfällt. Das betrifft schon die Hinweise auf die Abstammung. Damit meine ich nicht ihre ausführlichere Gestaltung im Phil, wo auch die Beschneidung am achten Tag und die Herkunft aus dem Stamm Benjamin genannt werden17. Die Unterschiede beginnen bereits in Phil 3,3, einem Vers, der in 2Kor 11 keine Entsprechung hat. Hier wird der fleischlichen Beschneidung eine geistliche gegenübergestellt, die selbstverständlich größeres Gewicht besitzt. Dieser Vers steht zu den folgenden Versen 4f. in einer gewissen Spannung, denn er spricht nicht von einer Überbietung der Beschneidung κατὰ σάρκα auf derselben Ebene, sondern von einer Beschneidung κατὰ πνεῦμα. Dem Bundeszeichen Israels wird hier ein neues, überlegenes Bundeszeichen gegenübergestellt. Ein Ver17 Vgl. dazu D. DULING, „Whatever Gain I Had…“. Ethnicity and Paul’s SelfIdentification in Philippians 3:5–6, HThS 64 (2008), 799–818 (812–814); NIEBUHR, Heidenapostel (s. Anm. 8), 105–109.

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gleich auf derselben Ebene ist damit eigentlich ausgeschlossen. Wer „im Geist Gottes dient und sich in Christus Jesus rühmt und nicht auf das Fleisch vertraut“ (V. 3), kann mit seiner fleischlichen Herkunft eigentlich nicht mehr punkten, auch wenn Paulus das in V. 4f. noch zu tun scheint. Das ist in 2Kor 11 etwas anders, denn dort gibt es kein geistliches Gegenstück zum fleischlichen Selbstruhm. Dieser wird zwar als närrisch bezeichnet, aber die Maske des Narren hilft dabei, sich selbst loben zu können, ohne Anstoß zu erregen. Das Selbstlob ist dort durchaus ernst gemeint. Ein deutlicherer Unterschied betrifft den Ruhmestitel der eigenen Leistung. In 2Kor 11 handelt es sich um eine Leistung im Dienst Christi. Paulus nimmt die vielen, katalogartig aufgezählten Mühen und Entbehrungen auf sich, um die Ausbreitung des Evangeliums zu fördern. Auch in Phil 3 sticht er durch seinen großen Einsatz hervor, aber hier richtet sich dieser Einsatz gerade gegen das Evangelium. Explizit gilt das zwar nur für eine der drei mit κατά eingeleiteten Aussagen: κατὰ ζῆλος διώκων τὴν ἐκκλησίαν. Die parallele Gestaltung wirkt sich aber so aus, dass die beiden anderen κατά-Aussagen dieselbe Ausrichtung erhalten. Auch die Zugehörigkeit zu den Pharisäern und die tadellose Gesetzeserfüllung sind hier Ausdruck einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Evangelium. Der größte Unterschied zwischen den beiden Texten ist aber zweifellos der zweite Teil des Selbstruhms. In 2Kor 11 ist die Damaskusanekdote, wie wir gesehen haben, die Formulierung einer Schwachheit, die auch schon im Peristasenkatalog zu finden war, dort allerdings verborgen unter dem Etikett einer bewunderungswürdigen Leistung. Die Demütigung in Damaskus spitzt diese Schwachheit zu und macht deutlich, wie sehr Leben und Erfolg des Paulus von der göttlichen Kraft abhängen. In Phil 3 dagegen findet in V. 7–11 keine Zuspitzung, sondern eine echte Umkehrung statt. Aus Gewinn wird Verlust, aus Glanz wird Dreck. Hier begegnet in der Tat Kreuzestheologie, anders als in 2Kor 11. Nicht mehr die eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetz (womit Paulus „seinen exklusiven jüdischen Status“18, keine Werkgerechtigkeit meinen dürfte19), sondern die πίστις 18 STRECKER, Theologie (s. Anm. 2), 125. Vgl. DERS., Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, EvTh 68 (2008), 460–472 (469). 19 Vgl. die Widerlegung dieser Deutung durch E. P. SANDERS, Paul on the Law, His Opponents, and the Jewish People in Philippians 3 and 2 Corinthians 11, in: P. Richardson / D. Granskou (Hg.), Anti-Judaism in Early Christianity, Band 1: Paul and the Gospels, SCJud 2, Waterloo 1986, 75–90 (78f.). Sie findet sich aber auch noch in neueren Auslegungen, etwa bei C. B. COUSAR, Philippians and Philemon. A Commentary, The New Testament Library, Louisville 2009, 73: „Despite all his reasons for boasting in the flesh, Paul rejects a righteousness of his own from the law. Instead, he claims an alien righteousness, a righteousness given by God.“ Zur Entstehung dieser einseitig auf die

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Χριστοῦ ist erstrebenswert. Erst die Gemeinschaft mit seinen Leiden führt zur Erfahrung der Kraft. Aus diesen Beobachtungen zum Verhältnis der beiden Texte ergibt sich, dass die im Thema gestellte Frage („Zwei Narrenreden?“) zur Hälfte negativ zu beantworten ist. Von den zwei verglichenen Texten ist nur der eine, 2Kor 11, wirklich eine Narrenrede. Nur hier rühmt sich Paulus selbst seiner Abstammung und seiner Leistungen, zwar in der Maske des Narren, aber dennoch im Ernst und mit Anspruch auf Wahrheit. In Phil 3 kann davon keine Rede sein. Die Verse 4–6 sind hier nur die Negativfolie, von der sich der Umschlag ab V. 7 deutlicher abheben soll. Sie enthalten keinen echten Selbstruhm. Besonders deutlich ist dieser Unterschied in der Einbindung der jüdischen Ehrentitel. In 2Kor 11 liegen Hebräer, Israeliten und Same Abrahams auf derselben Linie, die dann in den Dienern Christi und deren Einsatz für das Evangelium weitergeht. Der Anspruch des Paulus auf Gleichstellung bei den jüdischen Ehrentiteln (drei Mal καγώ) steigert sich noch beim Dienst Christi (ὑπὲρ ἐγώ). Hier gibt es keinen Bruch, sondern Kontinuität. Die Berufung, die ja die Voraussetzung für den Dienst Christi war, wird nicht einmal erwähnt. In Phil 3 dagegen gehören Israel, Stamm Benjamin, Hebräer, Pharisäer zu einem Einsatz gegen das Evangelium, der dann näher beschrieben, aber nicht in ein positives Verhältnis zum Evangelium gebracht wird. Hier gibt es keine Steigerung, sondern nur Bruch und Diskontinuität. Anders als in 2Kor 11 scheinen hier die jüdischen Ehrentitel nach der Berufung nicht mehr gültig zu sein. Wie kann man diesen gegensätzlichen Umgang mit dem eigenen jüdischen Erbe erklären? Warum enthalten so ähnlich gestaltete Abschnitte so unterschiedliche theologische Aussagen? Natürlich könnte man darauf verweisen, dass Paulus eben kein systematischer Theologe war und dass gedankliche Spannungen bei ihm auch sonst nicht selten sind. Dem eigentümlichen Verhältnis der beiden Texte wird man aber m. E. nur dann gerecht, wenn man Briefsituationen und -anliegen annimmt, die Gemeinsamkeiten, aber eben auch deutliche Unterschiede aufweisen. In der Regel wird heute vermutet, dass die im Phil anvisierten Gegner – unabhängig von der Frage, wie präsent sie eigentlich waren – die Heidenchristen in der Gemeinde zur Übernahme der Beschneidung bewegen wollten, während individuelle Leistung bezogenen Deutung vgl. S. VOLLENWEIDER , „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3 (Augustin und Johannes Chrysostomos), in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul, NTOA 102, Göttingen 2013, 11–29 (27): „Es bildet sich bei Augustin eine Konstellation heraus, die Jahrhunderte später zur reformatorischen Paulusauslegung mutiert und sich im 20. Jh. schließlich in der Gestalt der dialektischen Theologie zur Geltung bringt – eben die Old Perspective, gegen die die New Perspective Stellung bezieht“.

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das für die Gegner im 2Kor nicht gilt. Beide Gruppen beriefen sich auf ihr jüdisches Erbe, aber nur die im Phil vorausgesetzte Gruppe leitete daraus eine Beschneidungsforderung ab. Die Vermutung liegt nahe, gerade in dieser Forderung den Grund dafür zu sehen, dass das jüdische Selbstvertrauen in Phil 3 soviel härter beurteilt wird als in 2Kor 11. In der Sicht des Paulus ist die Beschneidungsforderung für Heiden offenbar eine Infragestellung des Christusereignisses. Nicht die Beschneidung an sich dürfte dabei das Problem sein, denn sie wird ja in anderem Zusammenhang sehr positiv beurteilt (vgl. z. B. Röm 3,1f.). Es ist vielmehr der implizite Ausschluss der Heiden von der Heilswirkung des Todes Christi, der diese Forderung für Paulus inakzeptabel macht.20 In einem solchen Kontext ist die Zugehörigkeit zum erwählten Volk nicht mehr positiv auf Christus hingeordnet, sondern tritt sie in Konkurrenz zu Christus. Nur wegen dieser Konkurrenz, nicht für sich genommen ist die jüdische Abstammung kein Gewinn, sondern ein Verlust. Das ist auch der Grund dafür, dass die Theologie des Kreuzes nur in Phil 3, nicht in 2Kor 11 begegnet. Die Übernahme des Gesetzes durch Heidenchristen ist für Paulus eine Entwertung des Kreuzes. Hier ist wirklich der Kern des Evangeliums betroffen. Eine Narrenrede, die die Vorzüge κατὰ σάρκα relativiert, sie aber nicht einfach ablehnt, ist hier nicht mehr möglich.

4 Auswertung Wenn wir auf unseren Ausgangspunkt, die Gegenüberstellung der beiden Texte und ihre Einheitsdeutung durch Sigurd Grindheim zurückblicken, ergibt sich: Die Annahme Grindheims, dass beide Texte mit dem religiösen Selbstruhm auf die gleiche Weise umgehen, hat sich nicht bestätigt. Man muss sogar sagen: Keiner der beiden Texte enthält die Aussage, die Grindheim beiden zuschreiben will. Es geht weder in 2Kor 11 noch in Phil 3 um eine absolute Umwertung, die alle Ansprüche auf religiösen Status, die Paulus vor seiner Berufung hatte, vollständig und grundsätzlich vernichten würde. Vielmehr macht es in 2Kor 11 die Rolle des Narren für Paulus möglich, sich auch der Vorzüge seiner Abstammung und seiner Leistungsfähigkeit zu rühmen. Liest man den Text mit 12,1–10 zusammen, dann Vgl. STRECKER, Theologie (s. Anm. 2), 126; DERS., Leben (s. Anm. 18), 469f. Ähnlich G. B AUMBACH, „Glaubensgerechtigkeit“ contra „Gesetzesgerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung des Paulus mit seiner pharisäischen Vergangenheit, in: C. Kähler / M. Böhm / C. Böttrich (Hg.), Gedenkt an das Wort (FS W. Vogler), Leipzig 1999, 9–23 (21); M. KONRADT, „Mein Wandel einst im ‚Ioudaismos‘“ (Gal 1,13). Paulus als Jude und das Bild des Judentums beim Apostel Paulus, in: R. Bloch u. a. (Hg.), Fremdbilder – Selbstbilder. Imaginationen des Judentums von der Antike bis in die Neuzeit, Basel 2010, 25–67 (57f.); SANDERS, Paul (s. Anm. 19), 79f. 20

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liegt der Schwerpunkt zwar auf seinem zweiten Teil, d. h. auf der Erfahrung der Schwachheit. Aber diese Schwachheit tritt nicht an die Stelle der Stärke. Sie hebt den Anspruch auf Stärke nicht auf, sondern spitzt ihn unter einer bestimmten Hinsicht zu. In Phil 3 finden wir dagegen keine Zuspitzung, sondern eine echte Umkehrung. Die ursprünglichen Vorzüge werden zu Nachteilen. Allerdings sind hier diese Vorzüge von vorneherein anders dargestellt. Es sind nicht einfach jüdische Statusmerkmale an sich, sondern es sind Statusmerkmale, die ein Judentum kennzeichnen, das das Evangelium ablehnt. Diese Unterschiede lassen sich mit den verschiedenen Situationen erklären. Im 2Kor reagiert Paulus auf Rivalen, die auf ihre jüdische Herkunft stolz sind, die aber die Geltung des Christusereignisses auch für Heiden akzeptieren. Anders die Gegner im Phil: Sie beschränkten die Heilswirkung des Todes Christi auf Juden und partikularisierten sie damit. Die unterschiedlichen Aussagen trotz ähnlicher sprachlicher Gestaltung sind deshalb keine Hinweise auf unsystematisches Denken des Paulus, sondern sind Anwendungen derselben theologischen Prinzipien auf unterschiedliche Gemeindekonstellationen.

Stimmung und συμμιμηταί im Philipperbrief MANUEL BAUMBACH ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν: τὸ λοιπὸν, ἵνα καὶ οἱ ἔχοντες γυναῖκας ὡς μὴ ἔχοντες ὦσιν καὶ οἱ κλαίοντες ὡς μὴ κλαίοντες καὶ οἱ χαίροντες ὡς μὴ χαίροντες καὶ οἱ ἀγοράζοντες ὡς μὴ κατέχοντες, καὶ οἱ χρώμενοι τὸν κόσμον ὡς μὴ καταχρώμενοι: παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου. „Die Zeit drängt. Darum sollen künftig auch die, die eine Frau haben, sie haben, als hätten sie sie nicht, und die, die weinen, sollen weinen, als weinten sie nicht, und die, die sich freuen, sollen sich freuen, als freuten sie sich nicht, die etwas kaufen, sollen kaufen, als behielten sie es nicht, und die sich die Dinge dieser Welt zunutze machen, sollen sie sich zunutze machen, als nutzen sie sie nicht. Denn die Gestalt dieser Welt vergeht.“ (Zürcher Bibel)

Es ist eine drastische Distanzierung von der Lebenswirklichkeit, von Konventionen und Emotionen, die Paulus im 1. Korintherbrief seinen Adressaten vorschreibt (1Kor 7,29–31): Angesichts des bevorstehenden Vergehens ‚dieser‘ Welt (τοῦ κόσμου τούτου) verschieben sich Wertigkeiten und Bezugspunkte, Gefühle und Handeln der Menschen verlieren ihre Zielgerichtetheit, und Lebensgewohnheiten werden hinterfragt. Paulus propagiert die Umwertung von ‚Werten‘ wie Ehe und Besitz, um eine neue, eschatologisch ausgerichtete Ethik zu proklamieren, die sich nicht mehr am Einzelnen orientiert, sondern an der „Verantwortung für das Gemeinwesen, die von der Liebe (ἀγάπη) getragen ist“.1 Er bedient sich dabei einer Rhetorik der Verunsicherung, indem er bislang unhinterfragtes, vermeintlich sicheres und gesellschaftlich sanktioniertes Verhalten in Frage stellt und seine Adressaten auffordert, möglichst umgehend (ὁ καιρὸς συνεσταλμένος ἐστίν) aus gewohnten Denkmustern auszubrechen, (Alltags-)Handlungen zu überdenken und sogar die eigenen Gefühle neu zu erleben bzw. anders auszudrücken: Wer weint, soll weinen, als ob er nicht weint, wer sich freut, möge dies so tun, als ob er sich nicht freut. Wie genau das gehen soll, wird nicht gesagt, es erscheint vielmehr paradox, dass Gefühle wie Freude oder Trauer einerseits als solche bejaht und akzeptiert 1 S. VOLLENWEIDER, „Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament,“ in: S. Vollenweider (Hg.), Epiktet. Was ist wahre Freiheit? (Diatribe IV 1), SAPERE 22, Tübingen 2013, 119–162 [149]).

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werden, andererseits aber erst in der Negation ihre (neue) Qualität erhalten. Dabei geht es Paulus – wie die analogen Bemerkungen zur ‚richtigen‘ Einstellung gegenüber Ehe und Erwerb bzw. Besitz von irdischen Gütern deutlich machen – nicht um eine Aufhebung der Gefühle, sondern um eine Relativierung bzw. Neuausrichtung derselben, die durch die Ankündigung des bevorstehenden Endes der Welt (παράγει γὰρ τὸ σχῆμα τοῦ κόσμου τούτου) begründet wird, in deren Folge irdische Dinge nicht länger als erstrebenswert sondern vielmehr im stoischen Sinn als adiaphora zu betrachten sind. Handlungen wie Gefühle verlieren auf diese Weise ihren etablierten Bezugsrahmen und damit ihre scheinbare Legitimation. An ihre Stelle tritt die grundsätzliche Reflexion über eine neue Art der Freude und eine neue Form der Trauer, die als ‚ungerichtete‘ Gefühle2 absolut gesetzt sind und in dieser Form als Stimmungen angesprochen werden können, d. h. als andauernde Gemütszustände, die ein allgemeines, eher diffuses Sich-Befinden eines bestimmten Subjekts oder Gegenstandsbereiches ausdrücken, das sich etwa als schlechte Stimmung eines Menschen, als melancholische Herbststimmung oder auch als politische Stimmungslage in einem Land äußern kann. Mit Hilfe der Metapher des Stimmens von Instrumenten, die gut oder schlecht gestimmt sein können,3 lässt sich Stimmung als ein bestimmter, länger andauernder Zustand des ‚GestimmtSeins‘ definieren, das im Unterschied zu Gefühlen wie Liebe (zu), Hass (auf) oder Sehnsucht (nach) nicht auf einen bestimmten Gegenstand bzw. auf bestimmte Personen bezogen ist.4 Mit Blick auf die Darstellung von Stimmung(en) in Texten sind Gefühle daher mögliche, aber keineswegs notwendige Indikatoren für Stimmung; sie können Stimmungen begründen, begleiten, beeinflussen, beenden oder Stimmungsumschläge bewirken. Absolut gesetzt und als dauerhaft beschrieben lassen sich ‚Freude‘ oder ‚Trauer‘ hingegen als Stimmungen ansprechen. Wie geht Paulus vor diesem Hintergrund mit Gefühlen bzw. Stimmungen um? Es überrascht nicht, dass es gerade Freude und Trauer sind, die im Korintherbrief im Zusammenhang mit der Forderung nach einer ethischen Neuausrichtung erwähnt werden, kommt diesen beiden ‚Gefühlen‘ bzw. Stimmungen in Paulus’ Christologie und bei der Vermittlung des Evangeliums an seine Gemeinden doch eine besondere Bedeutung zu, die 2 Zur Unterscheidung von gerichteten und ungerichteten Gefühlen in den Stimmungskonzepten Heideggers und Bollnows vgl. R. W IMMER, Zum Wesen der Stimmungen. Begriffliche Erörterungen, in: F. Kümmel (Hg.), O. F. Bollnow. Hermeneutische Philosophie und Pädagogik, Freiburg i. Br. 1997, 143–162 (147f.). 3 Die Metapher legt durch die Skalierung des Gut- bzw. Schlecht-Stimmens zugleich eine Klassifizierung bzw. ästhetische Gewichtung von Stimmungen nahe. 4 Vgl. W IMMER, Wesen (s. Anm. 2), 147 und O. F. BOLLNOW, Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941, 18: „Die Stimmungen … haben keinen bestimmten Gegenstand. Sie sind Zuständlichkeiten, Färbungen des gesamtmenschlichen Daseins.“

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im Folgenden am Beispiel des Philipperbriefes und unter Berücksichtigung von modernen Stimmungskonzepten5 herausgearbeitet werden soll. Letztere eröffnen anhand von ästhetischen und existentialistischen Kategorien nicht nur einen neuen Zugriff auf die erkenntnistheoretischen Funktionen von Gefühlen und Stimmung im Philipperbrief, sondern sie bilden aus literaturwissenschaftlicher Sicht in Anlehnung an eine jüngst erhobene Forderung des Komparatisten Hans-Ulrich Gumbrecht auch den Ausgangspunkt für eine ‚stimmungsvolle‘ Lektüre des Briefes insbesondere mit Blick auf den Christushymnus.6

1 Ästhetische und existentialistische Stimmung im Philipperbrief Stimmung als ästhetische Kategorie der sinnlichen Selbst-, Seins- bzw. Weltwahrnehmung wird im ausgehenden 18. Jh. als dritte Erkenntniskraft neben dem scheinbar ‚objektiven‘ Erkenntnisvermögen des Verstandes und dem ‚subjektiven‘ sinnlichen Erkennen entdeckt.7 Friedrich Schiller schreibt dazu in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen aus dem Jahr 1795:

Das Gemüth geht also von der Empfindung zum Gedanken durch eine mittlere Stimmung über, in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind, eben deswegen aber ihre bestimmende Gewalt gegenseitig aufheben und durch eine Entgegensetzung eine Negation bewirken. Diese mittlere Stimmung, in welcher das Gemüth weder physisch noch moralisch genöthigt, und doch auf beyde Art thätig ist, verdient vorzugsweise eine freye Stimmung zu heißen, und wenn man den Zustand sinnlicher Bestimmung den physischen,

5 Einen Überblick über die verschiedenen philosophischen, kulturellen und ästhetischen Verwendungsweisen des Stimmungsbegriffes gibt D. E WELLBERY, Stimmung, Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden 5 (2003), 703– 733. Zur Begrifflichkeit von ‚Stimmung‘ vgl. auch W IMMER, Wesen (s. Anm. 2). 6 Ich gehe bei meiner Analyse mit P. T. O’BRIEN, The Epistle to the Philippians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids 1991, U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHNT 11/1, Leipzig 22002, P. A. HOLLOWAY, Consolation in Philippians. Philosophical Sources and Rhetorical Strategy, MSSNTS 112, Cambridge 2001, G. F. HAWTHORNE / R. P. MARTIN, Philippians, WBC 43, Nashville 2004 und S. E. FOWL, Philippians, Two Horizons New Testament Commentary, Grand Rapids 2005 von der kompositorischen Einheit des Philipperbriefes aus. 7 Fallstudien zur Rezeption von Stimmung als ästhetischer Kategorie finden sich bei A. K. GISBERTZ (Hg.), Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie, München 2011.

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den Zustand vernünftiger Bestimmung aber den logischen und moralischen nennt, so muß man diesen Zustand der realen und aktiven Bestimmbarkeit den ästhetischen heißen.8

Mit der ‚mittleren‘ oder ‚freien‘ Stimmung bezeichnet Schiller in Anlehnung an Kants 1790 erschienene Kritik der Urteilskraft „jene Stelle, an der Verstand und Empfindung zum Ausgleich kommen und ein ästhetisches Urteil ermöglichen“.9 Schiller nimmt damit Kants Gedanken einer ‚proportionierten Stimmung‘10 auf, die als harmonisches Zusammenspiel der beiden Erkenntniskräfte Sinnlichkeit und Vernunft erklärt wird,11 und weist der Stimmung eine Vermittlerrolle zwischen Vernunft und Seele zu, die eine besondere Erkenntnisfähigkeit und Freiheit auszeichnet: Die Negation von physischen (= emotionalen) und moralischen (= vernünftigen) Be-Stimmungen versetzt den Menschen in einen Zustand der Gleichmütigkeit oder in eine ästhetische Stimmung, die – wie Schiller zu Beginn des 26. Briefes formuliert – „der Freyheit erst die Entstehung gibt“.12 Die so gewonnene Freiheit ermöglicht dem Menschen einen neuen Blick auf die Welt und eine neue, selbstbestimmte Verortung in derselben. Dabei verneint Schiller die Existenz und Bedeutung von Gefühlen nicht, sie werden jedoch durch die neutralisierende Kraft der Vernunft bzw. vice versa in ihrem Einwirken auf den Menschen für den Erkenntnisprozess im Sinne der ästhetischen Wahrnehmung reduziert und können das menschliche Dasein nicht mehr wesentlich bestimmen. Martin Heidegger überführt in seiner Ontologie Sein und Zeit (1927) den ästhetischen Stimmungsbegriff in einen hermeneutischen. Er definiert Stimmung als Ausdruck und Erleben verschiedener Formen des In-die8 F. SCHILLER, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, zitiert nach B. v. Wiese (Hg.), Schillers Werke, Bd. 21, 20. Brief, Weimar 1962, 375. 9 A.-K. G ISBERTZ, „Wiederkehr der Stimmung?“, in: dies. (Hg.), Stimmung (s. Anm. 7), 7–13 (7). 10 KANT, Kritik der Urteilskraft § 9, A 27. Zum Stimmungskonzept Kants und seiner Ästhetisierung bei Schiller vgl. C. FREY, Kants proportionierte Stimmung, in: Gisbertz (Hg.), Stimmung (s. Anm. 7), 75–94. 11 Vgl. FREY, Stimmung (s. Anm. 10), 91: „Die ‚ästhetische‘ Stimmung findet sich bei Schiller ein, sobald Stoff- und Formtrieb, Sinnlichkeit und Verstand, einander in einer vollkommen ausgeglichenen Balance gegenübertreten. Es ist diese Mitte, die sich im ausgeglichenen Verhältnis der Gemütskräfte einstellt, die jene Gemütsstimmung ausmacht, die für Schiller einzig im Ästhetischen zu finden ist.“ 12 Vgl. auch G. BÖHME, Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, 162f.: „Die Ästhetik ist geradezu stolz darauf, mit einem Bereich zu tun zu haben bzw. ihn zu ermöglichen, in dem es nicht ernst ist, einem handlungsentlasteten Raum, in dem das Menschliche spielerisch, und das heißt ohne Folgen für das Alltagsleben durchlebt werden kann, und doch als psychische Wirklichkeit verarbeitet und angeeignet werden kann. Schiller hat deshalb den ästhetischen Bereich als den eigentlichen Bereich der Freiheit angesehen …“

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Welt-Geworfenseins, das sich im Jetzt und als Dichotomie zwischen Erfüllung und Sehnsucht, zwischen Vergangenheit und Zukunft abspielt.13 Heidegger begreift Stimmung als ein ‚konstitutives Moment des Daseins‘14 – der Mensch ist immer in irgendeiner Stimmung – und schreibt ihr einen besonderen Erkenntnischarakter in das Sein der Welt und in die eigene Existenz zu: Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein. … Die Stimmung macht offenbar, „wie einem ist und wird“. … Die Befindlichkeit erschließt das Dasein in seiner Geworfenheit und zunächst und zumeist in der Weise der ausweichenden Abkehr. … Wir müssen in der Tat ontologisch grundsätzlich die primäre Entdeckung der Welt der „bloßen Stimmung“ überlassen. … Die phänomenologische Interpretation muß dem Dasein selbst die Möglichkeit des ursprünglichen Erschließens geben und es gleichsam sich selbst auslegen lassen.15

Stimmung ist nach Heidegger zugleich Ausdruck und Erkenntnis davon, wie wir uns in der Welt befinden. Ist jede Stimmung damit eine bestimmte Form der Welt- und Seinserfahrung, so gibt es nach Heidegger besondere Stimmungen, sogenannte Grundstimmungen oder tiefe Stimmungen, die eine umfassende Erkenntnis des Menschen in sein eigentliches Dasein ermöglichen. Zu diesen Grundstimmungen gehören die Langeweile und vor allem die Angst. Während Langeweile nach Heidegger den Menschen auf sich zurückwirft, der gezwungen ist, nach dem Wesen des Daseins zu fragen, weil die Welt um ihn herum ihm entweder nichts oder nur noch wenig bedeutet, befördert besonders existentielle Angst16 und vor allem Todesnähe die Erkenntnis in die Seinsstruktur des Menschen und der Welt. Im Zustand oder besser Gestimmtsein der existentiellen Angst wird sich der Mensch nach Heidegger seiner Bedrohung und Schwäche bewusst, sucht nach Halt bzw. versucht, die Angst entweder durch Relativierung des Ichs oder durch Relativierung der dieses Ich bedrohenden Welt zu überwinden. In beiden Fällen rückt das bedrohte Dasein als Thema ins Bewusstsein und kann in seinem Wesen erkannt werden. In diesem Sinne ließe sich etwa durch eine Ankündigung des Endes der Welt, wie sie sich in dem eingangs zitierten Passus aus dem Korintherbrief findet, Stimmung erzeugen und

13 Zum Stimmungsbegriff bei Heidegger vgl. B.-C. HAN, Heideggers Herz. Zum Begriff der Stimmung bei Martin Heidegger, München 1996 und H. RUIN, Passivity of Reason. On Heidegger’s Concept of Stimmung, SATS 1 (2010), 143–159. 14 Vgl. WELLBERY, Stimmung (s. Anm. 5), 725. 15 M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 151979, 134–140. 16 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht vgl. auch BOLLNOW, Wesen (s. Anm. 4), 18f.: „So ist die Furcht ein (gerichtetes) Gefühl, denn der Mensch fürchtet sich in ihr immer vor etwas, durch das er sich bedroht fühlt … Die Angst dagegen ist von der Furcht dadurch unterschieden, dass der Mensch in ihr keinen bestimmten Gegenstand anzugeben vermag, vor dem er sich ängstigt. Die Angst bleibt gegenständlich völlig unbestimmt.“

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mit Hilfe der Angst vor dem Tod ein Weg zur vertieften bzw. ‚wahren‘ Erkenntnis eröffnen. Doch nicht nur Angst kann als eine besondere, erkenntnisfördernde Grundstimmung angesprochen werden, sondern auch positive Stimmungen wie Freude lassen sich dazu zählen. So versucht Otto Friedrich Bollnow in Auseinandersetzung mit Heidegger17 zu zeigen, dass Freude nicht nur die Fähigkeit hat, freudig gestimmten Menschen ‚offen‘ für Erkenntnis in die Welt und ihre Dinge zu machen,18 sondern freudigen Stimmungen kommt nach Bollnow auch eine besondere gemeinschaftsbildende Funktion zu, da sich der Mensch durch Freude „für das Leben und neue Lebenserfahrungen, insbesondere aber auch für die Berührung mit anderen Menschen“ öffnet.19 Betrachten wir vor diesem Hintergrund Verwendung und Funktion von Angst und Freude als Grundstimmungen im Philipperbrief, so lassen sich folgende Beobachtungen machen: Während Angst (gr. ὁ φόβοςτὸ δέος20zu Beginn des Briefes keine Rolle spielt, sind die Einleitung, der Dank an die Gemeinde und die Fürbitte zu Beginn des Briefes (1,3–11) durchzogen von dezidiert positiven Gefühlen.21 Die Freude des Senders (μετὰ χαρᾶς,1,4)wird ebenso betont wie die Liebe der adressierten Gemeinde (ἡ ἀγάπη ὑμῶν,1,9). Trotz ihrer situativen Gebundenheit an das Gebet wird Freude dabei absolut gesetzt und deutet eine Grundstimmung des Paulus an, die auch durch den kurzen Hinweis auf seine Gefangenschaft in Phil 1,7 nicht getrübt wird, zumal dort wertende Adjektive fehlen. Auch in der folgenden detaillierteren Beschreibung seiner Gefangenschaft in den Abschnitten 1,12–26 finden sich keine Anzeichen für eine Änderung dieses Gestimmtseins, im Gegenteil: Paulus betont die Furchtlosigkeit der Menschen, die aufgrund seiner Gefangenschaft das Evangelium verkünden (ἀφόβως τὸν λόγον λαλεῖν,1,14),und der Versuch einiger Missionare, Paulus aufgrund seiner Gefangenschaft in Misskredit zu bringen und dadurch Trübsal zu bereiten 17 Vgl. zur Auseinandersetzung Bollnows mit Heidegger WIMMER, Wesen (s. Anm. 2), 150–162. 18 Vgl. Bollnows Aufsatz „Von der Freude“, in: O. F. B OLLNOW, Einfache Sittlichkeit. Kleine philosophische Aufsätze, Göttingen 1947, 89: „Indem er [der freudige, glückliche Mensch] offen wird für die Dinge, öffnen sich umgekehrt ihm auch die Dinge, und so wird ihm eine ganz neue Wesensschicht zugänglich.“ Zum Erkenntnisbezug gehobener, freudiger Stimmungen bei Bollnow vgl. auch G. SCHÜZ, Lebensganzheit und Lebensoffenheit des Menschen. Otto Friedrich Bollnows hermeneutische Anthropologie, Würzburg 2001, 117–119. 19 BOLLNOW, Wesen (s. Anm. 4), 101. 20 Beide Begriffe können situativ ausgelöste Furcht vor etwas ebenso wie allgemein den Zustand der Angst bezeichnen; im neutestamentlichen Gebrauch schwingt oft die Bedeutung „Ehrfurcht“ mit. 21 Vgl. zur Freude auch den Beitrag von Petra von Gemünden in diesem Band sowie P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefes als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 82–84.

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– Phil 1,17 – scheitert an seiner Freude: καὶ ἐν τούτῳ χαίρω(1,18)Die Freude, hier mit einem konkreten Objekt versehen, überstrahlt alles. Auch die möglicherweise seine Existenz auf Erden bedrohende Erfahrung des Todes im Zusammenhang mit seinem Prozess führt nicht zu einer Änderung der positiven Grundstimmung: Nicht nur hat Paulus keine Angst vor dem Tod, den er sogar als „Gewinn“ (κέρδος1,21)bezeichnet,22 sondern er scheint aufgrund seiner Bedeutung für die Gemeinde mit Gott eine Art Lebensversicherung abgeschlossen zu haben: Denn er ist überzeugt, dass er den Prozess überleben und seiner Gemeinde erhalten bleiben wird: οἶδα ὅτι μενῶ καὶ παραμενῶ πᾶσιν ὑμῖν(1,25). Und auch hier wird als Begründung und Ziel seines künftigen Wirkens die Freude, konkret die Glaubensfreude (χαρὰν τῆς πίστεως,1,25)genannt. Es ist auffällig, dass der freudigen Grundstimmung des Paulus zu Beginn seines Briefes eine entgegengesetzte Stimmung der Adressaten gegenübersteht, die zum Teil explizit angesprochen wird, zum Teil implizit hinter den Aussagen des Briefes hervortritt. Dies beginnt mit der nicht ausdrücklich erwähnten, aber anzunehmenden Besorgnis der Gemeinde um das Wohlergehen von Paulus in seiner Gefangenschaft, die ein Auslöser für die materielle Spende an ihn war und auf die Paulus durch die wiederholte Betonung seiner Freude zu reagieren scheint. Auffallend ist weiter, dass in den Passagen 1,27–30, in denen Paulus nach der Beschreibung seiner Situation auf die Situation der Gemeinde zu sprechen kommt, die Freude fehlt. Stattdessen trübt das Vokabular des Kampfes (συναθλοῦντες1,27), Verderbens (ἀπωλείας1,28) und Leidens (πάσχειν1,29)die Stimmung. Sender und Empfänger des Briefes sind damit nicht nur räumlich getrennt, sondern auch durch ihre unterschiedlichen Stimmungslagen. Als ein zentrales Ziel der Kommunikation zwischen Paulus und seiner Gemeinde ergibt sich daher die Harmonisierung der Stimmungen von Sender und Empfänger, die – wie in 2,2 deutlich wird – ein einmütiges (σύμψυχοι Denken (τὸ αὐτὸ φρονῆτετὸ ἓν φρονοῦντεςund ein an der Liebe ausgerichtetes ethisches Handeln (τὴν αὐτὴν ἀγάπην ἔχοντεςermöglicht und in der Freude nicht nur des Senders (πληρώσατέ μου τὴν χαράνsondern auch der Empfänger (vgl. 1,25: χαρὰν τῆς πίστεωςmündet. Dabei handelt es sich konkret um die ‚Freude des Glaubens‘, aus der heraus Paulus an seine Gemeinde schreibt, und zu der er seine Gemeinde führen möchte. Als Stimmung angesprochen hat diese Zum Hintergrund und zur Bewertung der in Phil 1,21–23 geäußerten Todessehnsucht des Paulus vgl. T. F. DAILEY, To Live or Die. Paul’s Eschatological Dilemma in Philippians 1:19–26, Interp. 44 (1990), 18–28 und S. VOLLENWEIDER, Die Waagschalen von Leben und Tod. Zum antiken Hintergrund von Phil 1,21–26, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 237-261. 22

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Freude insofern einen Erkenntnischarakter, als sie Einblicke in Christus und dadurch im Sinne von Paulus’ Christologie auch in das Wesen Gottes und des Glaubens an sich ermöglicht. Doch wie genau lässt sich dieses Ziel einer erkenntnisbringenden Stimmung erreichen? Eine erste Antwort ergibt sich mit Blick auf die kontrovers besprochene Stelle 2,12, und sie tut das ganz im heideggerschen Sinn: μετὰ φόβου καὶ τρόμου τὴν ἑαυτῶν σωτηρίαν κατεργάζεσθε„mit Angst und Zittern erarbeitet23 eure Rettung“. Hier führt Paulus seine Adressaten explizit aus der zu Beginn des Briefes für seine Person evozierten und in 1,25 und 2,2 als Ziel für seine Adressaten formulierten freudigen Stimmung (χαρά) heraus. Stattdessen werden Angst und Zittern als Wege zum Ziel der Erlösung aufgerufen. Mit diesem Bruch der zuvor aufgebauten Erwartungshaltung kreiert Paulus genau die Stimmung, aus der heraus nach Heidegger die Erkenntnis in das Dasein möglich ist. Angst und Zittern sind damit an dieser Stelle keineswegs topisch gebraucht oder positiv umgedeutet im Sinne einer besonders intensiv empfundenen Ehrfurcht vor Gott,24 sondern vielmehr ganz wörtlich zu verstehen und in ihrer Negativität betont, wodurch sie genau den Raum und die Möglichkeit für eine ‚stimmungsvolle‘ Erkenntnis schaffen, die Rettung bewirkt.25 Für diese Deutung spricht auch die Platzierung der Aussage im unmittelbaren Anschluss an den Christushymnus, in dem das Martyrium von Christus den Adressaten vor Augen gestellt wurde: So wie sich Christus zunächst durch die Annahme der Gestalt eines rechtelosen Sklaven (μορφὴν δούλου λαβών, 2,7) in genau die niedere soziale Rolle versetzt hat, für die die von Paulus auch andernorts gebrauchte Wendung μετὰ φόβου καὶ τρόμουpassend ist,26 und dann durch das Martyrium am Kreuz die Erlö23 Das Verb kann als Intensivum von ἐργάζεσθαιsowohl die Bedeutung „sich etwas erarbeiten“ als auch – in einem teleologischen Sinn – „etwas vollenden“ bedeuten. Beide Bedeutungen lassen sich mit der oben vorgeschlagenen Interpretation in Einklang bringen, wobei in jedem Fall die aktive Mitarbeit der Rezipienten an einer möglichen Rettung betont ist. Vgl. zur Diskussion MÜLLER, Brief (s. Anm. 6), 118. 24 So deuten etwa J. GNILKA, Der Philipperbrief, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 1968, 149, HOLLOWAY, Consolation (s. Anm. 6), 123f. und FOWL, Philippians (s. Anm. 6) die Forderung als Ausdruck eines frommen Gehorsams gegenüber Gott; vgl. zur Diskussion auch MÜLLER, Brief (s. Anm. 6), 119, HAWTHORNE / MARTIN, Philippians (s. Anm. 6), 141f. und W. ECKEY, Die Briefe des Paulus an die Philipper und an Philemon. Ein Kommentar, Neukirchen-Vluyn 2006, 88–91. 25 Vgl. auch W. BARCLAY, Brief an die Philipper, Brief an die Kolosser, Briefe an die Thessalonicher, Wuppertal 1969, 57: „diese Furcht und dieses Zittern lassen uns vielmehr nach Gott suchen; sie bringen uns Gott näher in der Gewißheit, daß wir im Leben ohne seine Hilfe nicht bestehen können.“ 26 Vgl. HAWTHORNE / MARTIN (s. Anm. 6), 141f. und E. LOHMEYER , Der Brief an die Philipper, KEK 9, Göttingen 101954, 102f.: „So liegt denn in dem Ausdruck ‚mit Furcht und Zittern‘ eine Anspielung auf die Vorbildlichkeit jener ‚Knechtsgestalt‘. Sie ist Vor-

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sung durch Gott (2,9) erreicht hat, so sollen sich Paulus’ Adressaten an diesem Vorbild orientieren und Christus in seinem Erkenntnis bringenden Handeln und Leiden erkennen. Damit wird der kognitive Aspekt der Angst als Grundstimmung im heideggerschen Sinn betont, wobei sich die Verbindung von Stimmung mit Erkenntnis auch aus dem unmittelbar folgenden Kontext ergibt: Mit der Nennung von Gott, θεόςin 2,13 im kausalen Anschluss (γάρwird das Erkenntnisziel klar benannt, so dass die ganze Paränese im Sinne der Stimmungshermeneutik als Reflexion über den Erkenntnisweg und das Erkenntnisziel gedeutet werden kann: Aus der Stimmung der Angst ergibt sich das Heil und die Erkenntnismöglichkeit in Gott. Eine weitere Beobachtung schließt sich an: Der Nennung der Angst als Voraussetzung des Erkennens folgt die Aufforderung zu einer zunächst ganz merkwürdig erscheinenden Verhaltensweise: πάντα ποιεῖτε χωρὶς γογγυσμῶν καὶ διαλογισμῶν– „Alles tut ohne Murren und Bedenken“ (2,14). Liest man diese Stelle vor dem Hintergrund von Schillers Konzeption der ‚freien‘ Stimmung, die ‚freie‘ (= wahre) Erkenntnis ermöglicht, so ergeben sich auffallende Ähnlichkeiten in der Argumentation: Denn mit γογγυσμός wird von Paulus eine emotionale Reaktion („Murren, Klagen“) und mit διαλογισμῶν das verstandesmäßige Reflektieren abgelehnt. Beides soll für die Adressaten keine Rolle spielen, ihre Arbeit, ihr Handeln und letztlich ihre darauf beruhende Erkenntnis in Gott soll sich in einem Zwischenraum zwischen Verstand und Gefühl ergeben und damit in einem ganz ähnlichen Bereich, wie ihn Schiller und Heidegger für die Stimmung reserviert haben. Vereinfachend lässt sich Paulus’ hermeneutischer Umgang mit Stimmung über ein Zusammenspiel von Schillers und Heideggers ästhetischen bzw. existentiellen Überlegungen zur Stimmung wir folgt zusammenfassen: Es bedarf der (heideggerischen) Grundstimmung der Angst, um zur Erkenntnis Gottes als wahres Sein zu gelangen; diese Erkenntnis muss frei gewonnen werden, d. h. sie darf im schillerschen Sinn ebenso wenig von der kognitiven Seite der Emotionen wie vom Verstand bestimmt sein. Vielmehr müssen die Adressaten auf eine besondere Art gestimmt sein, um zu Gott zu finden und in diesem Zustand durch den von Paulus gemachten Vergleich mit den Sternen (2,15) symbolisch in einen göttlichen Zustand versetzt zu werden. Und mit diesem Zustand untrennbar verbunden ist für Paulus eine zweite, grundlegend anders geartete Stimmung, die man Zielstimmung nennen könnte, nämlich die Freude, χαράAus ihr heraus hat Paulus von Beginn des Briefes an gesprochen und in dieser Stimmung möchte und kann er seine Gemeinde zur höheren Erbild eines Martyriums ‚bis zum Tode‘. ‚Furcht und Zittern‘ ist darum die Form, in der dem zum Martyrium bestimmten Gläubigen es möglich wird, jenes Vorbild an sich und durch sich nachzubilden.“

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kenntnis, zum tieferen Glauben und zur ewigen Freude im (= in der Erkenntnis des) Herrn (4,4: χαίρετε ἐν κυρίῳ πάντοτε·πάλιν ἐρῶ, χαίρετεführen. Paulus hat sich diesen Zustand der Erkenntnis und damit die Stimmung der Freude selbst erarbeitet, womöglich ähnlich wie seine Adressaten aus vorgängiger Angst heraus, mit der zumindest seine in 2Kor 11,21–33 geschilderten Leiden verbunden werden können. Insofern ist Paulus der Gemeinde in der Erkenntnis Gottes voraus,27 er hat die Zielstimmung der Freude erreicht und als τύπος (3,17) für den Glauben, der in ihm durch Christus lebt, vorgemacht, wie man sie ebenfalls erreichen kann, nämlich dadurch, dass man ihm nacheifert: συμμιμηταί μου γίνεσθε(3.17). Die vorgeschlagene Lesart, Stimmungen im Philipperbrief hermeneutisch zu betrachten, zeigt die Strategie des Paulus, den ‚neuen‘ Logos von Christus durch eine neuartige Erkenntnisweise zugänglich und umfassend erkennbar zu machen.28 Betrachtet man seine Freude als stimmungsvollen Ausdruck des erreichten Erkenntniszustands, so ermöglicht Paulus seinen Adressaten zugleich eine Art der Katharsis in Anlehnung an die bekannte aristotelische Definition, wo es der Furcht und des Mitleids bedarf, um von diesen Emotionen befreit zu werden: ἔστιν οὖν τραγῳδία μίμησις πράξεως σπουδαίας καὶ τελείας μέγεθος ἐχούσης, ἡδυσμένῳ λόγῳ χωρὶς ἑκάστῳ τῶν εἰδῶν ἐν τοῖς μορίοις, δρώντων καὶ οὐ δι’ ἀπαγγελίας, δι’ ἐλέου καὶ φόβου περαίνουσα τὴν τῶν τοιούτων παθημάτων κάθαρσινPaulus konstruiert sein Konzept der Veränderung des Stimmungszustandes auf der Rezipientenseite (2,12: μετὰ φόβου καὶ τρόμου τὴν ἑαυτῶν σωτηρίαν κατεργάζεσθε) syntaktisch ganz ähnlich wie Aristoteles: An die Stelle von δι’ ἐλέου καὶ φόβουtritt μετὰ φόβου καὶ τρόμουund die paulinische ‚Rettung‘ (σωτηρίαν2,12) wird als Ziel und Schlüsselwort der Aussage in ähnlicher Schlussposition gesetzt wie die aristotelische Katharsis.30 Im Gegensatz zur antiken Tragödie, die im Sinne eines ästhetischen Erlebnisses den eher passiven Rezipienten temporär zu einem Miterleben und Überwinden von Furcht und Mitleid einlädt, werden die Adressaten des Philipperbriefes jedoch aktiver gefordert: Sie müssen sich diesen Zustand selbst „erarbeiten“ (κατεργάζεσθε, wobei die Angst ein notwendiges Hilfsmittel ist, das sie im Sinne einer Erkenntnishilfe benutzen sollen. 27 Vgl. dagegen G. B AUMBACH, Die Frage nach den Irrlehren in Philippi, Kairos 13 (1971), 252–266 (259). 28 Mit der Stimmung wäre im Philipperbrief ein ähnlich neuer und von der rein verstandesmäßigen Erkenntnisweise abweichender Zugang zum λόγος Χριστοῦ gewonnen wie Paulus ihn im zweiten Korintherbrief (11,16–23) u. a. mit der Wendung παραφρονῶν λαλῶ andeutet. 29 Aristoteles, poet. 6 (1449 b 24–28). 30 Zudem betonen beide Verben teleologisch das Ergebnis und überschneiden sich in der Bedeutung „etwas (durch Arbeit) vollenden / vollbringen“.

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2 ‚Stimmung lesen‘ – συμμιμηταίim Philipperbrief Neben der oben besprochenen Deutung der Aufforderung im Sinne der Nachahmung des Paulus und seiner Stimmung eröffnet der Imperativ συμμιμηταί μου γίνεσθε(3,17) noch eine zweite Lesart, die sich über ein zweites Stimmungskonzept erschließen lässt und den Blick weniger auf die außertextliche Lebenswirklichkeit lenkt, die ein Rezipient des Philipperbriefes als Nachahmer des Paulus im Anschluss an die Lektüre neu bzw. anders gestalten soll, sondern auf die Lektüreerfahrung selbst und die Art der Darstellung von Paulus Rede. Letzteres wird dadurch nahegelegt, dass der Begriff ‚Mimesis‘ in antiker Terminologie nicht nur die „Nachahmung“, sondern zugleich die „Darstellung“ bezeichnet und in dieser Bedeutung seit Platon und Aristoteles auf eine produktiv-gestaltende Kunst – sei es in Form der Darstellung von Dingen der realen Welt (Platon) oder allgemein als Hervorbringung eines Möglichen (Aristoteles) – verweisen kann.31 Vor diesem Hintergrund kann die ungewöhnliche Wortwahl32 συμμιμηταί μου γίνεσθε den Wunsch ausdrücken, dass Paulus’ Adressaten zu seinen „Mitdarstellern“ werden, was weniger die Aufforderung zur direkten Nachahmung vom Leben und Leiden des Paulus bedeuten würde, als vielmehr die Mitdarstellung seiner Schilderung und Exegese des Lebens und Leidens von Christus, wie er sie im Philipperbrief zum Ausdruck bringt, anregen würde. Für diese Deutung spräche, dass unmittelbar auf die Aufforderung zur Mimesis gleich zweimal das Verb περιπατεῖν verwendet wird (3,17 und 3,18), welches nicht nur allgemein das „Herumwandeln“ als körperliche Betätigung oder speziell die paulinische Lebensform des im römischen Reich von Gemeinde zu Gemeinde reisenden Apostels bezeichnet, sondern vor allem die mit der körperlichen Bewegung verbundene Rede und Erkenntnissuche von Paulus und seinen Adressaten aufruft. Aristotelische, nach (philosophischer) Erkenntnis strebende Peripatetiker wandeln ebenso herum wie die Emmausjünger in Lukas 24 bei der Offenbarung von Christus, so dass anthropoi peripatountes oft mit erkenntnissuchender und erkenntnisverbreitender Rede assoziiert werden, womit das 31 Vgl. zu den antiken Mimesis-Konzepten M. KARDAUN Der Mimesisbegriff in der griechischen Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunstauffassung, Amsterdam 1993 und S. HALLIWELL, The Aesthetics of Mimesis. Ancient Texts and Modern Problems, Princeton 2002. 32 συμμιμητής ist ein hapax legomenon, dessen Verwendung von Paulus sich sonst nur in Zitaten der Stelle bei Basilius, moral., PG 31, p. 848, l. 28; Ioannes Damascenus, Commentarii in epistulas Pauli, PG 95, p. 876, l. 39 und Theodoretus, Scr. Eccl. Theol, PG 82, p. 584, l. 6 findet. Das Verb συμμιμεῖσθαι wird von Platon im Politikos 274d 6 in der Bedeutung „nachahmen“ verwendet; sonst ist es noch bei Mauricius, Strategicon 8,2,70 belegt.

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Wort bzw. die Rede als Mittel der Darstellung in den Fokus rückt. Vor diesem Hintergrund verweist die Aufforderung des Paulus an seine Gemeinde, zu seinen „Mitdarstellern“ zu werden, auf die Nachahmung im Wort bzw. in der Rede, die so konzipiert zu sein scheint, dass sie eine solche Mitdarstellung nicht nur ermöglicht, sondern vielmehr nahelegt und vielleicht sogar bereits inszeniert hat, sofern man sich auf den Text in seiner rhetorischen und materiellen Gestimmtheit eingelassen hat. Dabei wird eine andere Form von Stimmung wirksam, die sich in Anlehnung an Hans Ulrich Gumbrechts 2011 erschienenes Buch Stimmungen lesen wie folgt darstellen lässt: Gumbrecht fordert dazu auf, der eigentlichen Lektüreerfahrung bzw. dem Lesen selbst als einer möglichst unvoreingenommenen Form des Sich auf den Text in seiner Materialität Einlassens wieder mehr Raum zu geben, anstatt sich bei der Lektüre primär von generischen oder fächerspezifischen Vorverständnissen bzw. Erwartungshaltungen leiten zu lassen. Nur durch ein stimmungsvolles Lesen sei – so Gumbrecht – eine „ästhetische Unmittelbarkeit im Umgang mit Texten zurückzugewinnen“33:

„Stimmungen lesen“ heißt immer auch, dass wir aufmerksam sind auf die textuelle Dimension der Formen, welche uns und unseren Körper als potentielle physische Realität umgeben und so „innere Gefühle“ auslösen können, ohne dass dabei notwendig eine Ebene der Repräsentation eingeschaltet sein muss (dies kann immer, aber muss nie der Fall sein). Anders wäre es nicht denkbar, dass das Rezitieren eines lyrischen Textes oder das Vortragen eines Prosatextes mit starker rhythmischer Struktur auch solche Hörer erreicht und beeindruckt, welche die dabei verwendete Sprache nicht verstehen. In der Tat existiert eine besondere Affinität zwischen dem Rezitieren von Texten und der Dimension „Stimmung“.34

Die Verbindung von Rezitieren und Stimmung gewinnt Gumbrecht aus der bereits erwähnten, aus der Musik stammenden Metapher für Stimmung, so dass beliebte literarische Strategien der Stimmungserzeugung vor allem auditiver Natur sind: Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass die Stimmung im Sinne eines Stimmungen-Erzeugens besonders in der Gattung der Lyrik seit dem 18. Jh. eine wichtige Rolle spielte, in der das den Text begleitende Instrument die Rezipienten im wahrsten Sinne des Wortes auf die Thematik einstimmen konnte. Aber auch Texte ohne Musikbegleitung können Stimmungen erzeugen, indem sie – laut oder leise gelesen – den Worten Töne verleihen – sei es durch eine metrische Struktur, sei es durch die Erwähnung vom ‚Flüstern der Pinie‘ und ‚Rauschen des Baches‘, die aufeinander abgestimmt die Rezipienten in eine bukolische Stimmung versetzen können. 33 H.-U. GUMBRECHT, Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur, München 2011, 23. 34 GUMBRECHT, Stimmungen (s. Anm. 33), 13.

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Mit Blick auf den Philipperbrief lässt sich von dieser – literarturwissenschaftlichen – Perspektive aus sagen, dass sowohl auf der lexikalischen Ebene im Text, als auch mit Blick auf den Inhalt und den ‚Sitz im Leben‘ des Briefes das Hören eine zentrale Stellung einnimmt. Es gibt nur sehr wenig Bilder oder Vergleiche, die eine visuelle Stimmung erzeugen könnten – vgl. 2,8 (Tod am Kreuz), 2,15 (Sterne) oder 2,17 (Opferbild) – wogegen die Worte für ‚hören‘ oder auch ‚lesen‘ im Text dominieren; letzteres beinhaltet aufgrund der verbreiteten antiken Praxis des Vorlesens natürlich immer auch ein Hören. Das Gestimmtsein zwischen Paulus und seinen Adressaten ist daher wesentlich ein auditives, wobei Paulus mit Blick auf diese Kommunikationssituation deutlich macht, dass das Kommunizieren durch Lesen und Hören keinesfalls ein situativ bedingter Nachteil ist nach dem Motto ‚Ich kann leider nicht persönlich kommen und sprechen, weil ich im Gefängnis sitze, und schicke daher einen Brief‘. Vielmehr steht das Hören seiner Worte auf der gleichen Stufe mit Paulus’ persönlicher Anwesenheit, zumal – rhetorisch gesehen – dem Hören in der Trias ἐλθώνἰδώνἀκούω (1,27) sogar die höhere Valenz zugeschrieben wird.35 Paulus hört von seiner Gemeinde,36 so wie diese von ihm. Dieser Weg der Kommunikation ist insofern angemessen und nobilitiert, als die Kommunikation über das Medium des Briefes der Vermittlung des Wortes Gottes in Form des Evangeliums entspricht: Das Evangelium bzw. das Wort Gottes wird – ebenso wie Paulus’ Brief – als ein λόγοςverkündigt bzw. gesprochen (vgl. 1,14: τὸν λόγον λαλεῖν), indem es (wie Paulus’ Brief) der Gemeinde vorgelesen wurde. Eine wichtige, und bei der Abfassung sicher beachtete Rezeptionsweise des Briefes ist daher die des Hörens und damit verbunden die der Performanz.37 Hieraus erklärt sich sicher zum Teil auch der diatribische Charakter des Briefes, der nach Art der ursprünglich mündlich vorgetragenen philosophischen Diatriben nichtchristlicher Autoren konzipiert ist.38 Für das Erfassen der Stimmung im Gumbrechtschen Sinn wichtiger ist jedoch das stimmungserzeugende Ein35 Vgl. auch LOHMEYER , Philipper (s. Anm. 26), 75 Anm. 5: „Zugleich fällt auf das Hören der Ton, nicht auf das Sehen.“ Ähnlich MÜLLER, Brief (s. Anm. 6), 77. 36 Zur historischen Situation und Organisation der christlichen Gemeinde in Philippi vgl. L. B ORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995. 37 Vgl. hierzu generell B. OESTREICH, Performanzkritik der Paulusbriefe, WUNT 296, Tübingen 2012. 38 Zur Diatribe bei Paulus vgl. R. B ULTMANN, Der Stil der paulinischen Predigt und die kynisch-stoische Diatribe, FRLANT 23, Göttingen 1910, T. SCHMELLER Paulus und die „Diatribe“. Eine vergleichende Stilinterpretation, NTA 19, Münster 1987, S. K. STOWERS, The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans, SBL.DS 57, Chico 1981 und J. SCHOON-J ANSSEN, Umstrittene „Apologien“ in den Paulusbriefen. Studien zur rhetorischen Situation des 1. Thessalonicherbriefes, des Galaterbriefes und des Philipperbriefes, GTA 45, Göttingen 1991, 25–38.

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spielen von zwei dezidiert mündlichen ‚Gattungen‘ in den Brief, dem Gebet bzw. der Fürbitte zu Beginn des Briefes und dem Christushymnus an zentraler Stelle der Argumentation. Mit einleitendem Gebet und Fürbitte schafft der Brief sich einen theologisch gestimmten Raum,39 in dem die Worte des Paulus wirken sollen und besonders gut wirken können, und mit dem Christushymnus gibt er nach der eigenen Stimme anderen Stimmen Raum, um diese in seinem Brief zu verbreiten und zugleich Stimmung zu erzeugen. Dieser Gedanke folgt der These, dass es sich bei dem Christushymnus um einen vorpaulinischen Hymnus handelt,40 so dass Paulus durch die Integration von Dichtung in den Brief nicht nur ein Prosimetrum erzeugt, das als Gattungsmischung eine spezielle Form der Textlichkeit erhält, sondern in seinem Brief einen Text zitiert, den die Gemeinde bzw. seine Adressaten bereits gut kennen. Damit ergäbe sich aus produktionsästhetischer Sicht die Erwartungshaltung und zugleich aus rezeptionsästhetischer Sicht die Möglichkeit, dass die (ganze) Gemeinde beim Rezitieren des Hymnus in Paulus’ Sprechen einfällt, aus der Zuhörerrolle heraustritt und aktiv an der Gestaltung und Bedeutungsgenese des Briefes im Sinne von „Mitdarstellern“ (συμμιμηταί, 3,17)mitwirkt. An einer besonders wichtigen Stelle des Briefes würde auf diese Weise eine besondere Art der Gemeinsamkeit im Erleben, im Sprechen und im Hören entstehen, hier kämen sich Sender und Empfänger im gemeinsamen Erleben von stimmungserzeugenden, melodischen Worten am nächsten. Interessanterweise bereitet Paulus diese Form des ‚Mitdarstellens‘ in der zum Hymnus hinführenden Passage auch insofern vor, als sich dort die Worte für „Gemeinsamkeit“ häufen: vgl. 2,1 κοινωνία oder 2,2 σύμψυχοι. Im Brief finden die Gemeinde und Paulus durch den gemeinsamen Akt des Sprechens des Hymnus zusammen, die räumliche Distanz der Kommunikationspartner wird durch die gemeinsame auditive Performanz, durch den gemeinsam gesprochenen Referenztext überwunden. Wenn Paulus in diesem Sinne mit und durch andere Stimmen spricht, dann ergibt sich die Erwartungshaltung, dass er es in der Folge nochmals tun könnte, was auch geschieht: Die auffällig betonte inhaltliche Annäherung des Paulus an die vita von Christus41 – er hat wie Christus zahlreiche Leiden auf sich genommen, er ist wie Christus in Gefangenschaft und ist wie dieser mit 39 Zum Begriff und Umgang mit ‚gestimmtem Raum‘ vgl. D. E. WELLBERY, Der gestimmte Raum. Von der Stimmungslyrik zur absoluten Dichtung, in: Gisbertz (Hg.), Stimmung (s. Anm. 7), 157–176 (157–160). 40 Vgl. zur Diskussion mit weiterer Forschungsliteratur GNILKA, Philipperbrief (s. Anm. 24), 131–147, O. HOFIUS, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und Aussage eines urchristlichen Psalms, WUNT 17, Tübingen 21991 und MÜLLER, Brief (s. Anm. 6), 91–115. 41 Vgl. auch die bekannte Wendung in Gal 2,20: ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός

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einem Prozess und dem Tod bedroht, er ist bereit, sich für die Menschen zu opfern und sucht immer wieder die Nähe zu Christus in der Freude (χαρά) – überträgt sich im Verlauf des Briefes mehr und mehr auf die Sprecherrolle. Entstand bereits bei der Verwendung von ἡμᾶςin 3,17 für einen Moment der Eindruck, Paulus rufe sich und Christus als Vorbilder – τύποι – für die geforderte Mimesis auf, so geht die Trennschärfe zwischen dem Wort des Paulus und dem von Christus gegen Ende des Briefes in 4,8–9 gänzlich verloren: Τὸ λοιπόν, ἀδελφοί, ὅσα ἐστὶν ἀληθῆ, ὅσα σεμνά, ὅσα δίκαια, ὅσα ἁγνά, ὅσα προσφιλῆ, ὅσα εὔφημα, εἴ τις ἀρετὴ καὶ εἴ τις ἔπαινος, ταῦτα λογίζεσθε· ἃ καὶ ἐμάθετε καὶ παρελάβετε καὶ ἠκούσατε καὶ εἴδετε ἐν ἐμοί, ταῦτα πράσσετε· καὶ ὁ θεὸς τῆς εἰρήνης ἔσται μεθ' ὑμῶν.

Im Übrigen, Brüder: Was wahr ist, was achtenswert, was gerecht, was lauter, was wohlgefällig, was angesehen, wenn immer etwas taugt und Lob verdient, das bedenkt! Was ihr bei mir gelernt und empfangen, gehört und gesehen habt, das tut! Und der Gott des Friedens wird mit euch sein.42

Spricht hier Paulus oder könnten das nicht auch die Worte sein, die Christus, der übrigens unmittelbar vor dieser Stelle von Paulus namentlich genannt wird, als Sprecherfigur übernimmt? Worte, die er in dieser oder ähnlicher Weise an seine Jünger gerichtet haben könnte, um sie zur Mimesis christou zu bewegen? Würde man an dieser Stelle aus den Worten des Paulus ‚Worte‘ des Christus hören, so wäre die im Christushymnus noch ganz verbal gestaltete Gottesschau – dort wird Christus für die Rezipienten sichtbar und durch das Bild des Kreuzes im Leiden visualisiert (2.8) – um das Wort Gottes durch Christus’ Stimme ergänzt. Und in dem Moment, wo die Gemeinde das Wort Gottes hört oder auch nur zu hören meint, wäre eine höchst intensive theologische Stimmung erzeugt, in und aus der heraus eine direkte, unmittelbare Erkenntnis in Gott gewonnen werden kann. Damit bedient sich Paulus einer rhetorischen Struktur, die die eingangs skizzierte existentielle Verwendung von Stimmung im Sinne einer Erkenntnisweise im Wort erlebbar bzw. nachvollziehbar werden lässt: Nicht jeder Christ muss oder kann in Nachahmung der Leiden Christi oder des Paulus zu einem Märtyrer werden, um in dieser Weise durch Angst und Zittern das Heil zu erlangen. Daher bietet Paulus seinen Adressaten durch die erzeugten Stimmungen eine Möglichkeit, den Erkenntnisprozess beim Hören des Briefes nach- bzw. mitzuerleben, Paulus in seiner Nachahmung von Christus nachzuahmen und diese Nachahmung als συμμιμητής selbst kreativ mitzugestalten, um zur vertieften Erkenntnis im Glauben zu finden und mit dieser Erkenntnis am Ende des Briefes – so wie Paulus es bereits zu Beginn war – freudig gestimmt zu sein. 42 Die Übersetzung folgt der Zürcher Bibelübersetzung, die jedoch zu Beginn τὸ λοιπόν, ἀδελφοί,mit „Zum Schluss, liebe Brüder und Schwestern“ wiedergibt.

Der „Affekt“ der Freude im Philipperbrief und seiner Umwelt PETRA VON GEMÜNDEN „Gaudeo, gaudete“ – mit diesen Worten fasste Johann Bengel1 den Philipperbrief zusammen. Zwar kann man darüber streiten, ob das „Ich freue mich, freut euch!“ das (einzige) Thema des Philipperbriefs darstellt – es ist aber unzweifelhaft „ein Hauptthema“2 dieses Briefes. Denn: „Freude“ ist ein durchgängiges Motiv in diesem Paulusbrief: Elfmal begegnet bei Paulus das Verb χαίρειν,3 fünfmal das Substantiv χαρά.4 Andere Affekte sind diesem zentralen Motiv der Freude zu- und untergeordnet. Die große Bedeutung der „Freude“ im Philipperbrief ist nun aber nicht gerade Niederschlag einer glücklichen, problemlosen Situation. Vielmehr befanden sich sowohl Paulus als auch die Gemeinde von Philippi in einer schwierigen Lage: Paulus ist im Gefängnis und über ihm schwebt die Möglichkeit, dass sein Prozess in ein Todesurteil münden könnte (Phil 1,7; 1,12–18; 2,17.25). Auch seine Adressaten, die Philipper, waren zumindest „Probleme[n] mit der römischen Umwelt ausgesetzt“.5 Sie wurden einge1 J. A. BENGEL, Gnomon Novi Testamenti (1773), Stuttgart 1915, 778: „Summa epistolae: Gaudeo, gaudete“. Vgl. H. SCHLIER, Der Philipperbrief, Kriterien 54, Einsiedeln 1980, bes. 82; J. A. MOTYER, The Message of Philippians. Jesus our Joy, The Bible Speaks Today, Leicester 1984, 11; L. BRUN, Zur Formel ‚In Christus Jesus‘ im Brief des Paulus an die Philipper, SO 1 (1922), 19–37 (21) („epistola de gaudio“); vgl. G. FRIEDRICH, Der Brief an die Philipper, in: J. Becker / H. Conzelmann / G. Friedrich, Die Briefe an die Galater, Epheser, Philipper, Kolosser, Thessalonicher und Philemon, NTD 8, Göttingen 1990, 125–175 (168): „Den Gefangenschaftsbrief [kann man] einen Brief der Freude nennen“. 2 S. VOLLENWEIDER , Kommentar zur Züricher Bibel, Philipperbrief, in: M. Krieg / K. Schmidt (Hg.), Erklärt – Der Kommentar zur Zürcher Bibel, Band 3, Zürich 22011, 2456– 2468 (2457). 3 Davon zwei Mal als Kompositum mit συν- (Phil 2,17.18). Das Simplex findet sich Phil 1,18 (bis); 2,17.18; 2,28; 3,1; 4,4 (bis); 4,10. 4 Phil 1,4.25; 2,2.29; 4,1. 5 Vgl. Phil 1,7; 1,29f.; 4,6 (μηδὲν μεριμνᾶτε); vgl. 2,30. W. POPKES, Philipper 4,4–7: Aussage und situativer Hintergrund, NTS 50 (2004), 246–256 (248); S. J. KRAFTCHICK, Self-Presentation and Community Construction in Philippians, in: P. Gray / G. R. O’Day (Hg.), Scripture and Traditions. Essays on Early Judaism and Christianity in Honor of

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schüchtert und waren diskriminiert (Phil 1,27–30). Ja, die Angst vor Anfeindungen und möglicher Verfolgung könnte die Zuwendung zur Synagogengemeinschaft – und damit zu einer von den Römern offiziell anerkannten Religion – motiviert haben,6 welche die von Paulus so titulierten „Feinde des Kreuzes Christi“ (Phil 3,18) propagierten. Die „Freude“, der im Philipperbrief so eine große Bedeutung zukommt, ist also eine Freude „trotz Todesgefahr und Leiden.“7 Folglich widerspricht sie so ganz unserem modernen alltagspsychologischen Erwartungshorizont, aber auch einem breiten pagan-antiken Erwartungshorizont. Das motiviert eine genauere Betrachtung. In einem ersten Schritt (1) wollen wir uns der antiken Affektpsychologie als Verstehenshintergrund des Philipperbriefes zuwenden, zunächst der „Freude“ im griechischrömischen (1.1) und alttestamentlich-jüdischen Kontext (1.2), dann spezieller der Freude innerhalb der Freundschaftstopik (1.3) und dem bona cogitare (1.4) nachgehen. In einem zweiten Schritt (2) wenden wir uns dem Philipperbrief unter dem Blickwinkel der Adressatenorientierung (2.1) und dem der Autororientierung zu (2.2), fragen also zunächst nach der von Paulus angestrebten Einwirkung auf die Adressatinnen und Adressaten, sodann richten wir den Blick auf Paulus selbst und fragen danach, was er von sich selbst aussagt. In einem letzten Teil (3) soll abschließend eine profilierende Verortung der „Freude“ im Philipperbrief im Rahmen des antiken Kontextes versucht werden.

Carl R. Holladay, Leiden 2008, 239–262 (244); VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2461 denkt an „alltägliche soziale Ausgrenzung und wirtschaftliche Bedrängnis“. L. B ORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S, Leiden 1995, 217–221, geht auf den Hintergrund der Problematik ein: Die Gemeinde von Philippi fühlte sich einer anderen, konkurrierenden politischen Gemeinschaft mit überörtlicher Anbindung angehörig (Phil 3,20; ebd. 222f.), verstand sich also als „Alternative zur bisherigen offiziellen religiös-politischen Weltanschauung der Philipper“ (ebd., 224). Das paulinische Evangelium konnte als „Konkurrenz zum religiös-politischen Programm des Prinzipates“ verstanden werden (vgl. die εὐαγγέλια der Kaiserproklamationen, ebd., 222). Daher geriet die Gemeinde „in Konflikt mit der offiziellen, gesellschaftstragenden und herrschaftlegitimierenden [sic] religiös-politischen Ideologie des frühen Prinzipats“ (ebd., 224). 6 Vgl. VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2466. 7 M. T HEOBALD, Der Philipperbrief, in: M. Ebner / S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament, Kohlhammer Studienbücher Theologie 6, Stuttgart 22013, 371–389 (380).

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1 Antike Affektpsychologie Im Blick auf die „Freude“ in der antiken Affektpsychologie liegt mein Augenmerk auf folgenden Fragen: – Wie wird Freude als positiver Affekt von negativen Affekten abgegrenzt und zeitlich verortet? – Wie wird Freude mit Leid oder sogar Tod in Beziehung gesetzt? – Wo spielt Freude in zwischenmenschlichen Beziehungen eine Rolle? – Wie werden Freude und Gott einander zugeordnet? 1.1 Griechisch-römische Affektpsychologie

Zunächst eine Vorbemerkung zur Terminologie: χαρά und ἡδονή – Freude und Lust – sind in der griechischen Literatur nicht so deutlich geschieden wie in unserem modernen Sprachbewusstsein. Χαρά und ἡδονή erscheinen sogar bisweilen austauschbar, so z. B. bei Platon, Aristoteles und in der frühen Stoa.8 – Die Freude ist für den Menschen von grundsätzlicher Bedeutung und positiv konnotiert: Das zeigt die gängige Grußformel χαῖρε (Lukian, Pro lapsu 2).9 Die antike Tragödie nimmt diese positive Konnotation der Freude auf und kontrastiert ihr gern das Leid: Die Freude schlägt plötzlich 8 Zu Platon vgl. H. CONZELMANN, χαίρω, χαρά, κτλ., ThWNT 9 (1990), 350–362 (351 Z. 36); G. STÄHLIN, ἡδονή, φιλήδονος, ThWNT 2 (1990), 911–928 (913 Z. 21–23); zu Aristoteles, ebd., 913 Z. 24–29. In der Stoa finden wir eine Differenzierung erst durch Chrysipp, s. u. Weitere Begriffe aus dem Wortfeld „Freude“ sind: εὐφροσύνη, τέρψις, ἀγαλλίασις, vgl. CONZELMANN, χαίρω, 351. 9 Das χαῖρε ist semantisch polyvalent: Es kann sowohl den Gruß ausdrücken, als auch die Freude. Beide Bedeutungen von χαῖρε können aktiviert werden, vgl. W. B. STANDFORD, Greek Tragedy and the Emotions. An Introductory Study, London 1983, 102. – Die Wortwahl χαίρειν am Beginn von Kondolenzbriefen legen einerseits nahe, dass in diesen Briefen χαῖρε als Grußformel mit „non-emotional connotations“ verwandt wurde (vgl. C. KOTSIFOU, „Being Unable to Come to You and Lament and Weep with You“. Grief and Condolence Letters on Papyrus, in: A. Chaniotis [Hg.], Unveiling Emotions. Sources and Methods for the Study of Emotions in the Greek World, HABES 52, Stuttgart 2012, 389– 411 [394]). Andererseits lesen wir in Kondolenzbriefen bisweilen εὐψυχεῖν oder εὖ πράττειν – χαίρειν wird hier (wohl da als unangemessen empfunden) vermieden, vgl. M. TRAPP (Hg.), Greek and Latin Letters. An Anthology, with Translation, Cambridge 2003, 35. Immer wieder findet sich die Grußformel χαῖρε auf Grabinschriften, vgl. P. P ILHOFER, Philippi, Band 2: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 119, Tübingen 22009, passim, vgl. auch W. P EEK (Hg.), Griechische Vers-Inschriften, Band 1: Grabepigramme, Berlin 1955, Nr. 1209–1212.1214.1216–1222. Freude kann aber auch – im Sinne der Schadenfreude – negativ konnotiert sein; zu letzterer vgl. Platon, Phil. 48b.49d.c; Aristoteles, rhet. 2,5 (1386b 34–1387a 3 und 1388a 23–25) und D. LACOURSE MUNTEANU, Comic Emotions. Shamelessness and Envy (Schadenfreude); Moderate Emotion, in: ders. (Hg.), Emotion, Genre and Gender in Classical Antiquity, London 2011, 89–112 (bes. 95–97).

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erschreckend in Leid und Unglück um.10 Nur selten wird etwas, was normalerweise Leid bedeutet, mit Freude verbunden: So führt Sokrates in Platons Phaidon aus, dass die Bindung an den Leib den Menschen hindere, das Wahre (τὸ ἀληθές) zu sehen.11 Folglich geht der Philosoph „mit Freuden dahin“12 – er stirbt in der Hoffnung, durch die Trennung vom Leib die geliebte Weisheit zu erlangen13 und verweist auf die Schwäne, die besonders kräftig und vorzüglich singen, „wenn sie merken, dass sie sterben sollen, … weil sie sich freuen, dass sie zu dem Gotte gehen sollen, dessen Diener sie sind.“14 Aristoteles nennt in der Nikomachischen Ethik die χαρά neben der Freundesliebe (φιλία) in einer Aufzählung von Affekten (πάθη),15 die (der 10 O. MICHEL, Art. Freude, RAC 8 (1972), Sp. 348–418 (350). Verwiesen sei nur auf: Sophokles, Oid. T. (Oedipus wird König von Theben – dann wird deutlich, dass er seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet hat), Aischylos, Ag. (der Sieger von Troja vermag trotz eines schrecklichen Sturms heimzukehren – da tötet ihn seine Frau); Aischylos, Pers. (der große, reiche und mächtige König wird von den Athenern geschlagen), Herodot, Buch 1 (Krösus glaubt glücklich zu sein. Er ist sehr reich und mächtig – da stürzt ihn Kyros). Zum Umschlag in kleinen formelhaften Formulierungen vgl. Euripides, Tro. 639–640; Iph. T. 1121. Den Umschlag vom Glück ins Unglück in der Tragödie reflektiert Aristoteles, in poet. 13 (1452b 34–1453a 12). Er schließt aus zu zeigen, „Wie makellose Männer einen Umschlag vom Glück ins Unglück erleben“, „wie Schufte einen Umschlag vom Unglück ins Glück erleben“, „wie der ganz Schlechte einen Umschlag vom Glück ins Unglück erlebt“. Als Möglichkeit bleibt „der Held übrig, der zwischen den genannten Möglichkeiten steht. Dies ist bei jemandem der Fall, der nicht trotz seiner sittlichen Größe und seines hervorragenden Gerechtigkeitsstrebens, aber auch nicht wegen seiner Schlechtigkeit und Gemeinheit einen Umschlag ins Unglück erlebt, sondern wegen eines Fehlers – bei einem von denen, die großes Ansehen und Glück genießen, wie Ödipus und Thyestes und andere hervorragende Männer aus derartigen Geschlechtern.“ (Übers. M. Fuhrmann: Aristoteles, Poetik. Griechisch/Deutsch, übers. und hg. von M. Fuhrmann, Stuttgart 2005, ad. loc.). Ich danke A. Lukinovich für ihre weiterführenden Hinweise. 11 Platon, Phaid. 66b–d. 12 ἅσμενος, vgl. Platon, Phaid. 67e, vgl. Phaid. 68b. 13 Platon, Phaid. 67e.68b.c, vgl. Phaid. 67 a.b. Folglich kann Sokrates nach Platons Darstellung affektfrei und glücklich seinem Ende entgegengehen, s. A. INSELMANN, Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, WUNT 2/322, Tübingen 2012, 63. Zur Freude bei Platon vgl. ebd. 54–78. 14 Platon, Phaid. 84e.85a. Da die Schwäne „dem Apollon angehören, sind sie wahrsagerisch; und da sie das Gute in der Unterwelt voraus erkennen, so singen sie und sind fröhlich“ (Phaid. 85b), (Übers. F. Schleiermacher, in: Platon, Phaidon. Das Gastmahl. Kratylos, bearb. von D. Kurz, Griechischer Text von L. Robin und L. Méridier. Deutsche Übers. von F. Schleiermacher, Platon. Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch, Sonderausgabe, Band 8, Darmstadt 1990). 15 Aristoteles, eth. Nic. 2,4 (1105b 22), in: Aristoteles, Nikomachische Ethik. Übers. und komm. von F. Dirlmeier, Aristoteles Werke in Deutscher Übersetzung 6, Darmstadt 9 1991, 34, übersetzt: „irrationale[n] Regungen“. Die πάθη zählt Aristoteles daselbst zu den Dingen, die in der Seele vorkommen. Als Pathe nennt Aristoteles in diesem Zusam-

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aristotelischen Definition der Affekte entsprechend)16 von Lust (ἡδονή) und Schmerz (λύπη) begleitet werden.17 Höchstes Lebensziel (τέλος) ist für Aristoteles jedoch nicht die Freude, sondern die Eudaimonie.18 Dagegen ist für Epikur das höchste Gut die Lust (ἡδονή), die dem Schmerz (πόνος, häufiger: ἀλγηδῶν) entgegengesetzt wird.19 Als Beweis für die Lust (ἡδονή), „als eigentliches Endziel (τέλος)“20 dient Epikur der Umstand, dass „die Lebewesen von der Stunde ihrer Geburt ab mit der Lust auf bestem Fuße stünden, gegen den Schmerz aber einen natürlichen und nicht erst durch Überlegung bestimmten Abscheu empfänden“,21 ja: dass wir ganz von selbst den Schmerz fliehen.22 Er bestimmt die Lust (ἡδονή) zum einen als Seelenruhe und Schmerzlosigkeit (ἀταραξία und ἀπονία) – das ist menhang: „Begierde, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Liebe, Haß, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid und allgemein alles, bei dem Lust und Schmerz dabei sind“ (1105b 21–23, Übers. O. Gigon, Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Griechisch-deutsch, übers. von O. Gigon, neu hg. von R. Nickel, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2001). 16 Aristoteles, rhet. 3,1 (1378a 20–23); Aristoteles, eth. Eud. 2,2 (1220b 13–14); Aristoteles, m. mor. 1,7 (1186a 13–14). Aristoteles scheint hier in gewisser Weise Platon zu folgen, vgl. Platon, Phil. 47d–50d. Dabei geht die Bedeutung von ἡδονή und λύπη über „Lust“ und „Schmerz“ hinaus. Erstere umschreibt J. M. COOPER, Reason and Emotion. Essays on Ancient Moral Psychology and Ethical Theory, Princeton 1999, 416 als „active relish of something“, letztere als „psychic turmoil“ und folgert: λύπη und ἡδονή „serve much the same function that is covered in Stoic accounts by … terms as throbbing (ptoia), contraction and expansion (sustolē and diachusis), being uplifted and cast down (eparsis and ptōsis), depression (tapeinōsis), and gnawing (dēxis).“ 17 Ähnlich antithetisch verwendet Epikur ἡδονή und πόνος. 18 Aristoteles bestimmt die Eudaimonie in in eth. Eud. 2,1 (1219a 38–39) als „Tätigsein vollendeten Lebens im Sinne vollendeter Trefflichkeit (Tugend)“. Zur Eudaimonie vgl. auch eth. Nic. 10,6 (1176a)–10,9 (1179a). 19 Epikur, Ratae Sententiae 3f.; Diogenes Laertius 10,34.131; vgl. Cicero, fin. 1,29.57; zur Lust als Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens vgl. Diogenes Laertius 10,128f.; sowie (zu den Epikureern) Cicero, fin. 1,29f. Zu letzteren vgl. E. HOFFMANN, Epikurs Lebensfreude, in: E. Falkenberg (Hg.), Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie (FS G. Radbruch), Heidelberg 1948, 7–20 (11): „Schlechthinige [sic] Lust empfinden heißt …: ohne Schmerz sein.“ 20 Diogenes Laertius 10,137. Übers. von Diogenes Laertius hier und im Folgenden von O. Apelt nach: Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. und hg. von O. Apelt, Hamburg 31990). Epikur hat nicht die ἡδονή als Pathos im Blick, sondern die sinnliche Lust, wie A. B ONHÖFFER, Epictet und die Stoa. Untersuchungen zur stoischen Philosophie, Stuttgart 1890, 294, unterstreicht. 21 Diogenes Laertius 10,137. 22 Diogenes Laertius 10,137. Auch bei dem Stoiker Poseidonios finden wir – in einer kritischen Auseinandersetzung mit Chrysipp – die Auffassung, dass die Freude natürlicherweise die Flucht vor Mühen impliziert: „Denn ohne belehrt werden zu können, lassen sich alle kleinen Kinder dazu hinreißen, die Freuden (ἡδονάς) zu genießen, und wenden sich von den Mühen (πόνους) ab“ (R. NICKEL, Stoa und Stoiker, Band 1, Griechischlateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterungen, Sammlung Tusculum, Düsseldorf 2008, Nr. 581 [S. 623], vgl. Nr. 1260).

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die Form der ruhigen Lustempfindungen – sie werden, wie das alpha privativum zeigt, negativ bestimmt.23 Zum anderen bestimmt Epikur die Lust als Freude (χαρά) und Fröhlichkeit (εὐφροσύνη)24 – das ist die Form der bewegten Lustempfindungen. Hier finden wir eine Differenzierung unter den positiven Empfindungen: ἡδονή ἀταραξία

Seelenruhe

ἀπονία

Schmerzlosigkeit

ruhige Lustempfindungen

χαρά

Freude

εὐφροσύνη

Fröhlichkeit

bewegte Lustempfindungen

Die Stoa vertritt das Ideal der Apathie. Sie zählt Lust (ἡδονή) und Betrübnis (λύπη) neben Begierde (ἐπιθυμία) und Furcht (φόβος) zu den vier Hauptaffekten.25 Erstere sind auf die Gegenwart, letztere auf die Zukunft bezogen.26 Die Affekte (πάθη) werden als naturwidrige Regungen der Seele27 negativ gewertet und sind gemäß dem Ideal der Apathie auszureißen. Dabei Die ἀπονία bezieht sich auf den Körper, die ἀταραξία auf die Seele. Diogenes Laertius 10,136 (Freude und Fröhlichkeit werden also als „kinetische Tätigkeiten“ betrachtet, vgl. A. A. LONG / D. N. SEDLEY, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übers. von K. Hülser. Sonderausgabe, Stuttgart 2000, 21 R) und dazu B ONHÖFFER, Epictet (s. Anm. 20), 294. Freude und Fröhlichkeit sind beide auf die Seele bezogen. Auf den Körper bezogen sind hier Essen und Trinken. Epikur unterscheidet sich von den Kyrenaikern u. a. insofern, als diese die „Abwesenheit der Schmerzen (ἀπονία)“ nicht als hinreichend für die Lust ansehen – „sondern nur die mit Bewegung verbundene Lust“ (Diogenes Laertius 10,136). Während die Kyrenaiker die körperlichen Schmerzen als schlimmer als die seelischen betrachten, vertritt Epikur den Standpunkt, die seelischen seien schlimmer, da diese „nicht nur durch Gegenwärtiges, sondern auch durch Vergangenes und Zukünftiges“ gereizt würden (Diogenes Laertius 10,137). 25 γενικὰ πάθη, vgl. SVF III, 386–388.391–394. 26 Vgl. SVF III, 386 = Aspasius in Aristot. eth. Nicom. p. 45,16: „Die Stoiker sagten … die Affekte entstünden aufgrund der Vorstellung von einem Gut und einem Übel. Wenn aber die Seele durch die Annahme, es seien Güter vorhanden, erregt wird, dann sei das Lust (ἡδονή); wenn sie aber durch die Annahme, es seien Übel vorhanden, erregt wird, dann sei das Schmerz (λύπη); die Erwartung von Gütern löse Begierde (ἐπιθυμία), bzw. ein Verlangen nach einem vermeintlichen Gut aus, bei der Erwartung von Übeln sei der ausgelöste Affekt Furcht (φόβος).“ (Übers. Nickel, Stoa [s. Anm. 22], Nr. 783). Vgl. M. P OHLENZ, Die Stoa. Geschichte einer geistigen Bewegung, Göttingen 71992, 148. Vgl. die tabellarische Übersicht in Anm. 166. 27 So Zenon, SVF I, 205. 23 24

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kann die Apathie als „Strategie zur Bewältigung von Bedrängnissen jeder Art“28 verstanden werden. Aber schon bald beginnt man in der Stoa, den positiven Affekt der Freude hervorzuheben: Chrysipp differenziert im Unterschied zu Zenon und Kleanthes:29 Mit χαίρειν bezeichnet er die Affekte, die sich der Vernunft fügen, mit ἥδεσθαι die der Vernunft widerstrebenden Affekte.30 Folglich ist χαρά bei Chrysipp positiv konnotiert – sie gehört nicht zu den zu bekämpfenden πάθη, sondern zu den εὐπάθειαι.31 Chrysipps Unterscheidung von Freude und Lust ist auch für die spätere stoische Lehre bestimmend,32 u. a. für Seneca, der die positiv konnotierte Freude (gaudium) von dem negativ gewerteten Vergnügen (voluptas) abhebt: erstere ist der Tugend zugeordnet, letzteres dem Laster.33 Freude und Schmerz, gaudium und dolor, werden in Beziehung zueinander gesetzt: Zwar besteht nach Seneca ein Unterschied zwischen Freude und Schmerz34 – gleichwohl stehen sie auf gleicher Ebene.35 Beide – Freude (gaudium) und Schmerz (dolor) – sind auf die Tugenden (virtutes) bezogen. Insofern besteht zwischen ihnen kein Unterschied.36 Wahre Freude (gaudium, laetitia) ist nach Seneca nicht außen zu suchen,37 sondern liegt im Menschen selbst.38 Sie ist eine „ernste Sache“ NICKEL, Einführung (s. Anm. 22), 994–1009 (1000). MICHEL, Freude (s. Anm. 10), 356f. 30 MICHEL, Freude (s. Anm. 10), 357. 31 MICHEL, Freude (s. Anm. 10), 357. 32 Vgl. allgemein zu den Stoikern: Diogenes Laertius 7,116: „Die Freude (χαρά), sagen sie, stehe im Gegensatz zu der Lust (ἡδονή) als eine vor der Vernunft wohlgerechtfertigte Gemütserregung …“ (übers. O. Apelt). Jedoch scheinen die Stoiker in ihrem Wortgebrauch nicht immer konsequent: Bisweilen verwenden sie ἡδονή auch als Oberbegriff von χαρά, vgl. BONHÖFFER, Epictet (s. Anm. 20), 293f. 33 Seneca, benef. 4,2,4; epist. 23,5f. und unten. 34 Seneca, epist. 66,19: man wird „das eine erstreben, das andere vermeiden.“ 35 „… auf gleicher Ebene steht, sich mit Maßen zu freuen und mit Maßen Schmerzen zu empfinden (in aequo est moderate gaudere et moderate dolere)“ (Seneca, epist. 66,29). 36 Seneca, epist. 66,14. 37 Das würde bedeuten, dass man seine Freude „unter [eine] fremde Macht gesetzt hat“ (Seneca, epist. 23,2; vgl. epist. 72,4; 124,24). Die außerhalb des Menschen liegenden Anlässe zur Heiterkeit (hilaritates) „erfüllen nicht das Herz, sie glätten die Stirn, sind belanglos, du müßtest denn meinen, der freue sich, der lacht“ (Seneca, epist. 23,3, Übers. Rosenbach). 38 Seneca, epist. 23,3.5f. Seneca kontrastiert in epist. 23,5f. die oberflächliche Freude (voluptas) der Masse, der tiefgründigen Freude, die in der Freude „an dem Deinen“ besteht (de tuo gaude). Dieses „de tuo“ expliziert er als (Freude) „an dir selber und dem besten Teil deiner selbst.“ Hier besteht der entscheidende Unterschied zwischen gaudium und voluptas: der erste (bisweilen auch als laetitia bezeichnete) Zustand entsteht aus uns und in uns selbst und unterliegt folglich nicht der Macht äußerer Einflüsse, während der 28 29

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(uerum gaudium res seuera est). Und sie ist nur bei dem zu finden, „der mit gelöster, heiterer Miene den Tod verachtet, dem Armen sein Haus öffnet, die Vergnügungen fest am Zügel hält, dessen Sinnen dem geduldigen Ertragen von Schmerzen gilt.“39 Nur „wer das bei sich bedenkt“ und erkannt hat, woher die Freude (gaudium) entstammt, „lebt in großer Freude (in magno gaudio est)“ (Seneca, epist. 23,4). Dabei ist es der Weise selbst, der wahre Freude erwirbt.40 1.2 Alttestamentlich-jüdischer Kontext41

Die menschliche Lebensfreude42 wird gesteigert in kultischer Festfreude:43 Die gottesdienstliche Freude ist getragen von der gegenwärtig erfahrenen Gottesnähe.44 Gleichzeitig ist sie Gemeinschaftsfreude. Sie ist also vertikaUrsprung der voluptas „außer uns liegt und in Objekten, deren Gegenwart wir nicht sicher sind“ (M. FOUCAULT, Die Sorge um sich, übers. von U. Raulff und W. Seitter, M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Band 3, Frankfurt a. M. 41995 [1989], 91). Folglich handelt es sich „um eine prekäre Freude, unterhöhlt durch die Furcht vor dem Entzug und erstrebt mit der Kraft des Begehrens, dem Befriedigung versagt bleiben kann“ (FOUCAULT, Sorge, 91), vgl. Seneca, epist. 72,4. 39 So die Paraphrase von Seneca, epist. 23,4 von M ICHEL, Freude (s. Anm. 10), 361. 40 Vgl. auch Seneca, epist. 59,14–18, bes. 59,16: „nicht kann sich freuen, wenn nicht der Tapfere, wenn nicht der Gerechte, wenn nicht der Selbstbeherrschte“, sowie CONZELMANN, χαίρω (s. Anm. 8), 356 Z. 28–30. – Was den Umgang mit äußeren Umständen angeht, verweist Epiktet in diss. 2,5,18–23 auf das Vorbild des Sokrates: mit den äußeren Umständen wie Gefängnis, Exil, den Giftbecher, den Verlust der Frau, etc. hat der Mensch (der Philosoph) wie ein geschickter Ballspieler umzugehen. Es gilt, den Ball aufzufangen und zu werfen, ohne sich an ihn zu binden. Gelingt einem Menschen das, so wird ihm derjenige, der ihm teilnehmend zugeschaut hat, loben und sich mit ihm freuen (ἐπαινέσει καὶ συνησθήσεται). Denn wenn die Freude wohl begründet (vernünftig) ist, dann (ist es auch) das Miteinander-Freuen (ὅπου γὰρ τὸ χαίρειν εὐλόγως ἐκεῖ τὸ συγχείρειν, Epiktet, diss. 2,5,23). Die (wahre) Freude wird also bei Epiktet auch angesichts des Leidens in der Mitfreude gesehen, die jemand angesichts des Miterlebens eines vorbildlichen Verhaltens erlebt. 41 Hier beschränke ich mich auf einige Anmerkungen. 42 An Essen (Koh 3,13), Trinken (Ri 9,13) und Musik (Gen 31,27, vgl. die Klage Jes 24,7–9), an der Hochzeit (Cant 3,11b) und der frisch anvertrauten Ehefrau (Dtn 24,5), an Kindern, Gesundung und Gemeinschaft (Tob 10,13; 11,15.16) etc., vgl. hier und zum Folgenden G. T HEISSEN, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 177–180. Sir 30,21f., wo die εὐφροσύνη καρδίας der Trauer (λύπη) entgegengesetzt wird, heißt es: „Freude des Herzens bedeutet das Leben eines Menschen“ (Übers. Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von W. Kraus und M. Karrer, Stuttgart 2009). 43 Belege bei R. E. B ACKHERMS, Religious Joy in General in the New Testament and Its Source in Particular, Fribourg 1963, 20f. 44 Vgl. die Psalmen, welche die am Heiligtum erfahrene Gottesnähe thematisieren: Ps 43,3f.; 73,17.28; 118,15. Zur Freude an Gott vgl. auch Jes 12,6; 61,10. Die Gottesnähe kann auch über das Studium des Gesetzes erfahren werden: Spätere, bes. deuteronomis-

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le und horizontale Beziehungsfreude. In der vorexilischen prophetischen Tradition, besonders bei Hosea, kann diese kultische Freude in ihrer Entleerung scharf kritisiert, ja auf eine Stufe mit heidnischen Kultpraktiken gestellt werden: „Freue dich nicht Israel, jauchze nicht wie die Heidenvölker!“45 Besonders in exilisch-nachexilischen und zwischentestamentlichen Texten begegnen wir der Vorstellung, dass das gegenwärtige Leiden (infolge des Eingreifens Gottes) durch zukünftige Freude abgelöst wird.46 Die für die Zukunft erwartete Freude kann bisweilen auch schon die notvolle Gegenwart bestimmen,47 so aufgrund apokalyptischer Erwartungen wie in syrBar 52,6f.: „Erfreut euch [sc. die Gerechten] an dem Leiden, das ihr jetzt leidet! Denn warum schaut ihr (danach) aus, daß eure Feinde untertisch und weisheitlich geprägte Texte, sprechen von der Freude am Gesetz (vgl. Ps 1; 19,9; 119,14.24.47.70.77.111.117.174), variiert wird das als Freude an der Weisheit (Sir 4,18). Zur rabbinischen Literatur vgl. weiter die Freude anlässlich einer gottgefälligen Handlung in bBer 31a; bShab 30b; bPes 117a. 45 Hos 9,1. 46 Vgl. Ps 126,5; Jes 29,19; 35,10; 51,11; 61,7, Jer 33,11; Sach 8,19 u. ö., sowie Tob 13,14: „… selig alle Menschen, die über dich betrübt sein werden wegen aller deiner Züchtigungen, denn sie werden sich in dir freuen und alle deine Freude sehen in Ewigkeit“ (Übers. B. EGO, Buch Tobit, JSHRZ II/6, Gütersloh 1999, 997); vgl. auch (im Blick auf die Gemeinde, die Söhne des Lichts bzw. die Söhne des Bundes): 1QM 1,8f.; 13,16; 14,4; 17,6–9 u. ö. – Später haben die Rabbinen eine Lehre von der unvollkommenen Freude in der Gegenwart und der vollkommenen Freude in der Zukunft entwickelt: „Die Freude in dieser Welt ist nicht vollkommen; aber in Zukunft wird unsere Freude vollkommen sein“ (Pesikta 29 [189a.b]), vgl. THEISSEN, Erleben und Verhalten (s. Anm. 42), 178f. – Hier und im Folgenden v. a. nach: H. MILLAUER, Leiden als Gnade. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung zur Leidenstheologie des ersten Petrusbriefes, EHS.T 56, Frankfurt a. M. 1976, 167–179. 47 U. a. aufgrund der den Psalmbeter im Kultus erfüllenden Gewissheit der Heilsgegenwart Gottes (Ps 16,8–10). Ps 16 dürfte Niederschlag kultischer Erfahrung(en) sein, so F.-L. HOSSFELD / E. ZENGER, Die Psalmen I. Psalm 1–50, Würzburg 1993, 108. Der Psalm ist nachexilisch (ebd., 109; vgl. M. OEMING, Das Buch der Psalmen. Psalm 1–41, NSK.NT 13/1, Stuttgart 2000, 119). In rabbinischer Literatur v. a. aus tannaitischer Zeit finden wir auch den Topos gegenwärtiger Freude trotz Leiden (MILLAUER, Leiden [s. Anm. 46], 169–173). Motiviert wird die Freude in der Gegenwart durch das – als Sühne interpretierte – Leiden, das in der zukünftigen Welt ein Leben in vollkommener, ewiger Freude zur Folge haben wird, vgl. Mekh Ex 20,23 (79 b) (H.-L. STRACK / P. B ILLERBECK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Band 2, München 21956, 277); W. W ICHMANN, Die Leidenstheologie. Eine Form der Leidensdeutung im Spätjudentum, BWANT 4/2, Stuttgart 1930, 59–61; MILLAUER, Leiden [s. Anm. 46], 170. W. NAUCK, Freude im Leiden. Zum Problem einer urchristlichen Verfolgungstradition, ZNW 46 (1955), 68–80 (76f.) stellt im Blick auf Jak 1,2.12; 1Petr 1,6; 4,13; Mt 5,11f.; Lk 6,22f. heraus, dass im Neuen Testament die christliche χαρά und ἀγαλλίασις erstens in Christus begründet ist und zweitens „nicht nur eine Freude auf den Lohn, der nach dem Leiden bevorsteht, sondern … eine Freude über das im Glauben an Christus empfangene Heil [ist], in dem der zukünftige Lohn bereits gegenwärtig ist.“

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gehn? Bereitet eure Seelen vor auf das, was für euch zubereitet ist, und macht eure Seelen fertig für den Lohn, der für euch bereitliegt!“48 Wie in der Stoa, so findet der Weise auch nach Philo die (echte) Freude „nicht in den Dingen um sich“, sondern „in sich selbst.“49 Jedoch wird dem Menschen, anders als in der Stoa, die Freude geschenkt.50 Gott allein eignet die Freude:51 Nur Gott ist die reine, ungetrübte, von dem Gegensatz

48 Übers. A. F. J. KLIJN, Die syrische Baruch-Apokalypse, JSHRZ V/2, Gütersloh 1976, 157. MILLAUER, Leiden (s. Anm. 46), 172, betrachtet den Kontext und kommt zu dem Schluss, dass es in syrBar 52,6f. nicht um eine Freude über das Leiden geht, sondern dass an dieser Stelle die Vorstellung von der Sühnewirkung des Leidens im Hintergrund steht und die „Heilssicherheit, nicht das Leiden“ Ursache der Freude ist. Auch in den Hodajot (1QH 3,21–23) steht neben dem Jubel über die Erwählung des heiligen Rests das Leiden – es handelt sich um eine „Freude … trotz des Leidens, sie hat ihre Wurzel nicht im Leiden selbst“ (MILLAUER, Leiden [s. Anm. 46], 173), vgl. 1QH 11,3–14.15–33. Nur selten findet sich in jüdischen Texten eine Aussage, die darüber hinausgeht und das Leiden selbst positiv wertet: In 2Makk 6,30 seufzt Eleasar vor seinem Ende: „Dem Herrn … ist bekannt, dass ich, der ich dem Tode hätte entgehen können, harte körperliche Pein unter der Geißel ertrage, sie jedoch aus Gottesfurcht in meiner Seele gerne (ἡδέως) erdulde.“ Vgl. 4Makk 9,28b.29.31, M ILLAUER, Leiden (s. Anm. 46), 173–175. 49 Philo, det. 137 (Die Übersetzungen von Philo von Alexandrien folgen in diesem Beitrag alle der Ausgabe von L. Cohn u. a. [Hg.] Philo von Alexandrien. Die Werke in Deutscher Übersetzung, Bände 1-7, Berlin 21962–1964). 50 Philo, leg. all. 3,219: „Der Herr“ ist es, der „in den Seelen die Glückseligkeit (τὸ εὐδαιμονεῖν) sät und erzeugt.“ Vgl. Philo, mut. 156: „So soll die Kreatur finster blicken – naturgemäß, denn sie ist von sich aus haltlos und leidvoll –, sie soll aber aufgerichtet werden von Gott und lachen; denn Stützpunkt und Freude ist einzig dieser“. Anders Philo, praem. 31, wo Philo in Bezug auf Isaak schreibt: „Nächst dem Vertrauen ist die Freude als Preis ausgesetzt, und zwar für den, der sich durch seine natürliche Veranlagung mühelos die Tugend angeeignet hat und darin Sieger geblieben ist …“; vgl. weiter Philo, her. 2,7. Zur Freude beim Tun des Gesetzes bei Philo vgl. H. A. W OLFSON, Philo. Foundations of Religious Philosophy in Judaism, Christianity, and Islam, Band 2, Cambridge 21948, 224f. 51 „… soli divinae naturae proprium est gaudere“ (Philo, quaest. in Gen. 4,19), vgl. die Feststellung von Mose in Philo, spec. leg. 2,51–53, dass die Festfreude nur Gott eigne. „Denn im Hinblick auf den traurigen und ängstlichen Charakter unseres Geschlechtes und die Fülle seiner zahllosen Uebel, erzeugt durch die Begehrlichkeit der Seele und die Gebrechen des Körpers, gemehrt durch die Wechselfälle des Geschickes und die Anfechtungen unserer Mitmenschen, die unsagbar viel Böses uns antun oder von uns erfahren – (im Hinblick auf all dies) mochte er (sc. Mose) mit Recht fragen, ob einer, der in dieser Flut freiwilliger und unfreiwilliger Geschäfte sich bewegt, ohne jemals ruhig sein oder im Hafen eines gefahrlosen Lebens sicher landen zu können, das wahre, nicht ein sogenanntes, Fest wirklich begehen kann, freudig schwelgend in der Betrachtung der Welt und der Dinge, die darin sind, des Zusammenhanges der Natur und der harmonischen Beziehungen der Gedanken und Werke zueinander“ (Philo, spec. leg. 2,52).

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völlig freie Freude vorbehalten.52 Daneben gibt es „einen Ausfluss von ihr, die gemischte, mit etwas Leid durchsetzte Freude; und ein weiser Mann wird schon als das höchste Geschenk eine solche Mischung entgegennehmen, in der mehr Angenehmes als Unangenehmes enthalten ist.“53 Während in der Stoa die Freude auf die Gegenwart bezogen ist, kann sich die Freude bei Philo sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Zukunft beziehen.54 1.3 Der griechisch-römische Freundschaftsgedanke

„Freude“ begegnet in der antiken Freundschaftstopik. Hier scheint die soziale Dimension der Freude auf: In seinen Ausführungen über die Freundschaft55 stellt Sokrates nach Xenophon fest: „und er [sc. der gute Freund] freut sich (εὐφραίνων) an meisten, wenn es gut geht, und er ist der größte Trost, wenn es schlecht geht.“56 Ganz ähnlich Aristoteles, der fest52 Plato versuchte die reine Freude als von den sinnlichen Affekten ungemischte Freude zu bestimmen, vgl. Platon, Phil. und H.-G. GADAMER, Platos dialektische Ethik. Phänomenologische Interpretationen zum Philebos, Hamburg (1931) 1983, 151–153; L. STEIGER , Freude II, TRE 11 (1993), 586–589 (588 Z. 15–18). 53 Spec. leg. 2,55, Übers. I. Heinemann, in: COHN u. a. [Hg.], Philo Deutsch II [s. Anm. 49], Hervorhebung von mir, P.v.G. 54 Praem. 32; det. 120. In mut. 163 versteht Philo die Hoffnung als „Freude vor Freude“: „Philo verdoppelt die Freude, indem er die Hoffnung zur Vorfreude macht, und bezieht sie auf Gegenwärtiges und Zukünftiges“ (T HEISSEN, Erleben und Verhalten [s. Anm. 42], 179). Bei Philo wie im Alten Testament (Prov 15,21) und der paganen Literatur gibt es neben der positiven Konnotation von „Freude“ auch noch die Freude des Toren. 55 Xenophon, mem. 2,4,6f.: „(6) Denn der gute Freund stellt sich überall dem Freunde zur Verfügung, wo es vonnöten ist, sowohl bei der Erledigung eigener Geschäfte wie in öffentlichen Angelegenheiten; und wenn es darum geht, jemandem etwas Gutes zu tun, so steuert er bei, und wenn eine Gefahr droht, so leistet er Hilfe; teils beteiligt er sich am Aufwand, teils wirkt er mit, teils redet er zu, teils braucht er Gewalt, und freut sich am meisten, wenn es gut geht, und er ist der größte Trost, wenn es schlecht geht. (7) Was auch die Hände jedem helfen und die Augen vorausschauen und die Ohren voraushören und die Füße erreichen, ein Freund bleibt hinter keinem von diesen mit seinen Wohltaten zurück; was jemand oftmals auch für sich selbst nicht erarbeitete oder nicht sah oder nicht hörte oder nicht erreichte, das hat der Freund für den Freund geleistet. Doch gleichwohl mühen sich manche, ihre Bäume zu pflegen um der Früchte willen, um den allereinträglichsten Besitz aber, den man Freund nennt, kümmern sich die meisten nur unaufmerksam und nachlässig“ (Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, GriechischDeutsch, hg. von P. Jaerisch, Darmstadt 21977). 56 Xenophon, mem. 2,4,6. – Plutarch, der in platonischer Tradition steht, thematisiert in De adulatore mehrmals den Zusammenhang zwischen Freundschaft und Freude: So in Plutarch, mor. 49F, wo wir lesen: „… es bringt die Freundschaft eben so sehr Wonne und Lust (ἡδονὴν … χάριν) im Glück, als sie im Unglücke den Kummer und die Betrübniß (λύπας καὶ ἀπορίας) stillt.“ Vgl. Plutarch, mor. 51A.B: „Weil … die Freundschaft unter Allem das süßeste ist und mehr als alles Andere erfreut (οὐδὲν ἄλλο μᾶλλον εὐφραίνει).“

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stellt: „Der Freund aber ist der, der liebt und dessen Liebe erwidert wird …. Legt man dies zugrunde, dann muß notwendigerweise der ein Freund sein, der sich über die guten Dinge mitfreut und über die schmerzlichen Dinge mitleidet, nicht wegen einer anderen Sache, sondern jener Person wegen. Denn wenn das geschieht, was man will, freuen sich alle, wenn das Gegenteil eintritt, empfinden sie Schmerz, so dass Schmerz- und Lustempfindungen ein Zeichen für das Wollen sind.“57 Eine besondere Rolle spielt die „Freude“ in der Gemeinschaft der Epikureer, der Gemeinschaft der „Freunde“.58 So lehrte Epikur nach Cicero, fin. 1,67: „Die Freundschaft [begründet] nicht nur die Lust (voluptas) auf die zuverlässigste Weise, sondern erzeugt auch Lust für die Freunde, wie auch für den einzelnen selbst. Man genießt diese Lust nicht bloß, solange sie gegenwärtig ist, sondern wird auch bestärkt in der Hoffnung auf weitere Lust zu einer späteren Zeit. Freundschaft [wird] mit der Lust verknüpft (amicitia cum voluptate conectitur). Denn wir freuen uns an der Freude der Freunde genauso wie an unserer eigenen und leiden gleich wie sie an ihrem Kummer.“59 Ja, was das Leiden angeht, ist Epikur bereit, noch weiter zu gehen, wie wir Plutarch entnehmen können: „Obwohl er“, so lesen wir in Adversus Colotem,60 „die Freundschaft um des Genusses (τῆς ἡδονῆς) willen wählt, sagt er [Epikur], daß er zugunsten der Freunde die größten Schmerzen auf sich nehme (ἀλγηδόνας ἀναδέχεσθαι).“61 Als er „im Sterben lag“ stellte Epikur fest: Die (aus der Freundschaft entspringende) Freude bildet „ein und mor. 54D.E: „Da … das Vergnügen [dem Freunde und dem Schmeichler] gemein ist (τὸ τῆς ἡδονῆς κοινόν ἐστι), weil der Redliche an den Freunden nicht weniger Gefallen hat (χαίρει), als der Schlechte an den Schmeichlern.“ (Die Übersetzungen aus Plutarch folgen: Plutarch, Moralia, Band 1, hg. von C. Weise und M. Vogel, Wiesbaden 2012). 57 Aristoteles, rhet. 2,4 (1381a 1–8), Übers. C. Rapp, in: Aristoteles, Rhetorik, übers. und erl. von C. Rapp, Aristoteles. Werke in Deutscher Übersetzung, Band 4/1, Darmstadt 2002. 58 Die Epikureer bezeichneten sich (wie auch die Pythagoräer) gegenseitig als „Freunde“ und wurden auch als solche bezeichnet, vgl. Diogenes Laertius 10,9–11, zu den Pythagoräern vgl. Diogenes Laertius 8,10. 59 „… nam et laetamur amicorum laetitia aeque atque nostra et pariter dolemus angoribus“, vgl. Marcus Tullius Cicero, Über die Ziele des menschlichen Handelns. De finibus bonorum et malorum, hg., übers. und komm. von O. Gigon und L. StraumeZimmermann, München 1988, 62f. 60 LONG / SEDLEY, Philosophen (s. Anm. 24), 22H = Plutarch, Adv. col. 1111B (Usener 546). 61 Nach Diogenes Laertius 10,121 geht der epikureische Weise sogar „unter Umständen für einen Freund in den Tod“. Zur Freundschaft bei Epikur vgl. M. ERLER , Die Schule Epikurs, in: Die Philosophie der Antike, Band 4: Die Hellenistische Philosophie, hg. von H. Flashar, Grundriss der Geschichte der Philosophie, Antike 4/1, Basel 1994, 203–380 (166f.).

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ausreichendes Gegengewicht“ gegen „die Schmerzen, die jedes erdenkliche Maß überschreiten.“62 Von stoischem Gedankengut geprägt ist Ciceros Laelius de Amicitia.63 Er betont: Ein wohlwollender Freund macht das Leben „lebenswert“. Dazu führt er aus: „Was wäre ein noch so großer Gewinn im Glück, wenn du keinen hättest, der sich genauso wie du selbst darüber freute (qui illis aeque ac tu ipse gauderet)? Unglück gar wäre schwer zu tragen ohne einen, der es noch schwerer nähme als du.“64 Schon gemeine und mindere Freundschaft erfreue (delectat) und nütze – umso mehr die wahre und vollkommene: „Denn Freundschaft macht ein Glück noch glänzender, das Unglück aber, indem sie teilt und mitteilt, leichter.“65 Die Gemeinschaft hat eine deutlich politische Dimension bei Platon und Aristoteles. So lesen wir in Platons Staat: „Nun bindet doch die Gemeinschaft der Lust und Unlust (ἡδονῆς τε καὶ λύπης) zusammen, wenn soweit wie möglich alle Bürger, sooft etwas entsteht und vergeht, sich auf gleiche Weise freuen und betrüben (χαίρωσι καὶ λυπῶνται)? Allerdings freilich, sagte er.“66

LONG / SEDLEY, Philosophen (s. Anm. 24), 24D = Diogenes Laertius 10,22 (Usener 138). Gegenwärtigen Schmerzen begegnet Epikur also durch Erinnerung an Lustempfindungen in der Vergangenheit. M. HOSSENFELDER, Epikur, München 32006 (1991), 95 spricht von „einer Art Psychotechnik der Verdrängung oder Überlagerung“. 63 Vgl. Cicero, Laelius. Über die Freundschaft, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von R. Feger, Stuttgart 1986, 75. 64 Cicero, Lael. 22, Übers. von Cicero, Lael. hier und im Folgenden von R. Feger (s. Anm. 63). Vgl. Lael. 51: „… nicht so sehr der durch den Freund verschaffte Vorteil als vielmehr des Freundes Liebe selbst erfreut (amor ipse delectat)“ und Lael. 55: „… so könnte doch ein Leben, das nicht durch Freunde verschönt und ganz verlassen ist, nicht erfreulich sein (esse iucunda).“ Nun ist, wie wir oben gesehen haben, nach stoischer Auffassung wahre Freude nicht außen zu suchen. Das scheint in Spannung zur Bedeutung der Freunde zu stehen. Das verneint Cicero, wenn er in Cic. Lael 30 schreibt: „Denn je mehr Zutrauen einer zu sich hat, je besser er durch männlich-starken Sinn und Weisheit so gesichert ist, daß er keines anderen bedarf und ganz in sich selbst zu ruhen glaubt, desto mehr zeichnet er sich durch Suche und Pflege von Freundschaften aus.“ Auch Seneca reklamiert die αὐτάρκεια für den Weisen und betont, dass dieser zwar ohne Freunde leben könne, aber nicht wolle (Seneca, epist. 9,3.5); vgl. auch A. J. MALHERBE, Paul’s Self-Sufficiency (Philippians 4:11), in: J. T. Fitzgerald (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World, NT.S 82, Leiden 1996, 125–139 (136). 65 Cic. Lael. 22, Übers. R. Feger (s. Anm. 63). 66 Fortsetzung des Zitats: „Dagegen die Sonderung in dergleichen löst auf, wenn einige tief betrübt (περιαλγεῖς) und andere hoch erfreut werden (περιχαραῖς γίγνωνται) über dieselben Ereignisse des Staats oder derer im Staat? Wie könnte es anders sein“ (Platon, rep. 5,462b.c). 62

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Nach Aristoteles67 bringt Freundschaft Freude mit sich, wobei hier differenziert werden muss:68 Nur die Tugendhaften können sich am anderen um dessen selbst willen freuen,69 nicht jedoch diejenigen, die eine Freundschaft um des Nutzens oder der Lust willen pflegen.70 Bei Dion Chrysostomos finden wir eine Entsprechung von individueller und sozialer Dimension, wenn er schreibt: „Dagegen kann es etwas Schöneres und Göttlicheres als Freundschaft und Eintracht zwischen Mann und Mann und Stadt und Stadt überhaupt nicht geben …. Wann befällt einen der Kummer (λυπηρά) weniger, als wenn man jemand hat, der mit einem den Schmerz teilt und ihn tragen hilft? Wem macht das Glück (ἥδιον) mehr Freude als dem, der damit nicht nur sich selbst, sondern auch andere erfreut (εὐφραίνουσιν)? Ich zumindest könnte jenen Mann nicht glücklich nennen, der niemand hat, der sich mitfreut (συνηδόμενον).“71 1.4 Das bona cogitare – die Technik der avocatio und revocatio

Auf Epikur geht eine psychagogische Methode zurück, die sich in der Antike weiter Verbreitung erfreute: Die Technik, den Sinn vom Negativen (vom Übel) weg (avocatio) zum Positiven (zu den Genüssen) hinzuwenden (revocatio).72 Zur politischen Dimension vgl. Aristoteles, eth. Eud. 7,1 (1234b 22–24): „Es gilt nämlich als Hauptaufgabe der Staatskunst, Freundschaft zu stiften und die Tugend gilt als nützlich für dieses Ziel …“. 68 Während „gesellschaftlich Gewandte“ eine Gegengabe aus dem gleichen Bereich empfangen, ist das „bei Liebhaber und Geliebtem“ nicht der Fall: „Denn hier ist nicht das gleiche Erlebnis Ursache der Lust: der eine freut sich am Anblick des Geliebten, dieser aber an den Aufmerksamkeiten des Liebhabers.“ (Aristoteles, eth. Nic. 8,5 [1157a 6–8], Übers. F. Dirlmeier [s. Anm. 15]). 69 Vgl. Aristoteles, eth. Nic. 8,5 (1157a 18–20): „Jedoch um ihrer selbst willen [sc. können befreundet sein, P.v.G.] offenbar allein die Guten. Denn Menschen minderen Wertes können sich aneinander nicht freuen (οὐ χαίρουσιν ἑαυτοῖς), außer es käme irgendwie ein Nutzen dabei heraus“ (Übers. Dirlmeier [s. Anm. 15]). 70 Aristoteles unterscheidet drei Arten von Freundschaft: Die (kurzfristige) Freundschaft um des Nutzens oder um der Lust willen und die (dauerhafte) Freundschaft der Tugendhaften um der Freunde willen. Aristoteles, eth. Nic. 8,3f. (1156a 6–1156b 6). Vgl. die Erklärung zu der letzten Kategorie: „… die tugendhaften sind aber einander wegen sich selbst Freunde; denn sie sind es, sofern sie tugendhaft sind“ (eth. Nic. 8,5 [1157b], Übers. O. Gigon [s. Anm. 15]). 71 Dion Chrysostomos, or. 41,13. In or. 41,12 lesen wir: „Denn niemals, kann man sagen, ist die Frucht des Hasses angenehm oder nützlich, sondern im Gegenteil unangenehmer und bitterer als alles andere, und keine Last ist jemals so schwer und mühselig zu tragen wie Feindschaft. In Zeiten des Glückes ist sie stets heimlich am Werk, Unglück vermehrt sie, dem Leidtragenden (λυπουμένω) verdoppelt sie das Leid (λύπην), die Glücklichen lässt sie das Glück nicht nach Gebühr genießen (χαίρειν).“ 72 Vgl. Cicero, Tusc. 3,33 („… das Nachdenken über den Kummer … vermeiden und sich auf die Betrachtung der Genüsse … konzentrieren [avocatione a cogitanda molestia 67

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So wird z. B. in der Konsolationsliteratur immer wieder versucht, der Trauer angesichts des Verlusts einer nahe stehenden Person durch die Mahnung entgegenzutreten: Freue dich …, dass du diese wertvolle Person gehabt hast. So schreibt Seneca z. B. dem Polybius: „Freue dich (gaude) …, dass du gehabt hast einen so guten Bruder, und den gewinnbringenden Umgang mit ihm. Denke daran, tief beglückend war, was du gehabt …“.73 Hier wird das Denken vom Verlust weg auf das Positive fokussiert74 und Trauer in dankbare Freude gewandelt.75 Wenden wir uns nun nach diesem Blick in die römisch-hellenistische Umwelt wieder dem Philipperbrief zu. Trotz einer für die Gemeinde und noch deutlicher für Paulus schwierigen Situation zieht sich das Motiv der Freude in auffallender Weise durch den Brief. Paulus mahnt die Philipper zur Freude und schreibt von seiner eigenen Freude. Die Freude der Philipper und die Freude des Paulus hängen eng zusammen und sind schwer zu trennen. Gleichwohl möchte ich im Folgenden in einem ersten Schritt das Augenmerk auf die Adressatenorientierung der paulinischen Ausführungen legen (also der Frage nachgehen: Wie versucht Paulus auf die Philipper et revocatione ad contemplandas voluptates]“); 3,35 („Denn jener Hinblick auf die Genüsse, der uns nach Epikurs Meinung vom Betrachten des Übels ablenken soll, ist nichtig“); 3,76 („Andere lenken vom Übel zum Guten ab [qui abducunt a malis ad bona] wie Epikur); Cicero, fin. 1,57, u. ö. vgl. P. A. HOLLOWAY, Bona Cogitare. An Epicurean Consolation in Phil 4:8–9, HTR 91 (1998), 89–96 (90f.), vgl. weiter: R. KASSEL, Untersuchungen zur griechischen und römischen Konsolationsliteratur, Zetemata 18, München 1958, 31f. 73 Seneca, De consolatione ad Polybium 10,6. 74 So eine Refokussierung (refraiming) finden wir auch in Plutarch, de tranquillitate animi 8 (469 C.D), wo Aristippus nach dem Verlust eines (von drei) Landgütern zu einem Freund, der ihn bemitleiden will, sagt: „… es ist thöricht, über das Verlorene sich zu betrüben und sich nicht über Das zu freuen (μὴ χαίρειν), was sich erhalten hat, sondern gleich kleinen Kindern, die, wenn man von ihrem Spielzeug Etwas nimmt, auch alles Uebrige von sich werfen, weinen und schreien, eben so dann, wenn das Glück uns von Einer Seite beeinträchtigt hat, weinend und klagend sich alles Andere unnütz zu machen.“ Das reframing formuliert Plutarch kurz vorher in de tranquillitate animi 8 (469 B): „Warum nun, mein Freund, … blickst Du so sehr nach deinem eigenen Uebel und machst es dadurch stets neu und frisch, aber auf das Gute, in dessen Besitz du bist, willst du nicht deine Gedanken richten?“ P. A. Holloway führt diese Technik auf Epikur zurück (vgl. Cicero, Tusc. 3,31.76 u. ö.), die in der Antike breit rezipiert wurde (HOLLOWAY, Bona Cogitare [s. Anm. 72], 92–96). 75 Vgl. auch Seneca, epist. 99,3: „… Mühe hättest du dir geben müssen, dich mehr zu freuen, dass du ihn gehabt hast (magis gauderes quod habueras) als zu trauern, dass du ihn verloren hast (quam maereres quod amiseras).“ (Übers. Rosenbach) und Seneca, Ad Marciam 3,4. Cicero hat Epikurs Methode insofern modifiziert, als er im Abgrenzung von Epikur im Hinblick auf das bona cogitare nur eine Hinwendung zu den wirklichen Gütern der Tugend („the real goods of virtue“), nicht aber zu den falschen Gütern der Lust zu akzeptieren bereit ist, vgl. HOLLOWAY, Bona cogitare (s. Anm. 72), 92 Anm. 16.

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einzuwirken?), um dann in einem zweiten Schritt das Augenmerk auf den Autor, also auf Paulus, zu richten (also der Frage nachgehen: Was sagt er von sich aus?).

2 Der Philipperbrief 2.1 Der Philipperbrief unter dem Blickwinkel der Adressatenorientierung

Zwischen Paulus und der Gemeinde von Philippi besteht ein ausgesprochen herzliches Verhältnis76 und das kommt auch in seinen Formulierungen zum Ausdruck: Paulus benutzt im Philipperbrief zahlreiche Begriffe, die dem Topos „Freundschaft“ zugehören.77 Durch diese macht er die freundschaftliche Beziehung zu ihnen bewusst und sucht sie aufrechtzuerhalten und angesichts des gesellschaftlichen Drucks von außen und der Spannungen im Inneren der Gemeinde zu stärken. „Voll Freude“, so betont Paulus gleich am Anfang seines Briefes, tritt er immer für die Philipper im Gebet ein (Phil 1,4). Diese Formulierung ist

VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2467. Vgl. J. T. FITZGERALD, Philippians in the Light of Some Ancient Discussions of Friendship, in: ders. (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech (s. Anm. 64), 141–160 (bes. 144–156); A. J. MALHERBE, Moral Exhortation. A Greco-Roman Sourcebook, LEC 4, Philadelphia 1986, 14; DERS., Self-Sufficiency (s. Anm. 64), 126–131. Paulus kennt die Freundschaftstopoi wohl über das hellenistische Judentum, so H.-J. KLAUCK, Kirche als Freundesgemeinschaft? Auf Spurensuche im Neuen Testament, MThZ 42 (1991), 1–14 (8f.). Die Bedeutung des Topos „Freundschaft“ im Philipperbrief ist unbestreitbar, auch wenn man zögern mag, den Philipperbrief insgesamt als „Freundschaftsbrief“ zu charakterisieren (gegen diese von S. K. STOWERS, Friends and Enemies in the Politics of Heaven. Reading Theology in Philippians, in: J. M. Bassler [Hg.], Pauline Theology 1: Thessalonians, Philippians, Galatians, Philemon, Minneapolis 1991, 105–121 [119 Anm. 45, 121] und z. B. K.-W. NIEBUHR, Der Philipperbrief. Freude im Leiden, in: ders. [Hg.], Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung. In Zusammenarbeit mit M. Bachmann, R. Feldmeier, F. W. Horn und M. Rein, Göttingen 2000, 255–262 [258] vertretene Einordnung verweist z. B. D. E. AUNE, The New Testament in Its Literary Environment, LEC 8, Philadelphia 1987, 203 auf den „‚mixed‘ character“ der meisten frühchristlichen, speziell der paulinischen Briefe, vgl. auch FITZGERALD, Philippians [s. Anm. 77], 142–144; S. K. STOWERS, Letter Writing in GrecoRoman Antiquity, LEC 5, Philadelphia 1986, 60; H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Paderborn 1998, 241). G. Theißen versteht die Paulusbriefe als formgeschichtliche Weiterentwicklung des Freundschaftsbriefes hin zum Gemeindebrief, vgl. G. THEISSEN, Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem, Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften 40, Heidelberg 2007, 103–120. 76 77

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auffällig – zwar ist die Zusicherung des Gebets gängig,78 doch nicht das μετὰ χαρᾶς in diesem Zusammenhang.79 Das Gebet des Paulus für die Gemeinde „voll Freude“ finden wir im Proömium der Paulusbriefe nur im Philipperbrief.80 Hier drückt Paulus seine tiefe emotionale,81 von Freude bestimmte Beziehung zu den Philippern aus,82 die in der gemeinsamen Teilhabe am Evangelium begründet ist.83 Dem Gebet für die Philipper und die Betonung der κοινωνία mit ihnen kommt eine theologisch und sozial motivierte ermunternde Funktion zu.84 In der Folge können wir beobachten, dass Paulus Negativa konsequent uminterpretiert. Paulus, so kann man vermuten, will an der Sinn- und Werthaftigkeit seiner existentiellen Grundentscheidung für Christus festhalten, diese durch eine positive Interpretation festigen und gleichzeitig 78 Zur sog. Proskynema-Formel vgl. KLAUCK, Antike Briefliteratur (s. Anm. 77), 38 und die von M. Trapp herausgegebenen Briefe (TRAPP, Letters [s. Anm. 9]). 79 P. SCHUBERT, Form and Function of the Pauline Thanksgivings, BZNW 20, Berlin 1939, 71 wertet das μετὰ χαρᾶς jedoch als „insignificant exception“. In 1Thess 3,9 ist die Danksagung mit χαρά verbunden: εὐχαριστίαν δυνάμεθα τῷ θεῷ … ἐπὶ πάσῃ τῇ χαρᾷ ᾗ χαίρομεν δι’ ὑμᾶς …. In Kol 1,11f. findet sich eine Aufforderung zum Dank. Zur Freude im Präskript vgl. nur das Präskript der Epistula Mnesiergi, eines der ältesten griechischen Privatbriefe aus dem 4. Jh. v. Chr: „Mnesiergo trägt auf seinen Hausgenossen, sich zu freuen (χαίρειν) und gesund zu sein …“ (S. W ITKOWSKI, Epistulae privatae graecae quae in papyris aetatis Lagidarum servantur, BSGT, Leipzig 21911, 135f. Übers. KLAUCK, Antike Briefliteratur [s. Anm. 77], 37). Weiter fällt im Blick auf Phil 1,4 auf, dass „der Leser nach dem Verbum des Dankens eigentlich den Grund des Dankes erwartet, nicht aber die Wiederholung: ‚mit Freude verrichte ich solches Gebet‘“ (U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/1, Leipzig 1993, 40). 80 Im Proömium des 1. Thessalonicherbriefs ist das μετὰ χαρᾶς auf die Aufnahme des Wortes „mit Freuden“ trotz großer Bedrängnis bezogen (1Thess 1,6). Ein Ausdruck der Freude im Proömium findet sich im Barnabasbrief 1,2 („Da nun Gottes Rechtstaten für euch groß und reichlich sind, freue ich mich außerordentlich und über alle Maßen über eure seligen und herrlichen Geister“); in IgnMagn 1,1 („habe ich mir voller Freude [ἀγαλλιώμενος] vorgenommen, im Glauben Jesu Christi zu euch zu reden“); IgnPol 1,1 („[ich] breche in Lob aus, weil ich deines untadeligen Angesichts gewürdigt wurde, dessen ich in Gott froh werden möchte [ὀναίμην]“); vgl. IgnPhld 1,1 („[die Kirche], die ich begrüße im Blute Jesu Christi, die da ewige und bleibende Freude [χαρά] ist“). 81 Vgl. auch Phil 1,7: „Denn ihr wohnt in meinem Herzen …“ (Zürcher Bibel). 82 Sie ist mehr ist als die Freude beim Empfang eines Briefes, die ihren Niederschlag in antiken Briefkonventionen gefunden hat, vgl. J. REUMANN, Philippians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33B, New Haven 2008, 106: „Phil 1:4, with joy is not ‚epistolary rejoicing‘ … but a temporal reference to Paul’s prayers and feelings about the Philippians, from a relationship of longer duration and deeper than receipt of a letter.“ 83 Phil 1,5–7. 84 Vgl. P. MURDOCH, Philipperbrief, EdC.B 15, Neuhausen-Stuttgart 1987, 25: „… ‚mit Freuden‘ … soll die Gemeinde ermuntern.“

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den Philippern eine positive Deutung seiner und ihrer Situation vermitteln und sie so zu leuchtenden „Lichtern in der Welt“ (Phil 2,15) machen.85 So teilt Paulus den Philippern mit,86 dass seine Gefangenschaft die Mehrzahl der Christen gestärkt hat.87 Ja, selbst die Verkündigung rivalisierender Missionare, die in seinen Augen durch Neid und Streitlust, also durch einen negativen Affekt und seine Konsequenzen, motiviert ist, wertet er positiv um: „Es geht doch einzig darum, dass … Christus verkündigt wird, und darüber freue ich mich (χαίρω).“88 Die schwierige Situation, in der er sich befindet, sei nichts, was von dem Evangelium Abstand nehmen lässt, nein, mehrheitlich führe es zu einer Vertiefung des Glaubens mit missionarischem Effekt. Die Unsicherheit seines Prozessausgangs reflektiert Paulus in Phil 1,21– 26 und macht deutlich: Sein mögliches Ableben entspricht seiner „Begierde“ (Lust), „bei Christus zu sein“, was natürlich etwas Positives ist, sein Weiterleben dient ihrem Fortschritt und ihrer Freude im Glauben.89 In Phil 1,25 orientiert sich Paulus ganz an den Philippern: Ihre Freude im Glauben ist für seine Wertung bestimmend.90 Selbst seinen möglichen Märtyrertod kann Paulus positiv interpretieren: Sollte er sein Leben hingeben müssen91 beim „Opferdienst“ für den GlauBormann verweist als (konkurrierenden) Hintergrund auf die u. a. Cicero, rep. 6,13 und Cicero, Lael. 11f. belegte Vorstellung, dass die „Helden des römischen Staates … Lichtgestalten im Kosmos“ sind (B ORMANN, Philippi [s. Anm. 5], 219 mit Anm. 38). Die Vorstellung der Lichtträger begegnet aber auch schon in Dan 12,2; 4Makk 17,5; Mt 5,14. Nach TestBenj 6,4 wohnt der Herr im guten Sinn (des guten Mannes) und „erleuchtet seine Seele. Und er freut sich über alles zu jeder Zeit“. 86 Phil 1,12: „Ihr sollt aber wissen, liebe Brüder und Schwestern … (Γινώσκειν δὲ ὑμᾶς βούλομαι …)“. 87 „… die Mehrzahl der Brüder und Schwestern ist durch meine Gefangenschaft in ihrem Vertrauen zum Herrn gestärkt worden und wagt nun immer entschiedener, das Wort ohne Furcht weiterzusagen“ (Phil 1,14; Zürcher Bibel). 88 Phil 1,18a (Zürcher Bibel). 89 Eine Ausrichtung am anderen zeigt auch der gefangene Cicero in Cicero, ad Quintum fratrem 1,3,1.5: Er sieht sich vor die Wahl: Leben oder Tod gestellt. Obwohl er das zweite vorziehen würde, entscheidet er sich wegen seines Bruders für das Leben: „Cicero made his choice not on the basis of his own preference, but on the basis of what was necessary and important for his brother Quintus“ (C. S. W ANSINK, Chained in Christ. The Experience and Rhetoric of Paul’s Imprisonments, JSNT.S 130, Sheffield 1996, 110). 90 Das „Affekterleben der anderen“ wird von Paulus hier „als Maßstab der Verhaltensregulation“ gewertet, was einem auch andernorts bei Paulus zu beobachtenden Muster entspricht, wie Anke Inselmann in diesem Band unter Verweis bes. auf Röm 14,1–3.13 betont. 91 σπένδομαι: (wie eine Trankspende) ausgegossen werden (Phil 2,17), vgl. die Übers. von N. W ALTER, Der Brief an die Philipper, in: ders. / E. Reinmuth / P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1998, 9–101 (64). 85

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ben der Philipper, so wäre das für Paulus Anlass zur Freude (χαίρω, Phil 2,17). Paulus freut sich hier – so lässt sich aus dem Kontext (Phil 2,15f.) schließen92 – nicht über seinen möglichen Märtyrertod, sondern über den Glauben der Philipper:93 Ihr Glaube, so ist Paulus überzeugt, wird (trotz seines möglichen Todes) bestehen bleiben.94 Paulus ist also, so können wir mit einem Blick auf Phil 2,16 sagen, nicht umsonst gelaufen, der Glaube der Philipper dient Paulus zum Ruhm am Tag Christi. Folglich freut sich Paulus und er freut sich mit allen Mitgliedern der Gemeinde in Philippi. Auf diese indikativische Aussage folgt die imperativische Aufforderung zur Freude:95 „Ebenso sollt auch ihr euch freuen: Freut euch mit mir!“ (Phil 2,18).96 Die Gemeinschaftsfreude, die den Apostel und die Gemeinde verbindet, ist die Freude am Evangelium und dessen Fortschritt – trotz der dunklen Möglichkeit des Martyriums.97 92 Der Grund der Freude wird in Phil 2,17f. nicht explizit genannt. Es wurde auch versucht, das χαίρω auf das „ausgegossen werden“, also den Tod des Paulus zu beziehen (vgl. u. a. W. M. L. DE WETTE, Kurze Erklärung der Briefe an die Colosser, an Philemon, an die Ephesier und Philipper, Kurzgefasstes exegetisches Handbuch zum Neuen Testament II/4, 21847, 204). G. BARTH, Der Brief an die Philipper, ZBK.NT 9, Zürich 1978, 51 sieht aufgrund von Phil 3,1 und 4,4 den Grund recht allgemein „im Herrn“. 93 J. GNILKA, Der Philipperbrief. Der Philemonbrief, HThK Sonderausgabe, Freiburg i. Br. (1982) 2002, 155 betont, dass man πίστις hier in einem weiten Sinn verstehen muss, der das „Tun und Leben [sc. der Philipper] im Glauben umschließt.“ Nicht klar zu entscheiden ist, ob in Phil 2,17 „der Glaube der Philipper die von Paulus priesterlich dargebrachte Opfergabe ist oder ob das Wirken des Apostels insgesamt als ein auf den Glauben der Philipper hinzielender Opferdienst gesehen wird“ (J. ROLOFF, Apostolat – Verkündigung – Kirche. Ursprung, Inhalt und Funktion des kirchlichen Apostelamtes nach Paulus, Lukas und den Pastoralbriefen, Gütersloh 1965, 114f.). 94 B. W EISS, Der Philipper-Brief ausgelegt und die Geschichte seiner Auslegung kritisch dargestellt, Berlin 1859, 177; vgl. R. A. LIPSIUS, Der Brief an die Philipper, in: ders., Briefe an die Galater, Römer, Philipper, HC, Freiburg i. Br. 1891, 193–230 (231). 95 W. SCHENK, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart 1984, 226. 96 Die Philipper sollen sich mit Paulus „freuen, … dass er nicht vergeblich an ihnen gearbeitet, ihren Glauben wirklich als eine Opfergabe Gott dargebracht hat“, so LIPSIUS, Philipper (s. Anm. 94), 231. Lag in Phil 2,17 der Blick auf der glaubenden Gemeinde, so liegt er in 2,18(b) auf dem sich freuenden Paulus. Da die gegenseitige Freude im Philipperbrief eine große Rolle spielt, ist diese Bedeutung von συνχαίρω hier anzunehmen und nicht die transitive Bedeutung von „beglückwünschen“ wie in Plutarch, mor. 231B; Barn 1,3, vgl. E. LOHMEYER , Der Brief an die Philipper, KEK 9/1, Göttingen 141974, 114 Anm. 1; M. DIBELIUS, An die Thessalonicher I, II. An die Philipper, HNT 11, Tübingen 2 1925, 65. Die variierende Wiederholung in Phil 2,18 erklärt Dibelius daselbst mit der Freude des Paulus „an Klangfiguren“ und mit dem „Wunsch, die Beiderseitigkeit der Beziehungen möglichst stark zu betonen.“ 97 Ob das συνχαίρω impliziert, dass auch die Mitglieder der Gemeinde von Philippi vom Martyrium bedroht sind (so LOHMEYER , Philipper [s. Anm. 96], 111– 114) oder nicht (W. MICHAELIS, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11, Leipzig 1935, 49; GNILKA, Philipper [s. Anm. 93], 155), ist umstritten.

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Eine positive Wende, so lesen wir in Phil 2,25–30, ist bei Epaphroditus, dem „Bruder, Mitarbeiter und Mitstreiter (συστρατιώτην μου)“98 von Paulus eingetreten, der sich zu Paulus in die Haft begeben hatte. Todkrank war er (Phil 2,27). „Um des Werkes Christi ist er dem Tode nahe gekommen,99 indem er sein Leben aufs Spiel setzte, um euch Abwesende im Dienst an mir zu vertreten.“100 Genaueres können wir dem Brief nicht entnehmen. Handelte es sich um eine Krankheit, die er „im Vollzug seiner Tätigkeit beim Apostel bereit war zu riskieren“?101 Oder ist das doppelte ἀσθενεῖν weiter zu fassen und von Belegen, in denen es im Verfolgungskontext erscheint, her zu verstehen?102 Nicht Kummer (λύπη), sondern Freude sind jetzt also angesagt: Paulus schickt den Epaphroditus zu den Philippern, dass sie sich, wenn sie ihn wieder sehen, wieder freuen können. Mit aller Freude ist er aufzunehmen und in Ehren zu halten.103 Wie eine Spiegelung der Figur des vom Sterben bedrohten Paulus erscheint Epaphroditus in Phil 2,25–30. Bei ihm jedoch ist schon jetzt ein positiver Ausgang Anlass zum freudigen Wiedersehen. Die beobachtete Tendenz des Paulus, Negativa umzudeuten, wird durch den positiven Abschnitt über Epaphroditus noch verstärkt. Jedoch fehlt eine solche Umdeutung104 der negativen Erfahrungen in einem Briefabschnitt in auffälliger Weise: im polemischen Teil Phil 3,2–21. Von den hier bekämpften Gegnern kann Paulus nicht – wie von den Gegnern in Phil 1,18 – sagen, aus welchen Motiven sie auch immer Christus predigten, freue er sich darüber. Ausgerechnet dieser polemische Teil wird aber von emphatischen Aufforderungen zur Freude umgeben: „Freuet euch im Herrn!“ (Phil 3,1). Die Aufforderung wird verstärkt durch das „allezeit! (πάντοτε)“ und durch die repetitio verstärkt wieder aufgegriffen in Phil 4,4: „Freuet euch im Herrn allezeit! Nochmals will ich es sagen: Freut euch!“ In Phil 4,1 spricht Paulus (Freundschaftstopik aufnehmend) von seinen geliebten und schmerzlich vermissten (ἀγαπητοὶ καὶ ἐπιπόθητοι) Brüdern und Schwestern als seiner Freude (χαρά) und seinem Siegeskranz Phil 2,25. μέχρι θανάτου, evtl. Anspielung auf Phil 2,8, MÜLLER, Philipper (s. Anm. 79), 131. 100 Übers. in Anlehnung an die Zürcher Bibel; V. 30fin wörtlicher: „um zu ergänzen, was an eurer Unterstützung für mich noch fehlte.“ 101 MÜLLER, Philipper (s. Anm. 79), 132. 102 SCHENK, Philipperbriefe (s. Anm. 95), 240 verweist auf 1Makk 1,26; Dan 11,33; Mt 25,35.42f. 103 Es fällt auf, dass weder von der Freude des Epaphroditus, noch von der Freude des Paulus die Rede ist. Wir lesen nur, dass Paulus Epaphroditus schickt, dass sie sich wieder freuen können. Und er ermahnt sie, ihn voll Freude aufzunehmen, vgl. den Beitrag von Anke Inselmann in diesem Band. 104 Die moderne Psychologie spricht von „kognitiver Umstrukturierung“, vgl. die Übersicht bei B. W ILKEN, Methoden der kognitiven Umstrukturierung. Ein Leitfaden für die psychotherapeutische Praxis, Stuttgart 32006, 13–40. 98 99

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(im künftigen Gericht).105 Wenn wir einmal von der Voraussetzung ausgehen, dass der Philipperbrief eine literarische Einheit ist,106 so muss die starke Aufforderung an die Philipper zur Freude mit der Warnung vor den Gegnern in irgendeiner Weise zusammenhängen. Möglicherweise sollen die Philipper durch die Freude gegen die Gegner „immun“ oder man könnte auch sagen „resistent“ werden: Die Gegner haben nämlich keine Chance mehr, die Gemeinde für sich zu gewinnen, wenn die Gemeinde ihre Konflikte mit der Umwelt als Anlass zu einer paradoxen Freude positiv umwertet und sich als positive Lebensgemeinschaft erlebt. Das würde dann besonders einleuchtend sein, wenn die Gegner unter den Philippern mit dem Gedanken warben, dass die Philipper durch Übernahme von Beschneidung107 und Speisegeboten108 als Teil des jüdischen politeuma gelten würden und damit Konflikte (und das damit verbundene Leid) mit der heidnischen Umwelt vermeiden könnten.109 Menschen, die von Freude erfüllt sind, neigen weniger dazu, sich ängstlich anzupassen. Noch dazu, wenn sie sich von einer positiv gewerteten und erlebten Gruppe getragen wissen, können sie einen Dissens zu ihrer Umwelt aushalten – auch wenn der nicht ungefährlich ist. Die Freude soll den Philippern aber gleichzeitig helfen, ihre Spannungen mit der Umwelt zu reduzieren – ohne Aufgabe ihrer Identität. Nach der emphatischen, wiederholten Aufforderung zur Freude, heißt es daher: Lasst eure „Freundlichkeit“ alle Menschen spüren (Phil 4,5). Sie sollen all das Gute tun, das Ansehen bei Menschen gibt (Phil 4,8):110 Menschen mit Freude können auf ihre Umwelt ausstrahlen, sie dadurch positiv beeinflussen und für sich gewinnen. Angst vor Widersachern von außen dient folglich in keiner Weise dem „Agon für den Glauben an das Evangelium“ (Phil 1,27f.). Dissens im Inneren ebenso wenig, wie Paulus unter Rekurs auf Freundschaftstopoi111 und Er mahnt die Philipper als seine Geliebten (ἀγαπητοί) fest zu stehen im Herrn. VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2464 versteht den Philipperbrief als einheitlichen, überlegt komponierten Text, vgl. auch KLAUCK, Antike Briefliteratur (s. Anm. 77), 241; P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994; anders u. a. R. PESCH, Paulus und seine Lieblingsgemeinde. Paulus – neu gesehen. Drei Briefe an die Heiligen von Philippi, HerBü 1208, Freiburg i. Br. 1985. 107 Vgl. Phil 3,2f. 108 Eine Anspielung auf die Speisegebote vermutet G. Theißen in dem verurteilenden: „Ihr Gott ist der Bauch“ (Phil 3,19), vgl. G. T HEISSEN, Das Neue Testament, München, 2002, 46. 109 Die Christen würden ja durch den Anschluss an die Synagogengemeinschaft von den den Juden gewährten Rechtsprivilegien (mit-)profitieren, VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2466. 110 Beachte das Stichwort ἀρετή. 111 Phil 1,27.30 (mit Blick nach außen), Phil 2,1f. (mit Blick nach innen). 105 106

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vor allem die Ermöglichungsgründe, die Christus eröffnet,112 betont. Freundschaft und Freude gehören nach antiker Anschauung zusammen: Der eine freut sich am anderen und mit dem anderen. Paulus verstärkt das positiv, wenn er seine Mahnung an die Philipper mit seiner Freude an ihnen motiviert113 und sie zu einer Steigerung ermuntert: „macht meine Freude vollkommen“ (Phil 2,2) – und zwar durch innere Einheit. Auch die Mahnung zur Einheit und Eintracht, die Paulus im Hinblick auf zwei rivalisierende Frauen in der Gemeinde, Euodia und Syntyche, in Phil 4,3f. formuliert, steht unter dem Vorzeichen der Freude: „ihr [sc. meine Brüder und Schwestern] seid meine Freude!“114 Wieder bedient er sich dabei der Sprache der Freundschaft. Auch die Paulus im Herrn sehr erfreuende Gabe der Philipper115 ist etwas, was – recht verstanden – höchster Ausdruck von Freundschaft ist: Sie hat den Apostel und die Gemeinde noch enger miteinander verbunden116 und ist zudem ein „Gott wohlgefälliges Opfer“ (Phil 4,20). 2.2 Der Philipperbrief unter dem Blickwinkel der Autororientierung

Im Philipperbrief bedenkt Paulus auch seine eigene Befindlichkeit und instruiert sich selbst.117 Es liegt nahe, dass Paulus, über dem die Möglichkeit eines Todesurteils schwebt, auch über sich und seine Situation nachdenkt, als er den Philippern aus dem Gefängnis schreibt.118 Dass ihn mit den Philippern ein freundschaftliches Verhältnis verbindet, dürfte es ihm erleichtert haben, offen über sich nachzudenken und sich ihnen gegenüber im Brief zu öffnen. 112 Sowohl beim Blick nach außen („Ihr habt die Gnade empfangen, euch für Christus einzusetzen“, Phil 1,29) als auch beim Blick nach innen (In Christus gibt es „Zuspruch der Liebe, Gemeinschaft mit dem Geist, Zuwendung und Erbarmen“, Phil 2,1). 113 Phil 2,2. Paulus kommuniziert den Philippern damit anerkennend, dass ihr „Zustand … schon ein erfreulicher sei“ (E. HAUPT, Der Brief an die Philipper, in: Die Gefangenschaftsbriefe, von der 7. bzw. 6. Auf. an neu bearb., KEK 8 und 9, Göttingen 8 [bzw. 7]1902, 1–180 [55]), vgl. T.C. GEOFFRION, The Rhetorical Purpose and the Political and Military Character of Philippians. A Call to Stand Firm, Lewinston 1993, 121: „Paul’s request … affirms the joy he has already experienced through his relationship to them.“ 114 Phil 4,1. Vgl. den Aufruf zur Freude in Phil 4,4. 115 Die Freude des Paulus ist in Phil 4,10 durch μεγάλως verstärkt: ἐχάρην δὲ ἐν κυρίῳ μεγάλως. 116 MALHERBE, Self-Sufficiency (s. Anm. 64), 137f. 117 Das ist das Wahrheitsmoment in Fortnas Auffassung des Philipperbriefs als des egozentrischsten Briefs des Apostels, vgl. R. T. FORTNA, Philippians. Paul’s Most Egocentric Letter, in: ders. / B. R. Gaventa (Hg.), The Conversation Continues. Studies in Paul and John in Honor of J. Louis Martyn, Nashville 1990, 220–234. 118 FORTNA, Philippians (s. Anm. 117), 222, vertritt die These, dass „the fear, almost the inevitability of his [sc. Paul’s] early death, pervades the letter“.

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Die Grenzsituation der Todesgefahr bewältigt Paulus nun ausgerechnet durch „Freude“. Wir können mehrere eng miteinander verflochtene Themenkreise beobachten, in denen die positive Interpretation Pauli zum Tragen kommt: Da ist a. die freundschaftliche Beziehung zur Gemeinde in Philippi, die ihn trägt und stabilisiert. Eine Beziehung, die er zu vertiefen und zu klären sucht. Damit eng verbunden und wohl noch bedeutsamer als diese ist die Beziehung zu Christus bzw. zu Gott. Wir können hier von Gemeinschaftsfreude sprechen. b. Paulus versteht sich als Modell – und ist als solches mit der Existenz Christi verbunden.119 c. Pauli Freude ist auch von der Zukunft bestimmt, von dem „Ruhm“ vor dem Richterstuhl Christi, der Anerkennung seines missionarischen Erfolgs. Ad a: Wenn Paulus aus dem Gefängnis den Philippern schreibt, dass er vor Gott „voll Freude“ für sie im Gebet eintritt (Phil 1,3), dann lenkt er vor Gott den Blick von sich weg auf die Gemeinde hin und vertieft zugleich seine emotionale Bindungen zu diesen.120 Wenn er für ihre κοινωνία εἰς τὸ εὐαγγέλιον – ihre Teilhabe am Evangelium dankt –121 rekurriert er einerseits mit seiner Rede von ihrer κοινωνία auf einen Topos der antiken Freundschaftsethik, andererseits fokussiert er dankbar den Blick auf die übergeordnete Größe, die sie beide verbindet und Lebensgrund und Lebensinhalt des Paulus ist: das Evangelium.122 Nicht nur Paulus betet für die Philipper, die Philipper beten auch für ihn (Phil 1,19),123 zudem steht ihm der Geist Jesu Christi bei – Paulus fühlt sich also nicht allein,124 das freut ihn auch im Blick auf die Zukunft (καὶ χαρήσομαι, Phil 1,18). Gefreut hat sich Paulus auch über die Zuwendung der Philipper, die ihm durch Epaphroditus eine Unterstützung haben zukommen lassen (Phil

119 Seine Modellfunktion spiegelt sich „im Kleinen“ in variatio in seinem Mitarbeiter Epaphroditus. 120 Das tut er auch, wenn er die Philipper in 4,1 als „geliebte und schmerzlich vermisste (ἐπιπόθητοι) Brüder und Schwestern“ anredet. 121 ἐπὶ τῇ κοινωνίᾳ ὑμῶν εἰς τὸ εὐαγγέλιον …, Phil 1,5; vgl. 1,7 (συγκοινωνούς μου). 122 Paulus ist den Philippern also nicht nur freundschaftlich, sondern auch glaubensmäßig verbunden. Nicht von ungefähr beten beide füreinander (Phil 1,4.19). 123 Zur Errettung aufgrund der Fürbitte der Gemeinde vgl. auch 2Kor 1,11; 1Thess 5,25, vgl. Röm 15,30. 124 Implizit kann man hier einen Appell an die Philipper heraushören, für ihn zu beten.

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4,10): Seine Not haben sie mit ihm geteilt125 und so ihre Beziehung – antiker Freundschaftsethik entsprechend – vertieft.126 Ad b: Paulus stellt sich als Modell für die Philipper dar, die den gleichen Kampf (Agon) wie er für Christus erleiden (Phil 1,30). An Paulus sollen sie lernen, ihre Situation neu zu bewerten – vor allem aber auch am Beispiel Christi (Phil 2,5–11).127 Das Bewusstsein, für die Bewältigung einer Grenzsituation als Modell zu fungieren,128 erfüllt Paulus zwar nicht direkt mit Freude, lässt ihn aber in seiner biographisch schwierigen Situation Bedeutung zuwachsen und gibt ihm Mut.129 Ad c: Das Motiv der Freude begegnet weiter im Zusammenhang mit Pauli Nachdenken über die Zukunft. In Phil 1,21–26 erfolgt dieses Nachdenken in der Form eines inneren Dialogs – von den Stoikern übrigens als eine Form der meditatio empfohlen –, um sich auf Tod, Gefängnis, Verachtung, etc. vorzubereiten.130 In Form eines inneren Dialogs reflektiert Paulus – getragen von der Freundschaft der Philipper – in großer Offenheit über die beiden Möglichkeiten des Ausgangs, die sein Prozess nehmen kann:131 Seinen Tod oder sein Weiterleben. Ambivalent steht er den beiden Möglichkeiten gegenüber (Phil 1,23a): Einerseits hat er die Begierde (ἐπιθυμίαν ἔχων) aufzubrechen und bei Christus zu sein (Phil 1,23b). Andrerseits wertet er es als nötiger, weiterzuleben – um der Gemeinde willen (Phil 1,24f.).132 Für den Fall seines Todes bietet Paulus den Philippern eine Phil 4,14: συγκοινωνήσαντές μου τῇ θλίψει – ein Topos der Freundschaftsethik. Vgl. MALHERBE, Self-Sufficiency (s. Anm. 64), 130: „What he does … is to draw out … the significance of the gift as an act by which he and his readers had been drawn more closely together“, vgl. ebd., 138. 127 Epaphroditus stellt ein lebendiges Beispiel dafür dar, wie ein vom Tode bedrohter Mitstreiter des Paulus Gottes Erbarmen erfahren hat (Phil 2,25–30) und so Kummer (λύπη) von ihm und von Paulus genommen hat. 128 Phil, 1,30. Auch in Phil 3,2–11 stellt sich Paulus als Modell für die Philipper dar: Wie er mit seiner Vorzeit gebrochen hat, so sollen auch sie mit den Gegnern brechen. 129 Vgl. Ignatius von Antiochien – er imaginiert auf seinem Weg zum Martyrium die Gemeinde. 130 Vgl. Epiktet, diss. 2,1,34–40. Ziel des inneren Dialogs ist, „to reveal the true nature of adiaphora“ (R. J. NEUMANN, Cotidie meditare, Theory and Practice of the Meditation in Imperial Stoicism, in: ANRW 2.36.3 [1989], 1473–1517 [1481f.], vgl. R. RAMSARAN, In the Steps of the Moralists. Paul’s Rhetorical Argumentation in Philippians 4, in: T. H. Olbricht / A. Erikson [Hg.], Rhetoric, Ethic and Moral Persuasion in Biblical Discourse. Essays from the 2002 Heidelberg Conference, New York 2005, 284– 300 [293]). 131 Phil 1,21–26. 132 Eine analoge Argumentation finden wir in Cicero, ad Quintum fratrem 1,3, wo der gefangene Cicero seinem Bruder (in einem als „family letter“ zu charakterisierenden Brief – W ANSINK, Chained in Christ [s. Anm. 89], 106) schreibt: „Aber ich rufe alle Götter zu Zeugen an, nur dies eine Wort hat mich vom Tode zurückgerufen, dass alle erklärten, an meinem Leben hänge auch ein Teil Deines Lebens.“ (Übers. H. Kasten: M. 125 126

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Deutungsmöglichkeit an, die ihnen helfen soll, seinen Verlust zu verarbeiten.133 Zudem fungiert er als Modell für die Philipper für den (Märtyrer-) Tod. Für den zweiten Fall, den Fall seines Weiterlebens, bietet Paulus als Motivierung: „euch zur Förderung und zur Freude im Glauben (εἰς τὴν ὑμῖν προκοπὴν καὶ χαρὰν τῆν πίστεως)“ (Phil 1,25).134 Hier geht es um die Gemeinde. Ihre Freude im Glauben ist sein Ziel und hält ihn.135 Die ihn motivierende Freude liegt in Phil 1,25 außerhalb seiner selbst: Ihn motiviert die Freude der Philipper.136 Mehrfach ist es die Aussicht auf den Tag Christi,137 die Paulus in der schwierigen Situation seiner Gefangenschaft hilft: „Ich werde mich auch in Zukunft freuen (χαρήσομαι)“, schreibt er in Phil 1,18f., „denn ich weiss: Dies alles138 wird zu meiner [eschatologischen] Rettung führen, da ihr für mich bittet und der Geist Jesu Christi mir beisteht.“139 Deswegen wartet er sehnsüchtig auf das, was kommen wird (Phil 1,20). Im Rahmen der Mahnung an die Philipper, fest im Herrn zu stehen, nennt Paulus sie seine Freude (χαρά) und seinen Siegeskranz (στέφανος):140 Er hofft,141 dass die Philipper ihm am Tag Christi, im eschaTULLI C ICERONIS, Epistulae ad Quintum Fratrem, Epistulae ad Brutum, Fragmenta Epistularum, accedit Q. Tulli Ciceronis Commentariolum Petitionis / M. Tullius Cicero, An Bruder Quintus, An Brutus, Brieffragmente, dazu Q. Tullius Cicero Denkschrift über die Bewerbung, Lateinisch-deutsch, hg. von H. Kasten, München 1965, 57). 133 VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2461. 134 „Vielleicht“ – so MÜLLER, Philipper (s. Anm. 79), 71 – sind „‚Fortschritt‘ und ‚Freude‘ … durch ein epexegetisches καί verbunden: ‚zu eurem Fortschritt, ja zur Freude aus Glauben‘.“ 135 Mit dem in den antiken Affektlehren sowohl positiv als auch negativ konnotierten Affekt der Begierde (ἐπιθυμία) bezeichnet Paulus sein eigenes Verlangen, mit dem in der antiken Affektlehren ausschließlich positiv konnotierten Begriff der χαρά bezeichnet er sein Ziel. 136 Es geht in Phil 1,26 „um den Grund des Ruhms und der Freude allein der Gemeinde“ (MÜLLER, Philipper [s. Anm. 79], 71 Anm. 116). Das heißt nicht, dass Paulus nicht auf existentieller Ebene die Freude kennt, die im Glauben wurzelt, vgl. 2Kor 1,23; 2,3; 7,4. 137 Phil 2,16: εἰς καύχημα ἐμοὶ εἰς ἡμέραν Χριστοῦ. 138 Gemeint ist nach M ÜLLER, Philipper (s. Anm. 79), 57: die „gegenwärtige Lage“. 139 Übers. Zürcher Bibel. Dem Verweis auf die Bitte der Philipper für Paulus kommt implizit auch eine Aufforderungsfunktion zu. Zugrunde liegt die Vorstellung der „Ehrung des erfolgreichen Missionars vor dem himmlischen Forum (Phil 2,16; 2Kor 1,14; 1Thess 2,19)“ (S. VOLLENWEIDER, Lob am Jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief, in: W. Kraus [Hg.], Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte. Symposium aus Anlass des 70. Geburtstags von U. B. Müller, BZNW 163, Berlin 2009, 307–317 [316]). 140 Phil 4,1. Vgl. 1Thess 2,19: „Denn wer ist unsere Hoffnung oder Freude (χαρά) oder unser Ruhmeskranz (στέφανος καυχήσεως) – seid nicht auch ihr es vor unserm Herrn Jesus, wenn er kommt?“ Zur Gemeinde als Ruhmeskranz vgl. M. BRÄNDL, Der Agon bei Paulus: Herkunft und Profil paulinischer Agonmetaphorik, WUNT 2/222, Tübingen

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tologischen Gericht, wenn er Rechenschaft wird ablegen müssen,142 zur „besondere[n] Auszeichnung gereichen.“143 Diese Selbstinstruktion des Paulus impliziert natürlich auch einen Appell an die Philipper.144

3 Paulus Umgang mit der Freude im Vergleich zur antiken Umwelt Zum Abschluss soll versucht werden, die paulinische Freude im Philipperbrief innerhalb des antiken Affektdiskurses über die „Freude“ zu profilieren. Dabei kommen vier Aspekte zur Sprache: der Gemeinschaftsbezug der Freude, die Fokussierung auf das Positive, die Paradoxie der Freude im Leid und die Zeitdimension von Gegenwart und Zukunft in der Freude. 3.1 Gemeinschaftsfreude

Charakteristisch für die Freude im Philipperbrief ist die soziale Dimension derselben – Freude und „Gemeinschaft“ sind – theologisch und sozial – eng konnotiert. Dagegen beobachten wir in der Stoa eine Konzentration auf das Individuum. Nach Seneca entsteht die wahre Freude (gaudium, laetitia) nur aus dem Menschen und im Menschen selbst.145 Die Freude kann seiner Meinung nach keine Ursache außerhalb des Menschen haben – dann wäre sie ja abhängig von einer „fremden Macht“ und folglich unsicher und ständig „unterhöhlt durch die Furcht vor dem Entzug.“146 2006, 320–322. Zur Freude (χαρά) als Ehrenpreis, vgl. Philo, praem. 31: „das Lachen ist aber ein vom Körper gegebenes offenbares Zeichen der unsichtbaren Freude des Herzens“ (VOLLENWEIDER, Lob [s. Anm. 139], 313 Anm. 27). 141 Und wie er seine Hoffnung formuliert, hat sie für die Philipper auch einen Aufforderungscharakter. 142 Vgl. 2Kor 5,10. 143 VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 2), 2466; vgl. DERS., Lob (s. Anm. 139), 309. 144 Selbstinstruktion des Paulus und Appell an die Philipper gehen immer wieder Hand in Hand. Z. B. wenn der gefangene Paulus (indirekt) die Freude betont, die er durch die Philipper schon erfahren hat (vgl. Phil 1,4; 2,17; 4,1), wenn er schreibt, die Philipper sollten seine Freude dadurch vollkommen machen, dass sie eines Sinnes sind, einander verbunden in ein und derselben Liebe, einmütig und auf das eine bedacht. 145 S.o. und FOUCAULT, Sorge (s. Anm. 38), Band 3, 91. Vgl. auch Philo, det. 137: Der Weise findet die (echte) Freude „nicht in den Dingen um sich“, sondern „in sich selbst.“ 146 FOUCAULT, Sorge (s. Anm. 38), Band 3, 91.

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3.1.1 Diese fremde Macht gibt es für Paulus jedoch sehr wohl, wie der mehrfache Zusatz zur Freude „im Herrn“ deutlich macht (Phil 3,1; 4,4; 4,10) und sie ist positiv besetzt: Das Sein „im Herrn“ ist für Paulus Grund beständiger Freude, ist der Christ doch nach seiner Bekehrung und Taufe mit Christus eng verbunden147 und hat in ihm seine Heimat gefunden.148 Gerade diese Verankerung der Freude „im Herrn“ und nicht in arbiträren menschlichen Dispositionen, Erfahrungen und Beziehungen befreit von Verlustängsten und ermöglicht eine beständige Freude.149 3.1.2 Daneben ist die Gemeinde derer, die sich diesem Herrn verbunden fühlen, Ursache von Freude.150 Die Freude am anderen und mit den anderen, das die Gemeinschaft stärkende Sich-Zusammen-Freuen (und Zusammen-Leiden) kennt auch der antike Diskurs über die Freundschaft und ist in der Lebenspraxis besonders ausgeprägt in der Gemeinschaft der Freunde, also bei den Epikureern. Nicht von ungefähr begegnen wir im Philipperbrief an vielen Stellen der charakteristischen Topik des Freundschafts- und auch des Familienbriefs – auch wenn (in Abgrenzung von den Epikureern) die einschlägigen Begriffe φίλος und φιλία im Philipperbrief fehlen.151 Paulus favorisiert ja das Konzept der Familie, wenn er die Adressaten als ἀδελφοί anspricht.152 Nach seinem Ausdruck der Freude über die Spende der Philipper betont Paulus in Phil 4,11–13 gleichwohl seine Autarkie (αὐτάρκεια)153 und macht damit deutlich, dass er das Geschenk nur als Ausdruck einer Freundschaft akzeptiert, die nicht auf utilitaristi-

147 Hier kommt der Gemeinschaftsgedanke zum Tragen: Bei Christus sein ist Freude – so wie die Anwesenheit eines Freundes Freude bedeutet. 148 Bei Paulus infolge der radikalen Wende, die eine radikale Umwertung seiner Überzeugungen beinhaltete (Phil 3,4–6), vgl. bes. 3,9 (εὑρεθῶ ἐν αὐτῷ) und 3,10 (κοινωνίαν τῶν παθημάτων αὐτοῦ, συμμορφιζόμενος τῷ θανάτῳ αὐτοῦ). „Das grundlegende Christuserlebnis“, so B RUN, Formel (s. Anm. 1), 25: „… setzt sich fort in einer stetigen Christusgemeinschaft.“ – M. T. VINCENT, Epistles to the Philippians and to Philemon, ICC, Edinburgh 1972, 91 deutet das mystische Leben eher abstrakt: en kyrio meine: „The sphere or element of rejoicing“. 149 Vgl. M URDOCH, Philipperbrief (s. Anm. 84), 146: „Die Freude eines Christenmenschen leitet sich nicht vom Erleben ab, nicht aus den einzelnen Erfahrungen des Alltags, sondern sie hat ihre unversiegbare Quelle in Jesus Christus.“ Eine Rückführung der Freude auf Gott finden wir bei Philo, der Gott als „Erzeuger“ der Freude interpretiert. 150 Phil 4,1.10. Zur Gemeinschaftsfreude bei Paulus vgl. auch 1Kor 12,26; 16,17; 2Kor 2,3; Phil 1,25; 2,28f. 151 Vgl. dazu MALHERBE, Self-Sufficiency (s. Anm. 64), 138f. 152 Bei den moralphilosophischen Autoren der Antike sind aber Wechselbeziehungen zwischen Bruder- und Freundesliebe, Familien- und Freundschaftsethik zu beobachten, vgl. KLAUCK, Kirche (s. Anm. 77), 3. 153 Die Autarkie ist ein stoisches Ideal.

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schen oder affektiven Motiven gründet,154 sondern die Not mit dem Freund teilen will (Phil 4,14) in einer Gemeinschaft des Gebens und Nehmens (Phil 4,15),155 was der höchsten Stufe der Freundschaft bei Aristoteles entspricht. Dass Freude – wie auch Leid – ein Gemeinwesen verbindet, hat Platon z. B. schon im Staat ausgedrückt.156 Einzig im Philipperbrief und im 1. Korintherbrief begegnet bei Paulus συγχαίρω.157 In 1Kor 12,26 ist das Sich-Mitfreuen mit der Leibmetaphorik verbunden, die für Paulus auch im Philipperbrief mitschwingen dürfte. 3.1.3 Bei dieser Gemeinschaftsfreude ist ein Zug auffällig: Die Ausrichtung am anderen,158 wie in Phil 2,25–30 besonders deutlich wird, wo Paulus den Epaphroditus nach Philippi schickt, damit die Gemeindeglieder sich freuen können – während er von seiner eigenen Freude oder der Freude des Epaphroditus über dessen Genesung nach schwerer Krankheit nichts schreibt. Auch der Entschluss des Paulus in Phil 1,24f., lieber weiterzuleben als aufzubrechen und bei Christus zu sein, wird nicht mit Eigeninteressen, sondern mit der Förderung und Freude der Gemeindeglieder motiviert. 3.2 Fokussierung auf das Positive

Mit seiner Fokussierung auf das Positive greift Paulus eine alte psychagogische Methode auf – das bona cogitare (ταῦτα λογίζεσθε).159 Schon Epikur lehrte, die guten Dinge zu bedenken. Diese Anschauung wurde in der Antike breit rezipiert. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die freudige Dankbarkeit.160 Auch bei Paulus können wir eine Fokussierung auf das Positive beobachten, wenn er aus dem Gefängnis heraus „voll Freude“ im Gebet für die Gemeinde von Philippi eintritt (Phil 1,3f.). Wir finden sie auch, wenn er seinen Blick nicht länger auf sich und Aristoteles, eth. Nic. 8,3 (1156a 10–15): „Die einen lieben einander … wegen des Nutzens und nicht als solche, sondern sofern sie einander Gutes verschaffen. Dasselbe gilt für jene, die einander der Lust wegen lieben …. Wer also um des Nutzens willen liebt, tut es um seines eigenen Gewinns willen, und wer um der Lust willen, tut es um seiner eigenen Lust willen …“. 155 Vgl. dazu MALHERBE, Self-Sufficiency (s. Anm. 64), F ITZGERALD, Philippians (s. Anm. 77), 158. 156 Platon, rep. 5,426b.c. 157 Phil 2,17f.; 1Kor 12,26; 13,6. In der LXX findet sich συγχαίρω nur in Gen 21,6; in 3Makk 1,8 in einer Hs. 158 Hier greife ich Beobachtungen meiner Assistentin Anke Inselmann auf; vgl. ihren Beitrag in diesem Band. 159 Hierzu s. Anm. 72. 160 Zur Bedeutung der Dankbarkeit (gratias agere) „in the midst of hardships“ in der antiken Konsolationsliteratur vgl. HOLLOWAY, Bona cogitare (s. Anm. 72), 38. 154

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seine Fesseln verweilen lässt, sondern auf die positive Wirkung seiner Gefangenschaft: Dass „die Mehrzahl der Brüder und Schwestern“ in ihrem Vertrauen zum Herrn gestärkt worden ist und nun entschiedener aufzutreten wagt (Phil 1,14). Positiv wertet er schließlich sogar das Auftreten konkurrierender Missionare in Phil 1,18: Ihn freue daran, dass – aus welchen Motiven auch immer – Christus verkündigt werde. Ja, sogar seinen potentiellen Tod kann er positiv fassen (Phil 2,17f.). Eine Interpretation, die er auch den Philippern nahelegt.161 Gleichwohl lässt sich eine Verschiebung bei Paulus beobachten: Bei Epikur heißt es: ταῦτα λογίζεσθε und bei Cicero: bona cogitare – beide betonen also das kognitive Moment. Paulus dagegen spricht direkt von der „Freude“ – hier tritt das affektive Moment in den Vordergrund. Nun begegnet die Freude zwar einerseits auch im Kontext der avocatio-revocatioMethode,162 und ist andererseits jeder Affekt auch mit einem kognitiven Bewertungsvorgang des natürlichen Impulses verbunden,163 gleichwohl fällt die Akzentverschiebung auf. Und sie wird noch größer, wenn wir uns bewusst machen, dass die Freude (χαρά) für Paulus nach Gal 5,22 eine Frucht des Geistes ist. 3.3 Paradoxe Freude

Die Fokussierung auf das Positive bedeutet jedoch nicht, dass Paulus die schwierige Lage, in der er sich befindet, wie auch den Leidensdruck, unter dem die Philipper stehen, einfach verdrängt. Während die Gegner wohl den Leidensdruck erhöhen, indem sie die Pressionen, welche die Gemeindeglieder erfahren, thematisieren, setzt Paulus gegen diesen die Freude. Die Freude ist paradox164 – es ist eine Freude trotz des Leids oder Freude aus dem Leid – eine Vorstellung, die in der apokalyptischen Tradition gründen dürfte.165 Während die Gegner die Philipper motivieren wollen, die jüdischen Identitätsmerkmale zu übernehmen, um eine Existenz unter dem Schutz einer staatlich anerkannten religio zu ermöglichen, ermächtigt Paulus sie durch Fremdinstruktion zur Freude angesichts des Leids. Dabei bringt er sich selbst ein – er instruiert sich sozusagen selbst, und dient den Christinnen und Christen von Philippi als Vorbild. Phil 2,18 u. ö. Vgl. HOLLOWAY, Bona cogitare, (s. Anm. 72), 95 Anm. 41. RAMSARAN, Moralists (s. Anm. 130), 297, interpretiert jedoch im Blick auf Phil 4 das Gebet als „rational wish“ – es entspreche der βούλησις. 163 Die moderne Psychologie spricht von appraisal. 164 Bei Paulus finden wir die Vorstellung der Kontrastfreude: „uns wird Leid zugefügt und doch sind wir jederzeit fröhlich“ (2Kor 6,10 EÜ). 165 Zwar ist der Kontrast von Freude und Leid im paganen Kontext vorherrschend, doch gibt es – selbst bei einem Philosophen wie Epikur – Ansätze, diese paradoxe Konzeption von Freude zu rezipieren, s. o. 161 162

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3.4 Gegenwärtige und zukünftige Freude

Hinsichtlich des Zeitaspekts steht Paulus in der jüdisch-christlichen Tradition. Die Stoa hat die Freude in der Gegenwart verortet, wie die folgende tabellarische Darstellung deutlich macht:166 Gegenwartsbezug

Zukunftsbezug πάθη

ἡδονή

ἐπιθυμία

λύπη

φόβος εὐπάθειαι

χαρά

„Freude als Erhebung der Seele, die sich im Besitze des wahren Gutes weiß“167 –

βούλησις

vernunftgemäßes Wünschen ἔκκλισις

vernunftgemäßes Ausweichen

Paulus dagegen blickt darüber hinaus voll Freude in die Zukunft und erwartet die Anerkennung seines missionarischen Erfolgs vor dem Richterstuhl Christi (Phil 4,1).168 In späteren alttestamentlichen Texten und in Qumran werden gegenwärtiges Leiden und zukünftige Freude169 häufig einander entgegengesetzt. Sie 166 Ad ἡδονή vgl. SVF III, 386 = Aspasius in Aristot. eth. Nic. p. 45,16 (NICKEL, Stoa [s. Anm. 22] Nr. 783). Philo rezipiert die stoische Auffassung, geht in Philo, mut. 163 aber darüber hinaus, indem er die Hoffnung als „Freude vor Freude“ (also: als Freude auf zukünftige Freude) definiert (vgl. Anm. 54). 167 POHLENZ, Stoa I [s. Anm. 26], 152. 168 Die paulinische „Reputationsfreude“ greift dabei das in der Antike so wichtige Thema der „Ehre“ auf, vgl. dazu (jedoch mit Fokus auf Phil 2,6–11) J. H. HELLERMAN, Reconstructing Honor in Roman Philippi. Carmen Christi as Cursus Pudorum, SNTS.MS 132, Cambridge 2005. Wie die Gemeinde Pauli Freude und Siegeskranz ist (Phil 4,1), so soll Paulus ihre Freude und ihr Ruhm sein (Phil 1,24) – es handelt sich also um reziproke Freude und Ruhm. 169 Das gegenwärtige Leiden wird durch zukünftige Freude abgelöst.

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folgen aufeinander in einer zeitlichen Sukzession. Dagegen erfüllt bei Paulus die Freude schon die Gegenwart und spannt sich bis in die Zukunft170 – die Äonenwende ist für ihn ja schon in Christi Tod und Auferstehung heraufgeführt171 und harrt ihrer Vollendung bei dessen Parusie.172 Die Freude „im Herrn“173 und im Blick auf den kommenden Christus sind die theologische Basis für das den Philipperbrief trotz aller Leiden und Bedrängnisse prägende „Gaudeo, gaudete“.

170 Die Zukunftsdimension wird im Römerbrief explizit ausgedrückt, vgl. Röm 12,12 (τῇ ἐλπίδι χαίροντες – „seid fröhlich in Hoffnung“) und Röm 15,13 („Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude“). 171 Vgl. 2Kor 6,2; Röm 1,4; 5,1–6. 172 Bzw. der allgemeinen Auferstehung der Toten, vgl. C. STRECKER , Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 224. 173 Das neue Sein „im Herrn“ drückt Paulus in Röm 8,2.4.5.6 u. ö. durch das Pneuma aus.

Zum Affekt der Freude im Philipperbrief Unter Berücksichtigung pragmatischer und psychologischer Zugänge ANKE INSELMANN „Freut euch jederzeit im Herrn, und noch einmal sage ich: Freut euch!“1

Ausgerechnet in Gefangenschaft, in einer existenziell lebensbedrohlichen Situation, deren Ausgang Paulus nicht kennen kann, fordert der Apostel seine Gemeinde in Philippi immer wieder, nachdrücklich und betont, zur Freude auf. Ich bin überzeugt: Dies ist nicht nebensächlich oder gar sarkastisch gemeint, sondern geschieht theologisch absichtsvoll. Zwar ist schon häufiger beobachtet worden, wie irritierend oft Belegstellen für das Lemma χαρά im Philipperbrief begegnen: In keinem anderen Zeugnis des Paulus wird das Motiv der Freude so häufig aufgenommen und komplex thematisiert.2 Trotzdem wird dieses Freudenmotiv häufig nicht als theologisch bedeutsam gewürdigt.3 Wie wichtig die Freude aber für Paulus ist, zeigt sich eindrucksvoll in Phil 3,1: „Freut Euch im Herrn! Dass ich euch immer dasselbe schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch umso gewisser.“ Nichts spricht dagegen, diese Redundanz-Reflexion auf den direkt vorausgehenden Freudenappell zu beziehen.4 Paulus beschreibt im genannten Vers ausdrücklich Phil 4,4. Das Substantiv χαρά begegnet in diesem Brief fünfmal, das Verb χαίρειν elfmal. 3 Das zeigt sich an der traditionellen Würdigung paulinischer Leitmotive, bei denen die χαρά fehlt genauso wie in den Stichwortregistern neuerer Veröffentlichungen zum paulinischen Werk, z. B. bei M. W OLTER, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Neukirchen-Vluyn 2011. 4 Dass sich dieser Satz auf den Appell der Freude bezieht und nicht abstrakt auf andere Briefabschnitte zu beziehen ist, belegt der Ko-Text: Zum einen lässt sich dieses Phänomen mit dem unmittelbaren Aufeinanderfolgen der Sätze in Phil 3,1 erklären. Zum anderen passt dazu die tatsächlich mehrfache Wiederholung des Freudenaufrufs im Philipperbrief. W. ECKEY, Die Briefe des Paulus an die Philipper und an Philemon. Ein Kommentar, Neukirchen 2006, 13, versucht, zwischen dem Aufruf zur Freude (Phil 3,1a) und der paulinischen Bemerkung zur Unverdrossenheit gegenüber den Wiederholungen (Phil 3,1b) einen Bruch, einen Hiatus, zu sehen. Tatsächlich spricht aber nichts dagegen, 1 2

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seine Motivation für diese beabsichtigte Repetitio. Diese psychologische Selbstreflexion wirkt als zusätzlicher ‚Pointer‘: Paulus möchte seine Leser und Leserinnen auch auf der Meta-Ebene eindringlich dazu anregen, sich mit den von ihm vermittelten Aspekten der Freude intensiv zu beschäftigen. Deshalb soll hier im Folgenden untersucht werden, wie die verschiedenen Argumentationsebenen zur Freude im Philipperbrief miteinander verbunden sind. Zunächst überrascht, dass Paulus das in der Antike weit verbreitete profane Grußformular meidet, bei dem die Adressaten üblicherweise mit der Aufforderung, sich zu freuen, gegrüßt werden (χαῖρε / χαίρετε). In seinen Briefen verwendet der Apostel stattdessen persönliche Grußformen, die er christlich profiliert, indem er seinen Lesern und Leserinnen Gnade und Frieden verheißt (wie in Phil 1,2). Offensichtlich tut er das nicht, um Affektaufrufe grundsätzlich zu vermeiden. Denn schon kurz darauf begegnet das im Grußformular ausgesparte Lexemfeld der Freude (χαρά) nicht nur in verschiedenen Zusammenhängen, sondern verstärkt durch mehrfache Wortwiederholungen und rhetorische Positionsfiguren als Leitmotiv über den gesamten Brief gestreut. Deshalb erscheint es sinnvoll, die Belegstellen nicht konsequent in ihrer literarischen Abfolge zu betrachten, sondern sie thematisch zu bündeln – zumal die literarische Einheitlichkeit des Philipperbriefs (und im Anschluss daran die diachrone Rekonstruktion älterer zusammengehöriger Abschnitte) exegetisch seit langem umstritten ist.5 die synchron aufeinanderfolgenden Sätze wie schon Ernst Lohmeyer auch syntagmatisch zu lesen. E. LOHMEYER, Der Brief an die Philipper, KEK 9/1, Göttingen 141974, 1, verortetet die Abfassung des Briefes in Caesarea im Spätsommer 58. Er deutet die Freude vor dem Hintergrund einer Martyriumssituation, in der sich die Gemeinde in Philippi befunden habe: „Daß aber in dieser Mahnung sich alles zusammenfaßt, was die Lage des Martyriums an Gabe und Aufgabe in sich birgt, daß Freude für den Märtyrer das Ein und alles ist, lehrt das „im übrigen“, das die Mahnung nachdrücklich einleitet. … Nach Wort und Stellung kann sich die Wendung: „dasselbe schreiben“ nur auf die Mahnung zur Freude beziehen, die Paulus schon mehr als einmal ausgesprochen hat. Dieses „freuet euch“ heißt ja nichts anderes als im Leiden sich von Gott begnadet wissen und dieses Wissen in unerschütterlicher äußerer und innerlicher Gewißheit festhalten, auch den stärksten Verfolgungen zum Trotz.“, ebd., 123f. Siehe S. 124 auch Anm.1, wo er sich aufgrund der naheliegenden syntagmatischen Deutung gegen Thesen ausspricht, das αὐτά in Phil 3,1b auf etwas anderes als den Freudenappell in 3,1a zu beziehen, beispielsweise durch Annahme eines Bruchs, einer Diktierpause oder der Kompilation mehrerer Briefe. 5 Den Stand der Forschungsdiskussion und die verschiedenen in der exegetischen Literatur vertretenen literarkritischen Thesen fasst H. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 73–77, zusammen. P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 39–63, und S. VOLLENWEIDER, Kommentar zur Zürcher Bibel, Philipperbrief, in: M. Krieg / K. Schmidt (Hg.), Erklärt – Der Kommentar zur

Zum Affekt der Freude im Philipperbrief

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Da es sich bei dem Motiv der Freude um einen Affekt handelt, sollen unterstützend auch moderne psychologische Ansätze, vor allem aus der funktionalistischen Forschung und aus der Kommunikationswissenschaft herangezogen werden.6 Diese modernen Paradigmen können die Exegese bei der Untersuchung antiker Affektdarstellungen hilfreich unterstützen: Zum einen weiten sie den Blick auf die komplexen Prozesse, die mit den Affekten in Zusammenhang stehen können. Zum anderen helfen sie, die Affektphänomene präziser zu beschreiben. Das kann dazu beitragen, alltagspsychologische Interpretationen zu vermeiden, die exegetisch im Zusammenhang mit Affekten leider häufig anzutreffen sind. Methodisch muss beispielsweise zwischen dem tatsächlichen intrinsischen Erleben des historischen Paulus (über das sich wenig sagen lässt) und der erzählerischen Darstellung des inneren Erlebens auf der literarischen Ebene (die von Paulus in der Ich-Form des Briefschreibers verfasst ist) unterschieden werden – hier können zwar Überschneidungen vorliegen, aber Differenzen sind nicht von vornherein auszuschließen. Nach einigen einführenden methodischen Hinweisen soll zunächst ausgewertet werden, wie Paulus das Motiv der Freude im Zusammenhang mit zwei äußeren Anlässen präsentiert hat, die ihn seiner eigenen Aussage nach bewegt haben. Auch die literarische Einbettung des Affektmotivs in die ethischen und theologischen Argumentationen soll geprüft werden, zum Beispiel im Zusammenhang mit dem sogenannten „Philipperhymnus“, sodass abschließend eine systematisierende Auswertung zur Bedeutung und Funktion des Freudenmotivs im Philipperbrief erfolgen kann.

1 Emotionen erfüllen unterschiedliche Funktionen (1) Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht lassen sich Beziehungen anhand ihrer Kommunikation beobachten.7 Friedemann Schulz von Thun differenziert in seinem Vier-Seiten-Modell beispielsweise vier Aspekte Zürcher Bibel 3, Zürich 22011, 2445–2468 (2464), gehen zudem von einem planvollen Aufbau und einheitlichen Textbestand aus. 6 Um moderne und antike Ansätzen methodisch unterscheiden zu können, soll im Folgenden die Definition gelten: Der Begriff „Emotion“ wird verwendet, wenn das psychische Erleben nach modernen psychologischen Modellen und Vorstellungen beschrieben wird. Der Begriff „Affekt“ soll dagegen für die Beschreibung innerer Regungen im antiken Diskurs und nach antiken Kategorien reserviert sein. Zur Methodik und Nomenklatur siehe A. INSELMANN, Die Freude im Lukasevangelium. Ein Beitrag zur psychologischen Exegese, WUNT 2/322, Tübingen 2012, 37–39. 7 Vgl. hierzu P. W ATZLAWICK / J. H. BEAVIN / D. D. J ACKSON, Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969, 22.

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oder Ebenen, die mit einer Nachricht vermittelt werden können:8 Jede Äußerung enthält demnach (a) nicht nur einen Sachaspekt, (b) sondern auch eine Selbstaussage, (c) eine Mitteilung auf der Beziehungsebene (d) sowie einen Appell. Sofern es bei einem literarischen Zeugnis möglich ist, kann eine Analyse dieser Aspekte entsprechende Aufschlüsse über die dem Text zugrundeliegende Beziehungsstruktur geben. Auch für kommunizierte Emotionen wie die Freude ist dies anzunehmen: Denn sie können zwischen den Gesprächspartnern ebenfalls unterschiedliche Funktionen erfüllen. Auch aus weiteren Disziplinen sind einige emotionsrelevante Ansätze zu berücksichtigen: (2) Aus pragmatischer Sicht sind gerade im Zusammenhang mit Emotionsdarstellungen Implikaturen zu berücksichtigen, die über die wörtliche Bedeutung des Gesagten hinausreichen – so wird den Adressaten durch das Vermitteln von empathischen Emotionen, die vom gegenseitigen Wohlergehen abhängig sind, performativ eine grundlegend große Wertschätzung kommuniziert.9 Dies kann Beziehungen positiv beeinflussen und sich stabilisierend auf die Gemeinschaft auswirken. (3) Narratologisch lässt sich zudem feststellen, dass Darstellungen des inneren Erlebens dazu beitragen, die Distanz zwischen dem Erzähler und seinem Adressaten zu verringern. Der intradiegetische Erzähler gewährt dem Leser bzw. der Leserin Einblicke in das intime Erleben seiner Figuren, die ansonsten verborgen bleiben würden. Wenn die inneren Regungen ausdrücklich den Emotionskategorien Freude bzw. Schmerz/Traurigkeit zugeordnet werden, liegen erzählerisch direkte Charakterisierungen vor, im 8 Die folgende Argumentation gründet auf dem kommunikationspsychologischen Modell F. SCHULZ VON THUNS, Miteinander Reden I. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation, Reinbek 1981, 25–30. Schulz von Thun kombiniert mit seinem Kommunikationsquadrat (Vier-Seiten-Modell) die psychologische Analyse Paul Watzlawicks, dass jede Aussage unter einem Inhaltsaspekt und einem Beziehungsaspekt verstanden werden müsse, mit dem linguistischen Organonmodell Karl Bühlers, der sprachliche Zeichen den drei Sprachfunktionen Ausdruck, Appell und Darstellung zuordnet, K. BÜHLER, Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Stuttgart (1934) 1982. 9 Die linguistisch-pragmatische Unterscheidung zwischen dem wörtlich Gesagten (der wörtlichen Bedeutung einer Aussage) und dem Implikatierten (nur Angedeuteten) in einem Sprechakt geht auf den Sprachphilosophen H. P. Grice zurück. Demnach muss zwischen dem propositionalen und dem performativen Gehalt eines Satzes differenziert werden, vgl. H. P. GRICE, Logic and Conversation, in: P. Cole / J. L. Morgan (Hg.), Speech Acts, Syntax and Semantics 3, New York 1975, 41–58; auch in: ders., Studies in the Way of Words, Cambridge 1989, 22–40. (Dt.: Logik und Konversation, übers. von A. Kemmerling, in: G. Meggle, Handlung, Kommunikation, Bedeutung, stw 1083, Frankfurt a. M. 1993, 243–265). Vgl. hierzu auch C. E HRHARDT / H. J. HERINGER , Pragmatik, UTB 3480, Paderborn 2011, 48–50; S. C. LEVINSON, Pragmatik. Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 39, Tübingen 2000, Kap. „Konversationelle Implikaturen“, 107– 181.

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Gegensatz zu deskriptiven Beschreibungen des Empfindens, die erzähltechnisch ebenfalls möglich wären.10 Der Ich-Erzähler nimmt es dem Lesenden dabei ab, die äußerlich erkennbaren Symptome des emotionalen Erlebens deuten zu müssen oder zu können, wenn auf Paraphrasierungen weitgehend verzichtet wird. Die mit den Emotionen in Zusammenhang stehenden Handlungsimpulse können diesen eindeutig zugeordnet und entsprechend unmissverständlich interpretiert werden.11 (4) Aus Sicht der funktionalistischen Verhaltenspsychologie ist davon auszugehen, dass Emotionen in komplexe Bewertungs- und Handlungsabläufe eingebettet sind.12 Wie es bereits aus antiken affektpsychologischen Argumentationen ersichtlich wird,13 weisen auch moderne emotionspsychologische Forschungen mit funktionalistischem Ansatz darauf hin, dass Emotionen Reaktionen auf Bewertungsprozesse (appraisals) sind.14 Sie dienen der Verhaltensregulation, denn sie demonstrieren der emotionserlebenden Person wie ihrer Umwelt, dass eine Situation aufmerksam und als außerordentlich und wichtig wahrgenommen wird – gleichgültig, ob die Emotionen mit positiven wie negativen Reaktionen verbunden werden.15 10 Erzählerisch könnte Freude beispielsweise durch Lachen, Humor usw. ausgedrückt werden, Schmerz oder Traurigkeit durch Tränen oder eine niedergeschlagene Körperhaltung usw. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die jeweilige Ausformung des emotionalen Verhaltens immer kulturell und sozial geprägt ist. 11 Paulus beeilt sich, Epaphroditus auf die Reise nach Philippi zu schicken (Phil 2,28: σπουδαιοτέρως οὖν ἔπεμψα αὐτόν) – die Dringlichkeit des Handlungsimpulses kann als typisches Resultat eines Affekterlebens gedeutet werden. 12 R. S. LAZARUS, Emotion and Adaptation, New York 1991, 38 u. a. 13 Aristoteles demonstriert am Beispiel des Zorns, dass dieser Affekt und auch seine Bewertung von verschiedenen Faktoren abhängig ist, z. B. von der Situation, von Anlass und Zeit (Aristoteles, eth. Nic. 7,7 [1149a 25–1149b 27]). Im Gegensatz zu den Stoikern schätzte er auch den Zorn beispielsweise funktional für die Verteidigung (eth. Nic. 4,11 [1125b 30–1126a 12]), allein die Maßlosigkeit des Zorns sei zu vermeiden (eth. Nic. 2,4 [1105b 20–30]; 2,5 [1106b 21–35]; 2,7 [1108a 4.15–16]; 3,3 [1111a 30]; 4,11 [1126a 9– 1126b 10]), dem schlossen sich auch die späteren Peripatetiker an, vgl. Cicero, off., 1,89; Tusc. 19,43f.; zur Maßlosigkeit vgl. auch Tusc. 4,43.55; siehe M. ERLER, Der Zorn des Helden. Philodems de Ira und Vergils Konzept des Zorns in der Aeneis, GrB 18 (1992), 103–126 (114f.). 14 LAZARUS, Emotion (s. Anm. 12); R. S. LAZARUS / S. FOLKMAN, Stress, Appraisal and Coping, New York 1984, siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 44. 15 N. H. FRIJDA, The Emotions. Studies in Emotion and Social Interaction, Cambridge 1986, 371: „Emotions are action readiness changes in response to events relevant to the individual’s concern.“ Siehe hierzu auch den motivationspsychologischen Ansatz bei der Deutung von Emotionen von R. S. LAZARUS, Progress on a Cognitive-MotivationalRelational Theory of Emotion, American Psychologist 46 (1991), 819–834 (819f.); Übersetzung von A. SCHÜTZWOHL, Die kognitive Emotionstheorie von Richard S. Lazarus, http:\\www.uni-bielefeld.de/psychologie/ae/AE02/LEHRE/Lazarus.pdf, 19: „Wir reagieren bei unwichtigen Dingen nicht mit einer Emotion, sondern bei Werten und Zielen, zu denen wir eine starke Verpflichtung eingegangen sind; ... das Konzept der Motivation

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Erlebt eine Person eine Situation dagegen als ‚normal‘ und erfahrungsgemäß, werden in der Regel keine Emotionen, sondern lediglich Routinehandlungen ausgelöst. Es spricht meines Erachtens nichts dagegen, diese These für die Interpretation des Philipperbriefs zu prüfen. Demnach sollten alle Belegstellen, die im Zusammenhang mit Affektbegriffen stehen, als Markierungen interpretiert werden, die darauf verweisen, welche Auslöser Paulus als besonders wichtig versteht. Entsprechend sind die Aufrufe zur Freude als paulinische Aufforderungen zu deuten, den dahinterstehenden Phänomenen eine Relevanz zu geben. Diese Überlegungen sind nicht anachronistisch, weil die Wirkweise von Affekten seit der Antike philosophisch und rhetorisch diskutiert worden ist.16 Auch dass sie häufig eine mehrfache Signalfunktion erfüllen,17 ist schon in der Antike reflektiert worden:18 Sie können bei der emotionserlebenden Person für Aufmerkhilft uns [somit] zu verstehen, was einer für die Anpassung relevanten Begegnung persönliche Bedeutung verleiht und zu einer Quelle von Schaden oder Nutzen und damit von Emotionen macht.“ 16 Zum Beispiel diskutiert Platon im Kontext mehrerer Dialoge die Bedeutung und Funktion von Affekten und ihrer Beherrschung für den Menschen, erarbeitet aber keine eigene Affektsystematik. Zur Freude und dem grundsätzlichen Affektverständnis bei Platon siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 54–78. Aristoteles behandelt die Funktionsweise von Affekten vor allem in seiner Lehre der Rhetorik; vgl. Aristoteles, rhet. 1,2 (1356a 14–16) u. a. Die Stoiker setzten sich systematischer mit dem Affektkonzept auseinander und entwickelten in diesem Zusammenhang Handlungstheorien, die Affekte einbeziehen. Die Freude rechnete die jüngere stoische Strömung den Eupatheiai zu, siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 79–105 (Lit!). 17 Die moderne Forschung konzentrierte sich bei ihren Untersuchungen zunächst auf die Eltern-Säuglings-Kommunikation, in der bereits die doppelte Signalfunktion von emotionalen Äußerungen nachweisbar ist, vgl. H. P APOUŠEK / M. P APOUŠEK, Symbolbildung. Emotionsregulation und soziale Interaktion, in: W. Friedlmeier u. a. (Hg.), Emotionale Entwicklung. Funktion, Regulation und soziokultureller Kontext von Emotionen, Heidelberg 1999, 135–155 (150); T. HÜLSHOFF, Emotionen. Eine Einführung in beratende, pädagogische und soziale Berufe, UTB 2051, München 1999, 20. 18 Das zeigt sich beispielsweise im Dialog Phaidon, wo die Stunden vor Sokrates’ Sterben beschrieben werden. Alle Freunde des verurteilten Philosophen kämpfen um ihre Selbstbeherrschung, aber dies gelingt nicht. Im Moment der persönlichen Betroffenheit brechen bei den Sokratesschülern die Affekte hervor. Die Affekte wirken dabei subjektreferenziell, denn sie kommunizieren der erlebenden Person etwas darüber, wie relevant die zugrundeliegenden Ereignisse von ihr bewertet werden. Gleichzeitig zeigt Platon, Phaid. 59a, dass Phaidon die Demonstration von Affekten bei anderen interpretiert, wenn er daraus Aussagen über das innere Erleben der affektempfindenden Personen ableitet. Und Affekte wirken ansteckend: Das demonstrieren die ansteckende Trauer der Sokratesfreunde (Phaid. 117d) genauso wie die Warnung vor den affekterfüllten Frauen, die aus diesem Grund zu meiden sind (Phaid. 117d). Affekte erfüllen insofern in diesem Beispiel sogar eine dreifache Funktion: Sie können Informationen über die eigene Wahrnehmung vermitteln; sie informieren andere über das gezeigte Erleben; und sie können

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samkeit und gegebenenfalls Handlungsimpulse sorgen, sie können aber auch eingesetzt werden, um Gesprächspartner zu beeinflussen und zu einer Reaktion zu bewegen.19 Auch Aristoteles beschäftigte sich gezielt mit der manipulierenden bzw. verstärkenden Funktion von Affekten aus rhetorischer Sicht.20 So könnte auch Paulus das Motiv der Freude im Philipperbrief eingesetzt haben, um etwas bei seiner Zielgruppe zu erreichen, wenn er seine eigene Freude demonstriert und seine Adressaten in Philippi immer wieder mit unterschiedlichen Argumenten zur Freude auffordert. Zentrale Aspekte der Freude sollen nun näher betrachtet werden.21

2 Paulus freut sich über die Unterstützung seiner Gemeinde in Philippi Der gesamte Philipperbrief ist geprägt von der Spannung aus erzwungener Abwesenheit und ersehnter Anwesenheit des Paulus in seiner Gemeinde. Die äußere, lokale Entfernung von der Gemeinde steht im Gegensatz zur inneren Nähe, die Paulus ihr gegenüber unter anderem mit dem Motiv der Freude zum Ausdruck bringt.22 Er äußert beispielsweise Freude und seinen Dank für ihr Engagement, denn sie unterstützen ihn regelmäßig im Gebet und auch finanziell (Phil 4,10). Der Abschnitt in Phil 4,10–20 dient insofern als „Empfangsbestätigung“ für eine konkrete Spendensammlung aus Philippi: Paulus quittiert den Erhalt der Unterstützung durch seinen Mitar-

eine (hier: empathische) Gruppendynamik provozieren, siehe hierzu I NSELMANN, Freude, 67–70. 19 Nach dem Modell von R. S. Lazarus ist bei Versuchen der Emotionsregulation zwischen emotionsbezogenen und problemorientierten Bewältigungshandlungsmechanismen zu unterscheiden, LAZARUS / FOLKMAN, Stress (s. Anm. 14), 150 (Lit!); vgl. das Schema bei INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 45. Bei einer problembezogenen Bewältigungsstrategie geht es im Zusammenhang mit negativen Emotionen darum, die problematische Situation zu ändern, die den Bewertungsprozess ausgelöst hat. Bei einem emotionsbezogenen Coping geht es um einen Bewältigungsprozess, bei dem die Bewertungsprozesse (und dadurch die daraus resultierenden Emotionen) modifiziert werden. 20 Aristoteles, rhet. 1,2 (1356a 14–16); zu den einzelnen πάθη siehe Aristoteles, rhet. 2,1–11 (1378a 18–1388b 36). 21 Moderne psychologische Ansätze können auch zum Erkenntnisgewinn antiker Texte beitragen, wenn ihnen eine historisch-kritische Exegese zugrunde liegt und ihre methodische Anwendung kritisch geprüft wird. Dies ist Rahmen dieses Beitrags nicht möglich, siehe hierzu aber das methodische Kapitel zur Analyse von antiken Affekten in INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 13–53. 22 Deutlich wird dies z. B. in Phil 1,27 und 2,12. Epaphroditus übernimmt in dieser Situation die Funktion eines Verbindungsmannes (Phil 2,24).

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beiter Epaphroditus ausdrücklich (Phil 4,18).23 Durch das Geschenk aus Philippi verbessern sich die schwierigen Haftumstände, die Paulus als Qual beschreibt:24 So muss er im Gefängnis nicht länger hungern. Neben dem materiellen Aspekt wird deutlich, dass die Philipper auch in der Krise loyal und verbunden zu Paulus stehen. In seiner Dankbarkeit erinnert sich Paulus daran, dass ihn die Gemeinde bereits bei anderen Anlässen mehrfach materiell unterstützt hat (Phil 4,16). In diesem Zusammenhang lassen sich die verschiedenen Diskursebenen in Anlehnung an das Modell Schulz von Thuns deutlich aufzeigen: Aus pragmatischer Sicht werden von Paulus neben der persönlichen und der sachlichen Aussage auch auf der Beziehungsebene Informationen vermittelt. Die schriftliche Erinnerung des großzügigen Verhaltens dient nicht nur der freudigen Selbstoffenbarung, sondern zugleich der verstärkenden Würdigung derjenigen Adressaten, die sich an den Spenden beteiligt haben. Darüber hinaus darf das Lob der Spender nicht nur als Wertschätzung derselben, sondern zusätzlich auch als doppelter Appell verstanden werden: Die Philipper selbst werden bestärkt, Paulus weiterhin zu unterstützen. Außerdem wird ein vorbildliches Verhalten für andere/noch-nichtSpender markiert – besonders, da Paulus die Großzügigkeit der Philipper mit dem Verhalten anderer christlicher Gemeinden kontrastiert, mit denen es in der frühen Phase der paulinischen Mission keine vergleichbare „Gemeinschaft im Geben und Nehmen“ gegeben habe (ἐκοινώνησεν εἰς λόγον δόσεως καὶ λήμψεως, Phil 4,15). An dieser Stelle des paulinischen Schreibens lässt sich anhand der gewürdigten Praxis in Philippi bereits anschaulich erschließen, welches Beziehungsverständnis Paulus als ideal erachtet: Eine Gemeinschaft sollte von gegenseitiger großzügiger Unterstützung und einem Austausch nach besten Kräften geprägt sein. Das Verhältnis zwischen dem Apostel und der Gemeinde wird also als partnerschaftlich und vor allem kontinuierlich darDieser Hinweis findet sich erst am Ende des Briefs. Die Briefteilungshypothesen, mit denen versucht wird, im Phil unterschiedliche Briefe des Paulus zu rekonstruieren, bleiben bei dieser synchron ausgerichteten Fragestellung und Arbeitsweise zur Bedeutung und Funktion der Freude unberücksichtigt. 24 Phil 4,14 (θλίψει): Θλῖψις wird in diesem Zusammenhang nach der revidierten Lutherbibel häufig mit den älteren, gehobenen Wörtern ‚Bedrängnis‘ oder ‚Trübsal‘ übersetzt. θλῖψις kann eine konkrete Verfolgung oder materielle Not meinen, in Phil 1,17 verwendet Paulus das Wort, um anzuzeigen, wie sehr er sich zusätzlich zu den Haftbedingungen auch von seinen Gegnern unter Druck gesetzt fühlt. In 2Kor 7,4f. erklärt er die θλῖψειςals „von außen Kämpfe, von innen Ängste“, vgl. J. KREMER, θλῖψις, EWNT2 2 (1992), 375–379. Gemäß dem Ideal (Aristoteles, eth. Nic. 9,2 [1171b 15–17]), gegenüber Freunden nicht zu jammern, erfahren wir wenig über die genaueren Haftumstände des Apostels. Zudem ist zu berücksichtigen, dass Paulus diesen Brief bzw. die darin enthaltenen Briefteile aus der Haft verfasste, sodass er möglicherweise im Hinblick auf den offenen Prozessausgang keine Klagen gegenüber Außenstehenden riskieren durfte. 23

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gestellt. Das Verb des freudigen Affektausdrucks (ἐχάρην) leitet in Phil 4,10 den Dank des Apostels über die angekommenen Gaben ein. Bereits mit der Wahl eines Affektausdrucks kennzeichnet Paulus, dass dieses Geschehen keine ‚Routinehandlung‘ für ihn darstellt, sondern wie wichtig diese Zuwendung für ihn ist. Wie an anderen Stellen im Brief wird die Freude emphatisch durch ihre Stellung am Satzanfang hervorgehoben – wodurch auch die Bedeutung der Freude im Beziehungsgeschehen weiter betont wird. Paulus steigert dies darüber hinaus, indem er die Qualität seines Affekts beschreibt, wonach er sich nämlich sehr (μεγάλως) über das Engagement der Philipper freue.25 Die Relevanz des Geschehens, das die Freude bei Paulus auslöst, wird auf diese Weise also dreifach hervorgehoben. „Positive Emotionen“ demonstrieren aus funktionspsychologischer Sicht zudem eine Kongruenz zwischen den persönlichen Zielen einer Person und ihrer Bewertung der reizauslösenden Situation.26 Untersucht man die paulinische Situation auf diesen Aspekt hin, lässt sich tatsächlich Entsprechendes feststellen: Der Apostel sieht das zuvor beschriebene reziproke Beziehungsideal mit den Christen aus Philippi als erfüllt an und bringt in diesem Zusammenhang seine außerordentliche Freude zum Ausdruck.27

3 Paulus freut sich über die Gesundheit des Epaphroditus Ein weiteres Ereignis führt beim gefangenen Paulus offensichtlich zu freudiger Aufregung: Paulus teilt im Philipperbrief mit, dass sich sein Mitstreiter Epaphroditus von schwerster Erkrankung erholen konnte, was anscheinend nicht sicher zu erwarten war. Die Bedeutung dieses Mitchristen darf nicht unterschätzt werden, er ist mehr als nur ein Spenden- und NachrichDas Verb, das in Phil 4,10 die Freude des Paulus ausdrückt, wird durch ein verstärkendes Adverb ergänzt (Ἐχάρην δὲ … μεγάλως). Im griechisch-deutschen Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur von W. BAUER, hg. von K. und B. Aland, Berlin 61988, 1007, wird dies an dieser Stelle als Ausdruck herzlicher Freude übersetzt, mit Verweis auf P. Amh. 39,8 [II V], Ep. Arist. 42.312. 26 Aus Sicht der funktionalen Emotionspsychologie werden Emotionen nur ausgelöst, wenn ein auslösender Reiz als relevant erachtet wird (Zielrelevanz). Die Differenzierung von „positiven und negativen Emotionen“ geht auf R. S. Lazarus zurück. Während positive Emotionen wie Freude, Stolz, Erleichterung oder Liebe vor allem über das Vorliegen einer Person-Umwelt-Beziehung informieren und dabei die Kongruenz zwischen den persönlichen Zielen einer Person und ihrer Bewertung einer reizauslösenden Situation demonstrieren, spiegeln „negative Emotionen“ eine „Ziel-Inkongruenz“, LAZARUS, Emotion (s. Anm. 12), 151; SCHÜTZWOHL, Emotionstheorie (s. Anm. 15), 12. 27 Das Verhältnis zwischen dem Apostel und seiner Gemeinde ist besonders herzlich, VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 5), 2467. 25

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tenüberbringer zwischen Paulus und der Gemeinde.28 Paulus hält Epaphroditus für soweit gestärkt, dass ihm die Rückreise nach Philippi zugemutet werden kann. In Phil 2,25–30 werden die vorausgegangene große persönliche Sorge des Paulus um den christlichen Bruder und die daher auch verständliche besondere Erleichterung über den Verlauf der Erkrankung deutlich. Leider ist aus dem Brief nicht genau zu erschließen, unter welchen lebensbedrohlichen Symptomen Epaphroditus genau zu leiden hatte. Offenbar interessiert sich der Verfasser mehr dafür, wie sich die Erkrankung und Erholung des Epaphroditus auf die Affekte seiner Mitchristen auswirken. Die große Anteilnahme am Gesundheitszustand des Epaphroditus wird durch mehrere Leitbegriffe ausgedrückt. Paulus beschreibt sein Mitfühlen bezüglich der Erkrankung als Schmerz bzw. Traurigkeit (λύπη), die Reaktion auf die Gesundung kennzeichnet er als Freude (χαρά). Diese Affekte bilden daher in diesem Kontext ein semantisches Oppositionspaar; ihnen ist gemeinsam, dass sie die enge Verbundenheit und Fürsorge der Beteiligten untereinander zum Ausdruck bringen. Emotionen erfüllen in einer Kommunikation wie oben skizziert verschiedene Funktionen, unter anderem tragen sie dazu bei, sich selbst und auch anderen eine Rückmeldung über das eigene innere Erleben zu geben.29 Ihnen können externale oder internale, reale oder vorgestellte Auslöser zugrundeliegen. Entscheidend ist nach den Überlegungen von Richard S. Lazarus für einen emotionalen Prozess aber nicht schon das auslösende Geschehen an sich, sondern erst die Bewertung des Reizes durch die betroffene Person.30 Achtet man auf die zusammenhängende Stimulus-, Bewertungs- und Affektabfolge im vorliegenden Zusammenhang, fällt auf, dass die affektauslösenden Bewertungen, wie sie Paulus beschreibt, nicht auf das eigene Wohl der Affektträger konzentriert sind. Es wird nicht beschrieben, ob sich Epaphroditus über seine wiedererlangte Gesundheit ge28 Wie bedeutend Epaphroditus für die Beziehung zwischen dem Apostel und der Gemeinde in Philippi ist, wird aus der persönlichen Wertschätzung des Paulus deutlich. Er bezeichnet Epaphroditus in Phil 2,25 gegenüber der Gemeinde im entsprechenden Abschnitt einführend nicht nur als Bruder, Mitarbeiter, Mitstreiter und Abgesandter aus Philippi, sondern auch als Helfer in Paulus Nöten (λειτουργὸν τῆς χρείας μου). 29 Die funktionale Forschungsrichtung der Psychologie beschäftigt sich unter anderem mit den mentalen Abläufen der Verhaltensregulation. Auch Emotionen werden grundsätzlich adaptive und zielgerichtete Funktionen zugeordnet, sodass sie zur Anpassung des eigenen Verhaltens wie auch des Handelns der Umwelt beitragen können. Siehe hierzu auch Anm. 36. 30 SCHÜTZWOHL, Emotionstheorie (s. Anm. 15), 16: „Die Auslöser von Emotionen sind demnach also nicht konkrete Ereignisse, sondern die abstrakte Bedeutung, die Ereignissen durch den Bewertungsprozess zugeschrieben wird, wobei die emotionsauslösende Bedeutung nicht nur realen externalen Ereignissen zugeschrieben werden kann, sondern auch internalen Ereignissen, die real oder aber auch nur vorgestellt bzw. antizipiert sein können.“

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freut hat. Er scheint vielmehr tief bekümmert (ἀδημονῶν) über das, was den Freunden in Philippi über seine vorausgehende Erkrankung zu Ohren gekommen ist (Phil 2,26): Es wird also vor allem kommuniziert, wie er sich mitfühlend um seine Freunde sorgt, die unruhig und verunsichert an ihn denken. Paulus begründet die eilige Rücksendung des Mitbruders ebenfalls nicht in erster Linie mit eigenen Interessen, sondern mit dem Wohl der Gemeinde: „… damit ihr ihn seht und euch wieder freut (πάλιν χαρῆτε)“ (Phil 2,28). Paulus argumentiert also wie in der vorausgegangenen Begründung des Epaphroditus mit dem empathischen Argument, sich um den inneren Zustand anderer zu sorgen. Erst in einem nächsten Schritt knüpft er daran sein eigenes inneres Wohl: Nach der wiederhergestellten Freude der Christen in Philippi würde er auch selbst wieder weniger Traurigkeit empfinden können (Phil 2,28: κἀγὼ ἀλυπότερος ὦ). Auffällig ist, dass die Affektbegründung wiederum empathisch ist. Dieses Verständnis folgt dem antiken Freundschaftsideal, beispielsweise nach aristotelischer Definition:31

„Freund aber ist der, der liebt und wieder geliebt wird. … Legen wir nun diese Definition zugrunde, so muß ein Freund derjenige sein, der über das Gute Mitfreude empfindet, über das Traurige aber mitleidet, und zwar nicht aus irgendeinem anderen Grunde, sondern nur um jenes willen; denn wenn das eintritt, was er will, freuen sich alle. Über das Gegenteil aber empfinden sie Trauer, so daß Äußerungen von Trauer und Freude Zeichen dessen sind, was man wünscht.“32

31 So ist die unverhüllte Reziprozität bereits nach Aristoteles für Freundschaften konstitutiv, „denn erst gegenseitiges Wohlwollen nennt man Freundschaft“ (Aristοteles, eth. Nic. 8,2 [1155b 30–34]). Der antike Freundschaftsdiskurs wird vor allem bei Aristoteles rezipiert und diskutiert. Aristoteles ordnet seine Argumentation zur Freundschaftsthematik in der Nikomachischen Ethik in den weiteren antiken Freundschaftsdiskurs mit Verweis auf Euripides, Heraklit und Empedokles ein (Aristoteles, eth. Nic. 8,2 [1155b 30– 34]). Darin bezieht er auch auf weitere mündliche Überlieferungen: „Dem Freunde aber, sagt man, muss man um seiner selbst willen das Gute wünschen“ [Hervorhebung A. I.]. Zur Bedeutung von Anstrengungen in Freundschaften: Aristoteles, eth. Nic. 9,5 (1167b 16–1168a 25). Aristoteles betont die Bedeutung des gegenseitigen Nutzens und der Lust in Freundschaften, sieht darin aber nicht ihren höchsten Wert, Aristoteles, eth. Nic. 8,4f. (1156b 6–1159b 24). In eth. Nic. 8,2 (1155b 33–1156a 7), argumentiert er außerdem dafür, dass dieses gegenseitige freundschaftliche Wohlwollen in Freundschaften nicht verborgen sein darf. Die Freude ist auch im Rahmen späterer Freundschaftsdiskurse wesentlicher Topos, beispielsweise bei Marcus Tullius Cicero, Über die Ziele des menschlichen Handelns. De finibus bonorum et malorum, hg., übers. und komm. von O. Gigon und L. Straume-Zimmermann, München 1988, 62f. Zum griechisch-römischen Freundschaftsgedanken in diesem Zusammenhang siehe den Beitrag von Petra von Gemünden in diesem Band (s. o. S. 233–236). 32 Aristoteles, rhet. 2,4 (1381a 1–8).

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Paulus demonstriert und verlangt von seiner Gemeinde in Philippi ein analoges affektpsychologisches Verhalten: Das Ideal der Wechselseitigkeit sowie die Orientierung am Wohl des anderen – an dessen innerem Erleben – werden wie bei Aristoteles zum entscheidenden ethischen Maßstab.33 Um die Tragweite dessen zu erfassen, ist es lohnenswert, eine Differenzierung der modernen Psychologie heranzuziehen. Paul Ekman unterscheidet das rein kognitive Empathievermögen von einer emotionalen Einfühlungskompetenz.34 Sie soll sich nicht darauf beschränken, zu erkennen, was das Gegenüber innerlich erlebt. Diese Form der Anteilnahme soll vielmehr zu einem intrapsychischen Prozess führen, bei dem eine Gefühlsansteckung (emotional contagion) ausgelöst wird. Dieses Phänomen ist in den vorliegenden Kontexten der Fall. Dabei ist der Aspekt der Mit-Freude deutlich hervorgehoben: Die einfühlsame Freude wird von Aristoteles gemeinsam mit dem Mit-Leiden als entscheidender Affekt unter Freunden bestimmt. Im Philipperbrief konzentriert sich die demonstrierte und verlangte Einfühlung nachdrücklich auf das aktive Sich-Mit-Freuen, soll doch diese emotionale Empathie wirksam werden. Verbunden mit dem emotionalen Empathie-Ideal begegnen die Affekte Freude (χαρά) und Traurigkeit (λυπή) sowohl bei Paulus als auch bei Aristoteles in den aufgezeigten Beispielen als sich ergänzende semantische Oppositionen. Dass freudige Anteilnahme nicht zum Selbstzweck verkommen, sondern in konkretes Handeln münden soll, ist auch ein Axiom der funktionalistischen Psychologie. Nach Nico H. Frijda sollten Emotionen sogar grundsätzlich als „changes in action readiness“, als Veränderungstendenzen in der Handlungsbereitschaft, verstanden werden.35 Aus Sicht dieser Forschungsrichtung dienen Emotionen vor allem der Verhaltensregulierung – um das eigene Verhalten zu reflektieren, vor allem aber auch um das Handeln anderer zu beeinflussen.36 Auch Affektdarstellungen in antiken Texten lassen sich auf diesen Aspekt hin untersuchen: Wie im Philipperbrief sind sie häufig mit Absichten verbunden, die vor allem auf Verhaltensän33 Auch in der lukanischen Apostelgeschichte wird ein vergleichbares Ideal wechselseitigen Teilens in der frühchristlichen Gemeinschaft gezeichnet, in materieller Hinsicht bis hin zur Vorstellung einer Gütergemeinschaft (vgl. Apg 2,44–47). 34 „Kognitive Empathie lässt uns erkennen, was ein anderer fühlt. Emotionale Empathie lässt uns fühlen, was der andere fühlt, und das Mitleiden bringt uns dazu, dass wir dem anderen helfen wollen…“, P. EKMAN, Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, München 2007, 249. 35 Diese Definition folgt FRIJDA, Emotions (s. Anm. 15), 71. 36 Untersucht werden in dieser Forschungsrichtung, welche Bewertungen, Motivationen und Handlungssteuerungen in emotionalen Kommunikationszusammenhängen zugrunde liegen. Zur Anwendung des Modells von LAZARUS / FOLKMAN, Stress (s. Anm. 14); LAZARUS, Emotion (s. Anm. 12) in der historisch-psychologischen Exegese siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 43–45 (Lit.).

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derungen oder -stabilisierungen zielen. Besonders positive Affekte oder Emotionen wie die Freude tragen insbesondere bei Zielkongruenz zur Verstärkung eines bestehenden Verhaltens bei. So verfolgt auch Paulus ein mit den Affekten verbundenes Interesse: Vorrangig geht es ihm darum, seine Adressaten unverzüglich zu Handlungskonsequenzen aufzurufen, nachdem er das innere Erleben des Epaphroditus und sein eigenes beschrieben hat: Als Reaktion auf sein Schreiben sollen die Philipper Epaphroditus mit aller Freude aufnehmen (προσδέχεσθε … αὐτὸν … μετὰ πάσης χαρᾶς) und ihn in Ehren halten (Phil 2,29).37 Dieses Anliegen vermittelt Paulus didaktisch auf doppelte Weise: Zum einen wird das von ihm und Epaphroditus vorgelebte empathische Verhalten zum Ideal stilisiert, was ein mimetisches Lernen am Modell ermöglicht (Phil 2,25–28). Zum anderen ergänzt Paulus diese Art der Vermittlung abschließend durch einen direkten Appell, also durch eine eindeutige diegetische Handlungsanweisung zur Freude (Phil 2,29).38 Dieses Muster der didaktischen Doppelführung wird auch an anderen Stellen des Philipperbriefs offenbar.39 Denn wenn Paulus im letzten Teil seines uns überlieferten Schreibens verlangt: „Was ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das tut; so wird der Gott des Friedens mit Euch sein!“ (Phil 4,9),40 dann verbindet er offensichtlich die diegetische mit der mimetischen Didaktik. Der anschließende Segen, der den Beistand Gottes zusagt, kann als theologische Verstärkung für das zuvor vermittelte Verhalten verstanden werden.

In diesem speziellen Fall liegt in der Mahnung des Paulus ein performatives Paradoxon vor: Weshalb sollten die Christen in Philippi, die sich mit Epaphroditus derart verbunden wissen, dass sie ihm ihr Geld anvertrauten und sich vor allem sehr um seine Gesundheit sorgen, zur Freude anlässlich seiner Rückkehr aufgefordert werden müssen – als sei er ein ihnen Fremder, der eine Empfehlung benötigt? Anscheinend geht es Paulus nicht nur um Epaphroditus, sondern exemplarisch um das rechte Verhalten der Gemeinde gegenüber dem Mitbruder, also um eine grundsätzliche Ethik des Miteinander-Umgehens – weshalb er so ausdrücklich auf ein angemessenes affektgeprägtes Verhalten hinweist. 38 Zur Differenzierung der mimetischen und diegetischen Redeform in der klassischen antiken Rhetorik siehe Anm. 43. 39 Paulus demonstriert sich und sein Erleben z. B. in Phil 1,29f. als Vorbild, siehe auch Phil 4,9 und besonders Phil 3,17: „Folgt mir, liebe Brüder, und seht auf die, die so leben, wie ihr uns zum Vorbild habt.“ Dass die Vermittlung der Freude in seiner Lehre zentral ist, verdeutlicht exemplarisch Phil 1,25. 40 Paulus ordnet dabei seine Lehre theologisch ein, indem er sie mit dem Segenszuspruch verbindet. Zur theologischen Einordnung der Freude im Gebet und der Freude im Herrn siehe das später Folgende. 37

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4 Paulus formuliert in seinen Briefen ein Ideal für den Umgang mit Affekten Das Ideal einer reziproken Handlungsorientierung am inneren Erleben des anderen begegnet bezeichnenderweise auch an weiteren wichtigen Belegstellen. Paulus referiert den Philippern z. B. in Phil 1,21–26, wie er mit seiner unsicheren Situation im Gefängnis umgeht. Für ihn selbst sei das Sterben ein „Gewinn“ – er sagt sogar, er hätte die „Begierde/Lust“ (τὴν ἐπιθυμίαν ἔχων) „aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre“.41 Doch wichtiger und damit entscheidungsrelevant sei es, für die Mitchristen weiterzuleben: „es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben, um euretwillen …, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben (χαρὰν τῆς πίστεως).“42 Paulus begründet diese Handlungsentscheidung kognitiv. Er betont, dass er sich nicht für das entscheidet, was ihm persönlich nützlich wäre und ihn daher innerlich positiv erregt (für dieses Begehren verwendet er den aus der antiken Affektlehre konnotierten Begriff der Epithymia). Lieber wertet er wie zuvor die historischpsychologisch positiv besetzte Freude (Chara), also das Affekterleben der anderen, als Maßstab der Verhaltensregulation. Dieser Eindruck bestätigt sich auch in anderen Paulusbriefen, die weitgehend als authentisch anerkannt sind: Der Maßstab für die Ausrichtung des Handelns am Anderen wird beispielsweise auch im ersten Korintherbrief hervorgehoben.43 Man kann sogar behaupten, dass in den pauliniPhil 1,23. Phil 1,25. 43 In 1Kor 10,32f. verlangt er von den Gemeindemitgliedern, sie sollten keinen Anstoß erregen, „wie auch ich jedermann in allem zu Gefallen lebe und suche nicht, was mir, sondern was vielen dient, damit sie gerettet werden. Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi (μιμηταί μου γίνεσθε καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ)!“ Analog zur eben diskutierten Philipperbriefargumentation wählt Paulus auch in diesem Zusammenhang eine zweifache didaktische Vermittlungsmethodik: Er koppelt die zuerst imperativisch formulierte Handlungsanweisung, sich am Gefallen der anderen zu orientieren, wieder mehrfach an das Modelllernen (im oberen Zitat von der Verfasserin des Beitrags dargestellt durch Kursivdruck), hier wiederum dargestellt an seiner Person. Paulus präsentiert seinen Adressaten sogar ein doppeltes Lernen am Vorbild: Die Gemeindemitglieder sollen sich an seinem Verhalten ein Vorbild nehmen, und ebenso an seinem Modelllernen an sich, weil er am Vorbild Christi lerne. Interessanterweise verwendet Paulus in diesem Kontext den Begriff der Mimesis, der in der antiken Rhetorik hochumstritten war: Während Platon in seinem dritten Buch der Politeia die Mimesis (Nachahmung) als Form der nachbildenden Darstellung gegenüber der Diegese, dem Erzählen, abwertete (polit. 3,393f.), erlebte die Mimesisvorstellung seit der Poetik des Aristoteles eine Rehabilitierung und Modifizierung – denn Aristoteles dehnte den Mimesisbegriff auch auf die Nachahmung von Handlungen aus, wenn diese nicht dargestellt, sondern in indirekter Rede wiedergegeben werden (wodurch die Differenzierung Platons stark abgeschwächt wird). Paulus 41 42

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schen Äußerungen zum vorbildlichen Affektverhalten im Philipperbrief die innovative Gewissenskonzeption angedeutet ist, wie sie im Römerbrief ausgearbeitet vorliegt.44 Dort zeigt sich besonders eindrucksvoll das reziproke Empathie-Ideal, wenn Paulus seine Adressaten in Röm 12,9–21 im Hinblick auf das Affektverhalten und ihre Affektkommunikation anleitet: „Die brüderliche Liebe (φιλαδελφίᾳ) untereinander sei herzlich. Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor. … Freut euch mit den Fröhlichen (τῇ ἐλπίδι χαίροντες) und weint mit den Weinenden (τῇ θλίψει ὑπομένοντες). Seid eines Sinnes untereinander. … Vergeltet niemand Böses mit Bösem (κακὸν ἀντὶ κακοῦ). Seid auf Gutes (καλά) bedacht gegenüber jedermann. Ist’s möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden (εἰρηνεύοντες)“ (Röm 12,10–18).45

Allerdings soll sich die Wechselseitigkeit der Empathie auf Situationen der hinwendungsvollen Anteilnahme beschränken, wie es wiederum dem aristotelischen Freundschaftsideal entspricht.46 Die Reziprozität der Affekte soll kein Maßstab in Konfliktsituationen sein, wie wenig später in Röm 12,21 deutlich wird.47 Bei Auseinandersetzungen fordert Paulus zur scheint eine erfolgversprechende Didaktik mit der Mimesiskonzeption zu verbinden, sodass seine Mimesisvorstellung positiv besetzt zu sein scheint. Es ist interessant, dass er häufig mimetische und diegetische Elemente wie auch im Zusammenhang des Philipperbriefs gezeigt zu didaktischen Zwecken verbindet – möglicherweise erhofft er sich von den sich ergänzenden Darstellungsformen den größtmöglichen Lernerfolg. 44 So fordert Paulus in seinem vermutlich letzten Brief, seinem theologischen Testament, von seinen LeserInnen (Röm 14,13): „…richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.“ Anstelle sich zu zerstreiten, sollten die „Schwachen im Glauben“ angenommen werden, vgl. auch Röm 14,1–15,7. Paulus plädiert für ein rücksichtsvolles Miteinander-Umgehen exemplarisch, als er der römischen Gemeinde in seinem Brief anlässlich der umstrittenen Götzenopferfleischpraxis antwortet. Auch im Römerbrief plädiert er also für ein rücksichtsvolles MiteinanderUmgehen. Es gehe nicht darum, seine individuelle Meinung in einem Konflikt mit allen Mitteln durchzusetzen, sondern auf das innere Erleben und das Gewissen der anderen Rücksicht zu nehmen, selbst wenn dieses schwach (etwa im Sinne von: verunsichert) sein sollte – der leitende Bewertungsmaßstab solle dabei die Liebe im Sinne der Agape sein (ἀγάπην, Röm 14,15; siehe auch Röm 12,9–21). So hatte Paulus bereits kurz zuvor geäußert: „Du sollst deinen Nächsten lieben (ἀγαπήσεις) wie dich selbst – die Liebe (ἀγάπη) tut dem Nächsten nichts Böses (κακόν); daher ist die Erfüllung des Gesetzes die Liebe“ (Röm 13,9f., vgl. Röm 12,9–21). Wie in dem eingangs zur Freude vorgestellten Zitat aus dem Philipperbrief (Phil 4,4) wählt Paulus das rhetorische Positionsmittel der Geminatio: Damit wird die Bedeutung der Agape als Handlungsmotivation nicht nur semantisch, sondern auch syntaktisch hervorgehoben und erhält eine doppelte Emphase. 45 Nach der Übersetzung Martin Luthers in der revidierten Fassung von 1984. 46 Aristοteles, rhet. 2,4 (1381a 1–1381b 36). 47 Wenn Paulus fordert: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse mit Gutem (μὴ νικῶ ὑπὸ τοῦ κακοῦ ἀλλὰ νίκα ἐν τῷ ἀγαθῷ τὸ κακόν)“ (Röm 12,21), so steigert das noch seine gerade im oberen Zusammenhang zitierte Äußerung aus Röm 12,17. Paulus verlangt mehr, als das Böse nur zu unterlassen (aber eventuell innerlich beizubehalten). Das „Besiegen des Bösen durch das Gute“ ist nicht nur eine konkrete

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Eintracht auf und rät gegebenenfalls zur Affektregulation. In Phil 4,2 begegnet der Rat, „eines Sinnes zu sein“ anstelle zu streiten, in Bezug auf den konkreten Konflikt zwischen Evodia und Syntyche – anschließend folgen mehrfache Aufforderungen zur Freude. Die Affektunterweisung geschieht wieder sowohl durch das Modelllernen und durch ausdrückliche Paränese. Denn Paulus geht den Philippern vorbildlich voran: Wie eine gelungenes reguliertes Affektverhalten aussehen kann, zeigt er in Phil 1,15–18. Anstelle mit Trübsal reagiert er mit einer freudigen inneren Ausrichtung, selbst angesichts von Provokationen durch vermeintliche Gegner. Mit diesen Ratschlägen befindet sich Paulus im Kontext des antiken Diskurses zur Ethik und dem Umgang mit Affekten.48 Mithilfe der modernen funktionspsychologischen Schule lassen sich die von Paulus demonstrierten Mechanismen noch präziser einordnen: Der Apostel praktiziert und empfiehlt Bewältigungshandlungen, die sich auf die Kontrolle und Wandlung des eigenen Erlebens konzentrieren. Sie lassen sich nach dem Modell von R. S. Lazarus als emotionsorientierte Bewältigungshandlungen einordnen (emotion focused coping). Denn im Gegensatz zu problemorientierten Bewältigungsversuchen zielen sie nicht in erster Linie darauf, die affektauslösenden äußeren Umstände und damit vor allem die Umwelt zu beeinflussen.49 Paulus verlangt von seinen Adressaten vielmehr die Fähigkeit, die eigenen Affekte kontrollieren und sogar modifizieren zu können! Die Absicht hierfür scheint klar. Wie das zuvor beschriebene Ideal der Einfühlung soll auch die Affektkontrolle in Auseinandersetzungen dazu beitragen, die Gemeinschaft zu befrieden und damit zu stabilisieren. Paulus gibt zwei Zielvorgaben: Handlungsanweisung für das gegenseitige Miteinander, sondern impliziert im affektpsychologischen Zusammenhang die Überwindung aggressiver Affekte wie zum Beispiel Zorn durch ein positiveres inneres Erleben, das „dem Guten“ zuzuordnen ist. 48 Hierfür spricht auch die von ihm in diesem Zusammenhang gewählte KampfesMetaphorik, mit der er das Siegen bzw. Überwinden des Bösen ausdrückt. Die Kontrolle bzw. Ausrottung der Affekte ist ein bedeutendes Thema im antiken ethischphilosophischen Diskurs. Vor allem der Zorn gilt in der Stoa als Affekt, der negativ und zu überwinden ist, vgl. Senecas Abhandlung de ira und hierzu J. FILLION-LAHILLE, Le De ira de Sénèque et la philosophie stoïcienne des passions, Paris 1984; siehe hierzu auch die Anm. 85 und 86. 49 Nach dem Modell von R. S. Lazarus ist bei Versuchen der Emotionsregulation zwischen emotionsbezogenen und problemorientierten Bewältigungshandlungsmechanismen (problem focused coping) zu unterscheiden, LAZARUS / FOLKMAN, Stress (s. Anm. 14), 150 (Lit!); vgl. das Schema bei INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 45. Bei einer problembezogenen Bewältigungsstrategie geht es im Zusammenhang mit negativen Emotionen darum, die problematische Situation zu ändern, die den Bewertungsprozess ausgelöst hat; bei einem emotionsbezogenen Coping geht es um einen Bewältigungsprozess, bei dem die Bewertungsprozesse (und dadurch die daraus resultierenden Emotionen) modifiziert werden.

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(1) Zum einen soll der Frieden innerhalb der Gemeinschaft, also der christlichen Eigengruppe (In-Group) gewahrt werden. Zum Vergleich: In der aristotelischen Ethik gilt die Freundschaft auch deshalb als so bedeutsam, weil sie unter anderem der Konsolidierung und Stabilisierung von Gemeinschaften, sogar von Staaten, dient.50 Diese „Freundschaft unter Mitbürgern“ versteht Aristoteles als Eintracht.51 Paulus formuliert dieses ethische Ideal, das so eng mit der Freude verbunden ist, ebenfalls im Philipperbrief (Phil 2,2). Im Römerbrief begegnet es auch als Vorstellung des Gottesreichs, unter anderem als Friede und Freude im Heiligen Geist (καὶ εἰρήνη καὶ χαρὰ ἐν πνεύματι ἁγίῳ, Röm 14,17.19). (2) Zum anderen sollen sich Christen im Umgang mit Außenstehenden (der Out-Group, die ebenfalls die soziale Identität bestimmt) friedlich und kontrolliert erweisen. So wird es in Röm 12,18 angezeigt: Dort wird das Friedensgebot im Umgang mit allen Menschen (μετὰ πάντων ἀνθρώπων εἰρηνεύοντες) postuliert und damit generalisiert. Auch der Philipperbrief weist diese Tendenz in Bezug auf die Ethik und das Affektverhalten auf (Phil 4,5: „Eure Güte laßt kund sein allen Menschen!“), wenngleich im Philipperbrief auch eine klare Abgrenzung von der Umwelt vorgenommen wird (Phil 2,15).

5 Die paulinische Affektlehre hat einen ganzheitlichen Anspruch Im Philipperbrief verweist Paulus vor allem ab dem zweiten Kapitel auf einige Regeln für den Umgang der ChristInnen in der Gemeinde:

„Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Tut nichts aus Eigennutz oder um eitler Ehre willen, sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst, und ein jeder sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was dem andern dient“ (Phil 2,1–4).52

Dies ist die literarische Hinführung zum Philipperhymnus; es ist sein Vorwort und kann auch als paulinische Leseanweisung und Interpretationshilfe zur Einordnung des folgenden Hochgesangs verstanden werden, der von vielen Theologen als urchristlich bewahrtes Traditionsstück gelesen wird. Wenn der Apostel die Gemeinde in Phil 2,2 auffordert, seine Freude zu vervollkommnen (πληρώσατέ μου τὴν χαράν), dann geht es ihm um die Aristoteles, eth. Nic. 8,1 (1155a 23–31). Allerdings setzt diese Eintracht nach Aristoteles tugendhafte Menschen voraus, Aristoteles, eth. Nic. 9,6 (1167a 23–1167b 16). 52 Die Übersetzung richtet sich wiederum nach der revidierten Übersetzung nach Martin Luther von 1984. Kursive Hervorhebung von A. I. 50 51

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höchste Steigerungsform dieses Affekts, um seinen superlativischen Gebrauch. Dass er sich trotz seines Gefängnisaufenthalts und angesichts der unsicheren Perspektive (vgl. Phil 2,3) schon in freudigem Affektzustand befindet, hängt wie gezeigt mit dem Erhalt der Spenden aus Philippi und mit der Genesung des Epaphroditus zusammen. Nun geht es um eine mögliche Steigerung des beschriebenen inneren Befindens: Paulus drückt aus, dass ihn nichts glücklicher machen würde, als die Gemeinde in einträchtiger, liebevoller und einander zugewandter ‚Gesinnung‘ zu wissen.53 Die bei Paulus dafür im Griechischen verwendeten Begriffe sind schwer zu übersetzen, da es keine annähernden Äquivalente im Deutschen gibt. Um sein Ideal zu beschreiben, verwendet Paulus ein Wortfeld von partiellen Synonymen oder Wörtern, die durch ihren Bezug als potentielle Freudeauslöser eng miteinander verbunden sind. Er verwendet den Lexemverband der φρόνησις, der ἀγάπη und des σύμψυχος-Seins. Die Übersetzung dieser situativen Wortverbindung ist umstritten. Die Phronesis akzentuiert im vorliegenden Kontext die tugendhafte Einsicht, also den kognitiven Anteil am Frieden in der Gemeinschaft; die Agape drückt als geschwisterliche Liebe die erwünschte Beziehungsgrundlage der Gemeindemitglieder aus. Besonders interessant ist aus affektpsychologischer Sicht aber der nächste Ausdruck, die Philipper sollten auch σύμψυχοι sein, denn hier wird von Paulus durch den Hinweis auf die Psyche ausdrücklich das Seelenleben seiner Adressaten angesprochen. Die hier begegnende Vorsilbe σύν- hebt die Integrität eines Seins oder Tuns hervor.54 Im Neuen Testament ist sie in einer Wortverbindung mit der Psyche außergewöhnlich, diese Belegstelle ist bei Paulus sogar ein Hapaxlegomenon.55 Dabei steht die ‚Psyche‘ nicht im Zentrum einer Anthropologie des Neuen Testaments; sie begegnet in vielen Schriften gar nicht oder nur vereinzelt.56 Im Kontext der Perikope argumentiert Paulus wieder mit bereits aufgezeigten Mustern, wobei der Sympsychos-Begriff als Schlüsselwort gedeutet werden kann: Der Apostel vermittelt den Anspruch einer idealen Gemeinschaft, die respektvoll mitei53 Das entspricht dem Ideal der freundschaftlichen Eintracht bei Aristoteles, eth. Nic. 9,6 (1167a 23–1167b 16). Nach Aristoteles, eth. Nic. 8,1 (1155a 24) hält der Philosoph die Freundschaft mit der Eintracht verwandt. 54 G. OTTO, Die mit σύν verbundenen Formulierungen im paulinischen Schrifttum, Diss. Masch., Berlin 1952. 55 Zur Übersetzung siehe auch Anm. 59. 56 Insgesamt begegnet der Begriff der Seele (ψυχή) im Neuen Testament lediglich 103mal; er fehlt interessanterweise völlig in Gal, Phlm, 2Thess, Past und 2Joh, obwohl er ein wesentlicher Begriff in der LXX sowie der hellenistischen Philosophie und damit auch der historischen Psychologie ist. Neben der Vorstellung des ‚sympsychos‘-Seins (σύμψυχος) gibt es im Jakobusbrief das oppositionelle Phänomen eines zweifelnden Menschen, der als gespaltene Seele, als ‚dipsychos‘ (ἀνὴρ δίψυχος), zu beschreiben ist, nach Jak 1,8, ein Zweifler, unbeständig in seinen Wegen; siehe auch Jak 4,8.

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nander umgeht, und dies nicht nur reziprok im Handeln, sondern auch reziprok im Fühlen. Das Affektempfinden und das Affektverhalten werden damit zu einem bestimmenden Teil der paulinischen Ethik! Die Adressaten des Briefs sollen nicht ihr eigenes Ansehen und die damit verbundene Außenwirkung auf andere befördern. Vielmehr werden demütige Unterordnung und damit die Aufwertung des anderen bereits in der Einleitung des Philipperhymnus von Paulus zur Tugend erhoben (Phil 2,3f.). Die Gemeinschaft soll über die Eigeninteressen gestellt werden.57 Dieser Anspruch ist ganzheitlich, er betrifft Körper und Seele. Deutlich wird das auch durch Wortfelder, die dem inneren Erleben nahestehen. In Phil 2,1f. wird die geschwisterliche Liebe, die Agape, durch den Hinweis auf die inneren Organe (σπλάγχνα) betont, in denen körperlich die Affekte und die Barmherzigkeit verortet werden können.58 Auch die gerade angesprochene Sympsychos-Argumentation gibt einen Hinweis auf die anzustrebende personelle Integrität. Ernst Lohmeyer hat die Redewendung aus Phil 2,2 in seinem Philipperbriefkommentar mit dem Verständnis übersetzt, die Gemeinde solle „ein Herz und Seele“ sein;59 er hat also das Sympsychos-Phänomen nicht auf die Integrität innerhalb einer Person bezogen, sondern auf die Integrität innerhalb der Gemeinde. Das ist insofern treffend, da sich Paulus beides wünscht: Eine harmonische Gemeinde setzt Mitglieder voraus, die mit sich und ihrem Handeln im Reinen und die damit σύμψυχοι sind. Aus solcher Gemeinschaft kann nach Paulus (vollkommende) Freude wachsen – als Reaktion, Ausdruck und Inhalt eines durch und durch harmonischen Beziehungsgefüges.60 Mit dieser Würdigung der Freude steht Paulus in seiner 57 Auch dies kann zur Stabilisierung und Stärkung der Gruppe beitragen. Das gilt nicht nur für kleinere Gemeinschaften, wie die urchristlichen Gemeinden vorzustellen sind: Schon Aristoteles betont die sogar staatstragende und damit auch größere Kollektive stabilisierende Funktion von wohlwollenden, wechselseitigen freundschaftlichen Beziehungen in Aristoteles, eth. Nic. 8,1 (1155a). 58 H. KÖSTER, σπλάγχνον κτλ., ThWNT 7 (1964), 548–559. 59 LOHMEYER , Philipper (s. Anm. 4), 80. A. Fridrichsen, Σύμψυχος = ὅλη τῇ ψυχῄ, PhWS 58 (1938), 910–912, interpretierte den Zustand der Sympsyche als „von ganzer Seele“, wodurch die Integrität der Persönlichkeit in ihrem Fühlen betont wird. Der von den gesamten Herausgebern der 2. Aufl. des EWNT 2 (1992), 696, verantwortete Artikel zu diesem Lemma übersetzt das Hapaxlegomenon ‚sympsychoi‘ (σύμψυχοι) mit der Beschreibung des Einträchtig- und Einmütigseins, womit sie den Gemeinschaftscharakter hervorheben: „s. bezieht sich aber nach dem Kontext auf die Einheit der Gemeinde im Fühlen wie im Denken und Handeln“. Allerdings ist hierbei zu berücksichtigen, dass das Handeln im gegebenen Vers nicht betont wird, sondern die geschwisterliche Liebe, die Agape (!) als Verhaltensgrundlage. 60 Wie positiv Paulus das Verhältnis zur Gemeinschaft einschätzt, zeigt sich in Phil 4,1, wieder in Verbindung mit dem Motiv der Freude: „Also, meine lieben Brüder, nach denen ich mich sehne, meine Freude und meine Krone, steht fest im Herrn, ihr Lieben.“

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Zeit nicht allein. Auch Philo von Alexandrien verweist auf ihre gemeinschaftsstiftende, ganzheitliche Funktion.61 Und wenn Paulus eine superlativische „vollkommene Freude“ als Beziehungsideal formuliert, klingt dies wieder deutlich an ein aristotelisches Ideal an: Der antike Philosoph diskutiert in der Nikomachischen Ethik die „vollkommene“ Freundschaft als höchste Form einer wechselseitigen Beziehung.62 Folgt man diesen Indizien, dann beschreibt und fordert Paulus gegenüber und von seinen Philippern, dass sie das hochstehende Freundschaftsideal in aristotelischem Sinn leben und erfüllen sollen – untereinander und gegenüber dem Apostel. Dieser Anspruch ist enorm.63 Paulus ist ein pädagogischer Optimist, wenn er davon ausgeht, dass seine ganze Gemeinde lernen kann, die mit dem hohen Ideal einer vollkommenden Freundschaft verbundenen Affekte und Handlungen umzusetzen. Dabei kannte er seine Gemeinden gut und wusste, dass ihre Mitglieder nicht aus überwiegend elitären, gebildeten männlichen Philosophen bestanden, wie es dem überwiegenden klassischphilosophischen Ideal entsprach.

Paulus drückt hier nicht nur seine drängende Sehnsucht nach dem Philippern aus, sondern identifiziert sogar seine Freude mit ihnen! Sie können seinen Affekt nicht nur vervollkommnen, sie bilden und begründen seinen Affekt! Auch bei dieser Aussage sind, analog zur oberen Argumentation, pragmatische, narratologische und psychologische Absichten, Konnotationen bzw. Wirkungen bei der Interpretation zu berücksichtigen. Wenn Paulus das positive Affekterleben in eine Abhängigkeit zu ihnen setzt, demonstriert er seinen Adressaten seine innere Nähe und Verbundenheit und lobt sie damit. Die erzählerische Distanz wird narrativ weiter verringert; psychologisch-funktional erhalten die Adressaten ein verstärkendes Signal zu ihrem bisherigen Verhalten. 61 Philo, Virt. 103: „Er befiehlt also den Volksgenossen, die Proselyten zu lieben, nicht nur wie Freunde und Verwandte, sondern wie sich selbst …, in leiblicher wie in seelischer Hinsicht, in leiblicher dadurch, dass man sie soweit als möglich an allem teilnehmen lässt, in geistiger, indem man Freud’ und Leid mit ihnen teilt, so dass in geteilten Gliedern ein Wesen enthalten zu sein scheint, da das gemeinsame Gefühl füreinander sie verbindet und gleichsam zusammenwachsen lässt.“ 62 Aristοteles, eth. Nic. 8,4 (1156b 6–1157a 20). Aristoteles verbindet sie mit Tugendhaftigkeit, vor allem aber mit anteilnehmender Freude, Wohlwollen, Uneigennützigkeit, Wechselseitigkeit und Eintracht – eben jenen Attributen, die Paulus für die Philipper als Vorbild bestimmt. Zur anteilnehmenden Freude Aristoteles, rhet. 2,4 (1381a 1–11); Aristoteles, eth. Nic. 8,4 (1157a 19f.); zum Wohlwollen Aristoteles, eth. Nic. 8,2 (1155b 30–34); 9,5 (1167a 3–22); zur Uneigennützigkeit und Reziprozität eth. Nic. 8,2 (1155b 30–34); zur Eintracht eth. Nic. 9,6 (1167a 21–1167b 9). 63 Aristoteles, eth. Nic. 8,4 (1156b 25). So geht Aristoteles davon aus, dass derartige Freundschaften nur äußerst selten begegnen, da aus anthropologischer Sicht nur wenige Männer dazu „naturgemäß“ in der Lage seien.

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6 Der Philipperhymnus steigert das Freudemotiv Man wird der Perikope natürlich nicht gerecht, wenn man sie ausschließlich als ethische Mahnrede liest, als eine Paränese oder Freundschaftsbrief64, um die Gruppendynamik zu verbessern, die ja in Philippi bereits zu loben ist (Phil 2,12f.). Es geht Paulus nicht um den Selbstzweck einer sozial funktionierenden Gemeinschaft. Sie ist definiert durch ihren Bezug zu Christus. Der Glaube an ihn ist das identitätsstiftende und tragende Kriterium. Das spiegelt sich sprachlich, wenn Paulus wiederholt auf das Sein in Christus verweist und von der Ermahnung in Christus spricht (Phil 2,1). Wie er sich die christliche Existenz vorstellt, wird im Philipperbrief besonders deutlich, wenn er in einem Lied das Verhältnis und Handeln Jesu gegenüber Gott als Vorbild für die christliche Orientierung bekennt: Im sogenannten „Philipperhymnus“ beschreibt Paulus, wie Christus sich selbst entäußert und bis zum Tod erniedrigt hat, um danach von Gott erhöht zu werden. Paulus deutet in urchristlicher Tradition den schmachvollen Tod Jesu durch die Kreuzigung als frommen Gehorsam (Phil 2,8). Sein Tod ist kein passives, ohnmächtiges Erleiden, sondern ein Akt der Selbstopferung, eine uneigennützige Hingabe. Das Kenosismotiv (des ‚Leerwerdens‘ Christi in Phil 2,7) übertrifft die bislang im Philipperbrief aufgezeigte Vorstellung einer wechselseitigen affektiven und ethischen Rücksichtnahme und Zuwendung. Das Motiv der reziproken Fürsorge wird durch das selbstlose Handeln Christi bis in den Tod weiter gesteigert! Dass Paulus mit diesem Bekenntnis eine Orientierung für die Gemeinde verbindet, zeigt seine den Hymnus einleitende Forderung in Phil 2,5.65 Hier wird die Gemeinschaft in Christus ausdrücklich zum Vorbild für die Gemeinschaft untereinander bestimmt. Wesentliche Aspekte des Christusbekenntnisses (Phil 2,6–11) werden insofern durch die vorausgehende Paränese (Phil 2,1–5) gedeutet, wenn Paulus die Stichwörter der UneigenSo versteht ihn beispielsweise K. W. NIEBUHR, Der Philipperbrief. Freude im Leiden, in: ders. (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlichtheologische Einführung. In Zusammenarbeit mit M. Bachmann, R. Feldmeier, F. W. Horn und M. Rein, Göttingen 2000, 255–262 (258). Dagegen wendet sich allerdings aufgrund der festgestellten Uneinheitlichkeit der Form D. E. AUNE, The New Testament in ist Literary Environment, LEC 8, Philadelphia 1987, 203; vgl. zur Diskussion auch J. T. FITZGERALD, Philippians in the Light of Some Ancient Diskussions of Friendship, in: ders. (Hg.), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech. Studies on Friendship in the New Testament World, NT.S 82, Leiden 1996, 141–160 (141–144); H.-J. KLAUCK, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, UTB 2022, Paderborn 1998, 241 (Lit!). W ICK, Philipperbrief (s. Anm. 5), 153–156, nimmt als Referenz den antiken Familienbrief an. 65 Siehe Phil 2,5; 1 Kor 10,32–11,1 und Anm. 43 in diesem Beitrag, wobei die Frage einer vorbildethischen Bezugnahme auf Christus im Philipperbrief allerdings stark umstritten ist. 64

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nützigkeit und Demut (die sich danach im Hymnus besonders an Christi selbstentäußerndem Handeln zeigen) auf die Gemeinde bezogen darlegt und interpretiert. Im Zusammenhang mit dem Philipperlied besteht der ethische Anspruch nicht nur in gegenseitigem Einfühlen und Handeln, sondern in der Orientierung an urchristlichen Autoritäten und am Wirken Gottes: So wie Christus in seiner Hingabe bis zum Tod als Vorbild zu sehen ist, deutet auch der Apostel selbst die Möglichkeit seiner Verurteilung und Tötung als Gottesdienst und Opfer, das er und die Gemeinde gehorsam und freudig (!) ertragen sollen (Phil 2,17). Und wie sich Paulus ein Vorbild an Christus nimmt, sollen sich auch die Philipper ein Vorbild an Christus sowie an ihm selbst nehmen können. Denn wie sich Christus und Paulus der Versuchung und Bedrängnis ausgesetzt sehen mussten, muss auch die junge christliche Gemeinde mit Bedrohungssituationen rechnen. Vorbildliches Verhalten ist auch an Epaphroditus auszumachen, der nicht nur für die anderen, sondern „um des Werkes Christi willen … dem Tode so nahe gekommen“ ist (Phil 2,30). Diese Argumentation stützt Paulus auf das grundlegende Verständnis, wonach im Glauben an Gott die gegebenen anthropologischen Grenzen gesprengt werden können. Während also im Hinblick auf das friedliche soziale Miteinander die Reziprozität der affektiven und ethischen Handlungen zum Maßstab bestimmt wird, argumentiert Paulus in christologisch-theologischer Vertiefung für ein selbstentäußerndes Verhalten, das sogar den eigenen Tod, das Ende der persönlichen Existenz, zur Folge haben kann. Das eigene, begrenzte menschliche Leben wird nicht zur Grenze der Opferbereitschaft, da die christliche Existenz in Christus diese Grenze überschreiten kann. Denn Paulus sieht sich nicht nur im Leid und Tod mit Christus verbunden, sondern erwartet hoffnungsfroh auch die Auferstehung von den Toten durch die Gemeinschaft in Christus. Auf diese Weise soll die Gerechtigkeit an Christus und der mit ihm verbundenen Gemeinschaft wieder hergestellt werden. Mit seinem Bekenntnis zeigt Paulus, was für das Verständnis der Freude im Philipperbrief grundlegend ist:

„…dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz kommt, sondern die durch Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit von Gott auf Grund des Glaubens. Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleichgestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.“ (Phil 3,9f.)

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7 Die Freude im Herrn „Freut Euch im Herrn! Dass ich euch immer dasselbe schreibe, verdrießt mich nicht und macht euch umso gewisser.“ (Phil 3,1). … Freut euch jederzeit im Herrn, und nochmals sage ich: Freut euch!“ (Phil 4,4)

Vielleicht fürchtete Paulus beim Verfassen seines Briefs, dass seine wiederholten, unablässigen Freudenaufrufe seine Adressaten ermüden könnten. Wie am Anfang des Aufsatzes skizziert, rechtfertigt er sich im dritten Kapitel für diese Redundanz, um sich in Phil 4,4 aber noch einmal unbeirrt zu wiederholen. Qualitativ erhält die Freude einen Bezug zum Herrn, sie ist präzise gesagt eine Freude „im Herrn“ (ἐν κυρίῳ) und wird damit als ‚christlich‘ beziehungsweise ‚theologisch‘ definiert. Der wiederholt eingeforderte Affekt verweist auf die besondere Relevanz, die der damit verbundene ‚Stimulus‘, also der theologische Bezug, für die Adressaten haben soll. In beiden Versen werden jedoch bei genauerer Betrachtung auch kleine unterschiedliche Akzente gesetzt. In Phil 3,1 verrät Paulus implizit, dass er vom Freudenappell eine mehrfache Wirkung erwartet: Der Apostel differenziert die Wirkweise seiner Freudenaufrufe auf Adressant und Adressaten. Er gibt an, dass er sich als Sender nicht von den Redundanzen demotivieren lässt.66 Implizit wird dadurch deutlich gemacht, dass die wiederholten Freudenappelle für eine nachdrückliche Wirkung beabsichtigt sind und nicht etwa auf eine Zerstreutheit des Verfassers schließen lassen sollen. Die Empfänger sollen diese Appelle genau beachten, sie sollen durch sie nicht gelangweilt, sondern gestärkt werden, als wären sie schwächliche (oder zumindest schwerhörige?) Patienten (ὑμῖν δὲ ἀσφαλές, Phil 3,1).67 Das Wiederholungsmotiv dient hier also pragmatisch und psychologisch ausdrücklich auch der Verstärkung des Gesprächspartners! In Phil 4,4 wird dagegen die temporale Qualität der Freude betont: Immer (πάντοτε) sollen die Christen freudig motiviert sein. Durch die rhetorische Positionsfigur der Geminatio wird die Freude in diesem Satz weiter deutlich hervorgehoben. Es handelt sich bei diesem Affektideal offensicht66 Ἐμοὶ … οὐκ ὀκνηρόν Dieser Wortstamm begegnet im Neuen Testament insgesamt nur dreimal, bei Paulus in Röm 12,11 und an vorliegender Stelle. Obwohl im EWNT 2 2 (1992), 1236, als Grundübersetzung träge und faul vorgeschlagen werden, wird die Stelle Phil 3,1 durch die Übertragung „Euch dasselbe zu schreiben, macht mich nicht unlustig“ interpretiert. ‚Träge‘ bzw. ‚unlustig‘ können hier als Ausdruck mangelnder Motivation gedeutet werden, ihre Negierung in Phil 3,1 antithetisch als letztliche Motivation. 67 G. SCHNEIDER , ἀσφάλεια et. al, EWNT 2 1 (1992), 423f., übersetzt entsprechendes Lemma im paulinischem Kontext von Phil 3,1 als Ausdruck der Sicherheit und Bestätigung für die Briefempfänger. Aus Sicht einer modernen psychologischen Exegese könnte dies im vorliegenden Zusammenhang als ‚Verstärkung‘ gedeutet werden.

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lich nicht um ein situatives, starkes aber kurzfristiges Überwältigtsein. Die adverbiale Bestimmung des Tempus (πάντοτε) verweist auf die Dauerhaftigkeit dieser Freude-Konzeption, positiv und beständig soll die ausschlaggebende christliche Wesenseigenschaft sein.68 R. S. Lazarus geht davon aus, dass die Bewertung der zukunftsbezogenen Erwartungen dazu beitragen können, emotionale Reaktionen zu intensivieren (oder abzuschwächen), aber auch zu differenzieren. Eine günstige zeitliche Bewertungskomponente, also eine positive Aussicht, sei gerade für das Erleben von Freude notwendig.69 Der zeitlich übergreifende Zusammenhang im Affektempfinden wird auch schon von Aristoteles hergestellt und hervorgehoben.70 Bei Paulus ist zu sehen: Trotz seiner äußerlich ohnmächtigen Situation drückt er immer wieder seine Hoffnung aus, und dabei scheint es ihm sogar gleichgültig zu sein, wie sich sein persönliches Schicksal entwickeln sollte (Phil 1,18–26)! Er verhält sich mit dieser kontinuierlichen Grundhaltung gemäß einem in der Antike weit verbreiteten philosophischen Ideal. Denn häufig werden in diesem Zusammenhang hinsichtlich der Freude zwei wesentliche Faktoren betont, die uns auch bei Paulus begegnet sind: Ein weiser Mensch sollte seine Affektregungen kontrollieren können und vor allem sollte er in seiner Disposition beständig sein.71 Mit der Betonung des permanenten Affektanspruchs kritisiert Paulus implizit die Gefahr einer zu kurzfristigen Begeisterung, die durch äußere Dies entspricht der Bestimmung des Motivs der Freude in Lk 8,13. Das Gleichnis vom Sämann hat der lukanische Redaktor affektpsychologisch gedeutet, indem die Motive der Freude (χαρά, Lk 8,13) und der Lust (ἡδονή, Lk 8,14) als Deutepunkte der Saat gegenüber der markinischen Vorlage ergänzt werden. Die temporäre, unbeständige Freude wird genauso kritisiert wie die Lust als einen den Glauben erstickenden, unfruchtbaren Affekt (um im Bild der Dornen zu bleiben) – das Ideal besteht nach Lk 8,15 in einem Glauben, der als Zustand der Beständigkeit (ἐν ὑπομονῇ) charakterisiert wird, INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 192–199. 69 SCHÜTZWOHL, Emotionstheorie (s. Anm. 15), 24; LAZARUS, Emotion (s. Anm. 12). 70 Aristoteles, rhet. 1,11 (1370a 30–1371a 1): „Daher muß alles, was mit Lustgefühl verbunden ist, in der Empfindung des Gegenwärtigen oder in der Erinnerung des Vergangenen oder im Erhoffen des Zukünftigen enthalten sein. Denn wahrgenommen wird das Gegenwärtige, erinnert das Vergangene und erhofft wird das Zukünftige…“ Übersetzung hier nach: Aristoteles, Rhetorik. Übersetzt, mit einer Bibliographie, Erläuterungen und einem Nachwort von Franz G. Sieveke, UTB 159, München 51995, 60. 71 Folgt man dem platonischen Phaidondialog, wirkt auch Sokrates in Erwartung seines Todes besonnen und frei von negativen Affekten. Er beschäftigt sich in der ihm verbleibenden Zeit mit reflektierten Gesprächen, in denen er seine Freunde aufmuntert und zur Affektkontrolle auffordert, vgl. INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 63. Diese antitragische Haltung ist in der jüngeren affektphilosophischen Diskussion auch kritisiert worden, vgl. M. C. NUSSBAUM, The Fragility of Goodness, Luck and Ethics in Greek Tragedy and Philosophy, Cambridge 1986 (Ndr. 1989), 385. Paulus weiß nicht sicher, wie sich seine Zukunft entwickeln wird – doch ist Verurteilung zum Tod aus seiner Sicht nicht auszuschließen (s. o.). 68

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und innere Bedrohungen schnell in Enttäuschung umschlagen kann. Eine dauerhafte Freude spiegelt dagegen eine krisensichere Grundstimmung und Persönlichkeitsausrichtung. Dies ist es, was Paulus nachdrücklich einfordert.72 Diese Tendenz zeigt sich variiert auch kurz zuvor in Phil 4,1. Der temporalen Qualität der Freude entspricht die Stabilität des Glaubens, an die Paulus hier ausdrücklich appelliert:

„Also, meine lieben Brüder, nach denen ich mich sehne, meine Freude und meine Krone, steht fest im Herrn, ihr Lieben.“ (Phil 4,1)

Hier geht Paulus sogar so weit, die Philipper mit seiner Freude zu identifizieren, sein inneres Empfinden also als von ihnen abhängig zu betrachten! Weiter setzt er sie mit „seiner Krone“ (στέφανός μου) gleich. Beide Ausdrücke implizieren auf der Beziehungsebene die außerordentliche Wertschätzung der Adressaten – denn Paulus vermittelt ihnen, dass sie ihm im alles entscheidenden eschatologischen Gericht zur Ehre gereichen werden.73 Das innige Verhältnis zur Gemeinde wird auch dadurch deutlich, dass Paulus in diesem Vers seine Sehnsucht nach ihr zum Ausdruck bringt. Wieder steht die gefühlte innere Nähe in Spannung zur unfreiwilligen räumlichen Ferne. Aus dieser Distanz kann das Lob der Philipper dazu eingesetzt werden, das von ihnen erwünschte und bestehende Verhalten psychologisch zu verstärken (Appellfunktion). Denn Paulus verbindet seine Würdigung unmittelbar mit der Handlungsaufforderung, fest im Herrn zu stehen (στήκετε ἐν κυρίῳ). Neben der Qualität der temporalen Beständigkeit wird mit der Aufforderung zur Standhaftigkeit auch die (innere) Stabilität als notwendige Eigenschaft der christlichen Existenz bestimmt. Für diese Stärke unter den Philippern bemüht sich Paulus nicht nur mithilfe paränetischer Appelle, auch bei Gott setzt er sich für seine Freunde ein. Er berichtet den Philippern von seinen Gebeten, die ebenfalls als freudig charakterisiert werden.

8 Die Freude im Gebet Im bereits betrachteten Abschnitt Phil 2,1–4 gründet Paulus seine ethischen Weisungen auf die zusammenschweißende gemeinsame Christuserfahrung 72 Außerdem könnte auch eine Anspielung auf die erhoffte eschatologische „ewige Freude“ nach Jes 35,10 vorliegen, denn in beiden Kontexten liegt eine kritische Ausgangssituation vor, aus der theologisch begründet eine freudige Perspektive aufgezeigt wird. Interessant ist hierbei ferner, dass die eschatologische Freude des Jesajabelegs als Ergebnis einer Affektregulation dargestellt wird. 73 S. VOLLENWEIDER, Philipperbrief (s. Anm. 5), 2466; siehe auch den Beitrag von Petra von Gemünden in diesem Band (s. o. 247f.).

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mit der daraus resultierenden Lehre (παράκλησις ἐν Χριστῷ) und auf die Gemeinschaft des Geistes (die κοινωνία πνεύματος, Phil 2,1). Auch in fast allen anderen Belegstellen des Philipperbriefs wird zumindest durch den Kontext ein Zusammenhang zwischen dem Motiv der Freude und Christus bzw. dem Heiligen Geist hergestellt. Damit erhält die Freude einen theologischen Gehalt. Schon zu Beginn des Philipperbriefs wird die Freude im Rahmen des Gebets hervorgehoben:

„Ich danke meinem Gott, sooft ich euer gedenke – was ich allezeit tue in allen meinen Gebeten für euch alle, und ich tue das Gebet mit Freuden – für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tage an bis heute; und ich bin darin guter Zuversicht, daß der in euch angefangen hat das gute Werk, der wird’s auch vollenden bis an den Tag Christi Jesu.“74

Es ist kein Zufall, dass Paulus am Beginn seines Schreibens betont, wie fromm er ist und dass er sein ganzes Handeln und Wollen der Botschaft Christi unterordnet. Immer wieder referiert er in seinem Brief auf Gott und Christus und legitimiert damit sich und seine Botschaft. Alles Folgende stellt er in diesen Rahmen. Interessant ist aus affektpsychologischer Sicht, dass er bereits hier, zu Beginn der inhaltlichen Argumentation seines Briefs, auf die Freude eingeht, während er das Motiv im Anschreiben wie schon gezeigt als potentielles reines Grußformular grundsätzlich vermieden hat.75 Dafür legt er auf den Freudeaffekt in Phil 1,4 aufgrund der auffälligen Satzstellung sogar eine Emphase.76 Das ist für Paulus außerge74 Phil 1,3–6, hier zitiert nach der revidierten Übersetzung nach Martin Luther von 1984. Hervorhebung A. I. 75 Paulus verwendet in seinen Briefen häufig die besondere Begrüßungsform „Gnade und Frieden“ (χάρις καὶ εἰρήνη). Durch diese außerordentliche Form, die sich frühchristlich allerdings nicht durchsetzen konnte, konnten die Wertschätzung der Adressaten und zugleich wichtige theologische Orientierungen ausgedrückt werden. Das von Paulus hier nicht verwendete Formular der Aufforderung zur Freude (χαῖρε / χαίρετε) hätte dem rein konventionellen Gruß der Antike entsprochen, auf das auch Kirchenväter wieder zurückgriffen, siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 155–160; K. B ERGER, Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe, ZNW 65 (1974), 190–231 (191–207); KLAUCK, Briefliteratur (s. Anm. 64), 44. Denn ein einheitliches Grußformular gab es im Urchristentum nicht, so hat Lk 1,28 die Grußform der Freude (χαῖρε) als Anrede des Engels in der Verkündigungssituation an Maria verwendet, dort allerdings mit semantischer Ambivalenz (als Grußanrede und Freudenaufruf), was dem Adressaten unter anderem durch die irritierte Rückfrage Mariens in Lk 1,29 – „Was für ein Gruß ist das?“ und verschiedene syntagmatische und kontextuelle Bezüge kommuniziert wird, so INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 148–175. 76 Der Satz ist komplex gestaltet – er umfasst im Griechischen die Verse 3–6. Das Motiv der Freude wird nicht einfach durch ein Adverb oder Adjektiv im Hauptsatz ergänzt, sondern durch einen eigenständigen Gliedsatz emphatisch hervorgehoben. Innerhalb dieses zweiten Gliedsatzes, der an den Hauptsatz anschließt, wird die Freude durch syntaktische Inversion (Umkehrung der üblichen Satzstellung), hier an den Gliedsatzanfang, zusätzlich betont.

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wöhnlich.77 Es geht thematisch nicht um die Freude am Gebet im Allgemeinen. Denn Paulus stellt die Gebetsfreude in einen klaren Kontext: Es geht ihm um seine Fürbitte für die Gemeinde in Philippi, also wieder um das Heil der anderen, der Freunde. Weil er der Zukunft der Philipper nach seiner Einschätzung trotz aller inneren und äußeren Gefährdungen zuversichtlich entgegensehen kann, ist auch sein Gebet freudig gestimmt (Phil 1,4.6). Auf der literarischen Ebene schreibt Paulus in diesem Abschnitt über sein Gebet als Kommunikation mit Gott, doch da sich der Brief nicht an Gott, sondern an die Philipper als Adressaten wendet, sind mögliche pragmatische Implikaturen zu berücksichtigen. Kommunikativ werden – wieder im Anschluss an das Kommunikationsquadrat Friedemann Schulz von Thuns – durch die Wiedergabe der Fürbitten (auf der Sachebene) performativ auch die guten Wünsche und Hoffnungen des Paulus ausgedrückt (Selbstaussage). Während Paulus seine Gebetspraxis offenlegt, vermittelt er der Gemeinde zugleich seine Zuneigung und Wertschätzung (Beziehungsaspekt). Außerdem macht Paulus bereits zu einem ganz frühen Zeitpunkt seines Briefs deutlich, dass er die Gemeinschaft von Gott geleitet sieht (Phil 1,6). Seine den Philippern vermittelte Freude spiegelt also auch, dass Gott als der alles entscheidende Handlungssouverän zu bekennen ist, dem der wesentliche Platz im christlichen Beziehungsgefüge zukommt. Mit der besonderen Hervorhebung des freudigen Gebets gibt er seinen Mitchristen außerdem ein Vorbild, das noch eindringlicher nachwirkt, je häufiger er das Motiv der Freude im Folgenden betont (Appellfunktion). Eine im weiteren Sinn gebetsbezogene Freude thematisiert Paulus auch etwas später in Phil 1,18f.: „Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder zur Wahrheit, so freue ich mich darüber. Aber ich werde mich auch weiterhin freuen, denn ich weiß, dass mir dieses zum Heil ausgehen wird durch euer Gebet und durch den Beistand des Geistes Jesu Christi.“

Das die Freude ausdrückende Lexem χαίρειν wird hier gleich zweimal konkretisiert: (a) Einerseits gibt der Apostel an, sich über die Verkündigung der Botschaft Christi zu freuen, ungeachtet der jeweils dahinterstehenden Motivation anderer christlicher Missionare. Dem Kontext ist aber zu entnehmen, dass Paulus Erfolge selbst in den von ihm eigens gegründeten Gemeinden bedroht erscheinen, seit sich nach Bekanntwerden seiner Gefangenschaft verschiedene innerchristliche Missionsströmungen erfolgreich entwickelt haben. Die Freude, die er nun also ausdrückt, wirkt paradox – denn Paulus kritisiert durchaus mit klaren Worten lobenswerte und abzulehnende Moti77

Siehe hierzu im Beitrag von Petra von Gemünden S. 238f.

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vationen: Mit der Predigt aus Liebe (ἐξ ἀγάπης) wird die Predigt aus Neid (φτόνον), Streitsucht (ἔριν) und Egoismus/Selbstsucht (ἐξ ἐριθείας) kontrastiert (Phil 1,15–17).78 Vielleicht würdigt Paulus die Ergebnisorientiertheit der christlichen Predigt ohne Ansehen der Missionsmotivation in Phil 1,18, um den potentiellen Verdacht zu entkräften, es könne ihm um seine Person gehen – was fälschlich als Eigennutz gedeutet werden könnte. So stellt er klar, dass er sich der christlichen Mission und ihren Erfolgen selbstlos unterordnet, obgleich die Kritikpunkte seiner Gegner deutlich von ihm benannt werden. (b) Die eigentliche Freude ist in Phil 1,19 aber auf die Zukunft gerichtet. Selbst in Gefangenschaft drückt sich Paulus optimistisch aus. Seine Freude gründet nun auf dem doppelten Wissen (οἶδα), d. h. der vertrauensvollen Glaubenssicherheit, dass die Gemeindemitglieder für ihn bitten und dass er um den Beistand des Geistes Jesu Christi „weiß“. Das Gebet wird also wechselseitig vorgestellt – wie Paulus für die Philipper betet (Phil 1,4), erwartet er entsprechend ihr Gebet für ihn (Phil 1,19). Das Gebet spiegelt damit ein komplexes Beziehungsgefüge: Zunächst ist es Gespräch, Gemeinschaft mit Gott als dem direkten Adressaten. Im Gebet konstituiert sich aber nicht nur die Beziehung zwischen Gott und dem Betenden, denn durch die Fürbitten werden alle am Gebet Beteiligten in die Gemeinschaft einbezogen. Das Gebet erhält dadurch neben der theologischen Bedeutung auch eine verbindende und die Gemeinschaft stabilisierende soziale Funktion. Denn in den Fürbitten – besonders wenn sie schriftlich thematisiert werden – wird das gegenseitige Wohlwollen transparent. Schon Aristoteles hat ausdrücklich betont, dass es nicht nur auf die bestehende Gesinnung der befreundeten Partner ankommt,79 sondern wie wichtig die Kommunikation der gegenseitigen Wertschätzung und der guten Wünsche für die Stabilität in freundschaftlichen Beziehungen ist.80 Im Philipperbrief wird das Motiv der Freude dabei sowohl dem betenden Paulus wie dem um die Fürbitte wissenden Paulus zugeordnet. Eine Freude Gottes wird nicht thematisiert;81 bei Paulus bleibt sie zunächst ein anthropologi78 Dies entspricht den beiden Antrieben, die im gesamten Philipperbrief polarisierend auftreten: Der empathischen, am Mitchristen orientierten Verhaltensausrichtung steht wieder, diesmal vorgeführt am Modell eines abschreckenden Beispiels, das egozentrische Verhalten gegenüber, das für die Gemeinschaft destruktive Folgen nach sich ziehen kann. 79 Aristoteles, eth. Nic. 8,5f. (1156b 30–1157a 23) hebt hervor, dass in Freundschaften nicht nur gegenseitiges Wohlwollen, sondern auch die Freude an denselben Dingen bzw. Themen wichtig ist. 80 Aristoteles, eth. Nic. 8,2 (1155b 33–1156a 5). 81 Dies ist z. B. bei Philo von Alexandrien anders, der in der Freude den einzigen rationalen Gefühlszustand Gottes erkennt und sogar davon ausgeht, dass die höchste und reinste Freude allein bei Gott ist, z. B. Philo, Abr. 202f.; siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 120f.

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scher Ausdruck in einer liebenden, empathischen Beziehung (zu Gott und Mensch). Im Anschluss an den sogenannten Philipperhymnus schließt Paulus an seine dem Hymnus vorangegangene Argumentation an und greift die Konflikte und Gefährdungen der urchristlichen Strömung auf. Auf engstem Raum begegnen dabei vier Konkretisierungen des Freude-Lexems; Wortwahl und syntaktische Gestaltung weisen deutliche Parallelen auf. Paulus demonstriert zunächst die Freude und Mitfreude an sich, bevor er sie analog und wechselseitig von seinen christlichen Geschwistern in Philippi verlangt. Er handelt wie in der oben vorgestellten Perikope Phil 2,25–30 wieder mimetisch vorbildlich, bevor er diegetisch Entsprechendes fordert. Offensichtlich scheint Paulus hier ebenfalls davon auszugehen, seine Gemeindemitglieder zum Affektverhalten, zumindest was die Freude angeht, erziehen zu können:82 „Und wenn ich auch geopfert werde bei dem Opfer und Gottesdienst eures Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen (χαίρω καὶ συγχαίρω πᾶσιν ὑμῖν). Darüber sollt ihr euch auch freuen und sollt euch mit mir freuen (τὸ δὲ αὐτὸ καὶ ὑμεῖς χαίρετε καὶ συγχαίρετέ μοι)“ (Phil 2,17f.).

Man kann diese Verse auch als Versuch des Paulus deuten, seine Anhänger auf das Schlimmste vorzubereiten. Die vorangegangenen Verse belegen, dass er seine ungewisse Lage gegenüber den Philippern offen eingesteht. Eine juristische Verurteilung des christlichen Apostels ist keine unwahrscheinliche Perspektive, auch wenn die Lage des Apostels exegetisch unterschiedlich eingeschätzt wird.83 Paulus warnt die Gemeinde davor, in diesem solchen Fall deprimiert zu reagieren. Auch wenn er gewaltsam zu Tode kommen sollte, hofft er auf eine Deutung der Ereignisse, die den Philippern eine freudige Existenz weiterhin ermöglichen kann. Die Gemeindemitglieder in Philippi sollen Paulus als gottgefälliges Opfer freudig erinnern und keinesfalls an der christlichen Botschaft zweifeln, damit die Ge82 Würde Paulus die Affekte als innere, wilde und unbezwingbare Strebungen interpretieren, wäre ein Affektappell unsinnig. 83 Der tatsächliche historische Hintergrund ist nur indirekt aus den Briefen des Paulus (und möglicherweise aus Hinweisen der Apostelgeschichte) zu rekonstruieren. Es ist selbst umstritten, ob Paulus bei der Abfassung des Philipperbriefs in Rom, Caesarea oder Ephesus inhaftiert war – entsprechend vieldeutig sind die Einschätzungen anhand der Selbstoffenbarungen und Aussagen des Apostels, die er vermutlich unter Aufsicht für die Philipper formuliert hat. Während LOHMEYER , Philipper (s. Anm. 4), 59–70, von einem Martyrium ausgeht und sich bei dieser Einschätzung besonders auf die Todessehnsucht des Apostels in Phil 1,22–26. bezieht, vermutet ECKEY, Briefe (s. Anm. 4), 21.31, den Gefangenschaftsaufenthalt des Paulus eher unter mildernden römischen Umständen, verbunden mit Hafterleichterungen ein (u. a. wegen seiner Besuchsmöglichkeiten). Er geht davon aus, dass der Apostel seine Zukunftsperspektive u.a. aufgrund des Reisewunsches (Phil 1,26) optimistischer deutete, ebd., 67f.

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meinschaft nicht zerfällt. Der Apostel verhält sich damit weitsichtig wie ein Motivationstrainer: Er bereitet seine Schützlinge auf die größtmögliche Krise vor, indem er ihnen nicht nur seine Lehre weitergibt, sondern auch seine Verbundenheit und seine Affekterfahrungen mit ihnen teilt und sie auf eine gemeinsame (freudige) Motivationsgrundlage ‚einschwört‘. Er scheint auf diese Weise einer Resignation der Gemeindemitglieder vorbeugen zu wollen, damit sie gekräftigt aus der sich anbahnenden Krise herausgehen können. Vielleicht betont Paulus die Freude letztlich auch so nachdrücklich, um sich zugleich auch selbst in seiner eigenen freudigen Motivation zu vergewissern – damit er den Gefängnisaufenthalt und das darauf Folgende überstehen kann? Immerhin ist wiederholt deutlich geworden, dass er sein Fühlen und seine Handlungsentscheidungen nicht affektiv, sondern kognitiv begründet. So ohnmächtig, wie er der Obrigkeit physisch ausgeliefert war, blieb ihm zur Affektregulation nur die Möglichkeit emotionsorientierter Bewältigungshandlungen. Wichtiger scheint mir jedoch der auffälligere Beziehungsaspekt zu sein, der wie gezeigt mit allen Freudeaussagen verbunden ist: Paulus nimmt sich und seine Affekte demonstrativ nicht wichtig, er ordnet sein eigenes Ergehen und auch sein Fühlen dem Wohl der Gemeinde selbstlos nach – selbst bei der Frage um Leben und Tod (Phil 1,23–26). Dies geschieht nach dem Vorbild Christi im Vertrauen auf Gott und sein Tun (Phil 2,8). Weil er immer wieder von sich wegsieht und das Wohl der Philipper fokussiert, fühlt er sich ihnen eng verbunden. Auf dieser vertrauensvollen und funktionierenden Gemeinschaft im Glauben basiert die „Zielkongruenz“, die es ihm möglich macht, selbst in einer Gefangenschaft mit ungewissem Ausgang erfüllt und voller Freude die Zukunft zu erwarten.

9 Synthese: Aspekte der ‚Freude‘ im Philipperbrief Im vorliegenden Beitrag ist das Motiv der Freude im Philipperbrief unter Einbeziehung moderner methodischer Paradigmen untersucht worden. Dabei wurde das funktionspsychologische Axiom zugrundegelegt, wonach ein Affekterlebnis in jedem Fall auf die Relevanz seines Auslösers für den Betroffenen verweist. Dies ist im Hinblick auf den Philipperbrief besonders interessant, denn hier begegnet das Phänomen der Freude auffällig gehäuft und zwar wie gezeigt als Reaktion auf verschiedene Auslöser und Bewertungsprozesse. Ihnen weist Paulus damit eine herausragende Bedeutung zu. Das Phänomen der Freude muss aufgrund seiner kommunikativen Mehrdimensionalität im Philipperbrief entgegen früheren Ansätzen auf ver-

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schiedenen Ebenen beschrieben werden.84 Dabei kommt es allerdings vor, dass sich Sachebene und Beziehungsebene überschneiden, aber auch Selbstaussagen und Appelle lassen sich aus den Botschaften zur Freude im Philipperbrief herauslesen. (1) Im Grußformular wird das Motiv der Freude nicht aktualisiert. Dennoch können zwischenmenschliche Anlässe bei Paulus Freude auslösen: Begegnungsfreude (wie im Fall des Epaphroditus) und Beziehungsfreude (wie der Freude des Paulus an seiner Gemeinde) sind hier wie im Lukasevangelium wiederkehrende und wichtige Motive. Durch das nachdrückliche und didaktische Vorgehen des Paulus wird noch deutlicher, welche Bedeutung der Apostel dem Affektausdruck für zwischenmenschliche Beziehungen beimisst. Einerseits wird die Freude mimetisch anhand von Vorbildern (Epaphroditus, sich selbst) und lobenswerten Handlungen (wie der eingegangenen Spendensammlung der Philipper) demonstriert; andererseits fordert Paulus auch immer wieder diegetisch-imperativisch zur Freude auf. Beide Methoden ergänzen und verstärken sich gegenseitig. Am Ende der Betrachtung zeigt sich, wie wichtig es Paulus ist, gerade in der Krise den Zusammenhalt der jungen Gemeinschaft zu stärken und ihr angesichts der großen Verunsicherung über seine Zukunft eine positive Grundhaltung zu vermitteln. Mit den Idealen einer emotionalen Einfühlungskompetenz gibt Paulus eine Orientierungshilfe für einzelne Personen wie für die Gemeinde im Ganzen. Dabei schließt er sich der Vorstellung vollkommener Freundschaften an, der höchsten Form einer reziproken Beziehung, wie es beispielsweise bei Aristoteles vertreten wird. Im Kontext antik-philosophischer Affektlehren lässt sich die Konzeption der Freude im Philipperbrief als herausragend skizzieren:85 Christen sollen Affekte nicht grundsätzlich unterdrücken oder gar eliminieren,86 weder positive wie die So ordnet LOHMEYER, Philipper (s. Anm. 4), 50, alle Belegstellen der Freude im Philipperbrief dem von ihm festgestellten Martyriumsphänomen zu: „… wie denn schon die Wörter ‚sich freuen‘ und ‚Freude‘ am zahlreichsten in diesem kleinen paulinischen Schreiben begegnen. Solche Wendungen sind nicht nur eine herzliche Form redaktioneller Überleitungen, sondern vor allem deutliche Zeichen für die Gedanken, die den ganzen Brief durchziehen. Sie sind auch eigentümlich abgestuft; hier ist es die Freude des Apostels, die so überleitet, in 2,18 die gemeinsame Freude von Apostel und Gemeinde, in 3,1 und 4,4 die Freude der Gemeinde. Aber der sachliche Grund dieser Freude ist überall der gleiche und bricht in der Mitte des Briefes deutlich hervor: es ist, mittelbar oder unmittelbar, die Situation des Martyriums, die Schreiber und Leser umfängt.“ 85 Zum Verständnis der Freude im antiken Affektdiskurs siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 54–145 (Kap. 4 und 5), und den Beitrag von Petra von Gemünden. 86 Stoiker betrachten Affekte als grundsätzlich schädlich, deshalb sind sie auszurotten, vgl. Seneca, de ira 3,42,1f. – allein der Weise kann das Ideal der Apathie erreichen, der Freiheit von den Affekten, durch die völlige kognitive Selbstkontrolle. Die Freude zählt nach dieser Definition nicht zu den vier grundlegenden, negativ definierten Affekten (= Lust [Hedone], Begierde [Epithymia], Furcht [Phobos] und Schmerz [Lype]). Sie kann 84

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Freude noch negative wie die Trauer. Es wird auch nicht thematisiert, wie ein kontrollierter, maßvoller Umgang mit Affekten zu erreichen sein könnte.87 Dafür demonstriert und verlangt Paulus das Erleben und Ausdrücken von positiven Affekten bei sich und von anderen, und zwar durchaus in starkem Maß.88 Dabei wird im Philipperbrief implizit vorausgesetzt, dass der richtige Umgang mit Freude erlernt und kontrolliert werden kann. Diese Annahme enthält einen unerhörten Anspruch: Was viele klassische Philosophen nur wenigen ausgewählten Denkern zutrauten, wird bei Paulus zu einem ganzheitlichen ethischen Ideal, dessen Gelingen als Möglichkeit und Forderung vorausgesetzt wird! Die Auseinandersetzung mit dem Affekt der Freude ist demnach von wesentlicher Bedeutung für die Ethik bei Paulus. (2) Im Gegensatz zur klassisch-philosophischen Freundschaftsethik geht es Paulus nicht vorrangig um das zwischenmenschliche Miteinander, denn bei ihm hat die Freude eine christologische und theologische Fundierung. Auf dieses Verständnis weist der Apostel besonders im Philipperhymnus hin: Zum einen wird Christus hier zum entscheidenden ethischen Vorbild. Zum anderen werden die zuvor vermittelten Ansprüche der affektiven Einfühlung und Wechselseitigkeit durch seine Kenosis gesteigert und transzendiert. In Gottes Handeln an Christus sind die Hoffnung und Vorfreude auf eine gemeinsame Auferstehung begründet. Weil die Gnade Gottes in Christus offenbar wird, kann Paulus darauf bestehen, dass die Kommunikation zwischen Mensch und Gott sowie innerhalb der christlichen Gemeinschaft nicht von Angst, sondern von einer vertrauensstiftenden Freude geprägt sein darf – das gilt besonders für Krisensituationen. Das im Philipperhymnus niedergelegte Glaubensbekenntnis kann als Grundlage der unauch dem Weisen zugeordnet werden, in der jüngeren Stoa wurde sie als Eupatheia definiert, vgl. INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 79–105 (Kap. 5; Lit!), vgl. auch C. HALBIG, Die stoische Affektenlehre, in: B. Guckes (Hg.), Die Ethik der älteren Stoa, Göttingen 2004, 30–68. Zur stoischen Affektsystematik Johannes Stobaeus, ecl. 2,88; Ps.-Andronicus, de passionibus I (teilw. SVF III, 391); Galen, PHP 4,2,1–6. 87 Für Aristoteles gelten Affekte als natürliche Erscheinungen, die der normalen menschlichen Erfahrung zuzuordnen sind; für wichtig erachtet er einen kontrollierten, maßvollen Umgang mit den Affekten. Als Ideal bestimmt er die Metriopathie, also die Ausgewogenheit zwischen den Extremen, vgl. Aristoteles, eth. Nic. 2,7 (1107b 22–1108b 6); vgl. J. DILLON, Metriopatheia and Apatheia. Some Reflections on a Controversy in Later Greek Ethics, in: J. P. Anton (Hg.), Essays in Ancient Greek Philosophy 2, New York 1983, 508–517 (508f.); G. STRIKER, Emotions in Context. Aristotle’s Treatment of the Passions in the Rhetoric and his Moral Psychology, in: A. Oksenberg Rorty, Essays on Aristotle’s Rhetoric, Berkeley 1996, 286–302 (293–296), für einen Vergleich der aristotelischen und der stoischen Affektkonzeptionen, siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 86, Anm. 40 (Lit!) u. a. 88 Das haben die oben bereits erwähnten Verstärkungsformen der Freude exemplarisch gezeigt, wie das Attribut in der Wendung mit aller Freude (πάσης χαρᾶς) in Phil 2,29 oder das Adverb sehr (μεγάλως) in Phil 4,10.

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verbrüchlichen paulinischen Freude verstanden werden. So wird die „Freude im Herrn“ zu einem bestimmenden Leitmotiv des Philipperbriefs. Paulus beschreibt die ideale Freude in der Zusammenschau anhand von verschiedenen Momenten: (a) Sie sollte die Person ganzheitlich, also körperlich und seelisch erfüllen, (b) sich aber nicht am eigenen Wohl orientieren, sondern empathisch („sympsychos“) an dem des anderen. (c) Dabei sollte sie wechselseitig ausgerichtet sein und mit gastfreundlichem und großzügigem Verhalten gekoppelt werden. In jedem Fall sollen aus der Freude uneigennützige Handlungskonsequenzen resultieren, dies soll das Miteinander in der Gemeinschaft prägen. Paulus ist aber Realist genug um zu wissen, dass in schwierigen Situationen häufig nicht freudige Gefühle, sondern negative Affekte ausgelöst werden. Für einen solchen Fall rät er zu emotionsorientierten Bewältigungsstrategien, um wieder zur Freude zurückzugelangen. Auf diese Weise kann der Kreislauf der Freude geschlossen und dauerhaft stabilisiert werden. Denn wie im lukanischen Werk ist auch im Philipperbrief der Faktor der Beständigkeit wesentlich.89 Zwei Ausrichtungen des Affekts finden sich interessanterweise sowohl auf der Ebene der Beziehungsfreude als auch im Zusammenhang mit der christologisch/theologischen Freude: Sowohl die Gemeinschaft unter Christen als auch die Gemeinschaft der „Freude im Herrn“ betreffen das gegenwärtige Erleben und prägen zugleich die zuversichtliche Hoffnung auf die (eschatologische) Zukunft. Die ideale Freude ist im Philipperbrief daher sowohl präsentisch als auch prospektiv konzipiert. Im methodischen Abschnitt ist darauf hingewiesen worden, dass die paulinischen Selbstaussagen über die Affekte grundsätzlich unter einem gewissen Vorbehalt gelesen werden sollten: Sie sind Zeugnisse seines literarischen Ichs und geben nicht unbedingt Aufschluss über das authentische Affektverhalten des historischen Paulus. Immer wieder nennt Paulus verschiedene Auslöser, deren Bewertung ihn zur Freude geführt habe. Sein Fühlen und seine Handlungsbereitschaften sind vor allem kognitiv begründet. Außerdem ist immer wieder an verschiedenen Belegstellen deutlich geworden, dass die Freude bei Paulus nicht einem affektiven Selbstzweck genügt. Paulus appelliert zur Freude in der Krise, um den Zusammenhalt in der jungen christlichen Gemeinde funktional zu stärken und zu stabilisieren. Sie hat also eine wichtige Aufgabe und könnte auch deswegen immer wieder von Paulus betont worden sein. 89 Zur Beständigkeit der Freude bei Lukas siehe INSELMANN, Freude (s. Anm. 6), 403–405. Zur Bedeutung der Freude LOHMEYER, Philipperbrief (s. Anm. 4), 50, im Gegensatz zu M. DIBELIUS, An die Thessalonicher I II. An die Philipper, HNT 11, Tübingen 2 1925, 53.65–67, der die wiederholte, variierte Selbstaussage des Paulus zum Freudeerleben als reines Wortspiel deutete.

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Dennoch wirken die Appelle zur Freude äußerst erfahrungsbegründet – gerade durch die Paradoxie zur frustrierenden Situation der Gefangenschaft. Vieles spricht dafür, dass der historische Paulus tatsächlich von jener Freude durchdrungen war, die er den Philippern predigt: (a) Zum einen weist der Brief im Gesamten nicht auf eine deprimierte Stimmung des Verfassers hin, vielmehr wirkt das Schreiben sehr engagiert und differenziert. (b) Paulus’ Reden und Tun entsprechen sich. (c) Möglicherweise könnte sich der Apostel mit seinem Freudenappell auch selbst vergewissert und darin bestärkt haben, die eigene positive Grundausrichtung zu bewahren, um den Gefängnisaufenthalt und den zu erwartenden Prozess optimistisch zu überstehen: Denn er war der Obrigkeit physisch ausgeliefert, zur Angstregulation blieb ihm nur die Möglichkeit emotionsorientierter Bewältigungshandlungen, wie er sie im Philipperbrief praktiziert und die er auch den Philippern rät. Auch dies spricht für authentische Affekterfahrungen. (d) Wichtiger ist aber, dass sich aus der Beschreibung seiner Glaubensfreude überhaupt erst das tiefe Sendungsbewusstsein und sein Selbstverständnis als Apostel erklären lassen. Die theologische Begründung seiner Freude demonstriert er unter anderem im Philipperhymnus. (e) Alle Aussagen zur Freude lassen sich in ein Beziehungsdreieck (Herr/Paulus/Gemeinde) einordnen: Als Kommunikationsmedien erweisen sich Briefe, Boten und Gebete. Freudige Gebete bedeuten einerseits eine direkte Verbindung zu Gott, dienen aber andererseits auch der Fürbitte für andere. Insofern sind die Philipper und Paulus sowohl in gegenseitiger Freude als auch durch das fürbittende Gespräch gegenüber Gott miteinander verbunden. Dabei bildet die „Freude im Herrn“ die verbindliche und verbindende Glaubensgrundlage. Auf dieser vertrauensvollen und funktionierenden Gemeinschaft im Glauben basiert die ‚Zielkongruenz‘, die es dem historischen Paulus ermöglichen konnte, erfüllt und voller Freude die Zukunft zu erwarten. Der Philipperbrief besticht als ein beeindruckendes und sehr reflektiertes Schreiben. Er ist kein privater Brief im engeren Sinn. Vielmehr war er für eine Gemeindeöffentlichkeit bestimmt, sodass der Apostel hoffen konnte, dass ihn ein größerer Adressatenkreis lesen beziehungsweise hören würde. Mit seiner positiven Ausrichtung dürften die Philipper nicht gerechnet haben, wussten sie doch um die physische Not ihres Apostels. Insofern kann der Brief auch als eine Art persönliches Testament gelesen werden, denn in Gefangenschaft konnte Paulus nicht wissen, ob und wie er sich seiner Umwelt künftig mitteilen können würde. Er musste davon ausgehen, dass er seine Aussagen gegebenenfalls nicht mehr würde korrigieren können: Umso mehr müssen auch seine Appelle zur Freude als wohl überlegt und wesentlich eingeordnet werden.

On Comparison: The Stoic Theory of Value in Paul’s Theology and Ethics in Philippians TROELS ENGBERG-PEDERSEN During his long and illustrious career, Samuel Vollenweider has had a special interest in one representative of the kind of Greco-Roman philosophy that constitutes one context for early Christianity: Epictetus.1 In his recent edition of Epictetus’ Diatribe IV 1 on Was ist wahre Freiheit?, Vollenweider gives one more example of this interest in a substantial interpretative essay on “Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament”.2 Here he, among other things, raises a methodological and theoretical question that lies at the heart of the attempt to read Paul (and as here, Philippians) in relation to Greco-Roman philosophy: the question of comparison. In this article I will address some of Vollenweider’s points in order to articulate how I think the comparative project should be understood. Next, as an example of how to proceed with the comparison in actual practice, I will consider the Stoic theory of value and show how it helps to elucidate Paul’s thought in Philippians at a single focal point. Finally, I will attempt to show how the structure, the general line of thought and the overall purpose of the letter may be said to be derived from that focal point as Stoically understood – or the other way round: how the focal point may be seen to inform all the rest. The aim is to make clear to the reader what a philosophical reading of the letter will look like and what it may show about this kind of text. One astonishing result will be the realization of just how much content of almost any kind (cosmological, sociological, anthropological, psychological and practical) is packed by Paul into this very brief text. It tells the full story of one highly profiled form of human existence.

1 See to begin with S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung, eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen 1989. 2 See S. VOLLENWEIDER, Lebenskunst als Gottesdienst. Epiktets Theologie und ihr Verhältnis zum Neuen Testament, in: idem (ed.), Epiktet, Was ist wahre Freiheit? Diatribe IV 1, SAPERE 22, Tübingen 2013, 119–162.

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1 On comparison In his discussion in “Lebenskunst als Gottesdienst” of the relationship between Paul and Greco-Roman philosophy (particularly Stoicism), Vollenweider rightly distinguishes between a “Dependenzmodell”, that is, a model of a ‘genetic’ relationship, and a “komparatistisches Modell” which is unconcerned with the issue of a historical relationship.3 In the case of Epictetus, Vollenweider – rightly, to my mind – follows Adolf Bonhöffer, who rejected the “Dependenzmodell” and instead adopted the “komparatistisches Modell” that allowed him to look for similarities and differences (“Analogien” and “Kontraste”)4 somewhat more in the abstract. Vollenweider concludes: Der Grundansatz von Bonhöffer, von zwei im Ansatz sehr verschiedenen kulturellen Bildungen auszugehen, nämlich der stoischen Philosophie und ihrer besonderen, individuellen Brechung bei Epiktet einerseits, der urchristlichen Religion und ihrer theologischen Reflexion etwa bei Paulus andrerseits, hat sich als plausibel und wegweisend erwiesen. Wo immer die beiden Kulturgestalten komparatistisch auf einander bezogen werden, orientiert man sich an diesem Basismodell.5

If we now move away from considering only Epictetus, who after all lived in the early 2nd century CE, and where the “Dependenz”, if there was any, would go from early Christianity to the Stoic philosopher, and turn instead to the wider question of a possible “Dependenz” between Stoicism and (in this case:) Paul, the “Dependenz” would evidently go the other way round since Stoicism was articulated as early as 300 BCE and had already definitely influenced certain Hellenistic Jewish writings, like the Wisdom of Solomon.6 Similarly, should we also speak of some kind of “Dependenz” of Paul on Stoicism? Was he too influenced, though possibly only indirectly, by Stoicism? This is a question that I will most emphatically not discuss here. I have argued elsewhere that the answer should be positive in two areas that will also turn out to be highly relevant to our discussion of Philippians: paraenesis (compare here also Paul’s use twice in Philippians of the distinctly Stoic term of prokopȇ) and the Pauline understanding of the pneuma.7 But this is not my concern in these initial methodological 3 VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 125. Vollenweider speaks about Epictetus and the New Testament, but we may generalize his point. 4 VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 126. 5 VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 127–128. 6 See in general H. HÜBNER (ed.), Die Weisheit Salomons, ATD.Apokr 4, Göttingen 1999. For some relevant quotations from Wisdom see T. ENGBERG-P EDERSEN, Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, 22–24. 7 T. ENGBERG-PEDERSEN, The Concept of Paraenesis, in: J. M. Starr / T. EngbergPedersen (eds.), Early Christian Paraenesis in Context, BZNW 125, Berlin 2004, 47–72, and Cosmology (see n. 7), passim. On prokopȇ in Stoicism and in Philippians see my

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remarks, where I wish to focus on the “komparatistisches Modell”, that is, on the methodological character of ‘comparison’.8 In his comments on the “komparatistisches Modell”, Vollenweider notes three points that are probably meant to be generally valid. The first is that the two bodies of thought to be compared should each be interpreted in optimam partem.9 I could not agree more. I would call this principle the lex Malherbe, since Abraham Malherbe insisted so strongly on this and also practised it all through.10 The second and third points are more debatable. I quote the second point in its entirety: Der Versuch, überaus vielfältige geschichtliche Kulturerscheinungen auf basale Figuren hin zu typisieren, muss die Grenzen seiner Reichweite explizit reflektieren und sich mit der dienenden Rolle einer heuristischen Kunst bescheiden. Sowohl die sokratisch modellierten und praktisch ausgerichteten Lehrgespräche Epiktets wie die Briefe und Erzähltexte des Neuen Testaments bleiben widerständig gegenüber aller Systematik.11

At least two points are being made here. One is that both Epictetus’ “Lehrgespräche” and Paul’s “Briefe” cannot be ‘reduced to a system’. In one way I agree completely. One of the great insights in Pauline studies since Heikki Räisänen and Wayne Meeks (both publishing in 1983) precisely insists on the practical character of Paul’s letters.12 And the same certainly goes for Epictetus’ “Lehrgespräche”. However, it cannot really be doubted that in Epictetus case his hortative practice reflects, draws on and uses for innumerable practical purposes what it is only fair to call the remarks in T. ENGBERG-P EDERSEN, Paul and the Stoics, Edinburgh/Louisville 2000, 47.57.70f.90.109. 8 In the actual analysis of the letter, by contrast, I will in fact take ‘Stoic influence’ for granted for some of the relevant ideas. Still, the emphasis will lie on the ‘heuristic’ character (see below) of adopting a Stoic perspective. 9 VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 129. 10 For one formulation see A. J. MALHERBE, Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW 2,26,1, Berlin 1992, 267–333 (276f.) in a section (271–278) on the ‘Problem of Parallels’: “The problem [of an uncritical use of parallels] has been accentuated when the philosophical materials have been approached from the Christian side with an agenda set by a New Testament interest, thus offering a Christian organizing principle for ‘parallels’ found in the pagan materials.” 11 VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 129. 12 I am referring to H. RÄISÄNEN, Paul and the Law, WUNT 29, Tübingen 1983 (21987) and W. MEEKS, The First Urban Christians. The Social World of the Apostle Paul, New Haven 1983 (22003). The point about the practical character of Paul’s letters now represents the consensus. It was prefigured, for instance, in Nils Alstrup Dahl’s wholly persuasive reading of Romans as a ‘missionary document’, see The Missionary Theology in the Epistle to the Romans in: N. A. DAHL, Studies in Paul. Theology for the Early Christian Mission, Minneapolis 1977, 70–94. And of course it has illustrious predecessors in A. Schweitzer and W. Wrede. To my mind, all of this is entirely correct. However, it is not clear, as I go on suggesting, that it necessarily excludes a kind of ‘systematic urge’ on Paul’s part.

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Stoic philosophical ‘system’, in fact, the set of ideas which the Stoics themselves did call a system.13 Similarly, it cannot really be doubted that Paul too has a ‘systematizing’ – or precisely philosophical – ‘urge’: he does want and attempt to keep the many different sides of his overall, developing worldview together in something that strives towards some kind of ‘system’. In his case, then, we may operate with a kind of fruitful tension between any particular statement he makes and an implicit, tentative and far from fully worked out ‘system’ that ‘underlies’ the particular statements.14 And in this he is closely comparable with Epictetus, where the same kind of tension may be found. On this point, then, I think there is more to be said than is allowed for by Vollenweider. And the point is of general importance. We should not give up looking for a substantial degree of coherence of thought in Paul, which may then be seen to underlie and inform his practical concerns. After all, the practice must be of something. Another, perhaps not quite explicit, point in the quotation is that neither Epictetus nor Paul may be ‘reduced’ to some basic ‘figure’ that is then postulated to be identical for both and to capture everything there is to be said about either. If one attempts some such ‘reduction’, then one must at least acknowledge its ‘merely’ heuristic character. Here I agree completely. Vollenweider’s description of the attempt to produce such a ‘figure’ might appear to target what I have myself done in an earlier book of mine on Paul and the Stoics.15 However, the ‘figure’ that I produced there and did posit as being identical for Paul and Stoicism was never meant to be more than a heuristic tool. The moment you would attempt to give a full account of either ‘the Stoics’ (and here too you might want to differentiate) or of Paul, the ‘identical figure’ would come out as being widely different in a number of central respects. I never wanted to deny that. I only wanted to point to one set of features which – in its widely different investments in either case – was both closely similar and pretty central in either case. In short, I completely accept the point that any attempt to posit – by abstracting from its actual, concrete investments – some underlying systematic structure as being closely similar, or indeed the same, is only to be un13 For Epictetus see A. A. LONG, Epictetus. A Stoic and Socratic Guide to Life, Oxford 2002. For the Stoic sense of a ‘system’ see Cicero, fin. 3,74. 14 Personally, I cannot see that Rudolf Bultmann’s ‘systematic’ approach in his Theologie des Neuen Testaments (Tübingen 1948–1953) has lost much of its power, no matter whether one agrees with him on the details or not. 15 See n. 7. The ‘IXS figure’ that I constructed in that book basically aims to bring out a fundamental similarity between the Stoics and Paul on how to conceptualize the form and consequence of a kind of ‘conversion’ that lies at the heart of both lines of thought in the relevant area: an intentional movement from oneself (I) to a more universal entity (X: ‘reason’, ‘Christ’) that generates an intentional movement towards others at the social level (S). See ENGBERG-PEDERSEN, Paul and the Stoics (see n. 7), 53–70.

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derstood as a heuristic tool. But again, the fact that such a ‘figure’ gives no more does not in the least render it devoid of interest. On the contrary, it may help to bring out precisely the differences between the two (supposed) ‘systems’ of thought. By seeing how the ‘figure’ is invested in the one case and not in the other, one will obtain a clearer view of what is special to either, that is, of all those particularities that give either form of thought their special identity. In addition, however, to the extent that there are and remain basic similarities, the comparison may also help us to understand better one side of the comparison (here: Paul) through the light that is thrown on it by the other (here: Stoicism). This is due to the fact that the illuminating side is philosophy, that is, an attempt to spell out the intrinsic, logical connection between a large number of concepts that are intended to articulate and illuminate to us ‘the whole world’. What Stoicism offers – where there is a fit – is therefore the kind of conceptual clarification of what Paul is saying and doing that comes with philosophy. But it all depends on whether there in fact is a fit. And so the attempt at ‘systematic’ comparison is no more than a heuristic tool. Here I would like to acknowledge my personal debt to Wayne Meeks, who, as we all know, was one of the first to bring in modern ideas from the social sciences for a fuller analysis of Paul. What Meeks has always emphasized is that the very point of the whole exercise should be to throw more light on, that is, make us understand better, the historical phenomenon itself that is being studied, in the present case: Paul or the Pauline texts. They are what should be in focus all through, not some abstract set of ideas in the form of the model itself that is being applied. We may generalize Meeks’ point and formulate the following methodological principle. The application and use of any ‘extrinsic’ (or ‘etic’) perspective – no matter how ‘systematic’ it may be – should stand or fall with this question: Does it add significantly to our understanding of the Pauline texts or not? If it does, then its use is validated in the sense that it has been shown to be useful and to have ‘heuristic value’. If not, it is not. To put it in a slightly different way, the comparison of Paul with Stoicism that I am practising is not so much a comparison of two types of thought in an equal balance. Rather, it is ‘tilted’ in the sense that its function or use lies on the one side: with Paul.16 Vollenweider’s third point is that since “umfassende geisteswissenschaftliche Rekonstruktionen unausweichlich im Kontext ihrer eigenen Zeit stehen”, they must “konsequent darauf hin befragt werden, ob sie die historischen Phänomene noch angemessen vergegenwärtigen und nicht 16 Still, of course, by the lex Malherbe what is compared should initially be investigated in its own right and in bonam partem.

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ungebührlich verzerren”.17 Though I certainly understand this concern, I am hesitant to accept it as it stands. I take it that the exercise of ‘comparison’ should be understood in the way it was developed by Jonathan Z. Smith in Drudgery Divine.18 According to Smith, comparing is always a matter of doing two things: first, of noting that item A is more like item B than it is like item C in some specific respect; and second, of being governed by some specific interest on the part of the person who performs the comparison. Seen in that light I cannot share Vollenweider’s fear that since “umfassende geisteswissenschaftliche Rekonstruktionen” will “unausweichlich im Kontext ihrer eigenen Zeit stehen”, there is a special risk that they will “die historischen Phänomene … ungebührlich verzerren”. After all, New Testament studies have been reinvigorated over the last few decades by scholars who are constantly bringing in modern perspectives, which are often quite ‘systematically’ informed, to throw new light on the old texts. Think, for instance, of the social science approach introduced by Wayne Meeks and Gerd Theissen.19 Why, then, should it be any less valid to perform the same kind of exercise by bringing in ‘systems’ for comparison that are derived from antiquity itself? That is the way I see my own use of the Stoic ‘system’ for elucidating Paul. The comparative exercise here is of exactly the same kind as the one that brings in modern ‘systems’, the only difference being that in this case the ‘system’ that is brought in was actually around in Paul’s own time. In spite of the latter fact, however, the exercise is in principle performed on the basis of my own special interests (though certainly with full respect for the Pauline text itself). These interests are fundamentally philosophical. But the comparison is not intended to end up in any overall statement about similarity and dissimilarity, that is, a kind of ‘Fazit’ that consists in a truly “umfassende geisteswissenschaftliche Rekonstruktion”. Instead, as we saw, it is precisely heuristic. It focuses on specific issues that I find interesting and potentially fruitful for a fuller understanding of Paul (other scholars may have other interests) and it ends up saying that in this particular respect Stoicism and Paul are pretty close to one another, while in certain other respects Paul is much closer, say, to the Qumran writings than to Stoicism. If a ‘systematic’ approach is undertaken with all the methodological and historical awareness that is encapsulated in Jonathan Smith’s account of ‘comparison’, then there is VOLLENWEIDER, Lebenskunst (see n. 2), 129. J. Z. SMITH, Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, London 1990. See in particular chapter 2, “On Comparison”. 19 Theissen’s contributions are classics. One good example is G. T HEISSEN, Studien zur Soziologie des Urchristentums, WUNT 19, Tübingen 1979 (21983). 17 18

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absolutely no risk in the ‘systematic’ approach itself that it should “die historischen Phänomene … verzerren”. So, in bringing in Stoicism for comparison and elucidation, I am asking the following question against which everything I will go on to say should be measured: Does the ‘Stoic perspective’ add significantly to our understanding of the Pauline text (here Philippians) or not?20 In what follows, I will bring together a number of points I have made elsewhere on Philippians to show that the Stoic perspective does add significantly to our understanding of the letter. But I will begin from bringing in the Stoic theory of ‘value’, which I have only recently come to see as being highly relevant to the letter.

2 The Stoic theory of value: the Stoic ‘good’ and Paul’s ‘knowledge’ of Christ In Book III of Cicero’s De Finibus, we initially (16–22) hear of the idea that is basic in Stoic ethics: how a quite radical change (in fact, a genuine ‘conversion’) may come about in human beings from taking certain elementary things in the world (food, shelter and the like) to be ‘good’ to seeing that there is only one thing that may properly be said to be ‘good’, namely, homologia (in Greek) or convenientia in Cicero’s Latin (21), meaning ‘living conformably’ or, as it became, ‘living in conformity with nature’. This is the essence of the Stoic concept of oikeiȏsis or ‘appropriation’ to the true good.21 Later, however (at fin. 3,33–34), Cicero comes back to the notion itself of ‘the good’ and brings out that it has a quite special character. He provides a Stoic definition of it as “that which is by nature perfect or complete” (3,33).22 And he then goes on to explain that it has a value (aestimatio) which is (i) peculiar (to it) and (ii) distinct and (iii) due to its kind and (iv) not to any ‘degree’ (3,34).23 By ‘degree’ here is meant ‘quantity’ (magnitudine), and the idea is that more normal ‘goods’ 20 At the conference at which the substance of this article was first presented, Samuel Vollenweider asked in response the exactly appropriate question: Do we need Stoicism to see the various points about Paul that you are making? I will return to this question at the end. 21 I studied this concept in T. E NGBERG-P EDERSEN, The Stoic Theory of Oikeiosis. Moral Development and Social Interaction in Early Stoic Philosophy, Studies in Hellenistic Civilization II, Aarhus 1990. I am quoting from the Loeb Classical Library edition: H. Rackham (ed.), Cicero, De Finibus Bonorum et Malorum, Cambridge, Mass. 1914 (and later). 22 In Latin: id quod esset natura absolutum. 23 In Latin: Alia est igitur propria aestimatio virtutis, quae genere, non crescendo valet.

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(which are precisely not genuinely ‘good’) may be added up, in which case the overall situation becomes better the more of these supposed ‘goods’ one obtains. By contrast, the value of ‘the good’ itself is of an altogether different kind; it is, we might say, qualitatively different. Once it is there, it is there; and nothing can be added to it to make it any better. Here is the text, in the LCL translation with some changes and additions in Latin:

(33) Again, the term ‘Good’, which has been employed so frequently in this discourse, is also explained by definition. … Personally I agree with Diogenes in defining the Good as that which is by nature perfect. … Now notions of things are produced in the mind when something has become known either by experience (usu) or combination of ideas (coniunctione) or analogy (similitudine) or by logical inference (collatione rationis). The fourth and last method in this list is the one that has given us the conception of ‘Good’. The mind ascends by inference from the things in accordance with nature till finally it arrives at the notion of ‘Good’. (34) However, this ‘Good’ itself is absolute (non accessione … sentimus), and is not a question of degree (crescendo); the Good is recognized and pronounced to be good from its own inherent properties (propria vi sua) and not by comparison with other things (cum ceteris comparando). Just as honey, though the sweetest of things, is yet perceived to be sweet by its own peculiar kind (suo … proprio genere saporis) and not by being compared with something else (comparatione cum aliis), so this Good which we are discussing is indeed superlatively valuable (plurimi aestimandum), yet its value depends on kind and not on quantity (genere valet, non magnitudine). Value (aestimatio), in Greek axia, is not counted as a Good nor yet as an Evil; so that however much you increase it, it will still remain the same in kind (in suo genere manebit). The value (aestimatio) of Virtue is therefore peculiar and distinct; it depends on kind (genere) and not on degree (crescendo).

I will come back in a moment to the concept of ‘value’ (axia, aestimatio), which is the core concept in the Stoic theory of value. For the time being we may just note that Cicero appears to be using the term aestimatio in two senses, first as referring to the relative ‘value’ of all those things that are neither counted as genuinely good nor bad but may precisely be compared with respect to their relative value, and second in a more abstract or conceptual sense, where one may also speak of the (absolute) ‘value’ of ‘virtue’, that is, of the highest good itself. It is the latter idea that will immediately concern us here. Is this idea of the ‘absolute’ value of ‘the good’ at all relevant to Paul in Philippians? Yes. It helps us to see something in Paul’s text that is there, but has gone unnoticed until one begins to think about the letter from this specific perspective. In Phil 3,7–11 Paul gives an utterly famous account of his own ‘conversion’. He turned round, so he says, διὰ τὸ ὑπερέχον τῆς γνώσεως Χριστοῦ Ἰησοῦ (3,8). Thus, it was a matter of understanding, of insight and knowledge, in short, γνῶσις, that made him change. We also know that the change took the form that he now rejected completely as having any importance whatever a number of features about himself that he had previ-

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ously considered ‘assets’, ‘advantages’ or ‘gains’ (κέρδη), things with ‘plus value’. Instead, they now became a ‘disadvantage’ or ‘loss’ (ζημία), something with ‘minus value’. What, then, was it about the γνῶσις of Christ that had that effect? Answer: its ‘overwhelming’ character in the precise sense that it had something ‘going beyond’ and ‘exceeding’ about it – τὸ ὑπερέχον, a ‘surpassing value’, as NRSV has it. Surpassing what? Surpassing Paul’s perception of any other valuable possession that he might have – and indeed did have. In other words, Paul’s ‘conversion’ was effected by his being struck by the surpassing character of his experience of Christ, his sense that it was, as we might say, qualitatively different at a completely new level and hence incommensurable with any other valuable possession of his, with any other supposed ‘good’. Now, this idea is quite similar to the Stoic idea of the unique value of ‘the good’ itself: that it is sui generis and cannot be compared with other supposed ‘goods’. And in both cases the idea has the same effect: everything else is from now on considered entirely worthless (in comparison) or, as the Stoics said, ἀδιάφορον (‘indifferent’). Paul himself does not use the latter term, but he distinctly uses the idea itself elsewhere, e.g. at Gal 5,6 when he states that “in Christ Jesus neither circumcision nor uncircumcision ‘has any force’ (τι ἰσχύει)”. They are, precisely, ἀδιάφορα, as systematic theologians keep telling us.24 Can we really build so much on that single word, τὸ ὑπερέχον? However, it is noteworthy that the idea of ὑπέρ crops up elsewhere in the letter. A powerful example is in the ‘hymn’, where Paul states that because Christ had made himself lowly (ἐταπείνωσεν ἑαυτόν) and become obedient unto death on the cross (2,8), God αὐτὸν ὑπερύψωσεν (‘super-raised him’) and gave him the name that is “above” (again ὑπέρ) all names (2,9) – namely, ‘Lord’ (κύριος, 2,11). Here too Paul is out to indicate the ‘absolute’ character of what happened to Christ – which is not at all strange since it points directly towards God, who is of course truly ὑπέρ everything else. Or take 4,7, where Paul promises “God’s peace” to the Philippians and qualifies it as ἡ ὑπερέχουσα πάντα νοῦν (“one that surpasses every ordinary understanding”). Once again, Paul aims to indicate some quality that specifically reflects God and goes beyond anything ordinarily human. I hope it is clear that the Stoic and the Pauline ideas here are not the same. Nevertheless, they are also in important respects so similar that it is worth seeing whether they also function in similar ways as part of the wider thought in the two ‘systems’. Before we move on to that, I will focus a 24 The point about the systematic theologians is intended to remind us that they remember what exegetes have tended to forget: the layer of Stoicism underlying Paul’s reflections.

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bit more on Paul’s account in 3,7–8. It will turn out that he speaks in a manner that almost explicitly recalls the Stoic theory of ‘value’. We saw that Paul qualifies his previous qualities as κέρδη and ζημία, respectively. Where does that particular kind of language come from? Answer: the world of finances. But why should that be the proper place to find the appropriate vocabulary? Here it is surely noteworthy that when Cicero’s Stoics wanted to bring across the special character of ‘the good’, they brought in, as we saw, the notion of axia or aestimatio. That means either ‘value’ or ‘valuation’, and if one looks up in the Stoicorum Veterum Fragmenta, one will see that in SVF III 124–126 von Arnim has collected three intriguing passages from Stobaeus and Diogenes Laertius that distinguish between three different uses of axia and relate them to ‘the good’ and the ἀδιάφορα, respectively.25 And here the financial character of all this vocabulary is obvious. There is talk of a things ‘price’ (τιμή), of the ‘exchange value’ (ἀμοιβή) fixed by a δοκιμαστής (a ‘money-changer’) and more of the same kind. Apparently, what we may pretty innocently (or metaphorically) speak of as something’s ‘value’ was felt in the ancient world (witness: both the Stoics and Paul) to be a distinctly financial concept. In short, in Phil 3,7–8 Paul uses the two terms κέρδος and ζημία because he is speaking of ‘value’ – and, as we know, of the ultimate ‘value’. I am not saying that Paul got it from Stoicism. I am not making the historical claim about ‘Dependenz’, as if we were basically concerned with the Stoic picture (their concept of axia or the like). The arrow goes in the opposite direction. It is Paul who is in focus, and I am employing Stoicism heuristically to throw further light on Paul. From this notion of Paul’s γνῶσις of Christ as something ὑπερέχον, we shall now move out much more broadly into the letter as a whole. But the question remains the same: Do we understand Paul better by (also) reading him from a Stoic perspective? Does bringing in that body of thought add significantly to our understanding of the apostle’s text?

3 The structure of the letter as pivoting around Phil 3,1 What follows is first an ultra-brief summary of a number of points I have made about Philippians over the last two decades.26 Next I will show how See SVF III 30. See in general chapters 4–5 on Philippians in my Paul and the Stoics (see n. 7), which focus on paraenesis, and pp. 147–157 on Phil 3 and the pneuma in my Cosmology (see n. 6). I first sketched some of the ideas in my Stoicism in Philippians, in: T. Engberg-Pedersen (ed.), Paul in His Hellenistic Context, Edinburgh/Minneapolis 1994, 256– 290. 25 26

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these points are in themselves further elucidated in terms of the connection with the Stoic theory of value that I am introducing in this article. Let us first note a number of points that serve to explain the structure of the letter.27 Here I claim that 3,2–4,1 of the letter repeats the precise structure of 1,12–2,18. I also claim that this is something Paul himself announces in 3,1:28 “As for the rest, my brothers, rejoice in the Lord. To write the same to you (namely, once more) gives me no cause for hesitation, and for you it provides security against stumbling”. With this statement Paul does two things. He explicitly tells his addressees that his letter consists of two letter halves pivoting around 3,1. And he also tells them that his fundamental aim with the letter is that of doing paraenesis: cf. χαίρετε ἐν κυρίῳ (“rejoice in the Lord”). In the first letter half, this feature is brought explicitly out in 2,1–4 and again in 2,12–18. In the second letter half it is brought out in 4,1 and then again in 4,2–9. But all the rest of the two letter halves in fact serve the same purpose. How? (i) In 3,2–4,9 Paul begins from contrasting certain ‘enemies’ with himself (3,2–11; 3,2–4 + 4–11) in a manner he has already adopted in 1,12–26 (1,12–18 + 18–26). Whether or not Paul was reacting to certain real opponents, the rhetorical function of the move is clear: spelling out a number of threats to Paul himself and to his addressees (compare 3,2 and 3,18–19 with 1,27–30) is a powerful tool of paraenesis: στήκετε ἐν ἑνὶ πνεύματι μὴ πτυρόμενοι ἐν μηδενὶ ὑπὸ τῶν ἀντικειμένων.29 (ii) As part of this he in 3,4–11 describes himself (implicitly) as a model to the Philippians, as he has already done in 1,18–26. Describing models is another powerful tool of paraenesis. (iii) Paul’s modeling role is next spelled out explicitly in 3,12–17 when he directly brings in the Philippians just as he did in 1,27– 30. (iv) Furthermore, in his account of himself as a model to the Philippians, Paul also draws on the idea that he has himself been filled with pneuma. Thus it is Paul’s pneumatic, bodily practice (cf. 3,9–14 and 1,18–24) that serves as a model to the Philippians.30 (v.a) In the second letter half 27 I am here both presupposing and also arguing (!) that the letter is a single, unified text. At a small conference on Philippians in Jena a decade ago where the issue of dividing up the canonical letter into separate letter fragments naturally came up, Samuel Vollenweider quietly brushed that aside: there is no reason to etc. I could not agree more. Even more, as we shall see, there are plenty of literary reasons not to divide up the letter. 28 For this point see in particular my Paul and the Stoics (see n. 7), 83–85. 29 It is a much discussed issue whether there were any real ‘enemies’ around. I am inclined to believe that there were, but Paul evidently uses their existence for his own purposes. 30 This point is elaborated as a new aspect of Paul’s paraenesis in Philippians in my Cosmology (see n. 6), 147–157. It relies on Paul’s explicit mention of the pneuma in 3,3 and implicit reference to it in both 3,21 and 3,10 – in combination with the role it plays in 1,19–24. As we shall see, the reference to the pneuma ties in very closely Paul’s ‘ethical practice’ (paraenesis) with his ‘cosmology’.

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the explicit paraenesis that spells out Paul’s modeling function comes at the end of the whole line of thought (in 4,1 plus 4,2–9)31 and is undergirded (vi.a) by a reference to the cosmological shape of the coming eschaton (3,20–21). (v.b) In the first letter half the explicit paraenesis comes a bit earlier (in 2,1–4) and is then followed (vi.b) by a cosmological reference to the Christ event (in 2,6–11) and the eschaton (in 2,12–18) that addresses how the Philippians (and Paul himself) should understand themselves in the present in that light. In summary, though the structure of 1,12–2,18 and 3,2–4,9 is not exactly the same, it is sufficiently similar for it to be correct to say that in the second letter half Paul basically repeats in structural terms what he has already said in its first half. In both halves there is a clear line from Paul himself (1,12–26 + 3,2–14) to The Philippians (1,27–30 + 3,15–17) to Explicit paraenesis (2,1–4 and 2,12–18 + 4,1 and 4,2–9) supported by and pointing towards Explicit cosmology (2,5–11 and partly 2,12–18 + 3,18–21

4 The connection between paraenesis and cosmology: cognition and embodiment From these observations on the structure of the letter we may draw the conclusion that there apparently is an important relationship between what we have called ‘paraenesis’ and ‘cosmology’. This is shown by the fact that the latter apparently ‘supports’ the former whereas the former also ‘points towards’ the latter. Precisely how is this relationship to be understood? The answer lies in seeing that in Paul’s thinking in the letter, paraenesis and cosmology are two sides of the same coin which are connected and differ in very precise ways. Paraenesis is a practice (of speaking and writing) that is through and through cognitive. It presupposes and appeals to a certain understanding in its addressees and employs a number of rhetorical means (like modeling) that are all addressed to the understanding. The fundamental idea here is that by an understanding which is already there, the person who engages in paraenesis may bring to do what they already know needs to be done. By actualizing their seeing, they will also come to do. This is an essentially Stoic idea since it is so very strongly focused on 31 Note here, for Paul’s modeling role, 4,9: “What you have learned and received and heard and seen in me, those things you should do” (my trans.). This makes the theme of ‘Paul as model’ wholly explicit.

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cognition and the direct connection between cognition and action.32 It is also the basic idea on which I myself focused to the exclusion of almost everything else in my discussion of Philippians in Paul and the Stoics (2000). And for good reason: (a) it provides the general context that gives a very specific point to Paul’s use of the (Stoic) term of prokopȇ twice in the letter (1,12 and 1,25): what he is speaking of is precisely ‘progress’ in understanding33; (b) it provides the general context that explains Paul’s fundamental structural move that we have noticed from speaking of himself to speaking of the Philippians: the kind of modeling that appeals very strongly to their understanding;34 (c) it also provides the general context that explains the central role that he gives in and surrounding his explicit paraenesis to specifically cognitive concepts like ϕρονεῖν (see 2,2 together with its backing in Christ himself: 2,5; see also 4,2): what the Philippians should gain by means of Paul’s paraenesis is precisely an actualization of the full understanding (ϕρονεῖν) that is modeled to them both by Paul and by Christ himself; (d) finally, it provides the general context for the strongly cognitive shape of what I have called ‘Paul’s maxim’: the two verses (2,3–4) that spell out what Paul’s ultimate paraenetic aim is when he enjoins his addressees‘ to ‘think the same’ and ‘have the same love’ (2,2), namely, to ‘regard’ (or ‘believe’, ἡγούμενοι) others as better than themselves (2,3), and ‘look’ (σκοποῦντες) not to their own interests, but to the interests of others (2,4). All through, this is basically cognitive and it constitutes the one side of the coin. What I then came to see, and spelled out in Cosmology and Self (2010), is that there is another side to all this cognitive talk which is directly cosmological and focused on material bodies. It tells a story of how Paul has himself been (literally) “grasped” by Christ (3,12: κατελήμϕθην), how Christ is (literally) present so as to be “exalted … in my body” (1,20: μεγαλυνθήσεται ... ἐν τῷ σώματί μου) and how Paul hopes that he may be “found in him” (3,9: εὑρεθῷ ἐν αὐτῷ) so that he may “know him and the power of his resurrection and the sharing of his sufferings by becoming like him in his death” (NRSV, 3,10) in the hope that he may also “attain the resurrection from the dead” (NRSV, 3,11). All of this is about Paul’s 32 I once studied this aspect of Stoicism in great detail, see my Stoic Theory of Oikeiosis (see n. 21), in particular chapters 3 (Oikeiosis I, 64–79) and 8 (Intention and Passion: Desire as Belief, 170–206). 33 There is, however, an important difference in the Stoic and the Pauline use of prokopê. In Stoicism, it is a process that may occur in those ‘un-wise’ people (the Stoic ‘fools’) who may nevertheless be making progress in the direction of eventually becoming wise. In Paul, by contrast, it is ‘progress’, in the sense of an actualization of the full understanding that they already do have, among those who are ‘wise’. 34 Cf. again 4,9: “What you have learned and received and heard and seen in me …”.

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own body in a very specific way.35 It tells a story of how Paul’s body has been invaded by the pneuma in a manner that points directly forward, so he hopes, to the return from heaven of Christ (3,20), “who will transform our humble bodies to his glorious body by the power that also enables him to make all things subject to himself” (NRSV, 3,21). The ‘transformation’ (μετασχηματίσει, corresponding to Paul’s being συμμορφιζόμενος to Christ in his death in 3,10) that Paul speaks of here is the transformation of the σῶμα ψυχικόν into a σῶμα πνευματικόν that he has discussed in 1Kor 15,44. It is all wholly bodily and material, focusing on the (material) pneuma. Moreover, as I have argued in Cosmology and Self, it is best understood in terms of a specifically Stoic cosmology, where the pneuma played a central role.36 How, then, may the cognitive and the material account be connected? Here again there is a quite precise connection as soon as one sees the whole issue in a Stoic light. In Stoicism, cognition and materiality are two sides of the same coin. The Stoics were monists and materialists, but they evidently also gave extensive room to cognition. In fact, their pneuma was both material and cognitive (in the form of logos, reason). If we then bring this whole conception to bear on Paul in Philippians, we can describe as follows what he is doing there. Paul is doing paraenesis. He is appealing to an understanding that the Philippians are supposed to have already. In the various ways he operates, he is attempting to actualize in them the full state of understanding (ϕρονεῖν) where they will in fact do what they (already) know should be done. This is all cognitive stuff. However, by describing himself in extremely intense ways as having been taken over by Christ’s material pneuma, he is also appealing to the pneuma in them (cf. 3,3: ἡμεῖς γάρ ἑσμεν ... οἱ πνεύματι θεοῦ λατρεύοντες, “it is we who … worship in the Spirit of God”, NRSV)37 so that they may all eventually undergo the final transformation that is both cognitive and material and will bring them into the heavenly πολίτευμα (‚commonwealth‘) (3,20). In all of this Paul is speaking of a physical takeover and a transformation of their bodies that go with their cognitive transformation. In this way paraenesis and cosmology are not just two separate things. They are intimately connected as being two sides of the same coin. Put it like this: the paraenesis (cognitive) appeals to the pneuma (both cognitive and material) For arguments see my Cosmology (see n. 6), 43–46. With regard to Paul’s talk in 3,10 of knowing the ‘power of the resurrection’, note Bultmann’s brief comment in Theologie (see n. 14), 158: “Fast kann man sagen, dass πνεῦμα mit δύναμις synonym ist …”. He was right (cf. also δύνασθαι in 3,21). 36 See my Cosmology (see n. 6), chapter 1. 37 It seems tempting to correct the text here (in view of the divided manuscript tradition) and read … οἱ πνεύματι θεοῦ λατρεύοντες: “who worship God in God’s spirit”. 35

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that they already possess. And the aim is to bring about their final bodily transformation. Before attempting to connect all this with the Stoic theory of value, we need to bring in one more piece in the puzzle, a concept that is central to Philippians, but has not so far been discussed here: the notion of χαρά (‘joy’).

5 The connection between paraenesis and cosmology: χαρά The central role of χαρά comes out in a number of respects. It is introduced already in 1,4 and given an important role in Paul’s account of his own present situation (1,12–26), where it is contrasted with the “suffering” (θλῖψις) that he undergoes in his ‘chains’ (1,18 vis-à-vis 1,17). The same connection seems implied in 2,17, but here Paul makes it explicit that his addressees, whom he has earlier described as undergoing some suffering too (1,29), should also rejoice, and indeed, rejoice “together with” him (2,18). We already know that the same motif crops up in 3,1, where it constitutes the pivot around which the two letter halves turn. Finally, Paul repeats it very emphatically towards the end of the letter (4,4). What, then, is the exact role of χαρά within the comprehensive understanding of the world that Paul is offering to the Philippians in his letter? The answer is simple. Χαρά refers to the state of mind that the Philippians should be in (and that Paul himself is in) in relation to the world, that is, to their present ‘opponents’ and the suffering they undergo from them, seen in the light of the salvation to come, of which they may already now be certain. Paul speaks of his own σωτηρία (salvation) in 1,19 and that of the Philippians in 1,28 – and then, of course, of the resurrection of both parties in 3,20–21, where “our Lord, Jesus Christ” is himself described as σωτήρ, 3,20. It is in that light that he and his addressees should feel joy. Thus understood Paul’s notion of χαρά fits completely with, and is in fact best understood in terms of, the specifically Stoic understanding of that ‘emotion’. In Stoicism χαρά was one of the three so-called ‘good emotions’ (εὐπάθειαι), in fact the only one that pertains to the present.38 It is a ‘positive’ relationship to the present that completely neglects whatever ‘negative’ features the present situation may contain. And so it is in Paul. His ‘joy’ is an emotional attitude to the present world that complete neglects any ‘negative’ features of it in the light of both the ‘good’ that has already happened to the Christ-believers and also the salvation that lies in the future. Is this attitude in either case an especially ‘emotional’ attitude 38 The two others are future-oriented: ‘wish’ (βούλησις) and ‘caution’ (εὐλάβεια), see SVF III 431–442.

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in the modern sense, where ‘emotion’ is invariably contrasted with reason and understanding? No. On the contrary, it is a through and through cognitive attitude. It basically reflects and expresses the understanding that the person who is rejoicing belongs at the only place that is worth belonging to. Belongs where? This is where Stoicism and Paul are both closely similar and widely different: belongs with the only thing one has grasped to be what matters. On this point Stoicism and Paul are closely similar. But again, what is that ‘only thing’ in either case? It is either reason (for Stoicism), that is, the understanding of the world (as opposed to the world itself) that makes sense of it and relativizes everything in the world, or Christ (for Paul), that is, the figure who in a similar way stands for a kind of ‘radical relativizing’ of the world by pointing to salvation outside the (present and earthly) world. Reason and Christ: that is of course the point where Stoicism and Paul differ quite drastically. But even here, we have just seen that either figure functions in a way that is closely similar. Both reason and Christ, as what one may eventually and fully grasp, relativize the world. Indeed, that is their very essence.

6 The Stoic connection: the ultimate, all-changing insight We are finally ready to connect everything that has been said so far about Philippians with the Stoic theory of value. What we saw in connection with χαρά is also what we saw in connection with Paul’s handling of paraenesis throughout the letter and its material basis in the pneuma: everything in this whole conception hangs on that one, ultimate insight that immediately changes one’s understanding of everything else in the world. In the Stoic theory of value, that insight consists in the grasp of ‘the good’, which is qualitatively different from and incommensurable with anything else in the world. In Paul the insight consists in the “surpassing value of knowing Christ Jesus my Lord” (3,8 in NRSV’s splendid rendering), the grasp of the one thing that surpasses everything in value: Christ (or the Christ event). From this grasp hangs everything else, both in Stoic ethics more broadly and also – and much more to the point here – everything Paul does and says in his letter to the Philippians. It is all contained in this grasp: (a) the cosmology, both at the beginning (the Christ event itself, 2,6–11), the middle (the call of Paul, 3,2–14, and the Philippians, 1,5; 3,15–16) and the end (3,20–21), (b) the psychology (Paul’s own experience of the Christ event, 3,4–11, where he displays what I have called a ‘self of conversion’),39 (c) the distinctly social side that might be further 39 I discuss the experiential character of Paul’s self-account in Phil 3,4–11 in Cosmology (see n. 6), 142–144 and 147–153.

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elucidated in terms of insights from the sociology of knowledge, social anthropology and social identity theory (the paraenesis, the appeal to the Philippians’ sufferings and χαρά, the whole side of Paul’s address where he displays what I have called an ‘apostolic self’)40 (d) and finally and first and foremost the practical side, that is, the way in which everything Paul says and does is geared to making the Philippians act in certain ways as a result of their seeing the comprehensive picture that Paul has offered to them. Here, in their practice, lies the whole purpose of the letter.

7 Conclusion Have I made good my claim that reading the letter in the light of Stoic categories adds significantly to our understanding of the letter itself? Or in Samuel Vollenweider’s words, do we need Stoicism to see the various points about Paul that I have been making?41 I think so. If I am right, then the comparison with Stoicism has shown itself to have great heuristic value (there is no reason to be ‘bescheiden’ here) in a manner that runs no risk whatever that it should “die historischen Phänomene … verzerren”. There is room, I believe, in the exercise as performed here for any historical or specifically Pauline nuance that anybody would like to bring in. We may also note that engaging in a comparison between Stoicism and Paul, and hence adopting Samuel Vollenweider’s ‘komparatistisches Modell’, for heuristic purposes does not in the least exclude that one may also bring in the ‘Dependenzmodell’. I have already indicated that I do consider the latter model to be relevant if one asks about the historical relationship between Paul and Stoicism. But the analysis given here has been shaped throughout by the former model with its emphasis on the heuristic approach. That is actually the basic methodological point I have wanted to make here: whatever models we may wish to bring in (from modern theories or, as in the present case, from ancient Stoicism) stand and fall with their usefulness, with the degree to which they help us understand better the given text itself. Here I would like to add four points where a ‘paraenetic’ reading of Philippians based on a theory of value and with these specific, ‘cosmological’ features proves its fruitfulness. The first point is that seeing Paul depart, logically, from the notion of an absolute value that renders everything else worthless or even worse (remember: σκύβαλα in 3,8) helps us to understand what one might call his 40 For the notions of the ‘self of conversion’ and ‘apostolic self’, see Cosmology (see n. 6), 152–155. 41 See n. 20.

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onesidedness.42 He really thought that God had shown there to be only one (positive) value. Everything else would therefore fall under Paul’s horizon. This would include, for instance, the requirements of the Mosaic law (for Gentiles, at least). Not only were they adiaphora and hence in fact completely lacking in any (positive) value, even for Jews: for Gentiles they would be distinctly pernicious since attending to them would lead a person away from attending to the only thing that mattered, Christ. And so we have the whole issue of Paul’s letter to the Galatians. As I have shown, this radicalism or onesidedness has its counterpart in the Stoic understanding of ‘the good’ in their theory of value. The second point is that one can understand why Paul should attempt to shape and reignite in the Philippians a sense of group unity with the means we have noted: modeling; an invocation of a pneuma that is at work in bodily form in Paul himself (but which they are also supposed to ‘share’, 2,1);43 a strong sense of a forward movement; a cosmological foundation in the notion of a heavenly presence; and more. He does all this because these are his best means to maintain the group. As John Barclay has recently emphasized, in contrast with the Jewish synagogues in the Diaspora, the Pauline assemblies only had very rudimentary social forms that might keep them together as a group.44 Instead, one had to work with the word. And here paraenesis of the form we have described presented itself as being particularly serviceable.45 The third point has to do with a supposed contrast between so-called ‘apocalyptic’ thinking and philosophical thinking. To my mind, Paul was a thoroughly convinced ‘apocalypticist’ and every ‘apocalyptically’ sounding statement in his letters should in principle be taken wholly literally. But why should this imply that philosophical categories could not then also be highly relevant and fruitful for the analysis of his writings? It remains the case that there are many central motifs in Paul’s writings that have no Here I see a close connection with the renewed interest in Paul among contemporary philosophers like A. Badiou, M. Serres and others, who all of them focus on the strikingly new ‘event’ (the Christ event) on which everything now hangs. See most cogently A. B ADIOU, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997. 43 Note, incidentally, that when in 1,19 Paul expresses his confidence that his present situation will result in his σωτηρία (‘salvation’ or ‘deliverance’) διὰ τῆς ὑμῶν δεήσεως καὶ ἐπιχορηγίας τοῦ πνεύματος Ἰησοῦ Χριστοῦ, there is good reason to take him to be speaking of their prayers and supply (ἐπιχορηγία) of the pneuma of Jesus Christ. Thus in their prayers the Philippians are themselves supposed to have access to Christ’s pneuma. 44 J. M. G. B ARCLAY, Introduction, in: Pauline Churches and Diaspora Jews, WUNT 275, Tübingen 2011, 3–33 (esp. 23–29). Barclay rightly speaks of the ‘fragility’ of the Christian habitus. (For further use of Bourdieu’s concept of habitus in connection with Paul, see my Cosmology [see n. 6], chapters 5–6.) 45 I would add, though, that the kind of ‘bodily paraenesis’ performed by Paul may well seem particularly forceful in this special context. 42

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direct counterpart at all in philosophy. The talk of God as having engineered the Christ event; the talk of Christ’s immediate return; and the talk of Paul and his addressees as having been planted on a road that rushes forward to the ‘day of Christ’ (compare the fundamental statement in 1,5–6) – all that has no direct counterpart in any ancient philosophical ‘system’ that I know of. Moreover, these ideas are among those that give an extreme urgency to Paul’s writing. They are also ‘apocalyptic’ ideas par excellence. However, we miss a lot of things that are also present in the Pauline texts if we focus alone on the exclusively ‘apocalyptic’ dimensions of Paul’s ideas. Paul spells out his ‘apocalyptic’ scenario in cosmological terms that do have their counterpart in Stoicism. And he brings that whole picture into his account of how he himself lives now and how the Philippians should live now on their way to the final goal. Thus he brings his ‘apocalyptic’ cum cosmological picture into what the whole letter is all about: paraenesis of the Philippians. But paraenesis is not an ‘apocalyptic’ genre. It is, as it were, practical philosophy, which was also theoretically elaborated in philosophy proper, not least in Stoicism.46 And so, if we want to get hold of the whole of Paul’s letter, we certainly need to bring in philosophy too. I emphasize ‘too’ here: not to the exclusion of ‘apocalypticism’, but to provide both cosmological explication of the ‘apocalyptic’ ideas and paraenetical extension of them. The contrast between ‘apocalypticism’ and philosophy is another divide (like the one between Judaism and Hellenism – or indeed the one between ‘theology’ and ‘ethics’ in the study of Paul) that we should attempt to overcome.47 It reflects our inherited categories – developed for a host of ideological purposes – far more than any actual practice on the ground. The fourth and final point is this. If everything in Paul’s letter to the Philippians hangs, as I have argued, on a normative claim (“the surpassing value of knowledge of Christ Jesus my Lord”), then it suddenly becomes possible to understand what he is both saying and doing in the letter on a par with any other similar, normative claims. That, I propose, is what ‘philosophical exegesis’ of Paul should also open up to (in addition to making us understand the text itself better). It goes without saying that Paul’s normative claim was also meant as a wholly descriptive one. Paul knew that Christ had died and been resurrected. But the same also goes for the Stoic normative claim about the only thing that is ‘good’. They knew that only one thing is ‘good’ (namely, understanding the world and living Compare my The Concept of Paraenesis (see n. 7). On Judaism and Hellenism, see T. ENGBERG-P EDERSEN (ed.), Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001. On ‘theology’ and ‘ethics’, see my Paul and the Stoics (see n. 7), passim. 46 47

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accordingly) and they were even able to back up that descriptive claim by an extensive argumentation that has managed to convince some, but definitely not all. What matters right here, however, is not the knowledge claim itself, but rather the fact that it is at the same time also a normative claim. For this fact allows us to loosen a little bit the specific knowledge claim in both Paul and Stoicism from all the rest to which it gives rise. And that operation may then again allow us to ask questions about the whole ‘way of life’ that is articulated in either school of thought (or indeed in other comparable ones). Once again, such a comparison will reflect our own concerns and interests as human beings who are reflecting on the various existential proposals that are on offer in our traditions. This whole enterprise cannot, of course, be taken up here. But it has become possible by our coming to see, with help from the Stoic theory of value, that when Paul speaks of “the surpassing value of knowledge of Christ Jesus my Lord”, he is in fact also speaking of just that: a value. Theologians are generally averse to speaking of ‘values’, presumably because they feel that what God has done is not just a ‘value’. The Stoic theory of value helps us to see that Paul was in fact speaking of a ‘value’ (and everything that hangs on it): the supreme value of “knowledge of Christ Jesus my Lord”.

„Ahmt Jesus Christus mit mir zusammen nach!“ (Phil 3,17) Imitatio Pauli und imitatio Christi im Philipperbrief PETER WICK

1 Phil 3,17: Gemeinschaft mit Paulus oder gegenüber Paulus? „Ahmt Jesus Christus mit mir zusammen nach!“ In Phil 3,17 schreibt Paulus den Philippern: συμμιμηταί μου γίνεσθε. Das Kompositum συμμιμηταί kommt nur hier vor und könnte eine Wortschöpfung des Paulus sein. Die Übersetzungsvorschläge der Lexika sind eindeutig. Liddell-Scott schlägt dafür „joint“ oder „fellow imitator“ in Ableitung von dem auch sonst nachweisbaren Verb συμμιμηταί, „join in imitating“ vor. Auch Bauer-Aland bietet nur die Übersetzungsmöglichkeit „Mitnachahmer“, welcher „jemanden mit anderen zusammen nachahmt.“1 Dennoch wird diese Wendung in der Regel in Analogie zu 1Kor 11,1 μιμηταί μου γίνεσθε καθὼς κἀγὼ Χριστοῦ verstanden. „Werdet Nachahmer von mir, wie ich von Christus.“ Für Phil 3,17 werden in der Regel Übersetzungen geboten wie „werdet meine Nachahmer“, „folgt mir“, „folgt meinem Beispiel“ oder „folgt mir nach“. Das Kompositum „Mitnachahmer“ wird so aufgelöst zu „Nachahmer“. Die Differenz zum eigentlichen Wortsinn wird bewusst in Kauf genommen. Bauer-Aland bietet gegen seine Übersetzung ein solches Verständnis für Vers 17. Joachim Gnilka übersetzt „Mitnachahmer“, um in seiner Kommentierung zu erklären, dass Paulus zu seiner Nachahmung aufruft, weil er selber unter dem Vorbild Christi steht. Im Gegensatz zu 1Kor 11,1 sei dieser Gedanke hier aber nicht ausgesprochen, sondern bloß mitgedacht.2 Moisés Silva geht mit anderen einen dritten Weg: W. B AUER , συμμιμητής Griechisch-Deutsches Wörterbuch, Berlin 1971, 1542; H. G. LIDDELL / R. SCOTT, συμμιμέομαι, Greek-English Lexicon, Oxford 1968, 1679. 2 J. GNILKA, Der Philipperbrief, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 1968, 202–204; so auch C. STRECKER , Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive, FRLANT 185, Göttingen 1999, 113; zu weiteren Vertretern eines solchen Verständnisses s. Anm. 159. 1

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„Brothers, be united in imitating me.“3 „Brüder, ahmt mich in Gemeinschaft nach.“ Das συμ- von συμμιμηταί würde sich dann nicht auf die Gemeinschaft der Philipper mit Paulus beziehen,4 sondern auf die der Philipper untereinander gegenüber Paulus.5 Eine solche Interpretation ist möglich. Allerdings bleibt ein solches „untereinander“ unausgesprochen. So ist folgendes Verständnis doch einfacher und näher bei der bekannten Verbbedeutung und deshalb vorzuziehen: Paulus fordert die Philipper dazu auf, sich seiner Nachahmung anzuschließen,6 seiner Nachahmung von Jesus Christus. Damit bleibt diese Aussage zwar eine Parallelaussage von 1Kor 11,1, allerdings mit dem Aspekt, die top-down Vorbildshierarchie „Christus, Paulus, Philipper“ dahingehend aufzulösen, dass die Philipper auf eine Ebene mit Paulus gehoben werden: Zusammen mit ihm sollen sie Christus nachahmen.7 „Schließt euch meiner Nachahmung an, Brüder, und seht auf die, die so wandeln, wie ihr uns zum Vorbild habt.“ Die Philipper haben Paulus und seine Mitarbeiter, auf die sich „uns zum Vorbild“ bezieht, bereits zum Vorbild. Das spricht ebenfalls dafür, dass Paulus die Philipper im selben Satz mit συμμιμηταί μου nicht pleonastisch genau dazu auffordert. „Ahmt mich nach … wie ihr uns zum Vorbild habt“ ist ein Satz, der nicht wirklich sinnvoll ist.8 Paulus verwendet ein Kompositum mit σύν auch nie in diesem Sinn. Wenn er von den „Mitgefangenen von mir“ (συναιχμαλώτους μου, Röm 16,7; vgl. Phlm 23) schreibt, meint er selbstverständlich diejenigen, die zusammen mit ihm gefangen sind, nicht solche, die ihm irgendwie gegenüberstehen. Dasselbe gilt auch für „meinen Mitstreiter“ (συστρατιώτην 3 M. SILVA, Philippians, Baker Exegetical Commentary on the New Testament, Grand Rapids 22005, 172.188. 4 Vgl. dazu entsprechende Komposita in 1,7; 2,18 und 4,14. 5 Vgl. dazu die Verwendung der Komposita συναθλοῦντες (Phil 1,27) und σύμψυχοι (Phil 2,2). 6 So auch mit weiterer Begründung und Literatur S. ROSELL NEBREDA, Christ Identity. A Social-Scientific Reading of Philippians 2.5–11, FRLANT 240, Göttingen 2011, 224, bes. Anm. 209 und 210. 7 Vgl. auch H. W OJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 186f., der diese Wendung als Verweis über das Vorbild des Paulus hinaus auf Christus interpretiert. S. auch O. MERK, Nachahmung Christi. Zu ethischen Perspektiven in der paulinischen Theologie, in: Wissenschaftsgeschichte und Exegese. Gesammelte Aufsätze, hg. von R. Gebauer u. a., BZNW 96, Berlin 1998, 302–336 (333): „Hier wird zwar nicht auf die Nachahmung Christi rekurriert, aber sie ist insofern die Basis, als Paulus aufgrund des Kreuzes- und Auferstehungsgeschehens (3,7–11) ... sich selbst auf dem Weg sieht, zu dem er die Philipper als seine (Mit-)Nachahmer aufruft.“ 8 Schon W. P. DE B OER, The Imitation of Paul. An Exegetical Study, Kampen 1962, 179, der diese Wendung so übersetzt, klagt darüber, wie allzu knapp und schwerverständlich dieser Satz ist.

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μου, Phil 2,25) Dies gilt nicht nur für die Substantive, sondern auch für den Gebrauch vergleichbarer Verben, die als Kompositum mit σύν gebildet sind: „Freut euch mit mir“ (συγχαίρετέ μοι, Phil 2,18) und „die, welche mit mir gekämpft haben“ (συνήθλησάν μοι, Phil 4,3) rückt immer die enge Gemeinschaft zwischen Paulus und anderen in den Vordergrund. Paulus muss auch bei den Verben dafür nicht den Dativ μοι verwenden, sondern im Philipperbrief ist auch der Genitiv beim Partizip möglich: „Nur habt ihr gut daran getan, dass ihr Mitteilhabende von mir geworden sei an der Bedrängnis“ (συγκοινωνήσαντές μου τῇ θλίψει, Phil 4,14). Auch hier ist der Sinn eindeutig, dass die Philipper und Paulus gemeinsam Anteil an der Bedrängnis haben. Der Sinn ist nicht, dass die Philipper untereinander Anteil an der Bedrängnis haben, wie Paulus das für sich selbst hat. Sondern durch ihre Gaben an Paulus sind sie mit ihm, mit seiner Mission und der daraus resultierenden Bedrängnis, in besonders innige Gemeinschaft getreten (Phil 4,15). In der direkten Parallele zu Phil 4,14 im Proömium in Phil 1,7 werden die Mitteilhaber mit dem entsprechenden Substantiv bezeichnet und Paulus bezieht sich im Genitiv auf sie. Alle seine Adressaten in Philippi sind „meine Mitteilhaber an der Gnade“ (συγκοινωνούς μου τῆς χάριτος). Dies ist zugleich die engste Parallele zu Phil 3,17. Auch hier ist der Sinn nicht, dass sie zusammen Teilhaber an der Gnade des Paulus sind, sondern dass sie zusammen mit ihm an derselben Gnade teilhaben.9 Der Sinn dieser Wendungen lässt sich deshalb am besten so verstehen: Die Philipper, die Paulus bereits zum Vorbild haben, sollen gemeinsam mit ihm Jesus Christus nachahmen. Es gibt Menschen, die wandeln so, wie Paulus und seine Mitarbeiter.10 Die Philipper sollen den Kreis ihrer Vorbilder mit solchen erweitern, die dem Modell des Paulus entsprechen. Das ist die zentrale Aufforderung dieses Verses, in dem das Vorbild für die Vorbilder ungenannt im Hintergrund bleibt: Jesus Christus. Neben „Nachahmung“ bedeutet Mimesis aber auch Darstellung.11 So fordert Paulus die Philipper nicht nur zur Nachahmung sondern zur Darstellung von Jesus Christus zusammen mit ihm in dieser Welt auf. Ihre spezifische Darstellung Christi soll durch die des Paulus und solcher, die dem Vorbild des Paulus entsprechen, geprägt sein. Ihr Leben soll eine „Verkörperung“ (embodiment) des Weges Jesu Christi sein und in diesem Sinne den Weg Christi für alle Menschen sichtbar darstellen. Dieses Moment wird im PhiDen Hinweis auf die enge grammatikalische und semantische Beziehung von Phil 1,7 zu Phil 3,17 verdanke ich Matthias Maywald. 10 Es ist nicht plausibel, dass sich οὕτω nicht auf καθώς beziehen soll. Der Wandel dieser Vorbilder wird durch den Wandel von Paulus und seinen Mitarbeitern „normiert“. Gegen SILVA, Philippians (s. Anm. 3), 188. 11 Siehe den Beitrag von Manuel Baumbach in diesem Band. 9

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lipperbrief mehrfach explizit aufgenommen. Wie das Leben, Leiden und Sterben Christi am Leib des Paulus dargestellt wird und „groß gemacht werden wird“ (Phil 1,20f.), so soll auch ihr Gehorsam den Gehorsam Christi (Phil 2,8) im Kosmos sichtbar machen (Phil 2,12–15) und seine Güte durch ihre Güte allen Menschen bekannt werden (Phil 4,5).

2 Jesus Christus, das Vorbild der Vorbilder Der Weg von Jesus Christus wird im sogenannten Christushymnus entfaltet (2,6–11). In seiner göttlichen Präexistenz hat er freiwillig auf seine Privilegien verzichtet und sich seiner Gottheit, Freiheit, Unsterblichkeit und Ehre entleert (Kenosis). Er erniedrigte sich in das Menschsein, das Sklavensein und sogar den Schandtod am Kreuz hinein. Gemäß der zweiten Hälfte des Hymnus (2,9–11) wurde daraufhin Gott aktiv und hat ihm als Gnadengeschenk den Namen über allen Namen gegeben. Dem, der sich selbst erniedrigt hat, wird nun selbst größtmögliches Heil zuteil. Seine Hingabe ins Unheil hat eine heilsame Konsequenz für ihn selbst. Als zweite Konsequenz seiner Selbsthingabe huldigt ihm nun die ganze Schöpfung. Seine Hingabe zeitigt eine missionarische Konsequenz. Dritte werden in die Verehrung Christi hineingezogen. Als letzte doxologische Konsequenz kommt so Gott dem Vater selbst wieder alle Ehre zu. Der Weg des Hymnus führt freiwillig von oben nach unten, um dann durch göttliche Intervention erst recht nach oben zu führen. Die Bewegung folgt einer Kurve von oben nach ganz unten, um dann noch weiter nach oben zurückzukehren. Diese Dynamik folgt einem Weg und ist doch eine zweiteilige Dynamik. Denn auf dem Weg nach unten ist Jesus Christus das Subjekt, auf dem Weg nach oben ist es Gott, der Vater. Zwei Dinge werden im Hymnus nicht genannt, die jedoch durch den Kontext eindeutig gegeben sind: Die Agape und damit der positive Grund, weshalb Christus auf seine Interessen verzichtet hat. Die erste Hälfte des Hymnus ist gewissermaßen eine Definition von Agape durch das Leben von Jesus Christus. In der Fürbitte des Proömiums deutet Paulus als Hauptzweck dieses Briefes an, die Liebeskompetenz der Philipper noch weiter wachsen zu lassen (Phil 1,9–11). Jesus Christus ist das exemplum dafür. Denn die Selbstentleerung Christi und der Verzicht auf seine Interessen im Hymnus sind Folgen davon, dass er sich gegen den eigenen Vorteil ganz auf den Nutzen der Menschen ausgerichtet hat. Seine Liebeskompetenz wird daran ersichtlich, dass sein Handeln nicht einfach eine automatische Reaktionskette war, sondern dass Jesus Christus durch eine Gesinnung geprägt war, die ihn jeweils freiwillig und mit Entschluss zu den konkreten Schritten seiner Hingabe führte (Phil 2,6–8).

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„Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus.“ Mit diesem Satz leitet Paulus den Hymnus ein (Phil 2,5). Weil Paulus im Nebensatz das Verb ausgelassen hat, kann dieser Satz in zweifacher Weise verstanden werden, je nachdem in welchem Tempus ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ergänzt wird. Mit der Ergänzung „die auch in Jesus Christus war“ fordert Paulus die Philipper dazu auf, ihre Gesinnung von der Gesinnung Christi prägen zu lassen. Aufgrund von dieser und dem Wandel, zu der diese geführt hat, wird Jesus Christus und die ganze erste Hälfte des Hymnus zum direkten Vorbild für die Heiligen in Philippi (1,1). Mit „in Christus Jesus“ kann Paulus aber auch die neue, das Leben und das Sein verändernde Christuscommunitas meinen, die Christus den Glaubenden mit sich und zugleich untereinander eröffnet hat und in die er sie mithineingenommen hat.12 In diesem Sinne meint „diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus ist“, dass die Philipper die Gesinnung haben sollen, die ihrer neuen Existenz und Gemeinschaft mit Christus entspricht und deshalb gerade auch untereinander gilt. Allerdings wird bei einem solchen Verständnis das richtige Verhalten für das Leben in Christus in V. 5 ebenfalls durch den Weg Christi im Hymnus geprägt und definiert. Die Einleitung zum Hymnus würde bei einem solchen Verständnis zwar indirekter, aber ebenfalls dazu auffordern, dem Vorbild Christi nachzueifern,13 indem die für diese Gemeinschaft geltende Gesinnung durch den durch ὅς eingeleiteten Weg Christi veranschaulicht wird. Es ist sogar möglich, dass Paulus das Verb gezielt ausließ, um ein doppeltes Verständnis im Sinne eines double entendre14 zu ermöglichen: Eine direkte Aufforderung, Christus, die Gesinnung, die ihn auf seinen Weg geführt hat, als Vorbild für die eigene Gesinnung zu nehmen und eine indirekte, die betont, dass die Philipper die richtige Gesinnung gemeinsam und 12 Zur Forschungsgeschichte zu ἐν Χριστῷ siehe STRECKER, Liminale Theologie (s. Anm. 2), 189–192. Sein eigenes Modell der horizontalen und vertikalen Christuscommunitas ist für das Verständnis im Rahmen paulinischer Theologie hilfreich, und vermag wichtige Aspekte der „klassischen“ mystisch-partizipatorischen, der ekklesiologischen und der heilsgeschichtlich-historisierenden Modellen sinnvoll miteinander zu verbinden (192–211). Zu beachten ist auch die Mahnung von R. V. BENDEMANN, Christusgemeinschaft – Christusmystik, in: F. W. Horn (Hg.), Paulus Handbuch, Tübingen 2013, 305–309, die Wendung „in Christus“ nicht von einer übergeordneten Systematik abzuleiten, sondern den jeweiligen Kontext zu beachten (306). 13 Vgl. SILVA, Philippians (s. Anm. 3), 97 und ROSELL NEBRADA, Christ Identity (s. Anm. 6), 293–296, der mit einer ausführlicheren Forschungsgeschichte Silva folgt; ähnlich auch STRECKER , Liminale Theologie (s. Anm. 2), 175 und B. B. THURSTON, Philippians, in: ders. / J. M. Ryan, Philippians and Philemon, SPS 10, Collegeville 2005, 80. 14 Zur Möglichkeit eines double entendre in Bezug auf die ἄπιστοι in 2Kor 6,14, s. V. RABENS, Paul’s Rhetoric of Demarcation. Separation from „Unbelievers“ (2 Cor. 6:14– 7:1) in the Corinthian Conflict, in: R. Bieringer / M. S. Ibita / D. Kurek-Chomycz / T. A. Vollmer (Hg.), Theologizing in the Corinthian Conflict. Studies in the Exegesis and Theology of 2 Corinthians, Biblical Tools and Studies 16, Leuven 2013, 229–254 (232f.).

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untereinander haben sollen und dass diese Gesinnung die einzige ist, die ihrem neuen Sein in Christus entspricht. Die zweite Hälfte des Hymnus schließt die Vorbildsfunktion des ganzen Hymnus nicht aus. Denn wenn die Glaubenden entsprechend gesinnt sind, wird Gott daraus ebenfalls wie bei Jesus Christus eine heilsame Konsequenz für sie, eine missionarische für andere und eine doxologische entstehen lassen.15

3 Die Philipper und ihre guten und ihre abschreckenden Vorbilder Tatsächlich ist das ganze Briefkorpus (Phil 1,12–4,20) durchdrungen von dem Vorbild Christi. Im ersten größeren Teil (1,12–26) berichtet Paulus über sein aktuelles Ergehen, indem er seinen Selbstbericht nach der Gesinnung Christi vorstrukturiert. In Gefangenschaft verzichtet Paulus auf seine Freiheit und auch auf seine Ehre, weil manche das Evangelium gegen ihn, auf seine Kosten verkünden. Doch er freut sich, weil er weiß, dass dies sowohl das Evangelium weiter verbreitet als auch ihm zum Heil dienen wird. Sein Leben ist durch und durch von Christus geprägt. In der Gesinnung Christi ist ihm sogar sein Sterben Gewinn, weil Gott ihn nach dieser tiefstmöglichen Selbsterniedrigung zu sich und Christus erhöhen wird. Da Paulus aber – wie Christus – die Interessen anderer vor die eigenen stellt, wird er noch bleiben und für den Fortschritt des Glaubens der Philipper wirken können (Phil 1,22–26). In der parallel ausgearbeiteten Wiederaufnahme dieses Selbstberichts in 3,2–16 schildert Paulus seine eigene Gesinnung und Ausrichtung. Auf die durch die Tora und damit von Gott selbst sanktionierten Privilegien seiner jüdischen Abstammung, seines untadeligen Lebenswandels und damit seiner aktiven Toragerechtigkeit hat Paulus gerade so freiwillig verzichtet wie Christus auf seine göttlichen Privilegien. Paulus erwartet aufgrund dieses Verzichtes, dass er Christus und seine Gerechtigkeit ganz gewinnt (Phil 3,8f.). Er ist bereit wie Christus und mit ihm an dessen Leiden teilzuhaben und dessen Tod zu erfahren, um so wie dieser und mit ihm an der Auferste15 Gegen E. KÄSEMANN, Kritische Analyse von Phil 2,5–11, ZThK 47 (1950), 316–360, bes. 359: Der Hymnus biete Christus nicht als Vorbild an, sondern sei ein Bekenntnis der Gemeinde, dass sie nicht mehr zum alten Äon sondern zum neuen gehört. Sie hat den Raum der alten Welt verlassen und soll entsprechend der neuen leben. Zur Kritik an E. Käsemann siehe S. E. FOWL, The Story of Christ in the Ethics of Paul. An Analysis of the Function of the Hymnic Material in the Pauline Corpus, JSNT.S 36, Sheffield 1990, bes. 140; B. J. DODD, The Story of Christ and the Imitation of Paul in Philippians 2–3, in: R. P. Martin / B. J. Dodd (Hg.), Where Christology Began. Essays on Philippians 2, Louisville 1998, 154–160; M. D. HOOKER, Interchange in Christ and Ethics, in: From Adam to Christ. Essays on Paul, Cambridge 1990, 56–69 (62f.).

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hung Anteil zu bekommen (Phil 3,10f.). Paulus berichtet nichts von sich selbst, das nicht der freiwilligen kenotischen Bewegung von Jesus Christus entsprechen würde und rechnet aufgrund von dessen Vorbild ebenfalls mit dem Eingreifen Gottes, der ihn wie Christus aus der Erniedrigung erhöhen wird. Ebenso betont er, wie er auf die Interessen der Philipper ausgerichtet ist, sogar als er am Schluss für ihre Gabe dankt und betont, dass er sich besonders freut, weil ihnen diese Gabe selbst mehr dienen wird als ihm, nämlich als „Frucht“, die sich zu ihrer „Rechnung mehrt“ (Phil 4,17). Stets rechnet Paulus damit, dass sein Leben mit der von Christus geprägten Gesinnung missionarische Wirkung zeigt. So würde auch sein Tod dem Glauben der Philipper zugutekommen. Dieser wäre – metaphorisch gesprochen – wie eine Trankspende, die den Opferkult des Glaubens der Philipper begleiten und unterstützen würde (Phil 2,17). Auch von seinen Mitarbeitern redet Paulus nicht anders als in der Matrix des Hymnus. Timotheus ist wie kein anderer auf das Wohl der Philipper gesinnt, nicht auf das eigene. Wie ein Kind dem Vater hat er zusammen mit Paulus Sklavendienst geleistet. Beide sind wie Christus freiwillig Sklaven geworden. Als solche werden sie auch im Präskript ohne den Aposteltitel eingeführt. Auch hier schreibt Paulus nicht ganz eindeutig. Es ist zwar möglich, dass er im Vergleich der Vater des Kindes Timotheus ist, doch mit σὺν ἐμοί (Phil 2,20) stellt er ihn auf die gleiche Ebene mit sich selbst. So wird Timotheus eben auch zum Nachahmer von Jesus Christus, der wie dieser Gott dem Vater (Phil 2,11) dient. Ebenso zeigt sich bei Epaphroditus dieselbe Gesinnung wie bei Christus Jesus und wirkt sich als die Gesinnung aus, die auf das Wohl des Leibes Christi ausgerichtet ist. Epaphroditus hat seine Gesundheit uneigennützig für das Werk Christi aufs Spiel gesetzt und ist todkrank geworden (2,30). Doch in dieser Kenosis war sein eigenes Leben nicht seine Sorge, sondern um die Sorgen der Philipper seinetwegen hat er sich gesorgt (2,26), weil er nicht auf sich, sondern auf die Philipper ausgerichtet war. Wie Gott Christus erhöht hat, so hat er Epaphroditus durch sein Erbarmen wieder gesund gemacht (2,27). Epaphroditus und Timotheus gehören zu denen, die Paulus in Phil 3,17 mit der Formulierung „uns“ meint. „Wie ihr uns zum Vorbild habt“ bezieht sich nicht allein auf Paulus, sondern konkret auch auf seine beiden Mitarbeiter, die im Brief bereits vorgestellt worden sind. Epaphroditus ist dies sogar im Auftrag der Gemeinde in Philippi (Phil 2,25). Die Legitimation für ihre Vorbildfunktion kommt ihnen dadurch zu, dass sie selbst Jesus Christus nachahmen. Nicht der Lebensweg Christi wird konkret nachgeahmt, sondern dessen Gesinnung, für die sein Lebensweg zu einer Art von Matrix wird, die die Gesinnung von Menschen so prägt, dass sie ihn in ganz anderen Umständen kreativ nachahmen können. Was das Kreuz für Jesus war, war die Krankheit für Epaphroditus und ist nun die Gefangenschaft beziehungsweise die mögliche Hinrichtung für Paulus.

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Mit der Hauptaufforderung von 3,17, auf die zu sehen, die analog zum Vorbild des Paulus und seiner Mitarbeiter wandeln, lenkt Paulus den Blick hin zu weiteren, nicht genannten potentiellen Vorbildern. Offensichtlich wird die Gesinnung Christi durch eine Fülle von Möglichkeiten gelebt, die in verschiedenen Kontexten sehr voneinander variieren. Eine Vielzahl von Vorbildern hilft, die konkreten Umsetzungsmöglichkeiten dieser Gesinnung im eigenen Leben zu entdecken. Dafür müssen sie aber zuerst als gute Vorbilder erkannt werden. Paulus argumentiert mit einem Netzwerk von Vorbildern. Die durch den Hymnus definierte Gesinnung Christi dient als Matrix. Die Christus entsprechende Gesinnung bildet die Brücke zwischen dem Weg Jesu Christi und den Wegen der Gläubigen. Von Christus geht dieses Netzwerk der imitatio aus. Paulus selbst bildet einen wichtigen Knotenpunkt in diesem Netzwerk. Durch ihre Verbindung mit Christus und mit dem Vorbild des Paulus werden andere Menschen als Vorbilder für die Philipper relevant. Doch die Philipper sollen nicht nur diesen Vorbildern folgen, sondern werden selbst ein Teil dieses Imitatio-Netzwerkes. Mit dieser Gesinnung sollen die Philipper ihr Leben gestalten und vor allem auch ihr Leben untereinander. Euodia und Syntyche, Mitarbeiter in besonderer Verantwortung für die Gemeinde, sollen jenseits von aller Konkurrenz so der Gemeinde und einander mit dieser Gesinnung in Demut dienen (Phil 4,2f.; vgl. die Definition von „dieselbe Gesinnung“ in 2,1–4). Erst in Phil 4,9 fordert Paulus die Philipper explizit auf, ihn zum Vorbild zu nehmen. „Was (Pl.) ihr gelernt und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, dieses (Pl.) tut. Und der Gott des Friedens wird mit euch sein.“ Unmittelbar vor dem letzten Abschnitt des Briefkorpus fordert Paulus die direkte Nachahmung von sich selbst. Diese Steigerung ist auch rhetorische Strategie. Denn im letzten Abschnitt dankt Paulus für die materielle Unterstützung der Philipper. Er hat durch Epaphroditus eine Spende von ihnen erhalten und gesteht den Philippern zu, dass sie damit auf einen Teil ihres Besitzes verzichtet haben, um so die Verbreitung des Evangeliums zu unterstützen. Rhetorisch geschickt steigert Paulus so den Dank und das Lob, indem er den Philippern zugesteht, dass sie damit ebenfalls die Gesinnung Christi kreativ umgesetzt haben und diese leben (Phil 4,10–20). Die Vielzahl von Vorbildern in 3,17 erhält ihr Gegengewicht in der nicht näher bestimmten Gruppe von negativen Vorbildern (3,18f.). Diese in der Forschung als Gegner bezeichnete Gruppe gewinnt ihr Profil dadurch, dass sie sich nicht durch die Gesinnung Christi bestimmen lässt, sondern gerade in die entgegengesetzte Richtung ausgerichtet ist. Im Blick auf Christus erniedrigen sie sich nicht selbst, sondern sie meiden das Kreuz und streben direkt nach oben, ihrer Selbstverherrlichung entgegen. Doch Gott ist der Garant, dass auch dieses Streben zu einer Kurve wird. Er wird diese „Selbsterhöher“ nicht wie Christus und diejenigen, die seine Gesinnung

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nachahmen, zuletzt erhöhen, sondern diese in umgekehrter Richtung fallen lassen. Widersacher verkündigen das Evangelium als Vorwand für sich selbst (Phil 1,18), sie rühmen sich ihrer Privilegien, obwohl Paulus sich solcher viel mehr rühmen könnte, und sie sind nicht bereit, sich ihrer zu entleeren (Phil 3,2–5). Sie sind Feinde des Kreuzes, weil sie den Tiefpunkt des Kreuzes in ihrem Leben um jeden Preis vermeiden wollen und in Opposition dazu Ehre und eigenen Vorteil suchen. Obwohl sie sich nach Ηöherem ausrichten, sind sie in Wirklichkeit und gerade deshalb nach unten, irdisch gesinnt. So liegt ihr Ende ganz unten, nämlich in ihrem Verderben und ihre Ehre in ihrer Schande (Phil 3,18f.). Wie Christus seine Privilegien loslässt und durch die größte Tiefe zur größten Höhe gelangt und wie Gott diejenigen, die ebenso gesinnt sind an dieser Bewegung bis zur Erhöhung teilhaben lässt, so geht es denen gerade in gespiegelter Weise, die ihre Privilegien, ihren Glauben und ihre Gottesbeziehung dafür einsetzen, noch größere Höhen zu erreichen, um dann am Ende ihres Weges am letzten Tiefpunkt anzulangen. So durchzieht ein Netz von positiven und negativen Vorbildern, deren Qualität durch den Hymnus normiert ist, den ganzen Brief. Nachahmung ist eines der grundlegendsten Themen dieses Briefes. Mit diesem Thema will Paulus einerseits die Liebeskompetenz der Philipper steigern. Andererseits steigert Paulus mit diesem Thema das Lob und den Dank für die Gabe der Philipper am Schluss, indem er sie schließlich ebenfalls in den Kreis der Vorbilder aufnimmt. Zugleich demonstriert Paulus den Philippern, wie das Evangelium auf sein eigenes Leben einwirkt.16

4 Imitation, Partizipation, Transformation In der Regel wird die Aufforderung zur imitatio als Teil der Ethik betrachtet. Als bloß ethische Funktion lässt sich die imitatio in die klassische Reihenfolge von Indikativ-Imperativ einordnen, die heute freilich nicht mehr unumstritten ist.17 Die Glaubenden empfangen durch die Selbsthingabe Christi passiv Gnade und Erlösung. Sie sollen mit ihrem Lebenswandel auf das antworten, was sie empfangen haben. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Paulus die imitatio Christi umfassender versteht und diese Zweiteilung durch die imitatio überbrückt. Paulus erkennt die eschatologische Existenz des Christen, insbesondere seine eigene Existenz als Mimesis Vgl. ROSELL NEBREDA, Christ Identity (s. Anm. 6), 224. Siehe die zahlreichen Beiträge in F. W. Horn / R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ, WUNT 238, Tübingen 2009. 16 17

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Christi, die sowohl Indikativ als auch Imperativ ist.18 Der Weg Christi ist in das Geschick und den Weg des Paulus, seiner Mitarbeiter und der Philipper in diesem Brief überall eingezeichnet. Dies gilt ganz besonders auch für Phil 1,29: „Denn euch ist als Gnadengeschenk in Bezug auf Christus zuteil geworden, nicht allein an ihn zu glauben, sondern auch für ihn zu leiden.“ Paulus zeichnet die Philipper mit diesem Satz ganz in die Dynamik des Weges Christi ein: Von oben nach unten, vom Privileg des Glaubens in die Tiefen des Leidens. Es ist ein unverdientes Geschenk Gottes, am ganzen Weg Christi partizipieren zu dürfen. Parallel dazu, ebenfalls nach einem ausführlichen Selbstbericht,19 ebenfalls nach einer Aufforderung als Himmelsbürger zu wandeln20 und nach der Aufforderung, sich von negativen Vorbildern nicht falsch beeinflussen zu lassen,21 nimmt Paulus in 3,21 diesen verheißenen Weg wieder auf,22 um ihn zum Ziel zu führen, das heißt, um die dynamische Kurve, die in Phil 1,29 ganz unten ins Leiden der Gläubigen mündet, analog zum Hymnus durch Gott als Subjekt nach oben abzuschließen. „Der den Leib unserer Erniedrigung mit umgestalten wird zur Gleichförmigkeit mit dem Leib seiner Herrlichkeit gemäß der Kraft, mit der er sich alles unterwerfen kann“ (Phil 3,21). Paulus verklammert diese beiden auseinanderliegenden und doch einander ergänzenden Sätze nicht nur inhaltlich und dynamisch (Kurve), sondern auch durch aus denselben Stämmen gebildeten Wörtern auf das Engste mit dem Hymnus:

18 So schon H. D. BETZ, Nachfolge und Nachahmung Jesu Christi im Neuen Testament, BHTh 37, Tübingen 1967, 169.186, der darauf hinweist, dass Paulus von (συμ-)μιμητής sowohl im Indikativ als auch im Imperativ reden kann. 19 Hier nach Phil 3,2–16, dort nach Phil 1,12–26. 20 Vgl. Phil 3,20 πολίτευμα und die Aufforderung an die Philipper, sich die richtigen Vorbilder zu nehmen, mit der Aufforderung zum richtigen Lebenswandel mit dem ebenfalls den Stamm πολι- enthaltenden Hapaxlegomenon von Paulus πολιτεύεσθε (Phi 1,27). 21 Vgl. 3,18f. mit 1,28. 22 Zum Bezug dieser beiden Aussagen und der Perikopen 1,27–30 und 3,17–21 zueinander durch die Makrostruktur des Briefes siehe P. W ICK, Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefes als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, Stuttgart 1994, 101–106.

Imitatio Pauli und imitatio Christi im Philipperbrief Hymnus: Abstieg

Hymnus: Erhöhung

Glaubende: Abstieg

χαρίζομαι 2,9

χαρίζομαι 1,29

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Glaubende: Erhöhung

μορφή 2,6f.

σύμμορφος 3,21

σχῆμα 2,7

μετασχηματίζω 3,21

ταπεινόω 2,8

ταπείνωσις 3,21 δόξα 2,11

δόξα 3,21

Als weitere Motivparallele kommt die Unterwerfung von allem durch Christus (Phil 3,21) hinzu. Denn auch im Hymnus beugt sich die ganze Schöpfung vor Jesus Christus und bekennt ihn als Herrn (Phil 2,10). Wer die Gesinnung Christi lebt beziehungsweise die der Gemeinschaft in Christus geziemende und durch diese geprägte Gesinnung hat, partizipiert an seinem Weg. Er lebt zwar nicht dasselbe Leben, aber sein Leben partizipiert an der Dynamik dieses Weges und zeichnet sich in die Kurve dieses Weges nach unten und ganz nach oben ein. Wenn Paulus zu dieser Gesinnung auffordert, lässt er ihr eine ethische Dimension zukommen. Wenn er den Philippern diesen Weg aber wie hier verheißt, dann geht es hier um Teilhabe durch Gott an Christus selbst. Diese Teilhabe ist hier eine Gabe, keine Aufgabe (Phil 1,29). Das Moment der Teilhabe erscheint bei Paulus in einem doppelten Sinn: Den Gläubigen wird durch Christus Teilhabe an göttlichen Privilegien gewährt. So sind die Gläubigen Erben Gottes und Miterben von Christus (Röm 8,17). Sie werden mit Gott und Christus die Welt richten (1Kor 6,2). Sie partizipieren an seinen Privilegien. Gegenüber dieser Art von Teilhabe schreibt Paulus auch von einer direkteren Partizipation an Christus im Sinne einer Teilhabe an seinem Weg und Geschick. Durch die Taufe partizipiert der Gläubige am Tod und Begräbnis Christi und partiell schon an dessen neuen Leben in der Hoffnung darauf, auch am letzten Ziel des Weges zu partizipieren, das Christus schon erreicht hat, der Auferstehung von den Toten. Paulus entfaltet diesen Gedanken in Röm 6,2–8 und leitet daraus in der darauf folgenden Argumentation ethische Konsequenzen ab. Im Philipperbrief ist von dieser zweiten Weise der Partizipation die Rede. Gott gewährt ihnen als Gnadengeschenk die Partizipation am Weg Christi. Diese Teilhabe am Weg Christi enthält ein aktiveres Moment als die der Tauftheologie des Römerbriefes. Sie ist auch nicht nur eine Partizipation an ihm, sondern auch eine für ihn: „Für ihn dürfen sie leiden“ (Phil 1,29). Als Herr wird Jesus Christus sie bei seiner Wiederkunft am Leib seiner Herrlichkeit partizipieren lassen (Phil 3,20f.).

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Paulus kann im Philipperbrief die Partizipation an Christus, seinem Weg und seiner Gesinnung, die er ihnen zur Nachahmung gebietet, zugleich als unverdientes, von Gott bewirktes Geschenk zusagen. Dabei schreibt er von derselben Sache. Diese Partizipation wird als Prozess der Transformation erlebt und gelebt. Einerseits werden die Philipper durch ihre auf Christus ausgerichtete Gesinnung und ihre wachsende Liebeskompetenz und so durch ihr Handeln transformiert, zugleich wird ihnen diese Transformation von Gott geschenkt. „Schafft euer Heil mit Furcht und Zittern, denn Gott ist der, der in euch das Wollen und Bewirken bewirkt zum Wohlgefallen“ (Phil 2,12d–13). Doch was bedeutet das theologisch, wenn Partizipation und Nachahmung zwischen Indikativ und Imperativ auftaucht, diese Zweiteilung aufweicht und überbrückt? Der Mensch ist gegenüber der Gnade und Rechtfertigung Gottes der Empfangende. Doch als einer, der empfangen hat, verändert sich sein Leben und seine Existenz. Er wird zur Neuschöpfung (2Kor 5,17). Zugleich wird er Christus ähnlich und zwar nicht erst durch einen Lebenswandel, mit dem er Christus nachahmt, sondern in dem Gott und Christus ihn an Jesus Christus und seinem Weg, seinem Geschick und seiner Gesinnung partizipieren lässt. Als Teilhaber an Christus ist er nicht mehr derselbe, der er vorher war. Der Mensch, der als Sünder die Gnade empfangen hat (so Röm 5,6.8), wird nicht nur zum begnadeten Sünder, sondern als solcher wird er verändert zu einem neuen Menschen, dessen neue Identität unauflöslich mit der von Jesus Christus verwoben ist. Sein „Schicksal“ ändert sich, weil auch dieses nun durch Gott dem von Jesus Christus angeglichen wird. Allerdings ist diese Transformation prozessual zu verstehen, da die Teilhabe an der Auferstehung Christi als Ziel dieser Prozesse noch nicht erreicht ist (so auch Röm 6,4f.). Der Glaubende ist transformiert zur Ähnlichkeit mit Christus, welche ihm zugleich als Prozess durch die Aufforderung zur Nachahmung weiter aufgeben ist. Abgeschlossen wird diese Transformation wieder von Gott und Christus her, durch die Partizipation an der Auferstehung. Imitatio Christi ist also nicht nur etwas, was der Gläubige aktiv tun kann, sondern auch etwas, was mit ihm geschieht und zu dem er durch göttliches Wirken wird: Ein Nachahmer Christi durch Teilhabe. Der Empfang der Gnade führt zur Verwandlung. Aus dieser Verwandlung resultiert der Wandel beziehungsweise die ethische Entscheidung, nach der Gesinnung Christi zu wandeln. Paulus macht die Partizipation nicht immer stark, sondern fordert oft direkt zum richtigen Wandel auf. Doch es gilt ebenfalls: Ein Wandel gemäß der Gesinnung Christi macht auch sichtbar, was schon ist: Ein Nachahmer Christi lebt, was er durch Christus geworden ist. Diese Partizipation stellt sich Paulus prozessual und dynamisch vor. Die volle Partizipation an Christus wird erst bei der und durch die Auferstehung der Glaubenden realisiert. Sie fängt aber schon unmittelbar beim Empfang

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der Gerechtigkeit Gottes an. Die Sünde trennt den Menschen von Gott. Er wird von Gott als Sünder gerecht gesprochen. Gott hebt diese Trennung auf durch die Hingabe seines Sohnes. Der Mensch ist zuerst bloß Empfangender, doch als einer, der glaubend empfängt, beginnt schon eine Verwandlung in ihm. Paulus spricht den Beginn seiner Teilhabe im Philipperbrief an. Paulus verzichtete auf seine eigene aktive Gerechtigkeit aus dem Gesetz, um die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Christus passiv zu empfangen (Phil 3,3–7). Aber als einer, der diese empfängt, gewinnt er nicht nur Christus, sondern wird in Christus gefunden (Phil 3,8f.). Er wird in eine identitätsverändernde Gemeinschaft hineingestellt. Er wird „Bewohner“ eines anderen von Christus bestimmten Seinsbereich und ist ein Verwandelter, der nun auch aktiv an diesem Transformationsprozess durch die Nachahmung Christi teilnimmt. Die Philipper sind bereits Himmelsbürger (Phil 3,20, πολίτευμα) und sollen als solche wandeln (Phil 1,27, πολιτεύομαι). Wie Christus seine göttlichen Privilegien nicht für einen Raub geachtet hat (2,6), hat Paulus seine jüdischen Privilegien aktiv als Verlust geachtet, um die überragende Erkenntnis Christi zu erhalten. Diese Erkenntnis ist Paulus wegen seines Verzichts geschenkt worden und hat ihn transformiert. Doch zugleich hat sie ihn auf einen neuen prozessualen Weg der weiteren Transformation entlang der Matrix des Hymnus geführt, denn nun will er „Christus erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, indem er seinem Tod gleichgestaltet wird, um irgendwie die Auferstehung aus den Toten zu erreichen“ (Phil 3,10f.). Jesus Christus hat diesen Prozess abgeschlossen, indem er Paulus „ergriffen“ hat. Doch Paulus ist wiederum nicht nur ein passiv Verwandelter, sondern einer, der zugleich aktiv der Transformation zur Vollkommenheit, zur Berufung nach oben durch Nachahmung nachjagt: „ob ich es auch ergreifen möge“ (Phil 3,12.14). Diese Transformation geschieht nicht nur durch das ethische Bemühen der Glaubenden, sondern vor allem durch die Kraft Gottes (Phil 3,21: ἐνέργεια), die hier wahrscheinlich dem Geist Gottes zuzuordnen ist. Diese Kraft beziehungsweise der Geist verändern den Menschen nicht nur in seiner ethischen Ausrichtung, sondern auch substantiell.23 Die „Kategorie“ der imitatio impliziert auf diese Weise sowohl aktive (ethische) als auch passive (empfangende) Elemente. Anhand der „Kategorie“ der imitatio zeigt sich, dass für Paulus im Glaubenden göttliche und menschliche Aktivität ineinander verschlungen und miteinander verbunden sind, ohne dass eine klare Hierarchie oder Reihenfolge zu bestimmen wäre, d. h. insbesondere: Der glaubende Mensch, der in der imitatio als selbstän23 Zur komplexen Diskussion siehe V. RABENS, The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life, WUNT 2/283, Tübingen 2 2013, VI–VII und 138–144.

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diges Subjekt handelt, partizipiert gleichzeitig passiv am Weg Christi. Und umgekehrt: Christusähnlichkeit wird ihm geschenkt und er lebt sie aktiv, so dass sie wachsen kann. Paulus bringt diese Dynamik gerade im Philipperbrief dadurch zum Ausdruck, dass er auf engstem Raum im Wechsel von der Aktivität und der Passivität des Menschen spricht. „Diese Gesinnung sei in euch, die auch in Christus Jesus“ (Phil 2,5). Wahrscheinlich ist dieser Vers wirklich doppelt zu verstehen. Die Gemeinschaft „in Christus Jesus“ verändert die Identität eines Menschen, auch seine Gesinnung, denn dieser Raum ist durch Christus und seine Gesinnung geprägt. In diesem Gemeinschaftsraum steht er zugleich in Gemeinschaft mit vielen anderen Menschen, die durch Christus geprägt werden und sich wechselseitig prägen. Deshalb ist es nur konsequent, diejenigen, die sich dort durch die Gesinnung Christi besonders prägen lassen, zum Vorbild zu nehmen und selber ein Vorbild zu sein. Die Kirche soll Vorbilds- und Nachahmungsgemeinschaft sein. Imitation, Partizipation und Transformation mit verschiedenen aktiven und passiven Anteilen auf Seiten der Glaubenden ist als Thema kein Nebengleis der Theologie des Apostels, sondern verbindet seine Theologie und Ethik so stark, dass Indikativ und Imperativ sachgemäß nicht mehr gegeneinander abgegrenzt werden können. Deshalb ist es zwar erfreulich, dass die imitatio Christi wieder mehr in den Blick der neutestamentlichen Forschung rückt,24 doch es reicht nicht, wenn dies bloß in ethischer Hinsicht geschieht. Nachahmung (Mimesis) und Vorbild (Typos) spielen in den Paulusbriefen überhaupt eine wichtige Rolle. Schon in seinem ersten Brief lobt Paulus die Thessalonicher dafür, dass sie Nachahmer von ihm und dem Herrn geworden sind (1Thess 1,6), so dass sie selbst ein Vorbild für andere wurden (1,7). Sie sind Nachahmer der Gemeinden in Judäa geworden (2,14). Paulus präsentiert sich als Vorbild für sie (2,1–12) und wird das in vielen weiteren Briefen direkt oder indirekt tun (Gal 4,12; 1Kor 4,6.16; 1Kor 11,1; vgl. 1Kor 13,1–3 und 2Kor mehr oder weniger durchgehend; vgl. auch 2Thess 3,7.9 und Eph 5,1 mit dem Aufruf, Gott nachzuahmen). Die imitatio Christi und die imitatio Pauli in ihrer Verbindung zur Partizipation an Christus, seinen Privilegien, seinem Weg und seinem Leib und zu damit verbundenen Transformationsprozessen müsste nun im Römerund Galaterbrief und in den Korintherbriefen untersucht werden. Auch dort R. A. B URRIDGE, Imitating Jesus. An Inclusive Approach to New Testament Ethics, Grand Rapids 2007, 144–148 mit weiterführender Literatur. Doch Burridge scheint Transformation nur ethisch zu verstehen: „Ethical transformation does not happen overnight“ (153). Vgl. S.-G. KWON, Christ as Example. The Imitatio Christi Motive in Biblical and Christian Ethics, Uppsala studies in social Ethics, Uppsala 1998. Allerdings war auch die nicht-ethische, passivische Interpretation der imitatio Christi im Blick auf das Taufverständnis und die Gottebenbildlichkeit eine Engführung, so E. LARSSON, Christus als Vorbild. Eine Untersuchung zu den paulinischen Tauf- und Eikontexten, Uppsala 1962. 24

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wird ihre Bedeutung gegen eine traditionelle Paulusperspektive und gegen ein einseitiges ethisches Verständnis noch stärker herauszuarbeiten sein. Es kann hier nur noch Röm 8,29 genannt werden: „Denn die er im Voraus erkannt hat, die hat er auch vorherbestimmt, gleichförmig dem Bilde seines Sohnes zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern.“ Partizipation am Sohn, Transformation in sein Bild und implizit auch Imitation als Folge davon scheint in diesem Satz zusammen zu fallen.

5 Imitatio und die Inklusion hellenistischer Ideale Das Konzept der Nachahmung hat für die Theologie des Paulus offensichtlich eine wichtige Bedeutung. Doch woher übernimmt er diese Traditionen und was bedeutet diese Inklusion? Imitatio kann in hellenistischen Philosophien zu einer zentralen Kategorie der Ethik und sogar der Kosmogonie werden. Zur Mimesis gibt es einen weitgespannten ethischen Diskurs im hellenistisch-römischen Horizont.25 Platon vertritt eine mimetische Kosmologie. Die sichtbare Welt ist eine Nachahmung der Ideenwelt.26 Bei Philo von Alexandrien ist die ganze Ontologie und Kosmologie auf dem Mimesisgedanken aufgebaut.27 Im Gegensatz dazu erscheint μιμέομαι nicht in der Hebräischen Bibel, ist aber im Judentum zum Teil rezipiert worden. Besonders interessant für eine „mimetische“ Analyse des Philipperbriefs ist die Stoa. Dort soll die Nachahmung Gottes nicht nur ethisch durch die Tugenden erfolgen, sondern auch als Weg zur Vergottung beschritten werden. Ziel ist es, die in den Menschen angelegte göttliche Natur zu ihrer Vollendung zu führen. Mimesis ist der Weg zur Vergottung des Menschen.28 Besonders ein Blick auf die Epistulae Morales des Seneca zeigen, wie nahe das Mimesiskonzept des Paulus der Stoa kommt. Dies sollen im Folgenden wenige Beispiele zeigen: „Lobe an ihm, was weder entrissen werden kann noch gegeben, was Eigentum des Menschen ist. Du fragst, was das sei? Die Seele und die Vernunft, in der Seele zur Reife gekommen. Ein vernunftbegabtes Wesen ist nämlich der Mensch: Vollendet wird daher sein Vorzug, wenn er das erfüllt hat, wozu er geboren wird. Was ist es aber, was von ihm diese Vernunft verlangt? Ein sehr leichtes Verhalten, gemäß der

25 Zur Entwicklung der Mimesisvorstellung s. B ETZ, Nachahmung (s. Anm. 18), 48– 136, bes. 123–125. 26 BETZ, Nachahmung (s. Anm. 18), 111–120. 27 BETZ, Nachahmung, (s. Anm. 18), 131. 28 BETZ, Nachahmung, (s. Anm. 18), 124f.

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eigenen Natur zu leben …“ (Seneca, Ep. 41,8f.).29 Der Mensch soll das leben, was er ist. Indem er das tut, kommt er mit dem Göttlichen in sich und so mit Gott in Übereinstimmung. „Das nämlich ist es, was mir die Philosophie verspricht, mich dem Gotte gleich zu machen (ut parem deo faciat) …“ (Ep. 48,11). Ziel der Nachahmung ist die Selbstvergottung. Seneca ruft explizit zur Nachahmung der Götter auf. „Wichtigste Verehrung der Götter ist, an die Götter zu glauben: ferner anzuerkennen ihre Erhabenheit … Willst du die Götter gnädig stimmen? Gut sollst du sein! Genug verehrt sie, wer ihnen nacheifert“ (eigentlich: Wer sie nachahmt; quisquis imitatus est) (Ep. 95,50). Mit seinem Imitatio-Konzept will Seneca in Freundschaft erziehen.30 Die Selbstdarstellung ist dafür zentral. Aus ihr folgt die Paränese. Sie entspringt aus seinem Bemühen um die congruentia vitae atque doctrinae. Seine Selbstdarstellung dient als exemplum für das Geforderte. Er ist überzeugt, dass der Mensch am Meisten durch Vorbilder lernt, deren Lehre und Leben miteinander übereinstimmen. Sein höchstes Vorbild ist Sokrates.31 „Indem er dem Exemplum des Sokrates folgt, wird er selbst zum Exemplum.“32 Für Seneca ist der Tod die höchst mögliche Form der vorbildlichen Selbstdarstellung.33 Die Argumentation des Paulus ist bemerkenswert ähnlich. Auch er bietet sich den Philippern als Beispiel an. Er weiß sich dazu legitimiert, weil er selbst dem Beispiel Christi nacheifert, das für ihn wie für die Philipper das Leitbild schlechthin sein soll. Mit seiner Bereitschaft, um des Evangeliums willen freiwillig in den Tod zu gehen,34 stellt er sich ganz in das Vorbild Christi, indem er sich als Vorbild präsentiert, das vom Vorbild Christi bis in sein Sterben hinein geprägt ist. Paulus übernimmt offensichtlich ein hellenistisches Grundmuster, um das Zusammenspiel von Sein und Tun zu deuten. Doch weshalb kommt es gerade im Philipperbrief besonders deutlich zu einer solchen Inklusion? In Philippi als römischer Kolonie gab es kaum Juden. Somit bestand die Gemeinde vor allem aus Nichtjuden. Der neue Weg konnte im christlich-jüdischen 29 Übersetzungen nach L. A. Seneca, Ad Lucilium, Epistulae morales; An Lucilius, Briefe über Ethik, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Manfred Rosenbach, Darmstadt 22011. 30 H. CANCIK Untersuchungen zu Senecas Epistulae morales, Spudasmata 18, Hildesheim 1967, 56.76. 31 K. DÖRING, Das Leitbild des Sokrates in der Antike und in der Gegenwart, in: J. Dummer / M. Vielbert (Hg.), Leitbilder in der Diskussion, Stuttgart 2001, 33–48 (37– 40) zur grundsätzlichen Bedeutung des Vorbildes des Sokrates für Seneca. 32 CANCIK, Untersuchungen (s. Anm 30), 78. 33 CANCIK, Untersuchungen, (s. Anm. 30), 109f. 34 Dazu ausführlich S. VOLLENWEIDER, Die Waagschalen von Leben und Tod. Zum antiken Hintergrund von Phil 1,21–26, ZNW 85 (1994), 93–115.

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Kontext als Weiterentwicklung jüdischer Identitäten verstanden werden. Das war in Philippi kaum möglich. Der Glaube an den „Kyrios Jesus Christus“ (Phil 2,11) destabilisierte die alte Identität der Gläubigen, indem sie ihre alte Identitäten und Weltdeutungen hinter sich lassen mussten. Eine ganze jüdische Identität wollte Paulus ihnen nicht anbieten, obwohl die neue Identität zutiefst in der jüdischen verwurzelt bleibt. Diese Spannung ist in dieser Phase der frühen Kirche noch lange nicht aufgehoben. Die neue Identität ist erst in der Entstehung begriffen. Mit dem Philipperbrief stabilisiert Paulus die neue Identität der Gläubigen und entwickelt sie weiter. Viele seiner Aussagen wirken auch in diese Richtung. Deshalb betont er unter anderem ihren neuen Bürgerort (πολίτευμα), der ihr neues Leben bestimmen soll. Das Konzept des Bürgerorts nimmt alte Identitätsideale auf und füllt sie christologisch und eschatologisch neu. Mit der Mimesis zeigt Paulus eine beachtliche Transferleistung. Er inkludiert in seine Theologie ein hellenistisch-römisches philosophisches Konzept, dass sich hervorragend dafür eignet, die Interdependenz von „Sein“ und „Tun“ zu formulieren, und richtet es besonders im Philipperhymnus auf seinen christologischen Monotheismus aus, den er konsequent im Judentum verwurzelt wissen will. Gemäß dem Philipperhymnus überträgt Gott den Namen, der über allen Namen ist, das heißt seinen eigenen Namen auf Jesus Christus. Der Hymnus formuliert das unter Anspielung auf Jes 45,23, einem der „monotheistischen Spitzentexte der hebräischen Bibel.“35 So verbindet Paulus im Philipperbrief die Mimesis mit seinem eigenständigen, jüdischen Monotheismusverständnis.

6 Ertrag Das Imitatio-Thema erlaubt Paulus, die verschiedenen Anlässe, die zum Philipperbrief geführt haben, auch anhand dieses Themas zusammen zu binden. Er kann den Weg, mit dem Christus das Heil bewirkt und selber erlangt hat, ins Zentrum stellen, mit diesem Zentrum als Matrix über sein Ergehen in der Gefangenschaft fern der Philipper berichten, auf Leidenserfahrungen von ihm und ihnen eingehen, Euodia und Syntyche zur Demut ermahnen und vor allem für die Unterstützung der Philipper lobend danken und die Koinonia zwischen Jesus, ihm und der Gemeinde stärken. Diese Christusgemeinschaft ist ein dynamischer Raum der Partizipation, der Transformation und der Imitation, nicht nur in Bezug auf Christus, sondern auch untereinander. Weil alles relational miteinander verwoben ist, kann 35 Vgl. S. VOLLENWEIDER , „Der Name, der über jedem anderen Namen ist“. Jesus als Träger des Gottesnamens im Neuen Testament, in: I. U. Dalferth / P. Stoellger, Gott nennen. Gottes Namen und Gott als Name, Tübingen 2008, 173–186 (183).

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Paulus mit dem Aufruf zur imitatio auch den Leib Christi als Gemeinschaft stärken: „Werdet zusammen mit mir Nachahmer, Brüder, und seht auf die, die so wandeln, wie ihr uns zum Vorbild habt.“

Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“ Ascensio Isaiae und Evangelium Veritatis1 TOBIAS NICKLAS Das zumindest auf den ersten Blick verwirrende, zugleich kaum vollständige und immer wieder unzuverlässige Datenmaterial der Biblia Patristica2 zu frühchristlichen Rezeptionen des paulinischen Briefs an die Philipper verlangt im Grunde zwei Arbeitsschritte, will man Geschichte der Rezeption dieses Textes erfassen: Zunächst ist es natürlich notwendig, die vorgegebenen Angaben zu ordnen, zu sichten, zu vervollständigen und dabei in manchem Fall neu zu bewerten, um damit eine neue, in Teilen hoffentlich zuverlässigere Liste früher Spuren des Texts zusammenstellen zu können. Bereits dieser Schritt stellt, wie sich auch im Folgenden zeigen wird, den Ausleger vor eine Vielzahl von Problemen, die sich nicht immer eindeutig lösen lassen. Damit ist jedoch noch nicht Rezeptionsgeschichte geschrieben:3 Dazu ist (mindestens) ein zweiter Schritt nötig, nämlich die Profilierung des vorhandenen Materials und seine kritische Einbettung in histori1 In einem Beitrag zu Ehren von Samuel Vollenweider, dem seit vielen Jahren nicht nur am Philipperbrief, sondern auch an Fragen der Paulusrezeption arbeitenden Autor des Evangelisch-Katholischen Kommentars wie des Novum Testamentum Patristicum, über die frühe Rezeption dieses Textes zu schreiben, mag bedeuten, Eulen nach Athen zu tragen – oder in diesem Falle nach Zürich. Ich bringe diese kleine Gabe doch sehr gerne – an einen Kollegen, dessen wissenschaftliche Arbeit ich seit Jahren schätze und den ich zudem in den vergangenen Jahren als überaus angenehmen Zeitgenossen kennen lernen durfte. Lieber Samuel – hoffentlich viel Freude damit! 2 Zu den Problemen der Arbeit mit diesem Hilfsmittel vgl. u. a. A. MERKT, Novum Testamentum Patristicum. Ein Projekt zur Erschließung der Rezeption des Neuen Testamentes in frühchristlicher und spätantiker Zeit, Sacra Scripta 10 (2012), 15–38 (17–21) – im Rahmen dieses Beitrags auch weiterführende Vorstellung und Diskussion von Hilfsmitteln rezeptionsgeschichtlicher Arbeit am Neuen Testament. 3 Grundlegende Gedanken zu rezeptionsgeschichtlichen Fragestellungen und ihrer Bedeutung für die neutestamentliche Wissenschaft finden sich u. a. bei U. LUZ, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1–7), EKK I/1, Zürich – Neukirchen-Vluyn 1985, 78–82, der hier entscheidende Aspekte des Profils der Kommentarreihe „Evangelisch-Katholischer Kommentar“ skizziert. Ausführlichere Gedanken zudem bei U. LUZ, Matthew in History: Interpretation, Influence, and Effects, Minneapolis 1994, 23–38 und 75–97.

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sche Zusammenhänge – der Versuch zu verstehen, wie es zu bestimmten Auslegungsformen gekommen sein mag und warum bestimmte Passagen eines Textes in bestimmten, nicht immer eindeutig rekonstruierbaren Kontexten, auf welche Weise interpretiert oder (vielleicht auch nur) gebraucht und herangezogen wurden. Sich auf einen Aspekt dieses Programms zu konzentrieren bedeutet, eine (in jedem Falle künstliche) Auswahl vornehmen zu müssen, ein (zeitlich oder aufgrund historischer Kontexte) möglichst in sich geschlossenes Bündel von Quellen auszuwählen, mit Hilfe derer Auslegungsprofile erkennbar werden. Damit bleiben verschiedene Wahlmöglichkeiten: Da die Rezeptionen neutestamentlicher Schriften in den Apostolischen Vätern erst vor wenigen Jahren sehr genau bearbeitet wurden,4 dürfte es wenig Sinn machen, sich erneut auf dieses Corpus von Texten zu konzentrieren. Als zweite Möglichkeit bleibt, einen der Autoren, in deren Schriften mehrfach Passagen des Philipperbrief angespielt oder gar zitiert werden, genauer unter die Lupe zu nehmen. In Frage kämen dann an der Wende vom 2. zum 3. Jh. unserer Zeitrechnung vor allem Tertullian und Clemens von Alexandrien – mit einigen Abstrichen auch Irenäus von Lyon. Da eine solche Aufgabe aber vielleicht eher denjenigen zusteht, die sich in den umfänglichen Schriften dieser Autoren besser zu Hause fühlen als ich, möchte ich eine Auswahl aus einem anderen, erneut „künstlichem“ Corpus von Texten des 2. Jh. unter die Lupe nehmen, nämlich Schriften, die aus zum Teil sehr unterschiedlichen Gründen aus Sicht der sich entwickelnden „ProtoOrthodoxie“ bzw. „Mehrheitskirche“ als „häretisch“ bzw. „apokryph“ (im Sinne von „gefälscht“, „unerlaubt“ etc.) eingeordnet wurden. Dass Begriffe wie „häretisch“, „Häresie“, aber auch – damit nur manchmal zusammenhängend – „apokryph“ heute mit Recht als überaus problematische, nur mit Vorsicht zu verwendende Labels anzusehen sind, ist mir natürlich bewusst.5 Was mich reizt, ist, dass viele in der Antike als „häretisch“ oder 4 Hierzu v.a. die Beiträge in dem Band A. Gregory / C. M. Tuckett (Hg.), The Reception of the New Testament in the Apostolic Fathers, Oxford 2005; ein wichtiger Aspekt wird auch diskutiert bei M. T HEOBALD, Paulus und Polykarp an die Philipper. Schlaglichter auf die frühe Rezeption des Basissatzes von der Rechtfertigung, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive: Beiträge zu einem Schlüsselproblem der gegenwärtigen exegetischen Diskussion, WUNT 182, Tübingen 2005, 349–388. 5 Zum Begriff „Häresie“ vgl. u. a. die schon „klassisch“ zu nennende Untersuchung von A. LE B OULLUEC , La notion d’hérésie dans la littérature grecque. IIe–IIIe siècles, Études Augustiniennes, Paris 1985, sowie die in dem Band von E. Norelli (Hg.), Costruzioni dell’eresia nel cristianesimo antico, Rivista d Storia del cristianesimo II, Brescia 2009 zusammengestellten Arbeiten; spannend auch der Zugang der Beiträge in A. Marjanen / P. Luomanen (Hg.), A Companion to Second-Century Christian ‚Heretics‘, SVigChr 76, Leiden 2005. Ähnlich wurde in den vergangenen Jahren auch der Begriff „apokryph“ mit Recht hinterfragt bzw. wurden neue Zugänge zu ihm gesucht. Hierzu

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„apokryph“ gebrandmarkte Schriften – die meisten nur durch Zufälle, fragmentarisch bzw. auf verschlungenen Wegen erhalten – uns Gegenperspektiven zu dem bieten, was noch vor wenigen Jahrzehnten als der Kern dessen angesehen wurde, was an der Alte Kirche interessiert. Dies gilt auch für Fragen der Rezeption des Neuen Testaments – so wichtig die großen Autoren der alten Kirchengeschichte sind, so spannend kann es auch sein, sich an Texte zu wagen, die auf Richtungen zurückgehen, die sich später nicht durchsetzten – und die deswegen heute als Außenseiter gelten, jedoch auch für die Vielfalt des Phänomens stehen, das wir antikes Christentum nennen.6 Nur in einigen dieser Schriften finden sich deutliche Spuren einer Rezeption des Philipperbriefs.7 Ich konzentriere mich im Folgenbesonders wichtig C. MARKSCHIES, Haupteinleitung, in: ders. / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/1, Tübingen 2012, 1–180 (9–24), sowie meine Beiträge T. N ICKLAS, Semiotik – Intertextualität – Apokryphität. Eine Annäherung an den Begriff „christlicher Apokryphen“, Apocrypha 17 (2006), 55–78; T. N ICKLAS, „Écrits apocryphes chrétiens“. Ein Sammelband als Spiegel eines weitreichenden Paradigmenwechsels in der Apokryphenforschung, VigChr 61 (2007), 70–95, sowie T. Nicklas, „Apokryph gewordene“ Schriften? Gedanken zum Apokryphenbegriff bei großkirchlichen Autoren und in einigen „gnostischen“ Texten, in: J. A. Van den Berg / A. Kotzé / T. Nicklas / M. Scopello (Hg.), In Search of Truth. Augustine, Manichaeism, and Gnosticism (FS J. van Oort), NHMS 74, Leiden 2011, 547–565. 6 Zu den aus solchen Zugängen entstehenden Bildern des antiken Christentums vgl. u. a. die Überlegungen von D. BRAKKE, The Gnostics. Myth, Ritual, and Diversity in Early Christianity, Cambridge 2010, 1–18. 7 Nicht diskutiert wird im Folgenden z. B. das sethianische Apokryphon des Johannes aus Nag Hammadi, dessen in NHC II,1 par NHC IV,1 zu findende Fassung gegen die Fassungen aus NHC III,1 und BG 2 einen Bezug auf Phil 2,9 (Benennung mit einem über alle Namen erhabenen Namen) bieten mag, in dem aber keine weiteren Hinweise auf eine Rezeption des Philipperbriefs zu finden sind; möglich erscheint zudem ein Bezug auf Phil 2,7 bei Theodot, zitiert in den Excerpta des Clemens von Alexandrien [SC 23; p.136,2]). Die Biblia Patristica gibt zudem an, Tatians Oratio ad Graecos verarbeite in Kapitel 21 Phil 2,7. Obwohl es in diesem Kapitel tatsächlich um die Verteidigung christlicher Inkarnationslehre geht, werden Anspielungen auf neutestamentliche Texte m. E. jedoch nicht klar erkennbar, sondern die Auseinandersetzung mit griechischer Mythologie geführt. Vereinzelte, z.T. sehr klare Hinweise auf den Philipperbrief finden sich auch in der Epistula Apostolorum (27 – Phil 2,16 – 31 – Phil 3,5 – 38 – Phil 1,27 und 3,18f. – 47 – Phil 3,18 [sehr klar]) – in keinem Falle aber entsteht der Eindruck, Phil habe einen Einfluss auf die (zudem kaum als „häretisch“ einzuordnende) Theologie der EpAp genommen. – Besonders problematisch sind die Oden Salomos. Obwohl vor allem in Ode 7,3b–4 der Eindruck entsteht, hier werde Phil 2,6–8 aufgegriffen (so z. B. vorausgesetzt von J. GNILKA, Der Philipperbrief, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 31987, 146 und auch erwähnt in der Biblia Patristica), dürfte M. LATTKE, Oden Salomos. Text, Übersetzung, Kommentar 1: Oden 1 und 3–14, NTOA 41/1, Freiburg/CH 1999, 105 Recht haben, wenn er schreibt: „Da das Subjekt von 3c die ‚Güte‘ oder ‚Freundlichkeit‘ Gottes ist …, geht diese theologische Aussage weder sprachlich noch sachlich auf Phil 2,6–8 zurück, wo der reflexive Ausdruck ἐταπείνωσεν ἑαυτόν (2,8 …) sich hymnologisch auf die sich selbst demütigende Menschwerdung des Χριστός Ἰησοῦς (2,5) bzw. des κύριος Ἰησοῦς Χριστός

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den auf zwei aus verschiedenen Gründen besonders aussagekräftige „Fälle“: Einerseits zeigen sich in beiden Schriften – der Ascensio Isaiae und dem Evangelium Veritatis aus Nag Hammadi – besondere Schwierigkeiten, literarische Abhängigkeiten von kanonischen (bzw. besser: kanonisch gewordenen) Schriften sicher zu stellen; dies gilt umso mehr, als beide Schriften nicht (bzw. nicht vollständig) in griechischer Sprache überliefert sind und Vergleiche damit umso unsicherer werden. In beiden Fällen jedoch zeigen sich andererseits spannende Parallelen vor allem zum Philipperbriefhymnus Phil 2,6–11,8 an denen sich theologische Entwicklungen festmachen lassen, von denen ich hoffe, dass sie interessant sind – und uns ein wenig tiefer in die Welt hineinführen, in der Texte des Paulus gelesen, gehört, tradiert, meditiert und interpretiert wurden.

1 Die Ascensio Isaiae Bereits bei der Ascensio Isaiae sind wir mit allen eingangs erwähnten Problemen konfrontiert: Von dieser sicherlich auf Kreise von Christusanhängern zurückgehende Apokalypse, die mit einiger Wahrscheinlichkeit auf die ersten Jahrzehnte des 2. Jh. unserer Zeitrechnung zu datieren ist,9 (2,11) bezieht. Hier in Ode 7 geht es also gar nicht um die Menschwerdung Gottes, sondern um seine erbarmende Offenbarung in der radikalen Selbsterkenntnis des IchSprechers, der nun Gen 1,26–27 auf sich anwenden wird.“ Damit relativieren sich auch die beiden anderen möglichen Passagen der Oden, die in der Biblia Patristica genannt werden. Gänzlich an den Haaren herbeigezogen erscheint mir die Vorstellung Ode 14,10 aus Phil 4,19 herzuleiten – dazu sind beide Aussagen eindeutig zu allgemein; Ode 41,11– 16 wiederum könnte durchaus als „Christushymnus“ beschrieben werden – der Bezug der Rede vom Ab- und Aufstieg des Erlösers (41,12) dürfte aber wohl auch aufgrund der Lichtmetaphorik in V. 14 eher in den Kontext des Johannesprologs als des Philipperbriefhymnus gehören. Weiterführend auch M. LATTKE, Oden Salomos. Text, Übersetzung, Kommentar 3: Oden 29–42, NTOA 41/3; Freiburg/CH 2005, 242–244. 8 Man mag verzeihen, wenn ich die Frage, ob Phil 2,6–11 korrekt als Hymnus zu bezeichnen ist oder ob andere Beschreibungen (z. B. Enkomion) zutreffen, für den vorliegenden Beitrag zurückstelle. Hierzu weiterführend (und gleichzeitig relativierend) S. VOLLENWEIDER, Der „Raub“ der Gottgleichheit. Ein religionsgeschichtlicher Vorschlag zu Phil 2,6(–11), in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 263–284 (263–265) (Literatur!) sowie DERS., Hymnus, Enkomion oder Psalm? Schattengefechte in der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 56 (2010), 208–231. 9 Zu Einleitungsfragen vgl. E. NORELLI, Ascension d’Isaïe, in: F. Bovon / P. Geoltrain (Hg.), Écrits apocryphes chrétiens, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1997, 501–545 (501–517) sowie ausführlicher E. NORELLI, Ascensio Isaiae. Commentarius, Corpus Christianorum. Series Apocryphorum 8, Turnhout 1995, 1–66; wichtig auch – mit einigen anderen Akzentsetzungen als Norelli – J. KNIGHT, Disciples of the Beloved One. The

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ist nur ein längeres Fragment in griechischer Sprache erhalten (P.Amherst 1 mit AscIsa 2,4–4,4), die Schrift im Gesamt dagegen äthiopisch überliefert.10 Auch die Frage, in welchem Sinne wir es hier mit einem „häretischen“ Text (oder der Schrift einer „häretisch“ gewordenen11 Gruppe) zu tun haben, ist nicht ganz eindeutig zu beantworten. Zwar wurde in der Literatur zur Ascensio Isaiae immer wieder recht vage von „doketischen“ oder auch „gnostisierenden Tendenzen“ des Textes gesprochen,12 alleine das Interesse des Textes an den Martyrien des Jesaja, des Petrus13 – und wohl auch des „Geliebten“, d. h. Christus, scheint mir jedoch nahe zu legen, den meist zudem wenig präzise verwendeten und daher kaum hilfreichen Begriff „doketisch“14 in Bezug auf Ascensio Isaiae ad acta zu legen. Ähnlich unklar ist, was in Bezug auf die Ascensio Isaiae mit „gnostisierend“ gemeint ist: weder die Tatsache, dass wir es mit einer wohl stark an mystischen Erfahrungen interessierten Trägergruppe zu tun haben,15 die ein komplexes Bild verschiedener, aufeinander aufgebauter Himmel entwickelt, aus denen Christus, der Geliebte, unerkannt auf die Erde herabsteigt, noch die Vorstellung, dass die Welt unter der Herrschaft des dämonischen Beliar steht, welcher immer wieder in der Gestalt böser Könige Unheil über die Diener Gottes bringt, muss schon bedeuten, dass die Trägergruppe dieses Textes als „Gnostiker“16 zu verstehen ist. Und trotzdem versteht Christology, Social Setting and Theological Context of the Ascension of Isaiah, Sheffield 1996. 10 Hinzu kommen Fragmente in sahidischem and akhmimischem Koptisch, eine späte lateinische und eine altkirchenslavische Fassung. Ausführlich hierzu die maßgebliche Edition von P. BETTIOLO et al. (Hg.), Ascensio Isaiae. Textus, Corpus Christianorum. Series Apocryphorum 7, Turnhout 1995. 11 Die Formulierung lehnt sich an D. Lührmanns Formulierung von „apokryph gewordenen“ Evangelien an. Vgl. D. LÜHRMANN, Fragmente apokryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache, MThSt 59, Marburg 2000. 12 Vgl. z. B. die Bemerkungen und Hinweise bei C. D. G. M ÜLLER, Die Himmelfahrt des Jesaja, in: W. Schneemelcher (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 1997, 547–562 (548). 13 Zum Martyrium des Petrus in der Ascensio Isaiae vgl. T. NICKLAS, ‚Drink the Cup Which I Promised You!‘ (Apocalypse of Peter 14:4). The Death of Peter and the End of Times, in: J. Knight / K. Sullivan (Hg.), The Open Mind (FS C. Rowland), LNTS 522, Cambridge 2015, 183–199. 14 Zur Problematik des Begriffs vgl. schon die immer noch aktuellen Überlegungen bei N. B ROX, ‚Doketismus‘ – eine Problemanzeige, ZKG 95 (1984), 301–314. 15 Für weiterführende Gedanken zum Selbstkonzept dieser Trägergruppe vgl. M. HENNING / T. NICKLAS, Jewish, Christian – or What? Matters of Self-Designation in the Ascension of Isaiah, in: J. N. Bremmer / T. Karmann / T. Nicklas (Hg.), The Ascension of Isaiah, Studies on Early Christian Apocrypha 11, Leuven 2015 (im Druck). 16 Dass auch dieser Begriff in den vergangenen Jahren immer mehr als problematisch angesehen wurde, ist bekannt. Vgl. z. B. die Überlegungen von M. A. W ILLIAMS,

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sich die Gruppe hinter der Ascensio Isaiae recht offensichtlich als außerhalb der entstehenden Großkirche stehende Gemeinde der Gerechten oder Heiligen:17 In einer Jesaja in den Mund gelegten Prophezeiung wird – quasi als vaticinium ex eventu und aus der Perspektive der Trägergruppe hinter dem Text – von einer Kirche gesprochen, die von unwürdigen Presbytern und Hirten beherrscht werde, welche aus Habgier ihre Herde beraubten, und in der es nur noch wenige Propheten gebe (vgl. ausführlicher AscIsa 3,21–31). So mag es heute kaum mehr möglich erscheinen, die Gruppe hinter des Ascensio Isaiae einer der verschiedenen, als „häretisch“ bezeichneten Bewegungen des frühen 2. Jh. zuzuordnen; die im Text zum Tragen kommende, gegenüber der werdenden Großkirche distanzierte Perspektive mag jedoch ein Grund dafür gewesen sein, dass sich Spuren der Rezeption dieses Textes bis ins europäische Mittelalter bei Arianern, Manichäern, aber auch Messalianern, Bogomilen oder gar Katharern finden.18 Will man die Frage nach der Rezeption des Philipperbriefs in der Ascensio Isaiae stellen, so ergibt sich ein ganzes Knäuel an Problemen – nicht nur, dass markierte Zitate fehlen, und bestenfalls von in einen narrativen Text eingebauten Anspielungen zu sprechen ist; auch die bereits angesprochene problematische Überlieferungslage des Textes – vor allem in äthiopischer Sprache – erlaubt keinen eindeutigen Textvergleich. Und doch erscheint mir die Tatsache, dass drei in einem größeren narrativen Zusammenhang stehende Passagen der Ascensio Isaiae Parallelen auf Abschnitte des Philipperbriefhymnus aufweisen, doch zumindest ein Indiz zu liefern, dass die Ascensio Isaiae diesen Abschnitt des Philipperbriefs (in welcher Form auch immer) kennt und zu verarbeiten sucht. Ascensio Isaiae 6–11, der zweite, womöglich ursprünglich von Kapitel 1–5 unabhängige Teil unseres Textes,19 erzählt von einer Vision (AscIsa 6,12.15f.; 7,1 etc.) bzw. Entrückung Jesajas (AscIsa 6,14; 7,3 etc.) zur Zeit des Königs Hiskija (AscIsa 6,1). Gemeinsam mit einem Engel aus dem siebten Himmel (AscIsa 6,13) steigt Jesaja bis zum siebten Himmel auf, wo er die Gerechten von Adam an versammelt sieht (AscIsa 9,7–10). Das Ziel der Vision Jesajas jedoch besteht darin, von dem durch die bösen Mächte unbemerkten Abstieg des „Geliebten“, des Sohnes Gottes, zu erRethinking ‚Gnosticism‘. Arguments for Dismantling a Dubious Category, Princeton 1996. 17 Hierzu ausführlicher HENNING / N ICKLAS, Jewish, Christian – or What (s. Anm. 15). 18 Hierzu knapp MÜLLER, Himmelfahrt (s. Anm. 12), 548. 19 Dies ist die an vielen guten Beobachtungen festzumachende, wenn auch nicht unumstrittene These von E. Norelli, während etwa R. B AUCKHAM, The Ascension of Isaiah. Genre, Unity and Date, in: ders., The Fate of the Dead. Studies on the Jewish and Christian Apocalypses, Leiden 1998, 363–390, den Text als literarische Einheit auffasst und für eine sehr frühe Datierung bereits am Ende des 1. Jh. votiert.

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fahren (AscIsa 10), von seinem Wirken auf der Erde und seinem anschließenden Wiederaufstieg in den siebten Himmel (AscIsa 11). Dies erinnert zunächst nur vage an die in Phil 2,6–11 formulierte Grundstruktur von Erniedrigung und Erhöhung Christi. Zumindest in drei Fällen jedoch meint die Biblia Patristica Anspielungen der AscIsa auf den Philipperbriefhymnus zu erkennen: (1) So soll AscIsa 8,10, wo wir davon lesen, dass Jesaja sehen soll, wie der „Herr all jener Himmel und dieser Throne“ (AscIsa 8,9) sich verwandelt, „bis er euer Aussehen und eure Gestalt bekommt,“20 an Phil 2,7 anklingen. Die entscheidenden Berührungspunkte beider Texte liegen sicherlich in der Vorstellung, dass an der gottgleich verstandenen Gestalt Christi eine Veränderung der μορφή stattfindet,21 eine Veränderung, die in Phil 2,7 als κένωσις verstanden ist, und dazu führt, dass Christus schließlich die Gestalt von Menschen annimmt. Ob dies schon als Zeichen literarischer Abhängigkeit zu deuten ist, mag unsicher bleiben – vielleicht ist es klüger, von einer grundsätzlichen strukturellen Parallele zu sprechen. Da AscIsa 8,9–10 sicherlich als Schlüsselpassage für den gesamten zweiten Teil der Ascensio zu sehen sind – immerhin wird hier das Ziel von Jesajas Aufstieg in den siebten Himmel und damit der Kern des im Folgenden Erzählten beschrieben –, stellt sich damit natürlich die Frage, inwiefern die folgende Beschreibung von Ab- und Aufstieg Christi als an Phil 2,6–11 orientiert verstanden sein könnte. (2) Auch in AscIsa 9,13, wo der Abstieg des Herrn – dieses Mal als Christus bezeichnet – in die Welt beschrieben wird, erlauben die üblichen Kriterien der Literarkritik kein eindeutiges Urteil: Erneut begegnet das Motiv, dass Christus dem Aussehen nach den Menschen gleich geworden ist und man ihn für „Fleisch und Mensch“ hält; im unmittelbaren Kontext (AscIsa 9,12) ist zudem von der „Gestalt“ des Geliebten die Rede – für sich allein genommen, bleibt der Bezug von AscIsa 9,13 zu Phil 2,7 trotzdem vage. (3) In AscIsa 10,15 schließlich hören wir vom Ziel des verborgenen Abstiegs und anschließenden Wiederaufstiegs des Geliebten in Herrlichkeit – „dann werden dich die Fürsten und Mächte dieser Welt anbeten“ – die Biblia Patristica will hier eine Rezeption von Phil 2,10 erkennen.22 Will man literarische Abhängigkeit an (aufgrund der verschiedenen Sprachen natürlich sowieso problematischen) wörtlichen Bezugnahmen festmaÜbersetzungen angelehnt an MÜLLER, Himmelfahrt (s. Anm. 12). Leider ist jedoch der griechische Originaltext der AscIsa an dieser Stelle nicht erhalten; der erhaltene äthiopische Text lässt natürlich keinen sicheren Rückschluss auf das Griechische zu. Weiterführend B ETTIOLO et al., Ascensio (s. Anm. 10), 92f. 22 Ähnlich M. A. KNIBB, Martyrdom and Ascension of Isaiah, in: J. H. Charlesworth (Hg.), The Old Testament Pseudepigrapha II, ABRL, New York 1985, 143–176 (173). 20 21

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chen, so besteht hier wie auch in den anderen erwähnten Passagen wohl keine Chance, halbwegs sicheren Boden zu erreichen. Und doch lädt die Parallele zum Vergleich ein, welcher den gegenüber Phil 2,10 etwas anderen Fokus der Ascensio Isaiae auf den (als gottfeindlich verstandenen) Fürsten und Mächten dieser Welt unmittelbar deutlich macht. Trotz der Angaben der Biblia Patristica ist so an keiner Einzelpassage eine literarische Abhängigkeit der Ascensio Isaiae vom Philipperbriefhymnus sicher zu stellen; ich halte es auch für sinnvoll, den Begriff der „Anspielung“ zu vermeiden, würde dieser doch (zumindest in meinem Verständnis) voraussetzen, dass die Ascensio Isaiae bei ihren Rezipienten die Kenntnis (und das daraus folgernde „Einspielen“) von Phil 2,6–11 erwartet. Dies scheint mir jedoch nicht der Fall und gilt wohl umso mehr, als die Theologie der Ascensio Isaiae wenig von typisch paulinischem Gedankengut geprägt sein dürfte.23 Das muss jedoch noch nicht bedeuten, dass ein Einfluss von Phil 2,6–11 auf das Auf- und Abstiegsschema der Ascensio Isaiae im Gesamt vollkommen auszuschließen ist. Betrachtet man den Text nämlich etwas genauer, so fallen weitere Parallelen auf, aufgrund derer sich zwar noch immer kein sicheres literarisches Bezugsverhältnis vollkommen sicherstellen lässt, die jedoch zum – m. E. durchaus reizvollen – Vergleich theologischer Profile einladen: Dabei ist zunächst an den Gedanken der Gottgleichheit Christi zu denken, der in Phil 2,6a mit Hilfe des Gedankens des ἐν μορφῇ θεοῦ ὑπάρχων ausgedrückt ist. Davon, dass dem Geliebten die Gestalt Gottes zukomme, ist, soweit ich sehe, in der Ascensio Isaiae nicht die Rede – dies scheint jedoch in der Vorstellung, dass dieser bei seinem Abstieg vom siebten Himmel mehrfach sein Aussehen wechselt, vorausgesetzt. Die Nähe von Vater und Geliebtem bzw. Gottgleichheit des Geliebten (vgl. Phil 2,6c) wird im zweiten Teil der Ascensio Isaiae jedoch mehrfach durch andere Gedanken ausgedrückt: der Geliebte kann in AscIsa 9,5 als „dein Herr“ (vgl. auch AscIsa 10,7.16; vgl. auch 8,5) bzw. „Gott“ bezeichnet werden; zudem kommt ihm, anders als Engeln (AscIsa 7,21), bereits vor seinem Abstieg zusammen mit dem Vater Lobpreis zu (z. B. AscIsa 9,29–35 und 10,1–7). Der für Phil 2,7 wichtige Gedanke der Kenosis Christi wird in der Ascensio Isaiae nicht explizit aufgegriffen – dort ist stattdessen Wert gelegt auf ein räumlich verstandenes, vertikal ausgedrücktes Absteigen des Geliebten vom siebten Himmel bis schließlich hinab in die Unterwelt – allerdings ohne die Hölle (vgl. AscIsa 10,8). Dieser Abstieg wird, anders als bei Paulus, als schrittweise Verwandlung des Geliebten beschrieben (vgl. AscIsa 10,17–30) – die bei Paulus radikal formulierte Vorstellung der 23 So auch NORELLI, Ascensio Isaiae. Commentarius (s. Anm. 9), 60f., der jedoch wenigstens indirekt vermittelte Kontakte zu Phil 2,6–11 für wahrscheinlich hält.

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„Entleerung“ des Präexistenten ist damit entschärft: Die Verwandlung während des Abstiegs scheint, anders als bei Paulus, als pure Verhüllung verstanden,24 sie wird notwendig, um die Ankunft des Geliebten in der Welt unter dem Firmament unbemerkt von den bösen Mächten, die diese beherrschen, zu halten (vgl. z. B. AscIsa 9,15; 10,8–9; 11,16–17). Während ich meine, dass die Ascensio Isaiae nirgends so weit geht, vergleichbar Phil 2,7b von der Gestalt eines Knechts bzw. Sklaven zu sprechen, so ist der Gedanke, dass er einem Menschen gleich wurde (Phil 2,7c–d) auch in der Ascensio Isaiae zu finden, wo etwa ausführlich seine (wunderbare) Geburt und Kindheit (AscIsa 11,2–9.17) thematisiert ist. Anders als im Philipperbrief ist von einer den Stufen des Weltschemas entsprechenden schrittweisen Verwandlung in die Gestalt der den verschiedenen Weltsphären angehörenden Engel die Rede, welche – erneut verbunden mit dem Motiv des unerkannt Seins – ausführlich in AscIsa 10,23–30 beschrieben ist. Dies als Umschreibung des in Phil 2,8 angesprochenen Gedankens seiner „Erniedrigung“ (ἐταπείνωσεν) zu verstehen, scheint verlockend, dürfte aber zu weit gehen. Interessanter scheint mir jedoch ein anderer Gedanke: AscIsa 10,8–16 erzählt nicht nur vom Befehl „des Vaters, meines Herrn“, unerkannt in die Welt hinabzusteigen und nach vollbrachter Vernichtung des Fürsten der Welt und seiner Engel (AscIsa 10,12) in Herrlichkeit wieder zu ihm emporzusteigen – wie bereits angesprochen, könnte AscIsa 10,15 als recht konkrete Reminiszenz von Phil 2,10 gelesen werden.25 Ähnlich Phil 2,8 könnte dann AscIsa 10,8–16 als Zeichen dafür verstanden werden, dass der Abstieg des Geliebten eine Tat des Gehorsams – hier verstanden als Zeichen des Gehorsams gegenüber dem Vater – darstellt. Will man ein intertextuelles Spiel mit der Ascensio Isaiae annehmen, lässt sich vielleicht auch der eigenartige Gedanke, dass der Abstieg des Geliebten nicht die 24 Vgl. hierzu S. VOLLENWEIDER, Die Metamorphose des Gottessohns. Zum epiphanalen Motivfeld in Phil 2,6–8, in: ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie: Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie, WUNT 144, Tübingen 2002, 285–306 (302): „Der präexistente Christus legt im göttlichen Thronsaal seine Herrlichkeitsgestalt ab und nimmt die Sklavengestalt an. Die Metaphorik des Kleiderwechsels lässt sich nunmehr mühelos im epiphanialen Motivfeld artikulieren. Umso radikaler ist der Bruch, der durch die Semantik des ‚Entleerens‘ indiziert wird: Christus verhüllt nicht nur seine göttliche Gestalt in der Niedrigkeitsgestalt, sondern entledigt sich ihrer. Die Zumutung, vor der die theologische Auslegung bis in das 19. Jahrhundert hinein zurückschreckte, scheint den Ursprungssinn von Phil 2,7 in der Tat zu treffen: Der Präexistente vollzieht eine radikale Kenosis!“ 25 Dieser Gedanke drängt sich natürlich besonders aufgrund des Fokus auf dem Philipperbrief auf; die Vorstellung vom Ab- und Aufstieg des präexistenten Gottesworts bzw. Sohnes Gottes ist natürlich in mindestens gleichem Maße für das Johannesevangelium Struktur gebend. Von daher soll mit den obigen Überlegungen keineswegs ein möglicher johanneischer Einfluss ausgeschlossen werden.

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Hölle, sondern nur das Totenreich erreicht (vgl. AscIsa 10,8.10) als Umsetzung des Gedankens aus Phil 2,8, dass der Gehorsam Christi μέχρι θανάτου, bis zum Tode, geht, deuten. Erneut wäre dann einer qualitativen, sekundär wohl auch zeitlich verstandenen Aussage von Phil 2,8 eine vor allem räumliche in der Ascensio Isaiae – nur bis zum Ort des Todes – entgegenzustellen. Dass das „bis zum Tod“ aber auch im zeitlichen wie qualitativen Sinne des Kreuzestodes (Phil 2,8c) auch für die Ascensio Isaiae gilt, macht diese an mehreren Stellen deutlich – am klarsten in der knapp erzählten Passionsgeschichte AscIsa 11,19–20 (vgl. aber auch AscIsa 9,14; 9,26 sowie [textkritisch unsicher] 8,12), die ich zumindest nicht als deutlich „doketisch“ (will man diesen problematischen Ausdruck weiter verwenden) verstehe.26 Anders als Phil 2,9, wo die Erhöhung des Gekreuzigten klar als Tat Gottes beschrieben ist, ist in der Ascensio Isaiae der Geliebte bei seinem „Wiederaufstieg“ in Herrlichkeit als aktiv handelnd beschrieben (vgl. AscIsa 9,16f.; 10,14; 11,23–32); vor allem in AscIsa 10,14 ist der Gedanke des Aufsteigens dann sehr unmittelbar mit der (bereits erwähnten) Vorstellung der Anbetung durch die „Fürsten und Mächte dieser Welt“ verbunden (AscIsa 10,15). Während, wie bereits erwähnt, AscIsa 10,15 auf die Mächte der Welt (unter dem Firmament?) konzentriert scheint, findet sich die in Phil 2,10c erkennbare Vorstellung universeller Anbetung ganz deutlich in AscIsa 11,23–32, wo – im Gegenüber zu AscIsa 10,17–30, wo vom unerkannten Abstieg, der sich am Mangel an Lobpreis erweist – beim schrittweisen Aufstieg von unterhalb des Firmaments (bzw. gar vom Totenreich) bis zum siebten Himmel in jedem Abschnitt vom Lobpreis die Rede ist, der dem Geliebten geleistet wird. Dabei hat die Ascensio Isaiae im Kern durchaus ein Phil 2,10b vergleichbares grundsätzlich dreigliedriges Weltbild, innerhalb dessen aber einerseits die Teile „Himmel“ wie auch „unter der Erde“ (Totenreich und Hölle!) ausdifferenziert und andererseits die Bereiche unterhalb des Firmaments negativ qualifiziert sind (vgl. etwa AscIsa 7,9–10; 8,23f.; 10,12.29.31). Auch wenn jedoch für die Ascensio Isaiae die Sphäre unter dem Firmament von den Heerscharen Sammaels bzw. den Engeln Satans beherrscht ist (AscIsa 7,9), die sich in dauerndem Streit miteinander befinden, so muss dies noch nicht in „gnostischem Sinne“ als Zeichen eines grundsätzlichen Defekts der Schöpfung angesehen sein – die Ascensio Isaiae scheint mir über dieses Problem nicht näher zu reflektieren. Damit sind jedoch noch nicht alle Motive genannt, die sich mit Phil 2,6–11 verbinden lassen – die Kapitel 6–11 der Ascensio Isaiae sind auffallend interessiert an Namen und besonders am Namen Christi: So wird in 26 Ausführlicher zu den Details dieser Passage vgl. NORELLI, Ascensio Isaiae. Commentarius (s. Anm. 9), 573–579.

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AscIsa 7,3–5 bereits ein Geheimnis um den Namen des Jesaja begleitenden Engels gemacht und ist Gott der Vater in AscIsa 7,37 als der „Unnennbare und Einzige, dessen Name unergründbar ist,“ beschrieben (vgl. auch AscIsa 8,7), während in AscIsa 8,7 schließlich davon die Rede ist, dass auch der Name Christi – hier als der „Auserwählte“27 bezeichnet – „unergründbar“ sei und ihn „alle Himmel nicht erfahren können“. AscIsa 8,25 und 9,5 schließlich differenzieren zwischen der Bezeichnung des Geliebten auf der Erde, der „in der Welt Sohn genannt wird“ (AscIsa 8,25 – textkritisch unsicher) bzw. „auf Erden Jesus genannt werden soll“ (AscIsa 9,5), während sein eigentlicher Name selbst von Jesaja noch nicht gehört werden kann. Ist dieses Interesse am Namen Christi eine Reminiszenz an die dreifache Rede von dem Jesus verliehenen Namen in Phil 2,9b–10a, der in Phil 2,11b offenbar als κύριος Ἰησοῦς Χριστός verstanden ist (vgl. auch die Bezeichnung Christi als „Herr“ in AscIsa 9,5; 10,7.16)? Die Übersicht über Parallelen zwischen dem zweiten Teil der Ascensio Isaiae und dem Philipperbriefhymnus ist so, auch wenn keine einzige Parallele für sich literarische Abhängigkeit nahe legt, durchaus beeindruckend: Phil 2,6

Gottgleichheit und Präexistenz des Geliebten

AscIsa 7,21; 9,5.29–35; 10,1–7.16

Phil 2,7

Veränderung der Gestalt Gestalt eines Menschen Anstelle Kenosis: Abstieg als schrittweise Verwandlung Motiv des Sklaven Menschsein

AscIsa 8,9–10 AscIsa 9,13 AscIsa 10,8.17–30 fehlt AscIsa 11,2–9.17

Phil 2,8

Gehorsam bis zum Tod (räumlich als Totenreich) Kreuz

AscIsa 10,8–16 AscIsa 10,8.10 AscIsa 11,19–20; 9,14.26 [8,12]

Phil 2,9

Erhöhung als Wiederaufstieg (aktiv)

AscIsa 10,14–15 (vgl. auch 9,16–17; 11,23–32)

Phil 2,10

Name

AscIsa 8,25; 9,5 (vgl. auch 7,3–5.37; 8,7) AscIsa 10,14–15 AscIsa 11,23–32

Anbetung durch die Fürsten der Welt Universaler Lobpreis

27 Der Text ist hier allerdings überaus unsicher. Zur Diskussion vgl. NORELLI, Ascensio Isaiae. Commentarius (s. Anm. 9), 430; zur Deutung des Titels, ebd., 431.

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Tobias Nicklas Grundsätzlich vergleichbares Weltbild – jedoch in AscIsa differenzierter

Phil 2,11

Christus als Herr

AscIsa 9,5; 10,7.16

Um es noch einmal zu betonen: Keine einzige auch dieser Beobachtungen verweist klar auf eine literarische Abhängigkeit der Ascensio Isaiae von Phil 2,6–11,28 und natürlich mag das Auf- und Abstiegsmodell der Ascensio Isaiae auch an Vergleichbares in den johanneischen Schriften, v.a. im Johannesprolog finden – und doch gehen die motivischen und strukturellen Parallelen beider Texte so weit, dass die Möglichkeit eines literarischen Bezugs nicht mehr von der Hand zu weisen ist, ja sich darüber nachdenken ließe, die Beschreibung von Ab- und Aufstieg des Geliebten in der Ascensio Isaiae als narrative Umsetzung von Phil 2,6–11 zu lesen. Das heißt keineswegs, dass dem oder den Autor(en) der Ascensio Isaiae der Philipperbrief in seiner Gesamtheit oder gar als Teil eines Corpus Paulinum vorgelegen haben muss – denkbar ist auch, dass Phil 2,6–11 (in welcher konkreten Form auch immer) losgelöst von seinem paulinischen Kontext bekannt gewesen sein mag und zu narrativer Umsetzung drängte. Wie auch immer: Die vielen Parallelen zwischen beiden Texten lassen zu, ihre Profile im Gegenüber noch einmal zu schärfen. Anders, als dies häufig etwas pauschal als eine Tendenz apokrypher Schriften im Gegenüber zu kanonischen (oder „kanonisch gewordenen“) angenommen wird, füllt die Ascensio Isaiae im Vergleich zu Phil 2,6–11 nicht einfach Lücken, sondern setzt, wenn wir uns diese diachrone Bemerkung erlauben dürfen, Grundstrukturen von Phil 2,6–11 im Rahmen ihrer komplexen Kosmologie narrativ um. Dabei wiederum werden eigene, theologisch durchaus bedeutsame Akzente gesetzt. Vielleicht noch selbstverständlicher als Phil 2,6–11, ähnlich jedoch etwa Joh 1,1–18 setzt die Ascensio Isaiae die Präexistenz des Geliebten als göttliches Wesen eindeutig voraus – dass sie dabei spätere dogmengeschichtliche Fragestellungen nach dem konkreten Zueinander von Vater, Sohn (und auch Geist) nicht in der später „orthodoxen“ Weise reflektiert, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Der in Phil wichtige Gedanke der Kenosis wiederum wird im Sinne einer in mehreren Etappen stattfindenden Verwandlung beim unerkannten Abstieg auf die Welt unterhalb des Firmaments gedeutet; der Gedanke der „Knechtsgestalt“ des schließlich auf der Erde befindlichen „Geliebten“ tritt in der Ascensio Isaiae zurück; dass der Weg bis zum Kreuz führt, ist auch in der Ascensio Isaiae erwähnt, spielt jedoch für ihr theologisches Konzept, soweit ich se28 Noch vager ist die Möglichkeit, dass die Rede von Himmelsbüchern in AscIsa 9,22 einen Bezug zu Phil 4,3 haben könnte.

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he, keine auch nur annähernd paulinischem Denken vergleichbare Rolle:29 Die Ascensio Isaiae leugnet das Kreuz nicht, macht es aber, anders als Paulus, nicht zu einem entscheidenden Ausgangspunkt ihres soteriologischen Konzepts, sondern versteht es als ein Zeichen der Manifestation des die Welt beherrschenden, durch den Geliebten zu überwindenden Beliar. Auch die Frage, wie konkret die Ascensio Isaiae die Menschlichkeit des Geliebten auf Erden denkt, lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten – allerdings wird bereits bei der Schilderung seiner Geburt Wunderbares und Übermenschliches in den Vordergrund gestellt. Ziel des Auf- und Abstiegs ist in der Ascensio Isaiae die Erkenntnis dessen, der verborgen abgestiegen ist – und seine Verehrung in allen Teilen des Kosmos, die seine „Reise“ berührt hat. Und schließlich: obwohl die Frage nach dem (geheimnisvollen, unaussprechlichen) „Namen“ des Geliebten in der Ascensio Isaiae eine vielleicht noch bedeutendere Rolle spielt als bei Paulus, sind die Konzepte zu unterscheiden: Für die Ascensio Isaiae kommt der Name über allen Namen dem Präexistenten klar von aller Zeit her zu – seine Verehrung in allen Teilen des Kosmos ist nicht mit der Namensgebung verknüpft, sondern mit der wunderbaren Offenbarung des in Verborgenheit Abgestiegenen bei seiner Rückkehr in den siebten Himmel.

2 Das Evangelium Veritatis aus Nag Hammadi (NHC I,3; XII,2) In eine ganz andere Welt entführt uns das Evangelium der Wahrheit aus Nag Hammadi – die Probleme, konkrete literarische Abhängigkeiten von neutestamentlich gewordenen Texten nachzuweisen, jedoch sind mit denen, die in der Ascensio Isaiae auftreten, durchaus vergleichbar.30 Eine Vielzahl von Einleitungsfragen zu dieser weiterhin geheimnisvoll bleibenden Schrift ist weiter offen bzw. wird kontrovers diskutiert: Handelt es sich bei der in der Bibliothek von Nag Hammadi in zwei Kopien entdeckten Schrift um eine koptische Übersetzung des auch bei Irenäus von Lyon (haer. 3,11,9) erwähnten Evangelium Veritatis der Valentinianer?31 Im29 Entscheidendes zur Bedeutung des Kreuzes für paulinische Theologie scheint mir gesagt bei J. ZUMSTEIN, La croix comme principe de constituton de la théologie paulinienne, in: A. Dettwiler / J.-D. Kaestli / D. Marguerat (Hg.), Paul, une théologie en construction, Le Monde de la Bible 51, Genève 2004, 297–318. 30 Die ausführlichste Arbeit, die sich (allerdings insgesamt recht schematisch) mit der Rezeption neutestamentlicher Schriften im Evangelium Veritatis beschäftigt, ist die Dissertation von J. A. W ILLIAMS, Biblical Interpretation in the Gnostic Gospel of Truth from Nag Hammadi, SBL.DS 79, Atlanta 1979. 31 Diskutiert z. B. bei E. THOMASSEN, The Spiritual Seed. The Church of the ‚Valentinians‘, NHMS 60, Leiden 2006, 146f., der schreibt: „Regardless of the question of authorship … the probability that there existed two independent works, one entitled ‚The

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merhin hat Christoph Markschies schon vor etwa zwei Jahrzehnten sehr deutlich gezeigt, dass der Text nicht auf Valentinus selbst zurückgehen kann;32 diese Erkenntnis wiederum hat die Frage aufgeworfen, worin denn eigentlich ihr konkret valentinianischer Charakter bestehe.33 Inwiefern ist überhaupt von einem „Evangelium“, einer „Evangelienmeditation“ – so Christoph Markschies34 – oder einer „Homilie von undurchsichtigem Aufriß“35 zu sprechen? Wie lässt sich der Text konkret strukturieren? Wann und wo ist er entstanden? – Die Liste ließe sich nahezu endlos weiterführen – eine verantwortbare Auseinandersetzung mit dem Text macht sie keineswegs einfach. Die Hinweise auf eine Verwendung des Philipperbriefs – und auch hier erneut von Phil 2,6–11 – jedoch sind hier eindeutiger gegeben als etwa bei der Ascensio Isaiae, bemerkte doch schon J.-E. Ménard in seiner auf das Jahr 1972 zurückgehenden, grundlegenden Untersuchung des Evangelium Gospel of Truth‘ and the other accidentally beginning with the same words, and both of them ‚gnostic‘, must be regarded as very slim indeed,“ der allerdings gleichzeitig mit Recht bezweifelt, ob die heute vorliegende koptische Fassung mit der griechischen der Zeit des Irenäus im Detail übereinstimmt (147). – Auch die Frage nach der Originalsprache der Schrift ist umstritten. Hierzu z. B. die Übersicht bei H.-M. SCHENKE, Das Evangelium der Wahrheit (NHC I,3), in: C. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2, Tübingen 2012, 1242–1260, bes. 1245. 32 C. MARKSCHIES, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins, WUNT 65, Tübingen 1992, 339–356. 33 Hierzu allerdings m. E. überzeugend T HOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 146–62. – Gleichzeitig jedoch hat I. DUNDERBERG, Beyond Gnosticism. Myth, Lifestyle, and Society in the School of Valentinus, New York 2008, sehr deutlich die Frage gestellt, inwiefern der Begriff „Gnostizismus“ hilfreich und angebracht für ein angemessenes Verständnis der valentinianischen Bewegung ist. 34 Vgl. C. MARKSCHIES, Evangelienmeditationen, in: ders. / J. Schröter (Hg.), Antike christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung I/2, Tübingen 2012, 1239–1241, bes. 1239: „Bei den im folgenden Abschnitt gesammelten Meditationen über das Evangelium oder einzelne Elemente der kanonisch gewordenen Evangelien handelt es sich allerdings nicht um eine Untergattung im strengen Sinne des Wortes, sondern um einen … Sammelbegriff für verschiedene Texte, die sich einer eindeutigen formgeschichtlichen Einordnung entziehen…. ‚Meditation‘ ist hier schlicht im Sinne des lateinischen Begriffs meditatio gemeint: Nachdenken über das Evangelium im Sinne eines Nachdenkens über das Kerygma, die Botschaft von Jesus als dem Christus Gottes, in Form eines Traktates, aber dann auch (homiletisches) Einüben in diese Botschaft in Form einer Predigt und schließlich Vorstudium zur Heilsbotschaft in Form vertiefender Offenbarungen (aus gnostischer und natürlich nicht aus mehrheitskirchlicher Feder).“ 35 H.-M. SCHENKE, Evangelium Veritatis (NHC I,3/XII,2), in: ders. / H.-G. Bethge / U. U. Kaiser (Hg.), Nag Hammadi Deutsch I: NHC I,1-V,1, GCS NF 8 / KoptischGnostische Schriften II, Berlin 2001, 27–44 (32). Ähnlich T HOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 147 und 148 („sermon“).

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Veritatis wenigstens eine überraschend explizite „Zitation“ von Phil 2,8 auf p. 20,29 des Manuskripts NHC I,3.36 eFswk MmaF apitN apmou

ἐταπείνωσεν ἑαυτὸν γενόμενος ὑπήκοος μέχρι θανάτου,

Auch wenn bei genauerem Hinsehen die Situation nicht ganz so klar ist wie von Ménard beschrieben, so ist doch – auch aufgrund eines sehr deutlichen Verweises auf Kol 2,14 im unmittelbaren Kontext37 – eine Anspielung38 auf Phil 2,8a–b recht wahrscheinlich.39 Dies ist durchaus bedeutsam, befinden wir uns doch hier in einer längeren, in sich geschlossenen Passage, in der das Evangelium Veritatis seine Vorstellung des Heilswerks Jesu formuliert.40 Ich zitiere die Übersetzung von H.-M. Schenke:41

„Jesus zeigte sich. Er bekleidete sich mit jenem Buche. Man nagelte ihn an ein Holz Er veröffentlichte den Befehl des Vaters an dem Kreuz (vgl. Kol 2,14). Was ist das doch für eine große Lehre! Er begibt sich hinab zum Tode (vgl. Phil 2,8), obgleich er mit dem ewigen Leben bekleidet ist. Nachdem er sich der zerrissenen Lumpen entledigt hatte, zog er die Unvergänglichkeit an, die niemand ihm entreißen kann.“

Vor diesem Hintergrund wird auch an anderen Stellen eine literarische Bezugnahme auf den Philipperbrief plausibel gemacht – wie in der Ascensio Isaiae finden sich die meisten Treffer in Bezug auf Phil 2,6–1142 – sie alle aber bleiben im Vagen: 36 Vgl. J.-E. MÉNARD, L’Évangile de Vérité, NHS 2, Leiden 1972, 8; zurückhaltender allerdings WILLIAMS, Biblical Interpretation (s. Anm. 30), 54f.180, die die Passage in die Kategorie „possible“ einordnet. 37 Ausführlich hierzu WILLIAMS, Biblical Interpretation (s. Anm. 30), 50–54 („probable“) sowie W. C. VAN UNNIK, The Gospel of Truth and the New Testament, in: F.L. Cross (Hg.), The Jung Codex, London 1955, 79–129 (110f.). 38 Der Begriff „Zitat“ scheint mir jedoch zu weit zu gehen. 39 Die zweite, in der Übersetzung von SCHENKE, Evangelium Veritatis (s. Anm. 35), 35 Anm. 30 angegebene Parallele 2Kor 8,9 ist zwar strukturell verwandt, aber doch in der Formulierung deutlich anders. 40 Wir befinden uns seit p. 19,10 in einem längeren, auf Jesuserzählungen basierenden Abschnitt. Hierzu genauer THOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 150. 41 SCHENKE, Evangelium der Wahrheit (s. Anm. 31), 1250. 42 Der von M ÉNARD, Évangile (s. Anm. 36), 5 und 115, erwähnte mögliche Bezug von p. 23,18 zu Phil 2,6 (sowie Hebr 1,3) ist nicht im Sinne direkter Rezeption gedacht und braucht deshalb hier nicht in den Blick genommen zu werden. Äußerst vage erscheint mir auch der mögliche Bezug zwischen peFeine, einem möglicherweise zugrunde liegenden ὁμοιώμα αὐτοῦ und Phil 2,7, wie ihn MÉNARD, Évangile (s. Anm. 36), 145, im An-

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(1) Vielleicht am deutlichsten ist p. 24,23f.: Hier lesen wir, dass Jesus „in der Welt diente“, was, wenn überhaupt, nicht nur Phil 2,7 (μορφὴ δούλου), sondern vielleicht sogar stärker Mk 10,45 aufzunehmen scheint, wo das „Dienen“ (διακονέω) des Menschensohns thematisiert ist. Da jedoch in p. 20,22 zwei Mal vom σχῆμα (pisxhma), d. h. der äußeren Gestalt (des Mangels), die Rede ist, welche mit dem Kosmos identifiziert wird, in dem Jesus diente, welche er aber auflöste, entsteht eine Kombination, die es zumindest nicht unmöglich erscheinen lässt, hier an Phil 2,7–8 zu denken.43 (2) Auch die Frage der Bedeutung von Namen bzw. das Motiv der Namensgebung spielen im Evangelium Veritatis mehrfach eine Rolle: Bereits auf p. 21,35–22,12 spielt der Text mit der Idee, dass der Unwissende namenlos bleibe und mit der Schöpfung zugrunde gehe, während der Gnostiker beim Namen genannt werde, darauf den Willen dessen tue, der ihn gerufen hat, und schließlich gerettet werde (vgl. knapp auch p. 27,18.29: Geben von Namen und Form [morfh] durch den Vater). Während diese Kombination noch keine Rückschlüsse auf Phil erlaubt, könnte dies auf p. 38,6ff. der Fall sein, wo wir lesen: „Der Name des Vaters aber ist der Sohn. Er ist es, der zuerst dem einen Namen gab, der aus ihm hervorging und doch sich selbst gleich bleibt. Und zwar gebar er ihn als Sohn und gab ihm seinen eigenen Namen ( aFT peFren). Er ist es, bei dem der Vater alle Dinge vorhanden sein lässt. Er hat den Namen, er hat den Sohn. Der Name aber ist unsichtbar, weil er selbst das Geheimnis des Unsichtbaren ist, das in Ohren eindringt, die durch ihn ganz damit erfüllt sind. Gleichwohl sprechen sie den Namen des Vaters nicht aus, wohl aber ist er sichtbar in einem Sohn.“44

In einem Abschnitt, in dem die Worte „er gebar ihn als Sohn“ auch an andere neutestamentliche Passagen wie die synoptische Taufszene (Mk 1,9– 11 par; vgl. aber auch Apg 13,33; Hebr 1,5 und 5,5 jeweils mit Zitat von Ps 2,7)45 anklingen mögen, ist die Verarbeitung auch von Phil 2,9b–c hier sehr wohl denkbar. (3) Ebenfalls mit dem Namensmotiv zu tun hat eine weitere Parallele zwischen p. 38,33–39,1 und Phil 2,9–11, auf die schon J. Williams verweist:46 schluss an R. P. M ARTIN, Carmen Christi. Philippians II.5–11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship, SNTS.MS 4, Cambridge 1967, 348 herstellt. 43 Vgl. auch SCHENKE, Evangelium Veritatis (s. Anm. 35), 37 Anm. 33, sowie MÉNARD, Évangile (s. Anm. 36), 121. 44 Übersetzung SCHENKE, Evangelium der Wahrheit (s. Anm. 31), 1258, der diese Passage als Abschnitt 45 des Evangelium Veritatis liest. 45 Vgl. auch MÉNARD, Évangile (s. Anm. 36), 179. 46 Übersetzung adaptiert nach SCHENKE, Evangelium der Wahrheit (s. Anm. 31), 1258.

Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“

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„Weil der Vater ungeworden ist, ist er es selbst, der sich ihn als Namen geboren hat, ehe er die Äonen schuf, damit über ihrem Haupte der Name des Vaters als Herr prange; das ist der wahre Name, der bestätigt ist durch seinen Befehl in der vollkommenen Kraft.“

Die möglichen Bezüge sind klar: wie in Phil 2,9–11 findet sich die Kombination der Rede von Gott und dem Namen Gottes, der „ihm“, d. h. dem Sohn zukommt, der hier gar als Gottes Name – wohl als Kyrios verstanden – geboren verstanden wird. (4) Deutlich weniger signifikant sind mögliche Hinweise auf Passagen außerhalb von Phil 2,6–11: Während mir der schon von W. C. van Unnik hergestellte mögliche Bezug von p. 30,26 auf Phil 3,10 nicht nachweisbar erscheint,47 ist zumindest darüber nachzudenken, ob die Rede von einem „Buch der Lebenden“ (p. 19,35f.; vgl. auch p. 20,5) auf Phil 4,3 zurückgehen könnte, wo wir – ähnlich allerdings Offb 3,5; 13,8; 17,8; 20,12.15; 21,27 (vgl. aber auch Ps 68,29 LXX; 1Hen 47,3; Jub 30,22; 36,10; ApkZeph 14,5; OdSal 9,11, Herm vis 1,3,2; Herm mand 8,6; Herm sim 2,9) von einem „Buch des Lebens“ lesen. Ob wirklich Phil 4,3 im Hintergrund eine Rolle spielt oder nicht, ist m. E. nicht mehr sicher zu stellen. Wo man den Vergleich zu den erwähnten Texten im Neuen Testament anstellt, zeigt sich, dass das Evangelium Veritatis hier nicht nur an eine Schriftrolle zu denken scheint, in der eingetragen ist, wer beim Endgericht zu ewigem Leben kommen wird, sondern an ein an sich schon lebendiges Buch, das in engster Verbindung mit Christus gesehen wird, welcher dieses zusammen mit den Namen, die es beinhaltet, offenbart. Damit kombiniert das Evangelium Veritatis offenbar zwei Gedanken, die sich auch im Philipperbrief finden – ob sie tatsächlich auf (womöglich direkte) Exegese dieses Texts zurückgehen, lässt sich jedoch nicht mehr nachweisen. Für das Evangelium Veritatis wird so nicht einfach nur dem erhöhten Christus „der Name verliehen, der größer als alle Namen ist“ (Phil 2,9), sondern der Name eines jeden, der gerettet werden soll, ist in dem erwähnten lebendigen Buch verzeichnet. Die Namen wiederum stehen für das wahre „Ich“, welches der Mensch erkennen muss, um gerettet zu werden.48 Einar Thomassen schreibt:

„This constitutes a creative reinterpretation of the concept of the ‚book of the living‘. Traditionally, the concept expresses an idea of divine prescience regarding the identities

Vgl. VAN UNNIK, The Gospel of Truth (s. Anm. 37), 79–129 (120). Sehr ähnlich T HOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 151f., sowie (ausführlicher) DERS ., Revelation as Book and Book as Revelation. Reflections on the Gospel of Truth, in: S. Giversen / T. Petersen / J. Podemann Sørensen (Hg.), The Nag Hammadi Texts in the History of Religions. Proceedings of the International Conference at the Royal Academy of Sciences and Letters in Copenhagen, September 19–24, 1995, On the Occasion of the 50 th Anniversary of the Nag Hammadi Discovery, Kopenhagen 2002, 35–45. 47 48

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of those who will be blessed with salvation. Gos.Truth concretises this status of having already been elected, of having been ‚written down‘, into the notion that the ‚name‘ represents the elect person’s true and higher self. Salvation can then be conceptualised as the unification of the empirical self with this ideal self.“49

Wie lassen sich diese Bruchstücke im Hinblick auf eine Rezeption des Philipperbriefs im Evangelium Veritatis deuten? Wenn, wie Hans-Martin Schenke formuliert, „die Gedanken des Autors um eine einzige und einfache Antinomie [kreisen], nämlich dass der transzendente Gott von allem, was aus ihm stammt und in ihm ist, erkannt werden will und muss, was aber auf direktem Wege nicht möglich ist, sondern erst nach Trennung und im Laufe von Zeit durch die Vermittlung des väterlichen Logos als des Erlösers aus der zwischenzeitlichen Unkenntnis verwirklicht werden kann,“50 dann stellt sich entscheidend die Frage, wie die Brücke zwischen der transzendenten, idealen Welt Gottes und den „Wesen der Mitte“51, d. h. den Seelen, die in dieser empirischen Welt in menschlichen Leibern eingeschlossen sind, hergestellt werden kann, damit Letztere ihre Täuschung überwinden können. Für das Evangelium Veritatis geschieht dies durch die Offenbarung des „Buches des Lebens“ in die empirische und dem Untergang geweihte Welt hinein; diese Offenbarung wird durch den mit Jesus identifizierten Erlöser möglich gemacht, welcher die „Totalität der wahren Identitäten derer, die gerettet werden, repräsentiert“52, nun aber, um die ideale, überzeitliche Wahrheit offenbaren zu können, Teil der empirischen Welt werden, „hinabsteigen“ und dabei (am Kreuz) sterben muss. Diesen Prozess beschreibt das Evangelium Veritatis ab p. 19,10 mit Hilfe von recht konkreten Hinweisen auf Erzählungen, die sich in neutestamentlichen Schriften finden und die sich entweder auf die Frage nach wahrer Erkenntnis oder auf das Problem des Widerstands gegen den Erlöser auslegen lassen (z. B. Lk 2,46–49; Mk 8,11 par.; 10,2 par; Mt 22,35; Mt 11,25 par.; Mk, 10,13–16 par. etc.). Diese werden ab p. 20 mit deutenden Aussagen, die zum Teil ebenfalls ihre Wurzeln in neutestamentlichen Schriften finden, kombiniert: Dabei wird auch die im Philipperbriefhymnus begegnende Vorstellung (freiwilliger) Erniedrigung und folgender Erhöhung des Gottessohns, die, eingebettet in das kosmologische System des Evangelium Veritatis, als „Abstieg“ und anschließender „Aufstieg“ gelesen werden können, ein brauchbarer Baustein zur Formu-

T HOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 152. SCHENKE, Evangelium der Wahrheit (s. Anm. 31), 1247. 51 Zur Problematik, die mit dieser Übersetzung von p. 17, 34f. zusammenhängt, vgl. SCHENKE, Evangelium der Wahrheit (s. Anm. 31), 1247. 52 So T HOMASSEN, Spiritual Seed (s. Anm. 31), 153. 49 50

Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“

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lierung der dem Evangelium Veritatis eigenen Vorstellung von Erlösung herangezogen.53 Auch das Evangelium Veritatis versteht den Sohn also eindeutig als präexistent – hier als vom Vater „geboren“. Deswegen – und vielleicht noch stärker als in der Ascensio Isaiae – muss die Vorstellung vom Gottesnamen, der ihm zukommt bzw. den er geradezu repräsentiert, anders als in Phil 2,6–11 bereits mit seinem Ursprung in Verbindung gesetzt werden. Gleichzeitig dürfte es kein Zufall sein, dass die Vorstellung aus Phil 2,10, „alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde“ kämen nun zur Verehrung Christi als des Herrn, im Evangelium Veritatis offenbar nicht aufgenommen ist – dies dürfte aufgrund des vorausgesetzten negativen Bilds der geschaffenen Welt „in der Täuschung“ (vgl. v.a. p. 17) kaum im Sinne des Textes liegen.

3 Fazit Bei allen verbleibenden Unsicherheiten in der Frage nach konkreten literarischen Abhängigkeiten und trotz der deutlich werdenden Grenzen der literarkritischen Methode zeigt sich bereits an den beiden genauer untersuchten Texten die große Anziehungskraft des Philipperbriefhymnus. Dabei wird zumindest in den untersuchten Schriften, wie kaum anders erwartet, nie auf Paulus oder gar den Philipperbrief als Hintergrund verwiesen, was eindeutige Identifikationen von Rezeptionen nicht nur schwierig macht, sondern auch die Frage stellt, ob es den Texten darum geht, Paulus (als Paulus) zu rezipieren oder einfach Aspekte einer Vorstellung zu verarbeiten, die sich bei Paulus findet, ohne dass die paulinische Herkunft der Passage in den Blick kommt. Obwohl ich in der Ascensio Isaiae – und hier konzentriert auf die Kapitel 6–11 – im Vergleich zum Evangelium Veritatis die sicherlich größere Zahl von Parallelen zum Philipperbriefhymnus zu entdecken meine, scheint mir Letzteres der Fall. Zwar lässt sich die gesamte Erzählung vom unerkannten Ab- und anschließenden Aufstieg des Geliebten in der Ascensio Isaiae vor dem Hintergrund entscheidender Teile der Gesamtstruktur des Philipperbriefhymnus lesen – ich bleibe in meiner Formulierung bewusst vage, weil sich direkte literarische Abhängigkeit an keiner Stelle sicher nachweisen ließ –, dies ist jedoch an keiner Stelle mit erkennbarem, genuin paulinischem Gedankengut verknüpft. 53 Das Ziel dieser Erlösung wiederum ist im Erreichen des Orts bzw. Zustands der Ruhe zu sehen. Weiterführend J. HELDERMAN, Die Anapausis im Evangelium Veritatis. Eine vergleichende Untersuchung des valentinianisch-gnostischen Heilsguts der Ruhe im Evangelium Veritatis und in anderen Schriften der Nag Hammadi-Bibliothek, NHS 18, Leiden 1984.

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Kann das bedeuten, dass in der Gruppe hinter der Ascensio Isaiae der Philipperbriefhymnus nur an sich, d. h. ohne seinen Kontext im Philipperbrief bekannt war? Eine Antwort auf diese Frage würde im Bereich der Spekulation bleiben. Im Evangelium Veritatis kommt an keiner Stelle der Philipperbriefhymnus als Gesamteinheit in den Blick – und bestimmte Aussagen wie Phil 2,10, aber auch die Vorstellung von der Sklavengestalt Christi, sind wohl bewusst nicht aufgenommen. Mehr oder minder deutliche Anspielungen auf andere paulinische Passagen lassen jedoch vermuten, dass dem Autor des Evangelium Veritatis schon ein Corpus Paulinum vorlag, aus dem für die eigene Konzeption interessante Passagen herangezogen wurden. Eine Reihe von Punkten ist beiden untersuchten Texten gemeinsam: Sie übernehmen die bei Paulus vorausgesetzte Präexistenzchristologie, übersehen dabei aber die in Phil 2,6b zum Tragen kommende kritische „politische Pointe“ (gegen alle Formen von Herrscherkult und -vergöttlichung)54; dies wiederum führt zu im Vergleich mit Paulus anders verknüpften Überlegungen zum „Namen“ Christi, der dann nicht erst nach dem Aufstieg und schon gar nicht aufgrund des Kreuzes verliehen sein kann. Obwohl keiner der beiden untersuchten Texte das – für Paulus so wichtige – Kreuzesschicksal Christi leugnet, ja es sogar thematisiert, rückt es in der Ascensio Isaiae wie auch im Evangelium Veritatis aus dem Zentrum des Denkens; dem korrespondiert ein Zurücktreten des Motivs der Sklavenschaft (Phil 2,7)55; von diesem wird der Gedanke des Gehorsams (Phil 2,8) gelöst: Gehorsam kann nun nicht mehr als Gehorsam auch unter den Menschen verstanden werden; Gehorsam kommt dem göttlichen Gottessohn in diesem Verständnis nur gegenüber dem Vater zu. Und schließlich verändert die in beiden Beispielen erkennbare Rezeption von Phil 2,6–11 ohne Einbezug in seinen ursprünglichen Kontext – vor allem die Loslösung von dem für die Funktion des Abschnitts entscheidenden V. 5 – die Funktion des Textes: Während über Phil 2,5 im paulinischen Text die V. 6–11 – und ganz besonders 2,7–8 – zum Ausgangspunkt von Gedanken über das rechte Verhalten des Apostels wie der Gemeinde werden können, spielen Vorstellungen einer imitatio Christi bzw. der „Gesinnung Christi“56 weder in der Ascensio Isaiae57 noch dem Evangelium Veritatis eine Rolle. Hierzu weiterführend mit vielen Beispielen VOLLENWEIDER, Raub der Gottgleichheit (s. Anm. 8), 269–279. 55 Das in Phil 2,6–11 radikale Gegenüber von Gottesgestalt und Sklavengestalt wird so nicht durchgehalten – weiterführend z. B. VOLLENWEIDER, Metamorphose (s. Anm. 24), 303f. 56 Zur Rolle der imitatio Christi für das Gesamtkonzept des Philipperbriefs vgl. den Beitrag von Peter Wick im vorliegenden Band sowie DERS., Der Philipperbrief. Der formale Aufbau des Briefs als Schlüssel zum Verständnis seines Inhalts, BWANT 135, 54

Der Philipperbrief in der Hand von „Häretikern“

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Die Neukombination, Entschärfung wie Neujustierung von Motiven des Philipperbriefhymnus mit neuen Fokussierungen führt so, positiv gesehen, zum überaus kreativen Umgang mit dem Text des Paulus, die jedoch zumindest in den beiden diskutierten Fällen nicht einfach als organische Weiterentwicklung paulinischer Theologie, sondern als radikale Neukonzeptualisierung gedeutet werden muss: Für beide Texte, sowohl die Ascensio Isaiae als auch das Evangelium Veritatis, scheint der Philipperbriefhymnus so weniger wegen seines Gedankens von der radikalen Entleerung des Gottgleichen interessant gewesen zu sein, die den Präexistenten zum Sklaven macht und ihn in seinem Gehorsam zum Kreuz führt, was zum Grund seiner anschließenden Erhöhung wird. Viel wichtiger ist beiden der Gedanke der Verbindung zweier Welten, die durch Ab- und Aufstieg Christi ermöglicht ist. Hinter beiden Texten steht ein (im Detail sicherlich unterschiedliches) negatives Bild der von bösen Mächten beherrschten (AscIsa) bzw. dem Untergang geweihten Welt (EvVer), der es – sei es aufgrund von mystischen Erfahrungen (AscIsa) oder der in der Annahme des göttlichen Rufes bestehenden Gnosis (EvVer) – zu entfliehen gilt.

Stuttgart 1994, 85–100 [in seinem Verhältnis zu Phil 2,6–11 gedacht!]; zur Bedeutung des Konzepts der „Gesinnung Christi“ für den Philipperbrief vgl. C. W. STRÜDER, Paulus und die Gesinnung Christi. Identität und Entscheidungsfindung aus der Mitte von 1Kor 1–4, BETL 190, Leuven 2005, 482–503. 57 Dies gilt trotz der Parallelen zwischen dem Kreuzestod Jesu und den Martyrien des Jesaja und des Petrus.

Origenes und Paulus

Das Beispiel der Anthropologie CHRISTOPH MARKSCHIES Wo beginnen, wenn zu Ehren von Samuel Vollenweider über den „Philipperbrief des Paulus in der hellenistisch-römischen Welt“ nachgedacht wird und zugleich das theologische Doktoratsprogramm der ehrwürdigen Fakultäten zu Bern, Basel und Zürich heute feierlich inauguriert wird?1 Leider beginne ich nicht bei einer näheren Bestimmung des Verhältnisses zwischen Paulus und Origenes am Beispiel eben des Philipperbriefs. Denn aus der Feder des Origenes, des ersten wirklich umfassend gebildeten christlichen Universalgelehrten der Antike, sind längere Fragmente einer Auslegung des paulinischen Philipperbriefs leider nicht überliefert. Wir wissen zwar aus einem (vermutlich auf die berühmte Bibliothek in Caesarea zurückgehenden) Verzeichnis seiner Werke, das Hieronymus in einem seiner Briefe zitiert, dass es einen einbändigen Philipper-Kommentar des Origenes gab, aber davon ist nur herzlich wenig erhalten.2 Und da in jenem Verzeichnis und anderen antiken Zusammenstellungen keine Homilien des Origenes zum Philipperbrief erwähnt sind, muss man vermuten, dass in Caesarea – der Hafenstadt an der Küste des Mittelmeeres, in der Origenes Öffentliche Gastvorlesung in Zürich am 10. Oktober 2013 bei der Festveranstaltung zum Start des gemeinsamen theologischen Doktoratsprogramms der Theologischen Fakultäten der Universitäten Basel, Bern und Zürich, die zugleich den Auftakt des Symposiums anlässlich des 60. Geburtstags von Samuel Vollenweider bildete. Der in Zürich und in veränderter Gestalt im Mai 2014 in Chicago auf Einladung von Margaret M. Mitchell vorgetragene Text wurde für die Drucklegung nur vorsichtig ergänzt und mit Fußnoten versehen. Meiner Mitarbeiterin Dr. Vera von der Osten-Sacken danke ich für ihre Unterstützung bei der Druckvorbereitung, Frau Angelica Dinger für den Hinweis auf die Relevanz des Themas „Wissensordnungen“, die Gespräche über dieses Konzept und die Anregung, dieses Thema für die Interpretation der Exegese des Origenes zu nutzen. 2 Hieronymus, epist. 33,4 (CSEL 54, 255,10–259,2 HILBERG); vgl. E. KLOSTERMANN, Die Schriften des Origenes in Hieronymus’ Brief an Paula, in: Sitzungsberichte der königlich preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin, 2 (1897), 855–870; P. NAUTIN, Origène, Sa vie et son œuvre, Christianisme antique 1, Paris 1977, 227–241; A. CARRIKER, The Library of Eusebius of Caesarea, SVigChr 67, Leiden 2003, 242f. 1

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spätestens seit der Mitte der dreißiger Jahre des dritten Jahrhunderts Tag für Tag in Gegenwart des Bischofs biblische Texte für eine Gemeinde von rund dreißig Zuhörenden in einem am Hafen gelegenen Raum auslegte – in diesen Jahren nicht über den Philipperbrief gepredigt wurde, es sei denn, entsprechende Homilien seien schon sehr früh verlorengegangen. Um die Frage abschließend zu klären, ob der Philipperbrief im Zyklus der lectio continua einzelner biblischer Bücher enthalten war, aus denen der Bischof von Caesarea seinem Prediger Origenes jeweils aktuell im Gottesdienst den Predigttext zuwies, müsste man nach entsprechenden Informationen im Kommentar suchen können, dessen dürftige Reste darüber freilich nichts erkennen lassen3 – es gibt nämlich die in meinen Augen recht wahrscheinliche These, dass Origenes die exegetischen Vorlesungen der (etwas anachronistisch gesprochen) Privat-universität, an der er in Caesarea lehrte, mit den Lesezyklen im Gottesdienst der bischöflichen Hauskirche koordinierte, in der er predigte.4 Nun wird man allerdings auch nicht ausschließen können, dass der Gelehrte sich unabhängig von solchen homiletischen Notwendigkeiten dem Philipperbrief zuwendete – wirkliche Sicherheit ist angesichts der Überlieferungslage nicht mehr zu gewinnen. Natürlich bezieht sich Origenes, auch wenn keine Auslegungen des Philipperbriefs in Form von Homilien oder Kommentaren erhalten sind, in seinen auf uns gekommenen Schriften immer wieder auf den Philipperbrief, paraphrasiert oder zitiert ihn, wie die in Straßburg erstellte „Biblia Patristica“ mit ihren rund 560 Einträgen dokumentiert,5 übrigens deutlich weniger häufig als die anderen großen paulinischen Briefe und den deuteropaulinischen Epheserbrief. Eine besondere Passage aus dem dritten Kapitel des Philipperbriefs hat Samuel Vollenweider übrigens jüngst im Vielleicht finden sich aber im berühmten Minuskel-Kodex 1739 der großen Laura auf dem Athos (B 184) einige wenige Spuren dieses Kommentars. Durch Rasuren im Text sind die knappen, oft als Scholien gebotenen Bemerkungen nicht leicht zu verstehen, vgl. die Edition bei E. VON DER GOLTZ, Eine textkritische Arbeit des zehnten bzw. sechsten Jahrhunderts, hg. nach einem Kodex des Athosklosters Lawra, TU 17/4, Leipzig 1899, 79–82 bzw. K. LAKE / S. NEW, Six Collations of New Testament Manuscripts, HThS 17, Cambridge 1932 = Eugene 2009, 212–214 sowie NAUTIN, Origène (s. Anm. 2), 244. Allgemein zu den Predigten C. MARKSCHIES, ... für die Gemeinde im Grossen und Ganzen nicht geeignet? Erwägungen zu Absicht und Wirkung der Predigten des Origenes, ZThK 94 (1997), 39–68, erneut in: ders., Origenes und sein Erbe. Gesammelte Studien, TU 160, Berlin 2007, 35–62. 4 NAUTIN, Origène (s. Anm. 2), 389–412 sowie A. MONACI C ASTAGNO, Origene predicatore e il suo pubblico, Mailand 1987, 50–64. 5 Centre d’analyse et de documentation patristiques (Jean Allenbach, André Benoît, Daniel A. Bertrand, Annie Hanriot-Coustet, Eric Junod, Pierre Maraval, André Pautier, Pierre Prigent), Biblia patristica. Index des citations et allusions bibliques dans la littérature patristique, Band 3: Origène, Paris 1980, 431–435. 3

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Zusammenhang anderer Auslegungen behandelt.6 Aber ich fand die Aufgabe, aus jenen fünfhundertsechzig Einträgen der „Biblia Patristica“ die Sicht des Origenes auf den paulinischen Philipperbrief zu rekonstruieren, für unseren heutigen Anlass weniger interessant als einen nochmaligen, sehr viel allgemeineren Blick auf das Verhältnis eines zentralen PaulusExegeten zum Apostel, den er auslegt. Denn mir scheint, dass wir an einem zentralen Punkt der Beschreibung dieses Verhältnisses einen deutlichen Fortschritt machen können, wenn wir ein – unter anderem in Zürich entwickeltes, mindestens weiterentwickeltes – Paradigma verwenden, das Paradigma der als fluides Netzwerk interpretierten Wissensordnungen.7 Es ist zu ahnen, welche Gliederung des Vortrags sich aus dieser meiner These ergibt: Ich werde zunächst nach einer knappen Bemerkung zum so verstandenen Begriff „Wissensordnungen“ erläutern, an welchem zentralen Punkt der Beschreibung des Verhältnisses von Origenes und Paulus uns dieses Paradigma weiterhilft. Dann werde ich am Beispiel der Anthropologie erläutern, wie man mit Hilfe des Paradigmas – ich formuliere bewusst zurückhaltend – mindestens sensibler für offenkundige Ambivalenzen der Paulusdeutung des Origenes wird, offener dafür, Brüche, Sperrigkeiten und Widersprüche seiner Texte zu beschreiben und nicht aus den unterschiedlichsten Gründen einzuebnen. Ein Schlussabschnitt fragt (das sollte ja bei der Eröffnung eines theologischen Doktoratsprogramms erlaubt sein, ist vielleicht sogar erwünscht) nach ein paar Konsequenzen meiner Beobachtungen für das Studium der evangelischen Theologie und überhaupt für die theologische Existenz heute, um ein Stichwort aus längst vergangenen Tagen zu bemühen, die gleichwohl noch nicht so vergangen sind wie die Tage des Origenes. Von „Wissensordnungen“ wird gegenwärtig viel gesprochen; umso wichtiger ist, präzise zu definieren, worum es unter diesem Stichwort hier gehen soll. Ich beginne meine Begriffsklärung bei dem ersten und vielleicht schwierigsten Bestandteil des Wortes: Mit „Wissen“ – um eine ganz schlichte Arbeitsdefinition zu formulieren – meine ich einen beliebigen Teil der Gesamtheit aller die Wirklichkeit interpretierenden Beschreibungen von Elementen dieser Wirklichkeit, wobei „Wirklichkeit“ hier nur verstanden ist als etwas, das nicht nur als Möglichkeit wahrgenommen wird, sondern von dem „Wirken“ ausgesagt wird.8 Mit dem Terminus „WissensS. VOLLENWEIDER, „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der Patristischen Lektüre von Phil 3 (Augustin und Johannes Chrysostomus), in: Tobias Nicklas / Andreas Merkt / Joseph Verheyden (Hgg.), Ancient Perspectives on Paul (NTOA 102), Göttingen 2013, 11–29. 7 P. SARASIN, Was ist Wissensgeschichte?, IASL 36 (2011), 159–172. 8 SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 159f. Etwas elaborierter wird „Wissen“ im Frankfurter Sonderforschungsbereich 435 „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ definiert: W. DETEL, Wissenskulturen und universale Rationalität, in: J. Fried / M. Stoll6

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ordnung“ beschreibe ich eine systematische Anordnung von Wissen, die mit einem gewissen Geltungsanspruch verbunden ist. Eine Wissensordnung besteht also aus semantischen Relationen, in denen einzelne Wissensbereiche begrifflich abgebildet werden. Aber nicht nur eine Wissensordnung kann als Gefüge von Relationen beschrieben werden; Relationen charakterisieren auch das Wissen selbst. Wenn „Wissen“ immer nur in mehrdimensionalen Relationen vorliegt, in denen sich z.B. mentale und epistemische Strukturen überlagern („Origenes weiß etwas“ und „Origenes weiß etwas“), ist klar, dass Systematisierung oder Ordnung von Wissen in einem bestimmten Arrangement von Wissen nach einzelnen seiner Relationen besteht. Eine solche Systematisierung oder Ordnung von Wissen zu einer Wissensordnung kann nun aber in grundsätzlich zwei Arten geschehen: entweder in Form einer Hierarchisierung, wie sie beispielsweise in einem Wissensbaum vorliegt, oder aber in Form eines eher hierarchiedistanten Netzwerkes gleichsam dezentraler, pluraler Knoten oder Schwerpunkte. Der in Basel geborene und in Zürich lehrende Historiker Philipp Sarasin (der, wenn ich recht sehe, auch viel zur Institutionalisierung der Wissensgeschichte hier in Zürich beigetragen hat), hat in einem grundlegenden Artikel unter dem Titel „Was ist Wissensgeschichte“ beschrieben,9 dass in einer gegenwärtigen Wissensgeschichte unter „Wissensordnungen“ nicht wie in früheren Jahrhunderten hierarchische Strukturen von mehr nützlichem und weniger nützlichem, mehr wichtigem und weniger wichtigem, erlaubtem und verbotenem Wissen verstanden werden, sondern Netzwerke von Wissensbeständen, in denen je nach Gelegenheit hier oder da Schwerpunkte gesetzt werden. Man kann daher auch von einem fluiden Netzwerk sprechen. Wissensordnungen sind also neuronalen Netzwerken im Gehirn vergleichbar, in denen nicht eine zentrale Schaltstelle die Hierarchie aller Prozesse vorgibt, sondern sich in dezentralen Prozessen Verschaltungen ergeben, Prozesse entwickeln und Abläufe verstetigen.10 Sarasin macht eis (Hg.), Wissenskulturen. Über die Erzeugung und Weitergabe von Wissen, Frankfurt 2009, 181–214 (184–186). Allgemein: J. MITTELSTRASS, Art. Wissen, in: ders. u. a. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Band 4: Sp–Z, Stuttgart 2004 = 1996, 717–719 und M. ANACKER , Art. Wissen VI. 19. u. 20. Jahrhundert, in: J. Ritter / K. Gründer / G. Gabriel (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 12: W–Z, Darmstadt 2004, 891–900. 9 SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 165. 10 Zur Struktur der neuronalen Netzwerke vgl. W. SINGER, Ignorabimus? – Ignoramus. Wie Bewußtsein in die Welt kam, in: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Jahrbuch 2000, Berlin 2001, 115–124 sowie DERS., Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.09.2000 in Aachen, in: ders.,

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darauf aufmerksam, dass es eben nicht eine einzige hierarchische Wissensordnung in einer Gesellschaft gibt, denn – wie er sagt – „Wissen zirkuliert zwischen Menschen und Gruppen, weil im Raum von Zeichensystemen und Diskursen semantische Gehalte grundsätzlich die Potenz haben, über institutionelle, soziale, politische oder auch geographische Grenzen hinweg zu gleiten.“11 Nur am Rande merke ich an, dass es zu den Spielregeln transdisziplinärer Zusammenarbeit gehört, dass wir solche in Nachbardisziplinen entwickelten Paradigmen noch einmal kritisch prüfen, bevor wir sie anwenden: Sarasin meint, zwischen Wissenssystemen und Religionen oder Glaubenssystemen unterscheiden zu können. Er definiert „(a) Wissenssysteme als Ordnungen von tendenziell rational begründeten, empirisch überprüfbaren Hypothesen und Theorien, sowie den im Wesentlichen von den Wissenschaften erschlossenen empirischen Wissensfeldern und Gegenstandsbereichen.“ Davon unterscheidet Sarasin „(b) Religion oder Glaubenssysteme, auch nicht-transzendentaler Art, d. h. nicht oder kaum rationalargumentativ begründete bzw. begründbare Überzeugungen, Weltdeutungen, Ideologien, aber auch Normen, Spielregeln, Gesetze.“12 Wir werden, wenn wir uns gleich näher mit Origenes beschäftigen, sehr schnell sehen, dass ihm – und selbstverständlich vielen anderen christlichen Theologinnen und Theologen vor wie nach ihm – alles daran lag, diese von Sarasin scheinbar strikt gezogene Grenze zu perforieren und eigene Überzeugungen wie Weltdeutungen rational zu begründen, auch wenn sie nicht in einem schlichten Sinne empirisch überprüfbar sind. Ich verwende das Stichwort „scheinbar“ für die Differenzierung von Sarasin, da in dem Artikel, auf den ich mich schon mehrfach bezogen habe und hier wieder beziehe, von meinem Zürcher historischen Kollegen sehr klar gesagt wird, dass Wissens- und Glaubenssysteme nur pragmatisch voneinander abgrenzbar sind, aber offenbar nicht prinzipiell, da sich die „Dimensionen bekanntlich vielfach überlagern.“13 Wissensordnungen sind nicht ein für allemal hierarchisch organisierte Strukturen, sondern dezentrale Netzwerke des Wissens. Wenn wir uns heute mit dem Verhältnis des Paulus-Auslegers Origenes zum Gegenstand seiner Auslegung, zum Apostel Paulus und seinen Briefen, beschäftigen, fragen wir also nach einem Detail im Netzwerk des Wissens, das uns in den Schriften des Origenes überliefert ist – ich könnte auch sagen: in Gestalt der Schriften des Origenes konserviert ist, um zu verdeutlichen, dass Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1571, Frankfurt a. M. 2002, 76–89. 11 SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 163. 12 Beide Zitate bei SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 165. 13 SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 166.

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es sich um Repräsentationen von Wissensordnungen für bestimmte Zwecke in bestimmten literarischen Genres handelt. Dabei kann und muss im Falle unseres Beispiels der eher statische Begriff der Wissensordnung natürlich sofort in eine Beschreibung eines höchst dynamischen Prozesses überführt werden: Origenes verfügt über ein (sich im Prozess der Auslegung veränderndes) Wissen vom Apostel und seiner Theologie. Dieses sein Wissen verwendet er aber, um andere Wissensbestände zu autorisieren, zu korrigieren und zu transformieren, beispielsweise, wenn er bestimmte seiner theologischen Aussagen mit paulinischen Sätzen illustriert oder begründet. Der Begriff des Netzwerks ist insofern auch sehr angemessen, als natürlich diese beiden Prozesse, die ich gerade künstlich isoliert habe, nicht getrennt werden können – selbstverständlich erarbeitet (um die neuzeitlichen Disziplinenbezeichnungen zur Beschreibung von Tätigkeiten zu verwenden) heute wie schon in der kaiserzeitlichen Antike niemand sozusagen am grünen Tisch seine Auslegung einer bestimmten paulinischen Stelle unbeeinflusst von seinen systematisch-theologischen Grundpositionen und ebenso selbstverständlich vertritt niemand seine systematischtheologischen Grundpositionen vollkommen unbeeinflusst von den Ergebnissen seiner Auslegung biblischer Texte. Diese Auslegung ist aber nach Ansicht des Origenes und vieler seiner Nachfolger mindestens auch geprägt von etwas, das ich mit einer der Sache nach gegenwärtig tief umstrittenen Formulierung die Eigenbewegung eines biblischen Textes nennen möchte. Darunter verstehe ich jene jedem einigermaßen starken Text innewohnende Eigenbewegung, die eine Form von Sinn des jeweiligen Textes auch gegen die Deutungsintentionen seines Auslegers in der Lage ist zur Geltung zu bringen. Mir ist klar, dass ich in Zürich, einem institutionellen Ort so gründlicher hermeneutischer Reflexion, dem Platz, an dem Emil Staiger wirkte und Hans Weder wirkt,14 ausführlicher begründen müsste, warum ich so wider den Stachel des Poststrukturalismus und allgegenwärtiger konstruktivistischer Betonung von différance löcke, aber es soll ja um Paulus und Origenes gehen, nicht um Foucault, Bourdieu und 14 Vgl. nur: E. STAIGER, Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Zürich 1955 und dazu beispielsweise Karl PESTALOZZI, Einzelinterpretation und literaturwissenschaftliche Synthese bei Emil Staiger, in: J. Rickes / V. Ladenthin / M. Baum (Hg.), 1955–2005: Emil Staiger und die Kunst der Interpretation heute, Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik 16, Bern 2007, 13–30 sowie H. W EDER, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürcher Grundrisse zur Bibel, Zürich 21989 und DERS., Gewitterte Ketzerei. Zur Bedeutung der Hermeneutik Bultmanns für die gegenwärtige Theologie, in: C. Landmesser / A. Klein (Hg.), Rudolf Bultmann (1884–1976): Theologe der Gegenwart. Hermeneutik – Exegese – Theologie – Philosophie (11. Jahrestagung der Rudolf Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie vom 2.–4. März 2009 in Hofgeismar), Neukirchen-Vluyn 2010, 17–36.

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Derrida.15 Mit der durch diese genannten französischen Denker repräsentierten hermeneutischen Schule besteht aber immerhin Einigkeit darüber, dass in den Netzwerken des Wissens unterschiedliche Strategien des Wissensgewinns wie eben die beiden, die wir heutigentags als exegetische und systematisch-theologische bezeichnen, eng miteinander verbunden sind. Mit anderen Worten: Man kann die Theoriebildung der Wissensordnungen auch ohne den spezifischen Hintergrund in der von Foucault begründeten und Bourdieu vertieften Diskursanalyse und anderen Grundannahmen des Poststrukturalismus rezipieren.16 Denn es stehen beispielsweise auch in anderen Theorie-Zusammenhängen Modelle für die Beschreibung von Mechanismen sozialer Konstruktion der Wissensordnungen bereit. Vergangene Zürcher Generationen – und natürlich nicht nur Zürcher Generationen – hätten im Blick auf die enge Verschränkung von exegetischem und systematisch-theologischem Wissen beispielsweise von einem „hermeneutischen Zirkel“ gesprochen.17 Sowohl der klassische Begriff des „hermeneutischen Zirkels“ als auch die poststrukturalistische Terminologie versuchen, Hybridität von Wissen zu beschreiben. Sarasin schreibt im genannten Text: „Wissen ist daher grundsätzlich hybrid: Auch in gut begründeten wissenschaftlichen Systemen finden sich immer mehr oder weniger deutliche Spuren der Herkunft, der kulturellen, politischen oder sozialen Existenzbedingungen und der spezifischen Verwendungsweisen von Wissen.“18 Diese Herkunft des Wissens aber bestimmt in gewissem Sinne auch die Gegenwart der Wissensgewinnung, wobei es natürlich methodische Verfahren gibt, Willkür in diesem Prozess zu vermeiden, beispielsweise bei der Auslegung von Texten durch eine allgemein anerkannte Methodik. M. FOUCAULT, Archäologie des Wissens, aus dem Französischen von Ulrich Köppen, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 356, Frankfurt a. M. 1981 (= L’archéologie du savoir, Paris 1969), insbesondere 40–44; DERS., Die Ordnung des Diskurses, aus dem Französischen von Walter Seitter, mit einem Essay von Ralf Konersmann, Fischer Wissenschaft 10083, Frankfurt a. M. 1991 (= L’ordre du discours, Paris 1972); P. B OURDIEU, Soziologische Fragen, aus dem Französischen von Hella Beister und Bernd Schwibs, Edition Suhrkamp 1872, Frankfurt a. M. 51993 (= Questions de sociologie, Paris 1980), 83–90 und J. DERRIDA, Die différance, in: DERS., Randgänge der Philosophie, Wien 2 1999 (= Marges de la philosophie, Paris 1972, 1–30), 29–52. 16 Anders: P. SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: DERS., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1639, Frankfurt a. M. 2003, 10–60, insbesondere 18–25 und 59f. 17 H. G. GADAMER, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 41975, 252–290 = DERS., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Gesammelte Werke I: Hermeneutik 1, Tübingen 71990, 270– 312. 18 SARASIN, Wissensgeschichte (s. Anm. 7), 166. 15

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Kann man die Theorie der Wissensordnungen aber ohne das poststrukturalistische Konzept einer basalen Polysemie rezipieren? Und gehört der Hinweis auf eine aller Bemühung um Sinn vorgängige „Eigenbewegung des Textes“ zu den von Sarasin beobachteten Abwehr- und Verlegenheitsreaktionen gegen die unabweisbaren Folgen des linguistic turn für die Geschichts- und Literaturwissenschaften?19 An dieser Stelle wäre ein geeigneter Ort, über die in evangelischen Zusammenhängen eher berüchtigte als berühmte Methode mehrfacher Schriftsinne des Origenes zu sprechen und sie gegen Missdeutungen als ein lediglich zeitgenössischen antiken, aber nicht gegenwärtigen Rationalitätsstandards der Hermeneutik entsprechendes Verfahren zu präsentieren. Aber davon ein andermal und nicht hier im Interesse der Konzentration auf unser eigentliches Thema.20 Unser Thema war und ist die Antwort auf die Frage, inwiefern ein bestimmtes Konzept von Wissensordnungen dabei hilft, das Verhältnis zwischen Origenes und Paulus besser zu bestimmen. Inwiefern hilft nun aber dieses mehr oder weniger neue Paradigma der als fluides Netzwerk verstandenen Wissensordnungen an einem zentralen Punkt der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Origenes und Paulus weiter? Viele unter uns werden wissen, dass die Explikation dieses Verhältnisses in aller Regel als Spezialfall eines grundsätzlicheren Verhältnisses durchgeführt wird – nämlich des Verhältnisses von biblischer Theologie und platonischer Philosophie im Denken des alexandrinischen Theologen. Uns soll fürs erste nicht verwundern, dass in solchen Rekonstruktionen biblische Theologie und platonische Philosophie als zwei stabile Entitäten voneinander abgegrenzt sind, so als stünden sie für den Betrachter deutlich sichtbar als graue Marmorblöcke in der Landschaft. Dass dem natürlich nicht so ist, war eigentlich schon immer deutlich; in der Zürcher Dissertation über „neuplatonische und christliche Theologie bei Synesius von Kyrene“, die Samuel Vollenweider 1983 verteidigt und 1985 publiziert hat, werden die Probleme der dabei vorausgesetzten Bilder vom „Christlichen“ ebenso knapp wie

19 SARASIN, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse (s. Anm. 16), 28–31. Sarasin nennt paradigmatisch H.-U. WEHLER, Die Herausforderung der Kulturgeschichte, Beck’sche Reihe 1276, München 1998. Dort liest man auf S. 91: „Wegen der erkenntnistheoretisch abstrusen Prämissen seiner ‚Archäologie‘ und ‚Genealogie‘, wegen der zahlreichen Mängel seiner Vorstellung von Diskursanalyse … ist Foucault ein intellektuell unredlicher, empirisch absolut unzuverlässiger, krypto-normativistischer ‚Rattenfänger‘ für die Postmoderne.“ 20 Aus der nahezu unübersehbaren Fülle der Literatur lediglich zwei Veröffentlichungen: K. J. T ORJESEN, Hermeneutical Procedure and Theological Structure in Origen’s Exegesis, PTS 28, Berlin 1985 sowie P. W. M ARTENS, Origen and Scripture. The Contours of the Exegetical Life, Oxford Early Christian Studies, Oxford 2012.

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präzise als Paradebeispiel des erwähnten hermeneutischen Zirkels expliziert.21 Zurück zum Verhältnis von biblischer Theologie und platonischer Philosophie bei Origenes: Man muss nicht, wie 1981 Ulrich Berner in seinem Bändchen „Origenes“ in der Reihe „Erträge der Forschung“,22 die gesamte und bislang in drei voluminösen Bänden gesammelte Sekundärliteratur zu diesem alexandrinischen Theologen durchsehen, um zu erkennen, dass ein heftiger Streit in der Forschung darüber geführt wird, wie beide Typen von Wissensbeständen, die biblische Theologie einerseits und die platonische Philosophie andererseits, bei Origenes hierarchisiert sind. Da gibt es einerseits ganz schlichte Modelle der Zuordnung: Von meinem Tübinger katholischen Lehrer Hermann Josef Vogt ist mir immer wieder das Grunddogma der katholischen französischen Origenes-Forschung vermittelt worden, wonach der christliche Alexandriner zwar philosophisch hoch gebildet war, aber im Konfliktfall zwischen biblischem Text und platonischer Philosophie immer den biblischen Normen loyal geblieben sei.23 Vogt wie beispielsweise Henri Crouzel24 zeichnen folgendes Bild des Origenes: Im Wissenssystem des alexandrinischen Theologen sind biblisch-theologische und platonisch-philosophische Wissensbestände ebenso eindeutig wie stabil hierarchisiert, Origenes ist nach Crouzel und Vogt im Kern ein biblischer Theologe, der sich gelegentlich ein platonisches Gewand umhängt. Das Gegenmodell zu dieser Deutung vertraten kaum zufällig evangelische Theologen, beispielsweise der reformierte französische Theologe Eugène de Faye (1860–1929) in einer großen dreibändigen Darstellung aus den Jahren 1923–192825: Origenes hat nach de Faye als erster christlicher Denker Grundkonzepte kaiserzeitlicher platonischer Philosophie in die Interpretation der christlichen Bibel und damit in die Theologie eingetragen. In Zweifelsfall war er philosophischen Konzepten wie dem Schema von zwei Welten, der Höherstufung geistigen Seins gegenüber materieller Realität und Ähnlichem mehr verpflichtet als biblischen Konzepten.26 Natürlich hat 21 S. VOLLENWEIDER , Neuplatonische und christliche Theologie bei Synesios von Kyrene, FKDG 35, Göttingen 1985, 13–25. 22 U. B ERNER, Origenes, EdF 147, Darmstadt 1981; H. CROUZEL, Bibliographie critique d’Origène, IP 8, Steenbrugge 1971; DERS., Supplément I, IP 8A, Steenbrugge 1982 und Supplément II, IP 8B, Steenbrugge 1996. 23 H. J. VOGT, Beobachtungen zum Johannes-Kommentar des Origenes, in: DERS., Origenes als Exeget, Paderborn 1999, 187–206, bes. 191–195; DERS., Art. Origenes, LACL 3 1998, 528–536. 24 H. CROUZEL, Origène et la Philosophie, Théologie 52, Paris 1962, 215f.; DERS., Origen, übers. von A. Stanley Worrall, Edinburgh 1989 (= Origène, Paris 1985), 156– 163. 25 E. DE FAYE, Origène. Sa vie, son œuvre, sa pensée, 3 Bände, Paris 1923–1928. 26 DE FAYE, Origène, Band 3, 286: „Y avait-il donc chez Origène deux homes, un philosophe et un croyant? Une cloison étanche les séparait-elle? …Nous estimons

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es andererseits immer auch vermittelnde Konzepte gegeben und selbst Crouzel oder de Faye sind nicht so radikal einseitig, wie ich sie gerade aus didaktischen Gründen stilisiere.27 Das wohl schönste Bild für einen solchen Mittelweg stammt von Adolf von Harnack, genauer aus seinem ganz späten Artikel über Origenes in der zweiten Auflage der evangelischen Enzyklopädie „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“. Der Beitrag erschien im vierten Band der Enzyklopädie in Harnacks Todesjahr 1930.28 Harnack betonte hier einerseits, dass Origenes mit seiner philosophischen Theologie „lediglich eine Spielart des nach-platonisch-stoischen Systems“ vorgelegt hat und in den Bahnen dieser philosophischen Richtungen relativ abgehoben über biblische Texte spekulierte. Harnack war aber andererseits so weise, zu sehen, dass die Spekulation „in ihrem Verständnis der Bibel an die Glaubensregel gebunden“ ist, „welche die Kirche, apostolischer Überlieferung folgend, im Gegensatz zum falschen Verständnis der Häretiker, nach O(rigenes) aus der Bibel entwickelt hat.“29 Glaubensregel, regula fidei oder κανὼν τῆς πίστεως,30 ist bekanntlich die sprachlich damals noch freie Formulierung von Grundwahrheiten des christlichen Glaubens wie dem Bekenntnis zum einen Gott, dem einen Christus und der einen Kirche. Und dann formuliert Harnack das angekündigte besonders schöne Bild: „Der kirchliche Gnostiker gleicht also einem Luftschiffer, der sich zwar von der Erde abhebt und zur Sonne aufsteigt, aber sein Ballon ist ein Fesselballon, der den Zusammenhang mit dem festen Boden der Glaubensregel niemals verlieren darf.“31 Wie man auch immer das Verhältnis von biblischer Theologie und platonischer Philosophie bei Origenes bestimmt: Die Wissensordnung dieses alexandrinischen Christen wurde gern als eine Hierarchie von Wissensbeständen beschrieben, die man wie zwei statische Marmorblöcke voneinander getrennt konzipierte. Dabei ist die Unterscheidung einer gleichsam erdverbundenen, an der Glaubensregel, der regula fidei, orientierten Bibelqu’Origène m’avait aucune peine à passer de l’un à l’autre, parce que le philosophe et le croyant, le didascale et le prêtre, n’étaient que les deux côtés d’une seule et même personnalité. … Sa philosophie était saturée d’esprit chrétien, comme sa foi était imbue de sa pensée religieuse.“ 27 DE FAYE geht zwar von einer Inkompatibilität von „Christentum“ und „Griechentum“ aus, aber sieht Origenes durch die Synthese beider Elemente charakterisiert: DERS., Origène (s. Anm. 25), Band 1, 15: „Ainsi, dès sa vingtième année, Origène nous offre le curieux exemple d’un chrétien authentique et d’un Grec non moins authentique. On les aurait crus incompatibles; chez Origène jusqu’à la fin, ils se sont accommodés l’un à l’autre, peut-être faudrait-il dire, ils se sont réciproquement complétés.“ 28 A. VON HARNACK, Art. Origenes, RGG2 4 (1930), 781–787. 29 HARNACK, Art. Origenes (s. Anm. 28), 783. 30 H. OHME, Kanon ekklesiastikos. Die Bedeutung des altkirchlichen Kanonbegriffes, AKG 67, Berlin 1998, 1–17 (2f.). 31 HARNACK, Art. Origenes (s. Anm. 28), 783.

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auslegung von der abgehobenen, luftigen oder wolkigen Spekulation bei Harnack vielleicht die deutlichste Metapher für die Modellierung von Wissensbeständen als separierten Entitäten und von Wissensordnungen als streng hierarchisch organisierten Systemen. Wenn wir nun mit der neueren Wissensgeschichte, für die wir den Zürcher Kollegen Philipp Sarasin als einen Vertreter namhaft gemacht hatten, Wissensordnungen sehr viel stärker als jeweils aktuell neu konfiguriertes Netzwerk fluider Schwerpunktsetzungen beschreiben, verändert sich natürlich auch die Modellierung des Verhältnisses von biblischer Theologie und platonischer Philosophie bei Origenes gegenüber den klassischen Entwürfen des zwanzigsten Jahrhunderts, für die wir repräsentativ Crouzel und Vogt einerseits, de Faye und mit gewisser Einschränkung Harnack andererseits genannt hatten. Etwas flapsig formuliert, lautet dann die Antwort auf die Frage, ob Origenes der Bibel oder der Philosophie Platos loyal war: „Kam darauf an.“32 Es kam beispielsweise darauf an, ob der antike Exeget und Denker überhaupt einen Konflikt zwischen diesen beiden autoritativen Wissensordnungen wahrnahm, den wir heute wahrzunehmen glauben. Es kam darauf an, in welchen Kontexten er gerade schrieb, mithin auf die – wie Sarasin sagt – „Repräsentationsformen und Medialität des Wissens“. Ein wenig schlichter formuliert: In Predigten platonisierte Origenes weniger als in der berühmten „Grundlagenschrift“ Περὶ ἀρχῶν/de principiis. Die Predigten richten sich allerdings auch an ganz „normale“ Gemeindeglieder einer Hafen- und Provinzhauptstadt am Mittelmeer, die Grundlagenschrift stellt vermutlich die abschließende Vorlesung in der Privatuniversität des Origenes dar, den für Studenten bestimmten Versuch einer Zusammenschau aller Wissensbestände vor dem Hintergrund der Gottesvorstellung, der Schöpfung und der Offenbarung samt ihres angemessenen Verstehens.33 Anders ausgedrückt: In Predigten sollen Nichtakademiker, wenn ich erneut so anachronistisch formulieren darf, zur Bibellektüre eingeladen werden, zu selbständiger Nachbereitung dessen, was sie im Gottesdienst gehört haben. Im Hörsaal sollen Studenten bei Origenes dagegen verstehen, dass der pagane Bildungskanon nicht nur mit einer christlichen Theologie (Origenes sagt noch: „christliche Philosophie“34) zusammenstimmt, sondern durch sie gleichsam gerahmt und in ein wirklich umfassendes, überzeugendes und sachgemäßes System gebracht wird, anders ausgedrückt: in der gottgewollten, selbstverständlich der Theorie nach hierarchischen Wissensordnung präsentiert wird und gelernt werden kann. Zur Sache vgl. inzwischen M. E DWARDS, Origen against Plato, Aldershot 2002. L. LIES, Origenes’ ‚Peri Archon‘. Eine undogmatische Dogmatik (Werkinterpretationen), Darmstadt 1992, 6–23 (mit Hinweisen auf weitere Literatur). 34 C. MARKSCHIES, Kaiserzeitliche christliche Theologie und ihre Institutionen. Prolegomena zu einer Geschichte der antiken christlichen Theologie, Tübingen 2007, 70–75. 32 33

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Und damit können wir nun zu einem zweiten, knapperen Teil dieses Vortrags kommen und uns mit dem Verhältnis zwischen Origenes und Paulus am Beispiel der Anthropologie beschäftigen. Ich konzentriere mich aus allerlei naheliegenden Gründen auf einen Kommentar, behandle also nicht die Homilien zum ersten Korintherbrief, die ich seit Jahren aus Katenenfragmenten zu edieren versuche, sondern den inzwischen von Caroline Bammel vorzüglich edierten Kommentar zum Römerbrief,35 der uns allerdings nur noch in der gekürzten und dogmatisch korrigierten bzw. aktualisierten lateinischen Übersetzung des Rufius von Aquileia und einigen griechischen Fragmenten hauptsächlich aus byzantinischen Kettenkommentaren, den bereits genannten Katenen,36 vorliegt. Diese Übersetzung wurde im Jahre 406 n. Chr. fertiggestellt und kürzte den Text der originalen fünfzehn Bücher auf zehn (es ist eben doch etwas am alten Vorurteil, dass Griechen abundanter und Lateiner kürzer sind, um solche in der Antike beliebten, in Wahrheit hochproblematischen Beobachtungen aus der Völkerpsychologie doch wenigstens scherzhaft noch einmal aufzurufen37). Origenes schrieb diesen Kommentar rund 150 Jahre, bevor Rufinus ihn übersetzte, nämlich zwischen 243 und 244 n. Chr. Damals lebte, predigte und lehrte der aus Alexandria vertriebene Gelehrte bereits zehn Jahre in Caesarea Maritima.38 Es handelte sich also beim Kommentar zum Römerbrief um ein reifes Spätwerk eines rund sechzigjährigen einstigen Grammatiklehrers, der längst ein im ganzen Reich berühmter christlicher Philosoph und hoch verehrter akademischer Lehrer geworden war, wie die begeisterte Studienabschlussrede seines Schülers Gregor Thaumaturgus zeigt.39 Über die Linien, die jenen Römerkommentar des Origenes mit dem 35 C. P. HAMMOND B AMMEL, Der Römerbriefkommentar des Origenes. Kritische Ausgabe der Übersetzung Rufins. Buch 1–3, VL.AGLB 16, Freiburg i. Br. 1990; Buch 4– 6, hg. von H. J. Frede / H. Stanjek, VL.AGLB 33, Freiburg i. Br. 1997; Buch 7–10, hg. von dens. VL.AGLB 34, Freiburg i. Br. 1998 sowie DIES., Der Römerbrieftext des Rufin und seine Origenes-Übersetzung, VL.AGLB 10, Freiburg i. Br. 1985. 36 E. M ÜHLENBERG, Art. Catena, II. Christianity, EBR 4 (2012), 1061–1064; DERS. Art. Katenen, TRE 18 (1989), 14–21. 37 Vgl. nur Cicero, Tusc. 2,6: eadem enim dicuntur a multis, ex quo libris omnia referserunt („Es wird nämlich von vielen das gleiche gesagt, daher stopfen sie [sc. die Griechen] alles mit Büchern voll“) und O. G IGON, Cicero und die griechische Philosophie, ANRW 1,4, Berlin 1973, 226–261. 38 Vgl. die Einleitung von T. HEITHER , in: Origenes, Commentarii in epistulam ad Romanos, Römerbriefkommentar, übers. und eingeleitet von T. Heither, FC 2/1, Freiburg i. Br. 1990, 7–41 (7–15). 39 Gregor der Wundertäter, Oratio prosphonetica ac panegyrica in Origenem. Dankrede an Origenes, übers. von P. Guyot, eingeleitet von R. Klein, FC 24, Freiburg i. Br. 1996; H. CROUZEL / H. BRAKMANN, Art. Gregor I der Wundertäter, RAC 12 (1983), 779–793; M ARKSCHIES, Theologie (s. Anm. 34), 73f., 102–104 und immer noch A.

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Genre eines antiken Kommentars verbinden, sowie über die von ihm verwendete Auslegungsmethodik habe ich an anderer Stelle gehandelt und darf darauf getrost verweisen, so dass wir uns nun auf Origenes, Paulus und die Anthropologie am Beispiel seines Römerkommentars konzentrieren können. Zunächst einmal muss man, wenn man über das Verhältnis von Origenes und Paulus handeln will, darauf hinweisen, dass Origenes den Apostel, seine Briefe und seine Theologie nicht nur schätzte, sondern regelrecht verehrte. In der kurz nach dem Römerkommentar abgefassten großen Widerlegung des längst verstorbenen, aber immer noch wirkmächtigen Philosophen Celsus sagt Origenes:

„Besaß Paulus etwa keine Vorstellung einer höheren Weisheit, als er versprach, ‚unter den Vollkommenen Weisheit zu lehren‘ (1Kor 2,6–8)? Wenn er (sc. Celsus) mir aber in seiner gewohnten Frechheit entgegnet, dieser (sc. Paulus) habe solches versprochen, ohne das geringste Wissen zu besitzen, dann werden wir ihm Folgendes erwidern: Erkläre uns zuerst die Briefe dessen, der solches sagt, und betrachte aufmerksam den Sinn jeder dort enthaltenen Formulierung, zum Beispiel im Brief an die Epheser, an die Kolosser, an die Thessalonicher, an die Philipper und an die Römer; dann zeige zwei Dinge: Dass du die Worte des Paulus verstanden hast und dass du nachweisen kannst, einige seien naiv oder dumm. Wer sich nämlich einer aufmerksamen Lektüre widmet, wird, dessen bin ich mir sicher, entweder den Geist des Mannes bewundern, der in einer gewöhnlichen Sprache große Gedanken zum Ausdruck bringt, oder, falls er ihm seine Bewunderung verweigert, sich selbst lächerlich machen.“40

Ebenso aber wie die Tatsache, dass Origenes den Gegenstand seiner Auslegung, den Apostel und seine Briefe, bewundert und das auch offen einräumt, gilt, dass er insbesondere den Römerbrief für „schwer verständlich“ hält, wie es wörtlich zu Beginn seines Vorwortes zum Römerkommentar heißt. BRINKMANN, Gregors des Thaumaturgen Panegyricus auf Origenes, RMP 56 (1901), 55– 60. 40 Origenes, c. Cels. 3,20 (GCS Origenes I, 217,5–18 KOETSCHAU; deutsche Übersetzung in: Origenes, Contra Celsum, Gegen Celsus, eingeleitet von M. Fiedrowicz, übers. von C. Barthold, FC 50/2, Freiburg i. Br. 2011, 543–545): Καί φαμεν τοῖϛ ὁμονοοῦσι τῷ Κέλσῳ ὅτι οὐδεμίαν ἆρα φανταζόμενοϛ ὑπερέχουσαν σοφίαν ὁ Παῦλοϛ ἐπηγγέλλετο ‚σοφίαν‘ λαλεῖν ‚ἐν τοῖϛ τελείοιϛ‘; ἐπειδὰν δὲ κατὰ τὸ ἑαυτοῦ θρασὺ φήσῃ ὅτι οὐδὲν ἔχων σοφὸν ταῦτα ἐπηγγέλλετο, ἀνταποκρινούμεθα αὐτῷ λέγοντεϛ· πρῶτον σαφήνισον τοῦ ταῦτα λέγοντοϛ τὰϛ ἐπιστολὰϛ καὶ ἐναντενίσαϛ τῷ βουλήματι ἑκάστηϛ ἐν αὐταῖϛ λέξεωϛ, φέρ’ εἰπεῖν τῇ πρὸϛ Ἐφεσίους καὶ πρὸϛ Κολασσαεῖϛ καὶ τῇ πρὸϛ Θεσσαλονικεῖϛ καὶ Φιλιππησίουϛ καὶ πρὸϛ Ῥωμαίουϛ, ἀμφότερα δεῖξον, καὶ ὅτι νενόηκαϛ τοὺϛ Παύλου λόγουϛ καὶ ὅτι παραστῆσαι ἔχειϛ εὐήθειϛ τινὰϛ ἢ ἠλιθίουϛ. ἐὰν γὰρ ἐπιδῷ ἑαυτὸν τῇ μετὰ τοῦ προσέχειν ἀναγνώσει, εὖ οἶδ’ ὅτι ἢ θαυμάσεται τὸν νοῦν τοῦ ἀνδρός, ἐν ἰδιωτικῇ λέξει μεγάλα περινοοῦντος, ἢ μὴ θαυμάσας αὐτὸς καταγέλαστος φανεῖται, εἴτε διηγούμενος ὡς νενοηκὼς τὸ βούλημα τοῦ ἀνδρὸς ἢ καὶ ἀντιλέγειν καὶ ἀνατρέπειν πειρώμενος ἃ ἐφαντάσθη αὐτὸν νενοηκέναι.

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Damit ist mehr gemeint als die für Kommentarprologe typische Versicherung, dass der Gegenstand schwierig und nur mit der Hilfe des Heiligen Geistes (oder im paganen Rom mit Hilfe der Musen) angemessen behandelt werden kann.41 Nach Origenes hat Paulus eine manchmal unklare Redeweise und spricht nicht alles aus.42 Außerdem ist er „in diesem Brief“, wie Origenes ebenfalls im Prolog zum Römerbriefkommentar sagt, „offenbar vollkommener als in den anderen.“43 Während der Apostel im Philipper- und ersten Korintherbrief noch zu erkennen gibt, dass ihm etwas an der Vollkommenheit fehlt, die er später erreicht hat, beziehungsweise darauf hinweist, dass er noch Fortschritte macht, ist seine Einsicht schon im zweiten Korintherbrief vollkommener geworden und erst recht im Römerbrief.44 „Vollkommenheit“ bezieht sich hier nicht auf ein besonders vollkommenes, also nach antiken Maßstäben tugendhaftes Leben, sondern auf die Abwendung von den sinnlich-materiellen, gottfernen Dingen hin zu der göttlich-geistigen Welt, wie Origenes im Rahmen dessen, was wir platonischen Zwei-Welten-Dualismus nennen (obwohl dieser Dualismus doch die Wahrnehmung sehr vieler antiker Menschen bestimmte), formuliert. Paulus ist „vollkommen“ beim Schreiben des Römerbriefes und das heißt nach 41 B. NEUSCHÄFER, Origenes als Philologe, Schweizerische Beiträge zur Altertumswissenschaft 18/1, Basel 1987, 54–87. 42 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. Praef. Origenis (VL.AGLB 16, 37,1–9 B AMMEL = FC 2/1, 62,1–10 H EITHER ): Quod ceteris apostoli Pauli epistulis difficilior putatur ad intellegendum haec quae ad Romanos scripta est duabus mihi fieri uidetur ex causis: una quod elocutionibus interdum confusis et minus explicitis utitur, alia quod quaestiones in ea plurimas mouet et eas praecipue quibus innitentes haeretici astruere solent quod uniuscuiusque gestorum causa non ad propositum debeat sed naturae diuersitatem referri, et ex paucis huius epistulae sermonibus totius scripturae sensum qui arbitrii libertatem concessam a Deo homini docet conantur euertere. – Vgl. dazu T. HEITHER, Translatio Religionis. Die Paulusdeutung des Origenes in seinem Kommentar zum Römerbrief, Bonner Beiträge zur Kirchengeschichte 16, Wien 1990, 44–52; C. MARKSCHIES, Origenes und die Kommentierung des paulinischen Römerbriefs. Einige Bemerkungen zur Rezeption von antiken Kommentartechniken im Christentum des dritten Jahrhunderts und ihrer Vorgeschichte, in: ders., Origenes und sein Erbe (s. Anm. 3), 64–89 (81). 43 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. Praef. Origenis (VL.AGLB 16, 37,15–17 B AMMEL = FC 2/1, 62,18–20 HEITHER ): … praemittentes haec quae ab studiosis obseruari solent, quod uidetur apostolus in hac epistula perfectior fuisse quam in ceteris. 44 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. Praef. Origenis (VL.AGLB 16, 37,17–38,22 B AMMEL = FC 2/1, 62,20–64,4 HEITHER): Etenim cum primam ad Corinthios scriberet, erat quidam in magnis profectibus, aliquid tamen de se uelut nutabundus eloquitur, cum dicit: ‚Sed macero corpus meum et servituti subicio, ne forte, cum alii praedicauerim, ipse reprobus efficiar‘. Sed et ad Filippenses scribens quiddam in se minus adhuc esse illius, quam postea assecutus est, perfectionis ostendit, ... sowie ebd. (39,60–40,1): Sed in illis (sc. den Korintherbriefen) quidem iste eius fuerit profectus; quanto autem sublimior et eminentior sit ad Romanos scribens ex ipsius epistulae sermonibus colligamus …

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Origenes: Paulus schaut nicht zurück in die Sinnenwelt, wird nicht von ihr bei der Kontemplation der göttlichen Dinge abgelenkt.45 Aber nur unter den Vollkommenen kann, wie Paulus im ersten Korintherbrief formuliert, Weisheit geredet werden.46 Weil dem Apostel auf diesem Weg in die Vollkommenheit die Ausleger und selbst der Asket Origenes nur stolpernd folgen können, angeleitet vom heiligen Geist, um den immer wieder gebetet wird, und weil Paulus im Römerbrief so viele gewichtige Probleme behandelt, ist das apostolische Schreiben schwer zu verstehen.47 Wenn man diese Aussagen noch einmal auf unser Paradigma der Wissensordnungen bezieht, könnte man so formulieren: Origenes ist sich sicher, dass ein hierarchisch wohlgeordnetes System von Wissensordnungen im Hintergrund der paulinischen Briefe steht, aber er ist sich nicht sicher, es in seinem Kommentar restlos erfasst zu haben. Diese Unsicherheit besteht trotz seines für Akademiker vermutlich bis auf den heutigen Tag typischen Stolzes auf die solide eigene Methodik, den Reichtum seiner Allgemeinbildung und die Vertrautheit mit dem biblischen Text (die, nebenbei bemerkt, bei Origenes so groß ist, dass aus dem Gedächtnis gelegentlich etwas zitiert und in der Einleitung dem falschen Paulusbrief zugewiesen wird48). Gleichzeitig weiß Origenes aber, dass Demut des Auslegers eine zentrale Voraussetzung für gelingendes Verstehen von Texten, aber auch von Gott und Welt ist. Sie ist auch für den Autor Paulus nach Origenes charakteristisch: Wenn Paulus sich am Eingang des Römerbriefs als Knecht (präziser: als Sklave) vorstellt, dann möchte 45 Vgl. das Zitat aus Phil 3,13f. in Origenes / Rufinus, comm. in Rom. Praef. Origenis (VL.AGLB 16, 38,30–33 BAMMEL = FC 2/1, 64,13–17 HEITHER): magna de profectibus suis memorat, cum dicit: ‚Unum autem ea quidem, quae retro sunt, obliuiscens et ad ea, quae in ante sunt, me extendens, secundum propositum sequor ad palmam supernae uocationis Dei in Christo Iesu‘; ... Ausführlich zum Thema vgl. HEITHER, Translatio Religionis (s. Anm. 42), 31–34. 46 1Kor 2,6 σοφίαν δὲ λαλοῦμεν ἐν τοῖς τελείοις … In den Fragmenten seiner Auslegung zum ersten Korintherbrief kommentiert Origenes diese Passage so (ich zitiere aus meiner in Arbeit befindlichen Neuedition für die „Griechischen Christlichen Schriftsteller“, Fragment 11): καὶ λέγει· ‚σοφίαν δὲ λαλοῦμεν ἐν τοῖς τελείοις, σοφίαν δὲ οὐ τοῦ αἰῶνος τούτου‘ οὐδὲ τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου τῶν καταργουμένων. ἄλλο γάρ ἐστιν εἰσαγαγεῖν τινὰς εἰς τὴν πίστιν, ἄλλο τὴν σοφίαν τοῦ θεοῦ ἀποκαλύπτειν. ἀναπτύσσομεν οὖν τὴν σοφίαν τοῦ θεοῦ οὐ τοῖς εἰσαγομένοις οὐδὲ τοῖς ἀρχομένοις οὐδὲ τοῖς μηδέπω ἀπόδειξιν τοῦ ὑγιοῦς βίου δεδωκόσιν· ἀλλ᾽ ὅτ᾽ ἂν γυμνασάμενος ὃν δεῖ τρόπον τὰ αἰθητήρια πρὸ διάκρισιν καλοῦ τε καὶ κακοῦ ἐπιτήδειος γένηται καὶ πρὸς τὸ ἀκοῦσαι σοφίαν, τότε ‚λαλοῦμεν σοφίαν ἐν τοῖς τελείοις· σοφίαν δὲ λέγω οὐ τοῦ αἰῶνος τούτου οὐδὲ‘ παραπλησίαν τῆς σοφίας ‚τῶν ἀρχόντων τοῦ αἰῶνος τούτου‘. 47 Ausführlich: HEITHER , Translatio Religionis (s. Anm. 42), 44–52. 48 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 5 ad Rom. 1,2 (VL.AGLB 16, 53,55f. B AMMEL = FC 2/1, 90,7f. H EITHER): sicut ad Galatas (folgt aber 2Kor 4,2; möglicherweise hat Rufin aber auch Zitate zusammengezogen). Zum Bibelgebrauch des Origenes im Kommentar B AMMEL, Der Römerbrieftext des Rufin (s. Anm. 35), 18–42.

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Origenes das „als Ausdruck der Demut verstehen, die der Herr gelehrt hat.“49 Daher bemüht sich sein Ausleger in Caesarea um solche Demut und wirft der Philosophie vor, dass dieser Wert hier keine Rolle spielt.50 Mit anderen Worten: Wenn wir die Auslegungen des Origenes nach dem Paradigma der als fluides Netzwerk konzipierten Zusammenhänge von Wissensordnungen interpretieren, treffen wir gerade nicht sein immer wieder in Kommentierung wie Predigt expliziertes Selbstverständnis als Exeget, das sich an einem hierarchisch wohlgeordneten System von Wissensordnungen im Hintergrund der paulinischen Briefe orientiert. Aber wir beschreiben, so möchte ich im Folgenden zeigen, mit einem solchen Paradigma die Pragmatik seines Auslegens – man könnte in Anspielung auf eine religionswissenschaftliche Theoriebildung von der Differenz zwischen „exegesis as prescribed and as practized“ im Blick auf die Architektur der Wissensordnungen sprechen. Nun soll es wie angekündigt noch einmal näher um die Anthropologie gehen, weil sich hier diese Differenz zwischen dem theoretisch vorausgesetzten hierarchischen System der Wissensordnungen und dem pragmatisch verwendeten fluiden System besonders gut explizieren lässt. Die Anthropologie gehört in der Optik des Origenes zweifelsohne zu den genannten, besonders gewichtigen theologischen Problemen, die Paulus im Römerbrief aufwirft, diskutiert und behandelt; sie zählt Origenes zu den Fragen, deren Behandlung wie Lösung nur ein ähnlich wie Paulus vollkommener Ausleger adäquat wiedergeben und kommentieren kann. Das zentrale anthropologische Problem ist nach dem Römerkommentar des Origenes freilich weniger die basale Identität des Menschen als Zusammenspiel von Geist, Körper und der Seele als Mittlerem zwischen beiden51 49 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 3 ad Rom. 1,1a (VL.AGLB 16, 45,1–11 B AMMEL = FC 2/1, 76,1–13 HEITHER): ‚Paulus seruus Iesu Christi‘ (Röm 1,1a) … Requiramus nunc cur seruus dicatur is qui alibi scribit: ‚non enim accepistis spiritum seruitutis iterum in timore sed spiritum adoptionis in quo clamamus: abba pater’ (Röm 8,15); et iterum: ‚quia estis filii misit Deus spiritum filii sui in corda nostra clamantem: abba pater. itaque iam non es seruus sed filius‘ (Gal. 4,6f). Quomodo ergo cum etiam his quibus praedicabat dicat: ‚quia iam non es seruus sed filius‘; ipse se seruum profitetur? Siue id secundum illam humilitatem dictum putemus quam Dominus docuit dicens: ‚discite a me quia mitis sum et humilis corde‘ (Matth. 11,29); non errabimus. Neque enim per hoc laeditur ueritas libertatis in Paulo. 50 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. IX 2 ad Rom. 12,3–5 (VL.AGLB 34, 720,20– 32 BAMMEL = FC 2/5, 38,17–40,2 HEITHER) – Vgl. auch Origenes / Hieronymus, hom. in Ez. 9,2 (GCS Origenes VIII, 408,25–409,12 B AEHRENS). 51 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 21 ad Rom. 1,24f. (VL.AGLB 16, 88,40–47 B AMMEL = FC 2/1, 148,10–24 HEITHER ): Frequenter in scripturis inuenimus et a nobis saepe dissertum est quod homo spiritus et corpus et anima esse dicatur. Uerum cum dicitur quia caro concupiscit aduersum spiritum spiritus autem aduersus carnem, media procul dubio ponitur anima quae uel desideriis spiritus adquiescat uel ad carnis concu-

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als vielmehr die Freiheit, mit der der so konstituierte Mensch sich gegenüber dem Gesetz Gottes verhalten kann – oder eben auch nicht. Die Freiheit der menschlichen Entscheidung zum guten Handeln ist entsprechend durchgängig als ein basales Thema markiert: Gleich zu Beginn der Auslegung des ersten Verses im Kommentar zum Römerbrief wird programmatisch formuliert, dass „die Wirklichkeit der Freiheit bei Paulus nicht beeinträchtigt wird,“ wenn er sich zu Beginn des Römerbriefs „Knecht“ (oder: „Sklave“) nennt.52 Mit diesem Problem des τὸ ἐφ᾽ ἡμῖν beziehungsweise des αὐτεξούσιον möchte ich mich noch etwas beschäftigen, weil hier die paulinischen wie platonischen (und übrigens auch stoischen) Elemente im Denken des Origenes in ihrem jeweiligen Verhältnis so gut verfolgt werden können und damit eben die Systematik der Ordnung dieser Wissensbestände. Natürlich kann es angesichts der Komplexität der Zusammenhänge nicht um das Thema der Entscheidungsfreiheit bei Origenes an und für sich gehen,53 zumal er es in einer großen Zahl seiner Schriften behandelt54 – bei der Freiheitsthematik handelt es sich, wie Lorenzo Perrone einmal formuliert hat, um eine der „zentralen Säulen im Denkgebäude des Origenes“.55 Es geht hier, wie gesagt, nur um unsere grundlegende Frage, ob das Paradigma der Wissensordnungen, als fluides Netzwerk konzipiert, beim Verpiscentias inclinetur; et si quidem se iunxerit carni unum cum ea corpus in libidine et concupiscentiis eius efficitur, si uero se sociauerit spiritui, unus cum ea spiritus erit. Vgl. zum Thema W. THEILER , Die Seele als Mitte bei Augustin und Origenes, in: ders., Untersuchungen zur antiken Literatur, Berlin 1970, 554–563. 52 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 3 ad Rom. 1,1a (VL.AGLB 16, 45,10f. B AMMEL = FC 2/1, 76,12f. HEITHER): Neque enim per hoc laeditur ueritas libertatis in Paulo. –Vgl. den Kontext des Zitates oben in Anm. 49 und HEITHER, Translatio Religionis (s. Anm. 42), 33f. 53 Eine gute Übersicht zum Diskussionsstand und zur Sekundärliteratur bei L. PERRONE, Art. Libero Arbitrio, in: A. Monaci Castagno (Hg.), Origene. Dizionario. La cultura, il pensiero, le opere, Rom 2000, 237–243. In die antike Diskussionsgeschichte ist die Position des Origenes beispielsweise eingeordnet bei A. D IHLE, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, 124–126. 54 Für die Bedeutung des Themas in den Predigten des Origenes vgl. É. J UNOD, Die Stellung von der Lehre von der Freiheit in den homiletischen Schriften des Origenes und ihre Bedeutung für die Ethik, in: F. von Lilienfeld / E. Mühlenberg (Hg.), Gnadenwahl und Entscheidungsfreiheit in der Theologie der Alten Kirche: Vorträge, gehalten auf der Patristischen Arbeitsgemeinschaft, 3.–5. Januar 1979 in Bethel, Oikonomia. Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie 9, Erlangen 1980, 32–44 und 95–102, für die Passagen in de oratione P. J. VAN DER EIJK, Origenes’ Verteidigung des freien Willens in De oratione 6,1–2, VigChr 42 (1988), 339–351. 55 P ERRONE, Art. Libero Arbitrio, 238. Nach H. S. BENJAMINS, Eingeordnete Freiheit. Freiheit und Vorsehung bei Origenes, SVigChr 28, Leiden 1993, 1, bilden die „Themen der menschlichen Freiheit und der göttlichen Vorsehung den Kern der Systematik der Theologie des Origenes.“

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stehen der Gedanken des Origenes über die Freiheit der Entscheidung weiterhilft. Eine Konzentration auf seinen Kommentar zum Römerbrief liegt schon deswegen nahe, weil in dem längeren Abschnitt der spätantiken, Origenes gewidmeten Exzerpt-Sammlung „Philokalie“, der sich mit dem Thema der Entscheidungsfreiheit beschäftigt, neben Texten aus de principiis, dem Genesis- und Psalmenkommentar sowie den Schriften über das Gebet und gegen Celsus eine größere Passage aus dem Römerkommentar in ihrem griechischen Originaltext überliefert ist.56 Man hielt also die Argumentation im Kommentar über den Römerbrief schon in der Antike selbst für repräsentativ. Das einleitende Kephalaion zu den auf die Freiheit bezogenen Exzerpten aus Origenes in der Sammlung in der „Philokalie“ zeigt zudem, dass die Frage nach einen möglichen Widerspruch zwischen biblischen Texten und dem philosophischen Konzept einer Entscheidungsfreiheit des Menschen (αὐτεξούσιον) – also zwischen zwei Wissensordnungen – auch damals schon im Zentrum der Wahrnehmung der Argumentation des Origenes stand.57 Wir sahen zudem an der Auslegung des ersten Verses des Römerbriefs, dass sie auch von Anbeginn im Kommentar des Origenes selbst präsent ist. Selbstverständlich folgt daher auch die neuzeitliche Sekundärliteratur den beiden oben bereits skizzierten Modellen einer klaren Hierarchisierung der zwei Wissensordnungen der Bibel und der (platonischen) Philosophie in seinem Denken über die Freiheit: Beispielsweise ist für Hal Koch das Ergebnis seiner Untersuchung von Texten des Origenes, „dass die Lehre, welche er von der Freiheit ausformt, und die Probleme, welche sich für ihn aufwerfen, und teilweise die Lösungen, welche er gibt, ganz dieselben Probleme und Lösungen sind, welche in den Schulen der Platoniker und Aristoteliker debattiert wurden.“58 Dagegen hat Henri Crouzel darauf hingewiesen, dass die Theologie des Origenes gerade auch bei der Freiheitsthematik wie ein „Eklektizismus ohne Konsistenz, wie

56 Origène, Philocalie 21–27. Sur le libre arbitre. Introduction, texte, traduction et notes par Éric Junod, SC 226, Paris 1976, 212–233 (= philoc. 25) sowie 72–93 (Einleitung), der Text auch bei: Origenes, Commentarii in Epistulam ad Romanos. Fragmenta / Römerbriefkommentar. Fragmente, übers. u. eingeleitet von T. Heither, FC 2/6, Freiburg i. Br. 1999, 30,12–43. 57 Philoc. 21 (152,1–3 ROBINSON): Περὶ αὐτεξουσίου καὶ τῶν δοκούντων τοῦτο ἀναιρεῖν ῥητῶν γραφικῶν λύσις καὶ ἑρμηνεία. ἐκ τοῦ περὶ ἀρχῶν τρίτου τόμου. – Zur Interpretation: J UNOD, SC 226, 19f. 58 H. KOCH, Pronoia und Paideusis. Studien über Origenes und sein Verhältnis zum Platonismus, AKG 22, Berlin 1932, 290f.; ähnlich auch D IHLE, Die Vorstellung vom Willen in der Antike (s. Anm. 53), 124–126.

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eine schlichte Ansammlung von unterschiedlichen und widersprüchlichen Themen“ wirkt.59 Um diese – möglicherweise nur scheinbaren – Widersprüche im Denken des Origenes und ihre Erklärung geht es mir im Folgenden. Die mit dem Begriff „Widerspruch“ beschriebenen logischen oder inhaltlichen Spannungen zwischen Passagen und einzelnen Sätzen sind gern entweder (wie beispielsweise bei Henri Crouzel) als deutlicher Hinweis auf die unsystematische Denkungsart des Origenes und die kategoriale Differenz seiner biblischen Theologie zu einem philosophischen System interpretiert oder aber (wie bei Hermann Josef Vogt) als Zeichen der Konfusion eines vielbeschäftigten Gelehrten erklärt worden.60 Mir scheint aber, dass das Paradigma der als fluides Netzwerk mit multipler möglicher Schwerpunktsetzung konzipierten Wissensordnungen erlaubt, die im Kommentar des Origenes zum Römerbrief im Blick auf unser Thema, die Freiheit gegenüber dem Gesetz Gottes, auftretenden Spannungen als schlichte Folge exegetischer Praxis zu begreifen: Origenes konfiguriert seine in der Auslegung vorausgesetzten Wissensbestände jeweils neu im Blick auf den gerade auszulegenden Text. Fluidität ist also kein Zeichen von mangelnder Konzentration oder von antisystematischem Denken, sondern im Gegenteil ein Ausweis höchster Konzentration auf den auszulegenden Text und das Geschäft der Auslegung. Um diese Einschätzung nachvollziehbar machen zu können, muss man zunächst einmal jene scheinbaren Widersprüche und logischen Spannungen im Kommentar im Blick auf die unterschiedlichen Vorstellungen von der Freiheit des Menschen präzise zu beschreiben versuchen. Auf den ersten Blick scheint – wie schon die anfänglichen Bemerkungen zum ersten Vers des paulinischen Briefes zeigen – tatsächlich eine erhebliche logische und inhaltliche Spannung zwischen einer für unseren Ge59 CROUZEL, Origène et la Philosophie (s. Anm. 24), 209: „On aurait cependant tort de considérer la pensée d’Origène comme un éclectisme sans consistance, comme une simple accumulation de thèmes divers et contradictoires, et d’en nier la vraie unité. Mais, cette unité, ce n’est pas un système rationnel qui la crée. Elle est située ailleurs. Les aspects antithétiques ne sont guère, quand on les comprend, vraiment contradictoires, mais complémentaires. Ils permettent de cerner de divers côtés une réalité unique, essentiellement mystérieuse, au-delà des prises de la raison conceptuelle et discursive, une réalité que seule la foi peut pressentir, que seule l’intelligence mystique peut percevoir comme de loin, l’objet même de la révélation chrétienne.“ – Weitere Positionen aus der Sekundärliteratur bei BENJAMINS, Eingeordnete Freiheit (s. Anm. 55), 3–7. 60 So Vogt vor allem mündlich in den Jahren, in denen ich sein GraduiertenKolloquium in Tübingen besuchte (1988–1994), in den schriftlichen Darstellungen des Exegeten Origenes durch Vogt tritt dieser Aspekt eher etwas zurück: H. J. VOGT, Leben und Werke des Origenes, in: Origenes, Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus, eingeleitet, übers. u. mit Anmerkungen versehen, 1. Teil, BGrL 18, Stuttgart 1983, 1–54, bes. 44–49 = DERS., Origenes als Exeget, Paderborn 1999, 23–64, bes. 57–61.

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schmack eher deterministischen paulinischen Rhetorik und der Emphase des Origenes für die Freiheit zu bestehen. Denn es kann ja kein Zweifel daran bestehen, dass Origenes seinen Paulustext mit der für ihn charakteristischen festen Vertrauenssetzung liest, dass der Mensch in seinen Entscheidungen, auch in denen für oder gegen Gott, frei ist.61 Aber die Sache ist eben nicht so einfach, wie sie vor dem Hintergrund des alten dualistischen Schemas eines zu hierarchisierenden Konfliktes zwischen einer biblischen, näher paulinischen, und einer philosophischen, näher platonischen, Anthropologie mit stoischen Elementen auszusehen scheint. Denn Origenes vermag im ersten und zweiten Buch seines Römerbriefkommentars durchaus ganz paulinisch von der „Macht der Sünde“ zu sprechen,62 beispielsweise, wenn er das schöne Bild entwirft, dass der Mensch ein Haus ist und vor zwei Türen der Seele die Begierde einerseits und die Tugend andererseits Einlass begehren und, wird die Tugend verschmäht, dieselbe beleidigt von dannen zieht, so dass der entsprechend gefallene Mensch nun in seine Begierde verfällt, so verfällt, wie das Paulus am Anfang des Römerbriefes mit einer quasi deterministischen Rhetorik beschreibt.63 Vom optimistischen Bild eines zur Entscheidung ebenso freien wie fähigen Menschen, das Origenes vor allem in seiner Kommentierung des siebten Kapitels des Römerbriefes im Konsens mit bestimmten philosophischen Systemen zeichnet, aber im Unterschied zu diesen aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen folgert und daher quasi axiomatisch voraussetzt, ist in solchen Passagen nichts zu spüren. Gleichzeitig ist ganz deutlich, dass dieser scheinbare Widerspruch zwischen beiden Bildern vom Menschen weder zureichend als ein schlichtes Zeichen eines höchst zerstreuten Auslegers noch als Ausweis eines betont unsystematischen Denkens erklärt werden kann – selbst wenn Origenes gelegentlich in seinen Predigten und wissenschaftlichen Kommentierungen zerstreut wirkt und gegen philosophische Positionen argumentiert. Vermutlich wird man dem Befund besser gerecht, wenn man sagt, dass im Netzwerk des Wissens, das Origenes prägt, eben gelegentlich unter dem starken Eindruck paulinischer Texte, die er bewunderte, deren vom Apostel verwendete oder vorausgeBENJAMINS, Eingeordnete Freiheit (s. Anm. 55), 117–121. HEITHER , Translatio Religionis (s. Anm. 42), 111–126. 63 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 21 ad Rom. 1,24f. (VL.AGLB 16, 90,85–94 B AMMEL = FC 2/1, 152,10–20 HEITHER ): Ponamus esse aliquod domicilium, in quo cum corpore et spiritu uelut cum duobus consiliariis habitet anima; pro foribus uero huius domicilii astare pietatem omnesque cum ea uirtutes; ex alia uero parte impietatem omnesque luxuriarum ac libidinum formas et expectare animae nutum, quem ex duobus pro foris obseruantibus chorum introduci ad se desideret, quem repelli. Nonne, si spiritui obtemperans et meliori usa consiliario pietatis et pudicitiae ad se euocauerit chorum, ille alius spretus repudiatusque discedet?. 61 62

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setzte anthropologische Konzepte deutlich in den Vordergrund treten und andere, mehr aus der platonischen und stoischen Philosophie kommende Konzepte, die Origenes sonst aus theologischen Gründen bevorzugt, überlagern. An anderen Stellen – mit Sarasin gesprochen: in anderen Kontexten – kann das Netzwerk des Wissens aber ganz anders organisiert werden. Ich hatte schon angedeutet, das Origenes im sechsten Buch des Römerkommentars axiomatisch die Freiheit, sich für oder gegen Gottes Gesetz zu entscheiden, in seiner Interpretation voraussetzt. Der Mensch ist Gottes Ebenbild und schon deswegen frei. Er ist Gott gegenüber verantwortlich und auch deswegen frei. Nur gnostische Irrlehren können an die Stelle der Freiheit der Entscheidung Determination oder gar Prädestination setzen: „Der Apostel zeigt: Es liegt in unserer Macht, dass die Sünde nicht in unserem sterblichen Leib herrscht. Man soll beachten, dass er gebietet: ‚Daher soll die Sünde in eurem sterblichen Leib nicht mehr herrschen, und seinen Begierden sollt ihr nicht gehorchen‘. Läge es nämlich nicht in unserer Macht, uns nicht von der Sünde beherrschen zu lassen, dann hätte er dieses Gebot bestimmt nicht gegeben.“64

Während hier im sechsten Buch des Kommentars Sünde eher als falsche Handlung verstanden wird,65 wird sie im oben zitierten Bild aus dem ersten Buch als Folge einer nicht mehr kontrollierbaren Attacke der Begierden des Herzens beschrieben, also durchaus in personalisierten Bildern einer Macht, die sich nicht oder jedenfalls nicht mehr kontrollieren lässt.66 Wenn diese beiden Bilder vom Menschen vielleicht auch nicht in direkter logi64 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. VI 1 ad Rom. 6,12–14 (VL.AGLB 33, 456,28– 457,38 BAMMEL = FC 2/3, 192,10–21 HEITHER ): Illud tamen aduerte, quod ostendens in nostra potestate situm, ut non regnet in corpore nostro peccatum, praeceptum dat apostolus dicens: ‚Non ergo regnet peccatum in uestro mortali corpore ad oboediendum de desideriis eius‘. Nisi enim esset in nostra potestate, ut non regnaret in nobis peccatum, praeceptum utique non dedisset. Quomodo ergo possibile est, ut peccatum in carne nostra non regnet? Si faciamus illud, quod idem apostolus dicit: ‚Mortificate membra uestra, quae sunt super terram‘, et si semper mortem Christi in corpore nostro circumferamus. Certum namque est, quia ubi mors Christi circumfertur, non potest regnare peccatum. 65 So auch T. HEITHER , Origenes, Commentarii in Epistulam ad Romanos. Liber Quintus, Liber Sextus / Römerbriefkommentar. Fünftes und sechstes Buch, übers. u. eingeleitet von T. Heither, FC 2/3, Freiburg i. Br. 1993, 192f. Anm. 5 mit Berufung auf G. TEICHTWEIER, Die Sündenlehre des Origenes, SGKMT 7, Regensburg 1958, 176–209. 66 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. I 21 ad Rom. 1,24f. (VL.AGLB 16, 90,94– 91,101 B AMMEL = FC 2/1, 152,20–28 HEITHER): Si uero carnis usa consiliis impietatis ad se et libidinis introduxerit turmam, omnis illa sanctitatis et pietatis corona, cui malorum anima concilium praetulit, iusta cum indignatione secedet relinquens eam desideriis cordis sui, ut ignominia et contumeliis afficiat corpus suum in semet ipsa, quae commutauit ueritatem Dei mendacio et introducens ad se impietatis et infidelitatis ministras colit et seruit creaturae potius quam creatori, qui est benedictus in saecula.

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scher Spannung stehen – einen höchst unterschiedlichen inhaltlichen Akzent setzen sie wohl. Wie erklärt Origenes aber angesichts solcher unterschiedlicher, wenn auch nicht widersprüchlicher Akzentsetzungen die berühmten Passagen aus dem siebenten Kapitel des Römerbriefs, in denen Paulus davon spricht, dass er das Gute nicht zu verwirklichen vermag, obwohl das Wollen vorhanden ist: „Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will“?67 Origenes verwendete ein übliches Verfahren der paganen literarischen Hermeneutik bei seiner Auslegung der Stelle.68 Er nützte die προσωποποιΐα, die Differenzierung von unterschiedlichen Akteuren innerhalb einer Person in einem Text,69 und kommentierte die entsprechenden Sätze so: „Paulus nimmt als Lehrer der Kirche selbst die Rolle der Schwachen an.“70 Paulus redet nach Origenes also unter der Gestalt mehrerer Personen und nutzt damit ein übliches literarisches Stilmittel. Origenes konnte daher mit gutem Grund seine Auslegung des siebten Kapitels des Römerbriefs durchaus nicht als philosophische Überformung paulinischer Theologie mit einer bestimmten Position zur Entscheidungsfreiheit der Menschen, gar noch gegen den Literalsinn des Römerbriefs, empfinden, sondern sie als Ergebnis einer literaturwissenschaftlichen Analyse ansehen, der Identifikation der προσωποποιΐα, des Sprechens in mehreren Personen. Alle Beobachtungen, die wir an Passagen des Kommentars zum paulinischen Römerbrief des Origenes gewonnen haben, führten auf ein identisches Ergebnis: Origenes verknüpfte jeweils verschiedene Wissensbestän67 Röm 7,19: οὐ γὰρ ὃ θέλω ποιῶ ἀγαθόν, ἀλλὰ ὃ οὐ θέλω κακὸν τοῦτο πράσσω – aus der Fülle der Literatur: S. VOLLENWEIDER, Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Umwelt, FRLANT 147, Göttingen 1989, 339–374. 68 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. VI 9 ad Rom. 7,14–25a (VL.AGLB 33, 511,92– 96. 512,102–107 BAMMEL = FC 2/3, 274,19–25. 276,1–6 HEITHER): Uerumtamen non usque quaque hic, cuius persona ponitur, alienus est a bonis, sed proposito quidem et uoluntate coepit bona requirere, nondum tamen potest bona rebus et operibus obtinere. Est enim talis quaedam infirmitas in his, qui initia conuersionis accipiunt, ut, cum uelit quis statim facere omne, quod bonum est, non statim uoluntatem sequatur effectus. … Similiter agit et libidinis uitium. Pari que consuetudinis morbo et mendacium subripit, formitudo deterret; et in his singulis iste, qui iam initia conuersionis accipit, competenter dicit, quia ‚velle adiacet mihi, perficere autem bonum non invenio. Non enim quod uolo bonum, hoc ago; sed quod odi malum, illud facio‘. 69 A. V ILLANI, Prosopopea ed esegesi prosopologica in Origene: un confronto col mondo classico, Diss. Phil., Bologna 2008; knappe Zusammenfassung: DERS., Origenes als Schriftsteller. Ein Beitrag zu seiner Verwendung von Prosopopoiie, mit einigen Beobachtungen über die prosopologische Exegese, Adamantius 14 (2008), 130–150. 70 Origenes / Rufinus, comm. in Rom. VI 9 ad Rom. 7,14–25a (VL.AGLB 33, 509,45– 47 B AMMEL = FC 2/3, 270,22f. HEITHER): ... hic iam tamquam doctor ecclesiae personam in semet ipsum suscipit infirmorum.

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de (wie wir heute sagen würden), nämlich literaturwissenschaftliche, philosophische und theologische Wissensbestände. Er verknüpfte sie aber jeweils auf einen konkreten biblischen Text bezogen zu einem kontextorientierten und insofern fluiden Netzwerk von Wissensordnungen. Bei der Kommentierung des siebenten Kapitels des Römerbriefs konnte diese kontextbezogene Verknüpfung, wie beschrieben, unter Umständen zu gegenteiligen Konfigurationen und Schwerpunktsetzungen führen als bei der Kommentierung des ersten Kapitels. Ein solcher, aus den Texten des Origenes erhobener Befund ist mit dem Modell eines fluiden Netzwerkes von Wissensordnungen, die jeweils aktuell neu konfiguriert werden, offenkundig besser beschrieben als mit den klassischen Modellen einer eindeutig hierarchisierenden Loyalität oder aber der Vorstellung eines zerstreuten Gelehrten, der sich nicht recht erinnert, was er in den Wochen zuvor seinen Mitarbeitenden im Schreibbüro diktiert hat. Ich muss an dieser Stelle schließen, obwohl es mich reizen würde, das Bild, das ich in allzu kurzen Strichen entworfen habe, anhand von weiteren Passagen aus den Schriften des Origenes zu vertiefen und beispielsweise mit Texten Samuel Vollenweiders noch stärker ins Gespräch zu bringen.71 Dafür fehlt die Zeit. Aber ich hatte ja noch versprochen, Konsequenzen für die Gegenwart, nämlich für das Theologiestudium und die Theologie zu ziehen. Das kann ich aber ganz kurz tun, weil es auch ganz einfach ist: Wir müssen, wie diese meiner Ansicht nach äußerst verheißungsvolle Anwendung von Ergebnissen der Wissensforschung zeigt, noch interdisziplinärer studieren und lehren. Vor allem aber müssen wir uns stärker um die in den letzten Jahrzehnten so expandierte Wissensforschung bemühen und um deren Integration in das klassische theologische Curriculum.72 Neben theologische Doktoranden- und Doktorandinnen-Netzwerke sollten auch feste Verbindungen mit den Studierenden anderer Fächer treten.73 Dazu wären entsprechende verbindliche Studienelemente vor der Graduierung wünschenswert, beispielsweise hier im Zürcher Zentrum für Wissensforschung. Außerdem sollten wir noch einmal darüber nachdenken, ob die Offenheit, mit der Origenes beim Bibelauslegen jeweils abhängig vom 71 Ich denke vor allem an: S. VOLLENWEIDER, Der Logos als Brücke vom Evangelium zur Philosophie. Der Johannesprolog in der Relektüre des Neuplatonikers Amelios, in: A. Dettwiler / U. Poplutz (Hg.), Studien zu Matthäus und Johannes / Études sur Matthieu et Jean (FS J. Zumstein), AThANT 97, Zürich 2009, 377–397. 72 Vgl. beispielsweise H.-J. RHEINBERGER, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007; H. J. SANDKÜHLER, Kritik der Repräsentation. Einführung in die Theorie der Überzeugungen, der Wissenskulturen und des Wissens, Suhrkamp Taschenbücher Wissenschaft 1920, Frankfurt a. M. 2009. 73 Ich denke beispielsweise an die „Berlin Graduate School of Ancient Studies“, der neben einer Archäologin ein Neutestamentler vorsteht: http://berliner-antike-kolleg.org /bergsas/ (letzte Abfrage am 18.02.2015).

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Kontext seine Wissensordnungen als fluides Netzwerk konfiguriert, nicht auch für die Organisation und die inhaltliche Gestalt unserer gegenwärtigen evangelischen Theologie im deutschsprachigen Raum bedeutsam sein könnte. Taugt die Architektur der theologischen Disziplinen, die im Kern aus dem späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert stammt, wirklich noch für die Gegenwart?74 Man muss ja nur die vertrauten Fachbezeichnungen „Alte Kirchengeschichte“, „Patristik“ und „Neues Testament“ aufrufen und kann sich sofort im Anschluss fragen, ob Samuel Vollenweider die vertrauten Grenzen zwischen diesen beiden Disziplinen nicht durch sein Œuvre als obsolet erwiesen hat. Grenzen, die schon vor über hundert Jahren von Adolf Harnack und Eduard Schwartz für mindestens löchrig, wenn nicht für niedergerissen gehalten wurden.75 Aber ein Blick auf die Veröffentlichungen von Samuel Vollenweider macht auch deutlich, dass man heutigentags nur mehr schlecht zwischen einer rein positivistischen Erforschung der Antike als einem bloß historischen Phänomen einerseits und ihren diversen Transformationen bis in die unmittelbare Gegenwart trennen kann:76 Antike ist ja schließlich nicht vergangen, sie ist nur vergangene Gegenwärtigkeit, um ein letztes Mal auf Zürich anzuspielen, genauer: auf einen Buchtitel von gesammelten Beiträgen eines Münchener Althistorikers, dem sich ein emeritierter Zürcher Kirchenhistoriker sehr verbunden wusste.77 So fragte schon Martin Hengel in seiner Presidential Address auf der 48. Jahrestagung der „Studiorum Novi Testamenti Societas“ (SNTS), 15.–18. August 1993, Chicago: DERS ., Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321–357 = DERS., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften VII, hg. von C.-J. Thornton, WUNT 253, Tübingen 2010, 242–279. 75 Zwei Belege für viele: „Der Zaun, welcher früher das Feld der Kirchengeschichte von dem Felde der allgemeinen Geschichte getrennt hat, ist niedergerissen,“ so in seiner Antrittsrede vor der Preußischen Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1890 Adolf Harnack: DERS., Antrittsrede des Hrn. Harnack, SBPAW.PH 1890 (788–791), 790 = DERS ., Kleine Schriften zur Alten Kirche. Berliner Akademieschriften 1890–1907, Opuscula IX/1, Leipzig 1980, 1–4 (3) sowie W. ELTESTER / H.-D. ALTENDORF, Vorwort, in: E. SCHWARTZ, Gesammelte Schriften, Band 3: Zur Geschichte des Athanasius, Berlin 1959, V–VIII (V): „er (sc. Schwartz) legte die Zäune zwischen den Disziplinen nieder.“ 76 H. BÖHME u. a. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München 2011. 77 E. SCHWARTZ, Gesammelte Schriften, Band 1: Vergangene Gegenwärtigkeiten, Berlin 1938. Hans-Dietrich Altendorf übernahm von Hans Lietzmann und dessen Schüler Hans Georg Opitz nach dem Tode der beiden Berliner Kirchenhistoriker die Herausgabe der gesammelten Schriften von Schwartz. Der Vortrag in Zürich schloss mit Wünschen für den geschätzten Kollegen, zu dessen Ehren man sich versammelt hatte, und für das gemeinsame Doktoratsprogramm, das in der Veranstaltung feierlich inauguriert wurde. Diese Worte lauteten: „Ich wünsche also Samuel Vollenweider und dem ganzen Doktoratsprogramm beglückende Erfahrungen mit den fluiden Netzwerken des Wissens, gerade auch in der Theologie.“ 74

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Überlegungen zur Kommentierung des Briefs „An die Philipper“ SAMUEL VOLLENWEIDER Es ist einladend, Texte mit Landschaften zu vergleichen und sie, ganz im Sinn des spatial turn, als räumlich strukturierte Gebilde wahrzunehmen. Für Literaturen aus vergangenen Zeiten ist es dabei ratsam, sich nicht auf Festland und Kontinente zu beschränken. Mit der literarischen Hinterlassenschaft des Urchristentums lässt sich weit besser ein Archipel assoziieren, eine Gruppe von Inseln samt dem Meerbereich, in den sie eingebettet sind. Die einzelnen Inseln bilden mehr oder weniger zufällig erhaltene Restbestände einer sehr viel größeren Landmasse, die unter dem Meeresspiegel liegt. Die Aufgabe der Ozeanographie, die nicht sichtbare Topographie zu kartographieren, übernimmt im Fall der urchristlichen Literaturgeschichte die historische Rekonstruktion. Der mutmaßlich weit größere Teil der Landschaft besteht aus unterseeischen Gebieten – wir müssen mit einem erheblichen Verlust der damals produzierten Texte rechnen. Der Philipperbrief, seinem Umfang nach der zweitgrösste der für authentisch erachteten „kleinen Paulinen“, bildet eine ganz besondere Insel. Erkundet man dieses Eiland aus der Luftperspektive, so wird seine Topographie von einem mächtigen einzelnen Berg, dem sogenannten Christushymnus (2,5–11), dominiert. Das Recht zu diesem Gleichnis gibt uns nicht nur die schiere Masse der exegetischen Forschungsliteratur, sondern noch mehr die Wirkungsgeschichte: Wie nirgends sonst kumulieren sich die von Stellenregistern und Suchmasken gebotenen impacts in 2,5–11. Erlaubt man sich, noch ein Stück weiter zu imaginieren, so darf man an einen erloschenen (oder tief schlafenden) Vulkan denken, einen beredten Zeugen archaischer Tektonik: Der „Philipperhymnus“ stellt ein Textgebilde dar, das sich einerseits elementaren Bewegungen in der ältesten Theologie und Mythologie des Urchristentums verdankt und andrerseits ein dichtes Sinnpotential inkorporiert, das immer wieder neue theologische Aufbrüche stimuliert hat – etwa in Gestalt kenotischer Christologien und Gotteslehren. Aber da ist nicht der gewaltige Berg allein. Was wir im dritten Kapitel lesen, gleicht einer titanischen Schlucht, in der schwindelnde Abgründe

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und subtile Höhen unmittelbar nebeneinander stehen – wie eine Miniatur der zerklüfteten Textlandschaften, die wir aus dem Galater- und dem Römerbrief besser kennen. Es kommen ausgesprochen liebliche Landschaften dazu, die die von Freundschaft, Zuneigung und Sehnsucht bestimmten Kommunikationsprozesse zwischen dem Apostel und seiner Lieblingsgemeinde abbilden (ohne dass man Dissonanzen auszublenden braucht). Unsere Insel wartet auch mit Strandbuchten auf, an denen Nebelbänke den klaren Blick auf den Horizont, wo sich Himmel und Meer berühren, verhindern: Immer wieder drückt der Philipperbrief Unsicherheit aus – Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen angesichts einer unbekannten Zukunft – und setzt im Gegenzug auf die Freude.1 Eine besondere Anziehungskraft übt eine belebte Hafenszene aus: Im „danklosen Dank“ von 4,10–20 ist merkantile Metaphorik mit Händen zu greifen. Sodann zieht die unterseeische Landschaft, in die die Insel eingebettet ist, den suchenden Blick auf sich, die Meeresrücken, auf denen weitere Inseln aufruhen, die Reliefs, Sedimente und Abhänge – also die Beziehungen zu anderen Paulusbriefen, die vielfach unbekannten Traditionsfelder, und überhaupt die großen trajectories urchristlicher Theologiegeschichte(n). Schließlich bietet sich die makrotopographische Perspektive an, der Zusammenhang unseres Archipels (zumal des paulinischen Sektors) mit den grossen Kontinenten und deren Schelfbereichen – die Einbettung der urchristlichen Kultur(en) in der übergreifenden Globalkultur der frühen Kaiserzeit und ihren jüdischen Partialkulturen.

1 Der Kommentar – ein Genre mit Sonderstatus Für den Besuch einer Insel dieser Art bietet sich ein Reiseführer an, sei er lebendig oder gedruckt. In unserem Gleichnis steht dieser natürlich für den Kommentar. Wer sich aufmacht, ein derartiges Buch zu verfassen, sieht sich in manche Spannungsfelder versetzt. Da sind zuerst die Spielregeln für das Genre Kommentar zu nennen. Anders als ein leichtfüßiger Aufsatz, der etwa eine überkommene Forschungsposition hinterfragt, oder eine wuchtige Monographie, die ein Thema umfassend bearbeitet und im besten Fall die Forschungslandschaft neu strukturiert, nimmt sich der Kommentar weniger innovativ und damit weniger zukunftsoffen aus: Sein primäres Ziel ist es, die Leserschaft über den aktuellen Stand der Dinge zu informieren, und dies im Rückgang auf eine umfassende Forschungsgeschichte. Der Kommentar hat es also zunächst mit dem Geschäft der Bilanzierung zu 1 Den Stellenwert der „Freude“ im Phil, der seit je Aufmerksamkeit erzeugt hat, arbeiten Petra von Gemünden und Anke Inselmann in diesem Band vor dem Hintergrund antiker Affektenlehre und insbesondere der Affektsteuerung heraus.

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tun, sein spezifischer Zeitmodus ist die Gegenwart, die er sich als Ertrag einer näheren wie einer ferneren Vergangenheit erschließt.2 Als fast noch wichtiger darf ein weiterer Spannungsbogen gelten, der die Textsorte Kommentar kennzeichnet: der immer neu zu suchende und zu wagende Gang zwischen zwei Angeboten an die Leserschaft, nämlich zwischen Dienst und Verführung. Das Moment des Diensts ist augenfällig: Ein Kommentar dient zweien Herren, der Leserschaft und seinem Text. Seinen Lesern soll er diejenigen sachlichen Informationen anbieten, die sie suchen oder die sie benötigen, um den Text angemessen zu verstehen.3 Noch mehr aber steht der Kommentator in der Schuld seines Textes, kann sich dieser doch anders als die Leserschaft nicht selber wehren. Beides fordert dem Verfasser bekanntlich ein erhebliches Maß an Selbstüberwindung und Lustverzicht ab. Die Regel von Phil 2,3f. ist hier wirklich einschlägig! Mit dem Dienst allein ist es freilich nicht getan. Wer seiner Leserschaft nur zu Diensten ist, evoziert die Gefahr der Langeweile, dem ärgsten Laster der von Redundanz verfolgten neutestamentlichen Wissenschaft. Mit der Verführung nähert sich der Kommentator wieder dem provokanten Essay und der bahnbrechenden Monographie an. Einem Kommentar ohne innovativem Profil und ohne programmatischer Bestimmung eines Leitthemas fehlt das Salz – und er wird es ganz besonders schwer haben, den Lieblingstraum der Kommentatoren zu erfüllen: nämlich seine Leserschaft für die hingebungsvolle Lektüre des Ganzen zu gewinnen.4 Wo das Werk aber gelingt, hat der Ausleger seine Leser nicht nur zum Verweilen in seinem eigenen Skript verführt, sondern auch zur dichteren Wahr2 Allerdings: Gerade das Kommentieren führt ins Feld des Unabgeschlossenen und damit der offenen Zukunft, wie Hans Ulrich Gumbrecht zu bedenken gibt: „Beim Kommentar […] handelt es sich anscheinend um einen Diskurs, der nachgerade per definitionem nie sein Ende erreicht.“ Der Kommentator ist „niemals sicher, welches die Bedürfnisse (d. h. die Lücken im Wissen) der Benutzer seines Kommentars sein werden. Einerlei, wie sorgfältig er sich um die Bedürfnisse des aus seiner Sicht zeitgenössischen Teils der potentiellen Leser des betreffenden Texts kümmern mag, nie wird er imstande sein vorherzusehen, was eigentlich den Lesern der nächsten Generation erklärt werden muß und hauptsächlich aufgrund dieses Umstands ist das Kommentieren eine Tätigkeit und ein Diskurs, bei dem die Unabgeschlossenheit im Wesen der Sache liegt“: H. U. GUMBRECHT, Die Macht der Philologie. Über einen verborgenen Impuls im wissenschaftlichen Umgang mit Texten, dt. Übs. Frankfurt a. M. 2003, 70f. 3 Und natürlich gilt hier das Bonmot, dass der Leser im Kommentar Antworten bekommt auf Fragen, die er nicht gestellt hat, während seine eigenen Fragen keine Antworten finden. 4 Nur am Rand sei angemerkt, dass dabei auch der Umfang eine wesentliche Rolle spielt. Die Abschreckung ist bekanntermaßen zweiseitig – auf Konsumenten- wie auf Verlegerseite. Das gilt noch mehr für eine Kundschaft, deren mediale Lesegewohnheiten zunehmend von 160 Zeichen-Quanten bzw. -Kontingenten gesteuert sind.

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nehmung des Textes selber. Spätestens hier mutiert die Verführung wieder zum Dienst.

2 Meilensteine und Monumente Wenden wir uns nun unserer Textlandschaft, dem Philipperbrief, zu. Wie bei jedem biblischen Buch sieht sich der Ausleger Kommentarklassikern gegenüber, die nichts weniger als Benchmarks repräsentieren. An erster Stelle rangiert hier der Kommentar von Ernst Lohmeyer (1930).5 Stilistisch meisterhaft verfasst ist er an Eigenwilligkeit kaum zu übertreffen. Lohmeyer liest den Philipperbrief ganz aus der Perspektive des Martyriums, und zwar sowohl des Apostels selber wie der philippischen Gemeinde.6 Nahezu alle Besonderheiten des (in Caesarea verfassten) Philipperbriefs, die die Forschung teilweise zu literarkritischen Operationen provoziert hat, werden konsequent enggeführt über das Martyrium – dies gilt sogar von der „strengen Geschlossenheit des inneren Aufbaus“, von der persönlich gehaltenen Diktion wie von der „Vagheit der brieflichen Haltung“.7 Lohmeyers konsequent martyrologische Situierung des E. LOHMEYER, Der Brief an die Philipper, KEK 9/1, Göttingen 141974. – Wir verdanken diesem Verfasser auch einen anderen, sehr wichtigen Beitrag zur Forschung am Philipperbrief: E. LOHMEYER, Kyrios Jesus. Eine Untersuchung zu Phil. 2, 5–11, SHAW.PH 4, Heidelberg 1928 (Nachdruck 1961). Lohmeyer stellt hier als erster die Hypothese vor, dass es sich bei Phil 2,6–11 um einen vorpaulinischen juden- und urchristlichen Psalm handelt (7–11). Er legt diese Hypothese auch seiner Kommentierung zugrunde (LOHMEYER, Philipper, 8.90–99). Zum Stellenwert dieses Modells vgl. R. BRUCKER, „Songs“, „Hymns“, and „Encomia“ in the New Testament?, in: C. Leonhard / H. Löhr (Hg.), Literature or Liturgy? Early Christian Hymns and Prayers in their Literary and Liturgical Context in Antiquity, WUNT 2/363, Tübingen 2014, 1–14. Zur Würdigung von Lohmeyers Lebenswerk und seiner Gelehrtenpersönlichkeit vgl. W. OTTO, Freiheit in der Gebundenheit. Zur Erinnerung an den Theologen Ernst Lohmeyer anlässlich seines 100. Geburtstages, Göttingen 1990. 6 LOHMEYER, Philipper (s. Anm. 5), 3–5 („Es ist die einzigartige Situation des Martyriums, durch die Apostel und Gemeinde ebenso verbunden wie geschieden sind“; „jetzt, wo ein Märtyrer zu Märtyrern spricht“, 5). 7 LOHMEYER, Philipper (s. Anm. 5), 5–8. Lohmeyer reagiert hier auch auf Ferdinand Christian Baur, der den Philipperbrief für eine Fälschung erklärt hat, etwa unter Berufung auf seine „Subjectivität des Gefühls“, „die monotone Wiederholung des zuvor schon Gesagten“, „den Mangel an einem tiefer eingreifenden Zusammenhang, und eine gewisse Gedankenarmuth“ (F. C. BAUR, Paulus, der Apostel Jesu Christi. Sein Leben und Wirken, seine Briefe und seine Lehre. Ein Beitrag zu einer kritischen Geschichte des Urchristenthums, Band 2, Leipzig 21867, 59). Benjamin Schliesser erinnert mich an die augenzwinkernde Reaktion von Johann Peter Lange auf Baurs Urteil der „Gedankenarmuth“: „Wir denken uns die Congregation der Theologen durch diese Stelle zu einem bescheidenen Gelächter gestimmt und halten es wider den Anstand, den gedrückten, 5

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Philipperbriefs hat zwar keine nennenswerte Gefolgschaft gefunden, aber die Leidensthematik spielt auch in neueren Auslegungen eine bedeutsame Rolle.8 Im deutschen Sprachraum sind es vor allem zwei Kommentare, die sich als verlässliche „Reiseführer“ bewährt haben, u. a. deshalb, weil sie zu jeweils ihrer Zeit so etwas wie einen weitgespannten Konsens (allerdings mit mehreren Optionen) wiedergeben. Joachim Gnilka arbeitete 1968 mit einem einfachen literarkritischen Modell,9 situierte den einen von zwei Briefen in der ephesinischen Gefangenschaft und identifizierte die Gegner von Kapitel 3 mit judenchristlichen „Häretikern“. Ulrich Müller dokumentiert 1993 mit seiner Entscheidung für die literarische Integrität den weiträumigen Umschwung der Forschungstrends; ähnlich wie Gnilka geht der Verfasser davon aus, dass der Brief aus Ephesus stammt und sich mit judaistischen, d. h. christlichen, Missionaren auseinander setzt.10 Beide Kommentare sind mittlerweile durch erhebliche Umbrüche in der Forschungslandschaft ein gutes Stück weit überholt: die Bereitstellung der philippischen Inschriften durch Peter Pilhofer11 und die sozialgeschichtlichen Ansätze der letzten beiden Dekaden.12 gedankenarmen Verfasser gegen seinen vornehmen Kritiker in Schutz zu nehmen“ (J. P. LANGE, Die Geschichte der Kirche, Erster Theil: Das Apostolische Zeitalter, Band 1, Braunschweig 1853, 132). 8 Vgl. N. W ALTER, Die Philipper und das Leiden. Aus den Anfängen einer heidenchristlichen Gemeinde, in: R. Schnackenburg / J. Ernst / J. Wanke (Hg.), Die Kirche des Anfangs (FS H. Schürmann), Freiburg i. Br. 1978, 417–443; DERS., Der Brief an die Philipper, in: ders. / E. Reinmuth / P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon, NTD 8/2, Göttingen 1998, 9–101; H. WOJTKOWIAK, Christologie und Ethik im Philipperbrief. Studien zur Handlungsorientierung einer frühchristlichen Gemeinde in paganer Umwelt, FRLANT 243, Göttingen 2012, 231–250.269–274.294–296. 9 Joachim Gnilka rechnet mit lediglich zwei Briefen: J. GNILKA, Der Philipperbrief, HThK 10/3, Freiburg i. Br. 1968 ( 41987), 10. 10 U. B. MÜLLER, Der Brief des Paulus an die Philipper, ThHK 11/1, Leipzig 22002. Müller hält den Philipperbrief für etwas später verfasst als den Galaterbrief (25). 11 P. P ILHOFER, Philippi, Band 2: Katalog der Inschriften von Philippi, WUNT 119, Tübingen 2000 (22009). Zu beachten ist die Erlanger Datenbank (http://www.phi lippoi.de/). – Die Erstauflage von Pilhofers Inschriftenausgabe hat von zünftiger Seite geharnischte Kritik gefunden: M. ZAHRNT, ThLZ 127 (2002), 621–623. Trotz mancher kritischer Punkte (worauf Pilhofer in der zweiten Auflage selber reagiert hat), ist die Ausgabe überaus nützlich; vgl. die Internet-Rezension der Zweitauflage durch F. DAUBNER : sehepunkte 10 (2010), Nr. 9 (http://www.sehepunkte.de/2010/ 09/17393.html) und meine seinerzeitige Besprechung: BZ 46 (2002), 149f. sowie J. B ARTELS, ByZ 95 (2002), 710f. – Korrigierend und vor allem ergänzend zu Pilhofer ist nun zu berücksichtigen die neue Inschriften-Sammlung von C. BRÉLAZ (Hg.), Corpus des inscriptions grecques et latines de Philippes, Tome II: La colonie romaine, Partie 1: La vie publique de la colonie, École française d’Athènes. Études épigraphiques 6, Paris 2014 (hier findet sich auch eine kritische Würdigung der Ausgabe Pilhofers, 27f.). 12 Zu letzteren siehe den Beitrag von Benjamin Schliesser in diesem Band.

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Nicht unerwähnt bleiben darf der feinsinnige knappe Kommentar von Nikolaus Walter (1998).13 Walter teilt einige Grundannahmen der jüngeren deutschsprachigen Exegese – der Entstehungsort ist Ephesus; der Philipperbrief ist aus drei Briefen zusammengesetzt. Anders als die beiden zuvor genannten Kommentare arbeitet Walter ein spezifisches thematisches Profil heraus – genauer ein ganzes Bündel an theologischen Themen14 – und richtet den Auslegungsfokus vor allem auf das Leiden, mit dem die heidenchristlichen Philipper konfrontiert sind. Wenden wir uns dem englischsprachigen Raum zu, so ragt aus dem 19. Jh. ein Klassiker heraus: die knappe Kommentierung des griechischen Philippertexts durch den Bischof von Durham, Joseph B. Lightfoot (1868).15 Auf engem Raum diskutiert der einflussreiche Gelehrte zahlreiche Interpretationsfragen, die er mit klugem Urteil zu entscheiden versteht. Der Philipperbrief selber wird früh in der römischen Gefangenschaft – wohl gemerkt: der ersten – platziert.16 Lightfoot versteht den Philipperbrief als „the least dogmatic of the Apostle’s letters“ (viii), ganz im Unterschied zum Galaterbrief, den er zuvor ausgelegt hat.17 Eben als rundweg normales, nichtdogmatisches Schreiben führt uns der Philipperbrief in das Innerste des Evangeliums;18 er schützt dieses vor einer moralistischen Engführung und stellt uns „a Person and a Life“ vor Augen. Von besonderem Interesse ist Lightfoot’s Kommentar aber durch mehrere Essays, die in lockerem Zusammenhang mit dem Philipperbrief stehen: Neben einer materialreichen Abhandlung zum „Christian Ministry“,19 angedockt an die WALTER, Philipper (s. Anm. 8). WALTER, Philipper (s. Anm. 8) 20–26. 15 J. B. LIGHTFOOT, St. Paul’s Epistle to the Philippians. A Revised Text with Introduction, Notes and Dissertations, London 1868. Der Kommentar ist vielfach aufgelegt und streckenweise aufdatiert worden; ich benütze die 8. Auflage von 1888. Dem Historiker und Exegeten hat ein gediegenes kleines Denkmal gesetzt C. K. B ARRETT, Joseph Barber Lightfoot as Biblical Commentator, in: ders., Jesus and the Word and other Essays, Edinburgh 1995, 15–34. 16 Die Besprechung von Lokalisierung und Datierung verbindet sich mit ausführlichen Erwägungen zur Geschichte des Urchristentums im neronischen Rom (LIGHTFOOT, Philippians [s. Anm. 15], 1–46). 17 Für Kommentatoren findet der Bischof ermunternde Worte: „The Epistle to the Philippians presents an easier task to an editor than almost any of St Paul’s Epistles. The readings are for the most part obvious; and only in a few passages does he meet with very serious difficulties of interpretation” (LIGHTFOOT, Philippians [s. Anm. 15], vii–viii). 18 „The Philippian Epistle may be taken to exhibit the normal type of the Apostle’s teaching, when not determined and limited by individual circumstances, and thus to present the essential substance of the Gospel. Dogmatic forms are the buttresses or the scaffold-poles of the building, not the building itself” (LIGHTFOOT, Philippians [s. Anm. 15], ix). 19 L IGHTFOOT, Philippians (s. Anm. 15), 181–269 samt der „additional note“ 349f. Zum Zusammenhang mit Lightfoots kirchlicher Wirksamkeit vgl. G. R. T RELOAR, Light13 14

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„Episkopen und Diakone“ von 1,2 und bereichert durch die intensive Pionierarbeit an den Apostolischen Vätern, findet sich eine systematische Untersuchung zum Verhältnis von Stoa und Urchristentum, zentriert um das Verhältnis von Seneca und Paulus.20 Das Urteil über die Stoiker, und zumal über Seneca, fällt gar nicht günstig aus; vor allem wird die Stoa als wirkungslos und solitär disqualifiziert; „it was a staff of professors without classes“ (319).21 Und geradezu stoisch wird ihre Resonanzschwäche auf eine falsche kognitive Annahme zurückgeführt, nämlich auf eine theologische Überzeugung: Der Pantheismus erweist sich als „the fundamental and invincible error of Stoic philosophy“ (319). Wir sind damit definitiv ins England des 19. Jh. zurückgekehrt, wo der Bischof das Evangelium gegen Materialismus, Pantheismus und Atheismus verteidigt.22 Aus Amerika liegen uns mehrere überaus verlässliche Wegführer für die Textlandschaft des Philipperbriefs vor. Zwei von ihnen lassen sich zusammen nennen, da sie einen „konservativen“ Standpunkt (was bei der Frage des Entstehungsorts die Entscheidung für Rom begünstigt) mit einem erheblichen Aufwand zur Besprechung meist klassischer exegetischer Fragen und Alternativen verbinden. Unser recht kurzer Brief mit seinen acht oder neun Nestle-Seiten schlägt deshalb mit jeweils mehr als 500 oder sogar 600 Kommentarseiten zu Buche! Peter T. O’Brien (1994), dem wir auch eine wertvolle Monographie zum Formular der paulinischen „Thanksgivings“ verdanken, legt eine Interpretation vor, die in mustergültiger Weise die jeweiligen Auslegungsoptionen referiert, um dann in sachtem Abwägen eine Entscheidung zu fällen.23 Ähnliches gilt für den Komfoot the Historian. The Nature and Role of History in the Life and Thought of J. B. Lightfoot (1828–1884) as Churchman and Scholar, WUNT II/103, Tübingen 1998, 200–209. Zu Lightfoots Auseinandersetzung mit F. C. Baur und seiner Schule vgl. M. HENGEL, Bischof Lightfoot und die Tübinger Schule, in: ders., Theologische, historische und biographische Skizzen. Kleine Schriften VII, WUNT 253, Tübingen 2010, 448–479. 20 L IGHTFOOT, Philippians (s. Anm. 15), 270–328: „St Paul and Seneca“, ergänzt durch eine Untersuchung zum apokryphen Briefwechsel (329–333). Zur Frage stoischer Modelle und ihrem Stellenwert speziell für den Philipperbrief vgl. Troels EngbergPedersen in diesem Band. Es ist augenfällig, wie sich Engberg-Pedersens differenzierte Komparatistik weit von den doch recht groben Schematismen Lightfoots entfernt hat. Zur unterschiedlichen Einschätzung speziell der Freude als Emotion im Philipperbrief und in der Stoa vgl. Petra von Gemünden in diesem Band. 21 Vgl. LIGHTFOOT, Philippians (s. Anm. 15), 322: „It took a firm hold on a few solitary spirits, but it was wholly powerless with the masses.“ Der Schlusssatz lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Its noblest branches bore neither flowers nor fruit, because there was no parent stem from which they could draw fresh sap“ (328). 22 Vgl. dazu TRELOAR, Lightfoot the Historian (s. Anm. 19), 126–128. 23 P. T. O’BRIEN, The Epistle to the Philippians. A Commentary on the Greek Text, NIGTC, Grand Rapids 1991; DERS., Introductory Thanksgivings in the Letters of Paul, NT.S 49, Leiden 1977.

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mentar von Gordon D. Fee (1995), der im Vorwort seine Leserschaft sogar vorwarnen zu müssen glaubt, „that there is nothing new“.24 Ihnen beiden an die Seite zu stellen ist die Auslegung von Gerald F. Hawthorne (1983), die von Ralph P. Martin, dem Historiographen der Forschung zum „Carmen Christi“, entsagungsvoll überarbeitet worden ist (2004).25 Der Philipperbrief wird hier in Caesarea (Hawthorne) oder Ephesus (Martin) verortet. So informativ wie anregend nimmt sich der recht knapp gehaltene Kommentar von Markus Bockmuehl aus (1998).26 Sein Verfasser berücksichtigt nicht nur die neueren Forschungen zum spezifischen Charakter der römischen Kolonie Philippi, sondern verbindet ein dezidiert theologisches Interesse27 mit der Aufmerksamkeit für wirkungsgeschichtliche Dimensionen. Für mich ist diese exzellente Auslegung bis heute meist die erste Adresse, zu deren Konsultation ich Interessierte und Studierende ermuntere.28 Das Gegenstück zu diesem Musterstück an Verdichtung ist der monumentale Kommentar von John Reumann (2008).29 Sein Verfasser ist über der Arbeit an unserem Brief verstorben; man merkt es der ehrfurchtgebietenden Auslegung an, dass sie ihre finale Form nicht mehr finden konnte. Auf den über 800 Seiten, nur etwa der Hälfte des ursprünglichen Umfangs (!), ist eine geradezu unglaubliche Fülle von Material erfasst worden; auch nicht-englischsprachige Literatur und breite Massen antiker Texte werden detailliert berücksichtigt. Leserlenkung und auktoriale Entscheidungen verlieren sich im Labyrinth von Notizen und Textbausteinen, dazu kommen zahllose störende Druckfehler. Wer sich aber, gerade als nachgeborener Ausleger, aufmacht, in diesen ressourcenreichen Steinbruch einzudringen, bekommt erschöpfend Auskunft über nahezu alle Aspekte der Auslegungsprobleme unseres Briefs.30 Mit der Entscheidung für ein relativ komG. D. FEE, Paul’s Letter to the Philippians, NICNT, Grand Rapids 1995, xii. G. HAWTHORNE / R. P. MARTIN, Philippians, WBC 43, Nashville 2004. R. P. MARTIN, Carmen Christi. Philippians 2:5–11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship, MSSNTS 4, Cambridge 1967 (21983); die dritte Auflage erschien unter dem Titel A Hymn of Christ. Philippians 2:5–11 in Recent Interpretation and in the Setting of Early Christian Worship, Downers Grove 1997. 26 M. B OCKMUEHL, The Epistle to the Philippians, BNTC, London 1998. 27 Vgl. B OCKMUEHL, Philippians (s. Anm. 26), 40: „Certain recent specialist accounts of Philippians are in danger of losing sight of the fact that Paul’s own account of his relationship with his addressees is emphatically theological and christological from beginning to end.“ 28 Platziert wird der Briefautor in Rom – unter den zur Verfügung stehenden schlechten Optionen die beste (B OCKMUEHL, Philippians [s. Anm. 26], 32). 29 J. REUMANN, Philippians. A New Translation with Introduction and Commentary, AncB 33B, New Haven 2008. Vgl. dazu die Rezension von J. D. G. DUNN, RBL 08/2009: http://www.bookreviews.org/pdf/6946_7526.pdf 30 Reumann lokalisiert Teile des Philipperbriefs in Ephesus (REUMANN, Philippians [s. Anm. 29], 3.16f.). 24

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pliziertes literarkritisches Modell samt einer späteren Redaktion in Philippi sowie mit der These, dass es sich beim Christus-Enkomion um ein von den Philippern selber produziertes Textstück handelt,31 steht der Kommentar etwas isoliert in der jüngeren Auslegungslandschaft.

3 Wegkreuzungen und Wegscheiden Im Folgenden versuche ich, einige methodologische Pflöcke für meine projektierte Kommentierung des Philipperbriefs im Rahmen des Evangelisch-Katholischen Kommentars (EKK) einzuschlagen. Nur kurz halten wir uns bei den Standardoptionen auf. Die Attraktivität literarkritischer Operationen hat in den letzten Dekaden spürbar abgenommen – womöglich so stark, dass man geradezu eine Trendwende wieder hin zu einem Revival von Teilungshypothesen prognostizieren darf. Bei den Paulusbriefen drängen sich literarkritische Dekonstruktionen m. E. nur beim 2. Korintherbrief auf. In jedem Fall sollte man anstelle von komplizierten Verschachtelungshypothesen einfache, ‚parataktische‘ Modelle privilegieren. Bei den Problemen, die etwa der 1. Korintherbrief oder eben der Philipperbrief aufwerfen, ist man – anstatt mit Kanonen auf Spatzen zu schießen – besser beraten, andere Lösungen zu suchen: Literarkritische Modelle sind wissenschaftsökonomisch recht aufwendig; die Beweislast liegt ganz eindeutig bei den Verfechtern einer Teilungshypothese, nicht bei den Vertretern der literarischen Integrität. Bei einem Gefangenschaftsbrief kommen zudem Kontingenzen bzw. Unwägbarkeiten besonderer Art hinzu, die längst aus dem uns erschließbaren Ereignishorizont verschwunden sind. Selbst Verlegenheitsauskünfte wie die früher gern beschworenen Diktierpausen, neuen Nachrichten oder schlaflosen Nächte sind im Einzelfall das kleinere Übel im Vergleich mit redaktionellen Manipulationen in der sehr frühen Überlieferungsgeschichte. Wie immer der Kommentator sich entscheiden wird: Seine Auslegung hat dem Philipperbrief als integer überliefertem Text gerecht zu werden und ihn auf dieser Ebene verständlich zu machen. Die Entscheidungen hinsichtlich der Entstehungsumstände des Philipperbriefs, speziell bei der Fixierung von Ort und Zeit, verlangen dem Aus31 Vgl. REUMANN, Philippians (s. Anm. 29), 333: „Our working theory: Paul employs in vv. 6–11 an encomium the Philippians had worked out to use in mission proclamation about Christ and God in their Greco-Roman world“ (vgl. 362–365). Die Hypothese geht zurück auf W. SCHENK, Die Philipperbriefe des Paulus. Kommentar, Stuttgart 1984, 175 u. ö. („Herkunft dieses Stückes aus der philippischen Gemeinde […], das Paulus kommentiert und zur verstärkenden Begründung seiner gemeindeinternen Mahnungen an sie zurückschickt“).

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leger besondere Sensibilität ab, muss er doch die Briefsituation gleichsam multilateral zum Leben erwecken statt sich auf eine einzige Option zu fixieren. Von den bekannten drei Möglichkeiten einer Gefangenschaft – Ephesus, Caesarea und Rom – darf man die mittlere wohl ausscheiden oder vorderhand deaktivieren. Entscheidet man sich für die ephesinische Hypothese, kauft man sich gleich mehrere Vorteile ein. Der Philipperbrief ließe sich in naher zeitlicher – und damit auch ein gutes Stück weit in thematischer – Nachbarschaft zum 2. Korintherbrief einerseits, zum Galaterbrief andrerseits lesen (letzterer käme vor allem dem Verständnis von Kapitel 3 zugute). Dazu kommt die besondere Nähe zum Philemonbrief, bei dem starke Argumente für eine Abfassung in Ephesus sprechen. Andrerseits ist die Ephesus-Hypothese mit dem schwer wiegenden Nachteil befrachtet, dass sie die entsprechende Gefangenschaft postulieren muss; die von 2Kor 1,8–10 gebotenen Indizien sind wenig belastungsfähig. Setzt man auf die (oder: eine) römische Gefangenschaft, nimmt man zwar einige Nachteile in Kauf.32 Vor allem die Logistik macht Probleme, nämlich die vorauszusetzenden längeren Reisewege. Im Gegenzug ist der spezielle Mobilitätsstatus der Stadt Rom ins Feld zu führen. Vor allem aber eröffnen sich dem Interpreten ausgesprochen attraktive Perspektiven.33 Die Allianz mit der altchristlichen Tradition ist dabei noch das Geringste. Viel bedeutsamer ist der Sachverhalt, dass wir im Philipperbrief den letzten erhaltenen Paulusbrief zu erkennen hätten, dem dann nahezu ein testamentarischer Charakter zukäme.34 Die Wahrnehmung eines spezifischen Profils von Romanitas und, damit verbunden, einer impliziten politischen Theologie würde durch diese Lokalisierung markant verstärkt. Bei der Identifizierung von theologischen Akzentverschiebungen oder sogar „Wandlungen“ wäre allerdings Zurückhaltung geboten. Eine von 1,20–23 her denkbare Individualisierung bzw. Hellenisierung der Eschatologie würde von 3,11.20f. mehr als genug konterkariert – natürlich nur im Fall literarischer Einheitlichkeit. Aber auch der umgekehrte Schluss ist nicht zulässig: Die äußerst negative Stellungnahme zum Sein unter dem Gesetz und der ihr entsprechenden Gerechtigkeit sowie zu den Würdetiteln jüdischer Frömmigkeit in Kapitel 3 deutet nicht notwendig auf eine Position, die sich noch nicht zu der reiferen und ausgewogeneren des Römerbriefs gewandelt hätte, die ja Siehe den Beitrag von Heike Omerzu in diesem Band. Zu einigen interessanten Aspekten der römischen Hypothese vgl. H. D. BETZ, Der Apostel Paulus in Rom, Berlin 2013; DERS., Studies in Paul’s Letter to the Philippians, WUNT 343, Tübingen 2015. 34 Das Kennzeichen des Testaments wird sonst bekanntlich gern dem Römerbrief attestiert, so etwa bei G. BORNKAMM , The Letter to the Romans as Paul’s Last Will and Testament (1963), K. P. Donfried (Hg.), The Romans Debate. Revised and Expanded Edition, Peabody 1991, 16–28. Dt. in: ders., Glaube und Geschichte II, Gesammelte Aufsätze IV, BEvTh 53, München 1971, 120–139. 32 33

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besonders in den Kapiteln 9–11 erkennbar wird. Dabei bliebe nicht nur die briefliche Kontextualisierung unterbestimmt,35 sondern es würde auch die fast nicht mehr überbietbare Negativität von Aussagen wie Röm 5,20; 7,22–24 ausgeblendet. Fazit: Beide Hypothesen, die ephesinische wie die römische, offerieren ihren Verfechtern attraktive Auslegungsperspektiven. An Verführungskraft scheint mir die römische sogar deutlich oben aus zu schwingen. Umso mehr weiß sich der besonnene Kommentator seinem Dienstideal verpflichtet und wird beiden Verortungen Gerechtigkeit widerfahren lassen. Denn um diesen einen Vorteil wird er sich nicht bringen lassen: Er hat sich zwar für eine Option zu entscheiden, aber er braucht sein Haus nicht auf diesem abschüssigen Boden zu bauen. Andere methodische Instrumente brauchen wir hier nur gerade zu streifen. Für die textanalytische Arbeit am Philipperbrief bietet der Kommentar von Wolfgang Schenk eine gute Grundlage – und noch mehr eine Herausforderung.36 Diese eigenwillige und auf weite Strecken hin sogar idiosynkratische Auslegung wirft genau dort am meisten Gewinn ab, wo man ihr dezidiert entgegentritt. Komplizierter ist es um den rhetorical criticism bestellt. Gerade was dieser meist hochgemut zu überfliegen pflegt, will zuallererst sorgfältig beachtet sein: der ornatus, also Tropen und Figuren. Bei der „höheren“ Kritik ist demgegenüber Zurückhaltung geboten, da die Verhältnisbestimmung von Rede und Brief, von Rhetorik und Epistolographie bekanntlich mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist. Vor allem wird man sich hüten müssen vor der Suggestivkraft einer Supertheorie, die die literarischen Spannungen im Briefaufbau einer ingeniösen Redearchitektur bzw. -strategie zuschreiben will. An diesem Punkt haben die patristischen Interpretationen, auf die wir unten noch zu sprechen kommen, eine wichtige korrektive Funktion. Man darf von den griechischen und später auch lateinischen Vätern, die selber in der rhetorischen Kultur ihrer Zeit, zumal der Zweiten Sophistik, aufgewachsen sind, erwarten, dass sie ein besonders aufmerksames Auge für die Rhetorik der biblischen Texte haben,37 auch gerade dort, wo diese nicht schulkonform ausfällt. Gegenüber den Gebildeten unter den Verächtern der Bibel stehen die Theologen ja unter enormem apologetischem Druck. Es spricht nicht für ein artifizielles rhetorisches Theoriemodell, wenn die antiken Leser nichts von seiner verborgenen Präsenz bemerkt haben sollten und, frei nach Dan 12,4.9, die Siegel erst in der Spätmoderne gebrochen werden. Vgl. Omerzu (oben Anm. 32) im Anschluss an M. Gielen. SCHENK, Philipperbriefe (s. Anm. 31). 37 Vgl. dazu meinen Aufsatz: S. VOLLENWEIDER , „Archetyp der Vollkommenheit“. Die Lebenswende des Paulus nach der patristischen Lektüre von Phil 3. Ancient Perspectives im Gespräch mit der New Perspective, in: T. Nicklas / A. Merkt / J. Verheyden (Hg.), Ancient Perspectives on Paul, NTOA 102, Göttingen 2013, 11–29 (14f.). 35 36

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4 Erinnerungen an die Zukunft Eine besondere Herausforderung stellt der Einbezug wirkungsgeschichtlicher Dimensionen dar, wie er im Profil des Evangelisch-Katholischen Kommentars (EKK) angelegt ist. Die Wirkungsgeschichte sollte in den 1960er Jahren das ökumenische Programm dieses Kommentarwerks untermauern: Als Spiegel, der die historische Tiefe erschließt, diente sie der Selbstreflexion des Exegeten auf seine eigene geschichtlich vermittelte Auslegungsposition. Die bisher erschienenen Bände zeigen, wie verschiedenartig der entsprechende Werkzeugkasten eingesetzt werden kann; die Spannweite reicht vom schmalen und entbehrlichen Appendix bis zum anspruchsvollen rezeptionsästhetischen Interpretationsschlüssel. Gibt man als Ausleger dem Proprium des EKK entsprechenden Raum, so hat man nicht nur breite Bestände von Texten und Bildern zu dokumentieren, sondern sieht sich auch vor den Anspruch einer wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik gestellt.38 Rückenwind verleiht der geradezu epochale Aufschwung der Rezeptionsgeschichte im Horizont kulturwissenschaftlicher Perspektiven. Ich beschränke mich im Folgenden auf drei augenfällige Aspekte.39 Erstens: Handwerklich sieht man sich zunächst dem Vorwurf mangelnder Professionalität ausgesetzt: Der Neutestamentler ist üblicherweise mit den einschlägigen Disziplinen nicht hinreichend vertraut – Kirchengeschichte von der Antike bis in die Gegenwart, Kunstgeschichte, verschiedene Philologien, Literatur-, Musik- und Medienwissenschaften, usw. Dieser Mangel wird ein Stück weit wettgemacht durch die Lizenz zum Freibeutertum: Der Ausleger folgt in diesem immer noch weithin unerschlossenen Terrain denjenigen Spuren, die sich ihm einmal durch seinen Bibeltext selber, sodann durch zufällige Datenbahnen und schließlich aufgrund seiner eigenen Neigungen anbieten. Zweitens: Methodisch schwieriger ist es bestellt um die hermeneutische Zuordnung der im Ansatz historisch-kritisch verfahrenden Interpretation zum rezeptionsgeschichtlichen Zugriff. Am einfachsten ist das ‚parataktische‘ Modell, bei dem die selektiv entfaltete Wirkungsgeschichte lediglich eine mehr oder weniger interessierende Zugabe bildet. Das zuvor erarbeitete Textverständnis bleibt davon weitgehend unberührt; die Auslegungsgeschichte bietet bestenfalls ein Sammelsurium von glücklichen und weniVgl. den Versuch zu einer kontextuellen europäischen Hermeneutik von U. LUZ, Theologische Hermeneutik des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2014, hier besonders 397–409 zur wirkungsgeschichtlichen Hermeneutik unter der Überschrift „Im Gespräch mit philosophischen Vätern: Die Entthronung des deutenden Subjekts und die Wirkungsgeschichte“. 39 Zum Einbezug der „Effective History“ gerade für den Philipperbrief vgl. M. B OCKMUEHL, A Commentator’s Approach to the „Effective History“ of Philippians, JSNT 60 (1995), 57–88. 38

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ger glücklichen Deutungen. Häufig lässt sich den letzteren ein gewisser Unterhaltungswert nicht absprechen. Die Wirkungsgeschichte zeigt dann primär, wie man es nicht machen soll. Interessanter ist das ‚hypotaktische‘ Vorgehen aufgrund der reflexiven Rückkoppelung von Rezeptionsgeschichte und Interpretation. Sowohl die Position des Auslegers wie seine an den Text adressierten Fragen werden ihrerseits wirkungsgeschichtlich lokalisiert und damit relativiert. Auch wenn es sich nahelegt, die Wirkungsgeschichte aus leseökonomischen Gründen jeweils am Schluss eines Abschnitts zu platzieren, könnte sie die gesamte Auslegung ein gutes Stück weit steuern. Allerdings darf man die Latte hier nicht zu hoch hängen: Es sind oft nicht die vorfindlichen, erhaltenen Textauslegungen anderer Zeiten, die dem modernen Interpreten unbewusst oder bewusst die Fährten weisen, sondern sein – auch historisch gewordenes – Gesamtverständnis der biblischen Botschaft. Konkret: Den kontingenten ‚Ort‘ des Kommentators bestimmen meist nicht spezifische Auslegungen von Texten des Philipperbriefs, sondern ganz generell sein Paulusbild und sein Wahrheitsideal.40 Drittens: Briefe sind wahrscheinlich noch stärker als die anderen biblischen Textgattungen selektiv rezipiert worden. So sind die Spuren von Zitaten und Anspielungen auf Kapitel und Verse des Philipperbriefs streckenweise markant dicht, streckenweise aber ausgesprochen spärlich. Dies zeigt schon ein kurzer Blick in die Indizes der Biblia Patristica.41 Neben der unvergleichlichen Kumulation für 2,5–11 verzeichnet das gesamte Kapitel 3 zahlreiche impacts; in Kapitel 1 sind es immerhin V. 21–26 (Leben und Sterben), in Kapitel 4 V. 7 (der Gottesfriede) und V. 13 (Gott oder Christus als Kraftspender), die stärker beachtet wurden. Wie nicht anders zu erwarten fallen die Passagen, die vornehmlich der brieflichen Korrespondenz dienen und keine theologisch-spirituellen Themen bearbeiten, demgegenüber deutlich zurück. Beim sogenannten Christushymnus selber gelangt der Ausleger nur zu schnell an seine geschöpflichen Grenzen, zumal auch spezielle Monographien, die etwa die Rezeption von 2,5–11 bei einem einzelnen Autor oder in einer bestimmten Zeit untersuchen, dünn gesät sind. Anhand dieses Basistexts, der von der „Gottesgestalt“ und der 40 Zur Verortung der jeweiligen Paulusbilder vgl. meinen Aufsatz: Paulus zwischen Exegese und Wirkungsgeschichte, in: M. Mayordomo (Hg.), Die prägende Kraft der Texte. Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. Ein Symposium zu Ehren von U. Luz, SBS 199, Stuttgart 2005, 142–159. 41 Zu Lücken und Tücken der Biblia Patristica, soweit deren Bände publiziert worden sind, sowie zur darauf aufbauenden digitalen Datenbank (www.biblindex.mom.fr) vgl. A. MERKT, Novum Testamentum Patristicum. Ein Projekt zur Erschließung der Rezeption des Neuen Testamentes in frühchristlicher und spätantiker Zeit, Sacra Scripta 10/1 (2012), 15–38 (17f.) sowie den Beitrag von Tobias Nicklas zur Frage von sehr frühen Rezeptionsspuren in ‚mystischem‘ bzw. ‚gnostischem‘ Milieu in diesem Band.

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„Knechtsgestalt“ spricht, ließe sich im Grund die gesamte Entwicklung der altkirchlichen Zweinaturenchristologie rekonstruieren. Auch die altprotestantische Christologie mit ihrer Unterscheidung zwischen dem status exinanitionis und dem status exaltationis steht ganz im Gravitationsfeld des Christuslobs; dies gilt in besonderem Ausmaß für die lutherische Orthodoxie. Folgt man den Spuren der Wirkungsgeschichte, so verdienen die häufigen intertextuellen Links von Passagen des einen Briefs mit solchen anderer Briefe besondere Aufmerksamkeit: Sie zeigen, wie sich Texte gegenseitig anziehen und interpretieren. Dies ist etwa der Fall bei der Kombination von Phil 1,23 und 2Kor 5,6–8, also bei der individualeschatologischen Christusgemeinschaft.

5 Reale und virtuelle Leserschaften Das Profil des Zielpublikums biblischer Auslegungen hat sich in jüngerer Zeit erheblich verändert. Dazu trägt nicht nur der kirchliche Gletscherschwund im deutschsprachigen Mitteleuropa bei, sondern noch mehr der erhebliche Umbruch in der Lese- und Schreibkultur, die die digitale Revolution entfesselt hat. Voluminöse Kommentare zählen nicht mehr zum Grundbestand von Pfarrerbibliotheken; selbst in akademischen Szenen gelingt es weithin nicht mehr, die Informationsfülle eines detaillierten Kommentarwerks wirklich auszuschöpfen. Trotzdem ist ein großer Kommentar nicht einfach das Werk eines Spezialisten für andere Spezialisten, sozusagen l’art pour l’art. Er bleibt die hoffentlich ergiebige Adresse für Tiefenbohrungen, auf die von Fall zu Fall nicht nur Fachkollegen und Universitätsangehörige, sondern Funktionsträger in Kirche und Bildungswesen angewiesen sind. Der Evangelisch-Katholische Kommentar spielt dabei einen nach wie vor entscheidenden Vorteil aus: seine programmatische Ökumenizität, jedenfalls zwischen römisch-katholischer und protestantischer Konfession. Handwerklich wird seine Ökumenizität durch das Arbeitsmodell der Syzygie gesichert: Das von einer Verfasserin oder einem Verfasser vorgelegte Skript wird von einer Kollegin oder einem Kollegen der jeweils anderen Konfession gegengelesen; es besteht dabei das grundsätzliche Recht, ein entsprechendes Votum in den Kommentartext selber einfliessen zu lassen.42 Abgesehen von der speziellen konfessionellen Profilierung dieser Kommentarreihe hat sich der Ausleger mit ganz grundsätzlichen Fragen Faktisch ist dies bisher nur einmal geschehen, nämlich bei der Auslegung von Eph 4 durch R. SCHNACKENBURG, Der Brief an die Epheser, EKK 10, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1982, die den reformierten Syzygos E. Schweizer zu einer kritischen „Anmerkung des evangelischen Partners“ veranlasst hat (S. 195f.). 42

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des Bildungsstands seiner mutmaßlichen Leserschaft auseinanderzusetzen. Man darf weder mit biblischem Grundwissen noch mit humanistischaltsprachlicher Kompetenz rechnen. Die veränderte Großwetterlage in kultureller Formation wie in religiöser Orientierung, die wir unter dem Etikett der „späten Moderne“ begreifen, spielt besonders auch in der „Zusammenfassung“ der Auslegung, die in vielen Kommentarwerken die Analyse und die Vers für Vers erfolgende Erklärung bilanziert, eine entscheidende Rolle. Für meinen Teil suche ich einen Weg zu wählen, der sich dem Ideal des Schriftgelehrten, der ein „Jünger des Himmelreichs“ geworden ist, angleicht (Mt 13,52): dem „Hausherrn, der Neues und Altes aus seiner Schatzkammer hervorholt“. Die Auslegung sollte versuchen, zwei Perspektiven miteinander in Wechselwirkung zu bringen: eine moderne kulturwissenschaftliche Fragestellung und, gegenläufig dazu, eine dezidiert hermeneutisch-theologische, durchaus altmodische Sichtweise, die es ernst nimmt, dass die Bibeltexte ihre Rezipienten mit der Wirklichkeit Gottes konfrontieren wollen.43

6 Eine Designvision Wir beschliessen unsere Tour d’horizon rund um den Philipperbrief mit einem Ausblicken auf vier verheissungsvolle Auslegungsräume. 1. Es gilt heute als state of the art, sich vor einer Falle zu hüten, die etwa im 20. Jh. so manche Debatten erzeugt hat: dem angeblichen Grabenbruch zwischen Hellenismus und Judentum. An die Stelle der älteren genealogischen Ableitung neutestamentlicher Motive und Denkfiguren, die sich oft auf Alternativen versteift hat, ist weitherum eine im Ansatz kulturwissenschaftliche Horizonterweiterung getreten, die mit der Koexistenz wechselwirkender kultureller Felder rechnet.44 Den Philipperbrief beyond the Judaism/Hellenism divide auszulegen,45 heisst dann, von vornherein simultan mit den bewährten Analysemitteln zur Identifizierung ‚hellenistischer‘ wie ‚biblisch-jüdischer‘ Textbausteine und Komplexe zu arbeiten. 43 Vgl. dazu meine Überlegungen: Heilvolle Wende? Exegese im Zeichen der Kulturwissenschaften, in: P. Lampe / M. Mayordomo / M. Sato (Hg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog. Hermeneutik – Wirkungsgeschichte – Matthäusevangelium (FS U. Luz), Neukirchen-Vluyn 2008, 111–120. 44 Zum entsprechenden „Paradigma der als fluides Netzwerk interpretierten Wissensordnungen“ vgl. Christoph Markschies in diesem Band. 45 Es ist das Verdienst von T. Engberg-Pedersen, diesen Paradigmenwechsel programmatisch dokumentiert zu haben: T. E NGBERG-PEDERSEN (Hg.), Paul Beyond the Judaism/Hellenism Divide, Louisville 2001. Speziell im Blick auf den Philipperbrief rät Engberg-Pedersen im vorliegenden Band dazu, die Kontrastierung von „Apokalyptik“ und „Philosophie“ zu überwinden.

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Für unseren Briefverfasser als „Bürger zweier Welten“ ist das schon im Ansatz sinnvoll, gerade auch für Phil: Paulus’ Hoffnung auf eine postmortale Existenz „mit Christus“ (1,21–26) kombiniert Elemente des hellenistischen Pessimismus und der platonischen Metaphysik mit solchen der Psalmenfrömmigkeit, der jüdisch-apokalyptischen Eschatologie und (vielleicht) der Märtyrerhoffnung. Beim Christuslob (2,5–11), stamme es nun vom Apostel selber oder aus den für ihn massgeblichen Traditionsbeständen, weist allein schon die Anspielung auf die monotheistische Spitzenaussage von Jes 45,23 auf judenchristliche Reflexion zurück, zusammen mit dem biblischen Schema von Erniedrigung und Erhöhung (Lk 14,11 parr.). Umgekehrt spiegeln die epiphaniale Motivik und möglicherweise die mit Divinisation einhergehende Erhöhung auch hellenistisch-römische Vorstellungen. Beim himmlischen Gemeinwesen (3,20f.), zusammen mit dem Hervortreten des Heilands, kommt man vollends mit monokulturellen Ableitungen nicht mehr durch. Anders steht es mit den Adressaten des Schreibens: Auf Seiten der Philipper rückt der hellenistische bzw. römische Kontext in den Vordergrund, so sehr sich die junge Christengemeinde auch in die „Schriften“, in die Septuaginta, vertieft haben mag. Der mit anderen Briefen verglichen schwache Rückbezug auf Tora und Propheten, ein typisches Merkmal des Philipperbriefs, könnte damit zusammenhängen, zumal wir in der makedonischen Stadt auch nicht mit nennenswerten jüdischen Vorgaben rechnen können. Diese spezielle Konstellation der Empfänger verändert aber das Geschäft der Auslegung des Philipperbriefs nicht grundlegend, da man methodisch gut beraten ist, den Pol der Produktion, also des Briefautors, gegenüber demjenigen der Rezeption, den Briefadressaten, zu privilegieren. Das ‚multikulturelle‘ Paradigma muss sich aber an einem anderen Ort einschränken lassen: Wer grossherzig den Inklusionen huldigt, verspielt manchmal ohne Not die Trennschärfe, die die ältere Motiv- und Religionsgeschichte ausgezeichnet hat. Fernerliegende hellenistische oder römische Analogien spielen oft keine nennenswerte Rolle für das Verständnis unserer Texte; kommt man beim Auslegungsgeschäft mit Biblisch-Jüdischem gut aus, braucht man die anderen Optionen nicht eigens zu berücksichtigen. Exklusionen haben deshalb ihr bleibendes Recht im wissenschaftlichen Verfahren. Dies gilt es gerade bei neueren sozialgeschichtlichen Hypothesen etwa zu sehr spezifischen Sonderformen von Vereinen oder von Patronatsformen im Blick zu haben. Das allenfalls auch noch Mögliche ist nicht immer das Wahrscheinliche. 2. Damit haben wir einen weiteren Brennpunkt moderner Interpretationen unseres Briefs angesprochen: Ist es möglich, dem Philipperbrief eine Sonderstellung zuzuschreiben in dem Punkt, dass er in besonderer Weise ein Bewusstsein um „Romanitas“ zum Ausdruck bringt? Die Aufmerksamkeit für den spezifischen sozioökonomischen Hintergrund der philippi-

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schen Gemeinde hat in den letzten Jahrzehnten enorm zugenommen:46 Der Status der Stadt als Colonia Iulia Augusta Philippensis geht mit einer Vielzahl von politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Parametern einher, die möglicherweise auch das Selbstverständnis und das Innenleben der christlichen Gemeinschaft bestimmten und die wir bei den anderen von Paulus angeschriebenen Gemeinden so nicht voraussetzen können. Der Überblick von Benjamin Schliesser47 stellt – neben dem mehr topischgenerellen Freundschaftsparadigma – insbesondere das Rechtsinstitut der konsensualen societas, das Benefizialwesen, das Patronatswesen samt der Vermittlungspraxis des Brokers und schließlich translokale Profile reichsrömischer Vereine vor Augen. Nun ist es schwer vorstellbar, dass der erfolgreiche Missionar nicht in sehr gezielter Weise auf das distinkte kulturelle Setting seiner Adressaten eingeht und das Evangelium in diesem Kontext artikuliert. Wir dürfen dem römischen Bürger Paulus auch ein nennenswertes Bewusstsein für Belange römischer Ethnizität zuschreiben. Anders wäre sein kühner Plan, im weitgehend lateinischen Spanien ein Missionswerk aufzubauen, nicht vorstellbar. Sodann ist davon auszugehen, dass römische Werte und Normen für die philippischen Christen, die mit überwiegender Mehrheit den Griechen, und hier der städtischen Unter- und Mittelschicht, etwa den Gewerbetreibenden, zuzurechnen sind, eine enorme Orientierungsfunktion hatten.48 Die in neueren Arbeiten fokussierten Bezugsfelder gehen aber weit über solche sehr allgemeinen und eigentlich selbstverständlichen Kontextualisierungen hinaus: Man bemüht äusserst spezifische und teilweise nur entlegen dokumentierte Sozial- und Rechtsmuster, die die paulinische Argumentation hintergründig steuern sollen. Ich bin sehr zurückhaltend gegenüber dem Versuch, dem Philipperbrief einen Sonderstatus gegenüber den anderen Briefen zuzuschreiben. Seine Argumentationsstrategien und seine Handlungsdirektiven sind nicht so grundlegend anders als das, was uns etwa die Korintherkorrespondenz vor Augen stellt. Dies gilt neben den politischen und sozialen Strukturen, die die Architektur der paulinischen Ekklesiologie bestimmen – und wozu ganz unbestreitbar gerade Elemente des Vereinswesens zählen –,49 auch 46 Von großem Einfluss war hier insbesondere das Werk von P. P ILHOFER, Philippi, Band 1: Die erste christliche Gemeinde Europas, WUNT 87, Tübingen 1995. Zeitgleich ist erschienen: L. BORMANN, Philippi. Stadt und Christengemeinde zur Zeit des Paulus, NT.S 78, Leiden 1995. Eva Ebel arbeitet in diesem Band insbesondere für das Politeuma von Phil 3,20 sowohl Gewicht wie Grenzen des römischen Hintergrunds heraus. 47 Hier in diesem Band. 48 Die Monographie von Peter Oakes hat diese Zusammenhänge eindrücklich vorgeführt: P. OAKES, Philippians. From People to Letter, MSSNTS 110, Cambridge 2001. Das Buch geht auf eine Oxforder Dissertation von 1995 zurück; erstmals vorgestellt TynB 47.2 (1996), 371–374. 49 Vgl. speziell zum Philipperbrief den Beitrag von Markus Öhler in diesem Band.

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generell für den Bereich des Orientierungswissens: Wo der Philipperbrief römische Werte und Normen artikuliert, handelt es eher um eine Verstärkung von kulturellen Standards, die für die gesamte östliche Mittelmeerwelt charakteristisch sind. Die Kategorien von Ehre und Schande, von Prestige und von sozialem Status, erfahren durch das römische Setting eine Intensivierung, die eine aufmerksame Auslegung des Philipperbriefs herausarbeiten vermag. 3. Der Fokus auf shame and honour erlaubt es nun in der Tat, eine Eigenart unseres Briefs herauszustellen, die ihn charakteristisch von den anderen uns erhaltenen authentischen Paulusbriefen abhebt: die auffallend starke Präsenz von panegyrischen bzw. epideiktischen Formelementen. Der Brief als ganzer ist zwar nicht dem – epistolographisch durchaus möglichen – epideiktischen Genus zuzuschlagen, arbeitet aber vielfach mit den Figuren von Lob und Tadel bzw. Ehre und Schande. Prominent ragt natürlich heraus das Christuslob in Phil 2,5–11 mit dem Kontrast zwischen Erniedrigung und Erhöhung, jeweils mit den Extrempunkten von schändlicher Kreuzigung und ausgezeichneter Huldigung durch die Wesen aller Welten. Zu nennen sind sodann diejenigen Passagen, wo ein Exemplum christusförmiger Existenz im Dienst an den Gemeinden präsentiert wird: Timotheus (2,19–24) und Epaphroditus (2,25–30).50 Dies gilt namentlich auch für den Apostel selber, der sich in verdichteter Form zum Objekt von Tadel und Lob macht und folgerichtig zu seiner Nachahmung aufruft (Kap. 3):51 negativ im Verfolgen „eigener Gerechtigkeit“, positiv im Erweis der „Glaubensgerechtigkeit“. Der Seite des Tadels, hier ins nahezu Unermessliche gesteigert, sind auch die Gegner zuzuordnen (V. 2.18f.), im Kontrast zu den Christusgläubigen (V. 3.20). Epikdeiktische Elemente finden sich auch in den übrigen Partien des Briefs.52 Darunter fällt insbesondere die Imagination des „Lobs am jüngsten Tag“: Der Erwartung einer Ehrung vor dem himmlischen Forum schreibt Paulus nicht nur für sich selber, sondern auch für seine Gemeinden eine enorme Motivationskraft zu.53 Charakteristisch für die Theologie des Apostels ist dann allerdings die Figur, empfangene Ehre dem Geber, Gott selber, zurückzuspielen (vgl. 50 Zur hier erkennbaren „Matrix des Hymnus“ vgl. den Beitrag von Peter Wick in diesem Band. 51 An der Mimesis als „Mitdarstellung“ der paulinischen „Schilderung und Exegese des Lebens und Leidens von Christus“ arbeitet Manuel Baumbach in diesem Band die hermeneutische Funktion des „stimmungsvollen Lesens“ heraus. 52 Für eine entsprechende Analyse s. R. BRUCKER , „Christushymnen“ oder „epideiktische Passagen“? Studien zum Stilwechsel im Neuen Testament und seiner Umwelt, FRLANT 1976, Göttingen 1997. 53 Vgl. meinen Aufsatz: Lob am jüngsten Tag. Zum Hintergrund der Gerichtserwartung im Philipperbrief, in: W. KRAUS (Hg.), Beiträge zur urchristlichen Theologiegeschichte, BZNW 163, Berlin 2009, 307–317.

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1Kor 4,7).54 Im Hintergrund steht die spezielle Semantik, die das Wort δόξα im biblischen Griechisch gewonnen hat – von Ruhm und Ansehen bis zur Herrlichkeit Gottes. 4. Auch wenn man davon absieht, den Philipperbrief konsequent einer lectio Romana zuzuführen, gibt es doch gute Gründe, ihn als ein Dokument politischer Theologie auszulegen.55 Sein Autor liegt in römischen „Ketten“ (1,7.13.17), und im hängigen Verfahren ist das Schlimmste zu befürchten (1,19ff.). Es geht um nicht weniger als um eine „Apologie zugunsten des Evangeliums“ (1,16). Die Gegner repräsentieren die Mächte der Finsternis (1,28; 2,15). Spätestens wenn der Heiland von der himmlischen Stadt herunter kommt (3,20f.), empfängt er als der einzige wahre Kyrios und Weltherrscher die Huldigung all derer, die den Himmel, die Erde und die Totenwelt bewohnen (2,9–11) – Jesus Christus kommt so faktisch in die Gegenposition zum römischen Kaiser zu stehen. Es ist heute, nach dem Kollaps des Warschauer Pakts, einfacher, die frühchristlichen Texte darauf hin zu befragen, inwieweit sie als Stimmen des ‚Widerstands gegen Rom‘ in Betracht kommen:56 Man gerät nicht mehr notwendig in das Fahrwasser marxistischer Geschichtstheorien, wie es etwa in befreiungstheologischen oder postkolonialen ‚Diskursen‘ öfter zu konstatieren ist. Abseits von ideologischen Fixierungen nach politischer Theologie zu fragen, heisst allerdings nicht, nun auf den Wellen der ‚antiimperialistischen‘ Interpretation zu surfen. Das ist im Fall des Apostels Paulus nicht nur im Blick auf den robusten Wellenbrecher von Röm 13,1–7 schwierig, sondern noch mehr aus methodologischen Gründen: Seine Texte lassen sich nur mittels massi-

54 Vgl. dazu BRUCKER , „Christushymnen“ (s. Anm. 52), 345: „Keine lobende Aussage wird ungebrochen als solche stehengelassen“ (vgl. 301f.320f.335.340.137–141). Zum Umgang mit dem Rühmen seiner selbst bzw. dem Selbstlob vgl. den Beitrag von Thomas Schmeller in diesem Band; C. GERBER , Καυχᾶσθαι δεῖ, οὐ συμφέρον μέν ... (2 Kor 12,1). Selbstlob bei Paulus vor dem Hintergrund der antiken Gepflogenheiten, in: C. Breytenbach (Hg.), Paul’s Graeco-Roman Context, BEThL 277, Louvain 2015, 213–251 (zu Phil 3: 238–242). 55 Dazu vgl. meinen Aufsatz: Politische Theologie im Philipperbrief?, in: D. Sänger / U. Mell (Hg.), Paulus und Johannes, WUNT 198, Tübingen 2006, 457–469. In eine ähnliche Richtung geht A. STANDHARTINGER , Eintracht in Philippi. Zugleich ein Beitrag zur Funktion von Phil 2,6–11 im Kontext, in: P.-G. Klumbies / D. S. du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung, FS A. Lindemann, Tübingen 2013, 149–175.; vgl. DIES.; Die paulinische Theologie im Spannungsfeld römisch-imperialer Machtpolitik. Eine neue Perspektive auf Paulus, kritisch geprüft anhand des Philipperbriefs, in: F. Schweitzer (Hg.), Religion, Politik und Gewalt, VWGTh 33, Gütersloh 2006, 364–382. 56 Diese weithin vernachlässigte Fragestellung hat seinerzeit programmatisch behandelt H. FUCHS, Der geistige Widerstand gegen Rom in der antiken Welt, Berlin 1938 (21964).

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ver Konstruktionen als hidden transcripts dechiffrieren.57 Das antiimperialistische Pathos gibt deutlich seinen kulturellen Resonanzraum zu erkennen: die Überdehnung der US-amerikanischen Geopolitik unter dem jüngeren Präsidenten Bush, unterlegt von der medialen Magie der Star WarsTrilogie. Eine nüchterne politische Interpretation paulinischer Briefe, und hier besonders des Phil, setzt gegenüber der Antithese viel stärker auf die Figur der Überbietung: Christliche Gemeinden bauen nicht einfach einen Kontrast zur imperialen Gesellschaft auf, sondern sie übertreffen die vorfindlichen Gemeinschaftsformen: was eine Polis und ein Haushalt eigentlich sein soll, was Friede, Gleichheit, Gemeinschaft und Freiheit in ihrer Fülle ausmacht, hier unter den Geschwistern „in Christus“ ist es Wirklichkeit – fragmentierte Wirklichkeit im Zeichen der himmlischen Stadt, an der die Christusgläubigen schon hier und jetzt teilhaben und deren Offenbarwerden sie in naher Zukunft erwarten (Phil 3,20f.; Gal 4,26; vgl. Hebr 11,16; 12,22–24). Die Standards christlichen Verhaltens richten sich nach den Lebensregeln dieser Polis (Phil 1,27). Eine so gesteuerte politische Lektüre könnte gerade einem Kommentar zu unserem Brief an die Colonia Iulia Augusta Philippensis ein markantes Profil verleihen.58 ***

Wir kommen zum Schluss und verlassen unsere überschaubare Textinsel des Philipperbriefs, um in hohe See zu stechen. Vielleicht ragen in der Umgebung einige Felsen und Bänke von unterseeischen Gestaden knapp aus der Meeresoberfläche – Relikte von Textwelten, die für die Altertumsforscher grösstenteils unwiederbringlich verloren sind, auch wenn sie gern von überraschenden Funden träumen mögen. Wer aber gedankenverloren den Blick schweifen lässt, wird in den blaugrünen Tiefen tausendfacher Brechungen des Sonnenlichts ansichtig. Sie lassen an die unendlich vielen Deutungen denken, die die Texte über die Jahrhunderte hinweg erzeugt haben, ernste und verspielte, trockene und phantasievolle, naheliegende und entlegene, passende und schräge, betörende und erschreckende, gute und schlechte. Lässt man sich, postmodern couragiert, in dieses unentwegt wabernde Spiel der Spiegelungen hineinziehen, ist die Chance groß, dass 57 Zur Problemstellung vgl. OMERZU (oben Anm. 32); C. HEILIG, Hidden Criticism? The Methodology and Plausibility of the Search for a Counter-Imperial Subtext in Paul, WUNT 2/392, Tübingen 2015. 58 Wie sehr der Blick auf politische ‚Diskurse‘ die Exegese bereichern kann, zeigen die Analysen zum Römerbrief sowie zum 1. Thessalonicherbrief von S. KRAUTER, Studien zu Römer 13,1–7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit, WUNT 243, Tübingen 2009; DERS., Auf dem Weg zu einer theologischen Würdigung von Röm 13,1–7, ZThK 109 (2012), 287–306; J. R. HARRISON, Paul and the Imperial Authorities at Thessalonica and Rome. A Study in the Conflict of Ideology, WUNT 273, Tübingen 2011.

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sie sich zu nautischen Archetypen verdichten – zu Sirenen und Lotophagen, einäugigen Riesen und Kirken, Skyllen und Charybden, Windbräuten und Schiffbrüchen. Dergestalt locken sie zum Kunsthandwerk der Allegoresen. Wer aber mit suchendem und sehnendem Blick durch all diese schimmernden Myriaden von Brechungen hindurchdringt, wird hinter ihnen allen der wogenden Kraft und der berückenden Tiefe des Meers gewahr – Unendlichkeit und Abgrund, Sinnbild des lebendigen Gottes, jenseits aller Deutungen und Symbolisierungen, und zugleich – „mitten unter euch!“

Autorenverzeichnis MANUEL BAUMBACH, Dr. phil., Professor für Klassische Philologie und Gräzistik am Seminar für Klassische Philologie der Ruhr-Universität Bochum. EVA EBEL, Dr. theol., Professorin für Religionspädagogik am Institut Unterstrass an der Pädagogischen Hochschule Zürich. TROELS ENGBERG-PEDERSEN, Dr. phil. et theol., Professor of New Testament Exegesis, University of Copenhagen. JÖRG FREY, Dr. theol., Professor für Neues Testament mit den Schwerpunkten Antikes Judentum und Hermeneutik an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich und Research Associate der North West University Potchefstroom (Südafrika). PETRA VON GEMÜNDEN, Dr. theol., Professorin für Biblische Theologie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg. ANKE INSELMANN, Dr. theol., bis Anfang 2015 Akademische Rätin am Lehrstuhl für Biblische Theologie an der Philosophisch-Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg, derzeit Referendarin am Hebel-Gymnasium in Schwetzingen. CHRISTOPH MARKSCHIES, Dr. theol., Dr. theol. h. c., Professor für Ältere Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. TOBIAS NICKLAS, Dr. theol., Professor für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Fakultät für katholische Theologie der Universität Regensburg. MARKUS ÖHLER, Dr. theol., Professor für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

396

Autorenverzeichnis

HEIKE OMERZU, Dr. theol., Professor of New Testament at the Faculty of Theology of Copenhagen University. BENJAMIN SCHLIESSER, PhD, Oberassistent für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. THOMAS SCHMELLER, Dr. theol., Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Goethe-Universität Frankfurt a. M. SAMUEL VOLLENWEIDER, Dr. theol., Professor für neutestamentliche Wissenschaft mit dem Schwerpunkt Geschichte und Theologie der urchristlichen Literatur an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. PETER WICK, Dr. theol., Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments und die Geschichte des Urchristentums an der EvangelischTheologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

Stellenregister Altes Testament Genesis 1,26–27 21,6

330 250

Deuteronomium 24,5 230 Tobit 10,13 11,15–16 13,14

230 230 231

1. Makkabäer 1,26

242

2. Makkabäer 6,30 7,36

232 25

3. Makkabäer 1,8

250

4. Makkabäer 5,2 8,2 9,28b 9,29 9,31 13,17 16,5 17,5 17,17–19

194 194 232 232 232 25 25 240 25

Psalter 1 2,7 16,8–10 19,9

231 342 230 231

43,3–4 68,29 LXX 73,17 73,28 109,1 LXX 118,15 119,14 119,24 119,47 119,70 119,77 119,111 119,117 119,174 126,5

230 343 230 230 17 230 231 231 231 231 231 231 231 231 231

Kohelet 3,13

230

Weisheit 3,1–6 4,7–19

25 25

Jesus Sirach 4,18 30,21–22 42,7

231 230 38

Jesaja 12,6 24,7–9 29,19 35,10 45,23 51,11 53 61,7 61,10

230 230 231 231, 279 16, 325, 388 231 15 231 230

398

Stellenregister

Jeremia 16,5 LXX 33,11

124 231

Ezechiel 28

16

Daniel 11,33 12,2 12,4 12,9

242 240 383 383

Hosea 9,1

231

Sacharja 8,19

231

Neues Testament Matthäus 1,10 2,14–18 5,11–12 5,14 11,25 13,52 22,35 25,35 25,42–43 27,27

3, 5, 10 200, 205 231 240 344 344 344 242 242 178

Markus 1,9–11 8,11 10,13–16 10,45 15,16

342 344 344 342 178

Lukas 1,28 1,29 2,46–49 6,22–23 8,13 8,14 8,15

280 280 344 231 278 278 278

14,11 24

388 217

Johannes 1,1–18 1,14 18,28 18,33 19,9

330, 338, 371 13, 16 178 178 178

Apostelgeschichte 2,44–47 266 6,1 194 9,4 170 9,15 141 9,17 170 13,7 170 13,9 170 13,12 170 13,14 156 13,33 342 13,51 156 14,1 156 14,6 156 14,8 156 14,19 156 14,21 156 16 105, 141, 142, 185, 186 16,1–2 156 16,8 156 16,9 141, 154 16,9–10 98 16,10 141 16,11 156, 164 16,11–12 154 16,11–40 107, 154, 161, 164 16,12 155 16,13 160 16,15 149 16,16 160 16,16–18 165 16,16–22 165 16,19–24 106, 165, 166, 173 16,20 156, 164, 165, 167 16,21 165, 168, 171 16,21–28 173 16,22 156, 164, 181 16,22–24 145, 170 16,25–34 161, 165 16,31–34 149

399

Stellenregister 16,35 16,37 16,38 16,40 17 18 18,1 18,2 18,19 18,25–26 18,26 19 19,1 19,8 19,10 19,22 19,38–40 20,1 20,1–6 20,2 20,4 20,5–6 20,6 20,17 20,18 20,28 20,35 21–26 21,7 21,27 21,29 22,7 22,13 22,25–26 22,26–27 22,27 22,28 22,29 23,1 23,16 23,27 23,35 24–26 26,14 28,12 28,13 28,17–30 28,30–31 28,30 28.30b–31

156, 164 165, 167, 168, 169 156, 164, 171 149 185 185 156 185 185 9 185 185 156 185 185 184 185 8 143, 181 6 184 156 107 22 184 22 78 181 156 184 184 179 170 165, 168, 170, 171 165, 168 165, 168, 170, 171 165, 168, 171 25, 171 10 165, 168 178, 179 177 170 156 156 176 8 180 174

Römerbrief 3,11–12 9–11 9,1–5 9,2 11,1 11,25–32 15,24 15,28

7 9, 11 9, 10 11 9, 11 11 8 8

1. Korintherbrief 1–4 347 1,26 161 2,6 363 2,6–8 361 4,6 322 4,7 391 4,16 322 6,2 319 7,29–31 207 9,11 41, 82, 91 9,20–23 154, 167, 168 9,22 163 10,32–33 268 11,1 19, 309, 310, 322 12,13 126 12,26 249 12,28 21, 250 13,1–3 322 15,1–16,24 183 15,32 183 15,44 302 15,51–52 24 16,5 181 16,5–8 183 16,6 82 16,8 183 16,9 9, 183 16,5 142 16,19 185 18,19 185 18,26 185 2. Korintherbrief 1,1–7,4 2 1,8–9 7, 9, 183, 184, 186, 382 1,9 7 1,10a 184 1,11 245 1,14 247

400

Stellenregister

1,16 1,23 2,1–4 2,3 2,12–13 2,13 4,2 5,1–10 5,2 5,6–8 5,10 5,17 6,2 6,4–5 6,5 6,10 6,14 7,4 7,5 7,8 8,9 11 11,7 11,9 11,21b–33 11,22 11,23 11,24–25 11,25–26 12,7–10 12,10 12,14 13,1

82, 142 247 184 247, 249 95 142, 181 363 7, 24 24 386 248 320 253 170 7, 174, 183, 184, 185 251 313 247, 262 95, 142, 181, 183 184 341 31 161 82, 91, 142 189–205, 216 9, 10, 11, 7, 174, 183, 184, 185 170 184 184 170 181 181

Galaterbrief 1,12 1,13–14 2,9 2,11–14 2,11–21 2,15 2,20 3,28 4,6–7 4,12 4,26 5,6 5,22 6,6

141 10, 11, 204 48 185 20 10 220 126 364 322 159, 392 297 251 38

Epheserbrief 2,12 2,19 5,1 Philipperbrief 1 1,1 1,1–3,1a 1,2 1,3 1,3–11 1,4 1,5 1,5–6 1,6 1,6–11 1,7 1,7–8 1,9 1,9–11 1,10 1,11 1,12 1,12–14 1,12–18 1,12–26 1,12–2,18 1,12–4,20 1,13 1,13–14 1,13–18 1,14 1,14–18 1,15–17 1,15–18 1,16 1,17 1,18 1,18–19 1,18–24 1,18–26 1,19 1,19–24 1,20

171 163 322 8, 9 21, 23, 53, 95, 101, 105, 149, 176, 313 4, 6 256 245 212 212, 238, 280, 281 36, 38, 49, 54, 69, 75, 85, 141, 142, 304 307 24, 106, 141, 281 56 36, 37, 38, 48, 69, 144, 162, 170, 174, 212, 223, 311, 391 37 212 312 24, 145 106, 146 54, 142, 301 174 223, 299 212, 303, 314 5, 31, 299 314 7, 170, 174, 178, 179, 391 162, 174 176 212, 219 142, 179 9, 64, 282 270 391 141, 162, 174, 213, 303, 391 245, 303, 317 247, 281 299 278 245, 282, 391 162, 175 145, 148, 247

Stellenregister 1,20–21 1,21 1,21–24 1,21–25 1,21–26 1,21–27 1,22–26 1,23 1,23a 1,23b 1,23–26 1,24–25 1,25 1,26 1,27 1,27–28 1,27–30 1,27–2,4 1,27–2,13 1,28 1,28–30 1,29 1,29–30 1,30 1–2 2 2,1 2,1–4 2,1–5 2,1–12 2,2 2,2–4 2,3 2,3–4 2,4 2,5 2,5–8 2,5–11 2,6 2,6a 2,6b 2,6c 2,6–7 2,6–8

312 141, 145, 213 7 25 240, 246, 268, 388 56 314 24, 386 246 246 144, 284 246, 258 64, 119, 213, 214, 240, 247, 301 91, 95, 145, 181 25, 27, 37, 64, 67, 69, 96, 143, 144, 145, 163, 164, 171, 172, 219, 321, 392 243 163, 213, 223 18, 19 64 64, 213, 391 164 141, 213, 303, 318, 319 181 28, 69, 148, 173, 181, 246 8 16 36, 220, 275, 280 271, 279, 299, 300, 316 275 322 48, 56, 69, 144, 213, 214, 220, 244, 271, 273, 301, 36 272, 301 19, 273, 301, 375 67 48, 144, 275, 301, 313, 322, 346 168 67, 157, 246, 300, 373, 376, 385, 388, 390 16, 321, 337 334 346 334 319 312

2,6–11

2,7 2,7b 2,7c–d 2,7–8 2,8 2,9 2,9–11 2,10 2,10b 2,10c 2,11 2,11b 2,12 2,12–13 2,12–18 2,12d–13 2,13 2,14 2,15 2,15–16 2,16 2,17 2,17–18 2,18 2,18–19 2,18–26 2,19–23 2,19–24 2,19–30 2,20 2,21 2,24 2,25 2,25–28 2,25–30 2,26 2,27

401 12, 16, 18, 18, 56, 65, 74, 146, 149, 275, 300, 304, 330, 334, 336, 338, 340, 341, 343, 345, 346, 376 16, 214, 275, 319, 333, 337, 342, 346 335 335 342, 346 18, 219, 275, 284, 297, 319, 335, 336, 337, 341 74, 215, 297, 336, 337, 343, 346 312, 343, 391 333, 334, 335, 337, 345, 346 336 336 74, 106, 297, 315, 319, 325, 338 337 18, 20, 64, 69, 75, 141, 144, 214, 216 275 299, 300 320 18, 75, 141, 215 144, 215, 322 219, 240, 391 24, 145, 241 241 7, 24, 148, 175, 219, 223, 241, 276, 303, 315 37, 56, 283 144, 241, 213, 242, 303, 311 69 299 176 390 144 67, 315 67 8, 91, 175, 180 39, 69, 143, 146, 223, 315 267 56, 92, 144, 147, 242, 250, 264, 283, 390 37, 265, 315 242, 315

402 2,28 2,29 2,30 3 3,1 3,1b–11 3,2 3,2–4 3,2–5 3,2–11 3,2–14 3,2–16 3,2–21 3,2–4,1 3,2–4,3 3,2–4,9 3,3 3,3–7 3,4–11 3,5 3,4–9 3,7 3,7–8 3,7–9 3,7–11 3,8 3,8–9 3,9 3,9–10 3,9–14 3,10 3,10–11 3,12 3,12–17 3,13–14 3,14 3,15 3,15–16 3,17 3,17a 3,17b 3,17–4,1 3,18 3,18–19 3,18–21 3,19

Stellenregister 265 144, 146, 267 67, 276, 315 2, 9, 20, 31, 182, 189– 205, 351, 382 3, 5, 84, 144, 242, 249, 255, 277, 298, 299 169 144, 172, 299, 390 299 317 189–205, 299 304 9, 12, 314 242 5, 31, 175, 299 4, 11 299, 300 11, 146, 191, 302, 390 321 299, 304 194 9 10 298 191 296 192, 305 314, 321 106 276 299 24, 36, 69 315 20, 145, 301, 321 299 363 321 48 304 12, 18, 31, 144, 216, 217, 220, 309–326 149 149 148 56, 64, 217, 224 149, 299, 316, 317, 390 300 48

3,20 3,20a 3,20b 3,20–21 3,21 3,21–26 4,1 4,1–3 4,2 4,2–3 4,2–9 4,3 4,3–4 4,4 4,4–7 4,5 4,6 4,7 4,8 4,8–9 4,9 4,10 4,10–20

4,10–23 4,11 4,11–12 4,11–13 4,12 4,13 4,14 4,14–15 4,14–16 4,15 4,15–16 4,15–18 4,15–20 4,16 4,17

27, 37, 154–168, 171, 303, 320 25 25 24, 25, 27, 166, 172, 300, 303, 304, 388, 392 24, 146, 159, 318, 319 385 36, 37, 56, 69, 144, 145, 242, 252, 279, 300 56 37, 48, 69, 144, 270, 301, 101, 316 299, 300 67, 95, 144, 343 244 84, 142, 144, 216, 223, 249, 277 31 24, 243, 271 144 385 67, 69, 75, 144, 169, 243 221 141, 144, 149, 267, 316 37, 39, 48, 49, 65, 69, 70, 86, 246, 249, 261, 263 4, 5, 34, 39, 42, 43, 48, 49, 50, 54, 56, 63, 65, 76, 81, 82, 83, 84, 91, 92, 143, 147, 261, 316, 374 4 39, 67, 75, 81, 85, 297 147 82, 84, 86, 94, 249 37 37, 75, 385 36, 37, 67, 69, 250, 311 69 161 34, 36, 37, 38, 62, 63, 66, 69, 91, 103, 119, 146, 150, 250, 262, 262, 311 181 38, 84 84 39, 67, 82, 84, 146, 262 39, 52, 66, 69, 81, 84, 101, 102, 106, 146, 315

403

Stellenregister 4,18 4,18b 4,19 4,20 4,22

48, 66, 82, 85, 86, 146, 262 39 66, 76, 84, 85 244 7, 174, 176, 179

Kolosserbrief 1,11–12 2,14

239 341

1. Thessalonicherbrief 1,1–2,13 141 1,6 239, 322 2,2 106, 142, 170, 173 2,9 161 2,19 247 3,9 239 4,17 24 5,25 245 2. Thessalonicherbrief 3,7 322 3,9 322 1. Timotheusbrief 1,3 142 3,2 21

Jakobusbrief 1,2 1,8 1,12 4,8

231 272 231 272

1. Petrusbrief 1,1 1,6 2,11 2,25 4,13

163 231 163 21 231

Offenbarung 3,5 13,8 17,8 20,12 20,15 21,27

343 343 343 343 343 343

Frühjüdisches Schrifttum Apokalypse des Zephania 14,5 343 Äthiopisches Henochbuch 47,3 343

Titusbrief 1,7 1,5

21, 22 22

Philemonbrief 1 9 10 13 23

Jubiläenbuch 30,22 36,10

343 343

174 174 174 174 176, 310

Philo De Abrahamo 202f.

282

Hebräerbrief 1,3 1,5 5,5 11,8–16 11,16 12,22–24

341 342 342 163 392 392

De mutatione nominum 71 194 156 232 163 233, 252

De confusione linguarum 129 194

De praemiis et poenis 31 232, 248 32 233

404

Stellenregister

De specialibus legibus 2,51–53 232 2,55 233 De virtutibus 103

274

Legum allegoriae 3,219 232 Quaestiones in Genesim 4,19 232 Quis rerum divinarum heres sit 2,7 232 Quod deterius potiori insidiari soleat 120 233 137 232, 248 Qumran 1QH 3,21–23 1QH 11,3–33 1QM 1,8f. 1QM 13,16 1QM 14,4 1QM 17,6–9

232 232 231 231 231 231

Syrische Baruchapokalypse 52,6f. 231f. Testamente der XII Patriarchen Testament Benjamins 6,4 240

Rabbinica bBer 31a

231

bShab 30b

231

bPes 117a

231

Mekh Ex 20,23 231 Pesikta 29

231

Frühchristliche und altkirchliche Schriften Ascensio Isaiae 2,4–4,4 3,21–31 7,3–5 7,21 7,37 8,7 8,9f. 8,25 9,5 9,12f. 9,22 9,29–35 10,1–7.8 10,8–16 10,14 10,15 10,17–30 10,23–30 11,2–9.17 11,19f. 11,23–32

331 332 337 334 337 337 333 337 334, 337 333 338 334 334 335 336 333, 336 334, 336 335 335 336 336

Barnabasbrief 1,3 19,3–5 20,1

241 127 127

Didache 2,2 2,6 5,1

127 127 127

Diognet 5,9

163

Evangelium Veritatis p. 19,35f. 343 p. 20,22 342 p. 20,29 341 p. 24,23f. 342 p. 30,26 343 p. 38,6–8 342 p. 38,33–39,1 342f.

405

Stellenregister Hieronymus De viris illustribus 5 10

Philokalia 21 25

Epistulae 33,4

Polykarp von Smyrna An die Philipper 3,2 3 11,3 3

349

In Epistulam ad Philemonem 23 10 Hirt des Hermas vis 1,3,2 343 mand 8,6 343 sim 2,9 343 Ignatius An die Magnesier 1,1 239 An die Philadelphier 1,1 239 An die Römer 5,1

183

An Polykarp 1,1

239

Irenäus von Lyon Adversus haereses 3,11,9 339 Oden Salomos 7,3–4 9,11 14,10 41,11–16

329 343 330 330

Origenes Commentarii in epistulam ad Romanos praef. Origenis 362f. I3 364, 365 I5 363 I 21 364f., 368, 369 VI 1 369 VI 9 370 IX 2 364 Contra Celsum 3,20

361

366 366

Griechisch-römisches Schrifttum Aristoteles Ars rhetorica 1,2 1,11 2,1–11 2,4 2,5 3,1

260, 261 278 261 234, 265, 269 225 227

De arte poetica 6 216 13 226 Ethica Eudemia 2,1 227 2,2 227 7,1 236 Ethica Nicomachea 1,5 57 2,4 226, 259 2,7 63, 259, 286 3,3 259 4,1 63 4,11 259 7,7 259 8,1 271, 272, 273 8,2 265, 274, 282 8,3 56, 236, 250 8,4 57, 236, 274 8,5 236, 282 8,6 282 8,7 56 8,14 56 8,15 56 8,16 56 9,2 262 9,4 57

406 9,5 9,6 9,8 9,9 10,6

Stellenregister 265, 274 271, 272, 274 56, 64, 74 57 227

Magna moralia 1,7 227 Cicero De finibus bonorum et malorum 1,29f. 227 1,57 227, 237 1,67 234 3,21 295 3,33f. 295f. De officiis 1,89

259

De re publica 6,13

240

Epistulae ad Quintum fratrem 1,3 240, 246 Laelius de amicitia 11f. 240 18 58 20 59 22 58, 235 23 59 24 59 26 59, 53 30 58, 235 31 59 32 59 49–50 59 51 58, 72, 235 55 235 58 41, 59, 62, 73 61 59 62–64 59 65 59, 70 69 59 72 59 74 59 81 59

Pro Publio Quinctio 12 46 26 46f. Tusculanae disputationes 2,6 360 3,31 237 3,33 236 3,35 237 3,76 237 4,43 259 4,55 259 19,43f. 259 Diogenes Laertius De clarorum philosophorum vitis 7,116 229 8,10 234 10,9–11 234 10,22 235 10,34 227 10,128f. 227 10,131 227 10,136 228 10,137 227f. Dion Chrysostomos Orationes 41,13 236 41,12 236 Dionys von Halikarnassos Antiquitates Romanae 2,9,3 90 2,10,1–4 90 Epictet Diatribe/Dissertationes 2,1,34–40 246 2,5,18–23 230 2,9,12 38 4,1 289 Epikur Ratae sententiae 3f. 227 Euripides Troades 639f.

226

407

Stellenregister Iphigenia in Tauris 1121 226

Politicus 274d

217

Gaii Institutiones 3,151 46

Plutarch Moralia 49F 51A.B 54D.E 231B 469B.C.D 1111B

233 233 234 241 237 234

Poseidonios 581

227

Seneca De beneficiis 1,1,1 1,1,13 1,2,3 1,4,2 1,4,4 1,6,1 1,10,4 2,10,4 2,18,5 2,23,1–2 2,25,3 2,30,2 2,31,2 2,35,1 3,1,1 3,1,3 3,18,4 4,2,4 4,11,1 4,11,2 4,11,3 4,12,1 4,40,3 5,6,2–7 6,34,1–2 6,34,5

63 79 78 78 80 78 79 78 60 79 80 79 78 79, 84 79 79 78 229 78 78 80 78 80 79 60 60

Galen De placitis Hippocratis et Platonis 4,2,1–6 286 Institutiones Iustiniani 3,25,4–6 46 Johannes Stobäus Eclogae physicae et ethicae 2,88 286 Lukian Pro lapsu inter salutandum 2 225 Mauricius Strategicon 8,2,70

217

Pausanias Graeciae descriptio 4,26,8 133 6,4 137 10,4,3 137 10,38,13 133 32,7 137 Plato De re publica 5,462b.c

235, 250

Phaedo 59a 66b–d 67a–b 67e 68b–c 84e 85a–b 117d

260 226 226 226 226 226 226 260

Philebus 47d–50d 48b.49.d.c

227 225

De consolatione ad Marciam 3,4 237 De consolatione ad Polybium 10,6 237

408

Stellenregister

Epistulae morales ad Lucilium 9,3 60, 235 9,5 60, 235 23,2.3.5f. 229 23,4 230 41,8f. 324 48,11 324 59,14–18 230 63,14 60 66,19 229 66,29 229 71,26 60 72,4 229f. 81,12 70, 79 81,18 79 95,50 324 99,3 237 124,24 229 De ira 3,42,1f.

285

Stoicorum veterum fragmenta (SVF) I, 205 228 III, 30 298 III, 123–126 298 III, 386 228, 252 III, 391 286 III, 431–442 303 Sueton Claudius 25,4 Xenophon Memorabilia 2,4,6f.

185

233

Papyri P.Bour. 13

47, 51

P.Flor. III 370

51

P.Mert. I 12

60f., 69, 76f., 84

P.Princ. II 36

51

P.Lond. V 1795

51

P.CtYBR inv. 616

51

Inschriften Corpus Inscriptionum Graecarum 1713 171 3069 123 Inscriptiones Graecae II2 1012 123 II2 1297 132 II2 1322 123 II2 1326 123 II2 1343 123, 137 II2 1365 134 II2 1366 134f. II2 1369 123 II2 2940 134 VII 3423 171 X/2.1 255 98, 102, 132–134 XI/4 1227 123 XI/4 1299 133 XII/2 127 123 XII/3 330 135f. XII/3 1098 123 Inscriptiones Graecae urbis Romae I 160 126 Inscriptiones Judaicae Orientis I Mac 1 126 Inscriptions de Délos 1403 123 1412 123 1417 123 2225 123 IKafizin (Nymphaeum) 119 51

Stellenregister Lois sacrées de l’Asie Mineure 20 125–129 72 136 80 128 Lois sacrées des cités grecques 139 135 177 136

409

Lois sacrées des cités grecques. Supplément 59 135 Sylloge inscriptionum Graecarum3 842 171 985 124–129 1044 136 1106 136

Autorenregister Ackrill, J. L. 75 Adkins, A. W. H. 57 Aland, K. 159 Alexander, W. H. 44, 71 Altendorf, H.-D. 372 Andreau, J. 45 Arnaoutoglou 121, 123 Arzt-Grabner, P. 3, 5, 160, 161 Ascough, R. S. 45, 96, 97, 98, 99, 100, 101, 102, 104, 105, 106, 107, 110, 111, 112, 116, 123, 124, 128, 133, 135, 136, 149 Aune, D. E. 71, 238, 275 Badiou, A. 306 Barclay, J. M. G. 1, 27, 28, 35, 40, 105, 214, 306 Bakirtzis, C. 160 Barth, G. 4 Bauckham, R. 332 Bauer, W. 3, 178, 263, 309 Baumbach, G. 204, 216 Baumbach, M. 12, 19, 31, 207, 311, 390 Baumert, N. 41 Baur, F. C. 1 Beare, F. W. 39 Beavin, J. H. 257 Becker, E.-M. 69 Becker, J. 40, 182, 223 Bendemann, v., R. 313 Bendlin, A. 121 Bengel, J. A. 223 Benjamins, S. 365, 367, 368 Berger, K. 280 Berner, U. 357 Berry, K. L. 55, 117 Betz, H. D. 4, 7, 19, 196, 317, 323, 382 Blanton, T. R. 86 Bockmuehl, M. 5, 14, 18, 19, 36, 54, 73, 85, 94, 96, 110, 115, 116, 169, 172, 173, 380, 384

De Boer, W. P., 310 Bollnow, O. F. 208, 211, 212 Böhme, G. 210, 372 Bonhöffer, A. 227, 228, 229, 290 Börstinghaus, J. 156 Bormann, L. 5, 12, 29, 33, 37, 39, 42, 44, 49, 50, 73, 74, 75, 77, 82, 85, 86, 88, 89, 91–96, 104, 110, 111, 112, 115, 118, 147, 149, 155, 156, 157, 219, 224, 240, 389 Bornkamm, G. 4, 18 Bosenius, B. 196, 197 Bourdieu, P. 306, 355 Brakke, D. 329 Brakmann, H. 360 Brändl, M. 163, 247 Brélaz, C. 30, 377 Brewer, R. R. 163 Briones, D. E. 42, 52, 72, 76, 83, 84, 86, 87, 88, 112, 113, 118, 142, 143, 147, 148 Broer, I. 2, 12 Brown, E. 56 Brox, N. 331 Brucker, R. 14, 376, 390, 391 Brun, L. 223, 249 Bühler, K. 258 Bultmann, R. 14, 15, 209, 292, 302, 354 Burridge, R. A. 322 Campbell, D. A. 6 Cancik, H. 324 Capper, B. 49 Carriker, A. 349 Carson, D. A. 20 Cerfaux, L. 15 Chaniotis, A. 127, 135, 225 Chow, J. K. 88 Clauss, M. 162 Collins, J. N. 197 Conzelmann, H. 223, 225, 230

412

Autorenregister

Cousar, C. B. 202 Crook, Z. A. 88 Crouzel, H. 357, 360, 366, 367 Dahl, N. A. 291 Danker, F. W. 106 Dassmann, E. 162 Deichgräber, R. 13 Deines, R. 10, 11 Deissmann, A. 8, 114, 177, 184 Derrida, J. 355 De Faye, E. 357, 358 Detel, W. 351 De Wette, W. M. L. 241 Dibelius, M. 15, 18, 19, 23, 38, 39, 241, 287 Dihle, A. 365, 366 Dillon, J. 286 Dodd, C. H. 40, 81, 177, 314 Döring, K. 324 Downs, D. J. 88 Drake Williams, H. H. 144 Duling, D. 201 Duncan, G. S. 177, 178 Dunderberg, I. 340 Dunn, J. D. G. 2, 9, 15, 17, 20, 36, 380, 385 Eastman, S. 35 Ebel, E. 28, 30, 96, 97, 99, 105, 124, 153 156, 161, 165, 166, 389 Ebner, M. 3, 22, 23, 29, 37, 38, 39, 65, 66, 70, 73, 79, 109, 111, 112, 117, 128, 169, 183, 195, 200, 224 Eckey, W. 214, 255, 283 Edwards, M. 359 Eilers, C. 89 Ehrhardt, C. 258 Eltester, W. 372 Engberg-Pedersen, T. 5, 29, 31, 40, 75, 289–308, 379, 387 Erler, M. 234, 259 Eisenstadt, S. N. 87 Ettl, C. 164 Fee, G. D. 5, 38, 63, 70, 71, 84, 131, 169, 172, 183, 239, 303, 308, 380 Feine, P. 177, 178 Fillion-Lahille, J. 270 Fiore, B. 43, 59

Fitzgerald, J. T. 35, 40, 43, 55, 67, 69, 70, 73, 85, 117, 235, 238, 250, 275 Fleckner, A. M. 41, 43, 45, 46, 50, 52, 53 Fleury, J. 48, 49, 51 Folkman, S. 259, 261, 266, 270 Förster, H. 27, 28 Foucault, M. 230,248, 354, 355, 356 Fowl, S. E. 76, 209, 214, 314 Frenschkowski, M. 129 Frey, C. 210 Frey, J. 1, 7, 8, 10, 13, 17, 20, 21, 28 Friedrich, G. 4, 40, 109, 209, 212, 223 Frijda, N. H. 259, 266 Fuchs, H. 391 Furnish, V. P. 195, 200 Gäckle, V. 28 Gadamer, H.-G. 233, 355 Georgi, D. 15, 41, 76, 91 Gerber, C. 35, 70, 73, 391 Gerber, D. 7 Gielen, M. 7, 180, 181, 182, 183, 184, 383 Giesen, H. 20 Gigon, O. 43, 227, 234, 236, 265, 360 Gisbertz, A. K. 209, 210, 220 Gnilka, J. 4, 6, 19, 22, 38, 39, 41, 177, 178, 179, 181, 182, 214, 220, 242, 309, 329, 377 Goltz, von der, E. 350 Grässer, E. 200 Grice, H. P. 258 Griffin, M. T. 44, 60, 76, 77, 79, 84 Grindheim, S. 192, 193, 194, 195, 198, 201, 204 Gumbrecht, H.-U. 209, 218, 219, 375 Hahn, F. 15 Hainz, J. 41, 50, 94, 95 Hamm, B. 36, 115 Hammond Bammel, C. P. 360 Hanges, J. C. 122, 123, 127, 128, 129, 132, 133, 134, 135, 140, 141,142,143, 144, 145, 148, 150 Hansen, G. W. 50, 56, 142, 147 Harland, P. A. 45, 126, 128, 136 Harnack, von, A. 358, 359, 372 Harnisch, W. 196, 200, 397 Harrison, J. R. 3, 49, 195, 196, 198, 392 Hartog, P. 71 Häußer, D. 14, 15

Autorenregister Hawthorne, G. F. 6, 50, 56, 84, 177, 209, 214, 280 Heckel, U. 195, 200 Heilig, C. 26, 392 Heinze, T. 137 Heither, T. 360, 362, 363, 364, 365, 366, 368, 368, 370 Helderman, J. 345 Hellerman, J. H. 106, 145, 147, 252 Hemer, C. J. 170 Hengel, M. 10, 11, 13, 23, 29 Henning, M. 332 Henrichs, A. 137 Hentschel, A. 23 Heringer, H. J. 258 Hoffmann, E. 227 Hofius, O. 14, 15, 16 Holloway, P. A. 71, 209, 214, 237, 250, 251 Holsten, C. 39, 40 Hooker, D. 14, 189, 314 Hölshoff, T. 260 Horrell, D. G. 35, 41 Horsley, G. H. R. 52, 89, 125, 126, 130, 131, 132, 134 Hossfeld, F.-L. 231 Hurtado, L. W. 17, 111 Hüttenmeister, F. G. 160 Hutter, H. 68 Inselmann, A. 31, 226, 240, 242, 250, 255, 257, 259, 260, 261, 266, 270, 278, 280, 282, 285, 286, 287, 374 Inwood, B. 79, 85, 86 Jaccottet, A. F. 136 Jackson, D. D. 257 Jeremias, J. 15 Jones, C. P. 171 Jördens, A. 61 Joubert, S. 88, 90 Judge, E. A. 61, 62, 193, 198 Jung, F. 158 Käsemann, E. 15, 18, 200, 314 Kassel, R. 237 Kardaun, M. 217 Karrer, M. 158, 159, 230 Katzoff, R. 185 Kennedy, H. A. A. 38

413

Kennel, G. 14, Keown, M. 142, 151 Kippenberg, H. G. 121 Kirner, G. O. 72, 94 Klauck, H.-J. 29, 65, 164, 199, 200, 238, 239, 249, 275, 280 Klein, H. 167 Klijn, A. F. J. 232 Kloppenborg, J. S. 45, 96, 97, 98, 99, 100, 107, 123, 128, 136 Klostermann, E. 329 Knibb, M. A. 333 Knight, J. 330 Koch, D.-A. 11, 20, 23, 97, 160, 162, 366 Koch, H. 366 Koet, B. J. 129 Konradt, M. 204 Konstan, D. 54, 55 Köster, H. 98, 160, 273 Kotsifou, C. 225 Koukouli-Chrysantaki, C. 160 Kraftchick, S. J. 223 Krauter, S. 392 Krech, V. 34 Kümmel, W. G. 14, 177, 180, 181 LaCourse Munteanu, D. 225 Lake, K. 350 Lamoreaux, J. T. 72 Lampe, P. 4, 88, 240, 377, 387 Land, C. D. 115, 119 Larsson, E. 322 Lattke, M. 329, 330 Lazarus, R. S. 259, 261, 263, 264, 266, 270, 278 Le Boulluec, A. 328 Lentano, M. 77 Levinson, S. C. 258 Lies, L. 359 Lisco, H. 177 Lietzmann, H. 23 Lightfoot, J. B. 22, 41, 378, 379 Lipsius, R. A. 241 Lohmeyer, E. 6, 13, 14, 15, 18, 19, 25, 26, 177, 214, 219, 241, 256, 273, 283, 285, 287, 276 Löhr, H. 20, 179, 376 Lohse, E. 28 Lona, H. E. 162 Long, A. A. 228, 234, 235, 292

414

Autorenregister

Lowe, B. A. 88, 146 Luhmann, N. 72, 109 Lührmann, D. 331 Luz, U. 327, 384, 385, 387 MacMullen, R. 96 Malherbe, A. J. 35, 40, 55, 61, 64, 67, 70, 108, 126, 235, 238, 244, 246, 249, 250, 291, 293 Malina B. J. 88 Marchal, J. A. 55, 68, 70, 72, 73, 111, 118, 172, 187 Markschies, C. 25, 31, 329, 340, 349, 350, 359, 360, 362, 387 Marshall, P. 38, 61, 62, 63, 64, 65, 68, 70, 76, 78, 79, 80, 81, 111, 112, 117 Martens, P. W. 356 Martin, R. P. 6, 13, 50, 84, 177, 209, 214, 380 McCant, J. W. 197 McLaughlin, J. L. 124 Meeks, W. A. 35, 47, 64, 291, 293, 294 Mell, U. 157, 172, 181 Ménard, J.-E. 340, 341, 342 Mengel, B. 2 Merk, O. 310 Merkt, A. 327 Metzner, R. 69, 75, 109 Meyer, P. M. 47 Michaelis, W. 177, 178, 181, 242 Michel, O. 226, 229, 230 Millauer, H. 231, 232 Miralles Maciá, L. 124 Mitchell, A. C. 55 Mitchell, M. 349 Mitchell, S. 130, 131, 132 Mittelstrass, J. 352 Mommsen, T. 166 Monaci Castagno, A. 350 Motyer, J. A. 223 Moussy, C. 79 Mühlenberg, E. 360 Müller, C. D. G. 331, 332, 333 Müller, H. P. 162 Müller, P. 53 Müller, U. B. 5, 7, 16, 18, 25, 18, 36, 85, 86, 95, 145, 157, 169, 172, 174, 175, 177, 178, 181, 182, 209, 214, 219, 220, 239, 242, 247, 377 Mullin, T. Y. 96

Murdoch, P. 239, 249 Nauck, W. 231 Nautin, P. 349, 350 Neuschäfer, B. 362 Neutel, K. 126 New, S. 350 Nickel, R. 43, 75, 227, 228, 229, 252 Nicklas, T. 1, 6, 31, 327, 329, 331, 332, 385 Nicols, J. 45 Niebuhr, K.-W. 10, 11, 195, 201, 237, 275 Niederwimmer, K. 21, 127 Nielsson, M. P. 99 Norelli, E. 330, 332, 334, 336, 337 Nussbaum, M. C. 278 Oakes, P. 26, 29 OʼBrien, P. T. 5, 14, 19, 20, 23, 63, 209, 379 Oeming, M. 231 Ogereau, J. M. 33, 34, 43, 46, 47, 49–54, 72, 76, 86, 110, 111, 112, 118 Öhler, M. 30, 100, 103, 121, 389 Ohme, H. 358 Omerzu, H. 6, 7, 8, 30, 140, 162, 166, 169, 170, 176, 178, 183, 185, 382, 383, 392 Ostmeyer, K.-H. 159, 160, 161 Papoušek, H. 260 Papoušek, M. 260 Pedersen, S. 20 Pesch, R. 36, 243 Pestalozzi, K. 354 Peterman, G. W. 44, 52, 68, 69, 70, 74, 76, 80, 81, 82, 86, 110, 112, 113, 118 Peterson, B. K. 196, 197 Pilch, J. J. 88 Pilhofer, P. 8, 23, 29, 30, 38, 45, 93, 96, 99, 100, 103, 104, 154, 155, 156, 159, 160, 161, 165, 167, 225, 377, 389 Platschek, J. 46 Plummer, A. 84 Pohlenz, M. 228, 252 Poland, F. 121, 123, 124, 132 Popkes, W. 148, 223 Portefaix, L. 51, 159 Porter, S. E. 88, 115, 119, 142, 146 Pratscher, W. 82 Price, A. W. 43, 57, 72, 298 Prostmeier, F. E. 127

Autorenregister Rabens, V. 313, 321 Räisänen, H. 291 Ramsay, W. M. 8, 38, 178 Rapske, B. M. 180, 184 Reck, R. 180 Reumann, J. 33, 36, 44, 52, 54, 55, 56, 60, 70, 71, 72, 74, 86, 117, 149, 239, 380, 381 Rheinberger, H.-J. 371 Rice, J. 87, 88 Riesenfeld, H. 14 Riesner, R. 6, 170 Roloff, J. 22 Roniger, L. 87 Rosell Nebreda, S. 70, 74, 119, 310, 313, 317 Rosenbach, M. 44, 77, 85, 219, 237, 324 Saller, R. P. 55, 68, 88, 89 Sampley, J. P. 30, 47, 48, 49, 50, 51, 52, 53, 54, 67, 88, 111, 112, 118, 147 Sanders, E. P. 202, 204 Sandkühler, H. J. 371 Sänger, D. 26, 161, 157, 172, 391 Sänger, P. 27, 28 Sarasin, P. 351, 352, 353, 356, 369 Schelkle, K.-H. 22 Schenk, W. 21, 37, 50, 65, 84, 241, 242, 381, 383 Schenke, H.-M. 340, 341, 342, 344 Schinkel, D. 12, 97, 156, 159, 161, 162 Schlier, H. 223 Schliesser, B. 30, 376, 377, 389 Schmeller, T. 2, 7, 22, 23, 31, 93, 94, 95, 97, 104, 110, 125, 183, 189, 219, 391 Schmithals, W. 4 Schnackenburg, R. 377, 386 Schnelle, U. 1, 7, 8, 24, 29, 35, 104, 119, 177, 180, 181, 182 Schneider, G. 277 Schneider, J. 133 Schneider, K. 163 Schneider, T. 21 Schoon-Janßen, 65, 219 Schrage, W. 183 Schubert, P. 239 Schulz von Thun, F. 258, 262, 281 Schützwohl, A. 263, 264, 278, 259 Schwartz, E. 372 Schwertheim, E. 128

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Scott, J. C. 175 Sedley, D. N. 228, 234, 235 Seifrid, M. 20 Silva, M. 144, 309, 310, 311, 313 Singer, W. 352 Smith, J. Z. 294 Smith Pangle, L. 43, 54, 56, 58, 59, 60, 72, 294 Söding, T. 21 Sokolowski, F. 125, 132, 133, 136 Staiger, E. 354 Standford, W. B. 225 Standhartinger, A. 26, 27, 41, 148, 149, 158, 167, 175, 176, 178, 179, 186, 391 Steimle, C. 132 Sterck-Degueldre, J.-P. 161, 167 Stern-Gillet, S. 43, 57, 72 Stowers, S. K. 37, 44, 55, 61, 64, 71, 74, 117, 126, 219, 238 Straume-Zimmermann, L. 234, 265 Strecker, G. 10, 191, 202, 204, 253, 309, 313 Striker, G. 286 Strüder, C. W. 347 Sundermann, H. G. 195, 196 Tajra, H. W. 166, 191, 202, 204, 253 Teichtweier, G. 369 Theiler, W. 365 Theissen, G. 230, 231, 233, 283, 243, 294 Theobald, M. 3, 4, 169, 182, 200, 224, 328 Thiessen W. 181, 184, 186 Thomassen, E. 339, 340, 341, 343, 344 Thrall, M. E. 197 Thurston, B. B. 313 Tiwald, M. 10, 11, 22 Torjesen, K. J. 356 Trapp, M. 225, 239 Trebilco, P. 185, 186 Trobisch, D. 4 Ungern-Sternberg, von, J. 90 Unnik, van, W. C. 340, 343 Verboven, K. 110 Vielhauer, P. 177 Villani, A. 370 Vincent, M. T. 249 Vogt, H. J. 357, 359, 367

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Autorenregister

Vollenweider, S. 2, 5, 13, 15, 16, 25, 26, 27, 28, 31, 33, 74, 75, 157, 158, 159, 167, 172, 175, 189, 203, 207, 213, 223, 224, 238, 243, 247, 248, 256, 263, 279, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 299, 305, 324, 325, 327, 330, 335, 346, 349, 350, 351, 356, 357, 370, 371, 372, 383 Wallace-Hadrill, A. 55, 87 Walter, N. 4, 6, 7, 12, 14, 17, 19, 21 24, 25, 240, 355, 377, 378 Wansink, C. S. 240, 246 Watzlawick, P. 257, 258 Weder, H. 354 Wehler, H.-U. 356 Weidemann, H.-U. 2, 12 Weinreich, O. 125 Weiss, B. 1, 39, 241, 247 Wellbery, D. E. 209, 211, 220 Wengst, K. 13 Westerholm, S. 20 White, J. L. 44, 61, 64, 74, 117 Wichmann, W. 231 Wick, P. 3, 5, 19, 31, 65, 71, 212, 243, 256, 275, 309, 318, 346, 390 Wilken, B. 242

Williams, C. A. 54, 144 Williams H. H. Williams J. A. 339, 341, 342 Williams M. A. 331 Wimmer, R. 208, 209, 212 Wischmeyer, O. 7, 10, 12, 33, 166, 197 Witetscheck, S. 4 Witherington, B. 52, 63, 70, 95,145, 146, 147 Witkowski, S. 239 Wittenburg, A. 135 Wolff, C. 184, 200 Wolfson, H. A. 232 Wojtkowiak, H. 8, 9, 12, 19, 40, 74, 106, 144, 148, 149, 151, 256, 310, 377 Wolff, C. 184, 200 Wolkenhauer, J. 44, 60, 77 Wolter, M. 255 Wright, N. T. 16 Zeller, D. 195 Zenger, E. 231 Ziegler, K. 171 Zmijewski, J. 200 Zumstein, J. 339

Sach- und Namenregister Affekte – Affekterleben 240, 259, 268, 273f., 278, 284 – Affektkontrolle 261, 270, 278f., 284, 286 – Affektpsychologie, antike 224–230, 247, 261, 266f., 278, 285f., 303f. – Affektpsychologie, moderne 259–261, 266, 270f., 272, 280 – Affektunterweisung 270, 303f. – Affektverhalten 269–273, 283, 287 Alexander der Große 155 Angst 197, 211–216, 221, 224, 227, 243, 262, 286, 288 Anthropologie 272, 276, 282f., 289, 305, 360f., 364, 368f. Apokalyptik 24f., 231, 251, 306f., 387f. Artemis Ephesia 130–132, 137–139 Asia (Provinz) 7, 141, 164, 174, 183f. Augustus 155–157, 164, 193 Autarkie 37, 40, 57, 65f., 82, 84, 118, 249 Beliar 331, 339 Benefizialwesen 44, 76–87, 94, 109f., 118 Beschneidung 11, 191f., 201, 203f., 243 „Buch des Lebens“ 343f. Bürgerrecht – „himmlisches“ Bürgerrecht 25–28, 115, 145f., 158, 161–163, 167f., 172f. – jüdisches Bürgerrecht 160 – römisches Bürgerrecht 28, 157, 159, 161, 164–166, 167f., 169–173, 186 Caesarea Maritima 6, 173, 176–181, 183, 256, 283, 349f., 360, 364, 376, 380, 382 Caligula 16 Chariten 80, 125 Christologie 12–17, 37, 40, 53, 74, 84, 105, 112, 115, 119, 193, 208, 214, 276, 286f., 325, 346, 373, 386

– „hohe“ Christologie 17 – status exaltationis 386 – status exinanitionis 386 Christus – Erhöhung 13, 16, 31, 64, 74, 150, 158, 192, 275, 314–317, 333, 336f., 343f., 347, 388, 390 – Erniedrigung 16, 31, 64, 158, 168, 192, 275, 312, 314–316, 333, 335, 344, 388, 390 – Gottgleichheit 15, 17, 333f., 337, 347 – Kenosis, Entleerung 16f., 189, 275f., 286, 312, 315, 317, 333–335, 337f., 347, 373 – Knechtsgestalt, Sklavengestalt 16f., 150, 214, 312, 315, 335, 337f., 346f., 363, 365, 386 – Präexistenz 13, 17, 312, 335, 337–339, 345–347 – Wiederaufstieg 330, 333, 336–338, 344–347 Chrysipp 80, 225, 227, 229 civitas Romana 28, 157, 162, 165, 168 Claudius 185f. Damaskus 170, 193f., 196, 198–200, 202 Dank 5, 36, 39, 60f., 69, 76, 79f., 82f., 84, 86, 212, 239, 245, 250, 261–263, 280, 315–317 – „dankloser Dank“ 39f., 42, 68f., 70, 76, 83, 374 Dasein 208, 210f., 214 Diodoros 137–139 Dionysios (aus Philadelphia) 124–129, 138f. Dionysos(-Kult) 93, 99, 104, 136–138 Ehre 12, 30, 74, 83, 101, 106, 122, 145f., 149, 252, 269, 271, 312, 314, 317, 390

418

Sach- und Namenregister

– Ehre und Schande, honour and shame 30, 145, 390 – Ehreninschriften 130f., 138f., 159 Einmütigkeit, Eintracht 37, 48, 69, 172, 213, 236, 244, 248, 269–274 Ekklesiologie 28, 51, 54, 74, 117, 322, 389 Epaphroditus 37, 53, 67, 69, 92, 95, 144, 146–148, 176, 180, 242, 245f., 250, 259, 262, 263–267, 272, 276, 285, 315f., 390 Ephesus 2, 5–9, 126, 130f., 140, 142, 162, 174, 176–187, 283, 372, 378, 380, 382 Epikur, epikureische Philosophie 40, 43, 56, 227f., 234, 236f., 249, 250f. Erkenntnis 209–217, 221, 344 – Erkenntnis Christi 192, 295–298, 307f., 321 – Erkenntnis Gottes 215 – Erkenntnis und Paränese 300–303 Eschatologie 7, 16, 19, 24f., 75f., 84f., 106, 145, 207, 279, 287, 300, 317, 325, 382, 386, 388 Euodia und Syntyche 64, 144, 244, 270, 316, 325 Freigelassene 92, 99, 109, 179 Freiheit 77f., 164, 210, 289, 312, 314, 365– 370, 392 Freude 30f., 36f., 39, 58, 61, 66, 69, 75, 78, 84, 86, 90, 95, 119, 144, 148, 192, 207f., 212–216, 221, 223–253, 255– 288, 303f., 315, 374 – Beziehungsfreude 231, 263, 273f., 285, 287 – Festfreude 230, 232 – Freude als Geschenk 232 – Freude Gottes 282f. – Freude im Glauben 95, 119, 213, 240, 247, 268, 288 – Freude „im Herrn“ 84, 249, 253, 277– 279, 287f., 299 – Freude und Freundschaft 75, 233–236, 244, 265, 269, 271–274, 286 – Freude und Leid 225f., 231, 233, 242, 250f., 255f., 264, 266, 286 – Freude und Lust 225, 228f. – Freude und Schmerz 229, 258, 264 – Gebetsfreude 279–284, 288 – Gemeinschaftsfreude 230, 241, 245, 248–250

– Schadenfreude 225 Freundschaft 30, 34, 41, 43f., 54–76, 83, 101, 108–112, 117f., 147, 224, 233– 236, 238, 242, 244–246, 249f., 265, 269, 271, 274, 282, 285f., 324, 374, 389 – Freundschaftsrhetorik 71, 73, 111, 117f. – Lustfreundschaft 56, 236, 250, 265 – Nutzenfreundschaft 56, 67, 73, 117, 236, 250, 265 – Tugendfreundschaft 56, 67, 74, 233– 236 „Furcht und Zittern“ 17, 19, 68, 214–216, 320 Gefangenschaft(en) des Paulus 4, 7, 20, 26f., 82, 106, 146f., 150, 174–176, 183, 185f., 212f., 220, 240, 247f., 250f., 255, 262, 268, 272, 281–284, 288, 310, 314f., 325 – in Rom 1, 6f., 9, 24, 162, 169, 177, 378, 382f. – in Caesarea 6, 173, 180, 376, 380, 382 – in Ephesus 6–9, 140, 174, 177–187, 377f., 382f. – in Philippi 185 Gegner des Paulus 4f., 9, 12, 172–174, 179, 183, 189–205, 242f., 251, 270, 282, 299, 316, 377, 390f. Gehorsam 18, 68, 134, 148, 276, 312, 346 – Gehorsam Christi 18, 74, 275, 312, 335–337, 346f. Gerechtigkeit 12, 18, 20, 106, 192, 202, 226, 276, 314, 321, 382, 390 Gesetz, Tora 10f., 20, 140, 153, 182, 191f., 202, 204, 230f., 276, 306, 314, 321, 365, 367, 369, 382 Glaubenssysteme 353 Gnosis 15, 331, 336, 340, 342, 347, 358, 369 Gottesebenbildlichkeit 15, 17, 322, 337, 368f. „das Gute“ 295–298, 303f., 306f. hidden transcript 175f., 392 Himmelsreise 196–200 Hölle 334, 336 Imperium Romanum 25–27, 52, 96f., 115, 155, 158, 162, 169, 360

Sach- und Namenregister Isis(-Kult) 98, 103, 132f., 138f. Kaiserkult 26, 93, 156 Kommerzielle Sprache 38–41, 48–50, 62f., 65, 69, 78, 81, 84, 146 Komparatistik 34f., 40, 42, 45, 55, 75f., 100, 103, 110, 170, 262, 289–295, 305, 308, 330, 332, 334–336, 339, 346 Konsolationsliteratur 236–238, 250 Korinth 2, 6, 23, 26, 88, 162, 183, 185 Kreuz, Kreuzigung 14, 16f., 30, 64, 149f., 192f., 200, 202, 204, 214, 219, 221, 224, 275, 297, 312, 315–317, 336–339, 344, 346f. – Kreuzestheologie 15, 200, 202 – „Feinde des Kreuzes“ 68, 149, 224, 317 kynische Philosophie 37, 40, 82 Laster 30, 229 Leiden, Leid 30, 148, 164, 174, 181, 197, 213, 224–226, 231–234, 246, 249–253, 318f., 325, 377f. – Leiden des Epaphroditus 264 – Leiden des Paulus 11, 150, 174, 191, 194, 198, 216f., 220, 276, 312 – Leiden Christi 15, 189, 192, 200, 203, 215f., 220f., 275f., 301, 303, 305, 312, 321 Livia 154, 156f. Makedonien 34, 45, 91, 98, 100f., 105, 140, 142, 154f., 179, 182f., 388 Martyrium 1, 19, 24, 186, 214f., 221, 240f., 247, 256, 283, 285, 376, 388 Marzeah 124 Men Tyrannos 134f., 139 Missionsreisen 8, 107, 181, 183, 198 Mitdarstellung 31, 217f., 220, 390 Mitleid 266 Monumentum Ancyranum 193 Nachahmung, Mimesis, imitatio 12, 18, 31, 144, 148f., 164, 168, 217f., 221, 267– 269, 283, 309–326, 346, 390 Nero 16, 186 „New Perspective on Paul“ 2, 20, 203, 383 Opus (Lokrien) 98, 132f., 138f., 149

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Paränese 12, 16, 74, 173, 215, 270, 275, 279, 305–307, 324 Patronatswesen 44f., 54, 62, 77, 83f., 87– 96, 109f., 116, 118, 170, 388 – „Brokerage“ 83f., 87f., 118, 389 – Christus als Patron 88 – Gott als Patron 83f., 88, 118 – Paulus als Patron 88, 91f., 101, 104, 106, 116, 118 Paulus – christliche Identität 170 – jüdische Identität 10–12, 27–29, 153, 190f., 194f., 203, 205 – Schwachheit 153, 191, 193–202, 205, 370 – Vermittungskompetenz 25, 28f., 116, 119, 153f. Peristasen(katalog) 174, 184, 193–199, 202 Philipperbrief – Freundschaftsbrief 70–72, 117, 147, 238, 275 – Familienbrief 71, 249, 275 – „Philipperhymnus“ 12–17, 64, 74, 146, 150, 157f., 168, 187, 209, 214, 220f., 257, 271, 275f., 283, 286, 297, 312– 319, 325, 330, 332–334, 337, 344–347, 373, 385 – politische Dimension 16, 25–28, 117, 157–159, 169, 172, 175f., 187, 224, 346, 382, 391f. – Pseudonymität 1, 39f., 376f. – Teilungshypothesen 4–6, 91, 169, 209, 243, 256f., 262, 381f. – Trostbrief 71 Philippi – Bevölkerung 93, 154f. – römische Kolonie 26, 92f., 103f., 155– 157, 159, 169, 172f., 187, 324, 380, 389, 392 – Romanitas 26, 92f., 96, 154–156, 164, 382, 388 platonische Philosophie 356–359, 362, 365f., 368f., 388 Prätorium 7, 174, 178f. regula fidei 358 Reich Gottes 174, 387

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Sach- und Namenregister

Reziprozität 19, 34, 38, 42, 44, 50, 57f., 62–65, 69, 77f., 80f., 83–87, 89, 109f., 113, 118, 241, 252, 258, 262f., 265, 268f., 273–276, 282, 285 Rhetorik 14, 18, 30, 68, 70, 75, 172, 186, 195, 207, 218, 221, 256, 261, 277, 299f., 316, 368, 383 Rosalien 99

Trauer 207f., 230, 237, 260, 265, 286 Traum 98f., 102, 128f., 132–134, 141, 154 tribus Voltinia 157, 159 Tugend 27, 30, 55–57, 64, 69, 73–75, 90, 106, 117, 144, 227, 229, 236, 273, 296, 323, 362, 368

Selbstruhm 95, 189–204 Serapis(-Kult) 98f., 103, 132–134, 138f., 149 Silvanus(-Kult) 99, 103f., 154 Silvanus (Paulusbegleiter) 105, 107, 140f., 160, 164 Sklave 48, 92, 99, 125–127, 179 Spanien 8, 180f., 185, 389 Status(denken) 16, 30, 48, 68, 70, 104, 145f., 148, 150, 157, 161, 166, 191f., 202, 204f., 390 – Statusdifferenz 48, 59, 62, 89, 101 – Statusgewinn 16, 192 – Statusgleichheit 55, 62, 72, 109f. – Statusverzicht 16, 19, 27, 64, 74, 168, 192 Sterben 12, 64, 74, 145, 226, 234, 242, 244, 260, 268, 301f., 314, 385 Stimmung 187, 207–221 – ästhetische Stimmung 209f. – existentialistische Stimmung 209f. – Grundstimmung 211–213, 215, 279 – Stimmungstheorie 31, 209–212, 218f. – Stimmungsumschwung 4f., 208 Stoa, stoische Philosophie 37, 40, 58, 60, 76, 84f., 108, 208, 225, 228f., 232f., 235, 246, 248, 252, 259f., 285, 289– 308, 323, 358, 365, 368f., 379 Sünde 321, 368f. Synagoge 8f., 35, 100f., 105, 160, 224, 243, 306 – Synagogenstrafe 11, 191

Valentinus, Valentinianer 339f., 345 Vereinswesen 23, 45, 96–107, 109, 116– 118, 121–151, 388 – Gründerfigur 100–104, 106f., 116f., 123–151, 161 – Translokalität 98, 102–104, 389 – Vereinsbeamte 23 – Vereinsinschriften 110, 123–138 – Vereinspatron 23, 111f., 116, 125f., 129, 132, 136, 139, 142, 146–148 Vorbild(lichkeit) 59, 129–132, 134, 139, 148–150, 262, 269, 314–317, 322 – Christus als Vorbild 17f., 74, 168, 172, 189, 215, 221, 246, 268, 275f., 284, 286, 309–311, 312–314, 324, 390 – Epaphroditus als Vorbild 276, 285, 315f. – Paulus als Vorbild 68, 103, 106, 116, 148–150, 192, 221, 251, 267f., 270, 276, 281, 283, 310f., 315f., 324, 326 – Sokrates als Vorbild 324

„Tag des Herrn“ 176, 187 Thessalonich 53, 98f., 101, 104, 132–134, 141, 155, 185 Timotheus 67, 105, 107, 140f., 144, 148, 176, 180, 315, 390 Totenreich 336f.

Unterwelt 226, 334

Wertlehre („theory of value“) 295–298, 303–306, 308 Wissen 351f., 355 – Hybridität von Wissen 355 – Wissensbestände 352, 354, 357–359, 365, 370f. – Wissensforschung 371 – Wissensgeschichte 352, 359 – Wissensordnung(en) 351–359, 363– 367, 371f. – Wissenssysteme 353 Xanthos 134f., 138f. Zeus 80, 90, 125, 128f. Zorn 227, 259, 270

Sach- und Namenregister aestimatio 295f., 298 amicitia 54f., 58f., 68, 110, 234 avocatio 236, 251 bona cogitare 236–238, 250f. convenientia 295 corona muralis 193, 198 crimen maiestatis 174 cursus honorum 137 fides 47, 59, 70, 79 gaudium, gaudere 78, 229f., 232, 235, 237, 248 laetitia 229, 234, 248 ratio acceptorum et datorum 41, 59, 62, 73, 117 revocatio 236f., 251 seditio 174 societas 42, 45–54, 108–112, 118f., 147, 389 voluptas 229f., 234, 237 ἀγάπη 207, 212f., 269, 272, 282 ἀγαπητός 56, 69, 243 ἀληθής 144, 221, 226 ἀπονία 227f. ἀρετή 56f., 67, 69, 90, 144, 221, 243 ἀταραξία 227f. αὐτάρκεια 57, 67, 75, 108, 235, 249 διάκονος 21–23, 101, 103, 105, 149 δόξα 85, 106, 125, 145, 158, 319, 391 ἐκκλησία 37, 103, 150, 202 ἐπίσκοπος 21–23, 101, 103, 105, 129, 149 εὐαγγέλιον 36, 49, 52, 85, 96, 153, 163f., 171, 174, 224, 245 εὐδαιμονία 57, 75, 125, 227 εὐπάθεια 229, 252, 303 εὐφροσύνη 225, 228, 230 εὐχαριστία, εὐχαριστεῖν 61, 69, 76, 81, 84, 134, 239 ἡδονή 90, 225, 227–229, 234f., 252, 278 θλῖψις 36, 184, 246, 262, 269, 303, 311

421

κατεργάζεσθαι 19, 214, 216 κοινόν 101, 132, 137 κοινωνία 35f., 42f., 47–52, 56, 69, 85, 101, 115, 220, 239, 245, 249, 280 κύριος 16, 24, 162, 169, 297, 330, 337 λύπη 227f., 230, 235f., 242, 246, 252, 264, 266 μετασχηματίζεσθαι 158, 302, 319 μορφή 15, 17, 214, 319, 333f. οἰκείωσις 295 οἴκος 98, 126 πάθη 226, 228f., 252, 261 πίστις 20, 163, 202f., 213, 241, 247, 268, 358 πολίτευμα, πολιτεύεσθαι 25, 27f., 30, 37, 96, 158–164, 166f., 169, 171–173, 302, 318, 321, 325 πνεῦμα 37, 163, 201, 271, 280, 290, 299, 302 προκοπή 49, 64, 247, 290 προσευχή 160 σύζυγος, συζυγία 62, 67, 90, 95 συμμιμητής 207, 216f., 220f., 309f. σύμμορφος, συμμορφίζεσθαι 158, 249, 302, 319 σύμψυχος 37, 213, 220, 272f., 310 σχῆμα 207f., 319, 342 σωτήρ, σωτηρία 75, 115, 158, 162f., 169, 171, 214, 216, 303, 306 ταπείνωσις, ταπεινοῦν 158, 297, 319, 329, 335, 341 φιλία 37, 43, 54f., 62, 67, 70, 72, 74, 117, 226, 249 φίλος 62, 70, 249 φόβος 212, 214, 216, 228, 252 φρόνησις, φρονεῖν 28, 37, 48, 65, 213, 272 χαρά 75, 212–215, 221, 223, 225f., 228f., 239, 243, 247f., 251f., 255, 264, 267, 271, 278, 303–305 χρεία 48, 52, 67, 84, 264 ψυχή 37, 56, 135, 163, 184, 272f.