Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis im europäischen Auslieferungsverkehr [1 ed.] 9783428559541, 9783428159543

Die zunehmende Effektivierung grenzüberschreitender Strafverfolgung im europäischen Rechtsraum verlangt eine parallele A

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German Pages 432 Year 2020

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Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis im europäischen Auslieferungsverkehr [1 ed.]
 9783428559541, 9783428159543

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Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Band / Volume 42

Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis im europäischen Auslieferungsverkehr

Von

Christopher Penkuhn

Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTOPHER PENKUHN

Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis im europäischen Auslieferungsverkehr

Beiträge zum Internationalen und Europäischen Strafrecht Studies in International and European Criminal Law and Procedure Herausgegeben von / Edited by Prof. Dr. Dr. h.c. Kai Ambos, Richter am Kosovo Sondertribunal Berater (amicus curiae) Sondergerichtsbarkeit für den Frieden, Bogotá, Kolumbien

Band / Volume 42

Der ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungshindernis im europäischen Auslieferungsverkehr

Von

Christopher Penkuhn

Duncker & Humblot · Berlin

Unter Beteiligung des Göttinger Vereins zur Förderung der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie sowie ihrer praktischen Anwendung e. V.

Die Juristische Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen hat diese Arbeit im Jahr 2019 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 1867-5271 ISBN 978-3-428-15954-3 (Print) ISBN 978-3-428-55954-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Für meine Eltern, die größten Menschen, für Elke, den hellsten Stern und für Mariella, den Zauber des Anfangs.

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht der Juristischen Fakultät der Georg-August-Universität zu Göttingen und wurde dort im Sommersemester 2019 als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur sind auf dem Stand des Dezembers 2019. Mein herzlicher Dank gilt zuallererst Professor Dr. Dr. h. c. Kai Ambos für eine umfassende Betreuung dieses Projekts, die zügige Erstellung des Erstgutachtens sowie die Aufnahme der Arbeit in diese Schriftenreihe. Ferner gebührt ihm mein Dank für die wissenschaftliche Freiheit, die er mir hat zukommen lassen, sowie die zahlreichen Möglichkeiten, die er mir im Rahmen meiner Tätigkeit an seinem Lehrstuhl eröffnet hat und die Erfahrungen, die ich im Zuge dessen sammeln durfte. Besonders bedanken möchte ich mich an dieser Stelle ebenfalls bei Professor Dr. José Martínez für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens. Ein weiterer Dank gilt Professor Dr. Stefanie Bock, die diese Arbeit seit ihren Anfängen kritisch und hilfreich begleitet hat, für ihr offenes Ohr und ihre uner­ müdliche Diskussionsbereitschaft. Ohne ihre zahlreichen Anmerkungen und weiterführenden Hinweise wäre diese Arbeit in der vorliegenden Form nie entstanden. Darüber hinaus schulde ich dem Göttinger Verein zur Förderung der Strafrechtswissenschaft und Kriminologie sowie ihrer praktischen Anwendung e. V. für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses Dank. Diese Arbeit trägt meinen Namen, meine Handschrift und bringt allein meine Ansichten zum Ausdruck. Sie wäre jedoch ohne die vielseitige Unterstützung vieler Personen nicht möglich gewesen. Ebenfalls sei deshalb an dieser Stelle all denen mein herzlichster Dank ausgesprochen, die ohne fachlichen Beirat und dennoch auf ihre ganz eigene, gleichsam bedeutsame Weise zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Zunächst danke ich Annelie und Nathalie, die die mühevolle Arbeit des Lektorats auf sich genommen haben, für ihre hilfreichen Anmerkungen und wertvolle Freundschaft. Weiter bin ich meiner Familie, insbesondere meinem Bruder Alexander, meinen Großeltern, Hartmut, Gaby, Désirée sowie all jenen, die hier keine namentliche Erwähnung finden, für ihren jahrelangen Rückhalt außerordentlich dankbar. Ebenso gebührt ein tiefer Dank meinen Freunden – ­allen voran Yvonne, aber ebenso Alina, Eric, Joschka, Leon, Luca, Robert, Selen sowie Torben und all denen, die mich ebenfalls begleitet haben und hier nicht genannt werden können – für ihre Aufrichtigkeit, eine helfende Hand zu jeder Zeit, all die Abwechslung und jeden Zuspruch, den ich erfahren durfte.

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Vorwort

Schließlich gilt mein größter Dank den drei Menschen, die in unvergleichbar selbstloser Weise den wichtigsten Beitrag zum Gelingen dieser Arbeit und meinem Werdegang geleistet haben: Meine Eltern, Siegfried und Kornelia Penkuhn, haben nicht nur während der Promotion, sondern Zeit meines Lebens zu mir gehalten und mich bedingungslos gefördert, weshalb ich den ihnen gebührenden Dank hier unmöglich in Worte fassen kann. Zuletzt danke ich Elke. Dafür, dass sie immer an mich geglaubt und immer an meiner Seite mit mir gekämpft hat. Leider hat sie am Ende ihren eigenen Kampf verloren und konnte die Fertigstellung dieser Arbeit nicht mit mir erleben. Ich widme Euch diese Arbeit in dem Wissen, dass Ihr die größte Anerkennung verdient, weil Ihr seid, wie Ihr seid, und in dem Wissen, dass ich mit diesen Worten nur einen Bruchteil dieser Anerkennung aussprechen kann. Göttingen, im Januar 2020

Christopher Penkuhn

„Vor Grenzpfählen macht die Gerechtigkeit nicht halt. Ihr ist der Gedanke unerträglich, daß jenseits einer konventionellen Linie ungesühnt und frei bleiben soll, was diesseits derselben als schuldhaft verfolgt, gerichtet und geahndet wird; dass es ein Recht gegen das Recht geben könne. […] So alt wie die Erkenntnis ihrer Unentbehrlichkeit ist uns das Bewußtsein, […] daß das Licht der Gerechtigkeit durch das Medium eines territorialen Gesetzes nur in gebrochenen Strahlen uns leuchtet: So alt aber auch zugleich unser Streben, Recht und Rechtspflege über die engen Schranken örtlicher Ausschließlichkeit hinaus zu heben, dem positiven Gesetz auch räumlich jene Gemeingültigkeit und Universalität zu sichern, die unser Rechtsgefühl fordert. Denn über dem Verbande des Einzelstaats steht der Menschheitsverband.“ von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 2 f.

Inhaltsverzeichnis Einleitung 27 A. Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Verlauf der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Kapitel 1

Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 30

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 I.

Erfordernis und Ziel internationaler Unterstützung im Rahmen transstaatlicher Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

II. Europarechtliche Grundlagen für den Gegenstand der Untersuchung . . . . . . . . 33 III. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 IV. Internationale Strafrechtshilfe im dreidimensionalen Verhältnis . . . . . . . . . . . . . 40 B. Erscheinungsformen der Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 C. Die Rechtshilfequellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe . . . . . . . . . . . . 57 I.

Das klassische Auslieferungsverfahren im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

II. Auslieferungsgegenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 III. Die reformierten Auslieferungsverfahren im Rechtsraum des Europarats und der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Das Auslieferungsverfahren im Rahmen des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . 74 2. Das Übergabeverfahren nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 a) Genese und Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung . . . . . . . . . . . . . 80 b) Die Grundlage der gegenseitigen Anerkennung im gegenseitigen Vertrauen 84 c) Der Europäische Haftbefehl als Basismodell der EU . . . . . . . . . . . . . . . . 95

12

Inhaltsverzeichnis Kapitel 2

Der ordre-public-Vorbehalt 105 A. Begriff des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 I.

Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

II. Beschränkung auf die Korrektur unerträglicher Ergebnisse durch die Abwehr ordre-public-widriger Rechtssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 III. Erstreckung des ordre-public-Einwands auf die Anerkennung ausländischer Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Verbot der Fremdrechtsanwendung im Strafrecht und darauf beruhendes Erfordernis eines anerkennungsrechtlichen ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . 113 2. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO als normiertes Beispiel und die effet atténué . . . . . . 115 IV. Insbesondere: Berücksichtigung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 V. Ergebnis: Allgemeingültige Aussagen zum ordre-public-Vorbehalt . . . . . . . . . . 118 B. Begriff des „europäischen“ ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 I.

Ordre public interne und ordre public international . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

II. Originär nationaler Charakter des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 III. Internationaler, internationalisierter, europäischer und europäisierter ordre public 121 1. Gemeinsames europäisches Wertefundament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Echter europäischer ordre public und nationaler europäisierter ordre public . . 128 a) Echter europäischer ordre public des Unionsrechts im Anwendungs­ bereich der unmittelbaren Rechtswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 b) Keine unmittelbare Wirkung der Europäischen Menschenrechts­ konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 c) Europäisierter nationaler ordre-public-Vorbehalt im Zusammenhang mit unionsrechtlich determiniertem nationalen Recht und dem Vertragsrecht des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Kapitel 3 Die Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands im europäischen Auslieferungsverkehr 146



A. Die ordre-public-Klausel des § 73 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 I.

Keine Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im europäischen Auslieferungsverkehr . 149

II. Der „europäische“ ordre public nach § 73 S. 2 IRG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 B. Keine ordre-public-Vorbehalte im europäischen Auslieferungsverkehr . . . . . . . . . . . 152 I.

Fehlende Regelungen im EuAuslÜbk und SDÜ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Inhaltsverzeichnis

13

II. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 C. Kann es einen ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr geben? 158 I.

Zulässigkeit einer ordre-public-gestützten Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 1. Vereinbarkeit eines ordre-public-Vorbehalts mit dem Grundsatz gegen­ seitiger Anerkennung und dem „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens“ . . . . . 159 a) Normenhierarchisch übergeordnete Grundrechtsbindung der Mitglied­staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 aa) Bindung der Mitgliedstaaten an die nationalen Grundrechte am Bespiel des Art. 1 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . 164 bb) Anwendungsvorrang des Unionsrechts und „Solange“-Recht­ sprechung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 cc) (Übergeordnete) primärrechtliche Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 b) Individualschützende Zielsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 aa) Verweigerung und Bedingung der Vollstreckung im Interesse des Betroffenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 bb) Grundrechtsbekennende, aber normativ unverbindliche Erwägungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 cc) Weitere individualschützende Vorschriften des Rahmenbeschlusses . 181 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 c) Die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge im Staatenverbund der Europäischen Union und die Bedeutung ihrer indisponiblen Verfassungsidentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 aa) Die Verfassungsidentität gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 bb) Die Aktivierung der Identitätskontrolle im Beschluss des Bundes­verfassungsgerichts vom 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) . . 189 cc) Die verfassungsrechtliche Identitätskontrolle als Ausdruck ordre-­public-gestützter Vollstreckungsverweigerung . . . . . . . . . . . . . 194 dd) Die Pflicht zur Achtung der nationalen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 ee) Beschränkung der Identitätskontrolle auf Bereiche effektiven Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 ff) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 d) Der Gedanke des „Notbremseverfahrens“ der Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 aa) Exkurs: Das Rechtsetzungsverfahren der Art. 82 und 83 AEUV und der sogenannte „Notbremsemechanismus“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

14

Inhaltsverzeichnis bb) Der Begriff der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ 215 cc) Verallgemeinerung der hinter dem „Notbremsemechanismus“ stehenden Wertungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 2. Primärrechtlicher Einwand der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 II. Zulässigkeit einer ordre-public-gestützten Verweigerung der Auslieferung auf Grundlage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens . . . . . . . . . . . . 232 1. Kein genereller Ausschluss eines ordre-public-Einwands gem. Art. 27 S. 1 WÜRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Vorgaben der Art. 27 S. 1 und Art. 53 S. 1 WÜRV . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Möglichkeit eines Vorbehalts gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 c) Kein „identitätsgeleiteter national-verfassungsrechtlicher“ ordre-public-​ Einwand im Bereich des Europäischen Auslieferungsübereinkommens . 238 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 2. Keine grundsätzliche Vorrangwirkung der Konventionsgewährleistungen und die Rechtsfigur der „flagrant denial of justice“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 Kapitel 4 Inhaltliche Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands 249



A. Zweigliedrige Schutzrichtung: Individualschützende und souveränitätsorientierte Besetzung des ordre-public-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 B. Der Inhalt des ordre-public-Einwands gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I.

Der auslieferungsrelevante Inhalt des echten europäischen ordre public . . . . . . 253 1. Schutzbereichsdifferenzierte Berücksichtigung im Fall individual­ schützender Rechtssätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 a) Erste Beschränkung auf absolut gewährleistete Garantien . . . . . . . . . . . . 254 b) Zweite Beschränkung auf den Wesensgehalt eines Grundrechts . . . . . . . 256 2. Berücksichtigung der fehlenden Verhältnismäßigkeit als weiteres ordre-­public-immanentes Mindestkriterium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3. Der Kernbestand der mitgliedstaatlichen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV als Bestandteil des unionsrechtlichen ordre public . . . . . . . . . . . . 262 a) Schnittmenge des europäischen ordre public und des nationalen ordre ­public international . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

Inhaltsverzeichnis

15

b) Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit als nicht ordre-public-fähiges fundamentales Strukturprinzip der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . 265 c) Grundsätzlicher Ausschluss des souveränitätsorientierten ordre public international im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten zueinander . . . . . . . 268 d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 4. Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des unionsrechtlichen ordre public . . . . . . . . . . . . . 273 a) Grundlegende Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 273 b) Gegenseitige Anerkennung als im Ursprung beschränkter Bestandteil des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 c) Gegenwärtige ordre-public-interne Nachordnung der gegenseitigen Anerkennung gegenüber der individualrechtlichen Aufladung . . . . . . . . 278 d) Gegenseitige Anerkennung als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 II. Der Inhalt des europäisierten nationalen ordre public international . . . . . . . . . . 282 1. Vorrang der Gewährleistungen der EMRK vor dem Grundsatz gegen­ seitiger Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 2. Schutz durch den ordre-public-Einwand zugunsten notstandsfester, absolut gewährleisteter und im Wesensgehalt betroffener Konventionsgarantien . . . 285 a) Keine generelle Beschränkbarkeit der Konventionsgarantien gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 b) Differenzierung in beschränkbare, „bloß“ absolut gewährleistete und notstandsfeste Konventionsgarantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 c) Grundsätzliches Erfordernis der Entscheidung der Vertragsstaaten­ gesamtheit zugunsten eines ordre-public-fähigen Schutzgutes . . . . . . . . 289 d) Keine Berücksichtigung konventionsimmanenter Schranken . . . . . . . . . . 293 e) „The very essence of the right“ als Wesensgehaltsgarantie der Europäischen Menschenrechtskonvention und die „flagrant denial of justice“-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 III. Der Inhalt des „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public 296 1. Begrenzung auf die „in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze“ . . . . . 298 2. Der Menschenwürdekern eines jeden Grundrechts gem. Art. 1 Abs. 1 GG . . 299 3. Änderungsfeste Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . 311 IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 C. Der Inhalt des ordre-public-Einwands gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318

16

Inhaltsverzeichnis I.

Der Inhalt des europäisierten nationalen ordre public i. w. S. . . . . . . . . . . . . . . . 318

II. Der Inhalt des zulässigen rein nationalen ordre public international . . . . . . . . . 319 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 I.

Abwesenheitsverurteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 1. Im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 2. Im Anwendungsbereich des Europäischen Auslieferungsübereinkommens . 328

II. Menschenrechtswidrige Haftbedingungen im Ausstellungs- resp. ersuchenden Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 III. Verstoß gegen ein faires Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 E. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

Kapitel 5

Die Bedeutung des ordre-public-Vorbehalts im sonstigen europäischen Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr 351

A. Vorüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 B. Der gegenwärtige sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 I. Der ordre-public-Einwand im unionsrechtlichen sonstigen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen am Beispiel der Europäischen Ermittlungsanordnung . . . . . . . . . 354 1. Die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung und ihre Verweigerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 2. Individualschützende Zielsetzung der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 3. Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA als nicht ausreichender und nicht abschließender ordre public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 II. Der ordre-public-Einwand im unionsrechtlichen Vollstreckungshilfeverkehr . . . 366 1. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung . . . 367 2. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Bewährungsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369 3. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Geldstrafen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 373 4. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über die Europäische Überwachungsanordnung . . . 376

Inhaltsverzeichnis

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5. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Einziehungsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 C. Der gegenwärtige sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum des Europarats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 I.

Der sonstige Rechtshilfeverkehr in Strafsachen im Rechtsraum des Europarats nach Maßgabe des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens . 382

II. Der Vollstreckungshilfeverkehr in Strafsachen im Rechtsraum des Europarats nach Maßgabe des Europäischen Überstellungsübereinkommens 385 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Zusammenfassung der wesentlichen Untersuchungsergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Abkürzungsverzeichnis a. A. andere Ansicht a. a. O. an angegebenem Ort am Ende a. E. a. F. alte Fassung abgedr. abgedruckt ABl. Amtsblatt abl. ablehnend Abs. Absatz Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union AEUV Area of Freedom, Security and Justice AFSJ ähnl. ähnlich Alt. Alternative Anm. Anmerkung AO Abgabenordnung Archiv für öffentliches Recht (Zeitschrift) AöR ARHG (österreichisches) Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz Art. Artikel ausf. ausführlich AVR Archiv des Völkerrechts (Zeitschrift) Außenwirtschaftsdienst des Betriebs-Beraters (Zeitschrift) AWD BAnz Bundesanzeiger BayObLG Bayerisches Oberstes Landesgericht BayVBl. Bayerische Verwaltungsblätter (Zeitschrift) Beck’scher Online-Kommentar BeckOK BFH Bundesfinanzhof Entscheidungen des Bundesfinanzhofs BFHE BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGBl. Bundesgesetzblatt Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts BGE BGer (schweizerisches) Bundesgericht BGH Bundesgerichtshof BGHSt Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BGHZ Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat BMI Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz BMJV Bundesrepublik Deutschland BRD BR-Drs. Bundesratsdrucksache Bsp. Beispiel(e) bspw. beispielsweise BStGer (schweizerisches) Bundesstrafgericht BT-Drs. Bundestagsdrucksache

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Abkürzungsverzeichnis

BVerfG Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE Kammerentscheidungen des Bundesverfassungsgerichts BVerfGK BVerwG Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts BVerwGE bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise Codice di procedura penale (italienische Strafprozessordnung) CCP Charter of the Fundamental Rights of the European Union CFREU Cambridge Journal of International and Comparative Law CJICL Common Market Law Review CML Rev. das heißt d. h. derselbe / dieselbe ders. / dies. Die öffentliche Verwaltung (Zeitschrift) DÖV Deutsche Richterzeitung DRiZ Deutsche Steuer-Zeitung DStZ dt. deutsch Deutsches Verwaltungsblatt (Zeitschrift) DVBl. European Law Review E.L.Rev. European Arrest Warrant EAW Europäische Beweisanordnung EBA ebd. ebenda European Convention on Human Rights ECHR Europäische Ermittlungsanordnung EEA Europäische Gemeinschaften EG Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuch EGBGB Einführungsgesetz zum Gerichtsverfassungsgesetz EGGVG Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte EGMR Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft EGV einstw. einstweilig(e) European Investigation Order EIO European Journal of International Law EJIL European Journal of Law Reform EJLR Europäisches Justizielles Netz EJN Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD Europäische Kommission für Menschenrechte EKMR European Law Journal ELJ endg. endgültig engl. englisch(e) entspr. entsprechend European Policy Analysis (Zeitschrift) EPA European Public Law (Zeitschrift) EPL Journal of the Academy of European Law ERA-Forum Erg. Ergänzung(en) et alii / aliae / alia (lat. = und andere) et al. European Treaties Series ETS Europäische Union EU Europäisches Auslieferungsübereinkommen EuAuslÜbk

Abkürzungsverzeichnis

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Übereinkommen über die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union European Criminal Law Review EuCLR European Constitutional Law Review EuConstLRev Europäisches Gericht erster Instanz EuG EuGH Europäischer Gerichtshof Europäische Grundrechte-Zeitschrift EuGRZ Europäisches Gerichtsstand- und Vollstreckungsübereinkommen EuGVÜ Europäischer Haftbefehl EuHb Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen EuHbG Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz) (österreichisches) Bundesgesetz über die justizielle Zusammenarbeit in EU-JZG Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Europarecht (Zeitschrift) EuR Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen EuRhÜbk Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den EU-RhÜbk Mitgliedstaaten der Europäischen Union European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice EurJCrClCJ Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter PerEuÜberstÜbk sonen Vertrag über die Europäische Union EUV EU-VereinfAuslÜbk Übereinkommen über das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union Europäisches Übereinkommen über die Übertragung der StrafverfolEuVerfolgÜbk gung Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht EuZW Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht (Zeitschrift) EWS folgende f. / ff. FamRZ Zeitschrift für das gesamte Familienrecht FG Festgabe Fn. Fußnote(n) franz. französisch(e) FS Festschrift G Gesetz Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (Zeitschrift) oder Generalanwalt GA GAin Generalanwältin Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland GG Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien GGO Große Kammer GK German Law Journal GLJ Gemeinsames Ministerialblatt GMBl. Zeitschrift für das Privatrecht der Europäischen Union GPR Charta der Grundrechte der Europäischen Union GRCh grdl. grundlegend grds. grundsätzlich GVG Gerichtsverfassungsgesetz herrschende Ansicht h. A. EU-AuslÜbk

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Abkürzungsverzeichnis

herrschende Meinung h. M. Herv. Hervorhebung(en) HK Handkommentar Onlinezeitschrift für höchstrichterliche Rechtsprechung im Strafrecht HRRS Hs. Halbsatz i. d. F. in der Fassung in der Regel i. d. R. im Ergebnis i. Erg. im engeren Sinne i. e. S. im Original i. O. im Rahmen der / des i. R. d. im Rahmen einer / eines i. R. e. im Sinne der / des i. S. d. im Sinne einer / eines i. S. e. im Übrigen i. Ü. in Verbindung mit i. V. m. im weiteren Sinne i. w. S. International Court of Justice ICJ International & Comparative Law Quarterly (Zeitschrift) ICLQ International Criminal Tribunal for Rwanda ICTR Internationaler Gerichtshof IGH Statut des Internationalen Gerichtshofs von 1945 IGHS Informationsbrief Ausländerrecht (Zeitschrift) InfAuslR insb. insbesondere Internal Security (Zeitschrift) InternSecur Gesetz über die Wahrnehmung der Integrationsverantwortung des BunIntVG destages und des Bundesrates in Angelegenheiten der ­Europäischen Union (Integrationsverantwortungsgesetz) Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte IPbpR IPR Internationales Privatrecht Praxis des Internationalen Privat- und Verfahrensrechts (Zeitschrift) IPRax Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen IRG (schweizerisches) Bundesgesetz über die internationale Rechtshilfe in IRSG Strafsachen Internationaler Strafgerichtshof IStGH Juristische Arbeitsblätter (Zeitschrift) JA Juristische Blätter (Zeitschrift) JBl JGG Jugendgerichtsgesetz Jherings Jahrbücher für die Dogmatik des bürgerlichen Rechts JherJb Jahrbuch des öffentlichen Rechts JöR Juristische Rundschau (Zeitschrift) JR Journal für Strafrecht JSt Juristische Ausbildung (Zeitschrift) Jura Juristische Schulung (Zeitschrift) JuS Juristische Wochenschrift (Zeitschrift) JW JZ Juristenzeitung Kap. Kapitel KG Kammergericht

Abkürzungsverzeichnis

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krit. kritisch Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und RechtswissenKritV schaft (Zeitschrift) Lfg. Lieferung Literatur oder litera (lat. = Buchstabe) Lit. / lit. Ls. Leitsatz mit weiteren Nachweisen m. w. N. mit Wirkung zum m. W. z. Maastricht Journal of European and Comparative Law MJ Max Planck Encyclopedia of Public International Law MPEPIL neue Fassung n. F. Abkommen zwischen den Parteien des Nordatlantikvertrags über die NATO-TS Rechtsstellung ihrer Truppen (NATO-Truppenstatut) New Journal of European Criminal Law NJECL Neue Juristische Online-Zeitschrift NJOZ Neue Juristische Wochenschrift NJW Neue Juristische Wochenschrift Rechtsprechungs-Report NJW-RR Neue Kriminalpolitik (Zeitschrift) NK Nr(n). Nummer(n) Rechtsprechungsdatenbank der Gerichte in Nordrhein-Westfalen NRWE Neue Zeitschrift für Strafrecht NStZ Neue Zeitschrift für Strafrecht Rechtsprechungs-Report NStZ-RR Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rechtsprechungs-Report NVwZ-RR Organisation for Economic Co-operation and Development (OrganisaOECD tion für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) Österreichische Juristenzeitung ÖJZ OLG Oberlandesgericht Gesetz über Ordnungswidrigkeiten OWiG para. / paras. Paragraph(en) Proposal Directive PD Permanent Structured Cooperation PESCO Permanent International Court of Justice PICJ polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit PJZS Prot. Protokoll Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RabelsZ Ratsdok. Ratsdokument Rb Rahmenbeschluss Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseiRbEÜA tigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft („Rahmenbeschlusses über die Europäische Überwachungsanordnung“) Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die ÜberRbEuHb gabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten Rahmenbeschluss über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseiRbEVA tigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union („Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung“)

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Abkürzungsverzeichnis

resp. respektive Rev. Review Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts RFSR RGBl. Reichsgesetzblatt österreichisches Rechtsinformationssystem des Bundes RIS RiVASt Richtlinien für den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten Recht der internationalen Wirtschaft (Zeitschrift) RIW Rl Richtlinie Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung RlEEA Rn. Randnummer(n) Rs. Rechtssache(n) Rspr. Rechtsprechung Recht und Politik (Zeitschrift) RuP Richtlinien für die Behandlung völkerrechtlicher Verträge RvV s. siehe Seite oder Siehe S. siehe oben s. o. siehe unten s. u. Schleswig-Holsteinische Anzeigen SchlHA scilicet (lat.: das heißt) scil. Schengener Durchführungsübereinkommen SDÜ Sammlung (der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts Slg. erster Instanz) sogenannte / r/s sog. StGB Strafgesetzbuch ständiger Internationaler Gerichtshof StIGH Entscheidungen des ständigen Internationalen Gerichtshofs stIGHE StPO Strafprozessordnung StraFo Strafverteidiger-Forum (Zeitschrift) Strafverteidiger (Zeitschrift) StV Schweizerische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht SZW Tz. Textziffer unter anderem u. a. UA Unterabsatz Übk. Übereinkommen United Nations UN United Nations Reports of International Arbitration Awards UNRIAA unveröff. unveröffentlicht versus oder vom v. vor allem v. a. Vienna Convention on the Law of Treaties VCLT Verf. Verfasser Verfassungsgerichtshof der Republik Österreich VfGH VO Verordnung Vor Vorbemerkungen Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer VVDStRL VwGO Verwaltungsgerichtsordnung

Abkürzungsverzeichnis Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge WÜRV zum Teil z. T. Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht ZaöRV Zeitschrift für europarechtliche Studien ZEuS Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik ZIS ZJS Zeitschrift für das Juristische Studium Zeitschrift für öffentliches Recht (Österreich) ZÖR ZP Zusatzprotokoll ZPO Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik ZRP Zeitschrift für schweizerisches Recht ZSR Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht ZStrR Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft ZStW zutr. zutreffend zw. zweifelnd

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Einleitung A. Gegenstand der Untersuchung Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen ist eine Materie, die die nationale Rechtsordnung mit der internationalen in besonderer Weise verbindet, die in heutiger Zeit wieder verstärkt an Bedeutung gewinnt und die gerade auf der Ebene der Europäischen Union einer ebenso umfangreichen wie interessanten Entwicklung unterliegt. Ihre Grundlagen, die Anforderungen, die sie an die nationalen Rechtsordnungen stellt und welche Einflüsse sie heute auf unsere Gewährung justizieller Unterstützung für andere Staaten auszuüben vermag, sind für die vorliegende Untersuchung grundlegende Entscheidungsfragen. Dabei kann die – nicht zuletzt tagespolitische – aktuelle Bedeutung des Auslieferungsverkehrs kaum überschätzt werden. Seit dem fehlgeschlagenen Putschversuch in der Türkei in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 betreibt die Türkische Republik eine intensive Strafverfolgung der an dem beabsichtigten Staatsstreich beteiligten Täter, und zwar auch über ihre nationalen Grenzen hinaus.1 Im Rechtsraum der Europäischen Union war das Verfahren um den ehemaligen katalanischen Regierungschef Carles Puigdemont das gegenwärtig wohl bedeutsamste Beispiel für das Übergabeverfahren auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls.2 Um der Verdächtigen habhaft zu werden oder um Zugriff auf im Ausland befindliche Beweismittel zu erhalten, ist ein Staat in solchen Konstellationen auf die Mithilfe anderer Staaten angewiesen. Dabei erfolgt die Unterstützung im Bereich der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl, während im Bereich der Zusammenarbeit der Europaratsstaaten auf die traditionelle völkervertragliche zwischenstaatliche Kooperation zurückgegriffen werden muss. Die Europäischen Kommission hat darüber hinaus in einem Dokument vom 30.08.2019 eine statistische Erhebung hinsichtlich der Ausstellung und Vollstreckung Europäischer Haftbefehle für die Zeit von 2005 bis 2017 bekanntgegeben.3 Sie belegt, dass die Anzahl ausgestellter Haftbefehle mit unionsweit absolut 17.491 1

Vgl. dazu nur Böhm, NStZ 2018, 197 (203). S. dazu nur OLG Schleswig, Beschluss v. 12.07.2018 (1 Ausl (A) 18/18 (20/18)), NJW 2019, 93 ff.; Ambos, Kann Puigdemont doch wegen Rebellion verurteilt werden? (LTO  v. 18.04.2018); Heger, ZIS 2018, 185 ff.; Karpenstein / Sangi, Der Fall Puigdemont (05.04.2018); Top, The European Arrest Warrant against Puigdemont: A feeling of déjà vu? (03.11.2017); Romero, EuClR 8 (2018), 167 ff.; Böhm, NStZ 2019, 256 (257); Foffani, EuClR 8 (2018), 196 ff. 3 SWD(2019), 318 final v. 30.08.2019, S. 3 ff. 2

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Einleitung

im Jahr 2017 ihren dokumentierten Höhepunkt erreicht hat. Parallel dazu befindet sich die Anzahl der Vollstreckungen mit einem Jahreswert von 6.317 im Jahr 2017 ebenfalls auf einem Rekordhoch. Schließlich ergibt sich die besondere Bedeutung des Übergabeverkehrs gerade für die Bundesrepublik Deutschland, die jährlich einen Großteil der registrierten Haftbefehle ausstellt resp. vollstreckt. So entfielen im Jahr 2017 2.600 der insgesamt 17.491 ausgestellten (14,86 %) und 1.234 der insgesamt 6.317 vollstreckten (19,53 %) Haftbefehle auf die deutschen Justizbehörden.4 20000 18000 16000 14000 12000 10000 8000 6000 4000 2000 0

2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Anzahl ausgestellt

Anzahl vollstreckt

Schaubild 1: Anzahl ausgestellter und vollstreckter Europäischer Haftbefehle 2005–20175

Betrachten wir nunmehr den Europäischen Rechtsraum, ist festzustellen, dass der Bereich der gegenseitigen Unterstützung in Strafverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union einerseits und den Vertragsstaaten des Europarats andererseits in den letzten Jahren vermehrt Gegenstand vereinheitlichender Rechtsetzung gerade im Bereich der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit gewesen ist.6 Die zunehmende grenzüberschreitende Kriminalität ruft eine effektive grenzüberschreitende Strafverfolgung auf den Plan, die mit dem Verbrechen Schritt halten muss. Diese Perspektive darf indes nicht dazu führen, dass die Verfahrensrechte des Beschuldigten außer Acht gelassen werden. 4

SWD(2019), 318 final v. 30.08.2019, Annex I (S. 9 und 20) sowie Annex III (S. 49 f.). SWD(2019), 318 final v. 30.08.2019, S. 3 ff. 6 S. hierzu nur die Auflistung bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 10 f. 5

B. Verlauf der Untersuchung

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B. Verlauf der Untersuchung Die vorliegende Untersuchung greift zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Rahmen von Vorabentscheidungsverfahren (EuGH [GK], Urteil v. 29.01.2013 – C-396/11 [Ciprian Vasile Radu] und EuGH [GK], Urteil v. 26.02.2013 – C-399/11 [Stefano Melloni / Ministerio Fiscal]) auf, in denen die Frage aufgeworfen wird, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aus über den in Art. 3, 4 und 4a des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl genannten Gründen hinaus, insbesondere wegen einer möglichen Grundrechtsverletzung, abgelehnt werden kann. Dies führt weitergehend zu der umfassenderen Fragestellung, ob die Übergabe i. R. d. Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund „wesentlicher Grundsätze der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen“ und damit aufgrund des schillernden Konzepts des ordre public abgelehnt werden kann. Die Untersuchung beginnt zunächst mit einer grundlegenden Darstellung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, die die völkerrechtlichen Hintergründe und eine Begriffsdarstellung einschließt. Dem Leser werden darüber hinaus die Erscheinungsformen und Rechtsquellen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen vorgestellt. Daran anschließend wird das Auslieferungsverfahren insbesondere in den Blick genommen und sogleich die Besonderheiten des Verfahrens für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf der einen und der des Europarats auf der anderen Seite herausgestellt. Hierbei verdient insbesondere der die Zusammenarbeit in der Europäischen Union tragende Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung besondere Berücksichtigung, da auf diesen die relevanten Reformen des unionalen Rechtshilferechts zurückzuführen sind. Daran anschließend findet der Leser den Schwerpunkt der Arbeit, wobei zunächst eine Definition des Konzepts des ordre public herausgearbeitet und zugleich den betroffenen Rechtsordnungen – nationales, Unions- und Europarecht im weiteren Sinne  – zugeordnet wird. Darauf aufbauend kann die Kernfrage der Untersuchung, ob ein ordre-public-Vorbehalt zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bzw. der Verweigerung eines Auslieferungsersuchens nach Maßgabe des Europäischen Auslieferungsübereinkommens berechtigt, umfassend geklärt werden, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Unterschiede der beiden betrachteten Rechtsordnungen gelegt wird. Abschließend wird die inhaltliche Ausgestaltung einer ordre-public-basierten Verweigerung der Übergabe resp. Auslieferung detailliert untersucht und insbesondere die aktuellen Fallgestaltungen um Abwesenheitsverurteilungen, menschenrechtswidrige Haftbedingungen und der vermehrt proklamierte Verstoß gegen ein faires Verfahren in den Blick genommen. Im Schlusskapitel wird eine Übertragung der zuvor erlangten Untersuchungsergebnisse auf die zwei neben der Auslieferung bestehenden Bereiche des Rechtshilferechts – der sonstigen Rechts- und Vollstreckungshilfe – geprüft, wobei auch insoweit die Besonderheiten des Rechts der Europäischen Union und des Europarats Berücksichtigung finden. Eine Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse rundet die Arbeit ab.

Kapitel 1

Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen In diesem ersten Kapitel erfolgt zunächst eine grundlegende Darstellung des internationalen Rechtshilfeverkehrs in Strafsachen. Ausgehend von den völkerrechtlichen Grundlagen im Bereich Strafverfolgung und -vollstreckung mit grenzüberschreitendem Bezug wird das Erfordernis nach und das Ziel von internationaler Rechtshilfe in Strafsachen erarbeitet. Im Anschluss wird ein Begriff der internationalen Strafrechtshilfe für den Fortgang der Untersuchung entwickelt und die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtshilfebeziehung zwischen den völkerrechtlichen Akteuren untersucht. Weiter finden sodann die Ausprägungen der Rechtshilfe und ihre Rechtsgrundlagen im nationalen wie internationalen Recht Berücksichtigung.

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen I. Erfordernis und Ziel internationaler Unterstützung im Rahmen transstaatlicher Strafverfahren Die Zulässigkeit der Ausübung staatlicher Hoheitsgewalt ist aufgrund des völkerrechtlichen Souveränitätsanspruchs eines jeden Staates (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta)7 und des daraus folgenden Interventionsverbotes8 grundsätzlich an den territorialen Hoheitsbereich eines Staates gebunden (Grundsatz der Gebietshoheit).9 Zum 7 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 3; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 31; Ipsen, Völkerrecht (2018), § 55 Rn. 41 f.; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 193; Roegele, Deutscher Strafrechtsimperialismus (2014), S. 40; s. hierzu bereits den Schiedsspruch im Island of Palmas-Fall (ICJ, Island of Palmas Case [Netherlands v. USA] v. 04.04.1928), UNRIAA Vol. II, S. 838: „Sovereignty in the relations between States signifies independence. Independence in regard to a portion of the globe is the right to exercise therein, to the exclusion of any other State, the functions of a State.“ 8 Ipsen, Völkerrecht (2018), § 55 Rn. 42; Stein / von Buttlar, Völkerrecht (2017), Rn. 634 f.; von Arnauld, Völkerrecht (2019), Rn. 352. 9 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn. 4, § 12 Rn. 9; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 2; von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 1 f., 53; Roegele, Deutscher Strafrechtsimperialismus (2014), S. 38 f.; Gaerte, Rechtshilfe (Internationale) in Strafsachen, in: Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 49; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 41; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 98; s. auch

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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Kernbereich staatlicher Hoheitsgewalt ist das staatliche Strafmonopol zu zählen,10 also die ausschließlich staatliche Befugnis, einen Beschuldigten aufgrund eines gesetzlich geregelten Strafverfahrens einer Strafe zuzuführen.11 Nun lassen sich jedoch Fallkonstellationen nennen, in denen die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nicht allein im nationalen Hoheitsgebiet gewährleistet werden kann. Gerade in Zeiten erleichterter Mobilität und auch transstaatlichem, z. T. kontrollfreiem Personenverkehr hat Kriminalität längst grenzüberschreitende Formen angenommen und ist es nicht mehr als ungewöhnlich anzusehen, wenn ein Strafverfahren grenzüberschreitende Bezüge aufweist. Dies kann sich in unterschiedlichsten Facetten darstellen, sei es, dass sich Beweise nicht auf dem Hoheitsgebiet des das Strafverfahren betreibenden Staates befinden oder sich der Beschuldigte oder Verurteilte durch Flucht ins Ausland dem Verfahren oder der Strafvollstreckung entzieht.12 Dies sind nur zwei Beispiele, in denen der Staat zur Durchführung eines Strafverfahrens zwingend auf die Unterstützung fremder Staaten angewiesen ist. Jener darf auf deren Hoheitsgebiet ohne ihre Zustimmung nämlich keine hoheitlichen Maßnahmen, wie beispielsweise Beweiserhebungen oder Festnahmen, ergreifen, da die Befugnis zur Vornahme dieser Hoheitsakte nach dem völkerrechtlichen Prinzip der Gebietsausschließlichkeit exklusiv dem Territorialstaat zusteht.13 Das Völkerrecht begrenzt also die Hoheitsmacht des einen Staates zum Schutz der Souveränität anderer und damit auch die Befugnis zur Vornahme strafverfolgungsrechtlicher Maßnahmen auf das eigene Hoheitsgebiet und begründet damit zugleich Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 18 ff.; zur Abgrenzung vom Grundsatz der Gebietshoheit von der territorialen Souveränität Herdegen, Völkerrecht (2019), § 23 Rn. 1 f.; von Arnauld, Völkerrecht (2019), Rn. 337; Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 3. Abschn. Rn. 131 ff.; s. auch hierzu den Island of Palmas-Fall (ICJ, Island of Palmas Case [Netherlands v. USA] v. 04.04.1928), UNRIAA Vol. II, S. 838: „this principle of the exclusive competence of the state in regard to its own territory in such a way as to make it the point of departure in setting most questions that concern international relations.“ 10 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 1; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 56 ff., 102 ff.; von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 51. 11 Beulke / Swoboda, Strafprozessrecht (2018), Rn. 3; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht (2017), § 1 Rn. 2; ausführlich hierzu Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 102 ff. 12 S. nur als Beispiel den Einführungsfall bei Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 214. 13 So bereits der 1927 entschiedene Lotus Fall (PICJ, Lotus Case [France v. Turkey] v. 07.09.1927), PICJ, Series A, No. 10 [= stIGHE 5, 73]), S. 3 ff.: „Now the first and foremost restriction imposed by international law upon a State is that […] it may not exercise its power in any form in the territory of another State.“ (18); s. hierzu auch Hobe, Völkerrecht (2014), S. 606; Becker, 42. StIGH v. 07.09.1927  – Lotus, in: Menzel / Pierlings / Hoffmann, Völkerrechtsprechung (2005), S. 291 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 1 m. w. N. in Fn. 1. S. auch Hobe, Völkerrecht (2014), S. 99; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 9; Stein / von Buttlar, Völkerrecht (2017), Rn. 535, 537; von Arnauld, Völkerrecht (2019), Rn. 337; Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 3. Abschn. Rn. 154; vgl. ausführlich zur territorialitätsgebundenen Strafgewalt, Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 107 ff.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

das Erfordernis nach internationaler Unterstützung bei der Durchführung nationaler Strafverfahren mit grenzüberschreitendem Bezug.14 Es ist jedoch ebenfalls zu betonen, dass aus der souveränen Gleichheit aller Staaten im Grundsatz keine originäre Pflicht zur und dementsprechend kein Anspruch auf Zusammenarbeit folgt,15 allerdings eine solche Rechtshilfepflicht durch völkerrechtliche Verträge begründet werden kann.16 Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass der ersuchende Staat durch eine Ablehnung seines Rechtshilfeersuchens an der Durchsetzung seines Strafanspruchs gehindert würde.17 Ist somit das Erfordernis nach internationaler Unterstützung in grenzüberschreitenden Strafverfahren herausgearbeitet, lässt sich damit auch zugleich das Ziel eines Rechtshilfeersuchens darstellen: Ersucht ein Staat oder eine andere internationale Körperschaft einen (anderen) Staat um Rechtshilfe im Rahmen eigener 14

Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 215; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 192 f.; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 155; vgl. auch Ipsen, Völkerrecht (2018), § 55 Rn. 47 („[…] dass die Staaten in einer globalisierten Welt von anderen Staaten abhängig und daher zur Kooperation gezwungen sind, sodass selbst klassische Bereiche […] wie das Strafrecht, nicht mehr der alleinigen Bestimmungsmacht der Staaten unterliegen und folglich entweder nicht mehr oder in nur noch eingeschränktem Maße durch das Interventionsverbot geschützt sind.“). 15 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 2 f.; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 90 („[…] cooperation in criminal matters is a voluntary undertaking; […]“); Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 488 f.; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 138; s. jedoch auch Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 118 f., der unter Verweis auf eine innerstaatliche Verfolgungspflicht zu der „Vermutung“ gelangt, dass „aus konsequenter prozessualer Perspektive eine Rechtshilfepflicht […] zu konzipieren ist“, mit weiteren Überlegungen zur Verfolgungspflicht unter Gleichheitsgesichtspunkten (119 f.). So auch explizit Art. 1 Abs. 4 IRSG: „Aus diesem Gesetz kann kein Anspruch auf zwischenstaatliche Zusammenarbeit in Strafsachen abgeleitet werden.“ Eine Pflicht zur Auslieferung ebenfalls ablehnend Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 7 ff. (12); Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 45; Häde, Der Staat 1997, 1 (2); s. hierzu auch von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 53 ff., der von einer Befugnis zur Gewährung zwischenstaatlicher Hilfe als Ausfluss der völkerrechtlichen Position eines jeden Staates spricht, jedoch auch betont, dass „[…] auch positiv für jedes Volk aus dem Zusammenleben mit andern die Verbindlichkeit [erwächst], seinerseits so viel an ihm liegt, schuldige Sorge dafür zu tragen, daß auch das jenseits der Grenzen beabsichtigte und ausgeführte Unrecht, sofern dasselbe als verbrecherisch anzuerkennen ist, verhütet werde oder zur Strafe komme […]“ (57); ähnlich Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht (1887), S. 4 ff. 16 Ausführlich hierzu Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 119 f. S. auch Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 91 f.; Bassiouni / Wise, Aut dedere aut judicare (1995), S. 42; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 93; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 696; Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrecht­ lichen Angelegenheiten (2001), S. 2; Haas, Auslieferung (2000), S. 58; Hauser / Schweri / Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht (2005), § 44 Rn. 43. 17 Hierzu ausführlich von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 4 f. S. auch ausdrücklich Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 72, der selbst eine willkürliche Ablehnung eines Rechtshilfeersuchens als völkerrechtskonform erachtet.

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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Strafverfolgung oder -vollstreckung, wird damit ein Interesse an einer effektiven Durchführung eines Strafverfahrens und, damit verbunden, an der extraterritorialen Durchsetzung des originären souveränen oder völkervertraglich begründeten Strafanspruchs deutlich.18

II. Europarechtliche Grundlagen für den Gegenstand der Untersuchung Als weiterer Grundstein für den Verlauf der Untersuchung ist eine europarechtliche Grundlegung vorzunehmen. Im Zentrum stehen im Folgenden die Rechtshilfe und ihre Ausprägung im europäischen Rechtsraum, namentlich unter dem Dach des Europarats auf der einen und insbesondere dem der Europäischen Union auf der anderen Seite. Die Europäische Union gewährleistet gem. Art. 3 Abs. 2 EUV19 einen einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.20 Hierzu zählt der Europäische Rat ein unionales „System des freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen.“21 Der weitreichende Wortlaut des Art. 3 Abs. 2 EUV darf jedoch nicht darüber hinweg täuschen, dass keineswegs von einem einheitlichen Rechtsraum i. S. e. einheitlichen nationalen Rechtsordnung gesprochen werden kann. Der Rechtsraum der EU verkörpert (noch) keinen einheitlichen Strafverfolgungs-

18 So auch Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 19; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 4 f.; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 235; vgl. auch Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 488 ff. S. auch bzgl. der Auslieferung von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 9 („Interesse der Rechtsgemeinschaft“); Haas, Auslieferung (2000), S. 54 f. aus der Perspektive des ersuchten Staates. Für beide Blickwinkel Bassiouni / Wise, Aut dedere aut judicare (1995), S. 26 f. 19 Vertrag über die Europäische Union i. d. F. des am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon (Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007 [ABl. EU C 306, 1]), konsolidierte Fassung (ABl. EU 2012, C 326, 13), zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 24.04.2012 (ABl. EU L 112, 21). 20 Zum Zielkatalog des Art. 3 AEUV und seine Ausgestaltung durch den Vertrag von Lissabon s. Nowak, Europarecht nach Lissabon (2011) S. 85 f., 255 ff. Zur Entwicklung s. M ­ üller-​ Graff / Kainer, Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: Weidenfeld / Wessels, Europa von A bis Z (2016), S. 381 f.; grundlegend auch Jahnke / Jokisch, § 2 Der Raum der Freiheit der Sicherheit und des Rechts, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 1 ff.; Lenaerts, ICLQ 59 (2010), 255 (256 ff.); Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 32 Rn. 20 ff.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 1046. 21 S. Erwägungsgrund 5 des RbEuHb, zuletzt geändert durch den Rb des Rates vom 26. Februar 2009 (2009/299/JI) (ABl. EU L 81, 24).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

raum.22 Sie ist ein Verbund souveräner Staaten („Staatenverbund“),23 die für sich als „Herren der Verträge“24 Inhaber ihrer Hoheitsmacht und damit auch grundsätzlich ihrer eigenen Strafverfolgungs- und Strafvollstreckungsgewalt bleiben.25 Eine strafrechtliche Hoheitsgewalt kommt der Europäischen Union selbst nur sehr begrenzt zu, da diese zum Tätigwerden in einem bestimmten Bereich nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV)26 auf die Übertragung von hierauf gerichteten Hoheitsrechten27 durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist. Dennoch ist die strafrechtliche Materie von der europäischen In 22

So jedoch Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 448 f., die von einem europäischen Strafrechtsraum spricht (449); Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 503 („The EU has developed a ‚European judicial space‘ […]“); Schomburg, DRiZ 2000, 341 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 166 ff., der eine Tendenz zur „Herausbildung eines einheitlichen europäischen Strafrechtsraums im institutionellen Rahmen der Europäischen Union“ sieht (166). Zudem enthält ein Aktionsplan des Europäischen Rates vom 16./.17.06.1997 bereits eine Empfehlung bzgl. der Prüfung, „ob langfristig ein einheitlicher europäischer Rechtsraum für Auslieferungen geschaffen werden kann.“ (ABl. EG 2000, C 124, 1, Empfehlung 28). S. auch Wade, Developing a Criminal Justice Area in the European Union (2014). 23 S. aus der Rpsr. des BVerfG etwa BVerfG, Beschluss v. 29.05.1974 (2 BvL 52/71), BVerfGE 37, 271 (277 f.) („kein Staat, insbesondere kein Bundesstaat, sondern ‚eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art‘, eine ‚zwischenstaatliche Einrichtung‘ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG.“); BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (188) („Der Unionsvertrag begründet […] einen Staatenverbund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der – staatlich organisierten – Völker Europas […], keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat.“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (348). Zum Begriff auch Herdegen, Europarecht (2019), § 5 Rn. 15 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 4 Rn. 21 ff.; Oppermann, DVBl. 2008, 473 (477); Streinz, Europarecht (2019), Rn. 141 f. 24 BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (190, 198 f.); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (349); BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (338); vgl. auch BVerfG, Urteil v. 12.09.2012 (2 BvR 1390/12 et al.), BVerfGE 132, 195 (238 ff. [240]); BVerfG, Urteil v. 07.09.2011 (2 BvR 987, 1485, 1099/10), BVerfGE 129, 124 (179 f.) (jeweils: Mitgliedstaat als „Herr seiner Entschlüsse“); s. auch Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 82 m. w. N. zur Rspr. des BVerfG und Rn. 124; Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 33; Hobe, Völkerrecht (2014), § 7 Rn. 56 ff.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 148 und 151; krit. zum Begriff Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 2 Rn. 47. 25 Gómez-Jara Díez, European Federal Criminal Law (2015), Preface, sowie ausf. zum Konflikt staatlicher Souveränität mit der Entwicklung europäischen Strafrechts, S. 217 ff.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 19 Rn. 4; Singer, Der polizeiliche Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland (1983), S. 3; vgl. Wade, Developing a Criminal Justice Area in the European Union (2014), S. 21. 26 S. hierzu Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 33 ff.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 21; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 156 ff., 550; Herdegen, Europarecht (2019), § 5 Rn. 16, § 8 Rn. 69 f.; Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 7 Rn. 5 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 3 ff. m. w. N.; Klip, European Criminal Law (2016), S. 37. 27 S. zum Begriff der Hoheitsrechtsübertragung etwa Schmidt-Bleibtreu / K lein / Hillgruber (2018), Art. 23 Rn. 27. Diese mündet dabei in eine materielle Verfassungsänderung, s. BVerfG, Beschluss v. 23.06.1981 (2 BvR 1107, 1124/77 und 195/79), BVerfGE 58, 1 (36) („Die Über­

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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tegration in den letzten Jahren sukzessiv erfasst worden.28 Zu nennen sind hierbei einerseits die i. R. d. Untersuchung nicht berücksichtigte Einflussnahme auf die materiellen Kriminalstrafrechtsnormen der Mitgliedstaaten (Art. 83 AEUV29)30 sowie die Schaffung echten supranationalen Strafrechts durch die Union selbst i. S. e. Materie des „Unionsstrafrechts“.31 Zum anderen sind die hier entscheidende supranationale Rechtsetzung und Europäisierung nationalen Rechts im Bereich strafprozessualer Vorschriften32 zu erwähnen. Die strafverfahrensrechtliche Seite der europäischen Integration beschränkt sich im Kern auf eine integrierte justizielle Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten. Die früher in der dritten

tragung von Hoheitsrechten bewirkt einen Eingriff in und eine Veränderung der verfassungsrechtlich festgelegten Zuständigkeitsordnung und damit materiell eine Verfassungsänderung.“). 28 S. bspw. Satzger, § 2 Grundsätze eines Europäischen Strafrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 1 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 434; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 19 Rn. 4 ff. 29 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union i. d. F. des am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrages von Lissabon (Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007 [ABl. EU C 306, 1]), konsolidierte Fassung (ABl. EU 2012, C 326, 47), zuletzt geändert durch die Akte über die Bedingungen des Beitritts der Republik Kroatien und die Anpassungen des Vertrags über die Europäische Union, des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft vom 24.04.2012 (ABl. EU L 112, 21). 30 S. hierzu Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 26; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 31 ff.; ders., Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 187 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 418; Spencer, EU Criminal Law, in: Barnard / Peers, European Union Law (2014), S. 770 ff.; Sieber, Einführung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 4 f. („Strafanweisungsrecht“); Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 227 ff.; Böse, § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 4 ff.; Klip, European Criminal Law (2016), S. 180 ff.; für einen Überblick über die gegenwärtige Rechtslage Zeder, JSt 2017, 356 ff. S. auch Wade, Developing a Criminal Justice Area in the European Union (2014), S. 19 f. („Clearly article 83 of the post Lisbon TFEU provides the clearest indication of area of legitimate criminal justice activity at the EU level.“ [Herv. i. O.]). 31 Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 57 ff.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 2 Rn. 3; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 21 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 418; Klip, European Criminal Law (2016), S. 211 ff., 231 ff. („Eurocrimes“).; Gómez-Jara Díez, European Federal Criminal Law (2015), S. 74 ff.; Wade, Developing a Criminal Justice Area in the European Union (2014), S. 20; Böse, § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 12. 32 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 3, 8 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 1; Spencer, EU Criminal Law, in: Barnard / Peers, European Union Law (2014), S. 772 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 444 ff.; Böse, § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 6 („‚Vergemeinschaftung‘ der strafrechtlichen Zusammenarbeit“). Vgl. explizit zur intensivierten Rechtshilfe i. R. d. EU Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 486 ff.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Säule 33 geregelte polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit ist mit dem Reformvertrag von Lissabon34 in den Bereich Justiz und Inneres übergegangen.35 Die Zusammenarbeit in Strafsachen findet ihre Rechtsgrundlage nunmehr in den Art. 82 ff. AEUV und richtet sich an dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (Art. 82 AEUV) aus,36 der die zwischenstaatlichen Verfahren im Wesent­ lichen beschleunigen und von förmlichen Hindernissen befreien soll.37 Im Ergebnis ändert jedoch auch die intensivierte europäische Integration zunächst nichts an der Begrenzung staatlicher Strafgewalt auf das eigene Territorium. Der Europarat hingegen ist von der EU unabhängig und verkörpert als ein durch völkerrechtliche Verträge ins Leben gerufenes intergouvernementales Gremium eine Instanz zur Wahrung gemeinsamer Werte.38 Jenem werden allerdings keine 33

Zur „Drei-Säulen-Struktur“ nach dem Vertrag von Maastricht etwa Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn.  5; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 167 ff.; Klip, European Criminal Law (2016), S. 19 ff.; Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 30 ff.; Swart, 2.5 The European Union and the Schengen Agreement, in: Bassiouni, International Criminal Law, Vol. II (2008), S. 243 ff., insb. 257 ff.; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 58 f. Insbes. zur dritten Säule mit der geregelten PJZS Herlin-Karnell, EPA 2008, 1 (2 f.); Monar / Morgan, The Third Pillar of the EU (1994); Kühne, Strafprozessrecht (2015), Rn. 70 ff.; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 58 ff.; Akmann, JA 1994, 49 (53 ff.); Di Fabio, DÖV 1997, 89 ff.; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 443 ff. 34 S. o. Fn. 19. 35 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 2; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 109; Nowak, Europarecht nach Lissabon (2011), S. 258; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 4/9, 4/80; Satzger, § 2 Grundsätze eines Europäischen Strafrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 7; Herlin-Karnell, EJLR 10 (2008), 321 ff.; Möstl, EuR, Beiheft 3, 2009, 33 (41); Schwarze, EuR, Beiheft 1, 2009, 9 (24 f.); Oppermann, DVBl. 2008, 473 (481); Suhr, Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Fastenrath / Nowak, Der Lissabonner Reformvertrag (2009), S. 302 f., 306 f.; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 11; Wasmeier, § 32 Von der herkömmlichen Rechtshilfe zur gegenseitigen Anerkennung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 52; Bischoff / Nogrady, § 8 Grenzüberschreitende Bekämpfung, in: ­Müller-​Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht (2015), Rn. 44. Zur Entwicklung der internationalen Rechtshilfe in Europa s. Fichera, The Implementation of the European Arrest Warrant in the EU (2011), S. 23 ff. S. auch für die straf- und strafverfahrensrechtlich relevanten Punkte des Vertrages von Lissabon Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 9 und Böse, ZIS 2010, 76 ff. unter Berücksichtigung der Lissabon-Entscheidung des BVerfG. 36 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 3; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 426, 487. Zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung s. ausführlich sogleich. Zu den im Zusammenhang mit der gegenseitigen Anerkennung erlassenen unionalen Rechtsakten s. den Überblick bei Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 19 Rn. 12. 37 Vgl. etwa Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 3; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 2 Rn. 4; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 242; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 486. 38 S. hierzu Art. 1 lit. a) Europaratssatzung; Gaede, § 3 Grund- und Verfahrensrechte im europäisierten Strafverfahren, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 13; Herdegen, Europarecht (2019), § 2 Rn. 1 ff.; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 8 Rn. 1; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 51.

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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Hoheitsrechte übertragen. Die Einwirkungen auf die strafverfahrens- und rechtshilferelevante Materie folgen hier aus den Aktivitäten des Europarats und den sich daran anschließenden völkervertraglichen Annahme- und innerstaatlichen Transformationsverfahren in den Vertragsstaaten.39 Als wichtigstes Vertragswerk des Europarats kann die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)40 einschließlich ihrer Zusatzprotokolle angesehen werden.41 Die Aktivitäten des Europarats im strafrechtlichen und insbesondere dem Bereich internationaler Rechtshilfe in Strafsachen haben in zahlreichen Abkommen zum Grundrechtsschutz und zur strafrechtlichen Zusammenarbeit ihren Niederschlag gefunden,42 vermögen jedoch auch am grundlegenden Erfordernis transstaatlicher Unterstützung in grenzüberschreitenden Strafverfahren nichts zu ändern.

III. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen Was aber hat man sich nun unter dem Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen genau vorzustellen? Wie soeben dargelegt, begründet das Völkerrecht durch die Bindung staatlicher Strafgewalt an die territoriale Hoheitsmacht ein Erfordernis zur Unterstützung durch fremde Staaten bei der Durchführung grenzüberschreitender Strafverfahren. Es besteht mithin ein Bedürfnis nach internationaler Zusammenarbeit in strafrechtlichen Angelegenheiten. Die internationale Rechtshilfe umschreibt  – zunächst abstrakt gesprochen  – bestimmte Unterstützungsmaßnahmen, um die international ersucht wird und die ein strafrecht­liches Verfahren betreffen. Es stellt sich demzufolge zunächst die Frage, was unter Rechtshilfe als isoliertem Terminus zu verstehen ist. Sodann gilt es zu klären, welches Charakteristikum die Rechtshilfe gerade im internationalen Bereich ausmacht. Letztendlich ist das Augenmerk auf das Merkmal der Strafsache zu richten. Am Ende des Abschnitts wird eine einheitliche Begriffsbestimmung für den weiteren Fortgang der Untersuchung erhoben. 39

Streinz, Europarecht (2019), Rn. 76. Vgl. Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/8 f.; Gaede, § 3 Grund- und Verfahrensrechte im europäisierten Strafverfahren, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 13. 40 Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 04.11.1950, in Kraft getreten am 03.09.1953 (BGBl. 1952 II, 685 und 2002 II, 1054). 41 Vgl. Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 11; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 1; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 37; Schroeder, Grundkurs  Europarecht (2019), § 2 Rn. 52; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 32 („die bis heute zentrale Leistung dieser Organisation [des Europarats]“); Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 8 Rn. 1; vgl. auch Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 2 Rn. 9 f. zur EMRK als „Verfassungsinstrument“ m. w. N. zur Rspr. des EGMR. 42 S. etwa die Auflistung bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 10; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/11; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 8 Rn. 23 ff. S. auch die ständig aktualisierte Liste der Verträge des Europarats unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Als Rechtshilfehandlung lässt sich eine bestimmte hoheitliche Handlung des ersuchten Staates durch seine Behörden oder Gerichte auf seinem Hoheitsgebiet beschreiben, die auf die Unterstützung eines fremdstaatlichen rechtlichen Verfahrens gerichtet ist (vgl. § 59 Abs. 2 IRG43).44 Unterstützungshandlungen Privater fallen mangels hoheitlicher Natur nicht unter den Rechtshilfebegriff.45 Die Internationalität der Rechtshilfe zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf völkerrecht­licher Ebene, mithin zwischen einzelnen Staaten oder zwischen Staaten und internationalen Organisationen geleistet wird.46 Der Begriff der Strafsache unterliegt einem weiten und autonomen Verständnis47 und umfasst neben dem echten Kriminal- auch Verwaltungs- und Nebenstrafrecht, soweit diesbezügliche Maßnahmen sich gegen

43 Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23.12.1982 (BGBl. I, 2071), i. d. F. der Bekanntmachung vom 27.06.1994 (BGBl. I, 1537), zuletzt geändert durch Art. 4 des G v. 10.12.2019 (BGBl. I, 2128). Zur Entstehungsgeschichte Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 306 ff.; Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: Vogler, FS Jescheck (1985), S. 1379 f. Das IRG löste das bis zum 30. Juni 1986 geltende Deutsche Auslieferungsgesetz (DAG) vom 23. Dezember 1929 (RGBl. I, 239) ab; hierzu Schomburg, RuP 1982, 203 ff. 44 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 4; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 4; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 1; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S.  93; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 1; Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 505; Carl / Klos, Leitfaden zur internationalen Amts- und Rechtshilfe (1995), S. 68; s. jedoch auch Güntge, SchlHA 2013, 346, der den Begriff der Rechtshilfe bereits mit dem der Amtshilfe vermengt. Ausf. zum Begriff des Hoheitsaktes in diesem Zusammenhang Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 32. 45 Popp, Grundzüge (2001), Rn.  124; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 13, die allerdings zutreffend auf die Möglichkeit einer völkerrechtswidrigen Umgehung des Rechtshilferechts seitens der Staaten durch den gezielten Einsatz Privater hinweisen. 46 Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 20, die darauf hinweisen, dass es auf eine völkerrechtliche Anerkennung der beteiligten Staaten nicht ankommt; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 4 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 93; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn.  3139; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 4. 47 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 5; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 23; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 30; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 8 f. m. w. N.; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 1; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 97; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 54 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn.  117; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 8; Bundesamt für Justiz (EJPD), Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen  – Wegleitung (2009), S. 16; vgl. auch Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 232 ff. Knapp Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3135, die sich pauschal auf die Unterstützung in Strafverfahren beziehen. S. zum Begriff der „strafrechtlichen Anklage“ in Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK, der nach Auffassung des EGMR die Auslieferung und Übergabe nach Maßgabe des RbEuHb nicht erfasse, nur Maugeri, EuCLR 9 (2019), 4 (20 f. m. w. N.).

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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den Beschuldigten richten.48 Das IRG knüpft in §§ 1 Abs. 1 und 2, 59 Abs. 2 selbst an ein über das Strafverfahren i. e. S. hinausgehendes Verständnis an und spricht von einer „Unterstützung für ein ausländisches Verfahren in einer strafrechtlichen Angelegenheit.“49 So richtet sich auch die internationale Unterstützung im deutschen Ordnungswidrigkeitenrecht gem. § 1 Abs. 2 IRG nach der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen.50 Entscheidend ist, dass das unterstützte Verfahren in materieller Hinsicht einen nicht zwingend kriminalstrafrechtlichen, jedoch sanktionierenden Charakter trägt.51 Ein förmlicher Verfahrensakt ist ebenso wenig Voraussetzung52 wie die Beteiligung einer Strafverfolgungsbehörde i. e. S.53 Im Ergebnis lässt sich somit festhalten: Als internationale zwischenstaatliche Rechtshilfe in Strafsachen ist jede Maßnahme hoheitlicher Unterstützung eines

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So ausdrücklich Art. 3 Abs. 1 EU-RhÜbk vom 29. Mai 2000 (ABl. EG C 197, 1; BGBl. 2005 II, 650) („ […] als Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften durch Verwaltungs­ behörden […]“) sowie Art. 63 Abs. 3 lit. b) IRSG. S. auch Niggli / Heimgartner / Heimgartner / ​ Niggli (2015), Einführung Rn. 23; Frey, Aktuelle Praxis des Bundesamts in Amts- und Rechtshilfefällen, in: Ehrenzeller / Behnisch, Aktuelle Fragen der internationalen Amts- und Rechtshilfe (2005), S. 163 f.; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 8; Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 2 IRG Rn. 10; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn.  1; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 4 f. („Unterstützung eines auf Sanktionierung gerichteten gerichtsförmigen Verfahrens“); vgl. auch BGH, Beschluss v. 19.02.1972 (4 ARs 4/72 [BAusl. 9/71]), BGHSt 24, 297 (300 ff.); a. A.  Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1, 121, der strafverfahrens- und verwaltungsrechtliche Sanktionen unterschiedlichen Zwecksetzungen zuführt. 49 Herv. d. Verf. Vgl. auch die Normierungen auf internationaler Ebene: Art. 1 Abs. 1 Europäisches Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhÜbk) vom 20. April 1959 (ETS Nr. 030; BGBl. 1964 II, 1369, 1386; 1976, II, 1799; 1995 II, 736) („strafbare Handlungen“), Art. 3 Abs. 1 EU-RhÜbk (Fn. 48) und Art. 49 SDÜ. 50 Vgl. auch BGH, Beschluss v. 19.02.1972 (4 ARs 4/72 [BAusl. 9/71]), BGHSt 24, 297 (300 ff.). Dazu Carl / Klos, Leitfaden zur internationalen Amts- und Rechtshilfe (1995), S. 68; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S.  54 f.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 8; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S.  59 f.; Schomburg / Lagodny / Riegel (2020), § 1 IRG Rn. 10; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 1 Rn. 4. 51 Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 30; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 1 Rn. 2. S. für ein engeres Verständnis Gaerte, Rechtshilfe (Internationale)  in Strafsachen, in: Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 50 („um die Einleitung oder Durchführung eines Strafverfahrens zu ermöglichen oder ein solches Verfahren zu fördern“); Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1, der eine strafrechtliche Entscheidung oder Anklage zum Gegenstand der Unterstützung in Strafsachen erhebt. 52 Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 9 f., wonach auch explizit Rechtsund nicht Amtshilfe zu leisten sei, wenn ein verwaltungsrechtliches Verfahren zur Vorbereitung eines strafrechtlichen dient. A. A.  Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3142; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1 („Entscheidung über eine mit einer Straftat zusammenhängenden Sache“). 53 BGH, Beschluss v. 09.03.1978 (4 ARs 4/78), BGHSt 27, 383 (386); vgl. Vogler / Wilkitzki / ​ Vogler (1992), § 1 Rn. 2.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

fremden, namentlich des ersuchten54 Staates durch dessen Behörden oder Gerichte für den ersuchenden, nämlich den das Strafverfahren betreibenden Staat bei der Durchsetzung dessen nationalen Strafanspruchs im Rahmen seiner Strafverfolgung oder -vollstreckung über seine eigenen Grenzen hinaus zu verstehen.55 Hierbei werden vom strafrechtlichen Charakter neben echtem Kriminalstrafrecht auch weitergehende sanktionierende Verfahrensarten erfasst. Da es im Bereich internationaler Rechtshilfe in Strafsachen insgesamt um diejenige behördliche Kooperation verschiedener völkerrechtlicher Institutionen geht, die der Durchsetzung eines Strafanspruchs durch Strafverfolgung oder Strafvollstreckung dienen, erfasst diese Definition neben den Aufgaben der einbezogenen Justiz auch die auf Strafverfolgung und -vollstreckung gerichtete Tätigkeit der Polizeibehörden.56 Ausgeschlossen ist hierbei – entsprechend seiner Zielrichtung – der polizeiliche Aufgabenbereich der Gefahrenabwehr.57

IV. Internationale Strafrechtshilfe im dreidimensionalen Verhältnis Die Rechtshilfebeziehung betrifft nunmehr die auf der völkerrechtlichen Ebene beteiligten Staaten resp. Institutionen, erschöpft sich jedoch nicht in dieser Hinsicht. Vom traditionellen zwischenstaatlichen und damit zweidimensionalen Ver 54

S. zur Unterstützung ohne vorausgehendes Ersuchen Ambos / König / Rackow / Ambos / ​ Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 14 ff.; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 1; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 51. 55 So auch Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 4, Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 14; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 214; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/62; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 1; Gaerte, Rechtshilfe (Internationale) in Strafsachen, in: Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 50; vgl. auch die Legaldefinition der sonstigen Rechtshilfe in § 59 Abs. 2 IRG. 56 Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 230; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 1 (mit Fn. 3), 47; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 9; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 58; a. A.  Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 17; widersprüchlich Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 22, 24, wonach die polizeiliche Zusammenarbeit von der Rechtshilfe abzugrenzen sei, erstere jedoch u. a. polizeiliche Ermittlungsaufgaben erfasse; diff. Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 59; s. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 8; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 452, 446 ff., der in der Regelung des Art. 39 SDÜ eine Abgrenzung der polizeilichen Amtshilfe von der polizeilichen Rechtshilfe und der Rechtshilfe zwischen Justizbehörden sieht. 57 Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 230; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 1; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1.  Hauptteil Rn.  5; a. A.  Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 156.

A. Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen

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hältnis hat sich die internationale Rechtshilfe in Strafsachen zu einer dreidimensionalen Materie entwickelt.58 Die zweidimensionale Betrachtungsweise rückte die Beziehung zwischen ersuchtem und ersuchendem Staat „in souveränitätsorientierter Manier“59 in den Mittelpunkt der Überlegungen, während mittlerweile zutreffend die Verfahrensrolle des Beschuldigten bzw. Verurteilten berücksichtigt wird und dieser aus der Objektrolle des zwischenstaatlichen Verkehrs heraus­gehoben wurde. Der Beschuldigte resp. Verurteilte hat eine subjektive Verfahrensrolle im Rechtshilfeverkehr inne und bildet zwischen ersuchtem und ersuchendem Beteiligten eine dritte Instanz.60 Diese dreidimensionale Betrachtungsweise des Rechtshilfeverhältnisses trägt dem modernen Verständnis der individuellen Verfahrensposition des Beschuldigten in einem Strafverfahren Rechnung, da es die grund- und verfahrensrechtlich abgesicherte und zu schützende Rechtsstellung des Beschul-

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Grundl. Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 11 ff., 27 ff.; s. auch ders., § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von ­Heintschel-​ Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn.  19; Ambos / König / Rackow / Ambos / ​­Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 21; Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 3; Böse, Legitimität des europäischen Kooperationsrechts, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 211 (212); Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 2 ff., 36 ff. („[…] der […] Gedanke, dass die Rechtshilfe nur eine Sache zwischen beteiligten Staaten sei, endgültig ad acta gelegt.“ [2]); Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 36; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 44 ff.; Schomburg, StV 1998, 153; Eser, Wege und Hürden transnationaler Strafrechtspflege in Europa, in: Bundeskriminalamt, Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension (1992), S. 33 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 77; Gleß / Spencer, StV 2006, 269 (270). Zur Entwicklung der Rechtsposition des Einzelnen im internationalen Recht auch Parlett, CJICL 1 (2012), 60 ff. 59 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 21. Vgl. auch Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 655 ff. („Traditionelle ‚Menschenrechtsfreiheit‘ der zwischenstaatlichen Rechtshilfe“). 60 Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 4; ders., § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 17 ff.; ders., NJW 1988, 2146 ff. (2150); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 21; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 12; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 7, 148; Böse, Legitimität des europäischen Kooperationsrechts, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 211 (212); Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 50; Eser, Transnational cooperation in criminal cases, in: Heine / Burkhardt / Gropp, Transnationales Strafrecht (2011), S.  312; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 77; ausf. auch noch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 15, 42 (vgl. auch Rn. 163 ff. zur Entwicklung der Rechtsstellung des Beschuldigten); vage Riedo / Fiolka / ­Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3162 ff. („Der Verfolgte ist also nicht Partei im Rechtshilfe­ verkehr an sich, er ist es aber im Rechtshilfeverfahren im ersuchten Staat“ [3166]); vgl. auch Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 501 f.; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 134. Dagegen allerdings noch explizit Schröder, BayVBl. 1979, 231 („Der Verfolgte ist bloßes Objekt des Auslieferungsverfahrens.“) m. w. N.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

digten  – wie sie mittlerweile auch ausdrücklich die Rspr. einfordert61  – unterstreicht.62 Zwar ist das nationale dem Rechtshilfeverkehr zugrunde liegende Strafverfahren gerade aufgrund seines grenzüberschreitenden Bezugs nicht mit einem allein auf nationales Hoheitsgebiet beschränkten Strafverfahren und infolgedessen auch nicht mit dessen einheitlichem Schutzniveau vergleichbar. Die innerstaatlich ausgestalteten Verfahrenspositionen eines Beschuldigten – obgleich eines unverzichtbaren europäischen Mindeststandards63 – unterscheiden sich z. T. wesentlich voneinander.64 Ein den Rechtsraum der EU oder des Europarats kennzeichnendes und dem der Nationalstaaten entsprechendes einheitliches Niveau hinsichtlich der Verfahrensrechte des Beschuldigten lässt sich allenfalls als erstrebenswert,65 jedoch nicht als schon existierend bezeichnen. Doch darf die grenzüberschreitende Strafverfolgung nicht zu einer Verschlechterung der Verfahrensposition des Beschuldigten führen.66 61 Es sei auf folgende ausgewählte Entscheidungen hingewiesen: Das BVerfG hat sich bereits 1982 zu den Anforderungen eines Abwesenheitsurteils geäußert (BVerfG, Beschluss v. 26.01.1982 [2 BvR 856/81], BVerfGE 59, 280 [282 ff.]). Grundlegend hat ebenfalls der EGMR im Fall Soering die Verantwortung eines Vertragsstaates für Konventionsverstöße im ersuchenden Staat und damit die grundrechtlich zu schützende Position des im Rechtshilfeverfahren Beschuldigten betont (EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 [1/1989/161/217], NJW 1990, 2183 ff.). Hinzuweisen ist auch auf eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahr 1999, in der der Gerichtshof die elementare Bedeutung von Verteidigungsrechten hervorgehoben hat (EuGH, Limburgse Vinyl Maatschappij NV et al. v. Kommission, Urteil v. 20.04.1999 [T-305/94 et al.; ECLI:EU:T:1999:80], Slg. 1999, II-931 [1015]). Schließlich hat auch das BVerfG in seiner Entscheidung zum EuHbG I vom 21.07.2004 (BGBl. I, 1748) eine ungenügende grund- und verfahrensrechtlich abgesicherte Position des Auszuliefernden bemängelt (BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 [2 BvR 2236/04], BVerfGE 113, 273 [292 ff.]). S. auch die weiterführenden Nachweise bei Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 19; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 11; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 451 mit Fn. 1026. 62 So auch Eser, Wege und Hürden transnationaler Strafrechtspflege in Europa, in: Bundeskriminalamt, Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension (1992) S. 34 f.; Niggli / ​ Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn.  1; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / ​ Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 6, 15, der zugleich drei Fundamentalgebote im drei­ dimensionalen Rechtshilfeverhältnis benennt: 1. Achtung fremder Gebietshoheit, 2. Gebot internationaler Souveränität bei Strafverfolgung, -vollstreckung und Aburteilung sowie 3. Gebot des Schutzes der Menschenrechte des oder der Betroffenen. 63 S. hierzu die Gewährleistungen der EMRK (Fn. 40), sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 07.12.2000 (ABl. EU 2010, C 83, 389), insbes. deren justizielle Rechte (Art. 5 und 6 EMRK einschließlich Art. 2–4 ZP VII; Art. 47 ff. GRCh), sowie Art. 54 SDÜ. S. zum Grundrechtsschutz durch Rechtsakte der EU Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 142 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 449. 64 S. hierzu ausf. Wade, Developing a Criminal Justice Area in the European Union (2014), S. 28 ff. 65 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 21; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 448 ff. mit weiterführenden Überlegungen zum Ausbau des Grund- und Verfahrensrechtsschutzes bei grenzüberschreitenden Strafverfahren. 66 ICTR, Urteil v. 23.05.2005 (Juvénal Kajelijeli v. The Prosecutor [ICTR-98-44A-A]), NJW 2005, 2934 (2935) („This flows from the rationale that the international division of labour in prosecuting crimes must not be to the detriment of the apprehended person.“); Ambos / ​

B. Erscheinungsformen der Rechtshilfe

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B. Erscheinungsformen der Rechtshilfe Die Maßnahmen, um deren Vornahme ein Staat i. R. d. Rechtshilfe ersucht wird, können vielfältig sein. Mit den eingangs genannten Beispielen der Auslieferung und der Beweisrechtshilfe wurden nur zwei ausgewählte Bereiche des umfangreichen Rechtshilfespektrums erwähnt. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über die möglichen unter den Oberbegriff der Rechtshilfe fallenden Maßnahmen gegeben werden. Das IRG differenziert in den Teilen zwei bis fünf zwischen Auslieferung (§§ 2 ff. IRG), Durchlieferung (§§ 43 ff. IRG), Vollstreckungshilfe (§§ 48 ff. IRG) und sonstiger Rechtshilfe (§§ 59 ff. IRG). Entsprechend der überwiegenden Darstellungen67 erfolgt hier die Zuordnung der einzelnen Rechtshilfehandlungen entsprechend ihrer Zweckrichtung zu einer von drei Bereichen. Diese sind: –– Auslieferung („große“ Rechtshilfe), –– Sonstige („kleine“) Rechtshilfe und –– Vollstreckungshilfe. Als mit der im Verhältnis zu anderen Arten der Rechtshilfe gesehenen besonders intensive – da bisweilen mit Inhaftierung einhergehenden68 – Maßnahme kann die ­ önig / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 21; Schomburg / L agodny (2020), K Einleitung Rn. 18, 185 ff.; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 40 m. w. N.; vgl. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 15, 29 ff., krit. aber gegenüber einer Gleichbehandlung mit nationalen Regelungen (Rn. 41); Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 448 ff. 67 S. statt vieler Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 9; Ambos / König / ­​ Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1.  Hauptteil Rn.  24 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 11; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 699; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 2. Eine Unterteilung in vier Bereiche (Auslieferung, sonstige Rechtshilfe, stellvertretende Strafverfolgung und stellvertretende Strafvollstreckung) sieht das schweizerische IRSG in Art. 1 Abs. 1 vor; hierzu Bundesamt für Justiz (EJPD), Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen – Wegleitung (2009), S. 5; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 27 ff.; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 93; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 250 ff.; Hauser / Schweri / Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht (2005), § 21 Rn. 5, 20 ff.; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 91; s. auch Popp, Grundzüge (2001), Rn. 87 f.; Fichera, The Implementation of the European Arrest Warrant in the EU (2011), S. 5 („mutual assistance in criminal matters, transfer of proceedings, enforcement of foreign judgments, extradition“). Vereinzelt wird auch eine Unterteilung in primäre (Übernahme der Strafverfolgung) und sekundäre (Auslieferung und andere Rechtshilfemaßnahmen) Rechtshilfe vorgenommen, so etwa Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 218 ff. m. w. N. in Fn. 12 f.; vgl. dazu auch Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 34; für eine Verwendung der Begriffe primäre (für die Strafverfolgung) und sekundäre Rechtshilfe (für verbundene Zivilverfahren) Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 93. 68 S. zur (vorläufigen) Auslieferungshaft §§ 15 und 16 IRG; dazu Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 755 ff.; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 277 ff.; Schomburg, StV 1983, 38

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Auslieferung („große Rechtshilfe“)69 gelten. Hierbei verfügt ein Staat über eine sich auf seinem Territorium befindliche Person in der Art, dass er sie im Wege hoheitlicher Vornahme der Gewalt des ersuchenden völkerrechtlichen Hoheitsträgers zur Strafverfolgung oder -vollstreckung überstellt.70 Der Auslieferung aus dem ersuchten entspricht die Einlieferung in den ersuchenden Staat, was zur Begründung der innerstaatlichen strafverfahrensrechtlichen Informationsrechte und -pflichten, wie die Belehrung hinsichtlich der Selbstbelastungsfreiheit, führt.71 Ein Unterfall der Auslieferung ist die Durchlieferung. Der Beschuldigte oder Verurteilte wird insoweit vom ersuchten an den ersuchenden Staat ausgeliefert und der Auslieferungsprozess über das Territorium eines dritten Staates abgewickelt.72 Auch die Weiterlieferung ist mit der Überstellung einer Person an eine auswärtige Gewalt verbunden. In diesem Fall liefert der ersuchende (!) Staat den ursprünglich vom ersuchten Staat an ihn Ausgelieferten mit Zustimmung des ursprünglich ersuchten Staates73 an einen dritten Beteiligten (weiter) aus.74 Allen Maßnahmen ist (42); ders., StV 1998, 153 (155 f.); Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 57 ff.; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 36 ff. S. zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Auslieferungshaft BVerfG, Beschluss v. 16.07.2019 (2 BvR 419/19), juris, Tz. 43 ff.; BVerfG, Beschluss v. 14.12.2017 (2 BvR 2655/17), juris, Tz. 20 ff. 69 Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 12; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 21; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 35; Carl / Klos, Leitfaden zur internationalen Amts- und Rechtshilfe (1995), S. 223; Güntge, SchlHA 2013, 346 (347). 70 Bereits Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht (1887), S. 39; von Martitz, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Band 1 (1888), S. 54. S. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 12; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz (2016), Rn. 278 (mit einer terminologischen Differenzierung zu den Begriffen der Ausweisung und Abschiebung; weiterführend dazu auch Rn. 585); Haas, Auslieferung (2000), S. 53; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 251; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 3, 14 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 81; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 12, 15; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 98; s. auch Weigend, JuS 2000, 105. 71 Schomburg / L agodny / Gleß / Hackner (2012), Einleitung Rn. 15; Schomburg / L agodny / ​ Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 14. 72 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 25; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 17 f.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 254; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S.  33; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 12; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 22; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 495; explizit zu den herabgesetzten Anforderungen der Durchlieferung s. Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 12. Für eine Bewertung als Maßnahme der sonstigen Rechtshilfe aber Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 450. 73 Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 34 f.; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 94 f.; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 105 f.; vgl. von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 35. 74 Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 34 f.; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 94 f.; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S, 105 f.

B. Erscheinungsformen der Rechtshilfe

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somit der Umstand gemein, dass ein ersuchter Staat eine Person durch Hoheitsakt der Verfügungsgewalt einer ersuchenden Körperschaft überstellt. Der Begriff der sonstigen bzw. „kleinen“ Rechtshilfe lässt sich durch eine Negativabgrenzung darstellen:75 Sie umfasst all diejenigen Maßnahmen, die zur Durchführung des Strafverfahrens im ersuchenden Staat erforderlich sind, soweit das Strafverfahren noch nicht im Vollstreckungsstadium angelangt ist und die Maßnahme keinen Akt der Auslieferung betrifft.76 Den wohl relevantesten Anwendungsbereich stellt hier die Beweiserlangung im Rahmen grenzüberschreitender Ermittlungsmaßnahmen dar.77 Im IRG werden Maßnahmen der sonstigen Rechtshilfe nicht aufgezählt, um die Möglichkeit der Erfassung weiterer Rechtshilfeakte zu eröffnen.78 Die Vollstreckungshilfe wird ihrem Begriff nach im Vollstreckungsverfahren relevant und betrifft diejenigen hoheitlichen Unterstützungshandlungen des ersuchten Staates (Vollstreckungsstaat) auf seinem Hoheitsgebiet, die der Umsetzung einer im ersuchenden Staat (Urteilsstaat) ergangenen strafrechtlichen Entscheidung dienen.79 Dies kann die Durchsetzung echter Kriminalstrafen sowie die Umsetzung

75 So ausdrücklich auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 18. S. auch Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 27; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 24; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 15; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 36; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 64; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 14. 76 Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 24; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 64; Hürlimann-Fersch, Amts- und Rechtshilfe in Steuerstrafsachen (2010), S. 39. Vgl. auch Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3154; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 107 f. S. zur beispielhaften Nennung erfasster Maßnahmen Bundesamt für Justiz (EJPD), Die internationale Rechtshilfe in Straf­ sachen – Wegleitung (2009), S. 5; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 29; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn.  257 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 1 IRG Rn. 3; Hauser / Schweri / Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht (2005), § 21 Rn. 16; Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 152 ff.; Bischoff / Nogrady, § 8 Grenzüberschreitende Bekämpfung, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht (2015), Rn. 78 ff.; Behnisch, Der Schweizer Treuhänder 2007, 286 (288). S. jedoch auch Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 500 ff., der die Auslieferung als eigenständiges Institut gegenüber der Rechtshilfe einordnet. 77 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 77; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 36; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 389, mit einer ausführlichen Darstellung der Beweis- und Auskunftsübermittlung in Rn. 211 ff.; Gless, Beweisrechtsgrundsätze (2006), S. 109 ff.; vgl. auch Hürlimann-Fersch, Amts- und Rechtshilfe in Steuerstrafsachen (2010) S. 39; Eisenberg, Beweisrecht (2017), Rn. 469 ff. 78 Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 12 f. 79 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 2 f.; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 32; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 12. Ausf. Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 506 ff.; Güntge, SchlHA 2013, 346 (347); Hombrecher, JA 2010, 637 (643).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

etwaiger Nebenfolgen der Tat betreffen.80 Die ausländische Entscheidung wird dabei entweder übernommen81 oder i. R. e. Exequaturverfahrens in nationales Recht transformiert (vgl. § 54 IRG)82 und anschließend exekutiert. Den bereits dargelegten Möglichkeiten zur Unterstützung eines fremden Strafverfahrens durch Auslieferung, Vollstreckungs- und sonstige Rechtshilfe ist entsprechend dem oben zugrunde gelegten Begriffsverständnis gemein, dass sie sich auf die Unterstützung eines auswärtigen strafrechtlichen Verfahrens richten und zugleich beschränken. Des Weiteren wird auch die Übernahme der Strafverfolgung von der h. M. als Ausprägung der Rechtshilfebeziehung eingeordnet.83 Dem auf Grotius zurückgehenden Grundsatz „aut dedere aut iudicare“84 entspricht es, dass 80

Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 26; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 213; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 26. 81 So bspw. in der Schweiz, s. Hauser / Schweri / Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht (2005), § 21 Rn. 23. 82 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 23; Ambos / König / ​ ­Rackow  / Rackow (2015), 1. Hauptteil Rn. 127; Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 2 IRG Rn. 13; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 110 f.; Hauser / Schweri / Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht (2005), § 21 Rn. 23; Felsenstein, ÖJZ 1986, 645 (648); Knittel, Jura 1989, 581 (585); Schomburg, RuP 1982, 203; ders., StV 1983, 38 (42); Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 214; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 80 f.; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 36; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 12, 135 ff.; Vogler / Wilkitzki (1992), Vorbemerkungen Rn. 4; vgl. auch Böhm, NStZ 2017, 77 (83). S. auch ausf. Ambos / König / Rackow / Jakubetz (2015), 3. Hauptteil Rn. 27 ff.; Vogler, Zur Rechtshilfe durch Vollstreckung ausländischer Strafurteile, in: Vogler, FS Jescheck (1985), S. 1387 ff. 83 Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 30 f.; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 69 f.; von Cleric, Das sogenannte stellvertretende Strafrecht (Strafverfolgungsübernahme), in: von Cleric et al., FG Zürcher (1920), S. 131; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege (1996), S.  115; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 155, der von einer Rechtshilfeform sui generis spricht und die Übernahme der Strafverfolgung zugleich als zulässige sonstige Rechtshilfe ansieht; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 28; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 167, 351 ff. („radikalere Möglichkeit der internationalen Rechtshilfe“ [351]); Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 69; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 93 f.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 250, 264 ff.; Eser, Transnational cooperation in criminal cases, in: Heine / Burkhardt / Gropp, Transnationales Strafrecht (2011), S. 307; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 87; Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegen­ heiten (2001), S. 1; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3153 ff. (3156); Hofstetter, recht 2004, 81; Knittel, Jura 1989, 581 (585); wohl auch Heine, Stellvertretende Strafrechtspflege (2015), S.  17; Ambos / König / Rackow / Z erbes (2015), 3. Hauptteil Rn. 483; Ambos / ​ König / Rackow / Meyer (2015), 3. Hauptteil Rn. 519. S. auch bereits die Nachweise in Fn. 67. 84 Dt.: Entweder ausliefern oder verurteilen. S. hierzu MüKo-StGB / Ambos (2017), Vor §§ 3–7 Rn. 56; ders., Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn.  119; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 26; Bassiouni / Wise, Aut dedere aut judicare (1995), S. 3 ff. mit Überlegungen zur Bedeutung des Grundsatzes im Völkergewohnheits- und Völkervertragsrecht (7 ff.); Oehler, Internationales Strafrecht (1983), Rn. 802; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 74 mit Fn. 47; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege (1996), S. 103 ff.; Klip, European Criminal Law (2016), S. 213 unter Berücksichtigung

B. Erscheinungsformen der Rechtshilfe

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der Staat, auf dessen Gebiet eine beschuldigte Person betroffen ist, die Verfolgung übernimmt, wenn eine Auslieferung an den Tatortstaat aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen ausgeschlossen ist.85 Im deutschen Strafanwendungsrecht ist diese Übernahme der Strafverfolgung durch die stellvertretende Strafrechtspflege verankert (§ 7 Abs. 2 Nr. 2 StGB).86 Die Gegenauffassung87 stellt sich dieser Einordnung mit einem überzeugenden Einwand entgegen: Konstellationen stellvertretender Strafrechtspflege erfassen gerade nicht mehr die Unterstützung eines fremden Verfahrens, sondern beschreiben vielmehr diejenigen Fallgestaltungen, in denen die Strafgewalt vom Tatort- auf den Ergreifungsstaat übertragen wird. Es handelt sich mithin keineswegs um die „Weiterführung eines Strafverfahrens.“88 Denn der fremde staatliche Strafanspruch wird gerade nicht nur in der Person des „ersuchten“ Staates zur Durchsetzung verholfen, sondern direkt auf diesen übertragen und von Seiten letzteren „treuhänderisch,“89 aber eo ipso durchgesetzt. Es lässt sich insoweit von derivativer Strafgewalt sprechen.90 Demgegenüber kann auch nicht eingewendet werden, dass das Verfahren lediglich in stellvertretender Funktion für den Tatortstaat ausgeführt wird.91 Denn die Verfolgung in Stellvertretung ändert des Sekundärrechts der EU; ausf. auch Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 487 ff. („cornerstone“). 85 BGH, Urteil v. 30.04.1999 (3 StR 215/98), BGHSt 45, 64 (73); BGH, Beschluss v. 17.05.1991 (2 StR 183/90), NJW 1991, 3104; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn. 119; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 16 Rn. 15; Oehler, Internationales Strafrecht (1983), Rn. 811; Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 74 ff.; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 266; LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 267; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 28; Sch / Sch / Eser / Weißer (2019), Vor §§ 3–9 Rn. 26; Heine, Stellvertretende Strafrechtspflege (2015), S. 137 ff. S. aber auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 213 („This obligation also has its origins in international criminal law. It imposes the obligation on the state that receives a request for extradition to choose between two options: either to extradite (aut dedere) the requested person, or to try (aut judicare) him.“). 86 S. dazu Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn. 118. 87 Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 4; Gaerte, Rechtshilfe (Internationale)  in Strafsachen, in: Schlochauer, Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 56; Bischoff / Nogrady, § 8 Grenzüberschreitende Bekämpfung, in: Müller-Gugenberger, Wirtschaftsstrafrecht (2015), Rn. 119 ff. 88 Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 351. 89 Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 266. 90 Heine, Stellvertretende Strafrechtspflege (2015), S. 18 f.; Jeßberger, Transnationaler Geltungsbereich (2011), S. 265 ff.; Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege (1996), S. 100 f.; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht (1977), S. 85; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn. 119; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 69 f.; LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 267; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 28; Matt / Renzikowski / Basak (2010), Vor §§ 3 ff. Rn. 13; Federico, EPL 25 (2019), 347 (374). 91 S. unter ausdrücklicher Bezugnahme zum Verfolgungswillen des Tatortstaates Pappas, Stellvertretende Strafrechtspflege (1996), S. 91 ff.; MüKo-StGB / Ambos (2017), Vor §§ 3–7 Rn. 56; ders., Internationales Strafrecht (2018), § 3 Rn. 118; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 29; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 3 Rn. 57; krit. zur Ermittlung des Verfolgungswillens LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 268.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

nichts an ihren verfahrensrechtlichen Unterschieden zur Rechtshilfe. Der das Verfahren abtretende Staat hat seinen Strafanspruch an den das Verfahren führenden Staat übertragen, womit jener seine originäre Strafgewalt zwar nicht verliert,92 jedoch nicht mehr durchzusetzen vermag, was sich anhand des im Tatortstaat mit der Übertragung der Strafverfolgung eintretenden Verfahrenshindernisses zeigt.93 Es fehlt somit an der für die Rechtshilfe entscheidenden Ausgangslage, in der der ersuchende Staat alleiniger Inhaber der in der konkreten Fallgestaltung durchzusetzenden Strafverfolgungsgewalt bleibt und der ersuchte Staat seine auf seinem Gebiet Platz greifende Hoheitsgewalt lediglich zur Unterstützung jenes fremden Staates einsetzt. Zutreffend lässt es sich mit den Worten Werles und Jeßbergers beschreiben: „Er [der inländische Richter] übt gleichwohl die Strafgewalt des eigenen Staates aus.“94 Die Übernahme der Strafverfolgung stellt somit ein aliud zur Rechtshilfe i. e. S. dar und liegt außerhalb des Untersuchungsgegenstandes.

92

von Cleric, Das sogenannte stellvertretende Strafrecht (Strafverfolgungsübernahme), in: von Cleric et al., FG Zürcher (1920), S. 130; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht (1977), S. 85. 93 Knittel, Jura 1989, 581 (585); von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 96 f., der das Verfolgungshindernis zugleich als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG einordnet; krit. hierzu Ambos / Poschadel, GA 2011, 95 ff. S. auch Bassiouni, 5.2 Introduction to Transfer of Criminal Proceedings, in: Bassiouni, International Criminal Law, Vol. II (2008), S. 515 („Transfer of criminal proceedings ends jurisdiction in the transferring state while beginning jurisdiction in the transferred state.“); Klip, European Criminal Law (2016), S. 450 („By transferring the proceedings, a state transfers its right to prosecute to another state.“); Art. 21 Abs. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Übertragung der Strafverfolgung vom 15.05.1972, in Kraft getreten am 30.03.1978, zu dessen Vertragsparteien u. a. Deutschland bis heute nicht zählt (EuVerfolgÜbk [ETS Nr. 073]): „When the requesting State has requested proceedings, it can no longer prosecute the suspected person for the offence in respect of which the proceedings have been requested or enforce a judgment which has been pronounced previously in that State against him for that offence. Until the requested State’s decision on the request for proceedings has been received, the requesting State shall, however, retain its right to take all steps in respect of prosecution, short of bringing the case to trial, or, as the case may be, allowing the competent administrative authority to decide on the case.“; Art. 16 Abs. 1 des Vorschlags für einen Rahmenbeschluss des Rates über die Übertragung der Strafverfolgung vom 21.09.2009 (Abl. EU C 219, 7): „Spätestens bei Eingang der Mitteilung der empfangenden Behörde, dass diese die Übertragung der Verfolgung annimmt, setzt der Mitgliedstaat der übertragenden Behörde im Einklang mit seinem innerstaatlichen Recht das Verfahren wegen der Tathandlungen, die dem Übertragungsersuchen zugrunde liegen, aus bzw. stellt es ein; […]“ sowie dessen Abs. 2, der die Verfahrenseinleitung im Übernahmestaat ausdrücklich von der Einstellung im übertragenden Staat abhängig macht: „(…) Wenn die empfangende Behörde entscheidet, das Verfahren wegen der Tathandlungen, die dem Ersuchen zugrunde liegen, einzustellen, kann die übertragende Behörde ein Verfahren einleiten oder wieder aufnehmen.“; Nr. 146 Abs. 4 RiVASt, der den Eintritt eines Verfolgungshindernisses vom Vorliegen einer entspr. völkerrechtlichen Vereinbarung abhängig macht. 94 LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 267; ähnlich Matt / Renzikowski / Basak (2010), Vor §§ 3 ff. Rn. 13.

C. Die Rechtshilfequellen

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C. Die Rechtshilfequellen Bereits eingangs wurde auf die souveräne Gleichheit aller Staaten und die daraus folgende grundsätzliche Entscheidungsfreiheit zur Gewährung von Rechtshilfe hingewiesen.95 Jedoch können Staaten auch einer Pflicht zur Leistung von Rechtshilfe unterliegen. Der souveräne Staat ist nämlich frei, Pflichten kraft völkerrechtlichen Vertrages einzugehen und im Rahmen solcher Verträge seine rechtshilferechtlichen Beziehungen verbindlich zu regeln.96 Eine völkervertraglich begründete Rechtshilfepflicht lässt sich sodann einer von verschiedenen Ebenen der völkerrechtlichen Beziehungen zuordnen.97 Nur am Rande seien hier Abkommen der Vereinten Nationen98 sowie bindende Resolutionen des UN-Sicherheitsrates genannt, die eine solche Rechtshilfepflicht begründen können.99 Es steht somit zum einen fest, dass die die Rechtshilfe betreffenden Rechtsgrundlagen dem internationalen Recht entnommen werden können. Sie beschränken sich hierauf jedoch nicht. Auch das nationale Recht der Staaten enthält i. d. R. Vorgaben für das Verfahren der Rechtshilfe sowie sie betreffende materiell-rechtliche Regelungen.100 Zum anderen ist die die Rechtshilfepflicht begründende Rechtsquelle von der innerstaatlichen Durchführungsregelung zu unterscheiden:101 Während zur Begründung einer zwischenstaatlichen Rechtshilfepflicht eine völ 95

S. o. Fn. 15 mit Haupttext. Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 30; Schwaighofer  / ​ Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten (2001), S. 2; ­Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 79; vgl. Cryer et al., International Criminal Law and Procedure (2014), S. 74 ff.; Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 499. Für eine Darstellung einzelner multilateraler Auslieferungsabkommen s. Shearer, Extradition in international law (1971), S. 51 ff. S. auch bereits o. Fn. 15 und 16, jeweils mit Haupttext. 97 S. zur Darstellung der die verschiedenen Regelungsebenen betreffenden Auslegungsgrundsätze Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 32; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 52 f., 62 ff.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 37 ff. 98 S. etwa die Darstellung bei Schomburg / Lagodny / Schomburg / Suominen-Picht / Trautmann (2020), Hauptteil IV, Einführung Rn. 5 ff.; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 62; Lagodny, § 22 Transnationales Strafverfahren, in: Müller, MAH (2014), Rn. 32. 99 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 169. S. auch zur allgemeinen Kooperationspflicht der UN-Mitgliedstaaten Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 30, 32 f.; Schomburg / Lagodny / Schomburg / ​ Suominen-Picht / Trautmann (2020), Hauptteil IV, Einführung Rn. 1 f., die zutr. den Begriff „globale Rechtshilfe“ verwenden; zur Bindungswirkung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrates Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 33 mit Fn. 2; Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 4. Abschn. Rn. 150 ff.; Hobe, Völkerrecht (2014), S. 133; Ipsen, Völkerrecht (2018), § 53 Rn. 12 f. 100 S. bzgl. des in der Bundesrepublik einschlägigen IRG Fn. 43. 101 Explizit Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 45 f., der dem innerstaatlichen Rechtshilferecht zutr. eine Vollzugsermächtigung zuschreibt; ähnlich Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 79 ff. („Vornahmeermächtigung“ [81]). 96

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

kerrechtliche Pflichtenregelung erforderlich ist und diese den unterzeichnenden Staat zur Gewährung der Rechtshilfe verpflichtet (völkerrechtliches Müssen), bedarf es zur Vornahme der in Rede stehenden Maßnahme aufgrund des Gesetzesvorbehalts im innerstaatlichen Recht einer Eingriffsermächtigung (innerstaatliches Dürfen).102 Davon zu differenzieren bleibt die Abgrenzung der nationalen Vornahme- von der ebenfalls nationalen Leistungsermächtigung. Während jene dem soeben genannten Kriterium des innerstaatlichen Dürfens entspricht, betrifft diese die allein am Maßstab des nationalen Rechts zu bewertende rechtliche Zulässigkeit der Rechtshilfemaßnahme.103 Fehlen völkervertragliche Vereinbarungen zu anderen Staaten oder Institutionen, richtet sich die ersuchte Maßnahme nach dem Recht des sog. vertragslosen oder autonomen Rechtshilfeverkehrs.104 Im Grundsatz obliegt danach die Gewährung einer für sich rechtlich zulässigen Rechtshilfe selbst der Entscheidungsfreiheit des ersuchten Staates.105 Die rechtliche Grundlage bildet sodann das innerstaatliche Rechtshilferecht. In Deutschland ergeben sich die Rechtsgrundlagen für den vertragslosen Rechtshilfeverkehr v. a. aus dem IRG.106 Eine Konkretisierungshilfe bieten die im Rang von Verwaltungsvorschriften angesiedelten107 Richtlinien für

102

Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 234; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 72 ff.; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 1 ff.; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 34 f.; Eser, Wege und Hürden transnationaler Strafrechtspflege in Europa, in: Bundeskriminalamt, Verbrechensbekämpfung in europäischer Dimension (1992) S. 34; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 13 ff.; Güntge, SchlHA 2013, 346 (347); ausf. zum Verhältnis von nationalem und Völkerrecht auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 43 f.; vgl. auch Häde, Der Staat 1997, 1 (8) unter besonderer Berücksichtigung der Kollision einer etwaigen völkervertraglichen Auslieferungspflicht und dem Auslieferungsverbot gem. Art. 16 Abs. 2 GG. 103 Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 79 ff.; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 21 ff.; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 39 ff.; Güntge, SchlHA 2013, 346 (347). 104 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 158; Hofstetter, recht 2004, 81 (83); Häde, Der Staat 1997, 1 (9); Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 236; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68; Hombrecher, JA 2010, 637 (641); Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 74 („Kulanzhilfe“). 105 Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 22; Grützner / ​Pötz / ​ Kreß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 37; Junker, DRiZ 1985, 161 (164) („aufgrund der internationalen Höflichkeit“); Polakiewicz, Amts- und Rechtshilfe, in: Breiten­ moser / Gless / Lagodny, Schengen und Dublin in der Praxis (2010), S. 121; bzgl. der Auslieferung Häde, Der Staat 1997, 1 (2 f., 20). 106 Daneben verweist § 77 Abs. 1 IRG etwa auf die sinngemäße Anwendung von GVG, EGGVG, StPO, JGG, AO und OWiG. 107 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 157, 161.

C. Die Rechtshilfequellen

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den Verkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (RiVASt)108.109 Aufgrund der zunehmenden völkervertraglichen Kodifizierung ist der Geltungsbereich des vertragslosen Rechtshilfeverkehrs zunehmend verkleinert worden. Relevant wird das nationale Recht ferner im Anwendungsbereich des sog. Günstigkeitsprinzips, wonach der ersuchte Staat sich auf die Anwendung seines Rechts berufen kann, wenn dieses eine weitergehende Rechtshilfe als die internationale vertragliche Vereinbarung ermöglicht.110 Den historischen Ausgangspunkt zur internationalen Regelung zwischenstaat­ licher Beziehungen in rechtshilferechtlichen Angelegenheiten bilden bilaterale Auslieferungsverträge.111 Neben die klassische bilaterale Vertragskonstellation traten sodann die gegenwärtig bekannteren multilateralen Übereinkommen zwischen mehreren Staaten. Heute lässt sich auf ein „immer dichteres Netzwerk multi- und bilateraler Verträge“112 blicken. Diesen völkerrechtlichen Vereinbarungen ist eine Vorrangwirkung immanent; in der Konsequenz sperren sie den Anwendungs­ bereich des nationalen Rechtshilferechts, das damit auf eine subsidiäre Geltung be-

108

RiVASt vom 05.12.2012 (BAnz AT, 12.10.2017, B1), i. d. F. der Bekanntmachung vom 23.12.2016. 109 Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 36; Grützner / ​Pötz / ​ Kreß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 157, 161; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 33; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 8. 110 BGH, Beschluss v. 30.09.1987 (4 ARs 7/87), BGHSt 35, 67 (71 f.); OLG Köln, Beschluss v. 20.06.2003 (Ausl 152/03 – 2803), NStZ-RR 2003, 339 (339 f.) m. w. N.; OLG Karlsruhe, Beschluss v. 17.04.1985 (1 AK 15/85), NJW 1985, 2906; BGer, Urteil v. 01.03.2006, BGE 132 II 178 (181); Bundesamt für Justiz (EJPD), Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen – Weg­ leitung (2009), S.  29 f.; Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 1. Hauptteil Rn. 232; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 23, ausf. dazu Rn. 47 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 332; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68; Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 104; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3298 ff.; ausf. auch Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 52 ff. und Niggli / Heimgartner / Fiolka (2015), Art. 1 IRSG Rn. 24 ff., die jeweils krit. betonen, dass sich die Gewährung der Rechtshilfe aufgrund des Günstigkeitsprinzips immer zu Lasten des Betroffenen auswirke. 111 Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 13; Beilstein, SZW 1995, 105 (106). S. zur Auslieferung als älteste Form der Rechtshilfe Haas, Auslieferung (2000), S. 58 ff.; Bassiouni, Introduction to international criminal law (2013), S. 500 f.; ders., 3.1 Law and Practice of the United States, in: Bassiouni, International Criminal Law, Vol. II (2008), S.  269 m. w. N. in Fn.  1. Vgl. Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 141. 112 Schomburg / L agodny (2020), Schnellübersicht Rn.  9. S.  auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 181 („Rechtsquellenchaos“); Eser, Common goals and different ways in international criminal law, in: Heine / Burkhardt / Gropp, Transnationales Strafrecht (2011), 315; Junker, DRiZ 1985, 161 (164); Schnigula, DRiZ 1984, 177; für den europäischen Rechtsraum bereits Schomburg, DRiZ 1999, 107 (108).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

schränkt wird (§ 1 Abs. 3 IRG).113 Dem nationalen Rechtshilferecht verbleibt jedoch auch grundsätzlich im Fall völkervertraglich geregelter Rechtshilfebeziehungen die Regelung des innerstaatlichen Rechtshilfeverfahrens (locus regit actum).114 Für die Bundesrepublik hat die Relevanz isolierter zwischenstaatlicher Rechtshilfeverträge aufgrund der Mitgliedschaft im Europarat und der EU abgenommen.115 Bedeutung erlangen diese Abkommen nunmehr im Verhältnis zu Nicht-Mitgliedstaaten dieser Institutionen sowie im Fall der Ergänzung bestehender Abkommen der EU und des Europarats.116 Im Ergebnis lassen sich die völkerrechtlichen Rechtsquellen im Wesentlichen in drei Kategorien einteilen: Auf das nationale Recht der Rechts 113

Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 22; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1.  Hauptteil Rn.  38 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 158; Schomburg / L agodny (2020), Schnellübersicht Rn. 11; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 34; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 19 ff.; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 1 Rn. 5 f. („klarstellende Bedeutung“); Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 23, 390; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 238; Lagodny, § 22 Transnationales Strafverfahren, in: Müller, MAH (2014), Rn. 34; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68; Knittel, Jura 1989, 581 (584); Häde, Der Staat 1997, 1 (9); Gstöhl, Geheimnisschutz (2008), S. 82; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 13. 114 BGH, Beschluss v. 13.01.1987 (4 ARs 22/86), BGHSt 34, 256 (259); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 40; Schomburg / Lagodny / Riegel (2020), § 1 IRG Rn. 37; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn.  1; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 158; Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 122; vgl. Eisenberg, Beweisrecht (2017), Rn. 469; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 433. Vgl. auch etwa Art. 22 Europäisches Auslieferungsübereinkommen (EuAlÜbk) vom 13.12.1957, in Kraft getreten am 18.04.1960 (ETS Nr. 024; BGBl. 1964 II, 1369; 1976 II, 1778; 1994 II, 299). S. jedoch auch Art. 4 Abs. 1 ­EU-RhÜbk (Fn. 48), wonach grds. das Recht des ersuchenden (!) Staates zur Anwendung kommt (forum regit actum); dazu BGH, Beschluss v. 15.03.2007 (5 StR 53/07), StraFo 2007, 240; Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl (2020), EU-RhÜbk Rn. 11a; Eisenberg, Beweisrecht (2017), Rn. 471. 115 Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 93. Für einen Überblick zu den bestehenden rechtshilferechtlichen Verträgen der BRD zu anderen Staaten s. die Auflistungen zum einen im Anhang II (Länderteil) zu den RiVASt, abrufbar unter http://www.bmjv.de/SiteGlobals/ Forms/Suche/RiVaStsuche_Formular.html?nn=6428404&templateQueryString=Suchbegriff (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019); sowie den jährlich aktualisierten Fundstellennachweis B im BGBl. II. S.  auch die Darstellung in Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 57 ff. 116 So etwa der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Ergänzung des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.04.1959 [Fn. 49] und die Erleichterung seiner Anwendung vom 13.11.1969 (BGBl. 1975 II, 1169; 1976 II, 1818); hierzu Markees, ZStrR 1973, 230 (249 ff.). S. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 57; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68; grundlegend Hengstler et al., Internationale strafrechtliche Zusammenarbeit (2007). Für die Schweiz s. auch Bundesamt für Justiz (EJPD), Die internationale Rechtshilfe in Strafsachen – Wegleitung (2009), S. 11.

C. Die Rechtshilfequellen

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hilfe wirken das Recht der Vereinten Nationen, das des Europarats sowie der Euro­ päischen Union einschließlich des Schengen-Besitzstandes ein.117 Die Vertragsstaaten des Europarats können heute auf eine Reihe von Abkommen118 zurückblicken, die die gegenseitige Rechtshilfe unter den Mitgliedstaaten allgemein betreffen oder diese als Materie mitregeln.119 Den historischen Grundstein zur Begründung einer völkervertraglichen Auslieferungspflicht in Europa markiert dabei das Europäische Auslieferungsübereinkommen vom 13.12.1957 (EuAuslÜbk), das bereits durch vier in Kraft getretene Zusatzprotokolle flankiert wird.120 Das Übereinkommen regelt neben Zwangseingriffen das Verfahren und die Voraussetzungen der Auslieferung zwischen den Vertragsstaaten und geht dem nationalen Rechtshilferecht vor. Neben dem EuAuslÜbk ist das Europäische Über-

117

Für eine Unterteilung in vier Gruppen Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 58 (1. Europarat, 2. Gemeinschafts- und Unionsrecht, 3. Vereinte Nationen, 4. OECD); Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68, der die Rechtsgrundlagen in „drei Rechtsschichten“ unterteilt: 1. Europaratskonventionen mit Zusatzprotokollen nebst Ergänzungsverträgen, 2. EU-Recht, 3. Nationales Recht. S. auch das geographisch angeordnete Schaubild in Schomburg / L agodny (2020), Schnellübersicht Rn. 12; auch zu finden in Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 61; Lagodny, § 22 Transnationales Strafverfahren, in: Müller, MAH (2014), Rn. 36; ders., § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 4; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 21b; ähnlich Lagodny, Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Merli, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2001), S. 66. Zum Verhältnis der einzelnen Rechtsquellen zueinander Ambos / König / Rackow / Ambos / ​­Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 33 ff. 118 S. die Liste der Verträge des Europarats (Fn. 42). Grundlegend auch Lagodny, Die Aktivitäten des Europarats auf strafrechtlichem Gebiet, in: Eser / Huber, Strafrechtsentwicklung in Europa (1990), S. 1326 ff., 1330 ff. 119 Hierzu Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 132 ff. Krit. zu deliktsspezifischen Übereinkommen Schomburg, DRiZ 1999, 107 (109), der die Entwicklung im europäischen Rechtshilferecht insgesamt krit. betrachtet („schwer genießbarer Rechtshilfecocktail“, „‚Rechtshilfechaos‘“, „‚babylonische Verhältnisse‘“ [111]); so auch krit. zur unübersichtlichen Anzahl der Rechtsquellen Schomburg / L agodny / Gleß / Hackner (2012), Einleitung Rn. 70; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 9 („Normenchaos“); ders., Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Merli, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2001), S. 65 („Vertragschaos“); Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten (2001), S. 3 („Verwirrende Gemengelage“); Kühne, Strafprozessrecht (2015), Rn. 82 („Odyssee durch zahlreiche Rechtsquellen“). 120 ETS Nr. 024 (Fn. 114); ETS Nr. 086 (ZP I); ETS Nr. 098; BGBl. 1990 II, 118; 1991 II, 874 (ZP II); ETS Nr. 209 (ZP III [durch die BRD am 31.01.2011 unterzeichnet, am 25.05.2016 ratifiziert und sodann m. W. z. 01.09.2016 im Kraft getreten]); ETS Nr. 212 (ZP IV [bislang nur von Albanien, Lettland, Österreich, der Schweiz, Serbien, Slowenien, der Türkei und dem Vereinigten Königreich ratifiziert]); zum Ratifikationsstand s. die jeweiligen Abkommen resp. Zusatzprotokolle unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/ treaty/024 (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). Ausf. Gully-Hart, 3.2 The European Approach to Extradition, in: Bassiouni, International Criminal Law, Vol. II (2008), S. 343 ff.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

einkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen aus dem Jahr 1959 (EuRhÜbk)121 – ebenfalls durch zwei Zusatzprotokolle ergänzt122 – besonders zu erwähnen, welches für die sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfe eine völkervertragliche Grundlage liefert. Die beiden Abkommen des Europarats bilden die Grundlage für eine verdichtete rechtshilferechtliche Zusammenarbeit der europäischen Staaten und werden bis heute durch weitere Abkommen des Europarats, wie solche des Unionsrechts, ergänzt.123 Eine grundsätzliche Rechtshilfepflicht lässt sich etwa den Art. 1 EuAuslÜbk, Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk und Art. 1 Abs. 1 EuÜberstÜbk124 entnehmen. Auch unter den Mitgliedstaaten der EU ist ein völkervertragliches Regelungswerk in Bezug auf die gegenseitige Rechtshilfe in Strafsachen entstanden, das der Vereinfachung resp. Ergänzung der Ursprungsregelungen des Europarats dient.125 Hervorzuheben ist zunächst das Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über das vereinfachte Auslieferungsübereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 10.03.1995 (EU-VereinfAuslÜbk).126 Dieses lässt in seinem Titel bereits seinen Zweck, die Vereinfachung der zwischenstaatlichen Auslieferung im Verhältnis der Mitgliedstaaten zueinander, erkennen. Zudem sind das Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 des Vertrags über die Europäische Union über die Auslieferung zwischen den

121

S. o. Fn. 49. ETS Nr. 099; BGBl. 1990 II, 124; 1991 II, 909 (ZP I); ETS Nr. 182; BGBl. 2014 II, 1038; 2015 II, 520 (ZP II). 123 S. dazu statt vieler Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn.  97; Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 611; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 12, 21 und 79; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 509; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 15; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / ­​ Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 166; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 42 (jeweils: „Mutterkonvention“); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 45 ff.; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 33; Schomburg, DRiZ 1999, 107 (108 ff.); Güntge, SchlHA 2013, 346 (348); s. auch Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 433 f.; Polakiewicz, Amts- und Rechtshilfe, in: Breitenmoser / Gless / Lagodny, Schengen und Dublin in der Praxis (2010), S. 130. 124 Europäisches Übereinkommen über die Überstellung verurteilter Personen vom 21.03.​ 1983, in Kraft getreten am 01.07.1985 (ETS Nr. 112; BGBl. 1991 II, 1006; 1991 I, 1954; 1992 II, 98), nebst ZP I vom 18.12.1997, in Kraft getreten am 01.06.2000 (ETS Nr. 167; BGBl. 2002 II, 2866; 2008 II, 45) und dem ZP II vom 22.11.2017 (ETS Nr. 222). Letzteres ist bislang von keinem Vertragsstaat ratifiziert worden und demnach noch nicht in Kraft getreten. 125 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 12; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 100 und 105; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 449; Felsenstein, Rechtshilfe und Auslieferung in der Europäischen Union, in: Bundesministerium für Justiz, Recht sprechen in Europa (1999), S. 125, 132; Schomburg, DRiZ 1999, 107 (109) („‚Erleichterung‘“); Güntge, SchlHA 2013, 346 (348); insb. zum EU-AuslÜbk Bernasconi, § 7 Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Schmid, Kommentar Einziehung, organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Band II (2002), Rn. 432. S. auch explizit Art. 1 EU-AuslÜbk, der auf das EuAuslÜbk, das SDÜ und das Benelux-Übereinkommen Bezug nimmt. 126 ABl. EG 1995, C 78, 2; 1996, C 375, 4; BGBl. 1998 II, 2229; 1999 II, 357, das allerdings bis heute nicht in Kraft getreten ist. 122

C. Die Rechtshilfequellen

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Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 27.09.1996 (EU-AuslÜbk)127 sowie das über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU vom 29.05.2000 (EU-RhÜbk) nebst Zusatzprotokoll128 zu nennen. Diese sehen jeweils aufbauend auf dem EuAuslÜbk bzw. EuRhÜbk eine weitere Vereinfachung des Auslieferungs- resp. Rechtshilfeverkehrs durch Erweiterung der Anwendungs­ bereiche und Absenkung der Verfahrensanforderungen vor.129 Eine Rechtshilfepflicht folgt hier bereits aus der Ergänzung und Inbezugnahme der diese Pflicht begründenden Europaratsabkommen.130 Darüber hinaus ist die EU unter Abkehr vom traditionellen Mechanismus völkerrechtlicher Vereinbarungen131 dazu übergegangen, von ihrer Kompetenz, durch Sekundärrechtsakte auf die Materie des Rechtshilferechts einzuwirken, Gebrauch zu machen. Dieses sekundäre Unionsrecht dient der weiteren Spezifizierung der rechtshilferechtlichen Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Genannt seien hier etwa der Rahmenbeschluss 2002/584/JI über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten vom 13.06.2002 (RbEuHb)132 sowie die Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen vom 03.04.2014 (RlEEA).133 Anknüpfend an das Übereinkommen betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14.06.1985 („Schengen I“)134 regelt ferner das ursprünglich vom EU-Recht isoliert zu betrachtende Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19.06.1990 („Schengen II“)135 in den Art. 59–66 127 ABl. EG 1996, C 313, 12; BGBl. 1998 II, 2253, ebenfalls bislang nicht in Kraft getreten. Für einen Überblick über die wesentlichen Regelungen des EU-AuslÜbk Felsenstein, Rechtshilfe und Auslieferung in der Europäischen Union, in: Bundesministerium für Justiz, Recht sprechen in Europa (1999), 132 ff. 128 S. bereits Fn. 114; ABl. EG 2000, C 197, 3; BGBl. 2005 II, 661. 129 Zum EU-RhÜbk Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 81; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 448 f.; Lagodny, Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Merli, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (2001), S. 67 f. 130 Vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 EU-RhÜbk, Art. 1 Abs. 1 EU-AuslÜbk. 131 Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 15 ff.; Polakiewicz, Amts- und Rechtshilfe, in: Breitenmoser / Gless / Lagodny, Schengen und Dublin in der Praxis (2010), S. 122. 132 ABl. EU 2002, L 190, 1; zuletzt geändert durch Rb 2009/299/JI vom 26. Februar 2009 (ABl. EU L 81, 24). 133 ABl. EU 2014, L 130, 1; 2015, L 143, 16. 134 Übereinkommen von Schengen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14.06.1985 (ABl. EG 2000, L 239, 13 ff.; BGBl. 1993 II, 1010; GMBl. 1986, 79). 135 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (Fn. 134) vom 19.06.1990 (ABl. EG 2000, L 239, 19 ff.; BGBl. 1993 II, 1013). Dazu Lagodny, Internationale Rechts- und Amtshilfe, in: Ehrenzeller / Behnisch, Aktuelle Fragen der internationalen Amts- und Rechtshilfe (2005), S. 143 ff.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

ebenfalls unter Abkehr von Auslieferungshindernissen und der Eröffnung weiterer Formen intensivierter Zusammenarbeit die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten.136 Zuletzt wurde der Schengen-Besitzstand mit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages137 am 01.05.1999 in das Unionsrecht integriert und bildet nunmehr für alle Mitgliedstaaten der EU verbindliches Recht.138 Es wird daher im Fortgang der Untersuchung als Bestandteil des Unionsrechts behandelt. Den Ausführungen lässt sich somit entnehmen, dass der Materie der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ein komplexes Normengeflecht zugrunde liegt, das sich aus dem Zusammenspiel nationaler und internationaler Regelungen erschließt und in einem Stufenverhältnis zueinander steht.139 Ausgehend vom Sockel eines nationalen Rechtshilferechts erstreckt sich das unübersichtliche Normen­ geflecht der internationalen Strafrechtshilfe über den mittlerweile weniger bedeutsamen Regelungsbereich einzelner zwischenstaatlicher Abkommen, über regional begrenzte Mechanismen, wie solche des Europarats, des Schengen- und Unionsraums, bis schließlich zu Maßnahmen der „globalen Rechtshilfe“140 auf der Ebene der Vereinten Nationen. Im Ergebnis hat der Weg der intensivierten internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen die Staaten von einem isolierten Souveränitätsverständnis hin zu einem verdichteten Netz strafrechtlicher Zusammenarbeit ge-

136 Ausf. Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 509 ff.; Epiney, EuZW 2003, 421 ff.; Schomburg, NJW 1995, 1931 (1934 ff.); Felsenstein, Rechtshilfe und Auslieferung in der Europäischen Union, in: Bundesministerium für Justiz, Recht sprechen in Europa (1999), S. 127 ff.; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3248 ff.; dazu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 25, 80; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 100; Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten (2001), S. 6 f.; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 13; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/68; Vermeulen, The EU Convention on mutual assistance, in: de Kerchove / Weyembergh (2000), 182 f.; Schomburg, NJW 2001, 801 (802). 137 Vertrag von Amsterdam zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union, der Verträge zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften sowie einiger damit zusammenhängender Rechtsakte vom 02.10.1997 (ABl. EG C 340, 1; BGBl. 1998 II, 386). 138 Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union vom 02.10.1997 (ABl. EG C 340, 93). Ausf. dazu Wasmeier, § 32 Von der herkömm­lichen Rechtshilfe zur gegenseitigen Anerkennung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 13 ff.; s. auch Schomburg, NJW 2001, 801 (802); Epiney, EuZW 2003, 421; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 1053; Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 22 Rn. 5; Schomburg / Lagodny / Gleß (2020), Einführung Schengen Zusammenarbeit Rn. 4; Böse, Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Merli / Huster, EU-Osterweiterung (2008), S. 464 ff.; Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten (2001), S. 3. Zu den damit verbundenen Überschneidungen und Abgrenzungsfragen Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 447 f. 139 S. auch Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 452, der von einem sich „trichterförmig vertiefenden“ Entwicklungsprozess spricht (EuRhÜbk 1959  – SDÜ  – EURhÜbk 2000). 140 Schomburg / Lagodny / Schomburg / Suominen-Picht / Trautmann (2020), Hauptteil IV, Einführung Rn. 1 f.

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe 

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führt.141 Damit einhergehend ist das Maß der Rechtshilfeverpflichtung gestiegen. War der vertragslose Rechtshilfeverkehr zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch der Regelfall, zeugen heute zahlreiche bi- und multilaterale Verträge von dem Recht zur Rechtshilfe als Ausnahme und dem Grundsatz der Rechtshilfepflicht kraft völkervertraglicher Vereinbarung. Grafisch lassen sich die Ergebnisse dieses Abschnitts wie folgt veranschaulichen: 3. Stufe

UN-Sicherheitsratsresolutionen mit Bindungswirkung

Schengen 2. Stufe

europarechtliche Vorgaben

Unionsrecht Europarat

1. Stufe

bi- und multilaterale Verträge zu Staaten resp. Institutionen

Nationale Rechtsebene (IRG) Schaubild 2: Rechtsquellen der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland142

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe I. Das klassische Auslieferungsverfahren im Überblick Das Auslieferungsverfahren beginnt mit der Anfrage des ersuchenden und richtet sich zunächst nach dem Recht des ersuchten Staates (locus regit actum).143 Die Vorschriften des IRG betreffen jedoch nur einen Teil des im Grundsatz zwei 141 Schomburg / L agodny (2020), Schnellübersicht Rn. 9. Zu seinem Erfordernis bereits Eser, Common goals and different ways in international criminal law, in: Heine / Burkhardt / Gropp, Transnationales Strafrecht (2011), S. 315. S. auch Fn. 112 mit Haupttext. 142 S. auch die Übersicht 2: Prüfung von Rechtshilfeersuchen in Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 21c. 143 S. bereits Fn. 114 mit Haupttext.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

stufig ausgestalteten Auslieferungsverfahrens:144 An ein an das Strafverfahren angelehntes (vgl. § 77 IRG)145 Zulässigkeits- schließt sich ein administratives Bewilligungsverfahren an. Während die Bewilligung grundsätzlich dem politischen Entscheidungsprozess vorbehalten ist,146 regelt das IRG das justizielle Zulässigkeitsverfahren. Die gem. § 13 IRG den Oberlandesgerichten vorbehaltene Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung dient der präventiv-justiziellen Kontrolle des Auslieferungsersuchens.147 Das Oberlandesgericht ist dabei auf die Prüfung der Voraussetzungen der Auslieferung beschränkt (formelles Prüfungsprinzip).148 Die Zuständigkeit für die Bewilligung obliegt grundsätzlich der Bun 144

Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 18; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 29 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/77; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 703; Lagodny, § 22 Transnationales Strafverfahren, in: Müller, MAH (2014), Rn. 44 ff.; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 393 ff.; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 79 ff. mit einer Untersuchung des Verfahrens nach spanischem Recht (89 ff.); Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3175; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 114 f.; Juppe, Gegenseitige Anerkennung (2007), S. 9; Güntge, SchlHA 2013, 346 (347); Weigend, JuS 2000, 105 (109); Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 75, der jedoch entgegen der unterschiedlich national ausgestalteten Verfahren von einer generellen Zweiteilung des Auslieferungsverfahrens ausgeht; zur Gesetzeshistorie Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 105 f. 145 Ambos / König / Rackow / Rackow (2015), 1. Hauptteil Rn. 109; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 707. 146 Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 29; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 126; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 75; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 76 f. 147 BVerfG, Beschluss v. 04.12.2019 (2 BvR 1258/19 und 1497/19), juris, Tz. 52 mit weiteren Ausführungen zur erforderlichen ausführlichen fachgerichtlichen Überprüfung grundrechtseingreifender Maßnahmen  – auch in Bezug auf die gem. Art. 79 Abs. 3 GG i. V. m. Art. 1 und 20 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze (49 ff.); BVerfG, Beschluss v. 22.11.2019 (2 BvR 517/19), juris, Tz. 33; BVerfG, Beschluss v. 22.10.2019 (2 BvR 1661/19), juris, Tz. 39; Ambos / König / Rackow / Rackow (2015), 1. Hauptteil Rn. 109; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 48; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 121; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 703 f.; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 23; Häde, Der Staat 1997, 1 (10). Für eine historische Entwicklung des juristischen Kontrollverfahrens Shearer, Extradition in international law (1971), S. 197 ff. 148 Vgl. BVerfG, Beschluss v. 09.03.1983 (2 BvR 315/83), BVerfGE 63, 332 (337); BVerfG, Beschluss v. 31.03.1987 (2 BvM 2/86), BVerfGE 75, 1 (19); Lagodny, § 22 Transnationales Strafverfahren, in: Müller, MAH (2014), Rn. 50; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 139 f.; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 127; Böse, Deutschland, in: Gleß, Auslieferungsrecht (2002), S. 125; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/70; Loos, Auslieferungsrecht der BRD (1994), S. 56; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 796 ff.; Schork, Auslieferungs­ verfahren (2009), S. 123; Haas, Auslieferung (2000), S. 126; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 87; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 50 ff.; Böhm, NStZ 2017, 77 (83); Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (125) („Die Behörden des ersuchenden Staates […] nehmen damit im gewissen Umfang die Hauptverhandlung vorweg, […].“).

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe 

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desregierung, die umfassend von ihrem Delegationsrecht gem. § 74 Abs. 2 IRG Gebrauch gemacht und ihre Entscheidungskompetenz weitgehend auf die Landes­ regierungen übertragen hat.149 Die obligatorisch zu begründende Entscheidung des Oberlandesgerichts (§ 32 S. 1 IRG) bindet die Exekutive insoweit, als dass die gerichtlich festgestellte Unzulässigkeit der ersuchten Auslieferung das Rechtshilfeverfahren hinfällig werden lässt;150 denn eine für sich unzulässige Rechtshilfe darf nicht mehr bewilligt werden (§ 12 IRG).151 Hingegen führt die Feststellung der Zulässigkeit nicht automatisch zur Gewährung der Rechtshilfe, da eine etwaige Bewilligung einer zulässigen Rechtshilfe  – vorbehaltlich etwaiger Rechtshilfepflichten – die souveräne Ermessensentscheidung der politischen Ebene ist. Die Bundesregierung ist insoweit „Herrin des Auslieferungsverfahrens.“152 Das Auslieferungsverfahren selbst baut auf einigen grundlegenden Prinzipien auf, die ihren Ursprung in der Rechtshilfe als klassisch zweidimensional verstandene Materie finden,153 jedoch auch zunehmend Ausdruck individualschützender Aspekte sind.154 Vereinzelt wird zwischen positiven und negativen Voraussetzungen der Rechtshilfe differenziert:155 Während die positiven zur Gewährung der ersuchten Maßnahme vorliegen müssen, dürfen die negativen nicht gegeben sein und lassen sich somit als Rechtshilfehindernisse bezeichnen. 149 Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (Zuständigkeitsvereinbarung) vom 28.04.2004 (BAnz, 28.04.2004, 11494), i. d. F. der Bekannt­ machung vom 04.05.2004 (abgedruckt in Schomburg / L agodny [2020], Anhang 2). S. zur weiteren Delegation auf das Bundesamt für Justiz, den Generalbundesanwalt und die Generalstaatsanwaltschaften der Länder Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 35; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 32; ähnlich in Österreich: Schwaighofer / Ebensperger, Internationale Rechtshilfe in strafrechtlichen Angelegenheiten (2001), S. 14. 150 Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 12 Rn. 19; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 29; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 706; Haas, Auslieferung (2000), S. 138; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 24; Häde, Der Staat 1997, 1 (11); Güntge, SchlHA 2013, 346 (347). 151 Ebenso in Österreich: § 34 Abs. 1 S. 3 ARHG. Ein Rechtshilfeersuchen darf jedoch ausnahmsweise bei Gefahr im Verzug auch ohne Zulässigkeitsentscheidung ausgeführt werden (Nr. 22 Abs. 2 RiVASt). 152 OLG Thüringen, Beschluss v. 18.10.2006 (1 Ausl 8/06), juris, Tz. 61; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 29 f.; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 17; vgl. Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 12 Rn. 37. 153 Vgl. Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn.  57 f.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 71. 154 So bspw. das Auslieferungshindernis der drohenden (Vollstreckung der) Todesstrafe; hierzu Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 71. S. auch explizit in Bezug auf den Grundsatz der Gegenseitigkeit Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (122). 155 Weigend, JuS 2000, 105 (106); Ligeti, Strafrecht und strafrechtliche Zusammenarbeit in der EU (2005), S. 92; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 9; Hofstetter, recht 2004, 81 (84).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Nach dem allgemeinen völkerrechtlichen Grundsatz156 der Gegenseitigkeit (Reziprozität) kann der ersuchte Staat zunächst die Gewährung der Rechtshilfe für den ersuchenden Staat davon abhängig machen, dass dieser jenem ein Rechtshilfeersuchen ebenfalls gewähren würde („do ut des“).157 Ein Staat soll also nicht ausliefern müssen, wenn ihm nicht seinerseits ausgeliefert würde. Eine Besonderheit gilt in Fällen, in denen Vertragsstaaten eines eine Rechtshilfepflicht konstatierenden Abkommens für einzelne Bereiche Vorbehalte erklärt haben und damit eine „asymmetrische Rechtshilfeverpflichtung“158 begründet, die Gegenseitigkeit in diesem Verhältnis also unvollkommen ist.159 So kann ein Vertragsstaat gem. Art. 26 Abs. 3 EuAuslÜbk die Erfüllung eines Ersuchens insoweit nicht beanspruchen, wie er einem spiegelbildlichen Ersuchen des ersuchten Staates seinerseits nicht entsprechen könnte, weil er (der ersuchende Staat) einen Vorbehalt erklärt hat.160 Die Gegenseitigkeit verlangt eine Prognoseentscheidung dahingehend, ob der er 156

Herdegen, Völkerrecht (2019), § 1 Rn. 16; Hobe, Völkerrecht (2014), S. 300 f.; Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht (1984), S. 48 ff.; Simma, Reziprozitätselement (1972), S. 43 ff.; van der Wilt, The Principle of Reciprocity, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 71; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S.  48; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 51; Ambos / König / Rackow / Kubiciel (2015), 2. Hauptteil Rn. 23, 45; Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 5 IRG Rn. 2; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 92; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 94; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 129 ff.; Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 9; vgl. auch Weber, Voraussetzungen des Gegenseitigkeitsprinzips (1962), S. 48; Mettgenberg, AöR 25 (1909), 1 (2) („Die Gegenseitigkeit, die Reziprozität, ist […] eine Besonderheit […] des internationalen Rechts.“); dagegen BGH, Beschluss v. 11.03.1981 (4 ARs 18/80), BGHSt 30, 55 (63); BGH, Beschluss v. 27.05.1975 (4 ARs 11/75), BGHSt 26, 148 (150) m. w. N.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 5 IRG Rn. 6; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 5 Rn. 2; Haas, Auslieferung (2000), S. 165; Loos, Auslieferungsrecht der BRD (1994), S. 58; Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 93; Singer, Der polizeiliche Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland (1983), S. 81; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 44. Zur historischen Entwicklung Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (120 ff.). 157 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 23; Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 48 f.; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 51; Schomburg / L agodny (2020), Einleitung Rn. 58; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/69; van der Wilt, The Principle of Reciprocity, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 71; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 37; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 129; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 135; Haas, Auslieferung (2000), S. 165; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 5 Rn. 2; Weber, Voraussetzungen des Gegenseitigkeitsprinzips (1962), S. 48; Singer, Der polizeiliche Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland (1983), S. 80 („bei sinngemäßer Umkehrung der Sachlage“); Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 94; Jescheck, ZStW 66 (1954), 518 (520 f.); Popp, Grundzüge (2001), Rn. 428, der die Gegenseitigkeit auf die gleiche Art der Rechtshilfe beschränkt; Simma, Reziprozitätselement (1972), S. 47. 158 Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 132. 159 Dazu Felsenstein, ÖJZ 1986, 614 (615); Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 132; vgl. van der Wilt, The Principle of Reciprocity, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 73. 160 So auch Art. 30 Abs. 1 IRSG. Ausf. dazu Weber, Voraussetzungen des Gegenseitigkeitsprinzips (1962), S. 67 ff.

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suchende Staat einem entsprechenden Ersuchen des ersuchten Staates seinerseits nachkommen würde.161 Allerdings ist die Bedeutung der Reziprozität aufgrund zunehmender völkervertraglicher Rechtshilfepflichten weitestgehend obsolet geworden. Denn wenn sich Staaten gegenseitig zur Rechtshilfe verpflichten, bedarf es über die Gegengewährung keiner Prognose mehr.162 Dies betrifft auch unionale Sekundärrechtsakte.163 Dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit zufolge muss das konkrete164 in Rede stehende Verhalten des Auszuliefernden „bei sinngemäßer Umstellung des Sachverhalts“ (§ 3 Abs. 1 IRG) auch nach dem Recht des ersuchten Staates ein den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllendes rechtswidriges Verhalten darstellen. Auf eine identische rechtliche Bewertung kommt es nicht an, solange die Tat nach dem Recht des ersuchten Staates irgendeinen Straftatbestand verletzt,165 161 BT-Drs. 9/1338, S. 38; BGH, Beschluss v. 27.05.1975 (4 ARs 11/75), BGHSt 26, 148 (150) („entsprechende Gegenleistung“); Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 5 Rn. 4; für ein weites Verständnis Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 5 IRG Rn. 5 f. („eher materielle Gleichartigkeit“); s. auch Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 51; Ambos / König / Rackow / Kubiciel (2015), 2.  Hauptteil Rn.  45, 47 ff.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 5 IRG Rn. 8 f., 18 („formelle Gleichheit der Leistungen“); so auch Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 5 Rn. 12; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 789; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 192; Oehler, ZStW 96 (1984), 555 (556); Weber, Voraussetzungen des Gegenseitigkeitsprinzips (1962), S. 48; s. auch Popp, Grundzüge (2001), Rn. 434 ff., der die Sicherstellung der Gegenseitigkeit auf eine Zusicherung oder begründete Erwartung in der Praxis zurückführt. Krit. zur tatsächlichen Übung der Gegenseitigkeit Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 5 IRG Rn. 20. 162 Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 95 („Gegenseitigkeit per se gewährleistet“); Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 24, 101; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 24.11.2005 (2 BvR 1667/05), BVerfGK 6, 360 (364) („Völkerrechtliche Übereinkommen sind […] ihrer Natur nach grundsätzlich vom Gedanken der Gegen­ seitigkeit der Rechte und Pflichten der beteiligten Staaten getragen.“); van der Wilt, The Principle of Reciprocity, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S.  71; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 5 IRG Rn. 2 f.; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 37, der für völkervertragliche Anwendungsbereiche zutr. ein konkludentes Gegenseitigkeitsverhältnis annimmt. Ausf. auch Weber, Voraussetzungen des Gegenseitigkeitsprinzips (1962), S. 48 ff. 163 Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 24, 101; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 5 IRG Rn. 4; vgl. BVerfG, Beschluss v. 24.11.2005 (2 BvR 1667/05), BVerfGK 6, 360 (nicht abgedruckt) = NJW 2006, 1652 f. 164 Ausf. zur Differenzierung zwischen abstrakter und konkreter beiderseitiger Strafbarkeit Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 140 f., 164; Mörsberger, Prinzip der identischen Strafrechtsnorm (1969), S. 32 ff.; Gardocki, Israel Law Rev. 27 (1993), 288 (289 ff.). 165 BT-Drs. 9/1338, S. 34 („Es reicht vielmehr aus, daß nach der vom ersuchenden Staat vorgelegten Darstellung des Sachverhalts alle Tatbestandsmerkmale des Rechts des ersuchenden Staates und des deutschen Rechts erfüllt sind.“); BGH, Beschluss v. 31.03.1977 (4 ARs 8/77), BGHSt 27, 168 (173 f.); Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 3 IRG Rn. 13; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 29 f.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 23; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 138; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 26; Ronsfeld, Rechtshilfe,

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weshalb auch der Begriff der identischen Norm insoweit unzutreffend ist.166 Somit ist auch unschädlich, ob das nationale Recht des ersuchten Staates den im Auslieferungsersuchen genannten Tatbestand nicht kennt,167 solange es die diesem zugrunde liegende Unrechtsbewertung in seiner Rechtsordnung selbst trifft. Ein Staat soll also nicht für ein Verhalten ausliefern müssen, weil der ersuchende Staat die Auslieferung an diesen wiederum unter Berufung auf eine fehlende Strafbarkeit im ersuchten Staat ablehnen dürfte. Das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit birgt dabei zumindest auch einen individualschützenden Begründungsansatz in sich, da der Auszuliefernde unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit nur der Hoheitsgewalt des ersuchenden Staates zu übergeben ist, wenn das Verhalten auch nach dem Recht des ersuchten Staates strafbar und der Auszuliefernde dort einer Strafverfolgung ebenso ausgesetzt wäre.168 Daraus folgt, dass die Tat nicht nur in ihrem materiellen Unrechts-

Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 38; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 85 mit Fn. 572; Mörsberger, Prinzip der identischen Strafrechtsnorm (1969), S. 25 f.; krit. Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 456, die kritisiert, dass durch den Verweis auf einen beliebigen gesetzlichen Tatbestand eine Diskrepanz der strafrechtlichen Reaktionen begründet werde. Wie hier auch für die Schweiz BGer, Urteil v. 08.09.2003, BGE 129 II 462 (466); BGer, Urteil v. 12.12.1975, BGE 101 Ia 595; BGer, Urteil v. 26.01.1983, BGE 109 Ib 47 (53); BStGer, Entscheid v. 19.09.2007 (RR.2007.106), E. 3. 2. 3. Darüber hinaus wird auch verlangt, dass der materielle Straftatbestand im ersuchenden Staat zum aktuellen Zeitpunkt in Kraft gesetzt ist, s. OLG Brandenburg, Beschluss v. 05.11.2009 (2 Ausl (A) 17/09), NStZ 2010, 709 (710). Ausdrücklich offen gelassen in der Entscheidung des OLG Schleswig über die Zulässigkeit der Übergabe des ehemaligen katalanischen Regionalpräsidenten Puigdemont: OLG Schleswig, Beschluss v. 12.07.2018 (1 Ausl (A) 18/18 (20/18)), NJW 2019, 93 (95). 166 So explizit Art. 2 Abs. 4 RbEuHb: „unabhängig von den Tatbestandsmerkmalen oder der Bezeichnung der Straftat“. S. auch BGer, Urteil v. 14.07.1986, BGE 112 Ib 212 (213); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 29; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 429; Mörsberger, Prinzip der identischen Strafrechtsnorm (1969), S. 26 ff., der auf einen erforderlichen Rechtsvergleich hinweist; Epp, ÖJZ 1981, 197 (198); Schultz, ZStW 81 (1969), 199 (211 f.); mit einem Vergleich zur Regelung des § 7 Abs. 2 S. 2 StGB auch Eser, JZ 1993, 875 (879). Für eine strikte Normidentität aber bereits Lammasch, Auslieferungspflicht und Asylrecht (1887), S. 56; so auch Popp, Grundzüge (2001), Rn. 213 ff. („Etikettierung im Rahmen des inländischen Systems“); Doehring, Völkerrecht (2004), Rn. 909; den Begriff verwendet neben dem Terminus der beiderseitigen Strafbarkeit auch Oehler, ZStW 81 (1969), 142 (143). 167 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 29 f.; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 38; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 103; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 790; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 139; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 91; Singer, Der polizeiliche Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland (1983), S. 83. 168 Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 44 f. („schöner Gedanke“), die unter Verweis auf die abgestufte Rechtslage in der Schweiz hinsichtlich der beiderseitigen Strafbarkeit im Auslieferungs- und akzessorischen Rechtshilferecht schlussfolgern, dass es des Kriteriums der beiderseitigen Strafbarkeit nicht bedürfe, wenn die ersuchte Rechtshilfe – soweit keine Auslieferung – keine Zwangsmaßnahme verlange (45); Lagodny,

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gehalt auf ein Pendant im Zufluchtsstaat zurückzuführen sein, sondern auch nach dessen Rechtsordnung verfolgbar sein muss.169 Denn da der ersuchte Staat durch etwaige prozessuale Zwangsmaßnahmen auch seine Strafgewalt ausübt, um den Beschuldigten einer Verurteilung zuzuführen, sollte er „seine Hand nicht für eine Strafverfolgung im ersuchenden Staat reichen [dürfen]“170, wenn die Tat in seinem Hoheitsbereich mangels Verfolgbarkeit nicht zu einer Verurteilung führen kann und er somit an der Durchsetzung seiner Strafgewalt rechtlich gehindert wäre.171

Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 49 f.; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 40; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 192; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 86; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S.  313; Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 3 IRG Rn. 2; Oehler, ZStW 96 (1984), 555 (557); s. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 12 ff.; Shearer, Extradition in international law (1971), S. 137; Schünemann, ZRP 2003, 185 (189). 169 So auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 791; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 25; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/70; Stein, Auslieferungsausnahme (1983), S. 39; Dahm / Delbrück / Wolfrum, Völkerrecht, Bd. 1,2 (2002), S. 161; dagegen Böse, Deutschland, in: Gleß, Auslieferungsrecht (2002), S. 124; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 89; Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (128 f.); Epp, ÖJZ 1981, 197 (198); Vogler, ZStW 81 (1969), 163 (172 ff.), der die beiderseitige Verfolgbarkeit auf Fälle beschränken will, in denen der ersuchte Staat für die in Rede stehende Tat einen eigenen Strafanspruch geltend machen kann (174); so auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 47 und Oehler, ZStW 96 (1984), 555 (558), jeweils unter Verweis auf § 9 IRG; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 142 ff. 170 Vogel, JZ 2001, 937 (942). 171 So auch BGer, Urteil v. 14.07.1986, BGE 112 Ib 212 (213 f.) („Der Sinn der Regel der beidseitigen Strafbarkeit besteht nach schweizerischer Auffassung darin, dass für ausländische Strafverfahren in der Schweiz nur dann Zwangsmassnahmen ergriffen werden sollen, wenn auch in der Schweiz ein Strafverfahren zur Verfolgung eines Sachverhaltes, wie er im Rechtshilfebegehren umschrieben wird, durchgeführt werden könnte […].“); Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 320 („Überschreitung der innerstaatlichen Legitimation nach außen“); Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 138; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 313; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3365; Hofstetter, recht 2004, 81 (85); Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (124); vgl. Vogler, ZStW 81 (1969), 163 (170), der jedoch betont, dass es genüge, wenn eine innerstaatliche Rechtsgrundlage die Zwangsmaßnahme legitimiere; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 40 f.; Vogel, JZ 2001, 937 (942), der sich in der Begründung nicht auf die beiderseitige Straf- resp. Verfolgbarkeit, sondern die unmittelbare Berücksichtigung der Grund- und Menschenrechte stützt; Schwaighofer, ÖJZ 1994, 304 (305); Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 313; a. A. Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 98 f.; Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 411 f., wonach eine fehlende Verbotsnorm der rechtshilfeweise Unterstützung nicht entgegenstehe; Jescheck, Internationale Rechtshilfe, in: Vogler, Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft (1980), S. 482. S. auch OLG Köln, Beschluss v. 15.02.2005 (Ausl 10/05 – 8/05), StraFo 2005, 253 f., wonach eine fehlende Strafbarkeit aufgrund konkurrenzrechtlicher Verhältnisse die beiderseitige Strafbarkeit unberührt lasse; so auch Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 3 IRG Rn. 27; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 3 Rn.  1; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), § 3 IRG Rn. 54; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 791.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Des Weiteren ermöglicht es der Grundsatz der Spezialität dem ersuchten Staat, mithilfe der Bewilligung der Auslieferung, den ersuchenden Staat in der Ausübung seiner Hoheitsgewalt zu beschränken. Dieser ist insoweit rechtlich an einer Verfolgung oder Bestrafung der ausgelieferten Person gehindert, als dass er zu ihren Lasten weder ein Straf- oder Vollstreckungsverfahren einleiten, noch weitere Rechtshilfemaßnahmen ergreifen darf, soweit sie nicht speziell die in der Auslieferungsbewilligung aufgeführten Delikte betreffen.172 Diese Beschränkung hat sodann ein Verfahrenshindernis im ersuchenden Staat zur Folge (vgl. §§ 11, 72 IRG).173 Im Bereich der Überstellung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls 172

BVerfG, Beschluss v. 04.02.1959 (1 BvR 193/57), BVerfGE 9, 174 (181 f.); RG, Urteil v. 18.03.1926 (II 79/26), RGSt 60, 202 f.; BGH, Beschluss v. 19.12.2012 (1 StR 165/12), BGHSt 58, 76 (77); BGH, Urteil v. 20.12.1968 (1 StR 508/67), BGHSt 22, 307; BGer, Urteil v. 27.02.1991, BGE 117 IV 222 (223 f.); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn.  57; Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 48; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 11 Rn. 1 ff., 13, 23 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 23; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 2/72; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 116 ff.; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 37; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 336a, 338; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 41; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 141; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3664; Stein, Auslieferungsausnahme (1983), S. 40 f.; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 741 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 292, 304 ff.; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 164; Haas, Auslieferung (2000), S. 167, 170; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 28; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 30 f.; Oehler, Neuere Fragen zum Spezialitätsgrundsatz, in: Harder / T hielmann, FG von Lübtow (1980), S. 798 f., 800 f.; Vogler, Der rechtshilferechtliche Grundsatz der Spezialität, in: Seebode, FS Spendel (1992), S. 878 ff.; Zodrow, Der Grundsatz der strafrechtlichen Spezialität im Auslieferungsrecht (1968), S. 91 f.; Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 362 ff.; Weigend, JuS 2000, 105 (109); Vogler, GA 1978, 1 (3); de Capitani, ZSR 1981, 365 (403 f.); Fabry, DRiZ 1966, 119; Hess, Spezialität (1944), S. 28 f., 36 ff., 97 ff., der sogar von einer Immunität des Ausgelieferten bzgl. der die Bewilligung nicht betreffenden Delikte spricht (103); ebenso Joël, ZStW 48 (1928), 487 (488, 490). Zur strafschärfenden Berücksichtigung weiterer als der Bewilligung zugrunde liegender Taten s. statt vieler Vogler, Der rechtshilferechtliche Grundsatz der Spezialität, in: Seebode, FS Spendel (1992), S. 875 ff. m. w. N. insbes. zur Rspr. des BGH. 173 BGH, Beschluss v. 19.12.2012 (1 StR 165/12), BGHSt 58, 76 (77); BGH, Beschluss v. 09.02.2012 (1 StR 152/11), juris, Tz. 20; Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), § 72 Rn. 13 („Einschränkung der Hoheitsrechte des ersuchenden Staates“); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 57; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 11 Rn. 24; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 32; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 37; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 338; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 167; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 304; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 122; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3670; Carl, DStZ 1993, 653 (655); Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 369 f.; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 168 f., der zwar ebenso ein Prozesshindernis annimmt, dieses jedoch nicht überzeugend daraus herleitet, dass dem ersuchenden Staat bei Verletzung der Spezialität die Strafgewalt fehle und sich in der Konsequenz für die Nichtigkeit des Schuldspruchs

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nimmt der EuGH174 – und ihm folgend in jüngerer Zeit auch der BGH175 – ein Vollstreckungshindernis an. Ein Staat soll also nicht ausliefern dürfen, wenn nicht gewährleistet ist, dass der ersuchende Staat seine Strafverfolgungs- resp. Strafvollstreckungsgewalt nicht auf die Delikte beschränkt, derentwegen die Auslieferung bewilligt würde. „[E]s wirkt [nämlich] die Tatsache nach, daß der Ausgelieferte sich zunächst im Machtbereich des ersuchten Staates befand, der sich daraufhin für die Folgen der Auslieferung verantwortlich fühlen kann.“176

II. Auslieferungsgegenrechte Den zuvor dargestellten materiellen Grundsätzen des Auslieferungsrechts ist gemein, dass sie – zumindest im autonomen Auslieferungsverkehr – zwingendes Zulässigkeitserfordernis sind. Der folgende Abschnitt befasst sich mit den negativen Auslieferungsvoraussetzungen als Auslieferungshindernissen. Soweit der Auslieferung individualschützende Rechtssätze entgegenstehen, lässt sich entsprechend der zugrunde gelegten dreidimensionalen Betrachtungsweise177 ebenfalls von Auslieferungsgegenrechten sprechen.178 Detaillierte Ausführungen zu einem möglichen in Form eines Auslieferungshindernisses an Bedeutung erlangenden ordre-public-Einwand bleiben den Kapiteln drei und vier vorbehalten. Eine zwingende Folge aus dieser Entwicklung ist die Berücksichtigung menschenrechtlicher Gewährleistungen in Form individueller Abwehrrechte im Auslieferungsverfahren. Dass individualschützenden Garantien eine auslieferungsausspricht. Vgl. auch für ein Verwertungsverbot i. R. d. Beweisrechtshilfe Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 57 m. w. N.; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 164 f. m. w. N. in Fn. 715. Ausf. zur Unzulässigkeit einzelner hoheitlicher Maßnahmen Joël, ZStW 48 (1928), 487 (490 ff.). 174 EuGH, Leymann und Pustovarov, Urteil v. 01.12.2008 (C-388/08 PPU; ECLI:EU:C:​ 2008:669), Slg. 2008, I-8987 (9007 ff.); s. dazu Schomburg / Lagodny / Schierholt (2020), § 11 IRG Rn.  4b; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 58; Jähnke  / ​ Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 26. 175 BGH, Beschluss v. 11.05.2016 (1 StR 627/15), NStZ-RR 2016, 290 (291 f.); vgl. auch BGH, Beschluss v. 07.08.2012 (1 StR 314/12), NStZ-RR 2012, 345; BGH, Beschluss v. 09.02.2012 (1 StR 152/11), juris, Tz. 20. 176 Haas, Auslieferung (2000), S. 167. 177 S. dazu S. 40 ff. 178 S. auch grundl. dazu Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 63 ff., 93 ff.; Lagodny, NJW 1988, 2146 ff.; s. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 43; Häde, Der Staat 1997, 1 (15); ausf. zur Frage, inwieweit Auslieferungen am Grundrechtsmaßstab des Grundgesetzes zu messen sind Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 94 ff.; Haas, Auslieferung (2000), S. 311 ff. S. zu Auslieferungshindernissen auch den Überblick bei Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 62; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-­ Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 38. Vgl. aus schweizerischer Sicht die Darstellungen bei Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 339 ff. und Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 73 ff.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

hindernde Wirkung zukommen kann, wurde bereits 1963 durch das BVerfG vorsichtig aufgegriffen,179 sodann 1987 grundlegend von Lagodny begründet180 und ist mittlerweile weitestgehend anerkannt.181 Im Zentrum der Überlegung stehen im Folgenden europarechtlich gewährleistete Grundrechtspositionen der EMRK und der Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRCh). Hinsichtlich des praktischen Anwendungsbereichs ist zunächst zweierlei festzuhalten: Zum einen bindet die EMRK182 die Vertragsstaaten sowohl im Auslieferungsverkehr untereinander als auch im Rahmen ihrer hoheitlichen Tätigkeit zu Drittstaaten über das Gebiet der Konventionsstaaten hinaus (extraterritoriale Wirkung), da sie durch die Auslieferung einen zurechenbaren Rechtsakt in Bezug auf eine etwaige Konventionsverletzung im ersuchenden Staat setzen.183 Auch das 179

BVerfG, Beschluss v. 09.01.1963 (1 BvR 85/62), BVerfGE 15, 249 (255 f.) (zum möglichen Auslieferungshindernis aus Art. 1 Abs. 1 GG); gegen diese Entscheidung, eine Berücksichtigung deutscher Grundrechte und sogar des Art. 1 Abs. 1 GG (!) noch Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 199 ff., der betont, dass eine umfassende Berücksichtigung deutscher Grundrechte dazu führe, dass „die deutsche Verfassung bestimmt, was rechtsstaatlichen Anforderungen genügt oder nicht, und zwar auch im Ausland.“ (201). 180 Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 63 ff. 181 Vgl. etwa Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 34 ff.; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 271 ff.; Haas, Auslieferung (2000), S. 322 ff.; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 60; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 164 ff.; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 174 ff.; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 856 mit einer Auflistung von Beispielen; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/38; Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S. 131 ff. (zur Übergabe auf Grundlage des EuHb); Weyeneth, recht 2014, 114 (115 ff.); Lagodny, NJW 1988, 2146 ff.; ausf. auch zur Bedeutung der EMRK im Rechtshilfeverfahren Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 54 ff. 182 S. zur Rspr. des EGMR bzgl. der Anwendung der EMRK in Auslieferungsverfahren Haas, Auslieferung (2000), S. 333 ff. 183 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 (2185); EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 02.03.2010 (61498/08), Tz. 123; EGMR GK, Hirsi Jamaa et al. v. Italien, Urteil v. 23.02.2012 (27765/09), NVwZ 2012, 809 (814); EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU), NJW 2016, 1709 (1712 f.) (zum EuHb); OLG Wien, Beschluss v. 15.06.2015 (22 Bs 140/15x), unveröff., S. 4 f., wonach die Verantwortung bei Auslieferungen in Konventionsstaaten jedoch wegen des bestehenden Rechtsschutzes gegen Konventionsverletzungen eingeschränkt sei; OLG Hamburg, Beschluss v. 06.10.2006 (Ausl 32/06), InfAuslR 2006, 468 f. (unzulässige Auslieferung bei festgestelltem Konventionsverstoß); OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 01.03.2007 (2 Ausl. A 73/06), NStZ 2008, 166; BGer, Urteil v. 12.09.1997, BGE 123 II 511 (517 ff.); Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 5; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 124, § 12 Rn. 34 („Bindung ‚nach außen‘“); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 47; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/43; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 162; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 99; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 173 f., 181 f.; Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 702 ff., der für eine Übertragung der „‚harten‘ Verwertungsbeschränkungen“ auf die sonstige Rechtshilfe plädiert (706 ff.); Haas, Auslieferung (2000), S. 334 ff.; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 82 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 349 f.; Schabas, ECHR (2015), S. 194 f.; LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 35 f. m. w. N.; SK-StPO / Meyer

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BVerfG hat in jüngerer Vergangenheit erneut betont, dass „die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen [darf].“184 Zum anderen bindet die GRCh die Mitgliedstaaten gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh bei der Durchführung von Unionsrecht. Diese liegt nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH vor, wenn sich ein Sachverhalt „im Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“ bewegt, also eine „unionsrechtlich geregelte Fallgestaltung“ zum Gegenstand hat.185 Ohne dieses Kriterium an dieser Stelle näher zu beleuchten,186 genügt hier die Feststellung, dass es sich bei der Überstellung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl um Rechtshilfehandlungen in Ausführung des Unionsrechts  – namentlich in Umsetzung des Rahmenbeschlusses („normative Durchführung“187) – (2019), Art. 3 EMRK Rn. 91 ff.; Meyer-Goßner / Schmitt / Schmitt (2019), Art. 3 EMRK Rn. 2a; Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / L ehnert (2017), Art. 3 Rn. 64 (explizit auch zur Auslieferung an Nichtkonventionsstaaten [Rn. 66]); Frowein / Peukert / Frowein (2009), Art. 3 Rn. 20; Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 24; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 20 Rn. 40; Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz (2016), Rn. 191 f.; Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 33; Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (116 ff.); vgl. auch zur Verantwortlichkeit eines Konventionsstaates für Verletzungen der EMRK in seinem Hoheitsgebiet durch geheimdienstliches Verschwindenlassen („extraordinary renditions“) EGMR, Al Nashiri v. Polen, Urteil v. 24.07.2014 (28761/11), Tz. 517 f.; für eine Untersuchung der EGMR-Rspr. der vergangenen Jahre zur grenzüberschreitenden Teilnahme an Folterprogrammen Jackson, EJIL (27) 2016, 817 ff. 184 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (347) unter Verweis auf frühere Rspr. 185 EuGH, Åkerberg Fransson, Urteil v. 26.02.2013 (C-617/10; ECLI:EU:C:2013:105), NJW 2013, 1415 f.; EuGH, Robert Pfleger et al., Urteil v. 30.04.2014 (C-390/12; ECLI:EU:​​ C:2014:281), EuZW 2014, 597 (598); vgl. EuGH, Steffensen, Urteil v. 10.04.2003 (C-276/01; ECLI:EU:C:2003:228), Slg. 2003, I-3756 (3777); EuGH, Annibaldi, Urteil v. 18.12.1997 (C-309/96; ECLI:EU:C:1997:631), Slg. 1997, I-7505 (7510 ff.); EuGH, Kremzow v. Österreich, Urteil v. 29.05.1997 (C-299/95; ECLI:EU:C:1997:254), Slg. 1997, I-2637 (2645); EuGH, Víctor Manuel Julian Hernández et al., Urteil v. 10.07.2014 (C-198/13; ECLI:EU:C:2014:2055), EuZW 2014, 795 (797); Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [32]); Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 51 Rn. 40; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 51 Rn. 19; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 9; Peers et al. / Ward (2014), Art. 51 Rn. 51.58 f.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 8 ff. 186 S. ausf. dazu Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 ff.; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 51 GRCh Rn. 19 ff.; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn.  9 ff.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 8 ff.; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 51 Rn. 19; Lenz / Borchardt / Schonard (2012), Art. 51 GRCh Rn. 7; Peers et al. / Ward (2014), Art. 51 Rn. 51.54 ff. jeweils m. w. N. S. dazu auch die Nachweise bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 156 mit Fn. 857. 187 Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 51 GRCh Rn. 20 f.; Meyer / Hölscheidt / Schwerdt­ feger (2019), Art. 51 Rn. 50; vgl. auch Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 51 GRCh Rn. 8 („legislative Umsetzung“); ausf. zur Grundrechtsbindung im Fall umsetzungsbedürftiger Unionsrechtsakte Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 18 ff., der sich zutr. für eine doppelte Grundrechtsbindung ausspricht, namentlich der Union sowie der Mitgliedstaaten i. R. d. Umsetzung, aber auch betont, dass der Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte vor Ausstellung eines EuHb nicht eröffnet sei (104).

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handelt.188 Die Gewährleistungen der GRCh beanspruchen insoweit nur im Auslieferungs- und sonstigen Rechtshilfeverkehr zwischen EU-Mitgliedstaaten Geltung. Zunächst enthält Art. 19 Abs. 2 GRCh das wohl stärkste individualschützende Verbot der Auslieferung, nämlich das in Fällen drohender (Vollstreckung einer) Todesstrafe. Entsprechend sieht § 8 IRG – als einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verbots der Todesstrafe189 und als zwingende Zulässigkeitsvoraussetzung190 – vor, dass der ersuchende Staat zusichert, die für die Tat nach seinem Recht vorgesehene Todesstrafe nicht zu verhängen oder zumindest nicht zu vollstrecken.191 Weitergehend hat der BGH auf Grundlage der Art. 2 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Art. 102 GG sogar das Zurverfügungstellen von Ermittlungsergebnissen an einen ersuchenden Staat für unzulässig erklärt, wenn dieser damit ein zur Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe führendes Verfahren betreibt.192 Eine solche Schlagkraft kommt Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK indes nicht zu, da die 188 EuGH, Víctor Manuel Julian Hernández et al., Urteil v. 10.07.2014 (C-198/13; ECLI:​ EU:​C:2014:2055), EuZW 2014, 795 (797) („[…] ob mit der fraglichen nationalen Regelung die Durchführung einer Bestimmung des Unionsrechts bezweckt wird, […].“); EuGH, ­Hubert Wach­auf v. Bundesamt für Ernährung und Landwirtschaft, Urteil v. 13.07.1989 (Rs. 5/88; ECLI:​ EU:C:1989:321), Slg. 1989, 2609 (2639) („bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen“); EuGH, Kücükdeveci, Urteil v. 19.01.2010 (C-555/07; ECLI:EU:C:2010:21), Slg. 2010, I-393 (408); OLG Stuttgart, Beschluss v. 25.02.2010 (1 Ausl. (24) 1246/09), NJW 2010, 1617; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 37 mit Fn. 215; von der ­Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 51 GRCh Rn. 10; vgl. auch Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 51 Rn. 19, wonach eine bloße Kompetenzvorschrift zugunsten der EU nicht genüge, sondern vielmehr ein tatsächlich geregelter Sachverhalt erforderlich sei. Ausf. zur Anwendbarkeit der GRCh in strafrechtlichen Fallgestaltungen, insbes. der Umsetzung von Unionsrecht im Bereich des Strafrechts und der Rechtshilfe, Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1099 ff., 1112 ff.). 189 Ambos / König / Rackow / Kubiciel (2015), 2. Hauptteil Rn. 79, wonach § 8 IRG „Ausdruck des (verfassungsrechtlich fundierten) allgemeinen Ordre-public-Vorbehalts“ sei; Grützner / ​Pötz / ​ Kreß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 99; Niggli / Heimgartner / Garré (2015), Art. 37 IRSG Rn. 8; Maunz / Dürig / Kersten (88. Lfg. 2019), Art. 102 Rn. 69; Bonner Kommentar / Germelmann (201. Lfg. 2019), Art. 102 Rn. 136; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 36; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 196 f.; Weyeneth, recht 2014, 114 (117); vage noch Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 180 ff. (194 ff.). 190 Art. 11 EuAuslÜbk räumt dem ersuchten Staat insoweit ein Ermessen ein („kann“). Nach OLG Koblenz, Beschluss v. 30.04.1993 (1 Ausl 2/93), StV 1994, 34 f. ist die Norm allerdings „im Lichte des modernen Völkerrechts und des geltenden Verfassungsrechts in ein absolutes Auslieferungsverbot zu wandeln.“ 191 Eine entspr. Garantie enthalten etwa Art. 37 Abs. 3 IRSG und § 20 ARHG. 192 BGH, Beschluss v. 07.07.1999 (1 StR 311/99), NStZ 1999, 634; zust. Grützner / ​Pötz / ​ Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 95 („zu prüfende Zulässigkeitsvoraussetzung“); Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 46; gegen ein Hindernis zur sonstigen Rechtshilfe aus Art. 2 EMRK aber LR / Esser (2012), Art. 2 EMRK Rn. 47; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 198 f.; vage auch Bonner Kommentar / Germelmann (201. Lfg. 2019), Art. 102 Rn. 143 („nicht vergleichbar kategorisch ausgeschlossen“); gegen jede Auswirkungen des Art. 102 GG auf das Rechtshilfeverfahren OLG  Karlsruhe, Beschluss v. 26.06.1990 (1 AK 22/90), NJW 1990, 2208 (2210 f.); Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art 102 GG Rn. 2.

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Vollstreckung einer gerichtlich verhängten Todesstrafe gem. S. 2 nicht als Konventionsverletzung gilt.193 Das Verbot der Todesstrafe und der Auslieferung folgt insofern erst aus den Zusatzprotokollen VI vom 28.04.1983 zur Abschaffung der Todesstrafe194 und XIII vom 03.05.2002 zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen195.196 Diese Auslieferungsausnahme erlangt im Rechtsraum der Europäischen Union indes keine praktische Bedeutung mehr, seit mit Lettland 2012 der letzte Mitgliedstaat die Todesstrafe endgültig abgeschafft hat.197 Ähnlich, wenn auch nicht so eindeutig, ist die Rechtslage unter den Mitgliedstaaten des Europarats. Bis auf die Russische Föderation haben sämtliche Vertragsstaaten die Todesstrafe formal abgeschafft. Doch auch in Russland werden Hinrichtungen seit einem zuletzt durch das Verfassungsgericht am 19.11.2009 unter Hinweis auf die völkervertraglichen Verpflichtungen im Zuge des Beitritts zum Europarat verlängerten Moratorium198 nicht mehr vollstreckt. Weiterhin kann – wie auch bereits der deutsche Gesetzgeber in den Beratungen um den Entwurf des IRG betont hat199 – eine drohende Folter und unmenschliche Behandlung (Art. 3 EMRK; Art. 4 GRCh) oder auch eine unangemessen harte Bestrafung (Art. 49 Abs. 3 GRCh) im ersuchenden Staat der Zulässigkeit der Auslieferung entgegenstehen.200 Bereits 1989 hatte der EGMR im Fall Soering v. Vereinig 193

S. jedoch die abweichende Meinung des Richters De Meyer im Fall Soering v. Vereinigtes Königreich, wonach eine Auslieferung bei drohender Todesstrafe eine Verletzung des Art. 2 EMRK bedeute (Richter De Meyer, Abweichendes Sondervotum, abgedruckt in EuGRZ 1989, 325 [326] [„Wenn demnach das innerstaatliche Recht eines Staates, wie im vorliegenden Fall, die Todesstrafe für das angeklagte Verbrechen nicht vorsieht, so darf dieser Staat den betroffenen Menschen nicht in eine Situation bringen, in der er durch die Hände eines anderen Staates um sein Leben gebracht werden kann.“]); für einen Konventionsverstoß per se auch Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 178 ff. (181 f.); für eine Zulässigkeit der Auslieferung als Folge der Zulässigkeit der Todesstrafe aus Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK auch noch IntKomm / Vogler (24. Lfg. 2019), Art. 6 EMRK Rn. 250. 194 ETS Nr. 114; BGBl. 1988 II, 662; 1989 II, 814. 195 ETS Nr. 187; BGBl. 2004 II, 982. Das Protokoll wurde bis heute von Russland und Aserbaidschan weder ratifiziert noch unterzeichnet. Die letzte Unterzeichnung erfolgte seitens Armeniens 2006; jedoch steht die Ratifikation insoweit ebenfalls noch aus; s. zum Stand der Unterzeichnung und Ratifikation https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/ conventions/treaty/187/signatures?p_auth=VnsTz7LM (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 196 EGMR, Saidani v. Deutschland, Entscheidung v. 27.09.2018 (17675/18), Tz. 32. 197 S. hierzu Amnesty International, Death Sentences and Executions (2012). 198 S. hierzu Russisches Verfassungsgericht (Конституционный Суд Российской Федерации), Entscheidung v. 19.11.2009 (No. 1344-О-П) (engl. Übersetzung abrufbar unter http:// www.ksrf.ru/en/Decision/Judgments/Documents/2009%20November%2019%201344%20 O-P.pdf [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]); vgl. auch Rosenau, ZIS 2006, 338 (341). 199 BT-Drs. 9/1338, S. 93. 200 EGMR, U. N. v. Russland, Urteil v. 26.07.2016 (14348/15), Tz. 38 ff.; BVerfG, Beschluss v. 06.07.2005 (2 BvR 2259/04), BVerfGE 113, 154 (162); BVerfG, Beschluss v. 08.04.2004 (2 BvR 253/04), BVerfGK 3, 159 (163 f.); OLG Wien, Beschluss v. 15.06.2015 (22 Bs 140/15x), unveröff., S. 4 ff.; OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.02.2006 (III-4 Ausl (A) – 44 und 49/06 III), NStZ 2006, 692 f. (unzulässige Auslieferung bei Lebensgefahr durch Racheakte); OLG Karlsruhe, Beschluss v. 27.05.2004 (1 AK 40/03), NStZ-RR 2004, 345 (346); KG, Beschluss v. 13.10.1995

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tes Königreich eine Auslieferung seitens Großbritanniens und die USA an einem zu besorgenden Verstoß gegen Art. 3 EMRK wegen des sogenannten Todeszellensyndroms („death row phenomenon“) scheitern lassen.201 Allein die Androhung einer lebenslangen Freiheitsstrafe trägt hingegen keinen Konventionsverstoß und damit auch nicht die Unzulässigkeit einer Auslieferung wegen zu besorgender unangemessen harter Bestrafung, soweit das Recht des ersuchten Staates irgendeine Möglichkeit für eine spätere Entlassung des Betroffenen vorsieht.202 Ähnlich kann auch die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nach Art. 5 Nr. 2 RbEuHb an die Bedingung geknüpft werden, dass im Fall einer angedrohten lebenslangen Freiheitsstrafe „die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaats203 eine Überprüfung der verhängten Strafe – auf Antrag oder spätestens nach 20 Jahren – oder Gnadenakte zulässt, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe […] führen können und auf die die betreffende Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaats Anspruch hat.“204 Zweifel i. R. d. (Ausl. A 64/95), StV 1996, 103 ff.; Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 771; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 48; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 12; LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 36 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/39 ff., 3/52; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 409 ff.; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 122 f.; Haas, Auslieferung (2000), S. 346 f.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 358; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haft­befehl (2007), S. 187 ff.; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 82 f.; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 68 ff.; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 190 f.; Loos, Auslieferungsrecht der BRD (1994), S. 74; Weyeneth, recht 2014, 114 (118); ausf. auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 117 ff.; Lorz / Sauer, EuGRZ 2010, 389 ff. 201 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 ff. („Dieses Phänomen besteht aus dem Zusammenwirken von Umständen, denen der Bf. ausgesetzt wäre, wenn er unter Mordanklage nach Virginia ausgeliefert und tatsächlich zum Tode verurteilt würde.“ [2183]). 202 EGMR GK, Vinter et al. v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 09.07.2013 (66069/09 et al.), Tz. 187 ff.; EGMR, Trabelsi v. Belgien, Urteil v. 04.09.2014 (140/10), Tz. 121 ff.; EGMR, Meixner v. Deutschland, Entscheidung v. 03.11.2009 (26958/07), EuGRZ 2010, 283 (284); EGMR, Streicher v. Deutschland, Entscheidung v. 10.02.2009 (40384/04), Tz. 29 (jeweils zur Strafrestaussetzung nach § 57a StGB); EGMR GK, Kafkaris v. Zypern, Urteil v. 12.02.2008 (21906/04), Tz. 98 f.; EGMR, Einhorn v. Frankreich, Entscheidung v. 16.10.2001 (71555/01), Tz. 27; BVerfG, einstw. Anordnung v. 16.07.2019 (2 BvR 1258/19), juris, Tz. 8; BVerfG, Beschluss v. 06.07.2005 (2 BvR 2259/04), BVerfGE 113, 154 (163 f.); Grützner / Pötz / K reß / ​ ­Gazeas  / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 97; IntKomm / Kau (24. Lfg. 2019), Art. 3 EMRK Rn.  34 f.; Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / L ehnert (2017), Art. 3 Rn.  66; Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 10; SK-StPO / Meyer (2019), Art. 3 EMRK Rn. 59; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 193; Hackner / Schier­ holt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 122; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 868; vgl. dazu ­Schabas, ECHR (2015), S. 187 f. 203 Gemeint ist der ersuchende Staat im klassischen Sinne; zur Terminologie im Anwendungsbereich des EuHb s. sogleich. 204 S. hierzu auch OLG Stuttgart, Beschluss v. 07.09.2004 (3 Ausl. 80/04), NJW 2004, 3437 (3439), wonach diese Bedingung nicht eine unverhältnismäßige abstrakte Strafandrohung, sondern allein die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe betreffe.

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Beurteilung einer tatsächlich bestehenden Folterpraxis im ersuchten Staat führen im Zweifel zur Unzulässigkeit der Auslieferung.205 Des Weiteren ist auch Art. 6 EMRK eine auslieferungshindernde Wirkung für den Fall zu entnehmen, dass das weitere Vorgehen im ersuchenden Staat die Gewährleistung eines fairen Verfahrens nicht bietet.206 Eine explizite Inbezugnahme der Konventionsgarantie des Art. 6 EMRK ist sogar in § 19 Nr. 1 ARHG und darüber hinaus eine solche sämtlicher Verfahrensgrundsätze der EMRK in Art. 2 lit. b) IRSG festgeschrieben. Sowohl die Europäische Kommission als auch der EGMR haben sich in ständiger Rechtsprechung grundsätzlich gegen die Anwend-

205

OLG Karlsruhe, Beschluss v. 27.05.2004 (1 AK 40/03), NStZ-RR 2004, 345 (346 f.); KG, Beschluss v. 13.10.1995 (Ausl. A 64/95), StV 1996, 103 (104). 206 OLG Stuttgart, Beschluss v. 28.01.2005 (3 Aus. 116/04), NStZ-RR 2005, 181 (zur ange­ messenen Verfahrensdauer i. R. d. Vollstreckungsübernahme); OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 23.08.2006 (2 Ausl A 36/06), StV 2007, 142; BStGer, Entscheid v. 11.02.2014 (RR.2013.164), E. 5.3.1; Tschechisches Verfassungsgericht (Ústavní soudo), Urteil v. 23.08.2016 (I. ÚS 1015/14), Tz. 40, 49 ff. (abrufbar unter http://www.usoud.cz/fileadmin/user_upload/I._ US_1015_14_an.pdf [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]; engl. Zusammenfassung abrufbar unter http://www.usoud.cz/en/current-affairs/judgment-i-us-101514-legal-basis-for-extradition-to-​ russian-​ federation/ [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]); Ambos  /  König  /  Rackow  / Meyer (2015), 2.  Hauptteil Rn.  771; Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner / L agodny (2012), § 73 IRG Rn.  50, 67; Schomburg / Lagodny / Trautmann / Zimmermann (2020), § 59 Rn. 51; LR / Esser (2012), Art. 6 EMRK Rn. 87 f.; SK-StPO / Paeffgen (2012), Art. 6 EMRK Rn. 24; Meyer-­ Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König (2017), Art. 6 Rn. 32; Lagodny / Schallmoser, Geltung der Garantien des Art. 6 EMRK im Auslieferungsverfahren, in: Hafner / Matscher / Schmalenbach, FS Karl (2012), S. 125 ff., wonach das Verfahren im ersuchenden Staat als „criminal charge“ i. S. d. Art. 6 Abs. 1 EMRK anzusehen sei; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 197 mit einer ausf. Untersuchung zu einzelnen Gewährleistungen des Art. 6 EMRK (197 ff.); Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 191; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 428 f.; Riedo / Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3543, wonach die zu Art. 3 EMRK entwickelten Grundsätze auf eine Verletzung des Art. 6 EMRK übertragbar seien; Haas, Auslieferung (2000), S. 358 ff.; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 13 Rn. 79; wohl auch OLG Karlsruhe, Beschluss v. 14.03.2016 (1 AK 109/15), juris, Tz. 4; vage Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 164 („insbesondere nicht der gesamte Art. 6 EMRK“ [Herv. i. O.]); ähnlich Meyer-Goßner / Schmitt / Schmitt (2019), Art. 6 EMRK Rn. 1 („abhängig von der Sanktionsintensität“); Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Zimmermann (2020), § 73 Rn. 49, jedoch zugleich dahingehend relativierend, dass insoweit eine „flagrant denial of justice“ i. S. d. EGMR-Rspr. erforderlich sei (51); diff. nach der Art der ersuchten Rechtshilfemaßnahme und für eine „Respezifizierung des normativen Kerns eines fairen Verfahrens für die Rechtshilfe“ auch SK-StPO / Meyer (2019), Art. 6 EMRK Rn. 65; krit. Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 69; a. A.: IntKomm / Vogler (24. Lfg. 2019), Art. 6 EMRK Rn. 247 ff.; ders., ZStW 82 (1970), 743 (767 f.); Hailbronner, Art. 6 EMRK als Hindernis der Auslieferung, in: Bröhmer et al., FS Ress (2005), S. 997 (1005 ff.); für eine Beschränkung auf die Berücksichtigung des Art. 6 EMRK i. R. d. „Menschenwürdegarantie“ des Art. 3 EMRK noch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 123 ff.; diff. Gollwitzer, EMRK (2005), Art. 6 EMRK Rn. 35, 122, 237, der betont, dass das Auslieferungsverfahren keine Entscheidung über eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand habe, weshalb insbes. die Unschuldsvermutung gem. Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht gelte (Rn. 122), jedoch Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK Anwendung finde (Rn. 237).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

barkeit des Art. 6 EMRK im Rechtshilfeverfahren ausgesprochen.207 Allerdings hat der Gerichtshof zum einen das Vorliegen einer erheblichen Rechtsverweigerung („flagrant denial of justice“) im ersuchenden Staat i. R. e. Verletzung des Art. 6 EMRK berücksichtigt,208 und sich zum anderen für eine Anwendung des Art. 6 EMRK im Fall Buijen v. Deutschland ausgesprochen, weil in casu eine Absprache im Strafverfahren, die auch die Überstellung des Beschuldigten zum Gegenstand hatte, vom die Garantie des Art. 6 EMRK auslösenden Strafverfahren nicht getrennt werden könne.209 Auch im Verfahren Stojkovic v. Frankreich und Belgien hat der Gerichtshof die Anwendbarkeit des Art. 6 EMRK bei einer Vernehmung im Wege der Rechtshilfe bejaht.210 Zwar ist zuzugestehen, dass das Auslieferungsverfahren selbst nicht unmittelbar zur strafrechtlichen Verurteilung führt.211 Doch kollidiert diese Auffassung mit der im Fall Soering begründeten Ansicht des EGMR, wonach gerade auch eine Verantwortung der Konventionsstaaten für das weitere Verfahren im ersuchenden Staat zu konstatieren ist. Gerade aus dem Zusammenwirken von ersuchendem und ersuchtem Staat ergibt sich nämlich eine weitere Möglichkeit zur Beschränkung von Beschuldigtenrechten, denen durch eine

207 EKMR, Kirkwood v. Vereinigtes Königreich, Entscheidung v. 12.03.1984 (10479/83), Decisions and Reports Vol. 37, 158 (191); EKMR, H. v. Spanien, Entscheidung v. 15.12.1983 (10227/82), Decisions and Reports Vol. 37, 93 (94); EGMR GK, Mamatkulov and Askarov v. Türkei, Urteil v. 04.02.2005 (46827/99 und 46951/99), Series 2005-I, 293 (323); EGMR, Trabelsi v. Belgien, Urteil v. 04.09.2014 (140/10), Tz. 160; dazu auch Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 771; Schabas, ECHR (2015), S. 274 f., 282; Ziegenhahn, Schutz der Menschenrechte (2002), S. 426; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 83; vgl. auch Radtke / Hohmann / Ambos (2010), Art. 6 EMRK Rn. 4. 208 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 (2188) („Der Gerichtshof schließt nicht aus, daß ausnahmsweise eine Verletzung des Art. 6 durch eine Auslieferungsentscheidung vorliegen könnte. Dies ist in den Fällen denkbar, in denen der flüchtige Straftäter im ersuchenden Staat eine offenkundige Verweigerung eines fairen Prozesses erfahren mußte oder hierfür ein Risiko besteht.“); EGMR GK, Mamatkulov and Askarov v. Türkei, Urteil v. 04.02.2005 (46827/99 und 46951/99), Series 2005-I, 293 (324); EGMR, Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights (2019), Tz. 534 ff. m. w. N. zur Rspr.; vgl. auch Schabas, ECHR (2015), S. 282 m. w. N. zur Rspr. des EGMR; Haas, Auslieferung (2000), S. 361; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 69; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 83; krit. zum Kriterium der „flagrant denial of justice“ Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 705 f., 711. 209 EGMR, Buijen v. Deutschland, Urteil v. 01.04.2010 (27804/05), NStZ-RR 2011, 113 f.; vgl. LR / Esser (2012), Art. 6 EMRK Rn. 87; Radtke / Hohmann / Ambos (2010), Art. 6 EMRK Rn. 4 mit Fn. 187. 210 EGMR, Stojkovic v. Frankreich und Belgien, Urteil v. 27.10.2011 (25303/08), NJW 2012, 3709 (3711); dazu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 60. 211 EGMR GK, Mamatkulov and Askarov v. Türkei, Urteil v. 04.02.2005 (46827/99 und 46951/99), Series 2005-I, 293 (323); EGMR, Trabelsi v. Belgien, Urteil v. 04.09.2014 (140/10), Tz. 160; IntKomm / Vogler (24. Lfg. 2019), Art. 6 EMRK Rn. 247; ders., ZStW 82 (1970), 743 (767); Gollwitzer, EMRK (2005). Art. 6 EMRK Rn. 35; LR / Esser (2012), Art. 6 EMRK Rn. 87; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 347; vgl. auch Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht (2009), S. 660.

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konventionsrechtliche Absicherung begegnet werden muss.212 Außerdem leuchtet nicht ein, warum der Betroffene jeweils im ersuchten und ersuchenden Staat isoliert gegen eine Konventionsverletzung vorgehen können, dies ihm aber durch das Zusammenwirken beider Staaten im Rahmen „international-arbeitsteiliger Strafverfolgung“ verwehrt sein soll.213

III. Die reformierten Auslieferungsverfahren im Rechtsraum des Europarats und der Europäischen Union Es wurde bereits dargelegt, dass die die Rechtshilfe regelnden völkerrechtlichen Verträge dem nationalen Recht vorgehen (§ 1 Abs. 3 IRG). Die folgende Untersuchung konzentriert sich auf den vertraglich geregelten und damit auch reformierten Auslieferungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats einerseits und der EU andererseits. Während im autonomen Auslieferungsverkehr die Bewilligung eine allein von politischen Erwägungen getragene Entscheidung der Exekutive ist, regeln die einschlägigen Auslieferungsübereinkommen des Europarats resp. Rechtsakte der Union als zentralen Unterschied zunächst eine grundsätzliche Auslieferungspflicht (Art. 1 EuAuslÜbk; Art. 63 SDÜ; Art. 1 Abs. 2 RbEuHb).214

212 Popp, Grundzüge (2001), Rn. 348; vgl. auch Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 771 („Korrelat des arbeitsteiligen Vorgehens“); LR / Esser (2012), Art. 6 EMRK Rn. 87 f., der „das Auslieferungsverfahren als eine Art ‚Prolog‘ des eigentlichen Strafverfahrens“ als vom Schutzbereich des Art. 6 EMRK erfasst sieht; Haas, Auslieferung (2000), S. 359 („Auslieferung als Zwischenmaßnahme“); gegen die Bewertung als „Teilausschnitt des gesamten Strafverfahrens“ aber IntKomm / Vogler (24. Lfg. 2019), Art. 6 EMRK Rn. 247. Zu den Komplikationen im Zusammenhang mit der Entwicklung transnationaler Verfahrensrechte s. Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 186 f. 213 So verweist auch Krüßmann in diesem Zusammenhang auf die Rspr. des EGMR, wonach die Garantie des fairen Verfahrens über sämtliche Verfahrensstadien hinweg zu beurteilen sei (Krüßmann, Transnationales Strafprozessrecht [2009], S. 661). Zum Charakter der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen als „international-arbeitsteiliges Strafverfahren“ s. bereits BVerfG, Beschluss v. 06.07.1982 (2 BvR 856/81), BVerfGE 61, 28 (34) („[…] Teil der gegen den Verfolgten durchgeführten Strafverfolgung insgesamt“ [Herv. d. Verf.]); Schomburg  / ​­L agodny (2020), Einleitung Rn. 145 ff.; Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 76 ff.; Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 219; Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 39 ff.; Schomburg, StV 1998, 153; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 6; vgl. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (38. Lfg. 2016), Vor § 1 IRG Rn. 12 f., der die internationale Rechtshilfe in Straf­sachen dem internationalen Strafprozessrecht zuordnet; zu diesem Begriff und der Abgrenzung vom innerstaatlichen Strafverfahrens- und Rechtshilferecht auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 88 ff. 214 S. hierzu auch bereits Fn. 124 mit Haupttext.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

1. Das Auslieferungsverfahren im Rahmen des Europarats Den historischen Ausgangspunkt der auslieferungsrechtsrelevanten Entwicklung in Europa bildet das EuAuslÜbk vom 13.12.1957 einschließlich der vier Zusatzprotokolle.215 Als völkerrechtliche Vereinbarung erlangen diese Übereinkommen lediglich Wirkung inter partes und regeln damit allein den Auslieferungsverkehr zum einen zwischen Mitgliedstaaten des Europarats und zum anderen nur insoweit, als dass der Auslieferungsverkehr einzelner dieser Mitgliedstaaten nicht durch weitere Abkommen spezieller geregelt ist. So wird das EuAuslÜbk im Bereich der Auslieferung zwischen Mitgliedstaaten des Europarats, die zugleich auch Mitgliedstaaten der EU sind, vom RbEuHb verdrängt (Art. 31 Abs. 1 lit. a) RbEuHb). Entsprechend bestimmt das EuAuslÜbk selbst in Art. 28 Abs. 2, dass die Vertragsstaaten den Auslieferungsverkehr durch weitere bi- oder multilaterale Übereinkommen weitergehend erleichtern können. Nach Art. 2 EuAuslÜbk wird zunächst wegen „auslieferungsfähiger strafbarer Handlungen“ ausgeliefert. Hiervon erfasst sind Straftaten, die zum einen nach dem Recht des ersuchten wie ersuchenden Staates strafbar sind. Insofern wird am Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit (und Verfolgbarkeit)216 festgehalten. Zum anderen ist Voraussetzung, dass die Auslieferungstat neben der grundsätz­ lichen Strafbarkeit in den am Auslieferungsverfahren beteiligten Staaten mit einer im Mindestmaß von einem Jahr angedrohten Freiheitsstrafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung geahndet wird oder im Fall der Strafvollstreckung eine solche Freiheitsstrafe resp. Maßregel von noch mindestens 4 Monaten zur Vollstreckung aussteht (Art. 2 Abs. 1 S. 1 EuAuslÜbk).217 Was das Auslieferungsverfahren selbst betrifft, schreibt Art. 22 EuAuslÜbk explizit vor, dass sich dieses nach dem Verfahren des ersuchten Staates richtet (locus regit actum).218 Der Grundsatz der Gegenseitigkeit wird durch das Abkommen insoweit aufrecht gehalten, als dass gem. Art. 2 Abs. 7 EuAuslÜbk für Taten, die nicht der Auslieferungspflicht nach Art. 1, 2 Abs. 1 EuAuslÜbk unterliegen, die beteiligten Staaten eine fehlende 215

Zu den einzelnen Fundstellennachweisen des EuAuslÜbk nebst Zusatzprotokollen s. bereits Fn. 114 und 120. 216 S. hierzu Fn. 169 mit Haupttext. 217 Eine Ausnahme von dieser beiderseitigen Strafbarkeit sieht Art. 2 Abs. 2 EuAuslÜbk für die Fälle sogenannter akzessorischer Auslieferung vor. Danach ist eine Auslieferung wegen einer oder mehrerer der dem Ersuchen zugrunde liegenden Taten auch bei fehlendem Erreichen der Mindestsanktionsgrenze bewilligungsfähig, wenn diese Mindestsanktionsvoraussetzung für andere Taten desselben Ersuchens bejaht werden kann. Dazu Ambos / König / Rackow / ​­Heger / Wolter (2015), 2.  Hauptteil Rn.  1077; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Grotz (48. Lfg. 2019), Europ. AuslieferungsÜbk Rn. 8; Loos, Auslieferungsrecht der BRD (1994), S. 128; Haas, Auslieferung (2000), S. 211; Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (125); Schultz, ZStW 81 (1969), 199 (215). Durch Art. 1 ZP II wurde der Anwendungsbereich dieser akzessorischen Auslieferung auf Taten erstreckt, die nur mit einer Geldsanktion bedroht sind. Für das Übergabeverfahren nach dem RbEuHb (dazu sogleich) ist diese akzessorische Auslieferung nicht vorgesehen, s. nur KG, Beschluss v. 12.03.2019 ((4) 151 AuslA 28/19 (29/19)), juris, Tz. 16. 218 S. bereits Fn. 114 mit Haupttext.

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Gegenseitigkeit einwenden dürfen.219 Für alle anderen „auslieferungsfähigen strafbaren Handlungen“ folgt die Gegenseitigkeit e contrario aus der Auslieferungspflicht der Vertragsstaaten untereinander. Im Bereich der verfahrensbezogenen Auslieferungshindernisse hält sodann Art. 9 S. 1 EuAuslÜbk in Fällen, in denen die Auslieferungstat bereits Gegenstand einer rechtskräftigen Aburteilung durch den ersuchten Staat war, einen zwingenden Ablehnungsgrund bereit („wird nicht bewilligt“).220 Hat der ersuchte Staat wegen der Auslieferungstat ein Strafverfahren eingestellt oder bewusst nicht eingeleitet, darf er darüber hinaus gem. S. 2 die Auslieferung ablehnen.221 Eng damit verbunden ist der weitere fakultative Ablehnungsgrund des Art. 8 EuAuslÜbk, der den Vertragsstaaten noch weitergehend als das Auslieferungshindernis durch den Grundsatz ne bis in idem das Recht zuspricht, eine Auslieferung abzulehnen, wenn die Auslieferungstaten (nur) Gegenstand eines anhängigen inländischen Strafverfahrens sind.222 Da die Auslieferung insoweit schon bei Anhängigkeit des Verfahrens abgelehnt werden darf, greift Art. 8 EuAuslÜbk a maiore ad minus ebenfalls für Fälle, in denen ein Urteil ergangen, dieses jedoch noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist.223 Durch Art. 2 ZP I wurde Art. 9 EuAuslÜbk ergänzt und der An 219

S. dazu BGH, Beschluss v. 11.03.1981 (4 ARs 18/80), BGHSt 30, 55 (63); Grützner, ZStW 81 (1969), 119 (123). 220 Dabei ist für die Definition der Rechtskraft einer Entscheidung im ersuchten Staat auf den erläuternden Bericht zu Art. 9 EuAuslÜbk zu verweisen, wonach der Begriff „rechtskräftige Aburteilung“ („final“/„définitivement“) das Erschöpfen aller zur Verfügung stehenden Rechtsmittel verlangt. S. dazu Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition (13.12.1957), S. 8 („The word ‚final‘ used in this article indicates that all means of appeal have been exhausted.“). Für ein zu weites, das formale Merkmal der Unanfechtbarkeit vernachlässigendes Verständnis hingegen Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 834 („verfahrensabschließende Sachentscheidung“) unter Bezugnahme auf OLG Karlsruhe, Beschluss v. 22.04.1997 (1 AK 1/97), StV 1997, 360, in dem jedoch von einer „rechtskräftige[n] verfahrensabschließende[n] Sachentscheidung“ die Rede ist. Nach OLG Düsseldorf, Beschluss v. 04.01.1985 (4 Ausl (A) 269/84–99 und 100/84 III), abgedruckt in Eser / L agodny, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Rechtsprechungssammlung 1949–1988 (1989), U 101, genüge auch die rechtskräftige Schuldfeststellung; so auch Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), Art. 9 EuAlÜbk Rn. 12. 221 Ausführlich zu den Opportunitätseinstellungen nach §§ 153 ff. StPO und der Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO Ambos / König / Rackow / ​ ­Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1103; Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), Art. 9 EuAlÜbk Rn. 4 ff. 222 S. dazu Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Grotz (48. Lfg. 2019), Europäisches AuslieferungsÜbk Rn. 16, der argumentiert, dass es sogar genüge, wenn der ersuchte Staat erst infolge des Auslieferungsersuchens eigene Ermittlungen aufnehme. 223 Vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 12.11.1996 (4 Ausl. (A) 630/95), NStZ 1997, 193 („der Vollzug der Auslieferung bis zur endgültigen Klärung der Frage, ob die Voraussetzungen des Art. 9 S. 1 EuAlÜbk erfüllt sind, ausgesetzt werden kann“); OLG  Karlsruhe, Beschluss v. 17.04.1985 (1 AK 15/85), NJW 1985, 2906 („Denn Art. 9 EuAlÜbk ist mit einem gericht­lichen Straferkenntnis jedenfalls in seiner wesentlichen tatbestandlichen Voraussetzung erfüllt, in seiner Rechtswirkung dagegen lediglich […] aufschiebend bedingt.“). S. auch Schomburg / ​

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wendungsbereich der zwingend auslieferungshindernden ne bis in idem-Wirkung auf Vorverurteilungen aus Drittvertragsstaaten erweitert.224 Damit hat der ne bis in idem-Grundsatz bereits frühzeitig zumindest in auslieferungshindernder Ausprägung eine europaweite Anerkennung erfahren. Im Ergebnis sind indes im Auslieferungsverkehr unter den Vertragsstaaten, die zugleich Mitglied des Schengen- bzw. Unionsraums sind, die vorrangigen Regelungen der Art. 50 GRCh resp. Art. 54 SDÜ zu beachten. Darüber hinaus sieht Art. 10 EuAuslÜbk ein zwingendes Bewilligungshindernis vor, soweit für die Strafverfolgung resp. -vollstreckung alternativ im ersuchten oder ersuchenden Staat nach dem jeweiligen nationalen Recht eine Verjährung eingetreten ist (vgl. § 78c StGB), womit der Grundsatz beiderseitiger Verfolgbarkeit deutlich gestärkt wird.225 Durch das vierte Zusatzprotokoll wurde mit Inkrafttreten zum 01.06.2014 die Vorschrift durch eine differenzierte Neuregelung ersetzt. Nunmehr erklärt Art. 10 Abs. 1 EuAuslÜbk i. d. F. des ZP IV das Recht des ersuchenden Staates für maßgeblich, womit eine Verjährung im ersuchten Staat – so jetzt auch ausdrücklich Abs. 2 – nicht mehr zur Ablehnung einer Auslieferung berechtigt.226 Weiterhin darf (!)227 nach Maßgabe des Art. 11 EuAuslÜbk die Auslieferung abgelehnt werden, wenn der von der Auslieferung betroffenen Person im ersuchenLagodny / Riegel (2020), § 33 IRG Rn. 15, wonach sich das fakultative Auslieferungshindernis nach Art. 8 EuAuslÜbk im Falle eines noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen deutschen Strafverfahrens in ein zwingendes verwandele. Nach Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Grotz (48. Lfg. 2019), Europäisches AuslieferungsÜbk Rn. 17 unterfalle auch ein noch nicht rechtskräftiges Urteil Art. 9 EuAuslÜbk, soweit es „lediglich in seiner Rechtswirkung […] aufschiebend bedingt ist.“ Vgl. dazu Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1101 mit Fn. 76 m. w. N. 224 Hiervon erfasst sind gem. Art. 9 Abs. 2 EuAuslÜbk i. d. F. des ZP I freisprechende Urteile (lit. a]), solche, die eine Sanktion anordnen, diese jedoch gänzlich vollstreckt (lit. b] [i]) oder noch zumindest teilweise zu vollstrecken ist, deren Vollstreckung sich aber durch eine Begnadigung oder Amnestie erledigt hat (lit. b] [ii]), sowie eine Schuld feststellen, ohne eine Sanktion anzuordnen (lit. c]). Hiervon sollen rein formale Freisprüche nicht erfasst und eine Auslieferung bei Vorliegen neuer Tatsachen, die zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen können, möglich sein, s. hierzu Council of Europe, Explanatory Report to the Additional Protocol to the European Convention on Extradition (15.10.1975), Tz. 26. 225 Vgl. Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 330. 226 Vgl. Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 126 f. („auslieferungsfreundliche Lösung“) mit Übersicht 12; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 847. Zur Kritik bzgl. der Rechtslage vor der Ergänzung durch das ZP IV, wonach eine Verjährung im ersuchten wie ersuchenden Staat eine „überholte Lösung“ sei, vgl. Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 165 f. m. w. N., der jedoch unzutreffend für die später maßgebliche Rechtslage des ersuchten Staates auf Art. 8 Abs. 1 EuAuslÜbk (meint wohl EU-AuslÜbk) verweist (164). 227 Österreich bspw. hat durch seinen Vorbehalt Art. 11 EuAuslÜbk zu einem zwingenden Auslieferungshindernis aufgewertet („Österreich wird die Auslieferung zur Vollstreckung der Todesstrafe ablehnen. Die Auslieferung zur Strafverfolgung wegen einer Handlung, die nach dem Recht des ersuchenden Staates mit der Todesstrafe bedroht ist, wird nur bewilligt werden, wenn der ersuchende Staat die Bedingung annimmt, daß eine Todesstrafe nicht ausgesprochen

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den Staat die (Vollstreckung einer) Todesstrafe droht. Voraussetzung ist, dass die Todesstrafe für identische Taten im ersuchten Staat nicht vorgesehen ist oder diese dort zumindest nicht vollstreckt wird und der ersuchende Staat keine ausreichende Gewähr für die Nichtvollstreckung einer etwaigen verhängten Todesstrafe gibt.228 Auf den geringen praktischen Anwendungsbereich dieses Verweigerungsgrundes vor dem Hintergrund der Zusatzprotokolle VI und XIII zur EMRK zur Abschaffung der Todesstrafe resp. zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen wurde bereits hingewiesen.229 Bereits das zweite Zusatzprotokoll hat mit Inkrafttreten am 05.06.1983 indes die Liste der verfahrensbezogenen Auslieferungshindernisse um den Verweigerungsgrund bei Vorliegen eines Abwesenheitsurteils und den der Amnestie ergänzt. Mit Art. 3 Abs. 1 S. 1 ZP II wird dem ersuchten Staat das Recht zugebilligt, die Auslieferung zur Vollstreckung abzulehnen, wenn dem Auslieferungsersuchen eine Verurteilung in einem Abwesenheitsverfahren im ersuchenden Staat vorangegangen und der ersuchte Staat der Ansicht ist, dass dieses Abwesenheitsverfahren die Garantie für die Wahrung der „Mindestrechte der Verteidigung […], die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen“, hat vermissen lassen.230 Hierunter fallen in erster Linie die in Art. 6 Abs. 3 EMRK niedergelegten Mindestgarantien im Strafverfahren, wie sie in der Rechtsprechung des EGMR ihre Konkretisierung erfahren haben.231 Damit wird zum einen klar, dass auch nach dem EuAuslÜbk in der durch das zweite Zusatzprotokoll ergänzten Fassung die Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nicht per se wird. […]“), abgedruckt in Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Grotz (48. Lfg. 2019), Europäisches AuslieferungsÜbk S. 119; vgl. dazu Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 184. 228 Ob die Zusicherung der Nichtvollstreckung ausreichend ist, beurteilt allein der ersuchte Staat. S. dazu etwa BGH, Beschluss v. 13.01.1987 (4 ARs 22/86), BGHSt 34, 256 (259 ff.); Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition (13.12.1957), S.  9; Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1115 (zugleich zu den Kriterien und Formen der Zusicherung); Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), Art. 11 EuAlÜbk Rn. 3; Haas, Auslieferung (2000), S. 217 mit Fn. 733; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 867. 229 S. bereits Fn. 197 und 198 mit Haupttext; ebenso Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1115. 230 Dazu OLG Stuttgart, Beschluss v. 21.04.2006 (3 Ausl. 147/2005), NStZ 2006, 693 (694) (wonach es nicht mit Art. 3 Abs. 1 S. 2 ZP II und Art. 6 Abs. 3 EMRK vereinbar sei, wenn „sich das neue Gerichtsverfahren in einem ‚Aktenverfahren‘ erschöpft.“). 231 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), Tz. 25; Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1082; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 03.03.2004 (2 BvR 26/04), BVerfGK 3, 27 (34); BGH, Beschluss v. 16.10.2001 (4 ARs 4/01), BGHSt 47, 120 (124 f.) (jeweils: „‚verfolgtenfreundliche‘“ Auslegung der nationalen Prozessrechtsnorm [hier des Art. 175 CCP]); Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), 2. ZP EuAulÜbk Rn. 5 („im Lichte des Art. 6 EuMRK“). Der Grundsatz des fairen Verfahrens nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK setzt indes selbst das Recht auf Anwesenheit voraus (Radtke / Hohmann / Ambos [2010], Art. 6 EMRK Rn. 13 m. w. N.).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

zwingend ein Auslieferungshindernis zur Folge hat,232 sondern nur dann einen fakultativen Verweigerungsgrund bietet, wenn das Verfahren die gebotene Gewähr für eine Wahrung der prozessualen Rechte des Beschuldigten nicht bieten konnte. Von diesem fakultativen Verweigerungsgrund macht Art. 3 Abs. 1 S. 2 ZP II eine Rückausnahme und löst durch eine Heilung der Verletzung prozessualer Rechte im Abwesenheitsverfahren wieder die in Art. 1 EuAuslÜbk konstituierte Auslieferungsverpflichtung aus.233 Diese tritt danach wieder ein, wenn der ersuchende Staat wiederum zusichert, dem Auszuliefernden die effektive Möglichkeit zu eröffnen, ein seine Rechte hinreichend wahrendes erneutes Verfahren anzustrengen.234 2. Das Übergabeverfahren nach dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl Der Auslieferungsverkehr unter den Mitgliedstaaten der EU wies bis zur Jahrtausendwende eine wesentliche Gemeinsamkeit mit dem zwischen denen des Europarats auf: Soweit er sich nämlich auf die Art. 59 ff. SDÜ und in vorläufiger Anwendbarkeit235 noch auf das EU-VereinfAuslÜbk von 1995 und das EU-­AuslÜbk 232 Dem erläuternden Bericht zufolge soll sogar ein solches Auslieferungshindernis auch bereits vor Inkrafttreten des 2. ZP bestanden haben, wenn in dem Auslieferungsverfahren ein Verstoß gegen die in Art. 6 Abs. 3 EMRK niedergelegten Garantien festgestellt werden konnte (Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition [17.03.1978], Tz. 24 [„The sub-committee was, however, of the opinion that any exemption from the obligation to extradite should apply if there had been a violation of any of the generally acknowledged rights of defence, in particular those s­ pecified in the whole of Article 6.3 of the Human Rights Convention and not merely those mentioned in sub-paragraph c thereof.“]); ebenso Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), Art. 1 EuAlÜbk Rn.  6a; a. A.  Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Grotz (48. Lfg. 2019), Europäisches AuslieferungsÜbk Rn. 9 („Ob Abwesenheitsurteile einer Auslieferung entgegenstehen, ist im EuAIÜbk nicht geregelt.“); vgl. dazu auch Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1084 mit Fn. 43. 233 Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 815, zugleich anmerkend, dass diese Entscheidung in die Zuständigkeit der Gerichte und nicht der die Zusicherung abgebenden Regierung falle. Schork zufolge kenne das EuAuslÜbk jedoch keine explizite Auslieferungspflicht im Falle der Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils (Schork, Auslieferungsverfahren [2009], S. 176). 234 BVerfG, Beschluss v. 03.03.2004 (2 BvR 26/04), BVerfGK 3, 27 (34 f.) („tatsächlich wirksame Möglichkeit […], sich nachträglich rechtliches Gehör zu verschaffen und sich wirksam zu verteidigen“); vgl. auch Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), Art. 1 EuAlÜbk Rn. 6c; Gollwitzer, EMRK (2005), Art. 6 EMRK Rn. 190 m. w. N. zur dt. Rspr. Für einen Überblick über die deutsche Rspr. zu nicht ausreichenden prozessualen Regelungen in anderen Vertragsstaaten des Europarats auch Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1083 m. w. N. in Fn. 41; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 130 m. w. N. 235 S. zur entspr. Erklärung der BRD hinsichtlich der vorläufigen Anwendbarkeit des EU-VereinfAuslÜbk gem. dessen Art. 16 Abs. 3 BGBl. 1999 II, 357 sowie zur vorzeitigen Anwendung des EU-AuslÜbk gem. Art. 18 Abs. 4 BGBl. 1999 II, 707.

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von 1996 gestützt hatte, war die Auslieferung ungeachtet der ausgeprägten gemeinsamen (Menschen-)Rechtsüberzeugung der Staatengemeinschaft und der beabsichtigten Beseitigung von Auslieferungshindernissen eine „nur traditionell vertragsgestützte.“236 Indes wurde auch der Kompetenzbereich des Straf- und Strafverfahrensrechts von der „Europäisierung“ erfasst und zunehmend Gegenstand supranationaler Rechtsetzung. Diese Entwicklung hat mit dem Reformvertrag von Lissabon237 vorerst ihren Höhepunkt gefunden.238 Im Zuge dessen wurde die durch den Vertrag von Maastricht begründete „Drei-Säulen-Struktur“, der zufolge die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) eine dem „vergemeinschafteten“ Bereich vorgelagerte und der intergouvernementalen Kooperation vorbehaltene „Dritte Säule“ darstellte,239 in das supranationale Unionsrecht überführt und in den Art. 82–86 AEUV (justizielle Zusammenarbeit) und den

236 Schönberger, ZaöRV 67 (2007), 1107 (1121). Vgl. auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 163 („In der Phase vor Einführung des Anerkennungsprinzips unterschied sich die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der EU nicht wesentlich von jenen, die seit den Fünfzigerjahren zwischen den Mitgliedstaaten des Europarats praktiziert wurde.“); Wasmeier, § 32 Von der herkömmlichen Rechtshilfe zur gegenseitigen Anerkennung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 20 (zum EU-RhÜbk). Das EU-VereinfAuslÜbk und das EU-AuslÜbk selbst waren auf Art. K.3 EUV a. F. gestützt, der auf Art. K.1 EUV a. F. Bezug nahm. Art. K.1 EUV a. F. (Abl. EG 1992, C 191, 1) lautete: „Zur Verwirklichung der Ziele der Union, insbesondere der Freizügigkeit, betrachten die Mitgliedstaaten unbeschadet der Zuständigkeiten der Europäischen Gemeinschaft folgende Bereiche als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse: […] 7. die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen; […] 9. die polizeiliche Zusammenarbeit […].“ Art. K.3 EUV a. F. lautete: „(1) In den Bereichen des Artikels K.1 unterrichten und konsultieren die Mitgliedstaaten einander im Rat, um ihr Vorgehen zu koordinieren. Sie begründen hierfür eine Zusammenarbeit zwischen ihren zuständigen Verwaltungsstellen. (2) Der Rat kann […] a) gemeinsame Standpunkte festlegen sowie in geeigneter Form und nach geeigneten Verfahren jede Art der Zusammenarbeit fördern, die den Zielen der Union dient; b) gemeinsame Maßnahmen annehmen, […]; c) unbeschadet des Artikels 220 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Übereinkommen ausarbeiten, die er den Mitgliedstaaten zur Annahme gemäß ihren verfassungsrechtlichen Vorschriften empfiehlt.“ Vgl. dazu auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Vor Art. 82 ff. AEUV Rn. 3, 11.  237 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft vom 13.12.2007 (Abl. EU C 306, 1). 238 Zur Entwicklung bis zum Vertrag von Lissabon s. etwa Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 1 ff.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 19 Rn. 4 ff.; zur justiziellen Zusammenarbeit vor dem Vertrag von Nizza insbes. Schweitzer / Hummer / Obwexer, Europarecht (2007), Rn. 2624 ff. 239 S. dazu Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 3; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Vor Art. 82 ff. AEUV Rn. 8 ff.; Hobe, Europarecht (2017), Rn. 126 und 137; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 5; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 7 Rn. 5 f.; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 36; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 1 Rn. 15.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Art. 87–89 AEUV (polizeiliche Zusammenarbeit) primärrechtlich kodifiziert.240 Fortan wirkt die Union gem. Art. 67 Abs. 3 AEUV u. a. „durch die gegenseitige Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen [darauf hin], ein hohes Maß an Sicherheit zu gewährleisten.“241 Der „justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union“ i. S. d. Art. 82 ff. AEUV unterfällt dabei als einem ihrer klassischen Anwendungsbereiche die zwischenstaatliche Rechtshilfe in Strafsachen.242 Bereits vor der Lissabonner Reform hatten die Mitgliedstaaten die Entwicklung um den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung im Auslieferungsverkehr mit dem Flaggschiff des Europäischen Haftbefehls vom 13.06.2002 gekrönt.243 a) Genese und Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung hat seine Grundlage im freien Warenverkehr innerhalb der Union. Damit Waren zwischen den Mitgliedstaaten frei gehandelt werden konnten, ohne zugleich einen aufwendigen Harmonisierungsprozess hinsichtlich der nationalen Anforderungen an die Einhaltung bestimmter

240 S. dazu Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 3 f. (mit krit. Anm. zur Entwicklung vor dem Hintergrund eines Demokratiedefizits); von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Vor Art. 82 ff. AEUV Rn. 21 f.; Herdegen, Europarecht (2019), § 4 Rn. 31; Hobe, Europarecht (2017), Rn. 129; Nowak, Europarecht nach Lissabon (2011), S. 60; Satzger, § 2 Grundsätze eines Europäischen Strafrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 7; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 25; Schomburg  / ​ ­L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 73; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 27; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 37; ausf. zur primärrechtlichen Kategorisierung der gegenseitigen Anerkennung Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 314 ff. 241 Herv. d. Verf. 242 Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 2; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 14; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 24; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 136, 138; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 3, wonach die Rechtshilfe in Strafsachen der „wohl wichtigste, jedoch nicht einzige Anwendungsbereich sei“; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (2010), S. 31, der den Begriff der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen als „präziser“ ansieht. 243 Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 62 („flagship of the EU’s immediate legal reaction on the 9/11 events“). Vgl. auch Schünemann, ZRP 2003, 185 (186) („Speerspitze“); so auch Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 213. S. auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 32 („Vorbildcharakter“); Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 35 („Vorbildfunktion“); Ostropolski, NJECL 6 (2015), 166 (177) („‚jewel in the crown‘ of judicial cooperation“). Vgl. zu den Reaktionen im Schrifttum auch Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 80 f. S. zur Genese auch Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 138 ff.; Schorkopf, Einführung, in: Schorkopf, Der Europäische Haftbefehl vor dem BVerfG (2006), XXV ff.

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Vorgaben i. R. d. Güterproduktion betreiben zu müssen,244 wurde der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zur Realisierung des Binnenmarktes aufgestellt.245 Auch das BVerfG hat in seinem Urteil zum EuHbG die gegenseitige Anerkennung unter Verweis auf die Subsidiarität gem. Art. 23 Abs. 1 GG, Art. 5 Abs. 3 UA 1 EUV noch als Alternative zur Harmonisierung betrachtet.246 Den Ausgangspunkt bildet die Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Dassonville, in der er eine nationale, den innergemeinschaftlichen Handel zu beschränken geeignete Regelung als unzulässig bewertet und damit ein umfassendes Verständnis der gegenseitigen Anerkennung (von Marktgütern) begründet hat.247 Fortan hatten die Mitgliedstaaten damit im Gegenseitigkeitsverhältnis anzuerkennen, dass an einzelne Marktgüter, die unter Wahrung nationalstaatlicher Vorgaben des Herstellerstaates produziert wurden, keine weiteren Anforderungen zur Zulassung auf ihren (nationalen) Markt gestellt werden.248

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KOM(85) 310 endg. v. 14.06.1985, S. 22 („[….] den Willensbildungsprozeß beschleunigen und eine neue Schicht gemeinschaftlicher Regeln, die sich über die nationalen Regeln stülpt, überflüssig machen.“); Vedder / Heintschel von Heinegg / Rosenau / Petrus (2018), Art. 82 AEUV Rn. 2 („Zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen“); Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (235); ders., Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (58); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 24; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 68; Haltern, Europarecht (2007), Rn. 1630 ff.; Spencer, The Principle of Mutual Recognition, in: Kostoris, Handbook of European Criminal Procedure (2018), S. 281 (289 ff.); Gómez-Jara Díez, European Federal Criminal Law (2015), S. 34 („implement mutual recognition principle as a new strategy of harmonisation at the economic level“ [Herv. i. O.]); explizit zur justiziellen Zusammenarbeit auch Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 6 f. 245 Herdegen, Europarecht (2019), § 19 Rn. 1 („Konkurrenz von gegenseitiger Anerkennung und Rechtsangleichung“); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 24; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 5 Rn. 13; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 68; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (2010), S. 67 f.; Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 4; ausf. auch Haltern, Europarecht (2007), Rn. 1631 ff. 246 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (299); dazu noch ausf. u. Fn. 294 mit Haupttext. 247 EuGH, Dassonville, Urteil v. 11.07.1974 (Rs. 8/74; ECLI:EU:C:1974:82), NJW 1975, 515 (516) („Derartige Maßnahmen dürfen […] weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten darstellen.“); bestätigt in EuGH, Cassis de Dijon, Urteil v. 20.02.1979 (Rs. 120/78; ECLI:EU:C:1979:42), Slg. 1979, 649 (662). 248 KOM(85) 310 endg. v. 14.06.1985, S. 22; EuGH, Dassonville, Urteil v. 11.07.1974 (Rs. 8/74; ECLI:EU:C:1974:82), NJW 1975, 515 (516); EuGH, Cassis de Dijon, Urteil v. 20.02.1979 (Rs. 120/78; ECLI:EU:C:1979:42), Slg. 1979, 649 (664); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 10 Rn. 13; Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (58); Gless, Internationales Strafrecht (2015), Rn. 447; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 9/13, 12/62; Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 38; Klip, European Criminal Law (2016), S. 100; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 66 f.; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 69.

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Die Grundlage zur Einbeziehung dieser gegenseitigen Anerkennung in die straf(verfahrens)rechtliche Materie 249 bilden sodann die Beratungen des EU-Gipfels in Cardiff aus dem Jahr 1998, in dem sich der Europäische Rat dafür aussprach, eine vertiefte Zusammenarbeit auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung auszuloten.250 Nur ein Jahr später schloss sich dem der Gipfel in Tampere an und hauchte der in Cardiff aufgelegten Forderung nach verstärkter Zusammenarbeit neues Leben ein, indem er die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen als einen „Eckstein der justitiellen Zusammenarbeit“ verkündete.251 Im Zuge dessen forderte der Europäische Rat auch dazu auf, dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung bereits im Rahmen von Anordnungen im Ermittlungsverfahren Geltung zu verschaffen sowie ein „Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung anzunehmen.“ 252 Dieser Forderung kam der Rat 2001 sowohl für gerichtliche Entscheidungen im Bereich des Zivilrechts als auch für solche des Strafrechts nach.253 In der Folgezeit hat dieser Grundsatz seine Ausformung durch den Erlass von Rechtsakten, von denen der RbEuHb im Jahr 2002 das erste und bekannteste Beispiel im Bereich des Strafrechts darstellt,254 und daraufhin erstmalig i. R. d. Reformvertrags von Lissabon in den Art. 67 Abs. 3 und 82 Abs. 1 AEUV seine primärrechtliche Verankerung erfahren.255 249

S. bereits zur gegenseitigen Anerkennung zivilgerichtlicher Entscheidungen das Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) v. 27.09.1968 (Abl. EG 1998, C 27, 3; BGBl. 1972 II, 773); dazu Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 12 Rn. 41. 250 Europäischer Rat (Cardiff), Schlussfolgerungen des Vorsitzes (SN 150/1/98 REV 1) (15./16.06.1998), Tz. 39; vgl. auch Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), 57 (58); Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 43. Für eine ausf. Nachzeichnung der historischen Entwicklung Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 52 ff. (unter Berücksichtigung der einzelnen bislang ergangenen Sekundärrechtsakte [61 ff.]); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 164 ff.; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 57 ff. 251 Europäischer Rat (Tampere), Schlussfolgerungen des Vorsitzes (SN 200/99) (15./16.10.1999), Tz. 33 ff.; s. auch Erwägungsgrund 6 des RbEuHb; Kotzur spricht in diesem Zusammenhang von einem „spill-over vom Zivil- auf das Strafrecht“ (Geiger / K han / Kotzur / Kotzur [2017], Art. 82 AEUV Rn. 4). 252 Europäischer Rat (Tampere), Schlussfolgerungen des Vorsitzes (SN 200/99) (15./16.10.​ 1999), Tz. 36 f. 253 Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (2001/C 12/01) (Abl. EG 2001, C 12, 1) und Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (2001/C 12/02) (Abl. EG 2001, C 12, 10); dazu Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 44. 254 Erwägungsgrund 6 RbEuHb. Der RbEuHb nimmt explizit auf die Schlussfolgerungen des Vorsitzes von Tampere (Fn. 251) (Erwägungsgrund 1) und das Maßnahmenprogramm zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (Fn. 253) (Erwägungsgrund 2) Bezug. 255 Vgl. Erwägungsgrund 6 des RbEuHb; KOM(2010) 171 endg. v. 20.04.2010, S. 5 („Das Strafrecht ist ein verhältnismäßig neuer Tätigkeitsbereich der EU, für den der Vertrag von Lis-

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Um die Terminologie des EuGH im Fall Dassonville aufzugreifen, bedeutet dies für die justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten – obgleich es bis heute einer primärrechtlichen Definition ermangelt –, dass diese in einem Mitgliedstaat ergangene „gerichtliche Urteile und Entscheidungen“ (Art. 82 Abs. 1 AEUV)256 ohne Nachprüfung auf die Vereinbarkeit mit ihren nationalstaatlichen Anforderungen formal257 als rechtmäßig anerkennen, selbst wenn deren nationale Rechtsordnungen die Entscheidung nicht tragen.258 Es wird damit ein unionsweites „System des sabon einen klaren Rechtsrahmen vorgibt […]; dabei wäre zu berücksichtigen, dass die gegenseitige Anerkennung auch künftig den Schwerpunkt bildet […].“); Ambos / König / Rackow / ​ ­Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 618; Vedder / Heintschel von Heinegg / Rosenau / Petrus (2018), Art. 82 AEUV Rn. 1; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Vor Art. 82 ff. AEUV Rn. 22; Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 („Bekenntnis zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“); Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 28; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 172 f. S. zur Entwicklung der anerkennungsbasierten Zusammenarbeit bis Lissabon auch die Darstellung bei Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 23 ff. (mit einer Unterteilung in 6 Phasen). 256 Zum Entscheidungsbegriff in diesem Zusammenhang Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art.  82 AEUV Rn.  14; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 42 ff.; Juppe, Gegenseitige Anerkennung (2007), S. 50 f.; krit. zur dt. Fassung des Art. 82 Abs. 2 UA 1 AEUV Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 233. 257 S. Klip, European Criminal Law (2016), S. 400 ff., der zu Recht betont, dass die Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung insoweit auf die Anerkennung formaler Aspekte beschränkt sei („[…] the meaning of mutual recognition is limited to recognition of formal acts in specific cases.“ [402]); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 5 ff. (9) („[…] only minimal necessary formalities shall be fulfilled.“), der dem EU-Rechtsetzer zugleich einen selektiven Ansatz bei der Anwendung der gegenseitigen Anerkennung im Bereich des Strafrechts bescheinigt und als zwei wesentliche Bezugspunkte offence und offender nennt (31 ff.). S. auch Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 7, wonach Anerkennungsgegenstand „die der Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen, das ihr zugrunde liegende materielle und formelle Recht, sowie die Rechtsfolgen der Entscheidung“ seien. 258 KOM(2000) 495 endg. v. 26.07.2000, S. 2 („Eine bestimmte Maßnahme wie eine Entscheidung, die ein Richter […] in einem Mitgliedstaat trifft, würde somit […] automatisch in allen anderen Mitgliedstaaten anerkannt werden und dort dieselben oder zumindest ähnliche Wirkungen haben.“); EuGH, Gözütok und Brügge, Urteil v. 11.02.2003 (C-187/01 und C-385/01; ECLI:EU:C:2003:87), Slg. 2003, I-1378 (1391) („[…] dass jeder Mitgliedstaat die Anwendung des in den anderen Mitgliedstaaten geltenden Strafrechts akzeptiert, auch wenn die Anwendung seines eigenen nationalen Rechts zu einem anderen Ergebnis führen würde.“); EuGH, Bourquain, Urteil v. 11.12.2008 (C-297/07; ECLI:EU:C:2008:708), Slg. 2008, I-9446 (9459); EuGH, Trade Agency Ltd v. Seramico Investments Ltd, Urteil v. 06.09.2012 (C-619/10; ECLI:EU:C:2012:531), EuZW 2012, 912 (914); Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 5; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn.  5; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 23; Eisele, Grundrechtliche Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 221 (222); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 5 f.; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 35 (Anerkennung als „gänzlich gleichwertig“); Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 228; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 246 f., 254; Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 286; s. aber auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016),

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freien Verkehrs strafrechtlicher justizieller Entscheidungen“ angestrebt.259 In der Konsequenz sollte dies dazu führen, dass die Rechtshilfe unter den Mitgliedstaaten der EU durch einen gänzlichen Verzicht auf eine Nachprüfung fremdstaatlicher justizieller Entscheidungen und damit des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens weiter vereinfacht wird.260 b) Die Grundlage der gegenseitigen Anerkennung im gegenseitigen Vertrauen Allerdings ist zu berücksichtigen, dass sich die Umsetzung der gegenseitigen Anerkennung i. R. d. justiziellen Zusammenarbeit als überaus schwierig erweist. Denn strafrechtliche Entscheidungen sind nicht wie hergestellte Güter unter einen einfachen wirtschaftlichen Produktstandard zu subsumieren, sondern bilden stets das „Produkt“ eines umfassenden national-kulturell und national-sozial geprägten Vorgangs, der in der Ausgestaltung eines Strafverfahrens seine Ausprägung erfahren hat.261 Gerade im Bereich des freiheitseinschränkenden Strafrechts verlangt eine unbedingte Anerkennung einer fremdstaatlichen Entscheidung dem zur S. 174 ff., die zwar den Rückgriff auf die binnenmarktrechtliche Rspr. des EuGH zur Begriffsbestimmung für unpräzise hält (176), i. E. aber ebenso auf die Anerkennung i. S. e. „Einräumens von Rechtserheblichkeit“ abstellt (189, 269 ff.). 259 So explizit Erwägungsgrund 5 des RbEuHb. Vgl. auch Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 37 f.; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/23. 260 von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 5; Klip, European Criminal Law (2016), S. 429 f., der die durch die gegenseitige Anerkennung bedingte Arbeitsteilung unterstreicht. Vgl. auch Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 5 Rn. 15; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 12 Rn. 44. 261 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (359 f.); Klip, European Criminal Law (2016), S. 40. S. zur Kritik auch Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 11 ff.; Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 4 („Entgrenzung staatlicher Strafgewalt“); so auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 6 und 9, der zudem betont, dass „allenfalls die Wirkung der gegenseitigen Anerkennung, nicht aber deren dortige Funktionslogik“ übertragen werden könne, m. w. N. in Fn. 17 (6) und anführt, dass eine „Anleihe im strukturell anders gelagerten Binnenmarkt auch deshalb bedauerlich (sei), weil sich die klassische Rechtshilfe als deutlich sachnäherer Anknüpfungspunkt aufgedrängt hätte.“ (9); Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 11 m. w. N.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27; Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (236); Gómez-Jara Díez, European Federal Criminal Law (2015), S. 38 ff.; Fuchs, ZStW 116 (2004), 368, der auf die problematische Anerkennung von Entscheidungen im Zusammenhang mit ideologisch umstr. Tatbeständen hinweist; Braum, GA 2005, 681 (688 ff.). S. jedoch auch Albert / Merlin, eucrim 2015, 60 (62 f.), die betonen, dass die gegenseitige Anerkennung gegenüber einer Harmonisierung „ensures diversity and respect for each Member State’s regulations and choices“ und i. Erg. eine Stärkung der gegenseitigen Anerkennung aus kriminalpolitischen Erwägungen befürworten; unter besonderer Berücksichtigung des „forum shopping“ Schünemann, GA 2004, 193 (202 ff.); einen entgegengesetzten Standpunkt nehmen etwa Jähnke  / ​ Schramm ein, die wenig überzeugend von einem bereits „einheitlichen Rechtsraum“ ausgehen

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Anerkennung verpflichteten Staat nämlich den Verzicht auf die souveränitäts- wie menschenrechtswahrende Bedienung seines eigenen Strafverfolgungsapparates ab.262 Um es mit den Worten Jungs auf den Punkt zu bringen: „Die Anerkennung eines ausländischen Urteils ist Vertrauenssache.“263 Die gegenseitige Anerkennung kann damit zwar die Mitgliedstaaten verpflichten, eine justizielle Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates anzuerkennen, doch ihn nie dazu anhalten, diese als eine Entscheidung zu akzeptieren, die auch seinen nationalstaatlichen Vorgaben entspricht,264 solange diese nicht durch ein Mindestmaß an Harmonisierung im Raum der Union angeglichen sind.265 Damit kann auch ein Vergleich mit einem binnenmarktähnlichen Raum des freien Verkehrs strafrechtlicher Entscheidungen nicht überzeugen. Vielmehr ist im Interesse einer effektiveren unionsweiten Strafverfolgung davon auszugehen, dass die gegenseitige Anerkennung ein Leitmotiv zur Beschleunigung und Vereinfachung der justiziellen Zusammenarbeit selbst darstellt.266 Zur Verdeutlichung sei folgendes Beispiel genannt: Erlässt ein Gericht und den „Angleichungsdruck“ durch den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung als „Integra­ tionsfaktor“ verstehen (Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht [2017], Kap. 4 Rn. 35). 262 Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 33 f. sieht insoweit die staatliche Souveränität als Gegenpol zum Vertrauen unter den Mitgliedstaaten an (dazu sogleich). 263 Jung, Zur „Internationalisierung“ des Grundsatzes „ne bis in idem“, in: Albrecht et al., FS Schüler-Springorum (1993), S. 493 (501) unter Verweis auf Council of Europe, Explanatory Report to the Additional Protocol to the European Convention on Extradition (15.10.1975), Tz. 22 („The recognition of a foreign judgment clearly presupposes a certain degree of confidence in foreign justice.“). Vgl. auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 400 („The rule is that there ‚shall be‘ mutual trust among the Member States.“). S. auch Böhm, NStZ 2018, 197 (199), wonach – unter Verweis auf einen Vortrag des EuGH-Präsidenten Lenaerts am BVerfG – Vertrauen zu verdienen sei. 264 Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 103, die auch betont, dass „[…] coer­cion is not a way to enforce trust.“ (102); s. in diesem Zusammenhang auch GA Yves Bot, Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Schlussantrag v. 03.03.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:140), Tz. 99 („Daraus folgt für das Verhältnis zwischen gegenseitiger Anerkennung und gegenseitigem Vertrauen, dass Erstere den Mitgliedstaaten Letzteres auferlegt.“); so auch Ambos, der von aufgezwungenem gegenseitigen Vertrauen spricht (Ambos, Internationales Strafrecht [2018], § 9 Rn. 27); vgl. auch Gaede, § 3 Grund- und Verfahrensrechte im europäisierten Strafverfahren, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 48 („Mit dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung wird das zuvor verbreitete, auch aus kultureller Vielfalt geborene Misstrauen gegenüber fremdem, strafverfahrensrechtlichen Zwang gleichsam mit einem normativen Schlag durch gegenseitiges Vertrauen ersetzt.“), der allerdings von einem „prinzipiell vernünftigen Ansatz“ ausgeht; Kaufhold, EuR 2012, 408 (420) („angeordnetes Unwissen“). 265 So betont auch der EuGH, dass „[d]ie gegenseitige Anerkennung von nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedstaats erlassenen Haftbefehlen in den verschiedenen Mitgliedstaaten die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und insbesondere der Regeln voraus[setzt], denen die Voraussetzungen, die Verfahren und die Wirkungen der Übergabe zwischen nationalen Behörden unterliegen.“ (EuGH, Advocaten voor de Wereld VZW v. Leden van de Ministerraad, Urteil v. 03.05.2007 [C-303/05; ECLI:EU:C:2007:261], Slg. 2007, I-3672 [3689]). 266 So auch Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (236 ff.); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 6; Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts,

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eines Mitgliedstaates ein nach seinem Recht zulässiges Abwesenheitsurteil im Strafverfahren, sind hier Kollisionspunkte mit anderen Rechtsordnungen, die eine Verurteilung in absentia im Strafverfahren nicht kennen (vgl. § 231 StPO), unausweichlich.267 Der anerkennende Staat kann auf Grundlage gegenseitiger Anerkennung angehalten sein, das in Rede stehende Urteil anzuerkennen und auf dessen Grundlage Vollstreckungsmaßnahmen zu ergreifen. Seine Justizbehörden können es aber mangels Rechtsgrundlage im eigenen nationalen Recht nicht als ein Urteil begreifen, wie es auch nach Maßgabe der eigenen Rechtsordnung hätte ergehen können. Damit ist die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt vielmehr eine oktroyierte denn eine auf Vertrauen aus freien Stücken basierende und in der Konsequenz eben nicht das Resultat einer vertrauensbasierenden Zusammenarbeit.268 Dieses Ergebnis hat – wie noch gezeigt wird – auch Auswirkungen auf die Frage, inwieweit eine Verweigerung der Rechtshilfe auf einen ordre-public-Vorbehalt gestützt werden kann. Damit ist das Problem des gegenseitigen Vertrauens angesprochen: Wenn ein Mitgliedstaat die Entscheidung eines anderen Staates anerkennen (und vollstrecken) können soll, muss er dem Entscheidungsfindungsprozess und diesen beeinflussende Faktoren vertrauen können.269 Ein gemeinsamer Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts mag noch so sehr hochgehalten werden; er kann – jedenfalls in Bezug auf die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen – nur als leere Hülle begriffen werden, solange es an einer tauglichen Grundlage für die gegenseitige Anerkennung selbst fehlt: Dem berechtigten Vertrauen in die Rechtskonformität der anzuerkennenden Entscheidung,270 wobei insoweit das Maß an Verin: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 749 (781) („Methode zur Verbesserung der Zusammenarbeit“); gegen eine binnenmarktrechtliche Analogie auch Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 225 ff. 267 Vgl. auch die Darstellung bei Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (108). 268 Alegre / L eaf, ELJ 10 (2004), 200 (201), die zudem betonen, dass die Unterzeichnung der EMRK allein als „justification für mutual trust“ nicht genüge, sondern vielmehr „the protections must be real, not simply apparent on paper“ (216). 269 S. dazu Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (46), der drei Merkmale der gegenseitigen Anerkennung benennt: (1.) „mutual trust in the adequacy of the rules applied in other Member States, even though they might – and normally will – differ from the own norms and regulations which are applied to a comparable case in the home legal order“, (2.) „mutual trust in the correct application of these rules in the other Member States by the courts and other law-executing bodies“ und (3.) „as a consequence, acceptance of the results achieved in the other Member State on the basis of its laws and regulations as applied by its courts and other law-executing bodies without the result being checked against domestic laws and regulations.“ 270 S. auch KOM(2000) 495 endg. v. 26.07.2000, S. 4 f.; EuGH, Trade Agency Ltd v. Seramico Investments Ltd, Urteil v. 06.09.2012 (C-619/10; ECLI:EU:C:2012:531), EuZW 2012, 912 (914); EuGH, Jeremy F., Urteil v. 30.05.2013 (C-168/13 PPU; ECLI:EU:C:2013:358), Tz. 50; EuGH, Özçelik, Urteil v. 10.11.2016 (C-453/16 PPU; ECLI:EU:C:2016:860), Tz. 23; GA Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer, Gözütok und Brügge, Schlussantrag v. 19.09.2002 (C-187/01 und C-385/01; ECLI:EU:C:2002:516), Slg. 2003, I-1348 (1374 f.), der in diesem Zusammenhang sogar von einem „Gemeinsamen Markt der Grundrechte“ spricht; BGH, Beschluss v. 21.11.2012 (1 StR 310/12), BGHSt 58, 32 (43); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer

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trauen aufgrund der angestrebten unbedingten Vollstreckung im Unionsraum über das für eine Rechtshilfebeziehung ohnehin erforderliche 271 hinausgeht.272 Diese muss auf einem über die Teilung gemeinsamer Werte wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde hinausgehenden gemeinsamen Mindeststandard an Grund- und (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7 mit Verweis auf einzelne Sekundärrechtsakte; ders., EuR 2017, 163 (164 f., 167) m. w. N. in Fn. 17; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/54 („allseitiges Vertrauen“ als Voraussetzung gegenseitiger Anerkennung); Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 47 ff. m. w. N. in Fn. 297, die zudem betont, dass ein „sufficient level of mutual trust between the Member States cannot be presumed“; Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S. 124 ff., insbes. S. 126 („Membership of the European Union presumes the full respect of fundamental rights by all Member States, which creates mutual trust, which in turn forms the basis of automaticity in inter-state cooperation in Europe’s area of criminal justice.“ [Herv. i. O.]); Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 242 ff. („Vertrauen als notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung“), der zudem zu Recht betont, dass die Berufung auf ein etwaiges Vertrauen nicht dazu berechtige, erforderliche Eingriffsschwellen herabzusetzen und bewertet dies als einen Vertrag zu Lasten Dritter (244 f. [Herv. i. O.]); Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 244 ff., die zutr. betont, dass ein Mehr an Vertrauen zur Kompensation eines Kontrollverlusts in dem durch Rechtsakte der EU geprägten Rechtshilferecht erforderlich sei. 271 BVerfG, Beschluss v. 04.12.2019 (2 BvR 1258/19 und 1497/19), Tz. 59; BVerfG, Beschluss v. 22.11.2019 (2 BvR 517/19), juris, Tz. 35; BVerfG, Beschluss v. 28.07.2016 (2 BvR 1468/16), juris, Tz. 49; BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226 (228) („Der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens gilt aber auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslie­ferungsverkehr […]. Auch im allgemeinen Auslieferungsverkehr hat der ersuchende Staat ein erhebliches Interesse an der Aufrechterhaltung und Funktionsfähigkeit der gegenseitigen Rechtshilfe.“); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7 und 9 („‚Vertrauensgrundsatz‘ im internationalen Rechthilfeverkehr nichts Neues“); ders., EuR 2017, 163 (184); Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (47 ff.) (mit Vergleichen zum Verfahren auf Grundlage des Nordischen Haftbefehls und des lateinamerikanischen MER­COSURModells sowie zur Zusammenarbeit mit dem IStGH), der i. Erg. betont, dass die EU nicht als Urheber des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung angesehen werden könne, diesen aber zu einem hohen Grad weiterentwickelt habe (51); Klimek, European Arrest Warrant (2015), S. 74; ders., Mutual Recognition (2017), S. 47 f., 109, der auch betont, dass bereits die rechtshilferelevanten Übereinkommen des Europarats ein Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen verlangten, das jedoch u. a. durch Vorbehalte einer Vielzahl von Vertragsstaaten erschüttert werde; Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 47 („It [trust] is essential for all cooperation in criminal matters between Member States but especially for mutual recognition.“); Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (59) („wesensimmanent“); Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 245 („konstitutive Grundbedingung“). 272 Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 33 f., der zu Recht explizit betont, dass „ein hohes Maß an Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten“ (Erwägungsgrund 10 RbEuHb) mehr als das dem traditionellen völkervertraglichen Rechtshilfeverkehr innewohnende Vertrauen verlangt; s. auch BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226; OLG Stuttgart, Beschluss v. 07.03.2007 (3 Ausl. 6/2007), StV 2007, 260 („Gegenseitige Anerkennung muß auf einem hohen Maß an gegenseitigem Vertrauen zwischen den beteiligten Mitgliedstaaten und den beteiligten polizeilichen und justiziellen Stellen beruhen […].“); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 109 („high level of confidence“); Ouwerkerk, EuClR 7 (2017), 5 (16) („presumtion of a high level of mutual trust“); Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap 4 Rn. 36; vgl. auch Niblock, NJECL 7 (2016), 250 („The need to strengthen mutual trust in order to facilitate judicial cooperation is an important corollary of this.“).

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Verfahrensrechten sowie deren fehlerfreien Anwendung im Einzelfall beruhen.273 Zutreffend formuliert Niblock: „[I]f we cannot trust the judicial systems of our neighbours, why should we recognise their decisions?“274 Zu Recht betont in einem ersten Schritt auch die Kommission, dass es zur gegenseitigen Anerkennung eines „gegenseitigen Vertrauens nicht nur in die Rechtsvorschriften des anderen Mitgliedstaats, sondern auch in die Tatsache [bedarf], daß diese ordnungsgemäß angewandt werden.“275 Dabei können die Erwartungen jedoch nicht stehen bleiben. Vielmehr verlangt ein gegenseitiges Vertrauen, dass ein Mitgliedstaat sich darüber hinaus darauf verlassen können muss, dass eine ihm vorgelegte Entscheidung Gewährleistung für die Einhaltung unionsweit geltender – scil. durch Harmonisierung kodifizierter – Mindestanforderungen an ein Strafverfahren bietet. Indes geht der EuGH im Wege einer „rechtsprinzipiellen Neuerfindung“276 mittlerweile sogar von einem „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens“ aus, wonach ein Mitgliedstaat sich darauf verlassen könne, „dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.“277 Eine 273

KOM(2000) 495 endg. v. 26.07.2000, S. 4; EuGH GK, N. S. et al. v. Secretary of State for the Home Department et al., Urteil v. 21.12.2011 (C-411/10 und C-493/10; ECLI:EU:C:2011:865), Slg. 2011, I-13991 (14021); GA Yves Bot, Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Schlussantrag v. 03.03.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:140), Tz. 77; BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 33; OLG Stuttgart, Beschluss v. 07.03.2007 (3 Ausl. 6/2007), StV 2007, 260 („Ein solches Vertrauen muß auch im Einzelfall eine tragfähige Grundlage haben.“); Meyer, EuR 2017, 163 (165); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 26; Murschetz, Das „Übergabe“-Verfahren nach dem Europäischen Haftbefehl, in: Lagodny / Wiederin / Winkler, Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 85 (87) („rechtsstaatlich nur vertretbar, wenn die Grundlagen, auf denen sie beruhen, vergleichbar sind“); weitergehend Klimek, European Arrest Warrant (2015), S. 75; ders., Mutual Recognition (2017), S. 109 (jeweils: „[…] the executing State can trust that the requesting authorities have already checked the legality, necessity and proportionality of the measure requested“); Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 93 f., wonach „die bloße Bekenntnis zu den gleichen Grundund Menschenrechten [nicht] bedeutet, dass diese auch immer eingehalten werden“; vgl. auch Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 34 f.; Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 217 ff., 227 ff., der zur Vertrauensbildung auf ein gemeinsames Referenzsystem, gegenseitiges Verständnis und Koordination, Transparenz und Integrität abstellt; Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 104 ff. („[…] it appears wrong […] to remove fundamental rights from the heart of mutual recognition and cooperation and make them an auxiliary to mutual trust.“); Klip, European Criminal Law (2016), S. 101 mit Fn. 342 und 346, der unter Verweis auf GA Bot das gegenseitige Vertrauen gegenüber der gegenseitigen Anerkennung als „broad principle“ sieht; die Individualrechte i. R. d. gegenseitigen Anerkennung betont auch Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S 129 ff. 274 Niblock, NJECL 7 (2016), 250. 275 KOM(2000) 495 endg. v. 26.07.2000, S. 4. 276 Meyer, EuR 2017, 163 (164). Zur Entwicklung in der Rspr. des EuGH s. auch Willems, GLJ 20 (2019), 468 (471 ff.) und Mancano, CML Rev. 56 (2019), 61 (76 f.). 277 EuGH GK, Dorobantu, Urteil v. 15.10.2019 (C-128/18; ECLI:EU:C:2019:857), Tz. 46; EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777); EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU;  ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1711); EuGH, Poltorak, Urteil v.

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detaillierte und überzeugende Begründung dieses Vertrauenssatzes lässt die Judikatur des Gerichtshofs jedoch bislang vermissen.278 Jedenfalls genügt es gerade für den besonders grundrechtssensiblen Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit nicht, pauschal darauf zu verweisen, „dass das Unionsrecht auf der grundlegenden 10.11.2016 (C-452/16 PPU;  ECLI:EU:C:2016:858), Tz. 26; EuGH, Kovalkovas, Urteil v. 10.11.2016 (C-477/16 PPU; ECLI:EU:C:2016:861), Tz. 27; EuGH, Özçelik, Urteil v. 10.11.2016 (C-453/16 PPU; ECLI:EU:C:2016:860); Tz. 24; EuGH, Stefano Melloni, Urteil v. 26.02.2013 (C-399/11; ECLI:EU:C:2013:107), NJW 2013, 1215 (1217, 1219); ähnl. bereits EuGH, Gözü­ tok und Brügge, Urteil v. 11.02.2003 (C-187/01 und C-385/01; ECLI:EU:C:2003:87), Slg. 2003, I-1378 (1391), wonach Art. 54 SDÜ ein gegenseitiges Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweiligen Strafjustizsysteme impliziere; EuGH, Advocaten voor de Wereld VZW v. Leden van de Ministerraad, Urteil v. 03.05.2007 (C-303/05; ECLI:EU:C:2007:261), Slg. 2007, I-3672 (3697) („angesichts des hohen Maßes an Vertrauen und Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“); so aber auch BVerfG, Beschluss v. 22.11.2019 (2 BvR 517/19), juris, Tz. 35; BVerfG, Beschluss v. 30.10.2019 (2 BvR 828/19), juris, Tz. 42; BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (349); Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S. 140 ff., 151 f., spricht von einer „deification of mutual trust“; weiterführend dazu auch mit einer Untersuchung der Entwicklung der Rspr. Meyer, EuR 2017, 163 (168, 171 ff.) m. w. N., der der Rspr. des EuGH eine primärrechtliche Verankerung des gegenseitigen Vertrauens entnimmt (173 f.); Ostropolski, NJECL 6 (2015), 166 (168 ff.) (EuGH als „promoter and defender of mutual trust“); Rizcallah, ELJ 25 (2019), 37 ff. (insbes. 51 f. zum Verhältnis zu individualschützenden Rechten); von einer „general attitude“ spricht auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 100 f.; vgl. auch Röß, EPL 25 (2019), 25 (30) („The principle of mutual trust between Member States enjoys such fundamental importance in EU law because it allows the creation of an area without internal borders.“). Zur Entwicklung auch Kaufhold, EuR 2012, 408 (410 ff.) unter Verweis auf einzelne Rechtsakte; für eine Untersuchung der EU-Rechtspolitik und Rspr. des EuGH Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 228 ff. Auch in der niederländischen Rechtsordnung wird – allerdings auch insoweit ohne Rechtsgrundlage – von einem „principle“ resp. einer „presumtion“ ausgegangen, vgl. dazu de Groot, Mutual Trust in (European) Extradition Law, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 87 m. w. N. Gegen eine Einordnung des gegenseitigen Vertrauens als Rechtsgrundsatz des Unionsrechts Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 107 f.; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 245; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 249 ff. („außerrechtlicher Bereich“). 278 S. etwa EuGH, Advocaten voor de Wereld VZW v. Leden van de Ministerraad, Urteil v. 03.05.2007 (C-303/05; ECLI:EU:C:2007:261), Slg. 2007, I-3672 (3697); s. dazu auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7 m. w. N. in Fn. 29; ders., EuR 2017, 163 (166 ff.), der die Präzisierungsbedürftigkeit des gegenseitigen Vertrauens betont (168 f.), dessen Einordnung als selbstständiges Prinzip für „kaum begründbar“ erachtet (177) und seine Grundlage im Loyalitätsprinzip sieht (178 ff.); Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 4; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 13 Rn. 23; Kaufhold, EuR 2012, 408 (412), die betont, dass das gegenseitige Vertrauen i. R. d. strafrechtlich relevanten Rechtsetzung „beinahe ausschließlich als faktische Voraussetzung“ thematisiert werde und zwar unter Ablehnung eines normativen Gehalts nicht als Geltungs-, aber als Wirksamkeitsvoraussetzung und insoweit als Rechtsgrundsatz anzusehen sei (417 f., unter Verweis auf „vorrechtliche Gelingensvoraussetzungen“); für eine Bewertung als „sublegal category“ auch Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 107 f. S. auch Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 92 ff., der im Grundsatz gegenseitigen Vertrauens ebenfalls einen primärrechtlichen Rechtsgrundsatz sieht, i. Erg. aber immerhin auch dessen erforderliche Stärkung durch eine fortschreitende Harmonisierung betont (94 f.).

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Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt – und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen –, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet.“279 Denn für die Frage eines berechtigten Vertrauens als Grundlage der intensivierten Zusammenarbeit ist es ja gerade entscheidend, ob die Mitgliedstaaten gemeinsame Werte teilen und Grundrechte tatsächlich und effektiv gewährleisten. Allerdings hat auch der EuGH i. R. e. Asylverfahrens selbst anerkannt, dass im Fall zu besorgender menschenrechtlicher Verfahrensmängel eine Überstellung des Betroffenen mit Art. 4 GRCh unvereinbar sei und das gegenseitige Vertrauen im Zuge dessen an seine Grenzen stoße.280 Es sei an dieser Stelle allerdings auch betont, dass ein die gegenseitige Anerkennung von justiziellen Entscheidungen tragender Rechtszustand in der Union keineswegs utopisch ist. Eine unbedingte Anerkennung fremdstaatlicher Entscheidungen kann in der EU bereits dann – aber auch erst dann – erreicht werden, wenn durch eine Harmonisierung des Strafverfahrensrechts eine „quasi-bundesstaatliche“281 Rechtsordnung etabliert ist, die hinreichend Gewähr dafür bietet, dass eine anzuerkennende Entscheidung bestimmten rechtlichen Anforderungen genügt. Durch Unionsrechtsakte, die die prozessuale Stellung von Verfahrensbeteiligten  – in erster Linie des Angeklagten – harmonisieren,282 wird ein einheitlicher Mindeststandard im Unionsraum eingeführt, der eine gegenseitige Anerkennung strafjusti 279

EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 35; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 48. 280 EuGH GK, N. S. et al. v. Secretary of State for the Home Department et al., Urteil v. 21.12.2011 (C-411/10 und C-493/10; ECLI:EU:C:2011:865), Slg. 2011, I-13991 (14022); s. dazu auch Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 50, der zutr. betont, dass „ein blindes bzw. absolutes grundrechtliches sowie rechtstaatliches Vertrauen in alle EU-Mitgliedstaaten noch nicht ausgebildet werden [kann und darf].“ (Herv. i. O.); Ostropolski, NJECL 6 (2015), 166 (172 f.). Gegen eine Übertragung dieser Grundsätze aus dem Bereich des Asylrechts auf die strafjustizielle Zusammenarbeit GA Yves Bot, Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Schlussantrag v. 03.03.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:140), Tz. 91. Krit. demgegenüber wiederum unter Verweis auf einen einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, der sowohl das Asylrecht, als auch das Recht der justiziellen Zusammenarbeit erfasse, Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ  24 (2016), 197 (204). 281 Die Formulierung „Quasi-Bundesstaat“ geht auf Burchard zurück, der die Entwicklung der Rechtshilfe nach dem RbEuHb zu einer bundesstaatlichen Amtshilfe sieht (Burchard, § 14 Auslieferung [Europäischer Haftbefehl], in: Böse, Europäisches Strafrecht [2013], Rn. 8). S. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 26 („strukturelle Ähnlichkeit“). 282 Zu nennen sind hier etwa: Die Richtlinie (Rl) 2010/64/EU v. 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (Abl. EU L 280, 1); die Rl 2012/13/ EU v. 22.05.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (Abl. EU L 142, 1); die Rl 2013/48/EU v. 22.10.2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (Abl. EU L 294, 1); die Rl (EU) 2016/343 v. 09.03.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (Abl. EU L 65, 1); die Rl (EU) 2016/800 v. 11.05.2016 über Verfahrensgarantien in Strafverfahren für

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zieller Entscheidungen mehr und mehr vertretbar macht,283 und die dem Vertrauen zwingend immanente Ungewissheit weitestgehend zurückdrängen kann.284 So ist mit Böse die Schaffung gemeinsamer Mindeststandards in erster Linie dort zu fordern, wo das gegenseitige Vertrauen durch unterschiedliche nationale Standards erschüttert ist.285 Hier kann etwa auf das bereits angeführte Beispiel der Abwesenheitsverurteilung Bezug genommen werden: Das gegenseitige Vertrauen in eine zu vollstreckende justizielle Entscheidung in einem Abwesenheitsverfahren kann erst dann seine Berechtigung finden, wenn die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der EU diesbezüglich soweit angeglichen sind, dass sie hinreichend Gewähr dafür bieten, dass eine Verurteilung in absentia die Verfahrensrechte des Beschuldigten nicht beeinträchtigt. Insoweit ist es zu begrüßen, dass die Verurteilung in einem Abwesenheitsverfahren, die in der Ursprungsfassung des RbEuHb lediglich als Grund für eine bedingte Überstellung vorgesehen war, zu einem fakultativen Vollstreckungsverweigerungstatbestand aufgewertet wurde.286 Kinder, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in Strafverfahren sind (Abl. EU L 132, 1). Vgl. dazu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 146 ff. 283 Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 107 („If we have complete proce­ dural and substantive harmonisation and application of these rules, i. e. if all concerned in judicial cooperation know that all others will adhere to the exact same standards, trust is rendered redundant.“); Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (239) („[…] the way to change it should be through the improvement of the fundamental rights’ protection and not through blind trust in the criminal law systems of other member states.“); Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (249), der außerdem überzeugend darauf hinweist, dass mit weniger eingriffsintensiven Maßnahmen auch das Erfordernis an Harmonisierung zurückgeht; Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (53), der „inacceptable risks and disadvantages especially to the person prosecuted“ im Fall einer „overhasty application of mutual recognition“ bei gleichzeitig fortbestehenden Differenzen zwischen den jeweiligen nationalen Rechtsordnungen sieht; Callewaert, ZEuS 2014, 79 (81 f.); Fuchs, ZStW 116 (2004), 368 (369) weist zutr. darauf hin, dass die gegenseitige Anerkennung in materieller Hinsicht zunächst auf den Bereich erstreckt werden sollte, in denen die Strafbarkeit in allen Mitgliedstaaten anerkannt ist („allseitige statt beiderseitige Strafbarkeit“); s. auch Gómez-Jara Diez, eucrim 2006, 23 (24 f.), wonach im Fall einer grundlegenden Harmonisierung „there would be no fundamental opposition against recognising the judicial decision“ und „approximation is the necessary and unavoidable step before mutual recognition“ (24), der zudem für den Bereich des materiellen Strafrechts einen Katalog von „European federal crimes“ nach Vorbild des US-amerikanischen Bundesstrafrechts befürwortet (24 f.); s. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 121 f., wonach „die Erfahrungen zeigen, dass ein blindes Vertrauen in das fremde Strafverfahren auch zwischen EU-Staaten (noch) nicht gerechtfertigt ist“; von einem „Soll-Zustand“ spricht auch Schall­ moser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 13 f. S. wohl zurückhaltender von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7, der eine „Abstandsnahme von einer kompletten Einzelfallprüfung“ als gerechtfertigt ansieht, jedoch „nicht den Abbau der rechtlichen Voraussetzungen und Schutzstandards als solcher.“ 284 Für einen „more future-proof approach with the potential to construct trust“ i. R. d. strafjustiziellen Zusammenarbeit auch Willems, GLJ 20 (20109), 468 (488 ff.). Zur Ungewissheit als Wesensmerkmal des Vertrauens auch Kaufhold, EuR 2012, 408 (419 f.). 285 Böse, § 27 Ausblick, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 16. 286 S. dazu noch ausf. den Haupttext zu Fn. 325 und 326.

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Dessen ungeachtet darf hier jedoch zweierlei nicht unberücksichtigt bleiben: Nämlich zum einen, dass es sich beim Vertrauen in die Rechtsordnung eines anderen Mitgliedstaates immer nur um eine abstrakte Vermutung handeln kann, die im konkreten Einzelfall im Interesse der Absicherung individueller Verfahrensrechte widerlegbar sein muss.287 Zum zweiten darf nicht vergessen werden, dass die gegenseitige Anerkennung – etwa im Zusammenhang mit einem transnationalen Doppelverfolgungsverbot – auch zugunsten des Betroffenen wirken kann,288 weshalb die gegenseitige Anerkennung im Grundsatz als neutrales Verfahrenskonzept zu verstehen ist.289 Im Ergebnis bedarf es jedenfalls – bevor man zu einer überzeugenden und umfassenden gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen gelangen kann und obgleich Art. 67 Abs. 1 AEUV die Unterschiede in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen berücksichtigt290  – zunächst einer sowohl quantitativ als auch qualitativ hinreichenden Rechtsangleichung in den Mitglied 287 EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777); BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 33; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7; ders., EuR 2017, 163 (166 f.); Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (237). So verweist auch Mitsilegas auf die Grenzen gegenseitigen Vertrauens im Zusammenhang mit der Osterweiterung der EU (Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon [2016], S. 147 ff.). Kaufhold, EuR 2012, 408 (421 ff.) verweist in diesem Zusammenhang auf drei „Dysfunktionalitäten“ (Umsetzungs- und Vollzugsdefizite, verstärkte Zentralisierung von Rechtsetzung und -anwendung, (Über)Konkretisierung und Standardisierung). Zur Begrenzung des gegenseitigen Vertrauens unter Verweis auf Erwägungsgrund 13 Rb 2008/909/JI (Abl. EU L 327, 27) s. auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 102. 288 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 24; Streinz / ​ Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 11; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 15; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 230 (jeweils zum ne bis in idem-Grundsatz); so auch Eisele, Grundrechtliche Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 221 (223 f.) (sowie zum Rb 2008/947/JI [Abl. EU L 337, 102] bzgl. der Überwachung von Bewährungsentscheidungen); Wasmeier, ZStW 116 (2004), 320 (321 f.); vgl. auch Gleß, ZStW 116 (2004), 353 (356) („kann durchaus sinnvoll sein“); restriktiv Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 11 („ausnahmsweise“); dagegen Schünemann, GA 2004, 193 (204), wonach das Verbot der Doppelverfolgung „nur im Rahmen beiderseitiger Strafbarkeit logisch durchführbar sei“; ders., ZStW 116 (2004), 376 (383). 289 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 24 f., die zudem betonen, dass sich die gegenseitige Anerkennung nicht über die Staatensouveränität der Mitgliedstaaten hinwegsetze; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 15; Gaede, § 3 Grund- und Verfahrensrechte im europäisierten Strafverfahren, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 48; Eisele, Grundrechtliche Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 221 (223); Gleß, ZStW 116 (2004), 353 (356); Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 43 f.; ausf. auch Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 233 ff., der betont, dass die Neutralität selbst kein Legitimationsargument für die gegenseitige Anerkennung liefere; zur Rechtsfolgenoffenheit der gegenseitigen Anerkennung auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 515. Für eine unter Berücksichtigung der Rspr. des EuGH noch erforderliche Entwicklung von einem „content-laden principle“ hin zu einem neutralen Konzept Caeiro / Fidalgo / Rodrigues, MJ 26 (2019), 689 (702 f.). 290 Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 287.

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staaten,291 wie sie auch im Stockholmer Programm als „notwendig“ festgeschrieben ist.292 So betont auch Satzger, dass die gegenseitige Anerkennung nur auf den ersten Blick eine Vereinfachung in sich berge, wenn darauf abgestellt wird, dass jene doch eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Rechts entbehrlich mache und die nationalen Strafverfahrensrechtsordnungen anwendbar blieben.293 Auch das nicht zuletzt vom BVerfG erhobene Vorbringen, dass die gegenseitige Anerkennung vor dem Hintergrund der die nationale Identität wahrenden Subsidiarität (Art. 23 Abs. 1 GG; Art. 5 Abs. 3 UA 1 EUV) gegenüber der Harmonisierung vorzugswürdig sei,294 kann nicht durchdringen. Dies mag aus souveränitätswahren 291 Vedder / Heintschel von Heinegg / Rosenau / Petrus (2018), Art. 82 AEUV Rn. 5 (explizit: „ähnlich hohe Qualitätsbedingungen“); Bachmaier, eucrim 2018, 56 (62). S. auch Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 4; Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn.  7; Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 6 („zweiter Schritt vor dem ersten“); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 26 („Dinge auf den Kopf stellen“); Satzger, StV 2003, 137 (141) („Mehr als durch jede Harmonisierung werden durch das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung die Fundamente des nationalen Strafverfahrens unterminiert und verfälscht.“), der zudem betont, dass durch eine Harmonisierung den einzelnen Mitgliedstaaten ein Mitspracherecht zukomme; Fuchs, ZStW 116 (2004), 368 (369); Hassemer, ZStW 116 (2004), 304 (318) („das Pferd vom Schwanze aufzäumen“); Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 227 ff. (240), der jedoch auch betont, dass mit der EMRK bereits „ausreichende und bewährte Mindeststandards für ein Strafverfahren“ geschaffen worden seien (232); Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 214 f., wonach eine gemeinsame Strafprozessordnung den Idealzustand erreichen würde; ähnl. Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 44, der eine „vollständige Harmonisierung als effektivste[n] Weg“ beschreibt, diesen aber zugleich als unrealistisch beurteilt; vgl. auch Kaufhold, EuR 2012, 408 (423), die auf eine Begleitfunktion von „Leitfäden“ hinweist; s. aber auch Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 51 ff., die sich für ein Komplementaritäts- statt Alternativ­ verhältnis zwischen gegenseitiger Anerkennung und Harmonisierung ausspricht (56 f.); so auch Ronsfeld, Rechtshilfe, Anerkennung und Vertrauen (2015), S. 240, wonach die gegenseitige Anerkennung die Rechtsangleichung nicht ersetzen könne. Hüttemann sieht im gegenseitigen Vertrauen die Verbindung zwischen gegenseitiger Anerkennung und Harmonisierung (Hüttemann, European Criminal Procedure [2012], S. 103). 292 Stockholmer Programm (Abl. 2010, C 115, 12 [13 ff., 15]) („Die Union sollte das gegenseitige Vertrauen in die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten durch die für die Weiterentwicklung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung notwendige Schaffung von Mindestrechten und durch die Festlegung von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen im Sinne des Vertrags weiter stärken.“ [12]); vgl. dazu auch von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7; Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 8. S. auch die beabsichtigte Stärkung des gegenseitigen Vertrauens i. R. d. Schlussfolgerungen des Rates 2014 (Europäischer Rat, Schlussfolgerungen [Rats.-Dok. EUCO 79/14] [26./27.06.2014]), S. 5. 293 Satzger, StV 2003, 137 (141). 294 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (299); s. auch bereits o. Fn. 246 mit Haupttext; zust. Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 14; eine Aushebelung der Souveränität sieht auch Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 214; Wasmeier, ZStW 116 (2004), 320 (321), wonach „eine Harmonisierung nur dort vorzunehmen [sei], wo dies erforderlich ist […]“, die gegenseitige Anerkennung jedoch „gleichberechtigt neben einer Harmonisierung stehe“; s. auch Klimek, InternSecur 6 (2014), 33 (37) („The political appeal of mutual recognition for the EU Member States lies in the fact that, instead of embarking in a very visible attempt to harmonise their criminal laws under the banner of the EU, they can

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der Perspektive der zwingenden Folge des Primärrechts entsprechen und insoweit auch nicht angezweifelt werden. Die Annahme führt jedoch gerade zum hier abgelehnten Ergebnis, wird doch damit die unter Individualschutzgesichtspunkten erforderliche Harmonisierung der Verfahrensrechte des Betroffenen umgangen. Im Ergebnis ist die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt zuvörderst eine politische Steuerungsmaxime.295 Einzelne Sekundärrechtsakte können den Rechtshilfeverkehr zwar beschleunigen und wirksamer gestalten. Sie greifen dennoch einem angestrebten Rechtszustand vor, soweit um der gegenseitigen Anerkennung selbst willen eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme weiterhin erforderlich ist. Wie wir noch sehen werden, kann insoweit ein ordre-public-Einwand als Korrektiv dienen,296 bis das Erreichen eines unionsweiten Mindeststandards dessen Vorbringen entbehrlich macht. promote judicial co-operation by not having change in principle their criminal laws […].“); vgl. KOM(2010) 171 endg. v. 20.04.2010, S. 5; auch Vedder / Heintschel von Heinegg / Rosenau / Petrus (2018), Art. 82 AEUV Rn. 2. S. aber auch Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 6, der betont, dass das BVerfG diesen Aspekt in seinem Lissabon-Urteil nicht wieder aufgegriffen habe. S. dazu auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 7; Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 44, der ebenfalls wegen „unrealistischer“ gänzlicher Harmonisierung auf eine Effektivierung durch die gegenseitige Anerkennung zurückgreifen will; vgl. zur Entbehrlichkeit der Harmonisierung Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 17; Juppe, Gegenseitige Anerkennung (2007), S. 37. 295 Vgl. auch Schomburg / L agodny / Schallmoser, § 13 Grundlagen der Zusammenarbeit, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 70 („politische Zielsetzung“); Satzger, Die Europäische Vollstreckungsübernahme, in: Schünemann, Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege (2006), S. 146 (147) („als politisch propagierter ‚Eckstein‘ […] lediglich Mittel zum Zweck“); dem zust. Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 77, der zugleich eine Bewertung als allgemeinen Grundsatz ablehnt (72 f.); s. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27 („Optimierungserfordernis oder ‚Soll-Vorschrift‘ denn strikte Regel“); Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 51, 350 ff. Für eine Bewertung des gegenseitigen Vertrauens als politisches Konzept auch Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 107 f. („Trust can only be a policy concept, but it cannot be the basis to fill a vacuum of legal measures for the protection of fundamental rights.“). Für eine Charakterisierung als Rechtsprinzip aber Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 20 ff. („primärrechtlich festgeschriebenes Rechtsprinzip“); so auch Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 3; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 292 ff., 314 ff.; ähnl. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (2010), S. 106 ff., der einen in Art. 82 AEUV „inzidenten formellen Charakter“ sieht (108); gegen einen eigenständigen normativen Gehalt wiederum Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 247 ff. vgl. auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 104 („legal fiction“). Für eine Bewertung als primärrechtlicher Auslegungsmaßstab Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht postLissa­bon (2011), S. 57 f.; ders., § 27 Ausblick, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 20. 296 Auf das Fehlen eines ordre-public-Vorbehalts im Bereich der Zusammenarbeit  – im Gegensatz zum Recht des freien Warenverkehrs (Art. 36 AEUV [ex. Art. 30 EGV]) – verweist auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 25; Streinz / ders. (2018), Art. 82 AEUV Rn. 12; vgl. auch Eisele, Grundrechtliche Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016) S. 221 (223).

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe 

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c) Der Europäische Haftbefehl als Basismodell der EU Der RbEuHb vom 13.06.2002 trat am 07.08.2002 in Kraft (vgl. Art. 35 RbEuHb) und wurde bislang einmal durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI vom 26.02.​2009297 geändert.298 Das Instrument des Rahmenbeschlusses ist mit dem Vertrag von Lissabon entfallen299 und wurde durch den Maßnahmenkatalog des Art. 288 AEUV ersetzt. Allerdings behalten gem. Art. 9 des Protokolls Nr. 36 zum Vertrag von Lissabon300 die bis dahin ergangenen Rahmenbeschlüsse ihre Gültigkeit, „bis sie in Anwendung der Verträge aufgehoben, für nichtig erklärt oder geändert werden.“ Der RbEuHb zielt über eine „bloße“ Beschleunigung und Vereinfachung des Auslieferungsverkehrs im Unionsraum hinaus darauf ab, das traditionelle zweistufige Auslieferungsverfahren durch ein rein exekutivisches Übergabeverfahren zu ersetzen.301 Jedoch wäre es auch verfehlt, von einer gänzlichen Novellierung des unionalen Auslieferungsrechts, wie sie die Terminologie („Haftbefehl“) nahezulegen scheint – so wird etwa der ersuchende zum Ausstellungs-, der ersuchte zum Vollstreckungsstaat und die Auslieferung zur Übergabe –,302 auszugehen. Das 297

Abl. EU 2009, L 81, 24; in Kraft getreten am 28.03.2009. Zur Entstehung des RbEuHb s. auch Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 51 ff.; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 14 ff.; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/23. 299 Hobe, Europarecht (2017), Rn. 1246; Sieber, Einführung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 164; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 6 Rn. 69; vgl. auch Lagodny, § 31 Traditionelles Auslieferungs- und Rechtshilferecht, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 11; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 1 Rn. 22. S. zu krit. Auffassungen zur Wahl des Mittels eines Rahmenbeschlusses die Darstellung bei Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 62 f. m. w. N. 300 Abl. EU 2010, C 83, 322. 301 S. die Erwägungsgründe 1, 5 und 7 des RbEuHb („Abschaffung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten und deren Ersetzung durch ein System der Übergabe zwischen Justizbehörden.“). Vgl. dazu auch Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), RB-EuHb Rn. 3; Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 169 f.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 28; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 32; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/25; Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 9; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 209 ff.; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 73 f.; Klip, European Criminal Law (2016), S. 381 ff. und 394 f., der zwischen einem „Request Model“ und einem „Mutual Recognition Model“ als Formen der Zusammenarbeit differenziert; ähnl. Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 25 („Paradigmenwechsel zwischen völkervertraglichem und supranationalem Rechtsrahmen“); so auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Böse (48. Lfg. 2019), Rb Europ. Haftbefehl Rn. 2; Asp, Der Europäische Haftbefehl, in: Schünemann, Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege (2006), S. 132 (133) („Ideologiewandel“); ausf. und die Abschaffung der Bewilligung begrüßend Lagodny, „Extradition“ Without a Granting Procedure, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 39 ff. 302 Nach von Heintschel-Heinegg, § 37  Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 6 mit Fn. 18 hat die terminolo­gische 298

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Instrument des Europäischen Haftbefehls bleibt formal eine Maßnahme des Auslieferungsrechts303 und dessen Vollstreckung in Form der Übergabe des Betroffenen kann oder muss (!) gegebenenfalls seitens des Vollstreckungsstaates unter Berufung auf Vollstreckungsverweigerungsgründe weiterhin abgelehnt werden. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus nachvollziehbar, dass der deutsche Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung i. R. d. §§ 78 ff. IRG die Begriffe Auslieferung sowie ersuchender / ersuchter Mitgliedstaat beibehalten hat.304 Sie werden auch im Folgenden weiter zugrunde gelegt. Damit kann der Europäische Haftbefehl auch nicht mit einem nationalen Haftbefehl i. S. d. § 112 StPO gleichgesetzt werden, sondern folgt diesem als gesonderte Entscheidung des Auslieferungsverfahrens.305 Differenzierung zwischen Auslieferung und Übergabe keine Bedeutung; Böse sieht die terminologische Gleichstellung mit einem nationalen Haftbefehl als nicht gerechtfertigt an (Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Böse [48. Lfg. 2019], Rb Europ. Haftbefehl Rn. 2). Nach Globke impliziere die Terminologie eine Zusammenarbeit „die derjenigen in einem Bundesstaat vergleichbar ist“ (Globke, GA 2011, 412 [414]); auch Schorkopf, Einführung, in: Schorkopf, Der Europäische Haftbefehl vor dem BVerfG (2006), S. XXIX stellt die Terminologie des klassischen Auslieferungsrechts der der Zusammenarbeit in einem einheitlichen Justizraum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts gegenüber. 303 OLG Stuttgart, Beschluss v. 07.09.2004 (3 Ausl. 80/04), NJW 2004, 3437 (3438) („Er [der EuHb] steht einem Auslieferungsersuchen gleich und ersetzt es.“); von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 9; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn.  15; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 25; Klimek, European Arrest Warrant (2015), S. 312; ders., Mutual Recognition (2017), S. 223 (jeweils: „[…] the material act is the same.“ [Herv. i. O.]); Seitz, NStZ 2004, 546; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 266; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 53; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 410. S. dazu auch unter Berücksichtigung der Rspr. des EuGH Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 9 m. w. N. („Europäischer Haftbefehl als Auslieferung plus“); Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 751 („Fahndungsinstrument“); ebenso BeckOK-StPO / Inhofer (35. Edition 2019), Art. 1 RB-EUHb Rn. 7; Böhm, NJW 2006, 2592 (2593); Rosenthal, ZRP 2006, 105. 304 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Böse (48. Lfg. 2019), Rb Europ. Haftbefehl Rn. 2. Der österreichische Gesetzgeber wiederum hat die Begriffsbestimmungen des RbEuHb in § 2 Nr. 3 und 7 des Bundesgesetzes über die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen mit den Mitgliedstaaten der EU (EU-JZG; BGBl. I Nr. 36/2004) übernommen. 305 So explizit auch BeckOK-StPO / Inhofer (35. Edition 2019), Art. 1 RB-EUHb Rn. 6; Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 641 (Haftbefehl nach §§ 112 ff. StPO als Grundlage eines EuHb); Seitz, NStZ 2004, 546 („[kein] neue[r] oder weitere[r] Haftbefehl, der in Deutschland neben die §§ 112 ff. StPO tritt“); s. auch von Heintschel-Heinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 5 f., 24 („Der EuHb ist die dem Inlandshaftbefehl nachfolgende Entscheidung zur Fahndung im Ausland mit dem Ziel einer Auslieferung.“); Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 28, zugleich s. aber auch dort Rn. 8, wonach „der Europäische Haftbefehl […] einem inländischen Haftbefehl unionsweite, dh extraterritoriale Wirkung zukommen [lasse]“; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 53; Böhm, NJW 2006, 2592 (2593) („ein auf nationaler Haftgrundlage beruhendes Fahndungsinstrument“); ders., NStZ 2017, 77 (82); ders., NStZ 2019, 256; so auch Rosenthal, ZRP 2006, 105; für eine nationale justizielle Entscheidung als Grundlage eines EuHb auch Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019),

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Ein Europäischer Haftbefehl stellt somit eine „justizielle Entscheidung [dar], die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt“ (Art. 1 Abs. 1 RbEuHb). Die entscheidende Veränderung im Auslieferungsverkehr unter den Mitgliedstaa­ ten der EU liegt in der Revision des Verfahrens begründet: Hier wird der Ansatz eines international-arbeitsteiligen Strafverfahrens nunmehr besonders deutlich,306 indem der Ausstellungsstaat dem Vollstreckungsstaat ein Ersuchen um Übergabe der betroffenen Person in Form eines Europäischen Haftbefehls übermittelt, den der Vollstreckungsstaat zu exekutieren hat, soweit dieser die Vollstreckung nicht abzulehnen hat oder verweigern darf. Hierbei wird die bislang vorherrschende zweistufige Verfahrensstruktur 307 und mit ihr die politische Bewilligungsentscheidung – jedenfalls nach dem Idealbild des RbEuHb – aufgegeben.308 Damit wird das auf den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gestützte Auslieferungsverfahren durch ein rein justizielles Verfahren ohne politische Bewilligungserwägungen ausgeformt.309

S. 46; a. A. Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 919, wonach auch ein „nationaler Haftbefehl“ als EuHb angesehen werden könne. Das hier zugrunde gelegte Ergebnis folgt nicht zuletzt aus Art. 8 Abs. 1 lit c) RbEuHb, der den Europäischen Haftbefehl von einem ihm zugrunde liegenden (nationalen) „Haftbefehl oder einer anderen vollstreckbaren justiziellen Entscheidung“ getrennt behandelt, s. dazu auch EuGH, Özçelik, Urteil v. 10.11.2016 (C-453/16 PPU; ECLI:EU:C:2016:860), Tz. 27; EuGH, Bob-Dogi, Urteil v. 01.06.2016 (C-241/15; ECLI:EU:C:2016:385), Tz. 58. 306 S. auch GA Yves Bot, Mantello, Schlussantrag v. 07.09.2010 (C-261/09; ECLI:EU:C:​ 2010:501), Slg. 2010, I-11480 (11500) („[…] ging der Gesetzgeber der Union zu Recht davon aus, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls Bestandteil der von der ausstellenden Justizbehörde eingeleiteten Strafverfolgung ist.“). Zum Charakter der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen als „international-arbeitsteiliges Strafverfahren“ s. bereits die Nachweise in Fn. 213. 307 S. dazu bereits Fn. 144 mit Haupttext. 308 Klimek, European Arrest Warrant (2015), S. 315; ders., Mutual Recognition (2017), S. 226; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 40 ff., der in diesem Zusammenhang die unbedingte Staatssouveränität im Auslieferungsverkehr innerhalb der EU als überholt ansieht (33). Zur deutschen Umsetzung, die neben einem Festhalten an der Bewilligungsentscheidung (§ 79 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 IRG) sogar noch eine Prüfungsebene vor der justiziellen Zulässigkeitsprüfung (§ 79 Abs. 2 S. 3 i. V. m. § 29 IRG) eingeführt hat, in der die Bewilligungsbehörde die beabsichtigte Geltendmachung von Bewilligungshindernissen zu Beginn des Verfahrens mitteilen muss (§ 79 Abs. 2 S. 1 i. V. m. § 83b IRG), was i. Erg. zu einem faktisch dreistufigen Verfahren führt Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 56; Ambos / König / ​ ­Rackow  / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 755 ff. (760). Rung geht weiterhin von einem zweistufigen Verfahren aus und differenziert zwischen der Entscheidung über die Vollstreckung des EuHb und der tatsächlichen Übergabe (Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation [2019], S. 47). S. auch bereits Fn. 301 mit Haupttext. 309 Vgl. auch Erwägungsgrund 6 des RbEuHb, der sich explizit zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung bekennt.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Neben dieser grundsätzlichen Vollstreckungspflicht enthält der RbEuHb eine nach Auffassung nicht zuletzt des EuGH abschließende 310 Aufzählung obligatorischer (Art. 3 RbEuHb) und fakultativer (Art. 4 RbEuHb) Vollstreckungsverweigerungsgründe.311 Der Gerichtshof stellt zur Begründung seiner Ansicht auf die Vollstreckungspflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb ab.312 Auch die Kommission hat sich i. R. d. Evaluierung der Umsetzung des RbEuHb kritisch zur Berücksichtigung ungeschriebener Vollstreckungsverweigerungsgründe geäußert.313 Das BVerfG akzeptiert zwar diese Interpretation eines abschließenden Katalogs an Vollstreckungsverweigerungsgründen, betont aber zugleich, dass „[d]iese Vorgaben […] deutsche Behörden und Gerichte jedoch nicht von der Verpflichtung [entbinden], auch bei einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die Grundsätze des Art. 1 Abs. 1 GG sicherzustellen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG).“314 Durch das Urteil im Fall Aranyosi und Căldăraru scheint sich jedoch eine Trendwende in der Rechtsprechung des EuGH abzuzeichnen: Hier hatte die Große Kammer erstmals entschieden, dass „unter 310

EuGH GK, Dorobantu, Urteil v. 15.10.2019 (C-128/18; ECLI:EU:C:2019:857), Tz.  48; EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 41; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 54; EuGH, AY, Urteil v. 25.07.2018 (C-268/17; ECLI:EU:C:2018:602), Tz. 33; EuGH, Popławski, Urteil v. 29.06.2017 (C-579/15;  ECLI:EU:C:2017:503), Tz. 19; EuGH, Jeremy F., Urteil v. 30.05.2013 (C-168/13 PPU;  ECLI:EU:C:2013:358), Tz. 36; EuGH, Radu, Urteil v. 29.01.2013 (C-396/11; ECLI:​ EU:C:2013:39), NJW 2013, 1145 (1147); EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1711); so auch C(2017) 6389 final v. 28.09.2017, S. 43; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Böse (48. Lfg. 2019), Rb Europ. Haftbefehl Rn. 5; Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 36; Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 78 f.; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 254; Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (858); Schäfer, JuS 2019, 856 (858); Böse sieht hierin eine bloße Klarstellung (Schwarze / Böse [2012], Art. 82 AEUV Rn. 16); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 200 f., wonach aufgrund des gegenseitigen Vertrauens eine Vermutung für die Übergabe spreche („presumption in favour of surrender“ [Herv. i. O.]); ebenso ders., European Arrest Warrant (2015), S. 150; van Ballegooij, The Nature of Mutual Recognition in European Law (2015), S. 279; Ouwerkerk, EuClR 7 (2017), 5 (16) („limited number of exceptions“). 311 Klimek differenziert insoweit zwischen vier Konstellationen: 1. mandatory non-execution, 2. optional non-execution, 3. decisions in absentia und 4. special situations (Klimek, European Arrest Warrant [2015], S. 150; Herv. i. O.). Zur Umsetzung der einzelnen Vollstreckungs­ verweigerungsgründe in den Mitgliedstaaten s. etwa die ausf. Darstellung bei Nicholls / Montgomery / Knowles, Law of Extradition and Mutual Assistance (2013), Chapter 15 Rn. 15.54 ff. S. in diesem Zusammenhang auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 14, die die Ausgestaltung fakultativer Verweigerungsgründe als obligatorische Ablehnungstatbestände im deutschen Recht als „klaren Verstoß gegen europäisches Recht“ bewerten. 312 S. statt vieler EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU;  ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1711); EuGH, Radu, Urteil v. 29.01.2013 (C-396/11; ECLI:EU:C:2013:39), NJW 2013, 1145 (1147). 313 KOM(2006) 8 endg. v. 24.01.2006, S. 6 („Im Übrigen ist die Einführung nicht im Rahmenbeschluss vorgesehener Gründe besorgniserregend.“). 314 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (353 ff., insbes. 355); bestätigt etwa in BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 32.

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‚außergewöhnlichen Umständen‘ Beschränkungen der Grundsätze der gegensei­ tigen Anerkennung und des gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten möglich sind“ und sich ein Grund zur Verweigerung der Vollstreckung eines europäischen Haftbefehls neben den geschriebenen Ablehnungsgründen des RbEuHb auch aus dem „absoluten Charakter des Art. 4 GRCh“ ergeben könne, wenn aufgrund der Haftbedingungen im ersuchten Staat eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu besorgen sei.315 Besondere Bedeutung erlangt die Entscheidung insofern, als dass die Große Kammer im Ergebnis sogar ausführt, dass der Vollstreckungsstaat, sollte im Zeitraum der Aufschiebung der Übergabe keine Verbesserung der Haftbedingungen eintreten, „darüber entscheiden [muss], ob das Übergabeverfahren zu beenden ist.“316 Damit war durch die Anerkennung einer faktischen Option zur Vollstreckungsverweigerung endgültig der Boden für einen grundrechtsorientierten ordre-public-Einwand gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb bereitet.317

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EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712 f.); ausdrücklich bestätigt in EuGH GK, Dorobantu, Urteil v. 15.10.2019 (C-128/18; ECLI:EU:C:2019:857), Tz. 49 f., 82 f.; EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 44; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 57. S. zum Urteil in der Sache Arany­ osi und Căldăraru auch Niblock, NJECL 7 (2016), 250 f., die in dem Urteil eine „important clarification of this difficult law“ und „a shift away from an overreliance on mutual trust, and towards a recognition of the reality of what remains a disparate union of 28 member states“ sieht, sowie Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54), der ausführt, dass der „new approach“ in der zitierten Entscheidung „could – if extended er even generalized – result in an important fundamental rights proviso, limiting the mutual recognition as to the EAW […].“ S. dazu auch Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (210 f.), der angesichts des „absolute character of the right not to be submitted to inhuman or degrading treatment“ davon ausgeht, dass „a judgment favouring mutual recognition would have created another wave of criticism.“ Für einen „zusätzlichen zwingenden Ablehnungsgrund“ sogar Schäfer, JuS 2019, 856 (858). Keine Kehrtwende sieht insoweit Swoboda, ZIS 2018, 276 (290), die das Urteil jedoch als „guten Willen des EuGH“ versteht. S. zur Erschütterung des gegenseitigen Vertrauens aufgrund zu besorgender menschenrechtlicher Verstöße auch Erwägungsgrund 10 RbEuHb sowie mit Bezug zum Asylverfahren bereits o. Fn. 280 und 285, jeweils mit Haupttext. 316 EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1713); s. diesbezüglich auch zum dreistufigen Verfahren (Aufschub, Enthaftung, Beendigung) Brodowski, JR 2016, 415 (430 f.); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (121 f.); Satzger, NStZ 2016, 514 (520), der betont, dass der Ansatz des EuGH zur bloßen Aufschiebung der Übergabe im Ergebnis wie die Ansicht des BVerfG zur Identitätskontrolle (dazu unten S. 189 ff.) zu dem Ergebnis gelange, dass der Betroffene zu entlassen sei. 317 Satzger, NStZ 2016, 514 (520); Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (237) („results in a de facto denial of execution“); Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (216) („de facto ground of refusal“ [Herv. i. O.]), der sich zugleich für eine Berücksichtigung sämtlicher in Art. 6 EUV niedergelegter Grundrechte i. R. d. Vollstreckungsentscheidung ausspricht (212 f.); so auch Böse, Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: Ruggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (139) („additional refusal ground“).

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Endgültig manifestiert hat sich dieses Bekenntnis zu möglichen Ausnahmen von der gegenseitigen Anerkennung sodann in zwei Entscheidungen des EuGH zur Überstellung aufgrund eines Europäischen Haftbefehls vom 25.07.2018.318 Unter Bezugnahme auf die grundsätzliche Möglichkeit der Vollstreckungsverweigerung wegen drohender Grundrechtsverletzungen im Fall Aranyosi und Căldăraru hat die Große Kammer nunmehr auch – eine konkrete Prüfung der Einzelfallumstände vorausgesetzt319 – eine etwaige Beeinträchtigung „des Grundrechts der betroffenen Person auf ein unabhängiges Gericht und damit ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren im Sinne des Art. 47 Abs. 2 der Charta“ als Anhaltspunkt für eine Verweigerung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls anerkannt.320 In den beiden Entscheidungen vom selben Tag heißt es dann auch jeweils gleichlautend, dass „der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens, namentlich in Bezug auf den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, von jedem Mitgliedstaat [verlangt], dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.“321 Explizit hat der EuGH in der Sache AY auch betont, dass „[d]ie vollstreckenden Justizbehörden […] die Vollstreckung eines solchen Haftbefehls – abgesehen von außergewöhnlichen Umständen – nur in den in diesem Rahmenbeschluss abschließend aufgezählten Fällen ablehnen können […].“322 Was nun das Übergabeverfahren in concreto anbelangt, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass der Einwand beiderseitiger Strafbarkeit bei Vorliegen einer der in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb aufgeführten Katalogtaten entfällt.323 Daneben regelt Art. 5 318 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586); EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589). Für eine Nachzeichnung der Entwicklung der Rspr. s. Satzger, EuClR 8 (2018), 317 (323 ff.). 319 Vgl. zur insoweit erforderlichen zweistufigen Prüfung (1. der generellen Haftbedingungen und 2. der konkreten Gefährdung des Betroffenen) nur Röß, EPL 25 (2019), 25 (31 m. w. N.); Wendel, EuR 2019, 111 (118). S. zum Erfordernis einer konkreten Gefährdung auch noch Fn. 1284–1286 mit Haupttext. 320 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU;  ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 47 ff. („Sollte sich die vollstreckende Justizbehörde […] nicht veranlasst sehen, das Bestehen einer echten Gefahr auszuschließen, dass die betroffene Person in diesem Mitgliedstaat eine Verletzung ihres Grundrechts auf ein unabhängiges Gericht erleidet und damit der Wesensgehalt ihres Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird, muss sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.“ [78]). S. dazu auch Wendel, EuR 2019, 111 (117), wonach hierin eine Verbindung zwischen Art. 47 Abs. 2 GRCh und dem in Art. 2 EUV verbürgten Rechtsstaatsprinzip zu sehen sei und jener diesen konkretisiere. 321 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 36; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 49; s. auch EuGH, AY, Urteil v. 25.07.2018 (C-268/17; ECLI:EU:C:2018:602), Tz. 33 (jeweils Herv. d. Verf.). 322 EuGH, AY, Urteil v. 25.07.2018 (C-268/17; ECLI:EU:C:2018:602), Tz. 33 (Herv. d. Verf.). 323 Diese entbehren freilich einer genauen Umschreibung und unterliegen zulasten einer einheitlichen Rechtsanwendung im Unionsraum der Subsumtion durch die mitgliedstaatlichen Justizbehörden. Zur Kritik s. etwa Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), RB-EuHb Rn. 2; Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 651 ff. (654); von Hein­tschelHeinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäi-

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe 

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RbEuHb die Möglichkeit einer bedingten Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls. Bis zur Änderung durch den Änderungsrahmenbeschluss 2009/299/JI vom 26.02.2009324 sah die Norm ursprünglich auch die Möglichkeit vor, die Übergabe einer in absentia verurteilten Person von einer Zusicherung der ausstellenden Justizbehörde abhängig zu machen, wonach der Betroffene im Ausstellungsstaat die Wiederaufnahme des Verfahrens beantragen und bei der Verhandlung anwesend sein konnte (Art. 5 Nr. 1 RbEuHb a. F.). Durch den genannten Änderungsrahmenbeschluss wurde diese Vorschrift gestrichen (Art. 2 Nr. 2 Rb 2009/299/JI) und die Konstellation der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf Grundlage eines Abwesenheitsurteils zu einem fakultativen Vollstreckungsverwei­ gerungsgrund aufgewertet (Art. 4a RbEuHb n. F.). Diese Entwicklung ist aus individualrechtlicher Perspektive zwar grundsätzlich zu begrüßen, weil die Natur als Vollstreckungsverweigerungsgrund – und sei es auch nur fakultativer Art – dem Vollstreckungsstaat nunmehr die Möglichkeit gibt, im Fall einer Abwesenheitsverurteilung die grundsätzliche Übergabepflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb in Gänze zu Fall zu bringen.325 Allerdings sieht Art. 4a RbEuHb n. F. in Abs. 1 lit. a)–d) eine Vielzahl von Sachverhaltskonstellationen vor, bei deren Vorliegen eine Vollstreckungsverweigerung wiederum ausscheidet, sodass der Individualschutz auf weiter Strecke durchbrochen ist.326 So sieht Art. 4a Abs. 1 RbEuHb n. F. vor, sches Strafrecht (2014), Rn. 50; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 50; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 33; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 951, jeweils m. w. N.; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/30. 324 S. zum Fundstellennachweis Fn. 297. 325 Vgl. auch Wahl, eucrim 2015, 70 (71) (von einer „etablierten ‚Zusicherungslösung‘“ abgelöst durch „ein ‚Regel-Ausnahme-Verhältnis‘“). S. auch zur Stärkung der Verfahrensrechte des Beschuldigten durch diese Aufwertung BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (357) unter Verweis auf Erwägungsgrund 11 des Rb 2009/299/JI des Rates v. 26.02.2009. 326 Krit. dazu Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Böse (48. Lfg. 2019), Rb Europ. Haftbefehl Rn. 7 m. w. N.; ders., Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (61) („Das entscheidende Manko des Rahmenbeschlusses liegt meines Erachtens darin, dass dieser nicht ein obligatorisches, sondern nur ein fakultatives Auslieferungs- bzw. Vollstreckungshindernis normiert.“); Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 668 („nicht unbedenkliche Entwicklung“); von Heintschel-Heinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 55; Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 52 m. w. N., der betont, dass Abwesenheitsverurteilungen dadurch zusätzliche Anerkennung verschafft würde, die Regelung aber dennoch zu akzeptieren sei, „weil und sofern der Unionsgesetzgeber den vom EGMR vorgezeichneten Mindeststandards der Verteidigungsrechte entsprochen hat.“ S. auch Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 144 f., wonach „Art. 4a RbEuHB dieses RegelAusnahme-Verhältnis um[kehrt]“ und der Änderung durch Rb 2009/299/JI eine „Harmonisierung der nationalen sehr unterschiedlichen Normierungen über die Zulässigkeit von Abwesenheitsurteilen und andererseits die Erhöhung der Anerkennung dieser im EuHB-Verfahren“ zugrunde liege; Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 122, die betont, dass einzelne Begriffe nicht hinreichend definiert worden seien.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls dann nicht verweigert werden darf, wenn der Betroffene „rechtzeitig persönlich vorgeladen wurde oder auf andere Weise tatsächlich von der Verhandlung Kenntnis erlangt hat“ (lit. a]), oder von einem selbst oder staatlicherseits bestellten Verteidiger „tatsächlich verteidigt worden ist“ (lit. b]). Die Vollstreckungsverweigerung ist ferner ausgeschlossen, wenn der Betroffene nach Zustellung des Abwesenheitsurteils, in dem dieser über sein Recht, ein Wiederaufnahme- oder Berufungsverfahren zu beantragen, belehrt worden ist, auf eine Anfechtung der Entscheidung bzw. einen Wiederaufnahmeantrag verzichtet (Abs. 1 lit. c]), oder gewährleistet ist, dass der Betroffene nach (!) Übergabe an den Ausstellungsstaat die Entscheidung samt Belehrung über die Möglichkeit, ein Berufungs- oder Wiederaufnahmeverfahren anzustrengen, „unverzüglich persönlich zugestellt erhalten wird“ (Abs. 1 lit. d]). Die einzelnen Ausnahmetatbestände belegen eine abgestufte Schutzintensität, die im Fall des Abs. 1 lit. d) am schwächsten ausgeprägt ist, ist doch hier gerade eine Garantie für die Zustellung der Entscheidung und Belehrung erst nach erfolgter Übergabe vorgesehen und wird diese damit nicht von Garantien abhängig gemacht, sondern gerade der umgekehrte Fall geregelt, indem nämlich die erfolgte Übergabe Voraussetzung einer Zurverfügungstellung der Entscheidung und Belehrung ist.327 Daneben ist die Vollstreckung gem. Art. 3 RbEuHb unter anderem zwingend abzulehnen, wenn die dem Ersuchen zugrunde liegende Tat einer Amnestie und der Strafgewalt des Vollstreckungsstaates unterfällt (Nr. 1) oder das Ersuchen eine Tat betrifft, wegen der der Betroffene bereits rechtskräftig durch einen anderen Mitgliedstaat abgeurteilt und die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder die Vollstreckung nicht mehr möglich ist (ne bis in idem; Nr. 2).328 Eine Pflicht zur Vollstreckungsverweigerung besteht überdies, wenn die betroffene Person nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht strafmündig ist (Nr. 3). Dem Vollstreckungsstaat ist in Art. 4 RbEuHb ferner die Vollstreckungsverweigerung erlaubt, wenn er wegen der im Haftbefehl aufgeführten Taten selbst die Strafverfolgung betreibt (Nr. 2), keine Strafverfolgung betreiben will, das Verfahren eingestellt hat oder wenn die Verfolgung durch eine rechtskräftige Entscheidung in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschlossen ist (Nr. 3). Die 327 S. für eine Bewertung als umfassenden Anspruch auf ein Wiederaufnahme- resp. Berufungsverfahren BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (357); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 53. 328 Insoweit ist den nationalen Behörden über die Vollstreckung eines EuHb hinaus jede Verfolgungstätigkeit untersagt, s. Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 660 f.; BeckOK-StPO / Inhofer (35. Edition 2019), Art. 3 Rb-EUHb Rn. 5. Die Regelung ist zudem identisch mit Art. 54 SDÜ (EuGH GK, Mantello, Urteil v. 16.11.2010 [C-261/09; ECLI:EU:C:2010:683], Slg. 2010, I-11509 [11530]; vgl. auch Rohlff, Der Europäische Haftbefehl [2003], S. 120 f.); dazu auch Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 131 ff., der gegen einen identischen Regelungsgehalt wenig überzeugend einwendet, dass es im Fall der Übereinstimmung des Art. 3 Nr. 2 RbEuHb nicht bedurft hätte, sich aber gleichwohl für eine analoge Anwendung der Anwendungsvoraussetzungen im Verhältnis zu Art. 54 SDÜ ausspricht (131 f.).

D. Von der klassischen Auslieferung zur haftbefehlsbasierten Übergabe 

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fakul­tative Verweigerung ist auch vorgesehen, wenn sich der Vollstreckungsstaat nach seinem nationalen Recht auf eingetretene Verjährung berufen kann, voraus­ gesetzt, dass die Tat seiner Strafgewalt unterliegt (Nr. 4). Die Vollstreckungsverweigerung ist ferner gestattet, wenn die dem Haftbefehl zugrunde liegende Tat bereits Gegenstand einer rechtskräftigen Aburteilung in einem Dritt-, mithin keinem EU-Mitgliedstaat war und auch insoweit bereits die Vollstreckung be­endet ist, noch andauert oder unmöglich ist (Nr. 5)329 oder der Betroffene Staatsangehöriger des Vollstreckungsstaates ist oder dort seinen Wohnsitz führt und sich der Vollstreckungsstaat verpflichtet, die ersuchte Vollstreckung einer Strafe oder Maß­regel der Sicherung zu übernehmen (Nr. 6).330 Zuletzt kann die Vollstreckung gem. Art. 5 RbEuHb unter zweierlei Bedingungen erfolgen:331 Die Übergabe kann bei angedrohter lebenslanger Freiheitsstrafe oder Maßregel der Sicherung unter dem Vorbehalt erfolgen, dass die Sanktion nach dem Recht des Ausstellungsstaates auf Antrag des Betroffenen einer Überprüfung nach spätestens 20 Jahren oder Begnadigung zugänglich ist (Nr. 2). Die Überstellung zur Strafverfolgung kann schließlich in Fällen, in denen der Betroffene die Staatsangehörigkeit des Vollstreckungsstaates oder dort seinen Wohnsitz hat, an die Bedingung der Rücküberstellung zur Straf- oder Maßregelvollstreckung geknüpft werden (Nr. 3). Im Ergebnis belegen diese Faktoren, dass der Europäische Haftbefehl keinem „Umsetzungsautomatismus“ folgt.332 329

Damit wird dem ne bis in idem-Grundsatz sogar über die Unionsgrenzen hinaus zur Geltung verholfen, s. Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 121. 330 Eine Verweigerung der Vollstreckung gem. Art. 4 Nr. 6 RbEuHb verlangt nach der Rspr. des EuGH allerdings, dass die Vollstreckung (des EuHb) im Vollstreckungsstaat hinreichend gesichert ist und ist ausgeschlossen, soweit die Ablehnung mit der Begründung erfolgt, dass der Vollstreckungsstaat eigene Ermittlungen wegen der dem EuHb zugrunde liegenden Tat aufnehmen will, s. EuGH, Popławski, Urteil v. 29.06.2017 (C-579/15; ECLI:​EU:C:2017:503), Tz. 21 ff., 45 ff. 331 Heger und Wolter sehen hierin der Sache nach „umgekehrt formulierte fakultative Verweigerungsgründe“ (Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter [2015], 2. Hauptteil Rn. 672); s. auch Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 125 („Garantievorschriften“). 332 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27; Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54); Vogel, JZ 2001, 937 (940 f.) („Kurzschlüssig ist schließlich die Übertragung des Herkunftsstaatsprinzips auf die Auslieferung.“); Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 128; s. auch EuGH, Leymann und Pustovarov, Urteil v. 01.12.2008 (C-388/08 PPU; ECLI:​ EU:C:2008:669), Slg. 2008, I-8987 (9004); EuGH GK, Mantello, Urteil v. 16.11.2010 (C-261/09; ECLI:EU:C:2010:683), Slg. 2010, I-11509 (11529) (jeweils: „grundsätzlich verpflichtet, einen Europäischen Haftbefehl zu vollstrecken“); Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 7, wonach auf Grundlage einer Anerkennungsprüfung eine Exequaturentscheidung ergehe, die ihrerseits der Vollstreckung unterliege; Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 34, 200; ders., European Arrest Warrant (2015), S. 150 m. w. N. zur Rspr. des EuGH; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 27; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 9 mit Fn. 46; Grützner / Pötz / K reß / ​ Gazeas / Böse (48. Lfg. 2019), Rb Europ. Haftbefehl Rn. 2 („Der RbEuHb stellt vielmehr einen ersten Zwischenschritt bei der Umsetzung dieses Prinzips [der vorbehaltlosen Vollstreckung von Übergabeersuchen] dar.“); so auch Niggli / Heimgartner / Heimgartner / Niggli (2015), Einführung Rn. 57.

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Kap. 1: Der internationale Rechtshilfeverkehr in Strafsachen 

Soweit in der Pflicht resp. Möglichkeit der Vollstreckungsverweigerung Auswirkungen auf das gegenseitige Vertrauen gesehen werden,333 ist eine differenzierende Behandlung geboten: Eine Pflicht zur Vollstreckungsverweigerung trägt zur Rechtssicherheit und in der Konsequenz der Konturierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung bei.334 Denn wenn dem Vollstreckungsstaat die Übergabe des Betroffenen bereits „kraft Rahmenbeschlusses“ verwehrt ist, stärkt dies e contrario die gegenseitige Anerkennung in Bezug auf Entscheidungen, die nicht von einem obligatorischen Verweigerungsgrund in der Vollstreckung gesperrt sind und die der Vollstreckungsstaat damit gerade anzuerkennen hat. Im Hinblick auf fakultative Verweigerungsgründe sowie der Option, die Übergabe an Bedingungen zu knüpfen, ergibt sich wiederum eine andere Bewertung: Sie eröffnen gerade kraft ihrer immanenten Freistellung einen zur Effektivierung der gegenseitigen Anerkennung in Widerspruch stehenden Ermessensspielraum.335 Insoweit hätte im Interesse der gegenseitigen Anerkennung auf die Möglichkeit (im wörtlichen Sinne) der Vollstreckungsverweigerung oder der bedingten Übergabe verzichtet werden sollen. Stattdessen hätten im individualschützenden Interesse – wie im Fall der Abwesenheitsverurteilung – bestehende fakultative Vollstreckungsverweigerungsgründe zu obligatorischen aufgewertet werden sollen.

333 Ambos zufolge implizierten die Ablehnungsgründe „eine Relativierung des dem Projekt zugrundeliegenden Anspruchs gegenseitigen Vertrauens zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen“ (Ambos, Internationales Strafrecht [2018], § 12 Rn. 52). Vgl. auch Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 78 f., wonach Vollstreckungsverweigerungsgründe durch die Natur der gegenseitigen Anerkennung bedingt seien. 334 Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54) („Limitations and grounds for refusal thus do not constitute exceptions to mutual recognition but characterize the concrete form and degree of mutual recognition.“). 335 S. auch Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 79, die betont, dass es dem nationalen Gesetzgeber freistehe, fakultative Vollstreckungsverweigerungsgründe umzusetzen.

Kapitel 2

Der ordre-public-Vorbehalt Während ich in den vorangegangenen Kapiteln die einzelnen „bestehenden“ Auslieferungs- resp. Übergabehindernisse in den Blick genommen habe, widme ich mich im Folgenden der Kernfrage meiner Untersuchung: Kann darüber hinaus ein ordre-public-Einwand einem Ersuchen um Auslieferung resp. der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entgegengehalten werden, und wenn ja, welche inhaltlichen und prozessualen Folgefragen schließen sich daran an? Im deutschen Rechtshilferecht ist ein ordre-public-Vorbehalt zunächst in § 73 IRG geregelt.336 Demnach ist die „Leistung von Rechtshilfe […] unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde“ (S. 1). Über diese allgemeine Vorbehaltsklausel hinaus greift S. 2 – eingefügt durch Art. 1 Nr. 5 des EuHbG vom 20.07.2006337 – auf einen sogenannten338 „europäischen“ ordre public zurück,339 wonach die Leistung der Rechtshilfe „[b]ei Ersuchen nach dem Ach 336 S. zur Entstehungsgeschichte der Norm, die im Gesetzesentwurf der Bundesregierung noch als § 72 IRG vorgesehen war, Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 1; ausf. auch Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 154 f., die u. a. darauf hinweist, dass eine Art. 2 lit. b) EuRhÜbk entsprechende Formulierung (ausf. zur Einordnung der Norm noch Fn. 1447 mit Haupttext) abgelehnt wurde (s. dort Fn. 321). Eine entspr. Regelung enthielt das DAG nicht (BT-Drs. 9/1338, S. 93). Zur österreichischen Rechtslage s. Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 167 ff. 337 BGBl. 2006 I, 1721. Die Ergänzung des § 73 IRG um diesen S. 2 war bzgl. des EuHb bereits in Art. 1 Nr. 3 des ersten – vom BVerfG für nichtig erklärten (BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 [2 BvR 2236/04], BVerfGE 113, 273 [304 ff.]) – EuHbG I v. 21.07.2004 (BGBl. 2004 I, 1748) enthalten; s. dazu Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 131 m. w. N. zu entspr. Regelungen in weiteren EU-Mitgliedstaaten in Rn. 138 mit Fn. 103. 338 Die Terminologie ist insoweit ungenau und wird im weiteren Verlauf der Untersuchung genauer behandelt. 339 S. etwa BR-Drs. 70/06, S. 31; BR-Drs. 16/1024, S. 14; BT-Drs. 16/544, S. 35; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 37; Böse, Legitimität des europäischen Kooperationsrechts, in: Tiedemann et al., GS  Vogel (2016), S. 211 (213); von Heintschel-Heinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-­ Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 56; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 29 mit Fn. 250 und Rn. 30 mit Fn. 257; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 210 f., der den Widerspruch der Norm mit der Rspr. des EuGH betont; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren (2010), S. 202; s. auch krit. unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit Böhm, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Europäisches Haftbefehlsgesetz – EuHbG) anlässlich der Sachverständigenanhörung beim Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages am 05.04.2006 in Berlin (28.03.2006), S. 10.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

ten, Neunten und Zehnten Teil340 […] unzulässig [ist], wenn die Erledigung zu den in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stünde.“ Nur am Rande sei hierbei – wie etwa von Vogel zutreffend vorgebracht341 – angemerkt, dass die Anwendung des § 73 IRG i. R. d. Rechtshilfeverkehrs mit anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union („Ersuchen nach dem Achten, Neunten und Zehnten Teil“) eines Rückgriffs auf § 78 Abs. 1 IRG bedarf. Dieser ordnet zwar in Abs. 2 den Vorrang des Achten Teils an, wozu § 73 IRG gerade nicht zählt. § 78 Abs. 1 IRG sieht insoweit aber die subsidiäre Anwendung der „übrigen Bestimmungen dieses Gesetzes auf den Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr mit den Mitgliedstaaten der Europäischen Union“ vor. Um auf die Frage, inwieweit ein ordre-public-Einwand als Auslieferungshindernis Bestand haben kann, eine Antwort zu finden, bedarf es zunächst einer allgemeingültigen Begriffsdarstellung, um die Wesensmerkmale des ordre public aufzuzeigen. Im Anschluss soll anhand der dort herausgearbeiteten allgemeingültigen Aussagen der Frage nachgegangen werden, ob, und wenn ja, in welcher Form ein ordre public i. R. d. Rechts der Europäischen Union – unter besonderer Berücksichtigung der ihr eigenen Struktur als Staatenverbund342 – wirken kann. Abschließend wird sodann untersucht, ob für eine ordre-public-basierte Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls resp. Auslieferung neben den sekundär- bzw. vertraglich vorgesehenen Verweigerungsgründen Raum ist.

A. Begriff des ordre public I. Vorbemerkungen Der Begriff des nationalen ordre public (franz.: öffentliche Ordnung) betrifft diejenige Konstellation, in der sich eine nationale Vorbehaltsklausel gegenüber einer grundsätzlich vorrangigen Anwendung ausländischen Rechts durchsetzt.343 340

Gemeint sind damit der Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr (Achter Teil, §§ 78– 83i IRG), der Vollstreckungshilfeverkehr (Neunter Teil, §§ 84–90z IRG) sowie der sonstige Rechtshilfeverkehr (Zehnter Teil, §§ 91–97 IRG) mit den Mitgliedstaaten der EU. Die Erweiterung über den Anwendungsbereich des EuHb hinaus beruht auf einer Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages (BT-Drs. 16/2015, S. 12). 341 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 136, der in der Konsequenz zutr. die systematisch nicht überzeugende Einordnung der Norm herausstellt; so auch Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 211. 342 S. dazu bereits die Nachweise in Fn. 23. 343 BT-Drs. 10/504, S. 42 (zur Neuregelung des IPR); Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 6; s. auch von Hoffmann / T horn, Internationales Privatrecht (2007), § 6 Rn. 136; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 453 („[…] einen unantastbaren Bereich der eigenen Rechtsordnung, den preiszugeben keine Rechtsordnung bereit ist; […]“ [Herv. i. O.]); anschaulich auch Kahn, JherJb 39 (1898), 1 (6) („[…] ein Wort von ihm [dem ordre public]

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Die Rechtsfigur eines ordre-public-Vorbehalts ist in erster Linie mit dem Bereich des internationalen Privatrechts verbunden, kann jedoch ebenso in andere Rechtsbereiche mit internationalem Bezug übertragen werden,344 handelt es sich doch hierbei um ein Wesensmerkmal sämtlicher Rechtsgebiete mit grenzüberschreitenden Bezügen. Um zunächst die wesentlichen allgemeingültigen Aussagen bezüglich eines ordre-public-Vorbehalts herauszuarbeiten, ist jedoch eine Betrachtung an Hand des Internationalen Privatrechts erforderlich,345 dies nicht zuletzt deshalb, weil dem Straf(verfahrens)recht aufgrund des ihm eigenen Verbots der Fremdrechtsanwendung eine dem ordre-public-Vorbehalt wesensimmanente Kollision zweier Rechtsordnungen im Grundsatz unbekannt ist.346 Zur Voraussetzung ist zunächst zu nennen, dass eine anzuwendende fremd­ staatliche Rechtsvorschrift zwar im konkreten Anwendungsfall das nationale Recht im Grundsatz verdrängt, jedoch insoweit zu einem mit letzterem unvereinbaren Ergebnis führen würde. Um in diesen Konstellationen das grundlegende Fundament einer nationalen Rechtsordnung zu wahren, existieren in den meisten Rechts­ ordnungen347 explizit normierte oder seitens der Judikatur etablierte 348 „Bastionen“,349 genügt, die scheinbar festest gegründete Kollisionsnorm zu kürzen, einer noch so allgemein verworfenen zum Siege zu verhelfen.“). 344 Vgl. Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 393. 345 S. für eine Anlehnung des § 73 IRG an Art. 6 EGBGB auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 2. 346 S. auch Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 206 m. w. N. („Der eigent­ liche Grund dafür, daß sich die Frage der Berufung auf den landesrechtlichen ‚ordre public‘, wie der Begriff im internationalen Privatrecht verwendet wird, im Auslieferungsrecht nicht stellt, trifft sowohl auf den vertraglichen wie den vertragslosen Auslieferungsverkehr zu: ‚Bei der Rechtshilfe handelt es sich um internationales öffentliches Recht und fremdes Recht ist dabei nicht anzuwenden.‘“); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 26. 347 S. auch Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665 („eine allen Rechtsordnungen unentbehrliche Einrichtung“); ebenso Palandt / T horn (2020), Art. 6 EGBGB Rn. 1; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 258; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 453; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 7 mit einem Überblick über den ordre public im Bereich des IPR in anderen Rechtsordnungen (Rn. 219 ff.); für einen Rechtsvergleich s. insoweit auch BeckOK-­ EGBGB / Stürner (Stand:  01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 32 ff. Im common law wird der Begriff „public policy“ verwendet, s. Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 1; van Houtte, From a National to a European Public Policy, in: Nafziger / ​ Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 841 f. mit Ausführungen zum histor. Hintergrund des Begriffs ordre public im Code Napoleon; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 363; Schütz, Der internationale ordre public (1984), S. 6 ff.; Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 7. 348 BT-Drs. 10/504, S. 42 f. mit Nachweisen zu Normen und Gesetzesentwürfen in anderen Rechtsordnungen. 349 Basedow, Die Verselbstständigung des europäischen ordre public, in: Coester / Martiny / ​ Prinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 291 (298). S. auch von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 258 („Überdruckventil“); so auch Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 1; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 370 („Notventil“); ebenso Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 246; Alvarez de Pfeifle, Der ordre public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklä-

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um in Extremfällen eine Anwendung des ausländischen Rechts zu blockieren und sich für Ausnahmefälle eine Verweigerung der vorrangigen Anwendung ausländischen Rechts vorzubehalten (Vorbehaltsklausel). Als Ausgangspunkt des hiesigen Verständnisses kann zunächst auf das Beispiel des Art. 6 S. 1 EGBGB und dessen Wortlaut verwiesen werden, wonach „eine Rechtsnorm eines anderen Staates […] nicht anzuwenden [ist], wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist.“ Rechtsfolge eines solchen ordre-public-Einwands ist zunächst die Unzulässigkeit der Anwendung des ausländischen Rechtssatzes, der damit keinerlei Rechtswirkungen entfalten kann.350 Im Ergebnis stellt abstrakt gesprochen der ordre public also einen ergebnisorientierten Korrekturansatz dar, der die Geltung bestimmter normativer Wertungen351 einer Rechtsordnung gegenüber eines grundsätzlich verbindlichen (!) Anwendungsvorrangs einer fremden Rechtsordnung aufrechterhält.352

II. Beschränkung auf die Korrektur unerträglicher Ergebnisse durch die Abwehr ordre-public-widriger Rechtssätze Wenn in diesem Zusammenhang von der Voraussetzung eines mit nationalem Recht unvereinbaren Ergebnisses gesprochen wird, führt dies zu der weiteren Feststellung, dass eine ordre-public-Klausel nicht jedes unerwünschte Ergebnis zu verhindern geeignet ist.353 Eine solche Abwehrklausel ist schon ihrer Natur nach auf rung (2009), S. 130; Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Zimmermann (2020), § 73 IRG Rn. 2 („Notanker“); ebenso Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 4; van Houtte, From a National to a European Public Policy, in: Nafziger / Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 851 („‚catch all‘“); für eine Übersicht über weitere in der Lit. verwendete Metaphern BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 2. 350 BT-Drs. 10/504, S. 43; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 376; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134; Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665 f.; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 31; Palandt / T horn (2020), Art. 6 EGBGB Rn. 13; NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 10; BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 278; Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 254; von Hoffmann / T horn, Internationales Privatrecht (2007), § 6 Rn. 154; BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 17, der zudem betont, dass die Nichtanwendung unter dem Kriterium der Erforderlichkeit stehe („Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs“) (Herv. i. O.). 351 S. zum Verständnis des ordre public als Instrument zur Durchsetzung von Wertentschei­ dungen auch Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 364; BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 2, 7; van Houtte, From a National to a European Public P ­ olicy, in: Nafziger / Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 841 (845); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (109 f.). 352 BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 2; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 1. 353 BGH, Beschluss v. 17.09.1968 (IV  ZB  501/68), BGHZ  50, 370 (375); Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134; Möllers, Ordre public, in: Möllers, Wörterbuch der Polizei (2010), S. 1615 („unantastbarer Kern“); BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand:  01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 9; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht

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extreme Ausnahmefälle begrenzt,354 ist die einem ordre-public-Einwand zugrunde liegende Regelkonstellation doch gerade die Fremdrechtsanwendung und deren Durchbrechung eine Anomalie und darf jener Grundsatz nicht durch eine extensive Interpretation einer Vorbehaltsklausel ausgehebelt werden.355 Es gilt insoweit der Grundsatz der „möglichst weitgehenden Schonung des fremden Rechts,“ um „den alsbaldigen Rückgriff auf das deutsche Recht nicht für jeden Fall eines Verstoßes vorzuschreiben.“356 Eine allgemeine Definition scheint angesichts der zahlreichen denkbaren Fallgestaltungen schwierig. Vorzugswürdig ist daher mit dem deutschen Gesetzgeber das Abstellen auf eine einzelfallorientierte Betrachtungsweise.357 (2003), § 7 Rn. 259; von Brunn, NJW 1962, 985 (986) („besonders qualifiziertes zwingendes Recht“); zur Anwendung ausländischen Strafrechts auch Staubach, Die Anwendung ausländischen Strafrechts (1964), S. 164 („unzumutbar“). S. aber die unglückliche Formulierung bei Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 2 („Abwehr anstößigen ausländischen Rechts“). 354 Vgl. BT-Drs. 10/504, S. 43 („offensichtlich [manifestly, manifestement]“); BGH, Urteil v. 21.04.1998 (XI  ZR  377/97), BGHZ  138, 331 (334 f.); BGH, Beschluss v. 16.09.1993 (IX ZB 82/90), BGHZ 123, 268 (270); BGH, Urteil v. 04.06.1992 (IX ZR 149/91), BGHZ 118, 312 (330); BGH, Beschluss v. 17.09.1968 (IV ZB 501/68), BGHZ 50, 370 (375 f.) (jeweils: „untragbar“); van Houtte, From a National to a European Public Policy, in: Nafziger / Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 841 (842); BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 14; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 17; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 465; Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 1 („exceptional in its nature“); Möllers, Ordre public, in: Möllers, Wörterbuch der Polizei (2010), S. 1615; Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134 f.; Palandt / T horn (2020), Art. 6 EGBGB Rn. 4; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 20; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 259; Hüßtege / Ganz, Internationales Privatrecht (2013), S. 31; Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht (1989), S. 74 unter Verweis auf den IPR-Gesetzentwurf; Roth, NJW 1967, 134 (135), der zugleich betont, dass der ordre public sich damit nur auf „besonders qualifizierte Teile der Rechtsordnung“ beschränken könne; noch zu weitgehend RG, Urteil v. 21.03.1905 (II 387/04), RGZ 60, 296 (300) („[…] so erheblich […], daß die Anwendung des ausländischen Rechts direkt die Grundlagen des deutschen staatlichen und wirtschaftlichen Lebens angreifen würde.“); bestätigt in RG, Urteil v. 14.12.1927 (I 144/27), RGZ 119, 259 (263); RG, Urteil v. 26.10.1932 (IX 304/32), RGZ 138, 214 (216); ebenso fortgeführt etwa in BGH, Urteil v. 15.11.1956 (VII ZR 249/56), BGHZ 22, 162 (167); so auch Thomas / P utzo / Hüßtege (2019), § 328 Rn. 16; von Brunn, NJW 1962, 985 (986); vgl. im Zusammenhang zur Anwendung ausländischen Strafrechts auch Staubach, Die Anwendung ausländischen Strafrechts (1964), S. 163 f. 355 So auch Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 375; Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 247 (jeweils: „Die Handhabung des ordre public ist […] von verlockender Einfachheit.“); für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen explizit auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 17. 356 BT-Drs. 10/504, S. 44; s. auch BGH, Beschluss v. 17.09.1968 (IV ZB 501/68), BGHZ 50, 370 (375) („ausländisches Recht grundsätzlich zu respektieren“); Roth, NJW 1967, 134 (135) („größtmögliche Toleranz“). 357 BT-Drs. 9/1338, S. 93 („Da eine derartige Festlegung auf bestimmte Abwägungskriterien im Bereich der Rechtshilfe – insbesondere wegen der Vielfalt und des grenzüberschreitenden Charakters der zu regelnden Sachverhalte – nicht durchführbar erscheint, verzichtet der Entwurf auf eine Ausformulierung.“); BT-Drs. 10/504, S. 43; s. auch Grunsky, Ordre public, in:

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Mit dem Kriterium einer ergebnisorientierten Korrektur im Ausnahmefall sind damit zwei weitere wesentliche Merkmale einer Vorbehaltsklausel verbunden: Einerseits äußert sich darin die Abgrenzung zu einer reinen abstrakten Normenkontrolle.358 Eine umfassende Prüfung des ausländischen Rechtssatzes ohne Bezug zur Einzelfallanwendung findet insoweit nicht statt.359 Schließlich geht es allein um die Vermeidung von mit wesentlichen Grundsätzen der Rechtsordnung des den ordre-public-Einwand erhebenden Staates unvereinbaren Einwirkungen, die erst im Wege einer einzelfallabhängigen Subsumtion zu Tage treten und damit eine Vereinbarkeitsbewertung des Gesamtergebnisses erfordern. Andererseits verlangt die Feststellung einer solchen Unvereinbarkeit die Wertung anhand aktueller recht-

Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134; Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 666; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 19, 135; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 370; BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 1; BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 31, der jedoch zu bedenken gibt, dass eine solche Anwendungspraxis zulasten einer einheitlichen Rechtsanwendung im europäischen Rechtsraum gehe; einen „eigene[n] geringe[n] normative[n] Gehalt“ sieht auch Basedow, Die Verselbstständigung des europäischen ordre public, in: ­Coester / Martiny / P rinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 291 (292). 358 So auch BGH, Urteil v. 06.10.2004 (XII  ZR  225/01), BGHZ  160, 332 (344); BGH, Urteil v. 04.06.1992 (IX  ZR  149/91), BGHZ  118, 312 (331); BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 278; NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 3; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 23; BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 10 m. w. N. und Bsp. aus der zivilrechtlichen Rspr.; Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 117; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 265; Spickhoff, Der ordre public im internationalen Privatrecht (1989), S. 79; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 367; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 396; vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (75). 359 BT-Drs. 10/504, S. 43. Für Nachweise aus der Rspr. s. etwa BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (75) („[…] Feststellung, daß ihre konkrete Anwendung sich in einem bestimmten Punkt mit unserer Verfassungsordnung nicht verträgt.“); RG, Urteil v. 17.02.1936 (IV 265/35), RGZ 150, 283 (286 f.) („Entscheidend ist nicht der Inhalt des ausländischen Gesetzes, sondern dessen Anwendung auf den einzelnen Fall […].“); BGH, Urteil v. 15.11.1956 (VII ZR 249/56), BGHZ 22, 162 (163); BGH, Urteil v. 30.06.1961 (I ZR 39/60), BGHZ 35, 329 (337); BGH, Urteil v. 17.01.1966 (VII ZR 54/64), NJW 1966, 730. S. auch Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 117, 138, 185; BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 10; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 462; Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 245; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 265 f., die betonen, dass dem dt. Gesetzgeber insoweit keine Aufhebungskompetenz zustehe; von Hoffmann / T horn, Internationales Privatrecht (2007), § 6 Rn. 150; Hüßtege / Ganz, Internationales Privatrecht (2013), S. 32 („entscheidungserheblich“); Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 367; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134; diff. Roth, NJW 1967, 134 (137 ff.), der weitergehend zwischen einer konkreten und abstrakten Rechtsfolge einerseits und einer unmittelbaren Rechtsfolge und einem Endergebnis andererseits unterscheidet und als Gegenstand einer ordre-public-Prüfung den „individualisierte[n] und konkretisierte[n] ausländische[n] Rechtssatz“ ansieht (139); ähnl. NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 3 f., der nicht auf das Ergebnis der Fremdrechtsanwendung, sondern „die darin zum Ausdruck kommenden Wertvorstellungen“ abstellen will.

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licher Vorgaben. Der ordre-public-Einwand unterliegt damit wie die ihn tragenden rechtlichen Wertvorstellungen einer sich stetig wandelnden Anschauung.360 Ihm ist ein dynamischer Charakter eigen, woraus weiterhin folgt, dass einer Beurteilung die Wertvorstellungen zum Zeitpunkt der Entscheidung zugrunde zu legen sind.361 Außerdem wird vereinzelt angeführt, dass dem ordre-public-Einwand neben dieser negativen Abwehrfunktion eine positive Wirkung dergestalt zukomme, dass über eine bloße Geltungsverweigerung hinaus auch eine aktive Durchsetzungswirkung dahingehend eintrete, dass sich das durch den ordre public geschützte nationale Recht unbedingt gegenüber dem anwendbaren Recht durchsetze.362 Eine

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BGH, Urteil v. 11.10.2006 (XII ZR 79/04), BGHZ 169, 240 (251); Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 2, 147 f.; ­BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand:  01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 271, der in diesem Zusammenhang zutr. die Möglichkeit einer Erweiterung oder Verengung des ordre public betont; ­BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 14; NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 7; Wiezcorek / Schütze / Schütze (2015), § 328 Rn. 61 („Chamäleon mit ständig sich wechselnder Form“); Popp, Grundzüge (2001), Rn. 395. Vgl. auch unter besonderer Berücksichtigung der Angleichung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der EU bereits von Brunn, NJW 1962, 985 (986), wonach „wahrscheinlich stets ein Unterschied der in den einzelnen Staaten bestehenden Rechtsordnungen vorhanden“ bleiben werde. 361 BGH, Urteil v. 21.04.1998 (XI ZR 377/97), BGHZ 138, 331 (335); BGH, Urteil v. 09.01.1969 (VII  ZR  133/66), BGHZ  51, 290 (293); Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 471 f. unter Verweis auf den Begriff der „öffentlichen Ordnung“ im Polizei­recht und C. K. Allen zitierend („‚Public policy is the policy of the day.‘“ [Herv. i.  O.]); ­­BeckOK-E ​ GBGB  / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 274; Palandt / T horn (2020), Art. 6 EGBGB Rn. 4; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 144 m. w. N.; ­BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 14; NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 7; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 268; von Brunn, NJW 1962, 985 (987); Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 666; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134. 362 S. weiterführend dazu Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 4; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3134; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 8 ff.; Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 2 verweist auf die Metapher Hays, wonach der ordre public einerseits als Schild (negative Funktion), andererseits als Schwert (positive Funktion) zu begreifen sei; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 364 ff.; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 2; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 453 ff.; Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 244 f.; von Hoffmann / T horn, Internationales Privatrecht (2007), § 6 Rn. 142 f.; gegen eine positive Wirkung etwa Roth, NJW 1967, 134 (135); krit. auch Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665, wonach es „kaum ein inländisches Gesetz mit exklusiver Wirkung auch gegenüber allen Auslandssach­ verhalten“ gebe. S. auch zur zwingenden Anwendung nationalen, eine EU-Richtlinie umsetzenden Rechts aufgrund deren zwingenden Inhalts trotz anderweitiger Parteivereinbarung Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 19 unter Verweis auf EuGH, Ingmar GB Ltd., Urteil v. 09.11.2000 (C-381/98; ECLI:EU:C:2000:605), Slg. 2000, I-9325. S. in diesem Zusammenhang auch Art. 34 EGGBG a. F.: „Dieser Unterabschnitt berührt nicht die Anwendung der Bestimmungen des deutschen Rechts, die ohne Rücksicht auf das auf den Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln.“ Die Vorschrift wurde durch

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

solche etwaige weitergehende Ausprägung muss hier allerdings nicht weiter verfolgt werden, geht es doch in dieser Untersuchung allein um die Frage, inwieweit ein etwaiger ordre-public-Vorbehalt als Auslieferungs- resp. Rechtshilfehindernis geltend gemacht werden kann. Diese Fragestellung betrifft damit allein die abwehrende Wirkung des nationalen oder umgesetzten Völker- resp. Unionsrechts363 seitens des ersuchten oder Vollstreckungsstaates gegenüber der Einwirkung auf seine Rechtsordnung in Form vertrags- oder unionsrechtlicher Auslieferungsresp. Rechtshilfepflichten. Zudem vermag diese Unterscheidung für den Bereich des internationalen Rechtshilferechts in Strafsachen keine für das internationale Privatrecht vergleichbare relevante Bedeutung zukommen. Denn es geht bei diesem um die Frage, welche nationale Rechtsordnung auf einen privatrechtlichen Sachverhalt mit grenzüberschreitendem Bezug Anwendung findet364 und damit im Ergebnis um die normative Regulierung einer Kollision gleichrangiger nationaler Rechtsordnungen.365 Jenem liegt jedoch die Regulierung durch internationale Verträge oder supranationale Rechtsakte zugrunde, denen gegenüber sich das (verdrängte) nationale Rechtshilferecht grundsätzlich nicht mehr durchzusetzen vermag (vgl. § 1 Abs. 3 IRG). Welches Recht an die Stelle des abgewehrten vertraglich oder sekundärrechtlich geregelten Auslieferungsrechts treten würde, ist nicht eine unmittelbare Frage des ordre-public-Vorbehalts, der sich eben darauf beschränkt, die Geltung eines in der Anwendung grundsätzlich vorrangigen Rechtssatzes abzuwehren.366 Außerdem bleibt zu betonen, dass in Fällen, in denen eine ordre-­publicgestützte Auslieferungs- resp. Rechtshilfeverweigerung zu einer Durchsetzung desjenigen grundsätzlich verdrängten Rechts führt, das für den ordre-public-Einwand in Stellung gebracht wird, im Ergebnis aber sowohl durch eine positive wie

Art. 1 Nr. 4 des G. zur Anpassung der Vorschriften des Internationalen Privatrechts an die Verordnung (EG) 593/2008 v. 25.06.2009 aufgehoben (BGBl. 2009 I, 1574). Nunmehr enthält Art. 9 Abs. 1 Rom-VO (VO [EG] 593/2008 v. 17.06.2008 [Abl. EU L 177, 6]) eine entspr. Regelung („Eine Eingriffsnorm ist eine zwingende Vorschrift, deren Einhaltung von einem Staat als so entscheidend für die Wahrung seines öffentlichen Interesses, insbesondere seiner politischen, sozialen oder wirtschaftlichen Organisation, angesehen wird, dass sie ungeachtet des nach Maßgabe dieser Verordnung auf den Vertrag anzuwendenden Rechts auf alle Sachverhalte anzuwenden ist, die in ihren Anwendungsbereich fallen.“). 363 Zum Begriff des „europäischen“ ordre public s. noch S. 128 ff. 364 S. hierzu nur die Legaldefinition des IPR in Art. 3 Abs. 1 S. 1 EGBGB: „Bei Sachverhalten mit einer Verbindung zum Recht eines ausländischen Staates bestimmen die folgenden Vorschriften, welche Rechtsordnungen anzuwenden sind (Internationales Privatrecht).“ 365 Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 1 („prinzipielle Gleichwertigkeit aller Rechtsordnungen“); ebenso B ­ eckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 3; s. zum Verständnis dieser international-privatrechtlichen „Gesetzeskollision“ von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 1 Rn. 16. Allerdings wird die Funktion des IPR vereinzelt auch in einer Art „Recht über den nationalen Rechtsordnungen“ gesehen, s. etwa Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 2. 366 S. auch Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 11. Die gegenteilige Schlussfolgerung kritisiert auch Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 4.

A. Begriff des ordre public

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negative Betrachtungsweise den durch den ordre-public-Vorbehalt geschützten normativen Werten zur Durchsetzung verholfen wird.367

III. Erstreckung des ordre-public-Einwands auf die Anerkennung ausländischer Entscheidungen 1. Verbot der Fremdrechtsanwendung im Strafrecht und darauf beruhendes Erfordernis eines anerkennungsrechtlichen ordre public Die vorstehenden Ausführungen beschränken sich auf eine allein im materiell-​ rechtlichen Anwendungsbereich auswirkende Begrenzungsfunktion des ordre public und hat dieser insoweit die Verhinderung der unmittelbaren Anwendung ausländischen materiellen Rechts zum Gegenstand.368 Die Anwendung des materiellen (inländischen) Strafrechts ergibt sich nun im Grundsatz allein aus den strafanwendungsrechtlichen Vorschriften der §§ 3–7 StGB,369 woraus im Kern ein Verbot der Fremdrechtsanwendung im Strafrecht folgt.370 Dieses gilt jedoch – etwa vor dem Hintergrund möglicher Inzidentprüfungen – keinesfalls ausnahmslos,371 sodass im 367

So betonen auch Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 455 f. zutr., dass die positive und negative Ausprägung nicht wesensverschieden seien, sondern ihre Kategori­ sierung vom Standpunkt bzw. der Betrachtungsweise abhänge („zwei Seiten einer Medaille“); ebenso Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 364; vgl. auch Roth, NJW 1967, 134 (135), der von einem absoluten Geltungsvorrang spricht; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 2. S. auch Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 4, der im positiven Konzept „mehr Verwirrung als Nutzen“ sieht; ähnl. ­BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 177, wonach die Unterscheidung „heute nicht mehr weiter führt“; von Hoffmann / T horn, Internationales Privatrecht (2007), § 6 Rn. 142 m. w. N. („[…] mal der eine, mal der andere Aspekt des ordre public stärker in den Vordergrund rückt.“). 368 S. insoweit auch BT-Drs. 10/504, S. 43 („Seine Aufgabe [des ordre public] besteht darin, die materiellen Grundwertungen der eigenen Rechtsordnung gegen die von den Kollisionsnormen prinzipiell zugelassenen Auswirkungen der Anwendung fremden Rechts zu sichern.“); vgl. auch ­BeckOK-BGB / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 1. 369 Mankowski / Bock, ZStW 120 (2008), 704 (720 ff.). Ausdrücklich gegen eine Parallele der §§ 3–7 StGB zum IPR MüKo-StGB / Ambos (2017), Vor §§ 3–7 Rn. 1. 370 LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 349; Lackner / Kühl / Heger (2018), Vor §§ 3–7 Rn. 10; Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht (1978), S. 99 f. („Ausschließlichkeitsgrundsatz“); vgl. auch Mankowski / Bock, ZStW 120 (2008), 704 (720 f.). Dagegen jedoch Staubach, Die Anwendung ausländischen Strafrechts (1964), S. 164 ff., wonach die ausschließliche Anwendung inländischen Strafrechts u. a. zum Schutz des nationalen ordre public nicht gerechtfertigt und Resultat nationalstaatlichen Denkens sei (mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Argumente auf S. 195 f.). S. zur fehlenden Anwendung fremden Strafverfahrensrechts i. R. d. Rechtshilfe auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 179 und Fn. 114 mit Haupttext. 371 Sch / Sch / Eser / Weißer (2019), Vor §§ 3–9 Rn. 55 m. w. N. Es sei nur an die Auswirkungen des Art. 2 Abs. 2 lit. a) EMRK auf § 32 StGB (vgl. nur allgemein zur Berücksichtigung völkerrechtlicher Rechtfertigungsgründe Fischer, Strafgesetzbuch [2020], Vor §§ 3–7 Rn. 7) sowie

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Ergebnis auch die Berücksichtigung ausländischen materiellen Rechts Auswirkung auf die Beurteilung der Strafbarkeit haben kann,372 wobei jedoch die Frage der Anwendung des Strafrechts selbst weiterhin allein aus den §§ 3–7 StGB resultiert.373 Für den Fortgang der Untersuchung kann die materiell-rechtliche Komponente einer Vorbehaltsklausel im strafrechtlichen Bereich deshalb nur einen Ertrag bringen, wenn sie auf die prozessuale Ebene getragen werden kann und damit eine Zurückweisung von ausländischen justiziellen Entscheidungen ermöglicht wird, denen ein ordre-public-widriger Rechtsverstoß zugrunde liegt.374 Von entscheidender Bedeutung ist deshalb insoweit das Bestehen einer verfahrensrechtlichen Vorbehaltsklausel, als dass sie die Anerkennung und gegebenenfalls Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung zu verhindern geeignet ist. Es geht in diesem Zusammenhang also nicht darum, einem ausländischen materiellen Rechtssatz die Rechtswirkung im Inland zu verweigern, sondern die Anerkennung einer ausländischen justiziellen Entscheidung durch nationale Gerichte resp. Behörden zu verhindern und damit eine grundsätzliche Überprüfbarkeit solcher Entscheidungen zu ermöglichen.375 Vor diesem Hintergrund ist auch ein ordre-public-Einwand im anerkennungsrechtlichen Zusammenhang restriktiv auszulegen, geht es doch hier um die Abkehr von der grundsätzlichen Anerkennungspflicht.376 So betont schließlich auch der EuGH, dass es sich bei dem in Rede stehenden Verstoß „um eine offensichtliche Verletzung einer in der Rechtsordnung des Vollstreckungsstaats als wesentlich geltenden Rechtsnorm oder eines dort als grundlegend anerkannten

die Berücksichtigung ausländischen materiellen Rechts bei der Bestimmung der identischen Tatortnorm erinnert (s. zu letzterer nur MüKo-StGB / Ambos [2017], § 7 Rn. 8; ders., Internationales Strafrecht [2018], § 4 Rn. 50; Sch / Sch / Eser / Weißer [2019], Vor §§ 3–9 Rn. 56). 372 S. in diesem Zusammenhang weiterführend zur Berücksichtigung des IPR i. R. d. Ausfüllung zivilrechtlich determinierter Tatbestandsmerkmale Mankowski / Bock, ZStW 120 (2008), 704 (720 ff.) m. w. N., die betonen, dass die Berücksichtigung des IPR insoweit keine Anwendung ausländischen Strafrechts bedeute (757); LK / Werle / Jeßberger (2020), Vor §§ 3 ff. Rn. 350, 352 („Fremdrechtsanwendung im weiteren Sinne“); Sch / Sch / Eser / Weißer (2019), Vor §§ 3–9 Rn. 57; NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 63; sowie Cornils, Die Fremdrechts­ anwendung im Strafrecht (1978), S. 99 ff., die das Verbot der Fremdrechtsanwendung ebenfalls bei Heranziehung ausländischen Zivil- und Verwaltungsrechts als nicht verletzt ansieht (113). S. jedoch Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665, wonach es im Bereich des Strafrechts einen „verfochtenen Grundsatz von der Nichtanwendbarkeit ausländischen öffentlichen Rechts“ darstelle. 373 Mankowski / Bock, ZStW 120 (2008), 704 (721); Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht (1978), S. 113; explizit zur Differenzierung zwischen Strafrechtsanwendung und Heranziehung ausländischen Rechts zur Auslegung NK-StGB / Böse (2017), Vor § 3 Rn. 63. 374 Vgl. hierzu Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 113 zu § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO als „prozessuale Ergänzung von Art. 6 EGBGB“. 375 MüKo-ZPO / Gottwald (2016), § 328 Rn. 117; Wiezcorek / Schütze / Schütze (2015), § 328 Rn.  56; Musielak / Voit / Stadler (2019), § 328 Rn. 23. 376 BGH, Beschluss v. 10.12.2014 (XII ZB 463/13), BGHZ 203, 350 (358) („im Interesse eines internationalen Entscheidungseinklangs restriktiv auszulegen“) m. w. N.; s. auch Stein / Jonas / ​ Roth (2015), § 328 Rn. 100; Zöller / Geimer (2020), § 328 Rn. 209 f.; Hk-ZPO / Dörner (2019), § 328 Rn. 49; vgl. auch BayObLG, Beschluss v. 09.06.1993 (3Z BR 45/93), FamRZ 1993, 1469.

A. Begriff des ordre public

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Rechts handeln [muß]“, „damit das Verbot der Nachprüfung der ausländischen Entscheidung auf ihre Gesetzmäßigkeit gewahrt bleibt.“377 Dem hiesigen Begriffsverständnis eines ordre public zufolge kann demnach die Anerkennung oder Vollstreckung einer ausländischen Entscheidung verweigert werden, wenn die Entscheidung entweder auf prozessualen Fehlern oder der Anwendung unvereinbarer Prozessvorschriften beruht. Ein Anerkennungshindernis kann sich aber auch daraus ergeben, dass die Anerkennung oder Vollstreckung einer Entscheidung im Raum steht, die auf Grundlage mit dem materiell-recht­ lichen ordre public unvereinbarer materieller Rechtsvorschriften ergangen ist.378 Da zudem im Unterschied zum materiell-rechtlichen ordre public eine unmittelbare Einwirkung der in Rede stehenden ausländischen Entscheidung nicht in Betracht kommt, sondern deren Anerkennung voraussetzt, die i. R. e. Rechtshilfeverfahrens damit als Grundlage etwaiger Rechtshilfemaßnahmen entscheidende Voraussetzung ist, wird im Folgenden die Terminologie des anerkennungsrechtlichen statt verfahrensrechtlichen ordre public zugrunde gelegt. 2. § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO als normiertes Beispiel und die effet atténué Als ein Beispiel eines solchen anerkennungsrechtlichen ordre public lässt sich auf § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO Bezug nehmen, der die Anerkennung ausländischer Entscheidungen ausschließt, „wenn die Anerkennung des Urteils zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere wenn die Anerkennung mit den Grundrechten unvereinbar ist.“ Bezüglich der Frage, wann die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, kann auf die eingangs dargelegten Maßstäbe verwiesen werden.379 Insoweit stellt der BGH in seiner zivilrechtlichen Rechtsprechung darauf ab, ob „die Entscheidung auf einem Verfahren beruht, das von den Grundprinzipien des 377

EuGH, Krombach, Urteil v. 28.03.2000 (C-7/98; ECLI:EU:C:2000:164), Slg. 2000, I-1956 (1968); EuGH, Renault SA, Urteil v. 11.05.2000 (C-38/98; ECLI:EU:C:2000:225), Slg. 2000, I-3009 (3021). 378 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 04.04.2011 (I-3 W 292/10), IPRax 2013, 349 (350); Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 14; Stein / Jonas / Roth (2015), § 328 Rn. 104 f.; Looschelders, Internationales Privatrecht (2004), Art. 6 EGBGB Rn. 8; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 111, der zudem von einer prozessualen Ergänzung des Art. 6 EGBGB ausgeht (113); Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 99; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 466 („Import des materiellrechtlichen ordre public“ [Herv. i. O.]); Wiezcorek / Schütze / Schütze (2015), § 328 Rn. 59; Thomas / P utzo / Hüßtege (2019), § 328 Rn. 16; Musielak / Voit / Stadler (2019), § 328 Rn. 25. 379 S. bereits S. 108 ff. S. auch MüKo-ZPO / Gottwald (2016), § 328 Rn. 118; Hk-ZPO / ​Dörner (2019), § 328 Rn. 46, 50 („Parallelvorschrift“); Stein / Jonas / Roth (2015), § 328 Rn. 100; vgl. auch OLG Düsseldorf, Beschluss v. 04.04.2011 (I-3 W 292/10), IPRax 2013, 349 (350); Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 101 f.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Verfahrensrechts in einem Maße abweicht, dass es nach der deutschen Rechtsordnung nicht als in einer geordneten rechtsstaatlichen Weise ergangen angesehen werden kann.“380 Jedoch ist in diesem Zusammenhang auch darauf hinzuweisen, dass von der zivilrechtlichen h. M. bei der Verweigerung einer Anerkennung ausländischer justizieller Entscheidungen aufgrund der besonderen Verfahrensgrundsätze in den einzelnen Staaten und aufgrund des Vertrauenstatbestandes einer bereits zwischen den Parteien ergangenen Sachentscheidung ein herabgesetzter Maßstab angelegt wird (effet atténué de la reconnaissance).381 Inwieweit es einer solchen einschränkenden Betrachtungsweise auch im Bereich der strafrechtlichen Rechtshilfe bedarf, kann dahinstehen. Denn wie in dieser Untersuchung bereits herausgearbeitet wurde, beruht die Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU (allein) auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der eine Nachprüfung der anzuerkennenden Entscheidung bereits im Grundsatz untersagt. Damit ist zwar noch nicht gesagt, wie sich der ordre-public-Einwand zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung verhält. Doch kann es an dieser Stelle zunächst mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Rechtshilfe im strafrechtlichen Bereich sowohl unter Mitgliedstaaten des Europarats als auch der EU von einem Mindestmaß an gegenseitigem Vertrauen gekennzeichnet sein soll, das zu einem eigenständigen (restriktiven) Beurteilungsmaßstab führt was die Kon­ trolldichte anzuerkennender fremdstaatlicher Entscheidungen angeht.382 Im Ergeb 380 S. etwa BGH, Beschluss v. 10.09.2015 (IX ZB 39/13), NJW 2016, 160 (161); BGH, Beschluss v. 26.08.2009 (XII  ZB 169/07), BGHZ 182, 188 (196); BGH, Urteil v. 25.03.1970 (VIII  ZR  202/69), BGHZ  53, 357 (359 f.); BGH, Urteil v. 18.10.1967 (VIII  ZR  145/66), BGHZ  48, 327 (331); vgl. auch EuGH, Krombach, Urteil v. 28.03.2000 (C-7/98;  ECLI:​ EU:C:2000:164), Slg. 2000, I-1956 (1968 f.); EuGH, Renault SA, Urteil v. 11.05.2000 (C-38/98; ECLI:EU:C:2000:225), Slg. 2000, I-3009 (3021) (jeweils: „Eine Anwendung der Ordre-Public-​K lausel […] kommt nur dann in Betracht, wenn die Anerkennung oder Vollstreckung der in einem anderen Vertragsstaat erlassenen Entscheidung gegen einen wesentlichen Rechtsgrundsatz verstieße und deshalb in einem nicht hinnehmbaren Gegensatz zur Rechtsordnung des Vollstreckungsstaates stünde.“); Prütting / Gehrlein / Völzmann-Stickelbrock (2019), § 328 Rn. 24; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 111. 381 S. etwa BGH, Beschluss v. 10.12.2014 (XII ZB 463/13), BGHZ 203, 350 (357 f.); BGH, Urteil v. 21.04.1998 (XI  ZR  377/97), BGHZ  138, 331 (334) (jeweils: „großzügigere[r] anerkennungsrechtliche[r] ordre public“); Stein / Jonas / Roth (2015), § 328 Rn. 101 f.; Staudin­ ger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 118 ff. („verminderte Angriffsintensität“) m. w. N.; Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 102 ff.; Hk-ZPO / Dörner (2019), § 328 Rn. 46; Zöller / Geimer (2020), § 328 Rn. 210 f., der jedoch zugleich betont, dass der Anwendungsbereich des § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO weiter reiche als der des Art. 6 EGBGB, weil die BRD über erstere Norm auch ihr international zwingendes Recht durchsetze (Rn. 212); Prütting / Gehrlein / Völzmann-Stickelbrock (2019), § 328 Rn. 23; diese Ansicht begrüßend Musie­ lak / Voit / Stadler (2019), § 328 Rn. 23; krit. dazu etwa Wiezcorek / Schütze / Schütze (2015), § 328 Rn. 61. 382 Von einer „deutlich höheren Eingriffsschwelle“ im Bereich der grenzüberschreitenden Zustellung i. R. d. zivilrechtlichen Rechtshilfe spricht auch B ­ eckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 168.

A. Begriff des ordre public

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nis kann die Berufung auf einen anerkennungsrechtlichen ordre public jedenfalls auch nur durch die zwingend erforderliche Korrektur eines unerträglichen Ergebnisses im Einzelfall – hier im Fall der Anerkennung einer Entscheidung – zugelassen werden, die freilich einer noch hinreichenden Korrektur bedarf, auf die noch näher einzugehen sein wird.

IV. Insbesondere: Berücksichtigung der Grundrechte Einen besonderen Stellenwert im Anwendungsbereich des ordre public nehmen sodann – nicht zuletzt aufgrund der Pionierarbeit durch den sogenannten „Spanierbeschluss“ des BVerfG im Bereich des Internationalen Privatrechts383 – die Grundrechte ein.384 In seiner Entscheidung hatte das Verfassungsgericht u. a. ausgeführt, dass „es sich bei der [A]nwendung [ausländischen Rechts] durch die deutschen Behörden und Gerichte um die Ausübung deutscher Staatsgewalt [handelt], die unter den Geboten des Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG steht.“385 Zudem „läßt sich dem Grundgesetz nirgends ein genereller Vorbehalt dahin entnehmen, daß insoweit [bzgl. der uneingeschränkten Anwendung fremden Rechts] die Grundrechte zurücktreten müßten.“386 Das BVerfG betont in diesem Zusammenhang weiterhin zu Recht, dass diese unbedingte Geltung der Grundrechte „keine unzulässige Ausweitung des Geltungsbereichs des Grundgesetzes gegenüber dem fremden Staat oder ein Oktroi deutscher Wertvorstellungen gegenüber dem Ausland bedeu­ tet“,387 geht es doch insoweit allein um den Schutz des individualschützenden Verfassungskerns. Dabei verweist das Gericht allerdings auch darauf, „daß eine uneingeschränkte Durchsetzung in ganz oder überwiegend auslandsbezogenen Sachverhalten den Sinn des Grundrechtsschutzes verfehlen würde“388 und eine Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes im Einzelfall durch Auslegung der Grundrechtsnormen geprüft werden müsse.389 Dass ein Grundrechtsverstoß die 383

BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58. S. nur BT-Drs. 9/1338, S. 93; BT-Drs. 10/504, S. 44; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 42; Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 468 („Die Grundrechte sind aber ausformulierte materielle Wertprinzipien, die wegen ihres besonderen Gewichts den Rang von Verfassungsrecht erhalten haben und die wiederum durch ihre Qualität als Verfassungsrecht besonderes Gewicht besitzen“); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (109 f.). 385 BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (74). 386 BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (76); vgl. auch Kegel  / ​ Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 475 f., wonach der „einfache Gesetzgeber, der die [mit einer ordre-public-Klausel ausgestatteten] Staatsverträge innerstaatlich in Kraft setzt, über die Grundrechte nicht verfügen kann.“ 387 BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (74 f.). 388 BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (77). 389 BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (77); s. auch Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 251 f., wonach eine Abweichung von einer inländischen Grundrechtsnorm nicht stets eine Grundrechtsverletzung bedeute (Herv. i. O.). 384

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Blockadewirkung des ordre public aufgrund der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG auslöst, belegt zudem, dass dem ordre public zumindest auch eine individualschützende Ausprägung zukommen kann. Welche inhaltliche Ausprägung ein solcher grundrechtsorientierter (deutscher) ordre public erfahren, insbesondere ob er eine Sperrwirkung allein für bundes- und landesrechtliche Grundrechte der deutschen Rechtsordnung entfalten oder ob er auch zugunsten der EMRK und GRCh in Stellung gebracht werden kann, wird noch weiter zu untersuchen sein. Nicht zuletzt die Formulierungen in Art. 6 S. 2 EGBGB und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO, wonach eine Fremdrechtsanwendung resp. Anerkennung insbesondere dann ausgeschlossen ist, der ordre public also zwingend eingreift, wenn die Anwendung oder Anerkennung „mit den Grundrechten unvereinbar ist“, verdeutlichen, dass eine Grundrechtsverletzung zwar einen besonderen, jedoch nur einen unter möglichen Anwendungsfällen des ordre-public-Einwands begründet. Schließlich hat auch der EuGH mit Urteil vom 28.03.2000 in der Rechtssache Krombach für eine Berücksichtigung der Grundrechte i. R. e. ordre-public-Vorbehalts Stellung bezogen.390 Allerdings bleibt auch hier wiederum darauf hinzuweisen, dass ein alleiniger Grundrechtsverstoß nicht zwingend zu einer Verletzung des ordre ­public führt, sondern es allein auf die Beeinträchtigung von Grundrechten durch das Ergebnis der konkreten Rechtsanwendung bzw. Entscheidungsanerkennung ankommt. Zudem sind – worauf ich im weiteren Untersuchungsverlauf noch eingehen werde  – hinsichtlich der einzelnen Grundrechte schutzbereichsbezogene Differenzierungen vorzunehmen.

V. Ergebnis: Allgemeingültige Aussagen zum ordre-public-Vorbehalt Fasst man nun die wesentlichen allgemeingültigen Elemente einer ordre-­publicKlausel aus den vorstehenden Untersuchungen zusammen, lassen sich in einem ersten Schritt für den Fortgang der Untersuchung folgende allgemeingültige Ergebnisse festhalten: –– Der ordre public lässt sich zunächst als eine der nationalen Rechtsordnung immanente Rechtsfigur zur Wahrung eines elementaren Kernbestands an Wertvorstellungen verstehen, die durch einen negativen Normbefehl391 die Rechtswirkung eines mit grundsätzlichem Anwendungsvorrang ausgestatteten ausländischen Rechtssatzes abwehrt (ordre public im negativen Sinne).

390

EuGH, Krombach, Urteil v. 28.03.2000 (C-7/98; ECLI:EU:C:2000:164), Slg. 2000, I-1956 (1968 ff.) („daß das Gericht des Vollstreckungsstaats im Rahmen der Ordre-Public-Klausel […] berücksichtigen darf, daß das Gericht des Ursprungsstaats diesem das Recht versagt hat, sich verteidigen zu lassen, ohne persönlich zu erscheinen.“). 391 S. auch Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 454.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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–– Dieser negative Normbefehl ist auf die Korrektur absolut unvereinbarer Ergebnisse begrenzt und betrifft damit allein die Abwehr von mit dem – Grundrechte einschließenden  – Kernbestand der von der Einwirkung betroffenen Rechtsordnung, wobei jene einer abstrakten Definition nicht zugänglich ist und einer einzelfallabhängigen Konkretisierung bedarf. –– In der Rechtsfolge führt die Geltendmachung eines ordre-public-Einwands dazu, dass das grundsätzlich in der Anwendung vorgehende ausländische Recht keine Rechtswirkung im Inland entfaltet und damit de iure den Vorrang der Fremdrechtsanwendung außer Kraft setzt. –– Der ordre public kann zum einen die Anwendung ausländischen Rechts auf einen inländischen Sachverhalt verhindern (materieller ordre public) und zum anderen die Anerkennung ausländischer justizieller Entscheidungen im Inland und damit weitere auf dieser Entscheidung gründende Folgemaßnahmen, wie beispielsweise eine Urteilsvollstreckung, ausschließen (anerkennungsrechtlicher ordre public). Auf das Auslieferungsrecht übertragen bedeutet dies zusammengefasst, dass die Behörden des ausliefernden oder übergebenden Staates einem Ersuchen nicht entsprechen resp. einen Europäischen Haftbefehl nicht vollstrecken dürften, wenn die Durchführung bzw. Vollstreckung im Ergebnis zu einem unerträglichen Wider­ spruch mit dem verdrängten Recht führen würde.392

B. Begriff des „europäischen“ ordre public I. Ordre public interne und ordre public international Den bisherigen Ausführungen in diesem Kapitel sowohl in Bezug auf Art. 6 EGBGB als auch § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO ist ein Auslandsbezug immanent, da er Konstellationen zur Abwehr von Einwirkungen auf die deutsche Rechtsordnung durch ausländische resp. fremdstaatliche Einflüsse zum Gegenstand hat. Die erste Konkretisierung kann damit anhand der Wirkungsrichtung in Abgrenzung zu Sachverhalten getroffen werden, in denen ein Wesentlichkeitsvorbehalt nur innerhalb derselben nationalen Rechtsordnung Wirkung entfaltet; letztere Konstellation umschreibt der ordre public interne.393 Zu diesem zählen in der deutschen 392

Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 29; de Groot, Mutual Trust in (European) Extradition Law, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 83 (86) mit weiteren Ausführungen zum Ansatz im Vereinigten Königreich, eine Auslieferung zu verweigern, wenn das Ersuchen „in ‚bad faith‘“ gestellt wurde oder nicht „in the ‚interest of justice‘“ sei, und zur Rechtslage in den Niederlanden, die eine § 73 IRG entspr. Vorschrift nicht kenne (87). 393 Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 5; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 58; Basedow, Die Verselbstständigung

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Rechtsordnung zumindest die unabdingbaren Verfassungsgrundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG.394 Der Wesentlichkeitsvorbehalt im Rahmen transnationaler Sachverhalte, dem auch die Auslieferungskonstellation aus der Bundesrepublik hinaus an einen anderen Staat (der EU oder des Europarats) unterfällt, wird demgegenüber als ordre public international umschrieben.395 Wenn also im Folgenden von einem rechtshilferelevanten ordre-public-Einwand gesprochen wird, ist aufgrund des zwingenden transnationalen Berührungspunktes stets von einem solchen ordre public international die Rede.

II. Originär nationaler Charakter des ordre public Wie zu Beginn dieses Kapitels dargelegt, ist die Vorbehaltsklausel ein Instrument, um die Anwendung ausländischen Rechts im eigenen Rechtskreis zu unterbinden und in der Konsequenz den eigentlichen Anwendungsvorrang aus­ zuhebeln; in der Folge lebt also der originäre Geltungsanspruch des nationalen Rechts wieder auf.396 Obgleich sich die Frage der Anwendung einer ordre-public-​ Klausel damit nur stellen kann, wenn ein Anwendungsvorrang zugunsten einer fremdstaatlichen Rechtsordnung besteht, und damit eine grenzüberschreitende Einwirkung zwingende Voraussetzung ist, stellt der ordre public dennoch keine Eigenheit des internationalen Rechts dar. Er ist vielmehr an die Rechtsordnung gebunden, deren Durchsetzung er im Kollisionsfall sichern soll, also im zwischenstaatlichen Verhältnis zunächst Gegenstand des nationalen Rechts.397 Dies folgt schon daraus, dass dem nationalen Recht keine Beeinflussung von Sachverhalten ohne Bezug zur eigenen Rechtsordnung zustehen soll, woraus das zusätzliche Anwendungskriterium der „hinreichend starken Inlandsbeziehung“ gefolgert

des europäischen ordre public, in: Coester / Martiny / P rinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 291 (295); Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 73 m. w. N.; Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 254 f. 394 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 61. Dieser Verfassungskern ist allerdings auch insbes. i. R. d. Rechtshilfeverkehrs unter Mitgliedstaaten der EU zu berücksichtigen, s. dazu noch ausf. S. 184 ff. und 296 ff. 395 S. hierzu die Nachweise in Fn. 393. 396 Vgl. bereits die Nachweise in Fn. 343. 397 van Houtte, From  a National to  a European Public Policy, in: Nafziger / Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 841 (844) („It [the public policy] is the quintessence of a country. There is nothing more national than a national’s public policy.“); Gebauer, Ordre Public (­P ublic Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 1; Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im Strafrecht (1978), S. 73; Basedow, Die Verselbstständigung des europäischen ordre public, in: Coes­ ter / Martiny / P rinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 291 („nationales Bollwerk“); Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 153. S. auch Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 2, der zutr. betont, dass „es [i. R. d. § 73 IRG] in Wirklichkeit darum [geht], den Maßstab des deutschen Rechts an das ausländische Verfahren anzulegen,  […].“; eine drohende „‚Verabsolutierung der eigenen Rechtsordnung‘“ sieht auch Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 117.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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wird.398 Dennoch lässt sich eine zunehmende Einwirkung internationaler Wertmaßstäbe auf die deutsche Rechtsordnung durch den Beitritt der Bundesrepublik zur EU und die Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge des Europarats nicht abstreiten, weshalb auch der BGH bei der Anwendung des Art. 6 EGBGB „Wertvorstellungen der inländischen und zunehmend auch der europäischen Rechtsgemeinschaft“ berücksichtigt.399 Wie sich diese Einwirkungen auf die Dogmatik eines ordre-public-Vorbehalts auswirken, soll nun im Folgenden genauer betrachtet werden.

III. Internationaler, internationalisierter, europäischer und europäisierter ordre public Nachdem nun aufgrund der Wirkungsrichtung des Wesentlichkeitsvorbehalts zwischen einem ordre public interne und international unterschieden werden kann, gilt es auf der zweiten Stufe, den normativen Bezugspunkt festzustellen. In den bisherigen Darstellungen war dieser im Fall des Art. 6 EGBGB und des § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO stets die deutsche Rechtsordnung. Dieser normative Bezugspunkt ist damit deckungsgleich mit der Rechtsordnung, deren elementare Wertvorstellungen der in Rede stehende ordre public (interne oder international) absichern soll. Legt man nun das Augenmerk statt auf die nationale Rückbindung des ordre public aus teleologischer Perspektive auf dessen Zweck, nämlich die Absicherung einer Rechtsordnung als ein einheitliches bestimmte Wertentscheidungen wahrendes System vor fundamentalen gegenläufigen Einwirkungen, lassen sich auch weitere als nur nationale Vorgaben für die Begrenzung einer Fremdrechtsanwendung ausmachen. Für den weiteren Verlauf der Untersuchung mit der zwischenstaatlichen Rechtshilfe in Strafsachen im europäischen Rechtsraum im Mittelpunkt stellt sich nämlich insbesondere im Zusammenhang mit der Einwirkung durch die rechtshilferelevanten Abkommen des Europarats und Sekundärrechtsakte des Unionsrechts die Frage nach der Existenz eines „europäischen“ ordre public. Gemeint ist – nach den zu Beginn dargelegten Merkmalen – ein Wesentlichkeitsvorbehalt zugunsten eines europäischen Rechtsbestands als Ausdruck eines gemeinsamen Wertefundaments der Vertragsstaaten des Europarats resp. der Mitgliedstaaten der EU. 398 BT-Drs. 10/504, S. 43; s. auch BGH, Beschluss v. 14.10.1992 (XII  ZB  18/92), BGHZ 120, 29 (34); Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 12; ­BeckOK-BGB  / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 16; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 263 f. (kein „Rechtsoktroi“); Kegel / Schurig, Internationales Privatrecht (2000), S. 458; Kropholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 246; Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 184 (kein „unbedingter Geltungsanspruch“, „hinreichender Inlandsbezug“, sowie „räumliche Relativität des ordre public“ [190 m. w. N.; Herv. d. Verf.]); vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (74 f.). 399 BGH, Urteil v. 11.10.2006 (XII ZR 79/04), BGHZ 169, 240 (251); s. dazu auch Müko-​ BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 153 m. w. N. in Fn. 528.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Daneben kann – über einen nur „europäischen“ Wesentlichkeitsvorbehalt hi­ naus – ein „internationaler“ treten, soweit sich auf ein der globalen Staatengemein­ schaft gemeinsamen Rechtsbestand verweisen lässt.400 Inwieweit jenseits eines zwingenden völkerrechtlichen Mindeststandards i. S. d. Art. 53 WÜRV (ius c­ ogens),401 dessen Inhalt in diesem Zusammenhang ebenfalls unklar ist,402 ein internationaler ordre public – der mit dem des (nationalen) orde public international nicht deckungsgleich ist 403 – zur Wahrung gemeinsamer Völkerrechtswerte angenommen werden kann,404 bedarf keiner weiteren Klärung. Hier werden allein die Modali-

400

Das schweizerische Bundesgericht sieht etwa im Verstoß gegen die EMRK und den IPbpR ein Auslieferungshindernis, s. BGer, Urteil v. 13.03.2002 (1A.25/2002/sta), D. 4 („Nach der Rechtsprechung gehören allerdings die von der EMRK [..] und dem UNO-Pakt II [gemeint ist der IPbpR] […] gewährleisteten Verfahrensgarantien zum internationalen ordre public.“); so auch Niggli / Heimgartner / Fiolka (2015), Art. 1 IRSG Rn. 21; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 29. 401 Zur Interpretation des Art. 53 WÜRV als Ausdruck eines orde public vgl. Dörr / Schmalenbach / Schmalenbach (2018), Art. 53 VCLT Rn. 21; Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties (2009), Art. 53 Rn. 1. S. dazu auch noch Fn. 858 mit Haupt­ text. 402 S. dazu nur Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 15 f. 403 Kromrey betont insoweit den Unterschied zwischen der Ergänzung des ordre-public-­ Begriffs mit voran- und nachgestellten Attributen zur eindeutigen Differenzierung zwischen ordre public interne und international auf der einen und dem internationalen ordre public auf der anderen Seite (Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis [2017], S. 56 ff.). S.  zu dieser Abgrenzung auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 30 („Entgegen den Materialien ergeben sich die wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung, die den deutschen nationalen ordre public i. S. von § 73 Satz 1 ausmachen, im Ausgangspunkt eben aus deutschem Recht und nicht aus Völker- oder Europarecht: Es geht um den Kernbestand der inländischen Rechtsordnung, mag diese auch teilweise völkerund europarechtlich geprägt sein.“ [Herv. i. O.]); Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 275; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 29, die sich der Terminologie vom inneren und äußeren ordre public bedienen; ebenso Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1106. Letztlich ist ein internationaler ordre public in Rechtsordnungen mit Transformationserfordernis jedoch Bestandteil des nationalen ordre public international (s. dazu noch sogleich). 404 So explizit etwa Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 80 f.; Riedo  / ​ ­Fiolka / Niggli, Strafprozessrecht (2011), Rn. 3201; s. auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 71 f. („nicht deckungsgleich“); Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn. 30 ff.; vgl. dazu auch Paulus, Gedanken zur Verfassungskontrolle der Europäischen Union aus völkerrechtlicher Sicht, in: Bouffier et al., Liber amicorum Landau (2016), S.  269 (276) („völkerrechtliches Notventil“); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 33 ff., wonach „nicht gesagt [ist], dass der internationale ordre public erst dann beachtlich sein soll, wenn er die Qualität von ius cogens erreicht“ (37; Herv. i. O.); Capus, Strafrecht und Souveränität (2010), S. 393 f. („besonders elementare Schutzbedürfnisse“); Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 115 („völkerrechtlicher und völkerrechtsbezogener ordre public“); Nagel, Beweisaufnahme im Ausland (1988), S. 116, demzufolge der internationale ordre public „zumindest die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und ‚die von allen Rechtsstaaten anerkannten Grundsätze‘“ erfasse; von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 57 (Berücksichtigung der „zwingende[n] allgemeine[n] Grundsätze des humanitären Völkerrechts“, welche sich aus

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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täten des innereuropäischen Rechtshilferechts betrachtet, obgleich auch ein solcher internationaler ordre public die Rechtshilfe unter europäischen Staaten als Teil der internationalen Gemeinschaft zu beeinflussen vermag. Für den Fortgang der Untersuchung maßgeblich ist neben nationalen Wesentlichkeitsvorbehalten der Mitgliedstaaten allein ein begrenzt regionaler Wertekonsens zwischen den Mitgliedstaaten der EU einerseits und den Vertragsstaaten des Europarats andererseits. Es sei an dieser Stelle nur angemerkt, dass das BVerfG einen internationalen ordre public in ständiger Rechtsprechung aufgreift und den „nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik Deutschland verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard“ zu einem unabdingbaren Rechtshilfemaßstab erklärt.405 Dabei wird allerdings nicht weiter dem IPbpR ergeben könnten); Haas, Auslieferung (2000), S. 301 f. (ebenfalls unter Verweis auf Schranken „aus dem allgemeinen oder vertraglichen Völkerrecht“ auf den IPbpR Bezug nehmend); Schütz, Der internationale ordre public (1984), S. 12 ff.; van Houtte, From a National to a European Public Policy, in: Nafziger / Symeonides, FS von Mehren (2002), S. 841 (847 f.), wonach unter Bezugnahme auf die Rspr. des IGH und unter Verweis auf Art. 38 IGHS „a public policy clause, ‚safety valve,‘ was found in so many treaties that it had become a general principle of law, i. e., part of international law.“ S. dagegen etwa Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 7, der den Anwendungsbereich des internationalen ordre public explizit auf das ius cogens beschränken will; ebenso (mit einer Auflistung von Beispielen) Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 30 f. mit Fn. 219, der zugleich darauf hinweist, dass das ius cogens von der „internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit“ anerkannt werden müsse, jedoch zugleich dahingehend relativierend, dass „[d]amit […] nicht eine lückenlose Anerkennung aller Staaten gemeint [ist], sondern eine überwiegende Mehrheit unter Einschluss der wichtigsten Rechtsordnungen“; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 189; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren (2010), S. 200 f. (zugleich eine zurückhaltende Bestimmung des ius cogens anmahnend); für eine Identität von ius cogens und internationalem ordre public auch Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 14 ff. (zugleich aber anmerkend, dass der Inhalt des ius cogens „vage und zu beschränkt“ sei; krit. bzgl. eines einheitlichen globalen ordre public Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), wonach man „von einem einheitlichen ordre public international […] nicht [wird] sprechen können“; Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 74, 372 f. („allzu farblose ‚justice universelle‘“) m. w. N. in Fn. 1022; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 389 („Angesichts der Multikulturalität der Menschheit lassen sich kaum solchermassen universelle Institute lokali­sieren.“); Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 283 ff., wonach zum einen ein „universeller ordre public“ in seinem Gehalt auf „Phrasen und Trivialitäten, die Selbstverständlichkeiten darstellen, [reduziert sind]“ und zum anderen der Begriff des „völkerrechtlichen ordre public“ aufgrund seiner unmittelbaren Bindung überflüssig sei; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 75, der zudem betont, dass ein solcher völkerrechtlicher ordre public dem Schutz der zwischenstaatlichen Ordnung diene. Ausf. dazu mit Bezug zum Rechtshilferecht Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 134 ff. 405 BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 24; BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226 (228); BVerfG, Beschluss v. 24.03.2016 (2 BvR 175/16), NStZ 2017, 43 (46); BVerfG, Beschluss v. 06.07.2005 (2 BvR 2259/04), BVerfGE 113, 154 (162); BVerfG, Beschluss v. 24.06.2003 (2 BvR 685/03), BVerfGE 108, 129 (136); BVerfG, Beschluss v. 31.03.1987 (2 BvM 2/86), BVerfGE 75, 1 (19); BVerfG, Beschluss v. 09.03.1983 (2 BvR 315/83), BVerfGE 63, 332 (337); ebenso LG Hamburg, Urteil v. 22.01.1973 (80 O 4/73), AWD 1973, 163 (164) („Völkerrechtswidrigkeit würde über Art. 25 GG im Rahmen des Art.  30 EGBGB beachtlich sein.“); Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1072 mit Fn. 16.

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zwischen diesem „völkerrechtlichen Mindeststandard“ und den „unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätzen der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik“ differenziert.406 Daraus ergibt sich jedoch weiterhin, dass der Begriff des internationalen ordre public zumindest für die deutsche Rechtsordnung insoweit ungenau ist, als dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts gem. Art. 25 GG als Bestandteil des Bundesrechts zu bewerten sind. Soweit eine nationale Rechts­ ordnung dem Völkerrecht also keine unmittelbare Wirkung zukommen lässt, ist nach erfolgter Transformation in innerstaatliches Recht der Begriff „internationa­ lisierter nationaler ordre public“ treffender,407 der zugleich Bestandteil des nationalen ordre public international ist. Ähnlichen Konkretisierungsfragen sieht sich auch der Begriff des „europäischen“ ordre public ausgesetzt, wenn in diesem Zusammenhang auch weniger intensiv, da – quasi zwischen nationaler und internationaler i. S. e. globalen Ebene 408 – insoweit auf einen regional begrenzten Wertekonsens abgestellt werden kann. Geht man von einem echten „europäischen“ ordre public aus, bedarf es als Bezugspunkt

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BVerfG, Beschluss v. 18.06.2019 (2 BvR 1092/19), juris, Tz. 12 f.; BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226 (228) („die unabdingbaren verfassungsrecht­ lichen Grundsätze bzw. das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz oder der verbind­ liche völkerrechtliche Mindeststandard gem. Art. 25 GG“); OLG Brandenburg, Beschluss v. 10.04.2019 ((1) 53 AuslA 66/17 (34/17)), juris, Tz. 70; s. auch Ambos / König / Rackow / Heger / ​ Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1077 m. w. N. zur Rspr.; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 77, die i. Erg. sogar betonen, dass „die sich überschneidenden Rechtsquellen zeigen, dass sich die Prüfungsmaßstäbe nicht wesentlich voneinander unterscheiden.“ Krit. zu dieser Vermischung insbes. Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 8 f.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 51 ff. (53 ff.) (jeweils: „Mischform“); zust. von Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsübernahme, Vollstreckungshilfe (1989), S. 57; vgl. auch Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 29 mit Fn. 247. 407 S. auch BT-Drs. 9/1338, S. 93 („Gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung wird die Rechtshilfe insbesondere dann verstoßen, wenn das ausländische Verfahren zu elementaren verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Geboten des Grundrechtsbzw. Menschenrechtsschutzes in offenbarem Widerspruch steht.“); Grützner / Pötz / K reß / ​ Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 33; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren (2010), S. 200 (jeweils: „freilich über Art. 25 GG zugleich innerstaatlich verbindlich“); Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 75, wonach es zwischen einer Nichtanwendung völkerrechtswidrigen fremden Rechts i. R. d. nationalen ordre public und einem völkerrecht­ lichen ordre public zu differenzieren gelte; Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 144 ff. (146 f.), wonach „Verstöße gegen völkerrechtliche Konventionen und Verhaltenskodizes […] über den ordre public geahndet werden [können]“; Voltz, Menschenrechte und ordre public im internationalen Privatrecht (2002), S. 233 ff. 408 S. für dieses Stufenverhältnis Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 39; vgl. auch Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 30 („die von der Menschheit, einer Region oder einem Staat als zwingend erachteten Bestimmungen“); Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 14; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 30; Schork, Auslieferungsverfahren (2009), S. 185 f.; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren (2010), S. 198 f.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

125

der Absicherung einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung,409 wobei die Kontrollmaßstäbe dabei ebenfalls allein dem Europarecht zu entnehmen sind.410 Jedenfalls kann es mit dem Definitionsansatz des deutschen Gesetzgebers in § 73 S. 2 IRG nicht sein Bewenden haben.411 Die dortige Inbezugnahme der unionalen Grundrechtsordnung lässt doch eine hinreichende Berücksichtigung und eindeutige Einordnung der eigenständigen Entwicklung im Rechtsraum des Europarats – in erster Linie des Grund- und Menschenrechtsschutzes nach Maßgabe der EMRK – gegenüber einem internationalen, scil. völkerrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalt vermissen.412 Hinzu kommt, dass sich ein etwaiger „europäischer“ ordre public nicht aus dem terminologischen Ausgangspunkt des deutschen Rechts ergeben kann. Denn wie soeben dargestellt, dient ein Wesentlichkeitsvorbehalt der Wah 409

Neuhaus, Grundbegriffe (1976), S. 372, der in Fn. 1020 u. a. i. R. d. Beurteilung der Sittenwidrigkeit im Privatrecht (Art. 30 EGBGB a. F.) auf zwei frühere Entscheidungen des BGH verweist, in dem bereits auf einen „durch gemeinsame sittliche Anschauungen verbundenen Kulturkreis“ (BGH, Urteil v. 15.11.1956 [VII ZR 249/56], BGHZ 22, 162 [163]), sowie die „gemeinsame Ansicht der durch gleiche sittliche Anschauungen verbundenen Kulturstaaten“ (BGH, Urteil v. 30.06.1961 [I ZR 39/60], BGHZ 35, 329 [337]) Bezug genommen wird, und betont, dass ein solcher „Bestand gemeinsamer Rechtsgrundsätze […] zu einer Einschränkung der ordre public Fälle führe“. Unter Bezugnahme auf die beiden Entscheidungen spricht auch Kropholler von einem „Bestand gemeinsamer Rechtsgrundsätze“ (Kropholler, Internationales Privatrecht [2006], S. 249 mit Fn. 16), der freilich noch von einer Berücksichtigung i. R. d. Art. 6 EGBGB ausgeht. Von einem „grenzüberschreitende[n] Wertekonsens“ spricht auch Voltz, der jedoch im Zuge dessen zugleich lediglich von einer „Anreicherung des innerstaatlichen ordre public“ ausgeht (Staudinger-BGB / Voltz [2013], Art. 6 EGBGB Rn. 96); vgl. auch Alvarez de Pfeifle, Der ordre-public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (2009), S. 182. 410 ­BeckOK-BGB  / L orenz (52. Edition 2019), Art. 6 EGBGB Rn. 9; Staudinger-BGB / Voltz (2013), Art. 6 EGBGB Rn. 96. 411 Teilweise wird aber ungenau von einem § 73 S. 2 IRG zugrunde liegenden europäischen ordre public gesprochen, s. etwa Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn.  232; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 39, mit weiteren Ausführungen zur Entstehung der Norm (148 ff.), wonach u. a. der Verweis auf die in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätze nach gesetzgeberischem Willen statisch sein soll (151); Grabitz / Hilf / Nettesheim / ders. / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 37; von ­Heintschel-Heinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-­ Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 56; Böse, Legitimität des europäischen Kooperationsrechts, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 211 (212 f.); Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 871, 944, 1011; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 30 mit Fn. 257; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 438; Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 161 ff., 290; Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 210; Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren (2010), S. 202 f.; Braum, GA 2005, 681 (694); Brodowski, HRRS 2013, 54 (56). 412 S. hierzu auch Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 30, die zutr. eine Differenzierung zwischen dem „besonderen Maßstab der Europäischen Union“ und dem „durch die EMRK in ihrer Interpretation durch den EGMR bestimmten ­äußeren Ordre Public“ erheben, die jedoch nur „in Randbereichen“ bestehe. Für eine Definition eines „europäischen“ ordre public anhand der Konventionsgarantien Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 93.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

rung elementarer Wertvorstellungen einer Rechtsordnung und muss sich folglich aus ihr selbst ergeben.413 Somit kommt es für einen solchen „europäischen“ ordre public nicht auf die Vorstellung eines mitgliedstaatlichen Gesetzgebers, sondern auf einen tatsächlich bestehenden, dem jeweiligen abzusichernden Rechtssystem unterliegenden regionalen Wertekonsens an. 1. Gemeinsames europäisches Wertefundament Sowohl die Europäische Union – wenn auch als Verbund zur Wahrnehmung gemeinsamer wirtschaftlicher Interessen ins Leben gerufen – als auch der Europa­rat zeichnen sich durch ein gemeinsames Wertefundament aus, das in der Präambel zum EUV und dessen Art. 2 sowie der Europaratssatzung (EuRatS) zum Ausdruck kommt. Bereits 1950 hat der Europarat mit der EMRK sein wohl bis heute wichtigstes Vertragswerk auf den Weg gebracht und damit den Grundstein für eine heute 47 Vertragsstaaten umfassende menschenrechtliche Ordnung geschaffen. Weiterhin verweist Art. 1 a) der EuRatS in der Aufgabenbeschreibung des Europarats auf den Schutz „der Ideale und Grundsätze“, die das „gemeinsame Erbe“ der Mitglieder sind. Die Konkretisierung dieser Aufgabe erfolgt gem. Art. 1 b) EuRatS u. a. „durch Schutz und Weiterentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.“ Nachdem für Montenegro die EMRK auch für den letzten Vertragsstaat am 06.06.2006 in Kraft getreten ist,414 kann mittlerweile von einer europaratsinternen Grundrechtsordnung gesprochen werden.415 Noch deutlicher tritt eine – die Grundrechtsordnung des Europarats ergänzen­ de416 – Werteordnung in der Europäischen Union hervor:417 „Die Werte, auf die sich 413

Die Frage, ob die „in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätze“ (§ 73 S. 2 IRG) dennoch Bestandteil eines – wie auch immer ausgestalteten – „europäischen“ ordre public sein können, ist als inhaltliche Frage gesondert zu behandeln. 414 S. zur Auflistung der einzelnen Daten bzgl. der Unterzeichnung, Ratifizierung und des Inkrafttretens für die jeweiligen Vertragsstaaten https://www.coe.int/de/web/conventions/fulllist/-/conventions/treaty/005/signatures?p_auth=DVy1ylaS (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 415 Streinz, Europarecht (2019), Rn. 79 und Herdegen, Europarecht (2019), § 3 Rn. 3, die zutr. auch die Herausforderungen an eine die Rechtsordnungen der verschiedenen Vertragsstaaten umfassenden Grundrechtsordnung betonen; für eine durch die EMRK begründete Werte­ordnung auch Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 92. S. instruktiv auch Nußberger, JZ 2019, 421 ff., mit einer – i. Erg. ablehnenden – Untersuchung der Frage, ob die EMRK als Verfassung angesehen werden kann (425 ff.); Art. 3 EuRatS verpflichtet insoweit alle Vertragsstaaten zur Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie an der Umsetzung der Zielsetzung mitzuwirken. 416 Vgl. zur Ergänzung der Europaratsabkommen im Bereich der Rechtshilfe als sog. „Mutterkonventionen“ durch Rechtsakte des Unionsrechts bereits Fn. 123 mit Haupttext. 417 BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 16/13), juris, Tz. 57 („dass die verschiedenen mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen heute ihrerseits ein gemeinsames Fundament in der Europäischen Menschenrechtskonvention haben, auf das sich schon die Vertragsgrundlagen der Union selbst sowie die Grundrechtecharta ihrerseits stützen. […] Für die Mitgliedstaaten

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

127

die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“ (Art. 2 EUV).418 Weiterhin bekennt sich die Union in der Präambel zum EUV in Abs. 2 zum „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben.“ Die in Art. 2 EUV genannten Werte der Union sind weiterhin dadurch abgesichert, dass ihre Anerkennung zum einen Beitrittsvoraussetzung für neue Mitgliedskandidaten (Art. 49 Abs. 1 S. 1 EUV) und zum anderen ihre Verletzung gem. Art. 7 EUV sanktionsbedroht sind. Ergänzt wurde diese Werteordnung mit der GRCh, die mit dem Vertrag von Lissabon mit Primärrechtsrang ausgestattet wurde419 und den unionalen Staatenverbund damit endgültig auch zu einer Grundrechtsunion befördert hat.420 Darüber hinaus bildet die Union ausweislich des Art. 67 Abs. 1 AEUV einen einheitlichen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in dem die Einhaltung eines bestimmten Wertekatalogs durch das Postulat der gegenseitigen Anerkennung (Art. 82 Abs. 1

liegt in ihr ein übergreifendes gemeinsames Fundament des Grundrechtsschutzes.“). Zur Union als Wertegemeinschaft explizit auch KOM(2009), 262 endg. v. 10.06.2009, S. 7 („Die Union ist ein Raum, in dem gemeinsame Werte gelten.“); Grabitz / Hilf / Nettesheim / Hilf / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 2 EUV Rn. 8 (Art. 2 EUV als „Bekenntnis zum Wertordnungsgedanken“); Calliess / Ruffert / Calliess (2016), Art. 2 EUV Rn. 14, der von einer „gemeinsame[n] europäische[n] (Verfassungs-)Ordnung“ spricht, zugleich aber auch die „Rückkopplung“ europäischer an die nationalen Werte betont; ders., JZ 2004, 1033 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 4 Rn. 30; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 12 ff.; Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 28; Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (209); s. aber auch Nettesheim, EuR 2006, 737 (743 ff.), der betont, dass der Versuch einer Definition eines änderungsfesten „Kerns“ mit der „politisch gewollte[n] und rechtlich zu respektierende[n] Offenheit des Integrationsprozesses“ kollidiere (744); knapp feststellend auch Alvarez de Pfeifle, Der ordre public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (2009), S. 182. 418 Der EuGH betont dieses Wertefundament schließlich auch als Grundlage des – bereits als Rechtsprinzip monierten – gegenseitigen Vertrauens, s. etwa jüngst EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 35; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 48. S. weiterführend dazu von Bogdandy / Spieker, EuConstLRev 15 (2019), 391 ff. sowie zur Rspr. auch Schorkopf, NJW 2019, 3418 ff. 419 S. dazu noch u. Fn. 588 mit Haupttext. 420 Zur GRCh als Werteordnung auch Meyer / Hölscheidt / Meyer (2019), Präambel Rn. 6 m. w. N. in Fn. 33; Calliess, JZ 2004, 1033 (1035 f.); s. auch Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 165 ff. („Grundrechtsordnung“); Nettesheim, EuR 2006, 737 (752) („Grundrechte als in die gesamte Unionsrechtsordnung ausstrahlende Wertgrundsätze“). Auch der EuGH betont in seinem Gutachten 2/13 die Autonomie der Unionsrechtsordnung auch in Bezug auf die Interpretation der Grundrechte, s. EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (776).

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

AEUV) gerade im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit vorausgesetzt – wenn auch (noch) nicht i. S. e. „quasi-bundesstaatlichen“ Niveaus erreicht 421 – ist. Vogel spricht im Zusammenhang mit der Europäisierung des Strafrechts sogar von einer „europäischen Strafrechtsidentität“ und von einem „europäischen Humanitätsverständnis“ als deren Bestandteil.422 Die Zusammenarbeit sowohl im Bereich des Europarats als auch auf Ebene der EU ist damit für sich genommen jeweils auf ein gemeinsames Wertefundament zurückzuführen, für die ein regional begrenzter „europäischer“ ordre-public-Einwand in Stellung gebracht werden kann. Welche – auch etwaige Überschneidungen berücksichtigenden – inhaltlichen Ausprägungen dieser annehmen kann, bleibt einer gesonderten Untersuchung vorbehalten.423 2. Echter europäischer ordre public und nationaler europäisierter ordre public Daran anschließend stellt sich wiederum die Frage nach dem normativen Bezugspunkt eines „europäischen“ Wesentlichkeitsvorbehalts. Dabei gilt es für die eindeutige Zuordnung der rechtshilfehindernden Wirkung eines ordre-public-​ Einwands zum Rechtsregime des Europarats einerseits und dem des Unionsrechts andererseits zwischen einem „europäischen“ ordre public zugunsten letzteren – i. S. d. Intention des Gesetzebers zu § 73 S. 2 IRG424 – auf der einen und einem solchen zugunsten eines dem Europarat zugrunde liegenden Wertefundaments auf der anderen Seite zu differenzieren.425 Insoweit ließe sich in einem ersten Schritt eine Parallele zur terminologischen Abgrenzung vom Recht des Europarats (Euro­ parecht i. w. S.) zum Recht der EU (Europarecht i. e. S.) ziehen426 und dementsprechend von einem „europäischen“ ordre public i. w. S. und i. e. S. sprechen.427

421

S. zum Begriff bereits Fn. 281. Vogel, GA 2002, 517 (522). 423 S. u. S. 249 ff. 424 S. zur Gesetzesbegründung die Nachweise in Fn. 339. S. auch Böhm, NStZ 2018, 197 (198); Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 114, der unter Verweis auf den Wortlaut des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG den persönlichen Anwendungsbereich des § 73 S. 2 IRG auf Deutsche und Nichtdeutsche erstrecken will. 425 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 111 ff. und 125 ff. 426 Herdegen, Europarecht (2019), § 1 Rn. 2 ff.; Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 1 Rn. 6 f.; Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 15; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 1 f.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 1; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 18. 427 So überzeugend auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 110 f. 422

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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a) Echter europäischer ordre public des Unionsrechts im Anwendungsbereich der unmittelbaren Rechtswirkung Wie sich sogleich zeigen wird, kann die terminologische Ausdifferenzierung auch dabei nicht stehen bleiben. Denn das Unionsrecht zeichnet sich als supranationale Rechtsordnung mit wenn auch übertragener (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG), so doch mit eigener Hoheitsgewalt aus und hat dadurch eine über bloße zwischenstaatliche Zusammenarbeit auf völkervertraglicher Ebene hinausgehende autonome Stellung eingenommen.428 Eine der sich daraus ergebenen Konsequenzen liegt in der un­ mittelbaren Geltung des Unionsrechts,429 die allerdings von der Frage zu differenzieren ist, ob ein Rechtssatz derart hinreichend konkretisiert ist, um auch unmittelbar anwendbar, d. h. „self-executing“ 430 zu sein.431 Die unmittelbare Wirkung stellt

428

EuGH, Costa v. E. N. E. L., Urteil v. 15.07.1964 (Rs. 6/64;  ECLI:EU:C:1964:66), Slg. 1964, 1259 (1269 f.) („Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten an­ zuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungs­ fähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“); EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 26/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (25); Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 61, wonach eine innerstaatliche Transformation sogar unzulässig sei, da damit die Eigenheiten des Unionsrechts verloren gingen; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 129 f.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 5 ff.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 138; Hobe, Europarecht (2017), Rn. 472; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 3; für einen „völkervertraglichen Geltungsgrund“ aber etwa Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 65 ff. (72), § 3 Rn. 209. 429 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 135. Für Verordnungen ordnet Art. 288 Abs. 2 AEUV diese unmittelbare Geltung explizit an („gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat“); s. jedoch in diesem Zusammenhang Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 35, die im Fall des Art. 288 Abs. 2 AEUV von einer „Anordnung unmittelbarer Anwendbarkeit“ sprechen. Ausf. zur einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts Nettesheim, Der Grundsatz der einheitlichen Wirksamkeit des EG-Rechts, in: Randelzhofer / Scholz / Wilke, GS Grabitz (1995), S. 447 ff., der die dogmatische Grundlage der einheitlichen Wirksamkeit des Unionsrechts im Vorrang des Gemeinschaftsrechts, dessen unmittelbaren Wirksamkeit sowie dem Verbot der Wirksamkeitsbeeinträchtigung durch die Mitgliedstaaten sieht. 430 Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 575. 431 Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 545; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 135; Jarass / Beljin, JZ 2003, 768 f. („‚unmittelbare Anwendung‘ als Oberbegriff“), wonach aber zutr. die unmittelbare Anwendung von der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ zu differenzieren sei (769 [Herv. i. O.]); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 3, § 3 Rn. 35, die jedoch die unmittelbare Wirksamkeit als Alternative für eine fehlende unionsrechtlich angeordnete unmittelbare Anwendbarkeit betrachten; vgl. für eine Differenzierung zwischen unmittelbarer Anwendbarkeit und unmittelbarer Wirksamkeit auch Hobe,

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

eine Eigenheit des Unionsrechts dar, ergibt sich aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG432 und schließt das Erfordernis nach einer „Bestätigung“ in den Mitgliedstaaten aus.433 Demgegenüber ist die unmittelbare Anwendbarkeit eine Frage der Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber selbst. Hinsichtlich der unmittelbaren Anwendbarkeit einer Norm betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass das ein Handlungs- oder Unterlassungspflichten begründende sowie hinreichend konkretisierte Unionsrecht keiner weiteren Umsetzungsmaßnahmen bedürfe und folglich unmittelbare Rechtswirkung auch zugunsten natürlicher Personen in den Mitgliedstaaten entfalte.434 Ein i. R. d. Untersuchung relevantes Beispiel für unmittelbar wirkendes und anwendbares Unionsrecht sind die Garantien der Grundrechtecharta.435 Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass dem Unionsrecht seit der wegweisenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Costa v. E. N. E. L. nach nahezu unbestrittener Auffas-

Europarecht (2017), Rn. 397; zur Differenzierung der Existenz und Gültigkeit einer Norm des Gemeinschaftsrechts von ihrer Geltung, ihrer Geltung von ihrer Anwendbarkeit sowie dieser von ihrer Anwendung s. Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht (1988), S. 8 ff. Für eine Gleichbehandlung aber explizit Streinz, Europarecht (2019), Rn. 455; s. auch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 15 (unmittelbare Wirkung als „besondere, begrifflich herausgehobene Form der unmittelbaren Anwendbarkeit“), die jedoch auch ausführen, dass die unmittelbare Anwendbarkeit Voraussetzung unmittelbarer Wirkung sei. 432 S. aus der Rspr. des BVerfG nur BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (338) („Geltungsanordnung“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (400) („konstitutiver Rechtsanwendungsbefehl“); BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (375); s. dazu auch Kirchhof, § 214:  Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X (2012), Rn. 158 ff. („Europarecht erreicht Deutschland, weil der deutsche Gesetzgeber diesem Recht eine Brücke baut, damit die deutsche Rechtsordnung für europäisches Recht öffnet.“); Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 166, 958 ff. („Brücke des ‚konstitutiven Rechtsanwendungsbefehls‘“); so auch Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (122 f.). 433 Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 3; s. auch Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 545 („ohne besondere Vollzugsanordnung“); Jarass / Beljin, JZ 2003, 768 (769). 434 S. nur EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 26/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (25 f.) („[…] ein klares und uneingeschränktes Verbot, eine Verpflichtung, nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen. Diese Verpflichtung ist im Übrigen auch durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der ihre Erfüllung von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig machen würde. Das Verbot […] eignet sich seinem Wesen nach vorzüglich dazu, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu erzeugen. […] Der Umstand, daß dieser Artikel die Mitgliedstaaten als Adressaten der Unterlassungspflicht bezeichnet, schließt nicht aus, daß dieser Verpflichtung Rechte der Einzelnen gegenüberstehen können.“); s. auch Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 961 („vollzugsfähig“); Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 137; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 15; Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 545. 435 Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 3 Rn. 7; vgl. auch Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 545.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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sung 436 ein Anwendungsvorrang – kein Geltungsvorrang – gegenüber dem nationalen (Verfassungs-)Recht zukommt.437 In der Konsequenz wird entgegenstehendes nationales Recht also in der Durchsetzung gehemmt (Kollisionsregel),438 jedoch nicht derogiert. Das Unionsrecht entfaltet aufgrund seiner Herleitung aus der derivativen Hoheitsgewalt der Mitgliedstaaten insoweit eine Durchgriffswirkung in die nationalen Rechtsordnungen.439 Deren Gerichte und Behörden müssen keine weiteren Vollzugsmaßnahmen ergreifen, haben das unmittelbar geltende Unions 436 Vgl. zu den unterschiedlichen Begründungsansätzen Streinz, Europarecht (2019), Rn. 208 ff. m. w. N., sowie ausf. zur Rspr. des BVerfG (223 f.); Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 65 ff. 437 S. aus der ständigen Rspr. des EuGH nur EuGH, Costa v. E. N. E. L., Urteil v. 15.07.1964 (Rs. 6/64; ECLI:EU:C:1964:66), Slg. 1964, 1259 (1269 f.) („Die Verpflichtungen, die die Mitgliedstaaten im Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle, wenn sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarstaaten in Frage gestellt werden könnten.“); EuGH, Staatliche Finanzverwaltung v. S. P. A.  Simmenthal, Urteil v. 09.03.1978 (Rs. 106/77;  ECLI:EU:C:1978:49), Slg. 1978, 629 (644); EuGH, Ministero delle Finanze v. IN.CO.GE.’90 Srl et al., Urteil v. 22.10.1998 (C-10/97 bis C-22/97; ECLI:EU:C:1998:498), Slg. 1998, I-6324 (6332 f.); EuGH, Consorzio Industrie Fiammiferi (CIF) v. Autorità Garante della Concorrenza e del Mercato, Urteil v. 09.09.2003 (C-198/01; ECLI:EU:C:2003:430), Slg. 2003, I-8079 (8094). S. auch die Erklärung Nr. 17 zur Schlussakte der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon (Abl. EU 2008, C 115, 344) („Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben.“). Das BVerfG hat den Anwendungsvorrang ebenfalls anerkannt: BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (335, 352 f.) („Als Rechtsgemeinschaft von derzeit 28 Mitgliedstaaten könnte sie nicht bestehen, wenn die einheitliche Geltung und Wirksamkeit ihres Rechts nicht gewährleistet wäre. […] Art. 23 I GG enthält insoweit auch ein Wirksamkeits- und Durchsetzungsversprechen für das unionale Recht.“); BVerfG, Beschluss v. 06.07.2010 (2 BvR 2661/06), BVerfGE 126, 286 (301 f.); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (402); BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (375) („Aus dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zum EWG-Vertrag […] ergibt sich die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnungen für die Bundesrepublik Deutschland und ihr Anwendungsvorrang gegenüber innerstaatlichem Recht.“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2  BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (396 f., 402) („Vorrang kraft verfassungsrechtlicher Ermächtigung“); ebenso der österreichische VfGH, Erkenntnis v. 14.03.2012 (U 466/11 et al.), RIS, Tz. 4 und 4.1. S. für Nachweise aus der Literatur Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 196 ff.; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn, 141 ff.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 225; Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 1 ff.; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 85, 93; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 58 ff. (61 f.); Dietz, AöR 142 (2017), 78 (111). 438 Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 3. S. auch BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 47 („Sie [die Grundrechte] bleiben dahinterliegend ruhend in Kraft.“). 439 Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 61 („Durchstoßen des nationalen Souveränitätspanzers“); Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 15; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 579; Herdegen, Europarecht (2019), § 5 Rn. 12 mit expliziter Differenzierung „zwischen den Regelungsbefugnissen der Union und den Beschlüssen anderer internationaler Organisationen oder sonstiger Formen ‚intergouvernementaler‘ Zusammenarbeit“.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

recht zu berücksichtigen und sind aufgrund des Anwendungsvorrangs an einem Rückgriff auf entgegenstehendes nationales Recht gehindert. Soweit also das Unionsrecht mittels Durchgriffswirkung unmittelbar zur Anwendung gelangt und damit keiner gesonderten innerstaatlichen Vollzugsanordnung bedarf, muss das auch für einen dieses unmittelbar geltende Unionsrecht absichernden ordre-public-Einwand gelten. Dieser ist schließlich selbst Bestandteil dieser unmittelbar geltenden Rechtsordnung und kann nur durch eine solche Durchgriffswirkung eine effektive Durchsetzung der grundlegenden Rechtssätze des Unionsrechts gewährleisten. Wenn sich das Unionsrecht aber von der traditionellen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit losgelöst und verselbstständigt hat, folgt daraus in einem weiteren Schritt auch, dass dieses nicht nur unmittelbar in, sondern auch unabhängig von den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gilt. Es ist insoweit von einer räumlich betrachtet den Bereich der Mitgliedstaaten um­fassenden zusätzlich geltenden Rechtsordnung auszugehen.440 Folglich ist der Wesentlichkeitsvorbehalt, dessen normativer Bezugspunkt die unmittelbar geltende Unionsrechtsordnung ist, ein „echter“ europäischer ordre public,441 da er unmittelbar aus der Unionsrechtsordnung heraus wirkt und abgesehen vom einmalig erforderlichen Rechtsanwendungsbefehl in Form eines parlamentarischen 440 EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 6/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (25) („Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht“); Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 129, 135. 441 Vage Basedow, Die Verselbstständigung des europäischen ordre public, in: Coester / Martiny / P rinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 291 (300 ff.), der einem „europäischen ordre public“ eine „eigenständige Rolle“ (317) zuschreibt, dessen Wirkung jedoch in der Korrektur und / oder Ergänzung des nationalen ordre public liege, i. Ü. aber auch betont, dass der „europäische ordre public“ „über die grundlegenden Wertungen des nationalen Rechts hinaus [greift] und […] die Durchsetzung grundlegender Wertungen des europäischen Rechts auch dort [verlangt], wo der einzelne Mitgliedstaat aus seinen nationalen Anschauungen heraus duldsamer ist.“ Wohl auch Stürner, Anerkennungsrechtlicher und europäischer Ordre Public als Schranke der Vollstreckbarerklärung, in: Schmidt, FG 50 Jahre BGH (2000), S. 677 (687 f.), der zwischen harmonisiertem nationalen Recht einerseits und primärem und sekundärem Gemeinschaftsrecht andererseits differenziert, wobei diese „ebenso gemeinsame Rechtsgrundsätze erkennen [lassen] wie die harmonisierten nationalen Zivilrechte.“ I. Erg. gegen ein solches Verständnis eines unionsrechtlichen ordre public Alvarez de Pfeifle, Der ordre public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (2009), S. 183 f., die zwar grds. betont, dass „[a]ls Ansatzpunkt des Ordre Public-Begriffes […] also auch das Europäische Gemeinschaftsrecht bzw. die grundlegenden, unmittelbar geltenden Normen des Primär- und Sekundärrechts zu bezeichnen [ist]“, jedoch zu dem Ergebnis gelangt, dass der nationale ordre public (des Art. 6 EGBGB) „europäisch angereichert ist“ und das Gemeinschaftsrecht „unmittelbar vorrangiges Recht und kraft des Vorrangprinzips anwendbar [ist]“; ebenso Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 55 ff.; wohl auch Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 287, der zwar betont, dass ein „ordre public des primären Gemeinschaftsrechts“ vom „internationalprivat- oder verfahrensrechtlich relevanten ‚europäischen ordre public‘ deutlich abzuheben ist“, „der so definierte europäische ordre public [als Inbegriff der fundamentalen Grundsätze des unmittelbar geltenden Gemeinschaftsrechts] unter der Zielvorgabe ‚Konkretisierung‘ aber wenig erkenntnisfördernd“ sei.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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Zustimmungsgesetzes (Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG) keiner wiederkehrenden innerstaatlichen Wirkungsermächtigung bedarf, da die Union i. R. d. ihr übertragenen Hoheitsrechte rechtsgestaltend tätig werden darf.442 Auch die einheitliche Wirkung des Unionsrechts verlangt eine solche Betrachtungsweise, garantiert doch ein unmittelbar wirkender ordre public am besten die Gewähr für die Durchsetzung des einen Wesentlichkeitskern ausmachenden Unionsrechts. Schließlich ist zu betonen, dass ein ordre-public-Einwand, soll er wie hier als anerkennungsrechtlicher Wesentlichkeits­vorbehalt der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen entgegen gehalten werden, einer autonomen Konkretisierung unterliegen muss. Denn als Teil des unmittelbar wirkenden Unionsrechts bedarf er gerade keiner weiteren innerstaatlichen Umsetzung und scheidet so eine mögliche Beeinflussung des nationalen Gesetzgebers auf die inhaltliche Ausgestaltung aus. Zum anderen stellt dieser ordre public zugleich einen europarechtlichen ordre public interne i. e. S. dar, da dem Unionsrecht neben einer Durchgriffswirkung in sämtliche mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen auch eine autonome Stellung neben diesen zukommt.443 Da dieser ordre-public-Begriff allerdings einen Konsens unter allen Mitgliedstaaten voraussetzt, erlangt ein nationaler Wesentlichkeitsvorbehalt, dessen zulässige Aktivierung noch gesondert untersucht wird,444 zum Schutz der Eigenheiten der nationalen Rechtsordnungen weiterhin besondere Bedeutung.445 b) Keine unmittelbare Wirkung der Europäischen Menschenrechtskonvention Eine Sonderstellung kommt in diesem Zusammenhang der EMRK zu. Wie ich sogleich im nächsten Abschnitt aufzeigen werde, bildet sie aufgrund ihres Charakters als völkerrechtlicher Vertrag und dem damit einhergehenden Erfordernis nach innerstaatlicher Transformation einen Bestandteil eines europäisierten na 442 Vgl. Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 3 Rn. 208 ff. („Der Europäischen Union sind Hoheitsrechte übertragen, die sie in den Handlungsformen des Unionsrechts ausübt.“). 443 Für den Anwendungsbereich der Unionsgrundrechte gem. Art. 6 EUV auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 123; vgl. auch Braum, GA 2005, 681 (694) (auf die Rechtspraxis in den EU-Mitgliedstaaten abstellend und betonend, dass „eine mehrheitliche Praxis […] nicht schlechthin unerträglich sein [kann].“ Für eine Zuordnung der Grundfreiheiten – die nach überwiegender Ansicht zum unmittelbar anwendbaren Unionsrecht zählen (s. nur Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU [2015], Rn. 138 m. w. N. zur Rspr. des EuGH) – zum nationalen ordre public hingegen Leible / L ehmann, RIW 2007, 721 (734) (europäischer ordre public bislang noch im „embryonalen Stadium“); für eine Zuordnung der Gewährleistungen der GRCh zu Art. 6 S. 2 EGBGB sogar Alvarez de Pfeifle, Der ordre public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (2009), S. 131. 444 S. u. S. 184 ff. 445 S. dazu auch Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 290 f., der zutr. betont, dass ein so verstandener ordre public in der Konsequenz einer engen Definition unterliegt.

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

tionalen ordre public international. Eine besondere Berücksichtigung der EMRK durch die Unionsmitgliedstaaten folgt jedoch aus der expliziten Normierung jener als Teil des Unionsrechts in Form allgemeiner Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV und der damit einhergehenden Anerkennung als Rechtserkenntnisquelle.446 Es bleibt indes formal betrachtet bei einer nur mittelbaren Bindung der Mitgliedstaaten in der Rolle als solche an die EMRK, während sie zugleich in der Rolle als Vertragsstaaten des Europarats – quasi dem Unionsrecht vorgelagert – unmittelbar an die Konventionsgarantien gebunden sind. Demnach bildet die EMRK bis zum wirksamen Beitritt der Union zur EMRK gem. Art. 6 Abs. 2 EUV keine originäre unionsrechtseigene Rechtsquelle.447 Demnach nehmen die Konventionsgarantien auch nicht an der unmittelbaren Wirkung und damit am „echten“ europäischen ordre public teil:448 Die – i. R. d. Art. 51 Abs. 1 GRCh – unmittelbar wirkenden 446

Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 6 EUV Rn. 51; ders., Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 80; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 6 EUV Rn. 46; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 20 f.; Streinz / Streinz (2018), Art. 6 EUV Rn. 25; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 64; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 11; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 2 Rn. 22 ff. (25); Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2020), Rn. 149 f.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018) § 10 Rn. 6; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 16; Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 37; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 81, 765; Kokott / Sobotta, EuGRZ 2010, 265 (266); Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 20; ders., § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 6 (mit weiteren Ausführungen zur Differenzierung zwischen Rechtsquellen und Rechtserkenntnisquellen [mit Fn. 21]) und 29; dazu auch Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2020), Rn. 145 ff. 447 S. auch EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:​C:​ 2014:2454), JZ 2015, 773 (776); EuGH, Inuit Tapiriit Kanatami et al. v. Kommission, Urteil v. 03.09.2013 (C-398/13 P; ECLI:EU:C:2015:535), Tz. 45; EuGH, Åkerberg Fransson, Urteil v. 26.02.2013 (C-617/10; ECLI:EU:C:2013:105), NJW 2013, 1415 (1417) (jeweils: „[…] doch stellt diese Konvention, solange die Union ihr nicht beigetreten ist, kein Rechtsinstrument dar, das formell in die Unionsrechtsordnung übernommen worden ist.“); Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 64 („EMRK kein Unionsrecht, keine echte Rechtsquelle des Unionsrechts“); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 115; ­Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (380). Callewaert betont jedoch, dass die EMRK über Art. 52 Abs. 3 GRCh „zumindest in ihren von der Charta übernommenen Teilen zum verbindlichen Referenz­punkt bzw. mittelbaren Bestandteil des EU-Rechts“ werde (Callewaert, EuGRZ 2003, 198 [200]); s. auch Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 5 f., 15 („in der Sache […] gegenüber einer unmittelbaren Anwendung kein signifikanter Unterschied“), der jedoch auch betont, dass die Berücksichtigung der EMRK durch den EuGH „eine unmittelbare Geltung der EMRK auf lange Sicht nicht ersetzen [kann]“ (56). 448 Insoweit werden die Gewährleistungen der EMRK ebenfalls – freilich ungenau – zum „europäischen“ ordre public „gem. § 73 S. 2 IRG i. V. m. Art. 6 EUV“ gezählt, s. etwa von Heintschel-Heinegg, § 37 Europäischer Haftbefehl, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 56; s. auch Gebauer, Ordre Public (Public Policy), in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 21 („The ECHR forms part of European public policy“).

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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Gewährleistungen der GRCh bieten gemeinsam mit denen der EMRK gem. Art. 6 Abs. 3 EUV zwar einen kohärenten Grundrechtsschutz.449 Dieser darf im unionsrechts­ internen Verhältnis450 – wie der Umkehrschluss aus Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh belegt („gleiche Bedeutung und Tragweite“) – nicht hinter dem Schutzniveau der Konventionsrechte zurückbleiben.451 Gewährleistet wird dieser inhaltliche Gleichklang im Ergebnis nicht nur durch die dynamische Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR seitens des EuGH i. R. d. Auslegung der Gewährleistungen der GRCh,452 449

Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [33 f.]) mit einer Auflistung der sich entsprechenden Artikel der GRCh und EMRK; VfGH, Erkenntnis v. 14.03.2012 (U 466/11 et al.), RIS, Tz. 5.9.; Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 52, 59; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 6; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 15; Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 86. In der Folge werden auch im Beitritt der EU zur EMRK keine „wesentlichen Veränderungen im Grundrechtsschutz“ gesehen (Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht [2018], § 17 Rn. 38). 450 Im Außenverhältnis regeln Art. 53 GRCh bzw. Art. 53 EMRK den Geltungserhalt des charta- resp. konventionsrechtlichen Schutzniveaus, vgl. etwa Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art.  53 GRCh Rn.  1; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 53 GRCh Rn. 1 f.; ­Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 3 Rn. 14 ff. 451 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [33]: „Auf jeden Fall darf der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein.“); GAin Verica Trstenjak, K. gegen Bundesasylamt, Schlussantrag v. 27.06.2012 (C-245/11; ECLI:EU:C:2012:389), Tz. 87; BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (361 f.); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 15; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 63; Peers et al. / Peers / Prechal (2014), Art. 52 Rn. 52.121; Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 52 GRCh Rn. 17; Streinz / Streinz (2018), Art. 6 EUV Rn. 25; ders., Europarecht (2016), Rn. 80, 766; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 113 ff.; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 15 und 72; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 29; Röß, EPL 25 (2019), 25 (33); Fichera / Herlin-Karnell, EPL 19 (2013), 759 (768); Swoboda, ZIS 2018, 276; Lenaerts, EuR 2012, 3 (12); Kokott / Sobotta, EuGRZ 2010, 265 (267); Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199). S. auch Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 45 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 44 („EMRK als Mindeststandard und GRCh als grundrechtliche Vollrechtsordnung“); Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 4 Rn. 6, die jeweils von einer „Patenschaft“ der EMRK sprechen; ähnl. Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 52 GRCh Rn. 46; Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199), wonach jeweils die GRCh auf der EMRK aufbaue. Für eine Bewertung der EMRK in diesem Zusammenhang als „gemeineuropäischen Grundrechtsstandard“ auch Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 65 („EMRK als ‚Verfassungsinstrument des europäischen ordre public‘“ [Herv. i. O.]). Bühler hingegen versteht die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ als bloße Normierung der „deckungsgleichen“ Übertragung der Schranken der EMRK (Bühler, Einschränkung von Grundrechten [2005], S. 313 f.). 452 S. für Beispiele etwa EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 ­(C-42/17; ECLI:​EU:C:2017:936), Tz. 55; EuGH, DEB v. Deutschland, Urteil v. 22.12.2010 (C-279/09; ECLI:EU:C:2010:811), Slg. 2010, I-13880 (13894, 13896 f.); EuGH, Steffensen, Urteil v. 10.04.2003 (C-276/01; ECLI:EU:C:2003:228), Slg. 2003, I-3756 (3778 f.); EuGH, Roquette Frères SA v. Directeur général de la concurrence, Urteil v. 22.10.2002 (C-94/00; ECLI:​EU:C:2002:603), Slg. 2002, I-9039 (9054); EuGH, Connolly v. Kommission, Urteil v. 06.03.2001 (C-274/99 P;  ECLI:EU:C:2001:127), Slg. 2001, I-1638 (1675 f.); EuGH, Fa-

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

die ebenfalls durch diese Kongruenzklausel geboten ist.453 Vielmehr ist auch auf die Judikatur des EGMR selbst hinzuweisen, der etwa im Zuge der „Bosphorus“-​ Rechtsprechung 454 die Rechtfertigung einer Konventionsverletzung durch einen Unionsmitgliedstaat ähnlich der „Solange“-Rechtsprechung des BVerfG455 unterstellt, wenn ein in den Schutzbereich von Konventionsgarantien eingreifendes Hoheitshandeln als unionsrechtlich determiniert und unionsrechtkonform zu bewerten ist und solange das Unionsrecht selbst einen dem Konventionsstandard adäquaten

miliapress v. Heinrich Bauer, Urteil v. 26.06.1997 (C-368/95;  ECLI:EU:C:1997:325), Slg. 1997, I-3709 (3717); EuGH, Kommission v. Niederlande, Urteil v. 25.07.1991 (C-353/89; ECLI:EU:C:1991:325), Slg. 1991, I-4088 (4097); EuGH, Hoechst AG  v. Kommission, ­ Urteil v. 21.09.1989 (Rs. 46/87 und 227/88; ECLI:EU:C:1989:337), Slg. 1989, 2919 (2923 f.); EuGH, Kommission v. Deutschland, Urteil v. 18.05.1989 (Rs. 249/86; ECLI:EU:C:1989:204), Slg. 1989, 1286 (1290); EuGH, Regina v. Kent Kirk, Urteil v. 10.07.1984 (Rs. 63/83; E ­ CLI:​ EU:C:1984:255), Slg. 1984, 2690 (2718); EuGH, Hauer v. Land Rheinland-Pfalz, Urteil v. 13.12.1979 (Rs. 44/79; ECLI:EU:C:1979:290), Slg. 1979, 3729 (3745 f.); vgl. zur Entwicklung dieser Rspr. auch Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 121 ff.; Kokott / Sobotta, EuGRZ 2010, 265 (266). Oeter spricht in diesem Zusammenhang von einer „indirekten Bindung des EuGH an den ‚ordre public européen‘ der EMRK“ (Oeter, VVDStRL 66 [2007], 361 [374, 380 f.]). 453 S. Abs. 5 der Präambel der GRCh („Diese Charta bekräftigt […] die Rechte, die sich […] aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten […] sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ergeben.“); s. auch Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [33]); BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 70; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 52 GRCh Rn. 44; von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 15; Ambos / König / Rackow / Ambos / ​ ­Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 73; Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 52 GRCh Rn. 19; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 74 und 122; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 65 m. w. N.; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 765; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 112 f.; Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199); weitergehend spricht Schallmoser sogar von einer Bindungswirkung and die Rspr. des EGMR, s. Schall­ moser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 87. S. zu dieser Orientierungswirkung auch Oeter, VVDStRL 66 (2007), 361 (380 f.); Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 38; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 4 Rn. 7 („mitkonstituierendes Element des Inhalts der Unionsgrundrechte“); Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 320 ff., die grds. eine dynamische Orientierung an der EGMR-Rspr. aufgrund der „Kooperationswilligkeit des EuGH“ befürwortet, jedoch wegen des – auch im Gutachten 2/13 deutlich zu Tage tretenden (EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 [2/13; ECLI:EU:C:2014:2454], JZ 2015, 773 [775, 776 ff.]); Anm. d. Verf.) – „fortbestehenden Autonomiewillens des EuGH“ Ausnahmen von dieser dynamischen Verweisung zulassen will. 454 EGMR GK, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi v. Irland, Urteil v. 30.06.2005 (45036/98), NJW 2006, 197. 455 Im Gegensatz zum BVerfG behält sich der EGMR im Zuge der „Bosphorus-Vermutung“ allerdings eine Einzelfallprüfung vor, vgl. nur Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 23; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 264; Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 (943 f.); Lavranos, EuR 2006, 79 (86 f.); zur „Manifestly-Deficient“-Prüfung durch den EGMR in diesen Fällen Bröhmer, EuZW 2006, 71 (75 f.).

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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Grundrechtsschutz garantiert.456 Der Kongruenzklausel457 des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh wird man dabei – um den in den Erläuterungen zur GRCh zum Ausdruck gebrachten Ziel eines inhaltlichen Gleichklangs beider Schutzregime gerecht zu werden458 – für diejenigen Gewährleistungen der GRCh, die in der EMRK eine Entsprechung finden, einen Auslegungsbefehl459 entnehmen müssen, der faktisch in eine umfassende Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation mündet.460 Eine 456 EGMR GK, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi v. Irland, Urteil v. 30.06.2005 (45036/98), NJW 2006, 197 (202) („Der Gerichtshof hat daher anerkannt, dass Beachtung des Gemeinschaftsrechts durch einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft ein sach­ liches, berechtigtes öffentliches Interesse […] darstellt“ [Herv. i. O.] und „Staatliches Handeln in Erfüllung solcher Verpflichtungen [die er nach In-Kraft-Treten der Konvention eingegangen ist] ist solange gerechtfertigt, wie die jeweilige Organisation die Grundrechte schützt – und zwar sowohl durch materielle Regeln als auch durch ein Verfahren zur Kontrolle ihrer Einhaltung – und das in einer Art, die wenigstens als gleichwertig zu dem von der Konvention gewährten Schutz anzusehen ist.“ [Ergänzung d. Verf.); bestätigt etwa in EGMR, Coope­ ratieve Producentenorganisatie van de Nederlandse Kokkelvisserij U. A. v. Niederlande, Entscheidung v. 20.01.2009 (13645/05) in fine sowie in EGMR GK, Avotiņš v. Lettland, Urteil v. 23.05.2016 (17502/07), Tz. 101 ff.; s. auch weiterführend etwa Karpenstein / Mayer / Mayer (2015), Einleitung Rn. 135 ff.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 23; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 120 ff. (mit Ausführungen zur Bedeutung für den Übergabeverkehr nach dem RbEuHb [126 ff.]); Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 21 ff.; Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 101 f.; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 4 Rn. 4; Winkler, Bosphorus-Urteil, in: Bergmann, Handlexikon der EU (2015), S. 182 f.; Bröhmer, EuZW 2006, 71 ff.; Heer-Reißmann, NJW 2006, 192 ff.; Haratsch, ZaöRV 66 (2006), 927 ff.; Lavranos, EuR 2006, 79 ff.; Szczekalla, GPR 2005, 176 ff. Bereits die EKMR hatte im Fall M. & Co. v. Deutschland eine Beschwerde als unzulässig zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, „that the legal system of the European Communities not only secures fundamental rights but also provides for control of their observance“, dass „the Court of Justice of the European Communities has developed a case-law according to which it is called upon to control Community acts on the basis of fundamental rights, including those enshrined in the European Convention on Human Rights“ und schließlich, dass „Community law contained all criteria which are prerequisites not only to examine but, if necessary, to remedy the applicant company’s complaint that its right to a fair hearing was violated.“ (EKMR, M. & Co. v. Deutschland, Entscheidung v. 09.02.1990 [13258/87], ZaöRV 1990, 865 [867]). 457 S. zum Begriff Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 48. Angesichts der auch hier vertretenen Inkorporationsfunktion der Vorschrift wird auch der Begriff „Transferoder Inkorporationsklausel“ verwendet, s. etwa Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 34; von der ­Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 15; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 52 GRCh Rn. 44; Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 65; s. auch Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 52 GRCh Rn. 19 ff. („Komplettverweis“). 458 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 303 f. m. w. N.; Peers et al. / ​ Peers / Prechal (2014), Art. 52 Rn. 52.115, die in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, dass die Erläuterungen zur GRCh bzgl. verschiedener Rechte der Charta „refer also to the text of the relevant ECHR rules on limitations, and […] reiterate expressly that only the ECHR limitations clauses may be applied.“ 459 Zum Verständnis als Auslegungsregel auch Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 64 m. w. N. in Fn. 168; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 2 Rn. 23. 460 Sehr deutlich insoweit von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 15 m. w. N. („Art. 52 Abs. 3 vollzieht so in gewisser Weise den Beitritt zur EMRK auf ma-

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

Aufgabe des autonomen Unionsgrundrechtsschutzes ist damit – entgegen einiger Befürchtungen461 – nicht verbunden, bleibt es doch bei einer Kongruenz nur derjenigen Garantien der Charta, denen eine Konventionsgarantie entspricht 462 und teriell-rechtliche Weise.“); für eine „materielle Inkorporation“ auch Meyer, HRRS 2016, 332 (335). S. auch Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 30, der von einer „Übernahme der entsprechenden EMRK-Bestimmungen in toto“ spricht (Herv. i. O.) und in der Konsequenz auf eine Definition des Begriffs „Bedeutung und Tragweite“ verzichten kann (31); Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199) („dass Art. 52 Abs. 3 den ganzen Inhalt der jeweiligen EMRK-Bestimmungen implizit zum Bestandteil der Charta macht“ [Herv. i. O.]); Kokott / Sobotta, EuGRZ 2010, 265 (266) („den gleichen Inhalt haben wie die EMRK“); Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 65 ff. („[…] der reale Schutzeffekt einer grundrechtskonstituierenden Norm hängt wesentlich ab von den relevanten eingriffsrechtfertigenden Normen […] sowie von der prätorischen Konkretisierung von Schutzbereichsdefinitionen und Schrankenregelungen durch Auslegung und ggf. Rechtsfortbildung.“ [65] und „Wenn eine hoheitliche Handlung, die als Eingriff in den Schutzbereich der betreffenden EMRK-Norm rechtfertigungsbedürftig bzw. […] rechtswidrig ist, muss sie ceteris paribus auch aufgrund der korrespondierenden Charta-Norm rechtfertigungsbedürftig bzw. rechtswidrig sein.“ [68]); Lenaerts, EuR 2012, 3 (12), der Art. 52 Abs. 3 i. V. m. Art. 53 GRCh sogar ein „Anpassungsgebot“ für Fälle entnimmt, in denen der EGMR das Schutzniveau eines Grundrechts anhebt; i. Erg. auch Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 59; vgl. zur Interpretation der Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ als Übertragung des Schutzbereichs einerseits und der Schrankenregelungen andererseits statt vieler Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 309 ff. m. w. N., wobei jedoch die der EMRK immanenten Schranken („inherent limitations“) nicht auf die GRCh übertragbar seien (318 f.); dagegen aber Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 117. S. aus der Rspr. des EuGH etwa EuGH GK, Schecke GbR und Eifert v. Land Hessen, Urteil v. 09.11.2010 (C-92/09 und C-93/09; ECLI:EU:C:2010:662), Slg. 2010, I-11117 (11144) („[…] dass Einschränkungen des Rechts auf Schutz der personenbezogenen Daten gerechtfertigt sein können, wenn sie denen entsprechen, die im Rahmen von Art. 8 EMRK geduldet werden.“). Vgl. zum inhaltlichen Gleichklang der Charta- und Konventionsgarantien auch die Präambel der GRCh: „Diese Charta bekräftigt […] die Rechte, die sich […] aus der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten […] ergeben.“ (Herv. d. Verf.); i. Erg. ebenso für einen konventionsrechtlichen Prüfungsmaßstab für den RbEuHb Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 105 ff., 129. A. A. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn. 37 f., der stattdessen auf eine „materielle Rezeption der EMRK“ abstellt; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 2 Rn. 22 ff. (25); Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 52 GRCh Rn. 45; Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 116; Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 49 („Pflicht zur inhaltlichen Harmonisierung“), der aber ebenfalls resümiert, „dass der Sachverhalt nach Maßgabe des Schutzbereichs und der Schranken des EMRK-Grundrechts zu beurteilen ist.“; für eine Harmonisierung des Grundrechtsschutzes auch Lindner, EuR 2007, 160 (173), jeweils m. w. N. Vgl. für einen Gleichklang der Gewährleistungen der GRCh infolge der Vorgaben des Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh und denen des GG infolge des Gebots der konventionskonformen Auslegung (s. dazu noch Fn. 469 mit Haupttext) BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 16/13), juris, Tz. 59 und 66 („Unbeschadet des substantiellen Gleichklangs der Grundrechtsverbürgungen auf der Basis der Menschenrechtskonvention“). 461 Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 53 GRCh Rn. 5; Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 49. 462 Peers et al. / Peers / Prechal (2014), Art. 52 Rn. 52.105; ausf. zum Kriterium der Korrespondenz Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn. 22 ff. Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte beinhalten eine Auflistung der korrespondierenden Garantien (s. bereits Fn. 449).

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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damit die Möglichkeit unbenommen, dass das Unionsrecht einen weitergehenden Schutz bereithält (Art. 52 Abs. 3 S. 2 GRCh). Zu verweisen ist hierbei auf weitere Schutzvorschriften der GRCh, die keine inhaltsgleiche Entsprechung in der Konvention finden463 oder den Schutzstandard der kongruenten Kodifikationen der Charta anheben. Im Ergebnis muss jedoch die Frage nach dem Umfang der Auslegung der Chartagarantien nach Art. 52 Abs. 3 GRCh – sei es als echte Inkorporation oder in Form abgeschwächter Berücksichtigung – hier nicht abschließend geklärt werden. Denn selbst wenn man Art. 52 Abs. 3 GRCh als bloßen Auslegungsmaßstab betrachtet, bleibt es bei der Berücksichtigung der Konventionsgarantien als Rechtserkenntnisquelle gem. Art. 6 Abs. 3 EUV. Für eine Berücksichtigung i. R. e. ordre-public-Einwands auf europäischer Ebene folgt daraus, dass die Konventionsgarantien – wenn auch unmittelbar anwendbar – nicht Teil des unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen ordre public sein können, obgleich sie als allgemeine Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV „gelten“. Denn eine solche unmittelbare Geltung würde die nach wie vor bestehende formale Trennung von Berücksichtigung lediglich in Form allgemeiner Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV und direkter Bindung der Mitgliedstaaten als Vertragsstaaten außerhalb des Unionsrechts überspielen464 und damit den noch ausstehenden Beitritt der Union zur EMRK gem. Art. 6 Abs. 2 EUV 465 463

Es sind dies die Art. 9, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1 und 3, Art. 47 Abs. 2 und 3 sowie Art. 50 GRCh, s. dazu die Auflistung unter Art. 52 Nr. 2 („Artikel, die dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Artikel der EMRK, deren Tragweite aber umfassender ist“) in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [34]); s. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 17; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 72. Die Erläuterungen weisen a. a. O. ebenfalls daraufhin, dass die in Art. 16 EMRK vorgesehenen Beschränkungen zulasten ausländischer Personen aufgrund der Unionsbürgerschaft keine Anwendung finden. Art. 52 Abs. 3 GRCh erlangt für keiner Konventionsvorschrift korrespondierende Gewährleistungen der Charta keine Bedeutung, s. Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 67. 464 So betont auch der EuGH zutr., dass Art. 6 Abs. 3 EUV keine Aussage über das Verhältnis von EMRK zu nationalem Recht trifft, s. EuGH GK, Kamberaj, Urteil v. 24.04.2012 (C-571/10; ECLI:EU:C:2012:233), Tz. 62 f. („dass es die in Art. 6 EUV enthaltene Verweisung auf die EMRK einem nationalen Gericht nicht gebietet, im Fall eines Widerspruchs zwischen einer Regelung des nationalen Rechts und der EMRK deren Bestimmungen unmittelbar anzuwenden und die mit der EMRK unvereinbare nationale Regelung unangewendet zu lassen.“); so auch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 38. 465 S. weiterführend zum „Beitrittsimperativ“ (zum Begriff Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen [2017], § 8 Rn. 83) des Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV sowie zum das Beitrittsabkommen für unionsrechtswidrig erklärenden Gutachten 2/13 des EuGH Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 6 EUV Rn. 69 ff.; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 25 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 7 ff. mit den Schaubildern 23a und b; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 14; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 83 ff.; jeweils m. w. N.; Masiero, EuClR 9 (2019), 222 ff., die in dem Gutachten einen „shadow of uncertainty over the future of accession“ und den Ball nunmehr im Feld der Mitgliedstaaten sieht, die „are perhaps the players most interested in achieving a breakthrough to resolve the situation“ (249 f.). Vgl. aber

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

vorwegnehmen.466 Im Ergebnis liefe dies aber auch darauf hinaus, die fehlende Hoheitsgewalt und Rechtsetzungskompetenz des „nur“ intergouvernemental struk­ turierten Europarats unberücksichtigt zu lassen.467 Eine unmittelbare Geltung würde überdies den innerstaatlichen Transformationsprozess zugunsten einer völkerrechtlichen Vereinbarung umgehen468 und den in der Bundesrepublik geltenden formalen Rang der EMRK als Bundesrecht (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) durch einen Anwendungsvorrang zugunsten jener überspielen, wenn sich auch die Unterschiede aufgrund der etablierten konventionskonformen Auslegung des Bundesrechts469 freilich in Grenzen halten. Hinzu kommt, dass die Wertungen der EMRK über die Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh470 auch im Rechtsraum der Union zur Geltung gelangen und außerdem die Mitgliedstaaten der EU zugleich allesamt Vertragsstaaten des Europarats sind und damit auch im Verhältnis untereinander zwar nicht unmittelbar unionsrechtlich, so doch aber völkerrechtlich an die EMRK gebunden sind. Deren Konventionsbindung wird nämlich auch durch eine Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nicht gelöst.471 Auch wenn die Gewährleistungen der EMRK damit im Ergebauch bereits zur teilweise vertretenen unmittelbaren Bindung aufgrund einer Rechtsnachfolge der Gemeinschaft in die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 38 m. w. N., der diese Bindung i. Erg. ablehnt. 466 Vgl. Streinz, Europarecht (2019), Rn. 772 f., wonach erst der Beitritt der EU zur EMRK letztere zur echten Rechtsquelle mache; ders., ZÖR 68 (2013), 663 (667). S. dazu auch die Schaubilder 23a und b bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 5. Insoweit spricht Löber im Zusammenhang mit dem Prüfungsmaßstab des § 73 S. 2 IRG unglücklich von „der EMRK (Art. 6 Abs. 2 EUV)“ (Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls [2017], S. 212). 467 Vgl. Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 2 Rn. 51; Oppermann / Classen / ​Nettes­ heim, Europarecht (2018), § 2 Rn. 17; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 76; Haratsch  / ­​Koe­ nig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 42. 468 Dieses Argument greift freilich nur für Rechtsordnungen, die – wie die deutsche – der Lehre des (gemäßigten) Dualismus folgend das Völkerrecht als von der nationalen getrennte Rechtsordnung ansehen und damit auf eine Inkorporation angewiesen sind, s. ausf. dazu Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 32 ff. (43 ff., mit Verweis auf den Görgülü-Beschluss des BVerfG in Rn. 46); Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 41 ff. 469 S. statt vieler etwa BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 16/13), juris, Tz. 58; BVerfG, Beschluss v. 20.06.2012 (2 BvR 1048/11), BVerfGE 131, 268 (295); BVerfG, Urteil v. 04.05.2011 (2 BvR 2365/09 et al.), BVerfGE 128, 326 (367 f.); BVerfG, Beschluss v. 26.03.1987 (2 BvR 589/79, 740/81 und 284/85), BVerfGE 74, 358 (370); BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 (2 BvR 1481/04), BVerfGE 111, 307 (317); Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 13; Herdegen, Europarecht (2019), § 3 Rn. 56 ff. (59) („lässt die Befolgungspflicht aus der EMRK für eine Abwägung keinen Raum“); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 4 m. w. N.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 13. 470 S. bereits die Nachweise in Fn. 460 mit Haupttext. 471 EGMR GK, Bosphorus Hava Yollari Turizm ve Ticaret Anonim Sirketi v. Irland, Urteil v. 30.06.2005 (45036/98), NJW 2006, 197 (202) („Der Staat bleibt nach der Konvention verantwortlich, wenn er vertraglichen Verpflichtungen nachkommt, die er nach In-Kraft-Treten der Konvention eingegangen ist.“); EGMR GK, Matthews v. Vereinigtes Königreich, Urteil v.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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nis nicht dem unmittelbar wirkenden unionsrechtlichen ordre public zugeordnet werden können, vermögen sie – ohne an dieser Stelle bereits auf inhaltliche Wertungen einzugehen – als Bestandteil eines europäisierten nationalen ordre public international rechtshilferelevante Wirkung unter den Mitgliedstaaten der EU zu entfalten. c) Europäisierter nationaler ordre-public-Vorbehalt im Zusammenhang mit unionsrechtlich determiniertem nationalen Recht und dem Vertragsrecht des Europarats Neben dieses unmittelbar anwendbare Unionsrecht treten sodann einerseits das Recht des Europarats (Europarecht i. w. S.), dessen Rechtsetzung als völkerrechtliche Verträge einer innerstaatlichen Inkorporation durch ein Bundesgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG bedarf und andererseits dasjenige Unionsrecht, das mangels hinreichender Konkretisierung keine unmittelbare Anwendbarkeit erfährt. Im letzteren Fall bedarf es eines innerstaatlichen Umsetzungsaktes,472 der jedoch nach der oben getroffenen Differenzierung die unmittelbare Wirkung des bereits vom Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG gedeckten Unionsrechts unberührt lässt. Es ist also insoweit zwischen einem Inkorporationsgesetz, das einem völkerrechtlichen Rechtssatz des Europarats innerstaatliche Rechtswirkung zu verleihen vermag auf der einen und der zur Konkretisierung nicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechts erforderlichen nationalen Ausfüllungslegislation auf der anderen Seite zu differenzieren. Letztere nimmt dabei nicht die Qualität eines „echten“ Inkorporationsgesetzes gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG ein, da der Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG bereits die „Tür“ zum Durchgriff auf die nationale Rechtsordnung zugunsten des Unionsrechts geöffnet hat.473 Welche genauen Anforderungen an diese jeweiligen Legislativakte zur Umsetzung zu stellen sind, kann hier dahinstehen. Für diese Untersuchung allein entscheidend 18.02.1999 (24833/94), NJW 1999, 3107 (3108) („Die EMRK schließt die Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf internationale Organisationen nicht aus, vorausgesetzt, die Rechte der EMRK sind weiterhin ‚zugesichert.‘ Die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten besteht also auch nach einer solchen Übertragung fort.“); BVerfG, Beschluss v. 24.07.2018 (2 BvR 1961/09), Tz. 38; s. auch Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 2 f., der sogar von einer Garantenstellung der Konventionsstaaten gegenüber der EMRK bei Durchführung des Unionsrechts spricht; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 5; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 4 Rn. 3 m. w. N.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 20. 472 Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016) Rn. 963, 968. 473 S. dazu Klein, Unmittelbare Geltung, Anwendbarkeit und Wirkung von Europäischem Gemeinschaftsrecht (1988), S. 9 f. („Mit dem Inkrafttreten dieser Verträge [gemeint sind die Gründungsverträge] sind nicht nur die eigentlichen Vertragsbestimmungen auch in den innerstaatlichen Rechtsordnungen prinzipiell anwendbar geworden […], sondern auch die von den Gemeinschaftsorganen gesetzten Rechtsakte […] gelten und sind anwendbar nach Maßgabe der Verträge.“).

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Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

ist, dass ein „europäischer“ ordre public, soweit er etwaige Gewährleistungen der EMRK oder einer konkretisierungsbedürftigen Unionsrechtsnorm zum Gegenstand hat, ohne eine Inkorporationsgesetzgebung resp. Ausfüllungslegislation nicht unmittelbar zur Anwendung gelangen, mithin nur über jene seine Rechtswirkung zugunsten elementarer Wertvorstellungen entfalten kann. Damit ist er – wie der internationalisierte ordre public – als Bestandteil der nationalen Wesentlichkeitsklausel als europäisierter nationaler ordre public international i. e. bzw. i. w. S. zu begreifen.474 In diesem Zusammenhang betont auch Kromrey zutreffend, dass die Annahme des Gesetzgebers im Zuge der Einführung des § 73 S. 2 IRG, ein nationaler ordre public könne einem Ersuchen um Überstellung seitens anderer Mitgliedstaaten der EU nicht entgegen gehalten werden,475 insoweit unzutreffend ist, als dass der nationale ordre public international (§ 73 S. 1 IRG) um europarechtliche Wertungen angereichert ist.476 Denn wenn der nationale Gesetzgeber Unionsrecht 474 S. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 110 ff., der sich insoweit des Begriffs des „landesrechtlichen ordre public européen“ bedient; Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 40; Schädel, Bewilligung internationaler Rechtshilfe (2005), S. 210; Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 103 f.; Leible / L ehmann, RIW 2007, 721 (734); Müko-BGB / von Hein (2018), Art. 6 EGBGB Rn. 153 differenziert insoweit zwischen einer „‚Europäisierung‘ des ordre public und dessen ‚Vergemeinschaftung‘ (Unionisierung)“; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 270; von einer „Vergemeinschaftung“ des ordre public spricht auch Martiny, Die Zukunft des europäischen ordre public, in: Coester / Martiny / Prinz von Sachsen-Gessaphe, FS Sonnenberger (2004), S. 523 (533), der zwar den Inhalt eines „europäischen ordre public“ unter Berufung auf die EMRK und das Gemeinschaftsrecht unabhängig definieren will, i. Erg. aber unter Bezugnahme des Anwendungsvorrangs zu einer Überlagerung des nationalen ordre public gelangt (533 ff.). Ausf. zum Schutz der EMRK durch den nationalen ordre public der Vertragsstaaten Renfert, Europäisierung der ordre public Klausel (2003), S. 106 ff. sowie zur Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts durch den nationalen Wesentlichkeitsvorbehalt (149 ff.), der den „europäischen“ ordre public zugunsten der EMRK ebenfalls als Bestandteil des nationalen versteht (118 f.); Thoma, Die Europäisierung und die Vergemeinschaftung des nationalen ordre public (2007), S. 22 ff. und 72 ff., die den aus der EMRK folgenden ordre public als ordre public européen versteht und zutr. betont, dass der Grundrechtsklausel im deutschen ordre public [gemeint ist Art. 6 EGBGB] keine Begrenzung auf die Inbezugnahme der Grundrechte des GG zu entnehmen sei („Berücksichtigung aller Menschenrechtsbestimmungen unbeschadet ihres rein nationalen bzw. grundrechtsbezogenen oder internationalen bzw. in die deutsche Rechtsordnung integrierten Ursprungs“ [79]) sowie zur Europäisierung der nationalen Vorbehaltsklausel am Bsp. des Privatrechts (120 ff.). Für eine ausschließliche Berücksichtigung unionsrechtlicher Wertungen i. R. d. nationalen – hier als europäisierten verstandenen – ordre public Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 16 ff. (55 ff.), die auf eine fehlende „umfassende Rechtsvereinheitlichung in Europa“ abstellt, jedoch zugleich betont, dass „das Unionsrecht seine Wirkung bedingt durch den Anwendungsvorrang in jedem Fall [entfaltet], sei es über eine nationale Vorbehaltsklausel mit unionsrechtlicher Ausprägung, sei es als eigenständiger europäischer ordre public.“ 475 BT-Drs. 15/1718, S. 14; so auch Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 47 („Nichtgeltung des § 73 S. 1 IRG“). 476 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 118; so auch Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 211, wonach der Anwendung eines „europarechtsfreundlich ausgelegten ‚ordre public‘ – also eines europäischen ordre public“ im Anwendungsbereich des EuHb nichts entgegenstehe und die auch betont, dass der „europäische

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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umsetzt und im Zuge dessen seiner unionsrechtlichen Pflicht aus Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh zur Beachtung unionsgrundrechtlicher Gewährleistungen nachkommt, kann schwerlich argumentiert werden, dass das Ergebnis – Unionsgrundrechte schützendes nationales Recht – als Bestandteil des nationalen ordre public der unionsrechtlichen Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb nicht entgegen gehalten werden können soll.477 Im Ergebnis lässt sich hierfür ebenfalls auf die Gesetzesbegründung verweisen, wenn demnach von den „wesentlichen Grundsätzen“ i. S. d. § 73 S. 1 IRG „völkerrechtliche Gebote des Grundrechts- bzw. Menschenrechtsschutzes“ erfasst sein sollen, die dann u. a. auch die Gewährleistungen der EMRK enthalten.478 Auch das BVerfG nimmt in einer jüngeren Entscheidung i. R. e. Auslieferung an die Russische Föderation (Europarat) auf § 73 S. 1 IRG und in diesem Zusammenhang auf den Maßstab der „wesentlichen Grundsätze der deutschen Rechtsordnung“ Bezug.479 Doch auch der Einwand des deutschen, nicht europarechtlich aufgeladenen ordre public ist damit, wie ich noch darlegen werde, nicht völlig ausgeschlossen. Überdies sei ergänzend auf Folgendes hingewiesen: Wenn sich der konkrete Auslieferungsverkehr ausschließlich unter Vertragsstaaten des Europarats abspielt, handelt es sich zugleich um einen allein den Rechtsraum des Europarats betreffenden europarechtlichen ordre public interne i. w. S.480 Ferner ist zu berücksichtigen, dass die EMRK aufgrund ihrer extraterritorialen Wirkung 481 bei Auslieferungen mit Drittstaatenbezug Bestandteil des internationalisierten nationalen ordre public der Vertragsstaaten des Europarats ist.482 ordre public“ enger als der völkerrechtsfreundlich auszulegende nationale sei (212); s. auch aus Sicht des Privatrechts Alvarez de Pfeifle, Der ordre public-Vorbehalt als Versagungsgrund der Anerkennung und Vollstreckbarerklärung (2009), S. 183 f. 477 S. zur grundrechtlichen Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung noch u. Fn. 596 mit Haupttext. 478 BT-Drs. 9/1338 S. 93. 479 BVerfG, Beschluss v. 28.07.2016 (2 BvR 1468/16), juris, Tz. 42 ff. S. für ein Auslieferungshindernis auf Grundlage des „§ 73 S. 1 IRG i. v. m. Art. 8 EMRK“ auch OLG Karlsruhe, Beschluss v. 14.02.2005 (1 AK 23/04), NStZ 2005, 351 f. sowie (zur Auslieferung an die Türkei im Anschluss an die Verhängung des Ausnahmezustandes in Folge des gescheiterten Putschs im Jahr 2016) KG, Beschluss v. 17.01.2017 ((4) 151 AuslA 11/16 (10/17)), StraFo 2017, 70 (71) („dass der Auslieferung ein Hindernis aus § 73 Satz 1 IRG i. V. m. Art. 3 EMRK endgültig entgegenstehen wird.“). 480 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 126. S. auch Renfert, Europäisierung der ordre public Klausel (2003), S. 118; von Bar / Mankowski, Internationales Privatrecht (2003), § 7 Rn. 270 („Denn sie [die EMRK] will einen gemeinsamen ordre public der Demokratien Europas errichten […].“); Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 30, der in Bezug auf die EMRK von einem „gemeineuropäischen Grundgesetz“ spricht; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 16 ff. spricht von einem regionalen ius cogens. Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 803 fordern insoweit – nicht überzeugend – eine Übertragung des Rechtsbestands des RbEuHb auf einen europäischen Mindeststandard im Bereich des Europarats. 481 S. zur extraterritorialen Wirkung der EMRK bereits Fn. 183 mit Haupttext. 482 So wird die EMRK auch in der Schweiz als Teil des internationalen orde public eingeordnet, s. BGer, Urteil v. 13.03.2002 (1A.25/2002/sta), D. 4 („Nach der Rechtsprechung gehören

144

Kap. 2: Der ordre-public-Vorbehalt

IV. Ergebnis Da sich der ersuchte oder Vollstreckungsstaat seines nationalen Strafverfolgungsapparats zur Unterstützung eines fremdstaatlichen Verfahrens bedient, lässt sich zunächst festhalten, dass der Begriff des ordre public in erster Linie der eines von der nationalen Rechtsordnung ausgehenden und auf einen grenzüberschreitenden Bezugspunkt ausgerichteten ordre public international ist. Die Kehrseite des ordre public interne als Inbegriff eines rechtsordnungsinternen zwingenden Wertefundaments kann im Bereich der zwischenstaatlichen Rechtshilfe dabei nur an Bedeutung erlangen, soweit die am konkreten Rechtshilfeverfahren beteiligten Staaten der identischen und sich durch einen gemeinsamen Wertekonsens auszeichechter europäischer ordre public durch unmittelbare Wirkung

Einbeziehung über Art. 25 GG

„wesentliche Grundsätze“, insbes. Art. 79 Abs. 3 GG

rechtshilferelevanter ordre pulic

extraterritoriale Wirkung der EMRK

nationaler ordre public international

allgemeine Regeln des Völkerrechts

Transformation über Art. 59 Abs. 2 GG

internationalisierter nationaler ordre public

Recht des Europarats, insbes. EMRK

nationaler ordre public international

Recht der EU, insbes. GRCh

europäisierter nationaler ordre public

nationaler ordre public international

nationaler ordre public international nationaler ordre public interne

Deutsche Rechtsordnung

Schaubild 3: „Europäischer“ ordre public und deutscher ordre public international

allerdings die von der EMRK [..] und dem UNO-Pakt II [gemeint ist der IPbpR] […] gewährleisteten Verfahrensgarantien zum internationalen ordre public.“); Niggli / Heimgartner / Fiolka (2015), Art. 1 IRSG Rn. 21, Art. 1a Rn. 10. In diesem Zusammenhang betonen Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 91, dass die Schweiz so nicht in eine „Pflichtenkollision“ gegenüber Staaten gerate, denen sie vertraglich zur Rechtshilfe verpflichtet ist, die selbst aber nicht Vertragsstaat der EMRK sind. Zu den Unterschieden in der Rspr. des EGMR und des schweizerischen Bundesgerichts Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 32 m. w. N.

B. Begriff des „europäischen“ ordre public

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nenden Rechtsgemeinschaft wie der EU oder dem Europarat angehören. Dieser ordre public interne des Europarats resp. der EU bedarf allerdings als originäres Völker- bzw. soweit nicht unmittelbar geltendes Unionsrecht grundsätzlich der Durchsetzung durch die Mitgliedstaaten, weshalb der ordre public interne i. e. S. (Unionsrecht) sowie i. w. S. (Europarat) als Bestandteil des europäisierten nationalen ordre public international zu begreifen ist. Eine bedeutsame Ausnahme macht dabei aber das unmittelbar wirkende und unmittelbar anwendbare Unionsrecht, dem in den Mitgliedstaaten durch einen antizipierten Rechtsanwendungsbefehl die Durchgriffswirkung gestattet ist. Dem Unionsrecht kommt in diesem Umfang unmittelbare Rechtswirkung zu, sodass es nicht auf die Durchsetzung seitens der Mitgliedstaaten angewiesen ist und der darin zum Ausdruck kommende ordre public als echter europäischer ordre public bezeichnet werden kann. Schaubild 3 soll die in diesem Abschnitt herausgearbeiteten Ergebnisse veranschaulichen.

Kapitel 3

Die Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands im europäischen Auslieferungsverkehr Betrachtet man nun die möglichen Auswirkungen eines ordre-public-Vorbehalts im europäischen Auslieferungsverkehr, sind an dieser Stelle folgende Überlegungen vorweg zu schicken: Zunächst ist festzuhalten, dass der ordre public entweder exklusiv die den Auslieferungsakt betreffenden innerstaatlichen Hoheitsakte beeinflussen kann, ohne dass bereits eine Auslandsberührung vorliegt. Oder aber der Wesentlichkeitsvorbehalt betrifft das im ersuchenden Staat geführte oder zu führende Verfahren und schlägt damit wegen der Verantwortung des ersuchten Staates auf den Auslieferungsakt durch.483 Weiterhin handelt es sich im Folgenden um einen anerkennungsrechtlichen ordre public im vorstehend benannten Sinn,484 der darauf abstellt, ob einem auf Auslieferung bzw. Überstellung gerichteten Ersuchen, das auf der Anerkennung der diesem Ersuchen zugrunde liegenden justiziellen Entscheidung gründet, normative Wertentscheidungen entgegen gehalten werden können. Es ist an dieser Stelle ebenfalls zu betonen, dass eine ordre-public-basierte Verweigerung der Anerkennung fremdstaatlicher justizieller Entscheidungen dem Unionsrecht keineswegs fremd ist: So enthält bereits die Verordnung (EG) Nr. 44/2001485 in Art. 34 Nr. 1 einen obligatorischen („wird nicht anerkannt“) Verweigerungstatbestand, wenn die Anerkennung der in Rede stehenden Entscheidung „der öffentlichen Ordnung (ordre public) des Mitgliedstaates, in dem sie geltend gemacht wird, offensichtlich widersprechen würde.“ Sodann stellt sich die Frage nach einer Rechtsgrundlage für eine solche Vorbehaltsklausel. Diesbezüglich wird untersucht, ob die geltenden, die Auslieferung regelnden Rechtsakte im Raum des Unionsrechts und des Rechts des Europarats einen ordre-public-Vorbehalt vorsehen und inwieweit dieser als zusätzliches Auslieferungshindernis in den einzelnen Rechtsregimen Berücksichtigung finden kann.

483 Vgl. dazu die Differenzierung in „inlands- und auslandskausale Fallgruppen“ bei Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 94 ff., 108 ff.; zust. Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 30. 484 S. bereits S. 113 ff. 485 Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (Abl. EU L 12, 1).

A. Die ordre-public-Klausel des § 73 IRG

147

A. Die ordre-public-Klausel des § 73 IRG Wie bereits erwähnt, enthält auch das IRG in § 73 eine Vorbehaltsklausel. Als Vorschrift des Siebenten Teils („Gemeinsame Vorschriften“) findet sie grund­ sätzlich auf den gesamten im IRG geregelten Rechtshilfeverkehr Anwendung.486 Allerdings bedarf es insoweit zweier konkretisierender Anmerkungen: Zum einen erfordert die Anwendung der Vorbehaltsklausel entsprechend der gesetzgeberischen Wertentscheidung 487 eine Differenzierung nach der Art der zu leistenden Rechtshilfe, da in Abhängigkeit davon unterschiedliche Stufen der Eingriffsintensität im Raum stehen können.488 Zum anderen begrenzt § 73 IRG (sowohl in S. 1 als auch S. 2) expres­sis verbis nur die Leistung von Rechtshilfe durch deutsche Behörden und damit ausschließlich eingehende Rechtshilfeersuchen. Die Frage nach der Anwendung auf ausgehende Ersuchen ist mit Vogel überzeugend dahingehend differenziert zu beantworten, dass inländische Hoheitsakte als Maßnahme der Strafverfolgung dem innerstaatlichen einfachen Gesetzes- und Verfassungsrecht unterworfen sind, es eines Rückgriffs auf einen ordre-public-Vorbehalt somit nicht bedarf.489 Diesem unterliegen jedoch nicht etwaige Verstöße durch die Vornahme der ersuchten Maßnahme im ersuchten Staat.490

486

BT-Drs. 9/1338, S. 33, 93; Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn.  5; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 2, 13 ff.; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64; vgl. auch unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte Wilkitzki, Entstehung des IRG (2010), S. 154. 487 Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn.  11; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 15 jeweils m. w. N., die zu Recht betonen, dass für den sonstigen Rechtshilfeverkehr eine Reihe klassischer Rechtshilfehindernisse (genauer gesagt Auslieferungs­ hindernisse) nicht gelten (so etwa der Einwand eines politischen, militärischen oder fiskalischen Delikts). 488 Von einer „besondere[n] Ausgestaltung des ordre public in Teilgebieten der Rechtshilfe“ spricht auch der Gesetzgeber im Bereich der strafrechtlichen Rechts- und steuerrechtlichen Amtshilfe (BT-Drs. 9/1338, S.  93); s. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 15; Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn. 5; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn.  11; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 78, die zudem jeweils u. a. auf die Möglichkeit einer „Entlastungsrechtshilfe“ als Form der sonstigen Rechtshilfe zugunsten des Betroffenen gegenüber der Aus- und Durchlieferung hinweisen. 489 Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn. 4 („Für die innerstaatliche Vornahmeermächtigung ist die uneingeschränkte Grundrechtsbindung ohnehin selbstverständlich.“); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 19 ff., 24; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 68 f. 490 BGH, Beschluss v. 21.11.2012 (1 StR 310/12), BGHSt 58, 32 (44) m. w. N.; Grützner / ​ Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 20; Ambos / König / Rackow / Ambos / ​ Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 68, jeweils unter Verweis auf Nr. 88 Abs. 1 lit. c) RiVASt. S. in diesem Zusammenhang auch zum Konflikt mit dem locus regit actum-Grundsatz i. R. d. Beweiserhebung im ersuchten Staat Ambos, Beweisverwertungsverbote (2010), S. 81 f.

148

Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Die Norm differenziert sodann zwischen einem „allgemeinen“ (S. 1) und einem „europäischen“ (S. 2) ordre public.491 Der Gesetzgeber betont im Zusammenhang mit § 73 S. 1 IRG, dass es – entsprechend der eingangs dargelegten Kriterien – bei der Anwendung des ordre-public-Vorbehalts nicht darum gehe, sämtliche sich von den Regelungen des deutschen Straf- und Strafverfahrensrechts unterscheidenden Eigenheiten des ausländischen Verfahrens zu korrigieren.492 Auch das BVerfG sieht § 73 IRG als einfachgesetzliche Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Verbots, durch eine Auslieferung an einem den völkerrechtlichen Mindeststandard als Bestandteil des Bundesrechts gem. Art. 25 GG verletzenden Verfahren durch nichtdeutsche Hoheitsgewalt mitzuwirken.493 Zugleich wird in der Gesetzesbegründung ausgeführt, dass „im Rahmen des § 72 [jetzt § 73] auch und gerade solche Verstöße zu berücksichtigen [sind], die sich nicht in dem jeweils aktuellen Verfahrensabschnitt, sondern in dem zu fördernden ausländischen Verfahren insgesamt manifestieren und auf die rechtliche Bewertung der einzelnen Rechtshilfehandlung zurückwirken.“ 494 Damit wird herausgestellt, dass die Betrachtungsweise i. R. d Bewertung eines etwaigen ordre-public-Verstoßes nicht auf die isolierte ersuchte Maßnahme beschränkt bleibt, sondern auch deren Auswirkungen auf das unterstützte Strafverfahren in Gänze mit in die Beurteilung einzufließen haben.495 Als ein Beispiel für einen Verstoß gegen wesentliche Grundsätze der deutschen Rechtsordnung greift der Gesetzgeber ebenfalls den Grund- und Menschenrechtsschutz auf.496 Vogel schreibt der Norm – entgegen § 1 Abs. 3 IRG497 auch für den

491

S. dazu auch Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 2, 9, wonach § 73 S. 1 IRG – freilich vor der Ergänzung des S. 2 – als Ausdruck einer inhaltlichen Mischform von nationalem und europäischem ordre public zu verstehen gewesen sei. 492 BT-Drs. 9/1338, S. 93 („klargestellt, daß nicht jedem ausländischen Verfahren, das in materiell-rechtlicher oder prozessualer Hinsicht Eigenarten aufweist, welche von unserem innerstaatlichen Recht abweichen, die Unterstützung durch Rechtshilfe versagt werden muß“); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 69; Schomburg / Lagodny / ​ Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn. 3. 493 S. statt vieler BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226 (228); BVerfG, Beschluss v. 24.03.2016 (2 BvR 175/16), NStZ 2017, 43 (46); BVerfG, Beschluss v. 31.03.1987 (2 BvM 2/86), BVerfGE 75, 1 (19 f.). S. zum internationalisierten ordre public bereits S. 121 ff. 494 BT-Drs. 9/1338, S. 93. 495 Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 22, der in Bezug auf § 73 S. 1 IRG zudem von einem „Eckstein des gesamten Auslieferungs- und Rechtshilferechts“ spricht (4). 496 BT-Drs. 9/1338/, S. 93 („wenn das ausländische Verfahren zu elementaren verfassungsrechtlichen oder völkerrechtlichen Geboten des Grundrechts- bzw. Menschenrechtsschutzes in offenbarem Widerspruch steht.“). Der Gesetzgeber nimmt in diesem Zusammenhang u. a. auf die Gefahr der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung Bezug. S. zur Bewertung als Auslieferungshindernis gem. Art. 3 und 4 EMRK / A rt. 49 Abs. 3 GRCh bereits Fn. 199 mit Haupttext. 497 S. zur Unanwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im vertraglich geregelten Rechtshilfeverkehr sogleich.

A. Die ordre-public-Klausel des § 73 IRG

149

Bereich des vertraglich geregelten Auslieferungsverkehrs – den Charakter eines „Kristallisationskeim[s] für die mittlerweile umfangreiche Rechtsprechung zum ‚staatenübergreifenden Menschenrechtsschutz‘ und zu den Mindeststandards, die erfüllt sein müssen“, zu.498

I. Keine Anwendbarkeit des § 73 S. 1 IRG im europäischen Auslieferungsverkehr Was den „allgemeinen“ Rechtshilfevorbehalt betrifft, so ist dessen Anwendung jedoch insoweit zurückgedrängt, als dass internationale Rechtshilfevereinbarungen dem nationalen Recht vorgehen (§ 1 Abs. 3 IRG). Damit wird § 73 S. 1 IRG zum einen von im internationalen Rechtshilferecht niedergelegten eigenständigen Vorbehaltsklauseln verdrängt. Als Beispiel kann hier auf den fakultativen Verweigerungsgrund in Art. 2 lit. b) EuRhÜbk 499 verwiesen werden, wonach ein Rechtshilfeersuchen abgelehnt werden kann, „wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, daß die Erledigung des Ersuchens geeignet ist, die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen seines Landes zu beeinträchtigen.“ Im Ergebnis ist damit die Anwendung des § 73 S. 1 IRG im vertraglich resp. unionsrechtlich geregelten Rechtshilfeverkehr zunächst ausgeschlossen, soweit in dem die konkrete Rechtshilfebeziehung regelnden Rechtsakt ein eigenständiger ordre-public-Einwand positiv geregelt oder der Rückgriff auf eine nationale Vorbehaltsklausel nicht ausdrücklich erlaubt ist.500 Und auch die verbleibende Möglichkeit, diese Vorbehaltsklausel im autonomen Rechtshilfeverkehr in Stellung zu bringen, darf nicht überbewertet werden, ist doch in diesem Zusammenhang die Entscheidung über die Auslieferung mangels völkerrechtlicher Pflicht zur Rechtshilfe in besonderem Maße vom außenpolitischen Ermessen der Bewilligungsbehörde abhängig,501 die die Auslieferung verweigern kann und ge-

498

Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 4. Zum Fundstellennachweis s. Fn.  49. S.  auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn.  6; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64 jeweils m. w. Bsp. (jener auch zu bilateralen Auslieferungsverträgen der BRD). 500 BGer, Urteil v. 02.09.1986, BGE 112 Ib 342 (346); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 6 („Vorrang rechtshilfevertraglicher ordre-public-, Verfassungs-, Menschenrechts- und Härteklauseln“); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64; NK-BGB / Dörner (2019), Art. 6 EGBGB Rn. 1; explizit auch Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 239, wonach der ordre-public-Einwand im Fall einer „unmittelbar durch Staatsvertrag auferlegten völkerrechtlichen Verpflichtung“ aus­geschlossen sei, sofern er nicht „ausdrücklich vorbehalten worden [sei].“ S. auch Schomburg / Lagodny / Gleß / Wahl / Trautmann (2020), § 73 IRG Rn. 2; Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 6; Beitzke, Ordre Public, in: Schlochauer et al., Wörterbuch des Völkerrechts (1962), S. 665; Grunsky, Ordre public, in: Arloth / Tilch, Rechts-Lexikon (2001), S. 3135; Hüßtege / Ganz, Internationales Privatrecht (2013), S. 31. 501 Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 5. 499

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

gebenenfalls muss, wenn ein Verstoß gegen elementare Grundwerte der deutschen Rechtsordnung zu besorgen ist.502 Schließlich stellt sich die Frage, ob die Möglichkeit eines Rückgriffs auf § 73 S. 1 IRG bei fehlender expliziter Vorbehaltsklausel im internationalen Auslieferungsrecht besteht. Dem stellt sich die h. M.503 allerdings zu Recht entgegen, da zum einen von einer abschließenden Regelung des einschlägigen Regelungswerks auszugehen ist.504 Zum anderen würde das Ziel einer Vereinheitlichung und Vereinfachung des Auslieferungsverkehrs durch eine Berufung auf einen nationalen Wesentlichkeitsvorbehalt (zumal in unterschiedlicher Ausprägung in den einzelnen Mitgliedstaaten der Union resp. des Europarats) unterlaufen.505 Insoweit wird auch

502

S. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 5, der zudem darauf hinweist, dass die Vorschrift insoweit vorteilhaft sei, als dass die Vorbehaltsklausel dadurch Bestandteil des gerichtlichen Zulässigkeitsverfahrens werde; Ambos / König / Rackow / ​ Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 65; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 209 („ein Bedürfnis für eine gesetzliche Beschränkung [im vertragslosen Auslieferungsverkehr] nur schwer zu erkennen“). 503 BGer, Urteil v. 02.09.1986, BGE 112 Ib 342 (346); BGer, Urteil v. 21.12.1979, BGE 105 Ib 294 (296); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 8; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64, jeweils m. w. N.; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 399, der jedoch argumentiert, dass ein ordre-public-Vorbehalt im (schweizerischen) Bundesrecht ältere Staatsverträge derogiere. S. aber auch BT-Drs. 9/1338, S. 93 („Durch die Klarstellung des Vorrangs völkerrechtlicher Vereinbarungen in § 1 Abs. 3 ist zusätzlich sichergestellt, daß zwingende Grundsätze des humanitären Völkerrechts, die dem Vertrags­ völkerrecht vorgehen, die Leistung von Rechtshilfe selbst insoweit beherrschen und begrenzen würden, als sie im Einzelfall nicht Bestandteil des deutschen ordre public wären. Dies gilt im Bereich der vertraglichen Rechtshilfe unabhängig davon, ob die jeweils abgeschlossenen völkerrechtlichen Vereinbarungen eine ausdrückliche ordre-public-Klausel enthalten oder nicht.“). zurückhaltend noch BGer, Urteil v. 21.06.1950, BGE 76 I 130 (138); BGer, Urteil v. 24.09.1952, BGE 78 I 235 (244) („überhaupt fraglich, ob ein solcher Vorbehalt […] im Auslieferungsrecht zulässig ist, da er weder in Auslieferungsverträgen noch im Auslieferungsgesetz vorgesehen ist und daher wohl einem Staat nicht entgegen gehalten werden könnte.“). 504 BGH, Beschluss v. 10.09.1985 (4 ARs 10/85), BGHSt 33, 310 (315 ff.) („Im Auslieferungsverkehr nach diesem Übereinkommen [gemeint ist das EuAuslÜbk] gelten deshalb dessen Bestimmungen und nur soweit es keine besonderen Regelungen enthält, die des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen.“); OLG Karlsruhe, Beschluss v. 17.04.1985 (1 AK 15/85), NJW 1985, 2906; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 8, § 1 IRG Rn.  26 f.; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64; Vogler, Auslieferungsrecht und Grundgesetz (1970), S. 204; vgl. auch Schomburg / Lagodny / Riegel (2020), § 1 IRG Rn. 35; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 399. 505 S. auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 8; vgl. auch Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 239 f., der zutr. ausführt, dass der „Umfang der völkerrechtlichen Verpflichtung in Wirklichkeit nicht durch den Staatsvertrag selber, sondern die vom ersuchten Staat als besonders wichtig erachteten landesrechtlichen Vorschriften bestimmt“ werde, und betont, dass die Berufung auf einen nationalen ordre-­ public-Vorbehalt i. R. d vertraglichen Auslieferungsverkehrs  – freilich unter Anerkennung einer gravierenden Schwächung der völkerrechtlichen Auslieferungspflicht – allein der Bewilligungsbehörde obliege (240 mit Fn. 104).

A. Die ordre-public-Klausel des § 73 IRG

151

zutreffend auf Art. 27 S. 1 WÜRV verwiesen,506 der eine Berufung auf nationales Recht ausschließt, wenn diese allein dem Ziel dient „die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen.“ Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass § 73 S. 1 IRG im Auslieferungsverkehr nach Maßgabe des EuAuslÜbk und RbEuHb nur zur Anwendung kommen kann, wenn diese den Rückgriff auf eine nationale Vorbehaltsklausel selbst gestatten, was sogleich näher untersucht wird.

II. Der „europäische“ ordre public nach § 73 S. 2 IRG Der deutsche Gesetzgeber hat sodann mit dem Gesetz zur Umsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl (EuHbG)507 in § 73 S. 2 IRG – in bewusster Abgrenzung zum rein nationalen508 – einen sogenannten „europäischen“ ordre public normiert.509 Demnach führt ein Verstoß der ersuchten Rechtshilfemaßnahme gegen die „in Artikel 6 des Vertrages über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze“ zur Unzulässigkeit der Erledigung der Maßnahme. Da jedoch der nationale Gesetzgeber einer völkervertraglichen Regelung nicht vorgreifen und ohne Ermächtigung im entsprechenden internationalen Regelungswerk einen diesen betreffenden Sachverhalt nicht abschließend regeln kann,510 setzt die

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Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 64; Grützner / Pötz / ​ Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 8. 507 S. bereits zur Genese des § 73 S. 2 IRG Fn. 337. S. dazu auch KOM(2006), 8 endg. v. 24.01.2006, S. 6, wonach zwei Drittel der Mitgliedstaaten einen expliziten Ablehnungsgrund in Bezug auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb eingeführt hätten. 508 S. etwa BT-Drs. 15/1718, S. 14; BR-Drs. 547/03, S. 30, wonach der nationale ordre public im Anwendungsbereich des EuHb wegen der im RbEuHb getroffenen abschließenden Aufzählung von Ablehnungsgründen keine Anwendung finde; ebenso Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 47. Das BVerfG betont jedoch, dass § 73 S. 2 IRG „die Behörden und Gerichte jedenfalls nicht daran (hindert), […] den norminternen Direktiven des Art. 1 Abs. 1 GG Rechnung zu tragen […].“ (BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 [2 BvR 2735/14], BVerfGE 140, 317 [366]). Für ein Exklusivitätsverhältnis von § 73 S. 1 und S. 2 IRG auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 10, 139; Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 161 ff. 509 Die Beibehaltung eines „europäischen“ ordre public sieht Vogel als „rechts- und kriminalpolitisch sinnvoll“ an und plädiert für einen Ausbau zu einer allgemeinen europäischen ordre-public-Klausel mit eindeutigem Verweis auf Art. 6 EUV (Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel [48. Lfg. 2019], § 73 IRG Rn. 134 f.). Teilweise wird jedoch in der Rspr. auch im Zusammenhang mit § 73 S. 2 IRG von einem deutschen ordre public gesprochen, s. etwa OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 21. 510 Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 168 f. So fragen Ambos und Poschadel auch nach der Europarechtswidrigkeit des § 73 S. 2 IRG, s. Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 70 ff.; so auch Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn. 806 („Eine eigenmächtige Verweigerung der Mitgliedstaaten sollte nicht mehr zulässig sein.“); zw. insoweit auch Brodowski, JR 2016, 415 (420 m. w. N. in Fn. 42); s. auch ders., HRRS 2013, 54 (56), wonach der EuGH in der Rechtssache Radu dem § 73 S. 2 IRG „de facto die europarechtliche Legalität [entzieht]“, die Norm jedoch ein „verfassungsrechtliches

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Anwendbarkeit dieser Vorschrift voraus, dass das EuAuslÜbk und der RbEuHb eine solche Ausnahmeklausel überhaupt zulassen.

B. Keine ordre-public-Vorbehalte im europäischen Auslieferungsverkehr I. Fehlende Regelungen im EuAuslÜbk und SDÜ Was die hier relevanten die Auslieferung regelnden Rechtsakte anbelangt, beinhaltet zunächst das EuAuslÜbk keine dem Art. 2 lit. b) EuRhÜbk entsprechende Vorbehaltsklausel.511 Soweit Art. 3 Abs. 1 ZP II zum EuAuslÜbk insoweit als Ausdruck einer ordre-public-Klausel begriffen wird,512 trägt dieses Verständnis der auf Abwesenheitsverurteilungen zugeschnittenen Vorschrift nicht der hier zugrunde gelegten Sichtweise von einem allgemeingültigen Wesentlichkeitsvorbehalt Rechnung. Dieser muss nämlich nicht zwingend auf grundrechtliche Erwägungen – und erst recht nicht auf Verurteilungen in absentia – beschränkt sein.513 Ebenso gilt im Geltungsbereich des SDÜ kein expliziter Kollisionsvorbehalt, da das Abkommen den Auslieferungsverkehr nach Maßgabe des EuAuslÜbk ergänzen und vereinfachen soll (Art. 59 Abs. 1 SDÜ), mithin jenes auf diesem, das ja selbst keine Vorbehaltsklausel kennt, beruht. Auch schweigt das SDÜ in seinen die Auslieferung betreffenden Art. 59–66 selbst zu einer ordre-public-Klausel.

II. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb Im RbEuHb lässt sich zwar eine Art. 2 lit. b) EuAuslÜbk entsprechende Vorschrift ebenfalls nicht finden; insoweit ist jedoch auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb hinzuweisen, der die Pflicht der Mitgliedstaaten betont, „die Grundrechte und die Gebot“ sei (Herv. i. O.); die Unionsrechtswidrigkeit des § 73 IRG i. Erg. abl. Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 211 f.; vgl. auch Satzger, NStZ 2016, 514 (515). Zum gegenüber der gegenseitigen Anerkennung insoweit auch nachrangigen nationalen grundrechtlichen Schutzstandard Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (212). 511 Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1106; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 802. 512 So etwa Wahl, eucrim 2015, 70 (71). Art. 3 Abs. 1 ZP II zum EuAuslÜbk lautet auszugsweise: „Ersucht eine Vertragspartei eine andere Vertragspartei um Auslieferung einer Person zur Vollstreckung einer Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung, die gegen sie in einem Abwesenheitsurteil verhängt worden ist, so kann die ersuchte Vertragspartei die Auslieferung zu diesem Zweck ablehnen, wenn nach ihrer Auffassung in dem diesem Urteil vorangegangenen Verfahren nicht die Mindestrechte der Verteidigung gewahrt worden sind, die anerkanntermaßen jedem einer strafbaren Handlung Beschuldigten zustehen“ (Herv. d. Verf.). 513 Vgl. auch zur Bewertung der Norm als „‚Mindeststandards‘ gewährleistende Zusatzregelung“ Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 802.

B. Keine ordre-public-Vorbehalte im europäischen Auslieferungsverkehr

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allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind, zu achten.“514 Von einer wohl überwiegenden Auffassung – der sich mit der identischen Formulierung in § 73 S. 2 IRG explizit auch der deutsche Gesetzgeber angeschlossen hat515 – wird in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb bereits ein „europäischer“ ordre public gesehen.516 Auch die Kommission spricht im Zu-

514

So auch Erwägungsgrund 12 des RbEuHb. BT-Drs. 15/1718, S.  11; vgl. dazu auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 134 („deutliche Distanzierung des deutschen Gesetzgebers vom Prinzip der gegenseitigen Anerkennung“) und 156, der argumentiert, dass Auslegungsfragen den § 73 S. 2 IRG betreffend dem EuGH vorzulegen seien; von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl (2005), S. 72; Brodowski, JR 2016, 415 (419); für ein Auslieferungshindernis aus § 73 S. 2 IRG auch Schäfer, JuS 2019, 856 (858). S. auch rechtsvergleichend Nicholls / Montgomery / Knowles, Law of Extradition and Mutual Assistance (2013), Rn. 15.91 ff., wonach „it was never intended to make that general condition of respect for fundamental rights an explicit ground for refusal in the event of infringement under the EAW.“ 516 GA Paolo Mengozzi, Lopes Da Silva Jorge, Schlussantrag v. 20.03.2012 (C-42/11; ECLI:​ EU:C:2012:151), Tz. 28 („Art. 1 Abs. 3 als Sicherheitsschranke“); Ambos / König / Rackow / ​ ­Heger / Wolter (2015), 2.  Hauptteil Rn.  643; Ambos / König / Rackow / Meyer (2015), 2. Hauptteil Rn.  806; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 39 f.; Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 132, wonach daraus jedoch kein Ablehnungsgrund folge (138); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 60, 71; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/36; Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (241); Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 420; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 210; für eine Bewertung als Vollstreckungsverweigerungsgrund auch ­BeckOK-StPO  / Inhofer (35. Edition 2019), Art. 1 RB-EUHb Rn. 15; von Bubnoff, Der Europäische Haftbefehl (2005), S. 72; ders., ZEuS 2002, 185 (231), der jeweils darauf verweist, dass „das mit dem Europäischen Haftbefehl zusammenhängende Festnahme- und Übergabesystem dem einheitlichen vertrauensbildenden Grundbestand individueller Schutzrechte und justizieller Gewährleistungen unterstellt [ist]“; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 125 ff. (mit einer umfassenden Auslegung der „außerordentlich uneindeutig[en] und missglückt[en]“ Vorschrift), der zwar betont, dass die gegenseitige Anerkennung ein Verständnis des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als weiteren Ablehnungsgrund nicht zulasse, sich dieser Auffassung i. Erg. jedoch wegen „eine[r] ansonsten fehlenden Funktion der Regelung“ anschließt (128, 131 f.); de Groot, Mutual Trust in (European) Extradition Law, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 83 (91 f.); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (116, 123); Bartels, Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils (2014), S. 119 ff.; wohl auch Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel / Burchard (48. Lfg. 2019), Vor § 1 IRG Rn. 234; zu diesem Ergebnis gelangt auch GAin Eleanor Sharpston, Ministerul Public gegen Ciprian Vasile Radu, Schlussantrag v. 18.10.2012 (C-396/11; ECLI:EU:C:2012:648), Tz. 70 („Daraus folgt meines Erachtens, dass die Pflicht zur Achtung dieser Rechte und Grundsätze durchgängig für den gesamten Rahmenbeschluss gilt. Daraus folgt, dass diese Rechte im Rahmen der Begründung einer Entscheidung, einen Haftbefehl nicht zu vollstrecken, berücksichtigt werden können. Bei einer gegenteiligen Auslegung von Art. 1 Abs. 3 bestünde die Gefahr, dass diese Vorschrift – außer vielleicht als elegante Plattitüde – keinerlei Bedeutung hat.“); dem zust. Böse, Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: Ruggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (139). Für einen Grundrechtsvorbehalt auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 17; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 12 Rn. 52, der jedoch keine Rechts 515

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

sammenhang mit der Evaluierung der Umsetzung des RbEuHb insoweit von einem der „explizite[n] Ablehnungsgründe.“517 Schließlich hat auch die Große Kammer des EuGH in ihrer jüngeren Entscheidung zur Übergabe an die Republik Polen vom 25.07.2018 eine „Pflicht“ (!)518 des Vollstreckungsstaates zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei konkreten Anhaltspunkten für die drohende Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren im Ausstellungsstaat konstatiert und diese auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb gestützt.519 Dem gegenüber scheint sich der EuGH in der Folgeentscheidung vom 15.10.2019 geradezu gegen die Anerkennung eines auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb gestützten Vollstreckungsverweigerungsgrundes zu wehren, wenn er aus der Norm i. V. m. Art. 4 GRCh allenfalls die Pflicht begründet, dass ein Mitgliedstaat bei Anhaltspunkten für „objektive, zuverlässige, genaue und gebührend aktualisierte Angaben […], die das Vorliegen systemischer oder allgemeiner Mängel der Haftbedingungen in den Haftanstalten des Ausstellungsmitgliedstaats belegen, zum Zweck der Beurteilung, ob es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass die Person, gegen die sich ein Europäischer Haftbefehl richtet, nach ihrer Übergabe grundlage anführt; für eine Suspendierung der Vollstreckungspflicht durch Art. 1 Abs. 3 und Erwägungsgrund 12 des RbEuHb auch OLG Düsseldorf, Beschluss v. 14.06.2019 (4 AR 38/19), juris, Tz. 19 („auf der Grundlage von Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584 nur unter außergewöhnlichen Umständen keine Folge leisten“); ­Swoboda, ZIS 2018, 276 (289); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 454 ff., der sich für eine auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb gestützte grundrechtskonforme Auslegung der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb, die damit zu einer nur noch grundsätzlichen werde, gelangt; vage Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 129 mit Fn. 406 („möglicherweise ebenfalls zur Ablehnung der Vollstreckung herangezogen werden können“); Winkler, Grundrechte und Grundrechtsschutz in der Polizeilichen und Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen, in: Lagodny / Wiederin / Winkler, Probleme des Rahmen­beschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 19 (25) („salvatorische Grundrechtsklausel“); Mancano, CML Rev. 56 (2019), 61 (77) („link between Article 1(3) EAW FD and the obligation to respect fundamental rights in relation to the execution of an EAW“). S. auch Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 49, der kritisiert, dass es der EuGH in der Rechtssache Radu versäumt habe, sich zur Frage der Zulässigkeit eines europäischen ordre public zu positionieren. 517 KOM(2006), 8 endg. v. 24.01.2006, S. 6; KOM(2005), 63 endg. v. 23.02.2005, S. 5 (­jeweils: „Problematischer ist die Frage expliziter Ablehnungsgründe (Verletzung der Grundrechte [Art. 1 Abs. 3] […]), die zwei Drittel der Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Form ausdrücklich eingeführt haben. Diese Gründe mögen zwar legitim sein, auch wenn sie über den Rahmenbeschluss hinausgehen […], sollten aber in der Union nur in Ausnahmefällen geltend gemacht werden.“). Eine „Befürwortung“ eines grundrechtsschützenden ordre-public-Vorbehalts durch die Kommission sieht auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 216 ff. 518 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 78 („muss sie davon absehen, dem Europäischen Haftbefehl gegen diese Person Folge zu leisten.“ [Herv. d. Verf.]). 519 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 59 („auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2002/584, davon absehen kann, einem Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten“).

B. Keine ordre-public-Vorbehalte im europäischen Auslieferungsverkehr

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an diesen Mitgliedstaat einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt sein wird, alle relevanten materiellen Aspekte der Haftbedingungen in der Haftanstalt, in der diese Person konkret inhaftiert werden soll, berücksichtigen muss […].“520 Eine Antwort auf die Frage, ob ein ordre-public-Vorbehalt einer Überstellung nach Maßgabe des RbEuHb entgegen gehalten werden kann, ergibt sich hieraus allein jedoch aus folgenden Gründen nicht: Es kann nämlich bereits mit gutem Grund bezweifelt werden, dass der Vorschrift überhaupt ein echter ordre-public-​Vorbehalt entnommen werden kann. Eine solche Vorbehaltsklausel ist nämlich nach dem hier herausgearbeiteten Verständnis ein „Notanker“ zur Wahrung elementarster Wertentscheidungen und damit auf den Schutz eines unumstößlichen i. S. v. absolut zwingenden Fundaments einer Rechtsordnung gerichtet. Dazu zählen – entsprechend den bereits getroffenen Feststellungen521 – zwar auch die Grundrechte. Doch ist damit noch nicht geklärt, ob die Norm über die normierte Grundrechtsbindung hinausgeht und weitere wesentliche Grundsätze einer Unionsrechts­ordnung erfasst.522 Weiterhin ist mit dieser Bindung an die Grundrechte noch nichts darüber gesagt, ob alle in der gem. Art. 6 Abs. 1 EUV verbindlichen GRCh – und gem. Art. 6 Abs. 3 EUV auch der EMRK523  – genannten Garantien einem etwaigen ordre-​public-Schutz unterstellt sind, oder ob unter den einzelnen Rechten Abstufungen hinsichtlich ihrer Schutzintensität vorzunehmen sind und einzelne Rechte eventuell gar nicht diesem Schutz unterstehen. Es bedarf also nicht nur der Klärung, ob der Rahmenbeschluss mit seiner Formulierung auf einen einheitlichen unionsrechtlichen ordre-public-Vorbehalt überhaupt Bezug nimmt, sondern auch einer Antwort auf die Frage – wenn sich erstere bejahen ließe –, ob dieser Vorbehalt eventuell mit der Bezugnahme auf die „Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Art. 6 EUV niedergelegt sind“ umschrieben werden kann. Hinzu kommt, dass ein eigenständiger ordre-public-gestützter Vollstreckungsverweigerungsgrund – sähe man ihn in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb – sich nicht in das systematische Gesamtbild des Rechtsaktes einfügt, wäre doch ein solcher weiterer Ablehnungsgrund konsequenterweise in den Art. 3, 4, 4a RbEuHb oder zumindest in einer durch Änderungsrechtsakt eingefügten entsprechenden Ergänzung syste-

520 EuGH GK, Dorobantu, Urteil v. 15.10.2019 (C-128/18; ECLI:EU:C:2019:857), Tz. 85. I.  Erg. betont der Gerichtshof  – in Fortführung seiner Rspr. aus der Sache Aranyosi und Căldăraru – jedoch, dass „das Erfordernis, zu gewährleisten, dass die betroffene Person im Fall der Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta unterworfen wird, ausnahmsweise eine Einschränkung der Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung [rechtfertigt].“ (83). 521 S. auch bereits S. 117 f. 522 Vgl. dazu Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 132, der  – zur Rechtslage vor Lissabon – darauf hinweist, dass der Verweis auf Art. 6 EUV auch als Inbezugnahme der nationalen Identität gem. Art. 6 Abs. 3 EUV a. F. verstanden werden könne. 523 Zur Bedeutung der EMRK im Unionsrecht s. bereits S. 133 ff.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

matisch zu verorten.524 Als Beleg dafür kann auf die Normierung eines allgemeinen Vollstreckungsverweigerungsgrundes im Fall drohender Grundrechtsverletzung in Art. 11 Abs. 1 lit. f)  RlEEA525 verwiesen werden, wonach die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung verweigert werden kann, wenn „berechtigte Gründe für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der Europäischen Ermittlungsanordnung angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre.“ In diesem Zusammenhang hätte der Unionsgesetzgeber also den RbEuHb entsprechend ändern und den Katalog der bestehenden Vollstreckungsverweigerungsgründe insoweit ergänzen können,526 weshalb auch das Verständnis von Art. 1 Abs. 3 RbEuHb als Auffangtatbestand gegenüber den expliziten Vollstreckungsverweigerungsgründen als leges speciales nicht überzeugen kann.527 Wenn der EuGH in diesem Zusammenhang den abschließenden Charakter des Katalogs an Vollstreckungsverweigerungsgründen betont,528 ist in der Konsequenz auch davon auszugehen, dass sich diese Betrachtungsweise nicht nur auf die Herleitung weiterer außerhalb des Rahmenbeschlusses begründeter Vollstreckungsverweigerungsgründe bezieht, sondern auch auf solche, die nicht im Katalog der Art. 3, 4 und 4a RbEuHb normiert sind. Im Ergebnis überzeugt jedenfalls die Sichtweise, dass Art. 1 Abs. 3 RbEuHb allein keinen eigenständigen (unionsrechtlichen) ordre-­ public-Vorbehalt normiert,529 sondern lediglich die ohnehin nach Art. 6 Abs. 1 Hs. 524

Überzeugend deshalb Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 127 f., wonach die „weichere Formulierung des Art. 1 Abs. 3 RbEUHb“ auffalle und die Zusammenschau mit Art. 3, 4 und 4a RbEuHb einen Umkehrschluss dahingehend nahe lege, dass eine Vollstreckungsverweigerung auf Grundlage des Art. 1 Abs. 3 RbEUHb ausscheide. Dieser systematische Einwand wird auch von GA Bot im Schlussantrag in der Sache Aranyosi und Căldăraru vorgebracht (GA Yves Bot, Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Schlussantrag v. 03.03.2016 [C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:140], Tz. 79 ff.). 525 Richtlinie 2014/41/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 03.04.2014 über die Europäische Ermittlungsanordnung in Strafsachen (Abl. EU L 130, 1). Ebenso kann in diesem Zusammenhang auf Art. 13 Abs. 1 lit. a) der Verordnung (EU) 606/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.06.2013 über die gegenseitige Anerkennung von Schutzmaßnahmen in Zivilsachen (Abl. EU L 181, 4) hingewiesen werden, wonach „die Anerkennung und gegebenenfalls die Vollstreckung der Schutzmaßnahme versagt [wird], soweit diese Anerkennung a) der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Mitgliedstaats offensichtlich widersprechen würde“. S. dazu noch ausf. S. 361 ff. 526 S. auch Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (211), wonach die Einführung neuer Vollstreckungsverweigerungsgründe dem Unionsgesetzgeber obliege; unter Verweis auf Art. 20 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses 2005/214/JI des Rates vom 24.02.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geld­bußen (Abl. EU L 76, 16) auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 200. 527 So Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 128. S. auch zur Frage, ob § 73 S. 2 IRG als Auffangtatbestand anzusehen ist oder in Konkurrenz zu den Bewilligungshindernissen des § 83b IRG steht, Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 140 f. 528 S. hierzu bereits die Nachweise in Fn. 310. 529 So explizit auch Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 157. Offen gelassen bei Fichera, The Implementation of the European Arrest Warrant in the EU

B. Keine ordre-public-Vorbehalte im europäischen Auslieferungsverkehr

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2 EUV bestehende primärrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten an die „Grundrechte und die allgemeinen Rechtsgrundsätze“ bekräftigt.530 Demgegenüber mag man sodann zu dem Schluss gelangen, dass Art. 1 Abs. 3 RbEuHb nur als inhaltsleere Vorschrift begriffen werden könne, wenn sie nicht zugleich zu einem Verweigerungstatbestand aufgewertet würde.531 Doch ist die Bedeutung der Vorschrift damit keineswegs auf eine leere Floskel reduziert; ich will mich an dieser Stelle nur darauf beschränken, dass Art. 1 Abs. 3 RbEuHb für sich genommen keine konstitutive Rechtsgrundlage für eine ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung entnommen werden kann.532 Die Vorschrift ist ohne Interpretation als originärer (2011), S. 178, wonach sich die Norm des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb auf zweierlei Arten inter­ pretieren ließe: „either as a general principle which the judicial authorities must rely on when surrendering or receiving a fugitive; or as a specific exception to the mutual recognition principle […].“ S. auch Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54), wonach die EU „did not, however, go as far as to introduce a general ‚ordre public‘-proviso in its legal acts.“ S. auch das Handbuch mit Hinweisen zur Ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls C(2017) 6389 final v. 28.09.2017, S. 50, wonach „[d]ie Ablehnung der Vollstreckung wegen einer Verletzung der Grundrechte der gesuchten Person im Ausstellungsmitgliedstaat […] im EuHB-Rahmenbeschluss nicht geregelt [ist].“ 530 C(2017) 6389 final v. 28.09.2017, S. 50 („klargestellt“); Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 13 Fn. 43 (Pflicht zur Achtung der Grundrechte und allgemeinen Rechtsgrundsätze „lediglich klargestellt“); Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 138; Böse, Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: Ruggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (136 („recall“); Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 66 („klarstellender Hinweis“), der jedoch zugleich zu dem Ergebnis gelangt, dass der RbEuHb die Übergabe ausdrücklich „unter den Vorbehalt des Art. 6 EUV“ stelle (69 ff. [81]) und bzgl. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb von einem Grund spricht, der die Vollstreckungsverweigerung erlaube (72); Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 155 f., der der Norm eine „symbolische Natur“ zuschreibt; Satzger, NStZ 2016, 514; vgl. auch Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 47 („europäischer ‚Standardtextbaustein‘“); Alegre / L eaf, ELJ 10 (2004), 200 (203), wonach „[t]he absence of particular grounds for refusal in the text of the EAW, however, gives rise to the suspicion that Member States have not given serious consideration to the possibility of grave human rights abuses occurring in other Member States that would give rise to an obligation to refuse surrender“; Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 156 ff.; dies., EurJCrClCJ 22 (2014), 135 (145). S. auch Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), Vor § 78 IRG Rn. 7 („nicht viel mehr […], als die […] für das Unionssekundärrecht übliche Konformitätserklärung“). 531 Dies betont etwa Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 128 f. 532 Ebenso Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 347; Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (2010), S. 215; Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (817) („Fehlen einer ordre public-Klausel im RB EuHb“); gegen eine Bewertung als eigenständiger Vollstreckungsverweigerungsgrund auch Satzger, EuClR 9 (2019), 285 (296); neben den geschriebenen Vollstreckungsverweigerungsgründen der Art. 3 ff. RbEuHb sieht auch Rung keine weiteren ausdrücklichen Vollstreckungsverweigerungstatbestände (Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation [2019], S. 54); keine Einführung eines „europäischen“ ordre public i. R. d. Umsetzung des europäischen Haftbefehlsregimes sieht auch Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (555).

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Vollstreckungsverweigerungsgrund zudem nicht gleich bedeutungslos: Wie wir im weiteren Verlauf der Untersuchung noch sehen werden, ist sie in Zusammenschau mit anderen Vorschriften des Rahmenbeschlusses Beweis für ein umfassendes Grundrechtsbekenntnis und damit Ausgangspunkt für eine unumstößliche Pflicht zur Berücksichtigung der Grundrechte im Übergabeverkehr.533

C. Kann es einen ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr geben? Nähert man sich nun der Frage, ob und inwieweit eine Vorbehaltsklausel im europäischen Auslieferungsverkehr Platz greifen kann, ist in einem ersten Schritt eine Differenzierung nach der Rechtsordnung, in der ein möglicher ordre public wirken soll, geboten. Dementsprechend gliedert sich der folgende Abschnitt in zwei Unterabschnitte, in denen jeweils untersucht wird, ob (1.) der RbEuHb und (2.) das EuAuslÜbk eine ordre-public-gestützte Verweigerung der Auslieferung zulassen.

I. Zulässigkeit einer ordre-public-gestützten Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls Wendet man sich der Frage zu, ob der ordre-public-Einwand einem Ersuchen um Übergabe nach Maßgabe des Europäischen Haftbefehls entgegengehalten werden kann, sieht man sich zunächst mit der Frage konfrontiert, wie ein solcher Einwand mit dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung in Einklang gebracht werden kann. Das Auslieferungsverfahren soll in Konkretisierung dieses Grundsatzes doch vereinfacht und beschleunigt und von politischen Erwägungen gelöst werden, was sich nicht zuletzt in einer Beschränkung der Ablehnungsgründe zeigt. Nachdem ich dargelegt habe, dass die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen selbst einem ordre-public-Einwand im Übergabeverfahren nicht grundsätzlich entgegensteht, werde ich an Hand von vier Argumentationssträngen aufzeigen, warum ein ordre-public-Vorbehalt auch im Verfahren nach Maßgabe des RbEuHb durchgreifen kann und unter bestimmten Voraussetzungen sogar muss. Abschließend widme ich mich der Frage, ob – nachdem die Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands positiv festgestellt wurde  – sich dem Unionsrecht selbst mögliche Gegeneinwände entnehmen lassen, die die Geltendmachung einer solchen Vorbehaltsklausel wiederum zu Fall bringen können.

533

S. zu diesem umfassenden Grundrechtsbekenntnis noch ausf. S. 176 ff.

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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1. Vereinbarkeit eines ordre-public-Vorbehalts mit dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung und dem „Grundsatz gegenseitigen Vertrauens“ Wie bereits dargelegt,534 wird nicht zuletzt vom EuGH im Interesse einer effektiven Handhabung des Instruments des Europäischen Haftbefehls eine Berufung auf über die in den Art. 3, 4 und 4a RbEuHb genannten Vollstreckungsverweigerungsgründe hinausgehenden Auslieferungshindernisse im Grundsatz abgelehnt. Im Zuge der Umsetzung des Rahmenbeschlusses in Deutschland hat sich auch der Gesetzgeber dafür ausgesprochen, dass der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls der nationale ordre public des § 73 S. 1 IRG nicht entgegengehalten werden könne.535 Lehnt ein Mitgliedstaat nun die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Verweis auf einen etwaigen ordre-public-Verstoß ab, bringt er damit zum Ausdruck, entweder einzelne Rechtssätze des Straf- oder Strafverfahrenssystems des Ausstellungsstaates insgesamt oder die Konformität der justiziellen Entscheidung mit dessen innerstaatlichem Recht nicht anzuerkennen. Dies wiegt im Ergebnis bereits schwer, geht der Vollstreckungsstaat in diesem Fall doch über eine bloße Verweigerungshaltung hinsichtlich der Anerkennung hinaus und zu einer Fremdrechtsprüfung über. Kurzum: Die Anerkennung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gründet auf gegenseitigem Vertrauen; eine ordre-­publicbasierende Vollstreckungsverweigerung verkörpert – insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine dem Art. 36 AEUV des Binnenmarktrechts entsprechende Regelung fehlt536 – dagegen ein gewichtiges – wenn nicht sogar stärkstes – gegenseitiges Misstrauen.537 Dieses gegenseitige Misstrauen liegt in den abweichenden, den jeweiligen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten zugrunde liegenden Wertvorstellungen resp. einer nicht rechtskonform entstandenen zu vollstreckenden justiziellen Entscheidung begründet.538 Damit scheint zunächst der ordre-public-Einwand im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen als krasses Gegenteil der gegenseitigen Anerkennung und in der Konsequenz freilich als mit diesem evident unvereinbar. Führt man sich zusätzlich das Ziel des Rahmen­ 534 S. insoweit zur Interpretation der Art. 3, 4 und 4a RbEuHb als abschließenden Katalog von Vollstreckungsverweigerungsgründen bereits Fn. 310 mit Haupttext. 535 BR-Drs. 547/03, S. 27; BT-Drs. 15/1718, S. 14. 536 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 25; Pechstein / ​Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 13; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / ​­Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV 39; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 132 f., der argumentiert, dass sich die Zulässigkeit einer „mitgliedstaatlichen Begriffsbildung“ hinsichtlich eines ordre-public-Vorbehalts aus dem „im Binnenmarkt […] insgesamt höheren Grad gegenseitiger Anerkennung“ ergebe. 537 Vgl. Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (111); s. auch im Zusammenhang mit der ordre-public-basierten Anwendung inländischen materiellen Strafrechts Staubach, Die Anwendung ausländischen Strafrechts (1964), S. 163 ff. (165). 538 S. auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 36.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

beschlusses – die weitere Vereinfachung des Auslieferungsverkehrs gegenüber dem bereits errichteten multilateralen Regime des Europarats und Schengen-Rechts – vor Augen, das sogar in einer – zumindest terminologischen – Abkehr vom bisherigen Auslieferungsrecht gipfelt und dieses auf das Fundament der gegenseitigen Anerkennung stellt, scheint die Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands in noch weitere Ferne zu rücken. Denn eine Berufung auf weitergehende Auslieferungshindernisse würde das System der gegenseitigen Anerkennung weiter behindern, als es durch den bereits vorhandenen Katalog von obligatorischen und fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgründen ohnehin schon durchdrungen ist. Ein solcher Einwand eines darüber hinaus konkretisierungsbedürftigen539 ordre public würde das System eines in besonderem Maße auf gegenseitiges Vertrauen angelegten Auslieferungsverkehrs auf den ersten Blick doch ins Mark treffen.540 Aus den vorstehenden Erwägungen allein auf die Unvereinbarkeit einer ordre-​ public-gestützten Vollstreckungsverweigerung zu schließen, griffe allerdings zu kurz. Denn zum einen würde eine solche Betrachtungsweise die Realität im vereinfachten Rechtshilfe-, aber zugleich nicht hinreichend harmonisierten nationalen Straf- und Strafverfahrensrecht nicht genügend berücksichtigen. Wie bereits betont, kann es sich bei der Grundlage der gegenseitigen Anerkennung nur um ein berechtigtes Vertrauen in dem Sinne handeln, als der Vollstreckungsstaat den Mindeststandard der Rechtsordnung des Ausstellungsstaates als dem seiner Rechtsordnung adäquat ansehen kann, was im Wesentlichen eine unionsweite Angleichung der Straf(verfahrens)rechtsordnungen bis hin zu einem „quasi-bundesstaatlichen“ Niveau voraussetzt.541 Solange es aber an einer tauglichen, durch eine solche Harmonisierung bewirkten Grundlage der gegenseitigen Anerkennung in berechtigtem Vertrauen fehlt, kann ein ordre-public-Einwand zwar als Ausdruck gegenseitigen Misstrauens verstanden werden. Doch solange ein Mitgliedstaat der Rechtsordnung oder einer justiziellen Entscheidung eines anderen Mitgliedstaates 539 S. für den Bereich der strafrechtlichen Rechtshilfe explizit Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 10. 540 So spricht auch GA Bot von einem „offenkundige[n] Widerspruch zum Aufbau des Systems“, s. GA Yves Bot, Pál Aranyosi und Robert Căldăraru, Schlussantrag v. 03.03.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU;  ECLI:EU:C:2016:140), Tz. 79. S. auch Böse, Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: R ­ uggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (141); Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1012 („deutliche Durchbrechung vom Grundsatz des Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung“); Kro­pholler, Internationales Privatrecht (2006), S. 256, wonach ein ordre-public-Einwand in Staatsverträgen „zerstörerisch“ wirken könne, „weil er die zwischen den Vertragsstaaten geschaffene Rechtssicherheit und Entscheidungsgleichheit auf unvorhersehbare Weise zu sprengen vermag.“; ­BeckOK-EGBGB  / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 161, der darauf hinweist, dass die Aktivierung des ordre public nicht zur Folge haben dürfe, „dass euro­päische Rechtsprinzipien missachtet werden“; Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 127, wonach ein ordre-public-Vorbehalt zu einer mit der Anerkennungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb nicht zu vereinbarenden Überprüfung der Übergabevoraussetzungen führe. 541 S. zum Begriff bereits Fn. 281.

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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mangels einheitlichen Rechtsstandards faktisch nicht vertrauen kann, kann ihm ein Verzicht auf diesen nun einmal auch nicht zugemutet werden. Dies hat wiederum zwei aufeinander folgende Konsequenzen: Zum einen ist zwar der Bezugspunkt des gegenseitigen Vertrauens – die aktuelle (bis zu einem gewissen Grad harmonisierte) Rechtslage im Ausstellungsstaat – ein normativer, die Frage eines tatsächlich bestehenden Vertrauens jedoch – ebenso wie der Anwendungsbereich des ordre public selbst – dynamisch, da von den gegenwärtigen rechtlichen Verhältnissen im Ausstellungsstaat abhängig. Je höher der Grad einer tatsächlichen Harmonisierung des Straf- und Strafverfahrensrechts im Unionsraum ist, desto mehr wird ein gegenseitiges Vertrauen als Grundlage für die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen gestärkt. Damit kann ein rechtlicher Bereich oder auch nur eine einzelne Rechtsfrage  – wie etwa die Behandlung der möglicherweise zulässigen Verwertung vom Schweigen des Angeklagten – heute noch nicht harmonisiert, morgen jedoch in Folge sekundärrechtlicher Vorgaben des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten jedenfalls hinsichtlich eines Mindest­ maßes einheitlich geregelt und damit „vertrauensfest“ sein, mit dem Ergebnis, dass der ordre-public-Einwand insoweit zurückgedrängt werden kann. Geht man allerdings von der soeben festgestellten Dynamik des gegenseitigen Vertrauens sowie von dem bereits herausgearbeiteten Ergebnis aus, dass ein gegenseitiges Vertrauen immer nur abstrakt vermutet werden kann,542 gelangt man ebenso zu einer möglichen Reduzierung eines etwaigen bestehenden Vertrauens: Zum einen kann sich nämlich die Rechtslage im Ausstellungsstaat im Vergleich zum unionsweiten Standard negativ ändern und damit eine Schutzlücke entstehen lassen. Zum anderen mag eine zu vollstreckende justizielle Entscheidung zwar auf Grundlage unionsrechtskonformen nationalen Rechts ergehen; eine Schutzlücke entsteht in diesem Fall aber ebenso, wenn in der Sache die gesetzlichen Anforderungen nicht gewahrt sind. Zutreffend weist denn auch u. a. das BVerfG – wenn auch in sehr pauschaler Ausführung, so doch im Ergebnis richtig – darauf hin, dass ein gegenseitiges Vertrauen erschüttert werden kann und eine Reaktion der Mitgliedstaaten auf diesen fehlenden Vertrauenstatbestand erforderlich macht.543 542

S. bereits Fn. 287. BVerfG, Beschluss v. 22.11.2019 (2 BvR 517/19), juris, Tz. 36; BVerfG, Beschluss v. 30.10.2019 (2 BvR 828/19), juris, Tz. 43; BVerfG, Beschluss v. 23.01.2017 (2 BvR 2584/12), NJW 2017, 1731 (1732); BVerfG, Beschluss v. 17.05.2017 (2 BvR 893/17), NStZ-RR 2017, 226 (228); BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (349, 351, 356); BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (299); s. a. Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013) Rn. 50; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 36 („Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung schließt im Einzelfall eine Nichtanerkennung nicht aus.“); Böse, Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: Ruggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (136 f.). S. Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 36, wonach „dem Vertrauen als Rechtsbegriff Grenzen immanent [sind].“ S. auch Kohler, IPRax 2017, 333 (337), der argumentiert, dass auch die EuGH-Rspr. die Geltendmachung eines ungeschriebenen ordre-­publicEinwands im Fall „systematischer Mängel“ nicht ausschließen könne. 543

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Zum anderen wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Instrument des Europäischen Haftbefehls keinem Umsetzungsautomatismus folgt.544 Die gegenseitige Anerkennung und Vollstreckung des Haftbefehls ist zwar als grundsätzliche, jedoch – vor dem Hintergrund der Normierung fakultativer und darüber hinaus sogar obligatorischer Vollstreckungsverweigerungsgründe – keinesfalls als unumstößliche Pflicht anzusehen. Gerade obligatorische Verweigerungstatbestände kehren doch das Regel-Ausnahme-Verhältnis von unbedingter Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb und Vollstreckungsverweigerungspflicht gem. Art. 3 RbEuHb um und etablieren damit für in dieser Vorschrift geregelte Fälle eine endgültige Vollstreckungsverweigerungspflicht. Damit ist aber eben die Anerkennung einer Vollstreckungsverweigerung verbunden. Freilich ist damit noch nichts über die Bewertung der Zulässigkeit eines möglichen ordre-public-Einwands gewonnen. Doch lässt sich an dieser Stelle zunächst einmal postulieren, dass jede Art von Verweigerungsgründen – ob fakultativ oder obligatorisch – den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung nicht nur begrenzt, sondern auch konturiert.545 Denn wenn ein Vollstreckungsstaat sich entweder im Fall einer fakultativen Verweigerung auf sein Vollstreckungsverweigerungsrecht beruft oder im Fall obligatorischer Verweigerungstatbestände seiner eben definierten Ablehnungspflicht nachkommt, ist damit sogleich festgelegt, dass eine Übergabe und damit eine Ausfüllung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung im Einzelfall ausscheiden muss, da für sie neben der Vollstreckungsverweigerung kein Raum mehr verbleibt. Betrachtet man also eine ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung aus normativer Sicht als einen bloßen weiteren – freilich ungeschriebenen – Verweigerungstatbestand, würde der Anwendungsbereich der Übergabepflicht, der ja um die bereits etablierten Ablehnungsgründe geschmälert ist, lediglich um diejenigen Fallgestaltungen, die den ordre-public-Einwand ausmachen,546 weiter zurückgedrängt. Damit stehen gegenseitige Anerkennung und Vollstreckungsverweigerungsgründe zwar in einem Exklusivitätsverhältnis.547 Doch sehe ich diese Wechselbeziehung darüber hinaus – ähnlich der zwischen gegenseitiger Anerkennung und Harmonisierung548 – als Komplementaritätsverhältnis.549 Denn solange ein gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsordnung resp. Entscheidungsfindung des Ausstellungs 544

S. bereits Fn. 332 mit Haupttext. Zum Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung und Verweigerungsgründen sogleich. 546 Zur inhaltlichen Ausgestaltung s. noch ausf. S. 249 ff. 547 S. auch Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 295 („Regel-Ausnahme-Verhältnis“). 548 Vgl. für ein Gegenseitigkeitsverhältnis von gegenseitiger Anerkennung und Harmoni­ sierung bereits Kersting, Gegenseitige Anerkennung, in: Bergmann, Handlexikon der EU (2015), S. 437. 549 So auch Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 51 ff. (56 f.). Nach Kinzler vollzieht ein „europäischer“ ordre public „spiegelbildlich den Zirkelschluss, der auch dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung innewohnt“, da die Berufung auf den „europäischen“ ordre ­public dem Richter und nicht mehr den Mitgliedstaaten obliege (Kinzler, Grenzüberschreitende Strafverfahren [2010], S. 204 f.). 545

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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staates mangels Harmonisierung der Rechtsordnungen nicht besteht, fehlt es an einer tatsächlichen Grundlage für die Anerkennung der justiziellen Entscheidung. Dann bedarf es aber gerade eines Mechanismus  – und hier kann eben auf den ordre-public-Einwand zurückgegriffen werden – zur Absicherung elementarster Rechtspositionen und zur Abgrenzung zu denjenigen Anwendungsbereichen, in denen die gegenseitige Anerkennung bedenkenlos möglich, da eine Harmonisierung hier soweit fortgeschritten ist, dass ein Vertrauen in die zu vollstreckende Entscheidung auf eine tragfähige Grundlage gestellt werden kann. Im Ergebnis dient der ordre-public-Einwand damit als Steuerungselement, der erkennen lässt, in welchen Bereichen eine weitere Harmonisierung mit dem Ziel effektiver gegenseitiger Anerkennung erforderlich ist.550 Zutreffend spricht daher auch Burchard von einem „Harmonisierungs- und Konvergenzdruck“, der „‚von unten‘, nämlich in der alltäglichen justiziellen Vollstreckungspraxis aufgebaut werden [kann], die die eigentlichen und rechtswirklichen Probleme in den europäischen Strafjustiz­ systemen ohne Rücksicht auf politische Usancen identifiziert und benennt.“551 Ferner kann damit festgehalten werden, dass es Aufgabe der Unionspolitik und -rechtsetzung ist, durch eine fortschreitende Angleichung der Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten eine Anwendung der Vorbehaltsklausel entbehrlich zu machen und damit zugleich das gegenseitige Vertrauen und auch den Anwendungsbereich der gegenseitigen Anerkennung zu stärken sowie die justizielle Zusammenarbeit weiter zu effektivieren. Bevor ich nun auf die normative Verankerung eines solchen ordre-public-Einwands eingehe, kann also zunächst einmal ein kriminalpolitisches Erfordernis eines ordre-public-Vorbehalts im Übergabeverkehr nach Maßgabe des Europäischen Haftbefehls festgestellt werden.

550

Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (238) mit Fn. 68, unter Verweis auf den Bericht der Europäischen Grundrechteagentur (FRA) „Criminal detention and alternatives: fundamental rights aspects in EU cross-border transfers“ (abrufbar unter fra.europa.eu/sites/default/ files/fra_uploads/fra-2016-criminal-detention-and-alternatives_en.pdf [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]), wonach „the ECJ’s ruling in Aranyosi, Căldăraru could prompt the mobilization of EU institutions to fulfil the longstanding petition to improve EU institutional framework, in order to prevent the empirically documented abuses during pre-trial detention in Member States. […]“ (Herv. i. O.). S. insoweit auch noch explizit Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2016), § 10 Rn. 26 („europäischer ordre public als Korrektiv des zu weiten Prinzips der gegenseitigen Anerkennung“); vgl. auch Böse, Legitimität des europäischen Kooperationsrechts, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 211 (213); Rizcallah, ELJ 25 (2019), 37 (51) („Moreover, the scaling back, on grounds of trust, of the motives for refusing to cooperate also undermines the protection of individual rights when this protection does not appear to be equally enshrined or effectively applied within all the Member States.“); s. für den Anwendungsbereich der Abwesenheitsverurteilung auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 11 Rn. 20. Auch Britz betont, dass sich eine Abschaffung eines ordre-public-Einwands im nicht unionsrechtlich harmonisierten Bereich des Familienrechts als „struktureller Schwachpunkt der justiziellen Zusammenarbeit [erweist]“ (Britz, JZ 2013, 105 [110]). 551 Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 50.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

a) Normenhierarchisch übergeordnete Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten Bei der Untersuchung der Zulässigkeit eines ordre-public-gestützten Auslieferungseinwands ist in Erinnerung zu rufen, dass entsprechend der bereits getroffenen Darstellung die Grundrechte als eine besondere Ausprägung einer solchen Vorbehaltsklausel anzusehen sind.552 Dementsprechend kommen insbesondere die Grundrechte für einen möglichen ordre-public-Vorbehalt gegen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Betracht. Hierbei kann als Quelle eines solchen Vollstreckungshindernisses auf Gewährleistungen auf europäischer Ebene – namentlich solcher der GRCh und der EMRK – einerseits und auf solche der nationalen Rechtsordnungen – also etwa der Grundrechte des Grundgesetzes  – andererseits abgestellt werden. Von inhaltlichen Erwägungen losgelöst soll im Folgenden vorerst untersucht werden, inwieweit die Mitgliedstaaten bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einer Bindung an europäische und / oder nationale Grundrechte gebunden sind, die einer Vollstreckung möglicherweise entgegenstehen. aa) Bindung der Mitgliedstaaten an die nationalen Grundrechte am Bespiel des Art. 1 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG Die im Zuge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen ergriffenen nationalen hoheitlichen Maßnahmen dienen zwar der Unterstützung eines fremdstaatlichen Verfahrens, sind jedoch dem jeweiligen Mitgliedstaat als Träger der nationalen Hoheits- und Strafgewalt zuzurechnen. Wenn also ein Mitgliedstaat im Wege der Rechtshilfe hoheitliche Maßnahmen ergreift, unterliegt er dabei der Bindung an sein übergeordnetes Recht. Maßnahmen auf Grundlage des IRG sind damit als einfaches Gesetzesrecht an den Vorgaben des Verfassungsrechts zu messen (Art. 20 Abs. 3 GG). Wie auch das BVerfG zutreffend betont, ergeben sich die Grenzen der europäischen Integration und der Mitwirkung der Bundesrepublik aus den rechtlichen Vorgaben des Grundgesetzes.553 Es ist also im Grundsatz davon auszugehen, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (als Ausübung nationaler – wenn auch unionsrechtlich determinierter – Hoheitsgewalt) dort an ihre Grenzen

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S. bereits S. 117 f. BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (336) („Der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl kann nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden […]. Grenzen für die Öffnung deutscher Staatlichkeit ergeben sich – jenseits des im Zustimmungsgesetz niedergelegten Integrationsprogramms in seiner konkreten Ausgestaltung – aus der in Art. 79 III GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (402); zur verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle s. sogleich. 553

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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stößt, wo sie mit verfassungsrechtlichen Vorgaben, insbesondere der Grundrechtsbindung gem. Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 GG, in Konflikt gerät.554 bb) Anwendungsvorrang des Unionsrechts und „Solange“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Bei dieser Feststellung kann es jedoch nicht sein Bewenden haben. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts555 betrifft grundsätzlich auch den Bereich des Verfassungsrechts und damit nach überwiegender – wie wir aber noch sehen werden nicht absolut geltender 556 – Ansicht die Grundrechte.557 D. h. in Fällen, in denen die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls den Schutzbereich deutscher Grundrechte tangiert, ist eine Berufung auf diese grundsätzlich ausgeschlossen, soweit ein Rechtssatz des Unionsrechts den gleichen Sachverhalt regelt.558 Dem hat sich das BVerfG in seiner „Solange“-Rechtsprechung angeschlossen: Insoweit hatte das Gericht zunächst betont, dass es sich eine Prüfungskompetenz hinsichtlich Hoheitsakten des Unionsrechts und diesbezüglich determinierter des nationalen Rechts559 am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes vor­ behalte, solange nicht gewährleistet sei, dass das Unionsrecht einen dem Grundgesetz adäquaten Schutzstandard bereit halte („Solange I“).560 30 Jahre später ist 554

So zur Grundrechtsbindung bei der Vollstreckung ausländischer Entscheidung auch Britz, JZ 2013, 105 (106). 555 S. dazu bereits Fn. 437 mit Haupttext. 556 S. zur vom Anwendungsvorrang nicht erfassten Verfassungsidentität noch S. 184 ff. 557 EuGH, Internationale Handelsgesellschaft mbH v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Urteil v. 17.12.1970 (Rs. 11/70; ECLI:EU:C:1970:114), Slg. 1970, 1126 (1135); BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 47; BVerfG, Beschluss v. 09.11.2016 (2 BvR 545/16), NStZ-RR 2017, 55 (56); BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (335) („Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts vor nationalem Recht gilt grundsätzlich auch mit Blick auf entgegenstehendes nationales Verfassungsrecht […] und führt bei einer Kollision im konkreten Fall in aller Regel zu dessen Unanwendbarkeit.“); ­Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 44; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 95; Kingreen / Poscher, Grundrechte (2019), Rn. 247; Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 5 Rn. 18; Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), Vor § 78 IRG Rn. 9; Sauer, NJW 2016, 1134 (1135); Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (122). 558 S. zum Kollisionserfordernis etwa Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 65. 559 Für eine „Horizontalisierung des Solange-II-Modus“ auch Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 19, wonach sich allerdings eine „vorschnelle Übertragung“ auf das zwischenstaatliche Verhältnis unter den Mitgliedstaaten verbiete. 560 BVerfG, Beschluss v. 29.05.1974 (2 BvL 52/71), BVerfGE 37, 271 (280) („[S]ie [die Gemeinschaft] entbehrt insbesondere noch eines kodifizierten Grundrechtskatalogs, dessen Inhalt ebenso zuverlässig und für die Zukunft unzweideutig feststeht wie der des Grundgesetzes und deshalb einen Vergleich und eine Entscheidung gestattet, ob derzeit der in der Gemeinschaft allgemein verbindliche Grundrechtsstandard des Gemeinschaftsrechts auf die Dauer

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

das BVerfG in der zweiten „Solange“-Entscheidung sodann von diesem Standpunkt abgerückt und hat konstatiert, dass „mittlerweile im Hoheitsbereich der Europäischen Gemeinschaften ein Maß an Grundrechtsschutz erwachsen [ist], das nach Konzeption, Inhalt und Wirkungsweise dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes im wesentlichen gleichzuachten ist.“561 In der Konsequenz scheide eine solche Prüfung der Grundrechtskonformität am Maßstab des Grundgesetzes aus, solange dieser Schutzstandard im Unionsrecht nicht unter den des Grundgesetzes absinke.562 Einen völlig deckungsgleichen Grundrechtsstandard verlangt Karlsruhe indes nicht; es genüge, wenn und „solange die Europäischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt [..].“563 Einen solchen unionsweit angeglichenen Grundrechts­standard hat insbesondere der EuGH durch Rückgriff auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten i. R. d. Bestimmung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts gem. Art. 6 Abs. 3 EUV vorangetrieben.564 Allerdings differenziert das BVerfG auch insoweit zwischen dem vom nationalen Gesetzgeber ohne Umsetzungsspielraum implementierten Unionsrecht dem Grundrechtsstandard des Grundgesetzes, unbeschadet möglicher Modifikationen, derart adäquat ist, daß die angegebene Grenze, die Art. 24 GG zieht, nicht überschritten wird. Solange diese Rechtsgewißheit, die allein durch die anerkanntermaßen bisher grundrechtsfreundliche Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht gewährleistet ist, im Zuge der weiteren Integration der Gemeinschaft nicht erreicht ist, gilt der aus Art. 24 GG her­geleitete Vorbehalt.“). 561 BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (378). 562 BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (387) („Solange die Europäischen Gemeinschaften […] einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewährleisten, […] wird das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht mithin nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen; […].“); bestätigt etwa in BVerfG, Beschluss v. 07.06.2000 (2 BvL 1/97), BVerfGE 102, 147 (162 f.); BVerfG, Beschluss v. 13.03.2007 (1 BvF 1/05), BVerfGE 118, 79 (95); BVerfG, Beschluss v. 14.10.2008 (1 BvF 4/05), BVerfGE 122, 1 (20). 563 BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (387); BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (174 f.); BVerfG, Beschluss v. 07.06.2000 (2 BvL 1/97), BVerfGE 102, 147 (162 ff.); BVerfG, Beschluss v. 13.03.2007 (1 BvF 1/05), BVerfGE 118, 79 (95); BVerfG, Beschluss v. 14.10.2008 (1 BvF 4/05), BVerfGE 122, 1 (20); bestätigt in BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 47 f., wobei das BVerfG jedoch nunmehr eine Grundrechtsprüfung anhand der Gewährleistungen der GRCh beansprucht, anstatt – wie bislang – auf eine Grundrechtsprüfung gänzlich zu verzichten (51) und diese Prüfungskompetenz „aus Art. 23 Abs. 1 GG in Verbindung mit den grundgesetz­ lichen Vorschriften über die Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Grundrechtsschutzes“ herleitet (53 ff.). 564 Stein / Frank, Staatsrecht (2010), S. 31; vgl. auch Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 70.

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und einer solchen Implementation mit Spielraum, wobei im Fall letzterer hinsichtlich des nicht unionsrechtlich vorgegebenen Bereichs, der ja dann e contrario dem Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers unterliegt, eine verfassungsrechtliche Kontrolle möglich bleibt.565 In diesem Zusammenhang ist auch auf die Entscheidung, mit der das erste Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG I) kassiert wurde, hinzuweisen, weil der Gesetzgeber insoweit u. a. seinen Umsetzungsspielraum hinsichtlich des aus Art. 16 Abs. 2 GG resultierenden Schutzes deutscher Staatsbürger vor Auslieferung nicht hinreichend genutzt habe.566 Damit kann in einem ersten Schritt festgehalten werden, dass eine Bindung an nationale Grundrechte allein für die Bereiche bejaht werden kann, in denen das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen Beurteilungsspielraum belässt und die in Rede stehenden Regelungen damit nicht unionsrechtlich veranlasst sind. Wie ich gleich aber auch noch darlegen werde, besteht eine nationale Grundrechtsbindung darüber hinaus auch in Fällen, die den unantastbaren Verfassungskern des Grundgesetzes berühren, sodass eine Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls damit durch eine verfassungsrechtliche Identitätskontrolle blockiert werden kann. Diese Identitätskontrolle ist zwar nach bundesverfassungsgericht­licher Rechtsprechung überzeugend als Gegenausnahme zum Anwendungsvorrang zu begreifen,567 findet ihre Grundlage jedoch in 565 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (335 f.); BVerfG, Beschluss v. 13.03.2007 (1 BvF 1/05), BVerfGE 118, 79 (95) m. w. N.; BVerfG, Beschluss v. 19.01.2011 (1 BvR 1916/09), BVerfGE 129, 78 (90 f.); BVerfG, Beschluss v. 14.10.2008 (1 BvF 4/05), BVerfGE 122, 1 (20 f.); BVerfG, Beschluss v. 09.01.2001 (1 BvR 1036/99), NJW 2001, 1267 (1268); BVerfG, Beschluss v. 12.05.1989 (2 BvA 3/89), NJW 1990, 974; s. auch Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 77. 566 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (304 ff. [306]) („Der Gesetzgeber hätte eine grundrechtsschonendere Umsetzung wählen können, ohne gegen die bindenden Ziele des Rahmenbeschlusses zu verstoßen, denn der Rahmenbeschluss enthält Ausnahmemöglichkeiten, die es der Bundesrepublik Deutschland ermöglichen, den aus Art. 16 Abs. 2 GG folgenden grundrechtlichen Anforderungen Rechnung zu tragen. […] Jedenfalls bei Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug in dem dargelegten Sinn musste der Gesetzgeber die tatbestandliche Möglichkeit und die Rechtspflicht schaffen, die Auslieferung Deutscher zu verweigern.“). S. dazu auch Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 38. S. insoweit auch zu verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Umsetzung des RbEuHb in Österreich und Polen Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (554 f.). 567 S. nur BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 32; BVerfG, Beschluss v. 23.01.2017 (2 BvR 2584/12), NJW 2017, 1731 (1732); BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (340) („dass der [Anwendungs-]Vorrang des Unionsrechts nicht unbegrenzt gilt, sondern dass ihm durch das nationale [Verfassungs-]Recht Grenzen gezogen werden“); s. auch Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 22 („Der aus der Sicht der Union absolut geltende Vorrang des Unionsrechts gilt also aus der Sicht der Verfassung nur im Grundsatz.“ [Herv. i. O.]); Dietz, AöR 142 (2017), 78 (89); Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (123); Rung, EWS 2016, 145 (147); ähnl. Schroeder, Grundkurs Europarecht (2019), § 5 Rn. 30 („wird damit der Vorrang des Unionsrechts in Deutschland letztlich aus der Perspektive des GG durch Art. 79 Abs. 3 GG begrenzt […].“); a. A. Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 178 ff.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

erster Linie in der Ausgestaltung der Unionsrechtsordnung als Verbund souveräner Mitgliedstaaten und soll deshalb in diesem Zusammenhang behandelt werden.568 cc) (Übergeordnete) primärrechtliche Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten Neben dieser auf Ausnahmefälle beschränkten Bindung an nationale Grundrechte unterliegen die Mitgliedstaaten gem. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh einer Bindung an die Gewährleistungen der GRCh. In diesem Zusammenhang wurde bereits festgestellt, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls als Durchführung des Unionsrechts anzusehen ist.569 Darüber hinaus sind die Mitgliedstaaten der EU allesamt Vertragsstaaten des Europarats und haben als solche die EMRK als völkerrechtliches Übereinkommen ratifiziert.570 Die Verbindlichkeit der Konventionsgarantien für die Mitgliedstaaten folgt dabei in erster Linie aus deren Transformation in das jeweilige nationale Recht, aus dem sich sodann auch der innerstaatliche Rang der Konventionsgarantien in den einzelnen Mitgliedstaaten ergibt. Demnach gilt die Konvention durch das Transformationsgesetz vom 07.08.1952571 in der Bundesrepublik gem. Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG als einfaches Bundesrecht.572 Über diese formale Einordnung hinaus findet die Konvention jedoch aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit der grundgesetzlichen Rechtsordnung besondere Berücksichtigung im Wege der konventionskonformen Auslegung,573 nicht zuletzt um eine theoretische Derogation des Konventionsrechts durch später erlassenes Bundesrecht zu vermeiden.574 Eine Berücksichtigung der EMRK durch die Unionsmitgliedstaaten folgt ferner aus der expliziten Normierung jener als Teil des Unionsrechts in Form allgemeiner Grundsätze gem. Art. 6 Abs. 3 EUV und der damit einhergehenden Anerkennung als Rechtserkenntnisquelle.575 Wie bereits herausgearbeitet wurde, nehmen die Konventionsgarantien in der Konsequenz zwar nicht an der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts teil;576 doch führt die Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh577 zu einem inhaltlichen Gleichklang der Gewährleistungen der GRCh mit den ent­sprechenden 568

S. dazu noch ausf. S. 184 ff. S. o. Fn. 188 mit Haupttext. 570 S. bereits den Nachweis in Fn. 414. 571 Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 07.08.1952, BGBl. 1952 II, 685. 572 S. für den Geltungsrang der EMRK in anderen Mitgliedstaaten der EU Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 2 f. mit Fn. 11 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 11 f. 573 S. bereits die Nachweise in Fn. 469. 574 Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 4; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 13. 575 S. o. Fn. 446 mit Haupttext. 576 S. bereits S. 133 ff. 577 S. bereits die Nachweise in Fn. 460 mit Haupttext. 569

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Konventionsgarantien. Im Ergebnis sind diese als Rechtserkenntnisquelle ebenso wie die GRCh auf der Ebene des Primärrechts anzusiedeln und damit im normenhierarchischen Verhältnis gleichrangig.578 Um nunmehr diese (zweifache) Bindung an die Grund- resp. Menschenrechte für eine ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung in Stellung zu bringen, bedarf es darüber hinaus der positiven Feststellung, dass diese Rechtspflicht zur Grundrechtswahrung derjenigen zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls gem. Art. 1 Abs. 3 RbEuHb vorgeht. Im Normengerüst des Unionsrechts ist insoweit mit der h. A. eine von der herkömmlichen Gleichrangigkeit völkerrechtlicher Rechtsquellen im zwischenstaatlichen Verhältnis losgelöste hierarchische Struktur anzunehmen.579 Das Primärrecht ist als das originär durch die Mitgliedstaaten errichtete Gründungsunionsrecht580 – in erster Linie die reformierten Gründungsverträge von EUV und AEUV sowie die mit gleichem Rang ausgestatteten Rechtsquellen581 – dem Sekundärrecht – namentlich dem seitens der durch das Primärrecht etablierten Organe geschaffenen Recht – übergeordnet.582 Unabhängig davon, ob dieses normenhierarchische Verhältnis zwischen primärem und sekundärem Unionsrecht einen Vergleich mit dem nationalstaatlichen Verhältnis zwischen Ver 578 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 6 EUV Rn. 29; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 6 EUV Rn. 50, 59 ff., Art. 53 GRCh Rn. 3 ff. (9 f.), der deshalb überzeugend von einer Idealkonkurrenz zwischen den Gewährleistungen der GRCh und den Grundrechten als allgemeinen Rechtsgrundsätzen gem. Art. 6 Abs. 3 EUV ausgeht; vgl. auch Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2020), Rn. 156 m. w. N. in Fn. 455. 579 S. nur EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 26/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (24 f.) („[…] daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind.“); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 1 ff. m. w. N., § 6 Rn. 1; dagegen für ein klassisches völkerrechtliches Verständnis Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 76 ff. 580 Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 82; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 573. 581 Dazu zählen u. a. auch die Beitrittsverträge, Änderungen der Primärverträge gem. Art. 48 EUV, die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Union sowie die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (dazu sogleich), s. dazu auch Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 83 f. m. w. Bsp.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 6 Rn. 4 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 22 und 26 ff. zum ungeschriebenen Primärrecht; dazu auch Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 581 ff. 582 Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 21, 65 f. („innerunionsrechtlicher Vorrang“); Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 60; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 6 Rn. 50; Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 548; Hobe, EuR 2003, 1 (4) („Gewiss machen die Gründungsverträge, etwa zur Ermächtigung zur Sekundärrechtssetzung […], wesentliche normative Vorgaben, die das Fundament für die Ableitung einer eigenständigen europäischen Rechtsordnung bereiten.“); Nettesheim, EuR 2006, 737 (746) („Daher muss das organgeschaffene Recht notwendig nachrangig gegenüber seiner Ermächtigungsnorm sein.“); ausf. auch Hofmann, Normenhierarchien im europäischen Gemeinschaftsrecht (2000), S. 23 ff. mit einer Nachzeichnung der Entwicklung in der Rspr. des EuG und EuGH.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

fassungs- und einfachem Gesetzesrecht zulässt,583 genügt es, an dieser Stelle festzuhalten, dass sich das Sekundär- nur in den Grenzen des Primärrechts bewegen und dessen rechtlich abgesteckten Rahmen nicht überschreiten darf (vgl. Art. 13 Abs. 2 EUV: „Jedes Organ handelt nach Maßgabe der ihm in den Verträgen zugewiesenen Befugnisse nach den Verfahren, Bedingungen und Zielen, die in den Verträgen festgelegt sind.“).584 Was nun den Status der Grundrechte in diesem normenhierarchischen Gefüge betrifft, hat Beutler bereits zur Rechtslage vom Stand des Vertrags von Maastricht festgehalten, dass „[a]us Funktion und Ableitung der Gemeinschaftsgrundrechte folgt, daß sie sekundärem Gemeinschaftsrecht vorgehen, während sie primärem Gemeinschaftsrecht gleichgeordnet sind. Das entspricht dem Verfassungscharakter 583 S. zur Bewertung des EWG-Vertrages als „Verfassungsurkunde“ EuGH, Parti écologiste „Les Verts“ v. Parlament, Urteil v. 23.04.1986 (Rs. 294/83; ECLI:EU:C:1986:166), Slg. 1986, 1357 (1365) („Dazu ist zunächst hervorzuheben, daß die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist, daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen.“); EuGH, Gutachten 1/91, Gutachten v. 14.12.1991 (1/91; ECLI:EU:C:1991:490), Slg. 1991, I-6084 (6102); zum Verfassungscharakter des Primärrechts nach dem Vertrag von Maastricht auch bereits von der Groeben / Thiesing / Ehlermann / Beutler (1997), Art. F EUV Rn. 73. Zur Verfassungsstruktur auch EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (775) („einem ihr [der Union] eigenen verfassungsrechtlichen Rahmen“, „Verfassungsurkunde der Union, den Verträgen“ und „Verfassungsstruktur der Union“); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 1 ff., § 6 Rn. 8; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 1/17; vgl. auch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 19; Haltern, Europarecht (2017), Rn. 620; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 452; Hobe, Europarecht (2017), Rn. 402; Schilling, Europäischer Haftbefehl und europäisches Verfassungsrecht, in: Lagodny / Wiederin / Winkler, Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 97 ff. mit Ausführungen zum formellen und materiellen europäischen Verfassungsrecht. S. dazu auch Hobe, EuR 2003, 1 (4 ff. m. w. N.), der einen europäischen „Konstitutionalisierungsprozess“ mit Beginn der Gemeinschaftsverträge von 1952 nachzeichnet und von einer „mit den Verfassungen der Mitgliedstaaten verschränkten europäischen Verfassungsgrundordnung“ spricht, für die er sich u. a. auf die Ableitung des Sekundärrechts von den Gründungsverträgen, die Rspr. des EuGH zur Vorrangwirkung des Unionsrechts sowie zur europäischen Staatshaftung und den „Wertekanon“ der Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und des Grundrechtsschutzes beruft; so auch Pernice, JöR 48 (2000), 205 (208 ff., 231) („Die Europäischen Verträge und die nationalen Verfassungen ergänzen einander im Europäischen Verfassungsverbund.“). Gegen einen Verfassungscharakter der Primärrechtsverträge aber Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 83. Gegen eine solche verfassungsrechtliche Interpretation auch Kirchhof, § 21: Die Identität der Verfassung, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 54; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 76 ff. 584 Herv. d. Verf. S. dazu Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 64; Nettesheim, EuR 2006, 737 (746), jeweils unter Verweis auf das Urteil des EuGH vom 05.10.1978 (EuGH, Institut National d’Assurance Maladie-Invalidité und Union Nationale des Fédérations Mutualistes Neutres v. Viola, Urteil v. 05.10.1978 [Rs. 26/78;  ECLI:EU:​ C:1978:172], Slg. 1978, 1771 [1778]), in dem der Gerichtshof von „Grundlage, Rahmen und Grenzen der Verordnungen über die soziale Sicherheit in Artikel 48 bis 51 EWG-Vertrag“ spricht; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 6 Rn. 23.

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der Gemeinschaftsverträge, der eine ihnen vorgängige und vorrangige Ableitung von Gemeinschaftsrecht ausschließt.“585 Dem hat sich Pache angeschlossen und formuliert, dass Grundrechte „[a]ls die grundlegenden Rechte des Einzelnen gegenüber der Unionsgewalt zu deren Begrenzung und Legitimation […] auf der höchsten Ebene der unionalen Normenhierarchie zu verorten [sind]. Aus Funktion und Ableitung der Unionsgrundrechte ergeben sich ihre Zuordnung zum primären Unionsrecht und ihre Zugehörigkeit zur Hierarchieebene der Unionsverträge.“586 Die GRCh wurde nun selbst nicht als Primärrecht erlassen,587 jedoch mit der Lissabonner Vertragsreform explizit mit Primärrechtsrang ausgestattet,588 allerdings ohne diese in die bisherigen Primärrechtsquellen zu inkorporieren,589 sondern durch Etablierung einer eigenständigen „Primärrechtskategorie“,590 wie der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 S. 2 EUV belegt („die Charta der Grundrechte und die Verträge sind rechtlich gleichrangig.“).591 Demgegenüber stellt der RbEuHb als eine Konkretisierung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung eine sekundärrechtliche Maßnahme dar,592 die also normenhierarchisch dem Primärrecht nachgeordnet ist und sich – der Feststellung des EuGH im Fall Pupino folgend593 – an 585

von der Groeben / T hiesing / Ehlermann / Beutler (1997), Art. F EUV Rn. 73. Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2020), Rn. 158 (Herv. i. O.), der zudem betont, dass ein Beitritt der Union zur EMRK „im Ergebnis ähnliche Konsequenzen wie eine primärrechtsinterne Hierarchisierung“ habe, und die Union und das Primärrecht dabei an Grundrechte gebunden seien, die „weder der Verfügungsgewalt der Union selbst noch der der Mitgliedstaaten unterliegen.“ (162) und sich „die herausgehobene Stellung [der Unionsgrundrechte] innerhalb des Primärrechts im Wege wertender Rechtsvergleichung unter Heranziehung des deutschen Art. 79 Abs. 3 GG begründen ließe […].“ (Herv. i. O.) (169). 587 Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 10; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 12; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 6 Rn. 7; Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 74, 76. S. zur rechtlichen Einordnung der GRCh vor dem Vertrag von Lissabon Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 212 ff. 588 S. in diesem Zusammenhang zur Neuverkündung der GRCh am 12.12.2007 Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 70 mit Fn. 141 und Rn. 74. 589 Pache / Rösch, EuR 2009, 769 (774 f.). So aber nach wie vor – freilich wenig überzeugend – Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 6 EUV Rn. 1. 590 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 6 EUV Rn. 28; Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 6 EUV Rn. 26 ff. („neue Primärrechtskategorie“); Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 21; ders., § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 8 f.; vgl auch Pache / Rösch, EuR 2009, 769 (775) („Art. 6 EUV [n. F.] als ‚Grundrechtsanerkennungstitel‘“). 591 Herv. d. Verf. Darauf weist ebenfalls der österreichische VfGH hin (VfGH, Erkenntnis v. 14.03.2012 [U 466/11 et al.], RIS, Tz. 5 [„Sie [die GRCh] bildet innerhalb des Unionsrechts einen von den ‚Verträgen‘ deutlich abzugrenzenden Bereich […].“]). 592 Schönberger, ZaöRV 67 (2007), 1107 (1122); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 73. 593 EuGH GK, Pupino, Urteil v. 16.06.2005 (C-105/03; ECLI:EU:C:2005:386), Slg. 2005, I-5309 (5332) („Der Rahmenbeschluss ist somit so auszulegen, dass die Grundrechte beachtet werden; […].“). 586

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

diesem zu messen lassen hat.594 Die Umsetzung eines Sekundärrechtsaktes – hier also die Übergabe auf Grundlage des Rahmenbeschlusses – kann damit nur in Grenzen der Garantien von GRCh und EMRK erfolgen und ist damit die Vollstreckung und mit ihr die gegenseitige Anerkennung eines Europäischen Haftbefehls insoweit einem Gebot primärrechtskonformer Auslegung unterworfen595 und von Beginn an grundrechtlich begrenzt.596 Um sich der Worte des General­ anwalts Mengozzi zu bedienen, „muss – und Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses

594 So auch Pechstein / Nowak / Häde / Pache (2017), Art. 6 EUV Rn. 29 mit Fn. 129, wonach sich der Vorrang des Primärrechts bereits aus Art. 13 Abs. 2 EUV ergebe; unter Verweis auf Art. 7 Abs. 1 S. 2 EGV auch Nettesheim, EuR 2006, 737 (746); Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 13 („Wahrung der Grundrechte dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung übergeordnet“); Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 40; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 6 EUV Rn. 12; Grabitz / Hilf / ​ Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 6 EUV Rn. 28; ders., Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 8 Rn. 76 („Charta als Prüfungs- und Auslegungsmaßstab“); Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 3 Rn. 9; Pache, § 7 Begriff, Geltungsgrund und Rang der Grundrechte der EU, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2020), Rn.  171; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 73; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 27; Schilling, Europäischer Haftbefehl und europäisches Verfassungsrecht, in: Lagodny / Wiederin / Winkler, Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 97 (105 ff., insbes. 118, 123) („verfassungskonforme Auslegung anhand des Art. 6 II EUV in Verbindung mit Art. 5 EMRK“); Merli, Europäischer Haftbefehl und nationales Verfassungsrecht, in: Lagodny / Wiederin / Winkler, Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 125 (126 f.); Gáspár- ​Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (205); Lenaerts, EuR 2012, 3; Schönberger, ZaöRV 67 (2007), 1107 (1122). 595 EuGH GK, Pupino, Urteil v. 16.06.2005 (C-105/03; ECLI:EU:C:2005:386), Slg. 2005, I-5309 (5332); Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 548, 607; Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 631 f.; Nettesheim, EuR 2006, 737 (751). 596 KOM(2011), 175 endg. v. 11.04.2011, S. 7 (unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3: „Es ist klar, dass der Rahmenbeschluss zum EHB […] keine Übergabe vorsieht, bei der die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen […] führen würde“); BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 34; BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (360) m. w. N. Das BVerfG geht zudem von einer grundrechtlichen Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung aus grundgesetzlicher Perspektive aus (355). Für eine grundrechtliche Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 37 ff.; Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 50 („Die Verletzung der Grundrechte des Verfolgten durch den Ausstellungsstaat stellen eine Schranke der gegenseitigen Anerkennung dar“ [Herv. i. O.]); Eisele, Grundrechtliche Grenzen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, in: Tiedemann et al., GS Vogel (2016), S. 221 (227 ff.); Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 295. Reinbacher und Wendel sehen bereits in der Entscheidung des EuGH in der Sache Aranyosi und Căldăraru (Fn. 315 mit Haupttext) eine grundrechtliche Begrenzung des gegenseitigen Vertrauens (Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 [338]). Gegen einen (zur Zeit) etablierten menschenrechtlichen Verweigerungsgrund gegenüber der gegenseitigen Anerkennung noch Willems, GLJ 20

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2002/584 soll daran erinnern – bei der Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung im Sinne des genannten Rahmenbeschlusses die Wahrung der Grundrechte, wobei an erster Stelle die Würde des Verurteilten steht, oberstes Gebot sein. […] Der freie Verkehr von Strafurteilen ist unter Berücksichtigung dieses übergeordneten Grundsatzes, den der Schutz der Würde des Menschen, ein Eckpfeiler des Grundrechtsschutzes in der Rechtsordnung der Union, darstellt, sicherzustellen, aber gegebenenfalls auch einzuschränken.“597 Erfreulicherweise hat sich der EuGH in einer jüngeren Vorabentscheidung ebenfalls dieser Ansicht angeschlossen und – wenn auch knapp – so doch in aller gebotenen Deutlichkeit betont, dass „die Grundsätze des Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung, auf denen dieser Rahmenbeschluss [über den Europäischen Haftbefehl] beruht, keinesfalls die den betroffenen Personen garantierten Grundrechte beeinträchtigen [dürfen].“598 Schließlich hat auch der EGMR dahingehend Stellung bezogen und konstatiert, dass die gegenseitige Anerkennung aus dem Bereich des Unionsrechts individualrechtlichen Beschränkungen unterliege und im Zuge dessen die „Bosphorus“-Vermutung599 zu entkräften geeignet sei.600 Dagegen kann auch nicht eingewendet werden, dass der Grundsatz gegen­ seitiger Anerkennung selbst in Art. 82 Abs. 1 AEUV niedergeschrieben und damit selbst mit Primärrechtsrang ausgestattet ist und in der Konsequenz den Vorrang des primärrechtlich verankerten Grundrechtsschutzes aushebeln könnte. Daran ist zwar richtig, dass dieser Grundsatz originärer Bestandteil des Primärrechts ist, doch unterscheidet sich die gegenseitige Anerkennung von den in der GRCh und der EMRK enthaltenen Gewährleistungen in ihrer Wirkungsart: Die gegenseitige Anerkennung ist auf einen Bezugspunkt wie eine justizielle Entscheidung (Haftbefehl, Ermittlungsanordnung, Bewährungsentscheidung, etc.) angewiesen und damit konkretisierungsbedürftig. Damit bleibt die gegenseitige Anerkennung eine leere Hülle, bis sie durch sekundärrechtliche Konkretisierung wirken kann, während demgegenüber die grund- resp. menschenrechtlichen Gewährleistungen durch ihre unmittelbare Verbindlichkeit kraft Primärrechts „self-executing“ sind601 und von der primärrechtlichen Ebene aus in die untergeordneten Materien einwirken. Im Ergebnis lässt sich für diese Auffassung auch auf die Rechtsprechung des EuGH verweisen, der sich etwa in der Sache Minister for Justice and Equality v. Francis Lanigan explizit unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb für eine (2019), 468 (481 ff.), der jedoch in der Entscheidung Aranyosi und Căldăraru eine „Landmark Ruling for Fundamental Rights and Mutual Trust“ sieht (489 ff.). Für eine ordre-public-­basierte Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung auch Satzger, EuClR 9 (2019), 285 (299). 597 GA Paolo Mengozzi, Lopes Da Silva Jorge, Schlussantrag v. 20.03.2012 (C-42/11; ECLI:​ EU:C:2012:151), Tz. 28. 598 EuGH, Tupikas, Urteil v. 10.08.2017 (C-270/17 PPU; ECLI:EU:C:2017:628), Tz. 59. 599 S. dazu bereits o. Fn. 454–456 mit Haupttext. 600 EGMR GK, Avotiņš v. Lettland, Urteil v. 23.05.2016 (17502/07), Tz. 98 ff. 601 Zur unmittelbaren Wirkung der Grundrechte s. bereits Fn. 435 mit Haupttext.

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grundrechtechartakonforme Auslegung des Art. 12 RbEuHb ausgesprochen hat.602 Auch liefert das Gutachten 2/13 des EuGH zum angestrebten Beitritt der EU zur EMRK hierfür einen Beitrag, wenn der Gerichtshof im Grundsatz zwar betont, dass „die Mitgliedstaaten [bei der Durchführung des Unionsrechts] unionsrechtlich verpflichtet sein [können], die Beachtung der Grundrechte durch die übrigen Mitgliedstaaten zu unterstellen, so dass sie weder die Möglichkeit haben, von einem anderen Mitgliedstaat ein höheres nationales Schutzniveau der Grundrechte zu verlangen als das durch das Unionsrecht gewährleistete.“ 603 Doch folgt an selber Stelle das Bekenntnis, dass die Mitgliedstaaten „von Ausnahmefällen abgesehen“ auch nicht „prüfen können, ob dieser andere Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährleisteten Grundrechte tatsächlich beachtet hat.“ 604 Damit hat der EuGH nicht nur die Tür für eine mögliche Berücksichtigung weiterer als der geschriebenen individualschützenden Vollstreckungsverweigerungsgründe aufgestoßen. Der Aussage lässt sich darüber hinaus entnehmen, dass das gegenseitige Vertrauen, das der Gerichtshof bis zur Entscheidung im Fall Aranyosi und Căldăraru ja sonst schon beinahe als über jeden Zweifel erhaben postuliert hat,605 gerade vor dem Hintergrund des unionsrechtlich gebotenen Grundrechtsschutzes nicht ausnahmslos gilt, es mithin zur Absicherung einer Gegensteuerung durch einen ordre-public-Einwand bedarf.606 Noch weitergehend hat sogar die Große Kammer des EuGH jüngst entschieden, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts seine Grenze erreiche, wenn er die Mitgliedstaaten zwingen würde, materiell-rechtliche Strafverfolgungsvorschriften zugunsten einer effektiven Verfolgung von Finanzdelikten zulasten der Union unangewendet und damit den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit zugunsten des Angeklagten (Art. 49 GRCh, Art. 7 EMRK) unbeachtet zu lassen.607 In concreto ging es um eine effektive Verfolgung von Mehrwertsteuerstraftaten zulasten der 602 EuGH GK, Minister for Justice and Equality v. Francis Lanigan, Urteil v. 16.07.2015 (C-237/15 PPU; ECLI:EU:C:2015:474), Tz. 53 f. 603 EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777). 604 EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777). 605 S. dazu auch Brodowski, JR 2016, 415 (429), der von einem „fundamentalen unionalen Verfassungsprinzip“ spricht. Krit. in diesem Zusammenhang auch Nettesheim, JZ 2016, 424 (426) m. w. N., wonach der EuGH „der reibungslosen Verwaltung des europäischen Haft­ befehlssystems ein höheres Gewicht einräumen [dürfte] als der Sicherung einer grundrechtsfreundlichen Verfahrensgestaltung.“ 606 S. i. Erg. auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 26c. S. auch für eine Nachzeichnung der Rspr. des EuGH Willems, GLJ 20 (2019), 468 (479 ff.). 607 EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 (C-42/17; ECLI:EU:C:2017:936), Tz. 47 ff. S. dazu Swoboda, ZIS 2018, 276 (290) („Ausdruck von Dialogbereitschaft des EuGH, aber nicht mehr“); Di Francesco Maesa, eucrim 2018, 50 (55 ff.), wonach der EuGH in der Sache „found a compromise solution, at the same time ensuring respect for the fundamental rights of the individual and not undermining the principle of primacy and effectiveness of EU law.“

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Union ermöglichende gebotene Außerachtlassung nationaler materieller Verjährungsvorschriften. Die Kammer verweist hierbei auf „die hohe Bedeutung […], die den die Vorhersehbarkeit, die Bestimmtheit und das Verbot der Rückwirkung der anzuwendenden Strafvorschriften betreffenden Anforderungen des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen sowohl in der Rechtsordnung der Union als auch in den nationalen Rechtsordnungen zukommt.“ 608 Dabei kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten zwar zu einer wirksamen Bekämpfung der Mehrwertsteuerkriminalität zulasten der Union verpflichtet seien; diese Verpflichtung dürfe dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit indes nicht zuwiderlaufen,609 sodass im Fall dieser Kollision die nationalen Gerichte nicht verpflichtet sind, „dieser Verpflichtung nachzukommen, selbst wenn dadurch einer mit dem Unionsrecht unvereinbaren nationalen Sachlage abgeholfen werden könnte.“ 610 Damit wird nicht nur der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ausgesetzt. Er wird darüber hinaus – jedenfalls vorerst hinsichtlich des Gesetzmäßigkeitsprinzips – unter einen Grundrechtsvorbehalt gestellt, wobei abzuwarten sein wird, ob der EuGH die Gelegenheit nutzen wird, diese Judikatur in Zukunft auch auf Konstellationen anderer drohender Grundrechtsverletzungen auszuweiten. dd) Zwischenergebnis Daraus folgt für den Europäischen Haftbefehl, dass die im Rahmenbeschluss aufgeführten Gründe zur Verweigerung der Vollstreckung aufgrund der umfassenden und rechtlich übergeordneten (!) Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten gar nicht abschließender Natur sein können, weil zumindest für den Bereich potentieller Verletzungen von Grundrechten aus der Bindung an diese eine Pflicht zur Vollstreckungsverweigerung folgen muss. Damit ist die Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb – will der Vollstreckungsstaat im Fall drohender Grundrechtsverstöße nicht primärrechtsbrüchig werden  – grundrechtskonform zu beschränken und im Ergebnis von einem ungeschriebenen,611 obligatorischen (!)612 Vollstreckungsverweigerungsgrund kraft primärrechtlicher Grundrechtsbindung 608

EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 (C-42/17; ECLI:EU:C:2017:936), Tz. 51. EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 (C-42/17; ECLI:EU:C:2017:936), Tz. 52. 610 EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 (C-42/17; ECLI:EU:C:2017:936), Tz. 61. 611 So i. Erg. auch Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (817), die keine geschriebene Rechtsgrundlage für einen ordre public im RbEuHb sieht, aber dem Vollstreckungsstaat die Berufung auf einen „europäischen ordre public“ zuspricht. Einen eindeutigen Widerspruch zum Wortlaut des RbEuHb sieht auch Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (210) („run against the clear text of the FD-EAW“). Keinen unverträglichen Widerspruch eines ungeschriebenen Verweigerungsgrundes zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung sieht auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 215, die i. Erg. einen ordre-public-Vorbehalt ebenfalls nicht als ausgeschlossen erachtet (224 f.). 612 Ebenso Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 632. 609

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

auszugehen.613 In diesem Zusammenhang führt tatsächlich auch die Kommission unter Hinweis auf die Verletzung von Grundrechten und die Gefahr einer Diskriminierung aus, dass zwar „die Einführung nicht im Rahmenbeschluss vorgesehener Gründe besorgniserregend“ sei, die Berücksichtigung dieser allerdings „legitim sein möge.“ 614 Ferner wird dort aber ebenso betont, dass „die Einführung anderer Ablehnungsgründe, die in offensichtlichem Widerspruch zu dem Rahmenbeschluss stehen“ – und in Anbetracht der im vorherigen Satz als legitim bewerteten Berücksichtigung von Grundrechten können damit dann freilich nur andere als individualschützende Erwägungen gemeint sein – „noch bedauerlicher ist.“ 615 Damit nimmt offensichtlich auch die Kommission eine Abstufung hinsichtlich der durch eine Ablehnung der Vollstreckung zu schützen beabsichtigten Rechtsgüter vor, weshalb eine grundrechtswahrende Vorbehaltsklausel gegenüber einer solchen aus Souveränitätserwägungen auch nach Ansicht der Kommission mit dem Rahmenbeschluss zumindest eher vereinbar scheint. b) Individualschützende Zielsetzung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl aa) Verweigerung und Bedingung der Vollstreckung im Interesse des Betroffenen Neben dieser streng normativ betrachteten Grundrechtsbindung lässt sich ein weiterer unmittelbar im RbEuHb verankerter Anhaltspunkt für die Berücksichtigung von Grundrechten festmachen: Der bereits angesprochene Art. 1 Abs. 3 613

S. auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 626 ff., die zutr. betont, dass der europäische Gesetzgeber die Frage nach der Zulässigkeit einer ordre-public-gestützten Verweigerung nicht offen gelassen, vielmehr negativ entschieden habe, und ihm damit auf Grund der vorrangigen Grundrechtsbindung eine „Abwägungsfehleinschätzung“ (630) zuzuschreiben sei. Kohler geht insoweit zum einen bereits von einem „anerkannten ordre public als ‚Einfallstor‘ der Grundrechte im Europäischen Justizraum“ aus, wonach auch ordre-public-Klauseln in europäischen (zivilrechtlichen) Übereinkommen als Ausdruck einer Ausnahmekonstellation zu sehen seien, und spricht zum anderen – entspr. der hier vertretenen Ansicht – vor dem Hintergrund der Bindung an die GRCh ebenfalls von einer „Pflicht zur Anwendung der Vorbehaltsklausel“ (Kohler, IPRax 2017, 333 [337 m. w. N. in Fn. 37 f.]); s. auch für eine Bewertung des § 73 S. 2 IRG als obligatorischen Vollstreckungsverweigerungsgrund Löber, Die Ablehnung der Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls (2017), S. 210, der sich jedoch zu streng an der Rechtsprechung des EuGH orientiert, wenn er zu dem Ergebnis gelangt, dass durch die Entscheidungen in den Sachen Radu, Melloni und Fransson die Frage nach der Zulässigkeit einer Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen drohender Grundrechtsverletzung „hinreichend“ in einem negativen Sinne geklärt sei (158). 614 KOM(2006), 8 endg. v. 24.01.2006, S. 6; KOM(2005), 63 endg. v. 23.02.2005, S. 5. 615 KOM(2006), 8 endg. v. 24.01.2006, S. 6 und KOM(2005), 63 endg. v. 23.02.2005, S. 5 benennen jeweils als Beispiele „politische Gründe, Gründe der nationalen Sicherheit oder Gründe, die eine inhaltliche Prüfung des Falls erfordern.“

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RbEuHb hält zwar nach hier zugrunde gelegter Auffassung keinen eigenständigen ordre-public-Einwand gegenüber der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bereit.616 Doch hindert dies nicht daran, eine dem Rahmenbeschluss zugrunde liegende, sich zur Wahrung der Grundrechte bekennende Auffassung des Unionsgesetzgebers festzustellen,617 um diese zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen für einen ungeschriebenen Vollstreckungsverweigerungstatbestand zu machen. Insoweit ist zum einen festzuhalten, dass der RbEuHb zwar als Konkretisierung der gegenseitigen Anerkennung eine Vereinfachung und Beschleunigung des Auslieferungsverfahrens bezweckt. Wie das Instrument aber anhand seines Katalogs obligatorischer und fakultativer Vollstreckungsverweigerungsgründe selbst belegt, ist diese Effektivierung der justiziellen Zusammenarbeit nicht um jeden Preis gewollt.618 Gerade die obligatorischen Verweigerungsgründe des Art. 3 RbEuHb belegen eine individualschützende Absicht, indem sie eine Übergabe in Fällen der Amnestie, einer drohenden Doppelverfolgung (ne bis in idem) sowie der Strafunmündigkeit zwingend ausschließen und verdeutlichen damit einen eindeutigen Vorrang des Individualinteresses vor dem der Strafverfolgung.619 Aber auch der 616

S. bereits Fn. 529 m. w. N. und Haupttext. KOM(2001), 522 endg. v. 19.09.2001, S. 4 ff. („Ein Rechtsakt, der die Grundrechte wahrt“); Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 73 („[…] dass der Zweck des Rb EuHb nicht nur in der Beschleunigung des Strafverfahrens, sondern auch im Individualschutz besteht.“); Alegre / L eaf, ELJ 10 (2004), 200 (202 f.); Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 72 spricht jedoch auch in diesem Zusammenhang bzgl. Erwägungsgrund 12 und Art. 1 Abs. 3 RbEuHb von „Gründen, die es erlauben, die Vollstreckung zu verweigern“ und kritisiert, dass die „einzelnen Ablehnungsgründe über den gesamten Rahmenbeschluss verteilt sind“ (80), wobei letztlich unklar bleibt, was der Autor als Vollstreckungsverweigerungsgründe ansieht und was nicht. 618 So auch BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (365), wonach Verzögerungen durch eine Ermittlung der Grundrechtswahrung im Ausstellungsstaat hinzunehmen seien; Ambos / König / Rackow / Ambos / Poschadel (2015), 1. Hauptteil Rn. 73; Asp, Der Europäische Haftbefehl, in: Schünemann, Ein Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege (2006), S. 132 („[…] das die Rechte des Einzelnen nicht der Zweckmäßigkeit geopfert werden sollen […].“); Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 72, 74, der auch zutr. betont, dass die Zusammenarbeit auf Grundlage des RbEuHb nicht zu einer Verkürzung der Beschuldigtenrechte führen dürfe, jedoch in nicht überzeugender Weise ausführt, dass sich „die Verantwortung eines jeden Mitgliedstaates […] nur auf seinen Teil des Verfahrens [bezieht]“ (76). Eine alleinige Beschleunigungs- und Effektivierungsabsicht betont indes Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 138. S. hierzu auch Satzger, NStZ 2016, 514 (515), wonach der EuGH – jedenfalls bis zur Entscheidung in der Sache Aranyosi und Căldăraru – „im Zweifel [der] Effektivität der Strafverfolgung und [der] Verpflichtung zu gegenseitigem Vertrauen zwischen den Strafverfolgungsbehörden Vorrang vor dem grundrechtlichen Schutz“ einräume, wobei der Gerichtshof „von jedem Mitgliedstaat [verlange], „dass er, abgesehen von außergewöhnlichen Umständen, davon ausgeht, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten“ (Herv. i. O.) und der EuGH „[d]ie Bedeutung einer allgemeinen Ausnahmeklausel im Sinn eines ‚ordre public‘ […] diesem Einschub aber zumindest damals mit Sicherheit nicht beimessen [wollte].“ 619 S. für eine Bewertung der Vollstreckungsverweigerungsgründe im Interesse des Betroffenen auch Böse, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Momsen / Bloy / Rackow, 617

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Katalog der fakultativen Verweigerungsgründe lässt überwiegend eine Option zur Ablehnung der Vollstreckung im Interesse des Betroffenen erkennen: So erlaubt etwa Art. 4 Nr. 1 RbEuHb die Verweigerung der Übergabe bei fehlender – über Fälle des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb hinausgehender – beiderseitiger Strafbarkeit, die nach hier zugrunde gelegter Auffassung zumindest auch dem Individualschutz dient.620 Daneben betrifft die optionale Vollstreckungsverweigerung in Art. 4 Nr. 4 RbEuHb Fälle der Verjährung und in Art. 4 Nr. 5 RbEuHb Konstellationen der Doppelverfolgung mit Bezug zu Drittstaaten. Und auch Art. 4 Nr. 6 RbEuHb, der die Übergabe für verurteilte Staatsangehörige des Vollstreckungsstaates oder dortige Wohnsitzinhaber zu verweigern erlaubt, gewährt dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten faktischen Vorrang vor der grundsätzlichen Vollstreckungspflicht.621 Ebenso sind die nach Aufwertung der Abwesenheitsverurteilung zu einem fakultativen Verweigerungsgrund (Art. 4a RbEuHb)622 verbleibenden Möglichkeiten der bedingten Übergabe nach Art. 5 RbEuHb im Lichte des Individualschutzes zu sehen, gewähren diese doch dem Betroffenen im Fall einer lebens­langen Freiheitsentziehung einen Rechtsanspruch auf eine Überprüfung oder Begnadigung (Nr. 2) und sehen sie wiederum im Interesse einer verbesserten Resozialisierung623 die Pflicht zur Rücküberstellung eines zur Strafverfolgung überstellten Staatsangehörigen des Vollstreckungsstaates zur Strafvollstreckung an diesen vor, wenn er sich dies abbedungen hat (Nr. 3).

Fragmentarisches Strafrecht (2003), S. 233 (243 ff.); Alegre / L eaf, ELJ 10 (2004), 200 (202 f.). S. aber auch Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 48, der auch die souveränitätsbezogenen Motive hinter einzelnen Vollstreckungsverweigerungsgründen betont. 620 S. zum Erfordernis beiderseitiger Verfolgbarkeit bereits Fn. 169 mit Haupttext. 621 S. jedoch weiterhin für ein Verständnis der Vollstreckungspflicht als „Grundregel“ EuGH GK, Dominic Wolzenburg, Urteil v. 06.10.2009 (C-123/08; ECLI:EU:C:2009:616), Slg. 2009, I-9660 (9680) wonach „ein solches Ziel – so wichtig es ist – es aber nicht ausschließen kann, dass die Mitgliedstaaten bei der Durchführung dieses Rahmenbeschlusses die Fälle, in denen die Übergabe einer vom Anwendungsbereich des Art. 4 Nr. 6 erfassten Person verweigert werden kann, im Sinne der in Art. 1 Abs. 2 des genannten Rahmenbeschlusses aufgestellten Grundregel begrenzen.“; zust. Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 37, wonach die angestrebte Resozialisierung „freilich nicht Art. 1 Abs. 2 RBEuHB vorgehen darf“ sowie mit weiteren Ausführungen zur Anwendung auf Unionsbürger gem. Art. 18 AEUV. Zur Bedeutung der Resozialisierung auch KOM(2001), 522 endg. v. 19.09.2001, S. 6; EuGH GK, Kozłowski, Urteil v. 17.07.2008 (C-66/08; ECLI:EU:C:2008:437), Slg. 2008, I-6077 (6093). 622 Zur grds. vor dem Hintergrund des Individualschutzes begrüßenswerten – wenn auch überwiegend durchbrochenen  – Aufwertung dieser Fallkonstellation s. bereits Fn. 326 mit Haupttext. 623 Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 674.

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bb) Grundrechtsbekennende, aber normativ unverbindliche Erwägungsgründe Aus individualschützender Perspektive ist hierbei sodann darauf hinzuweisen, dass zum einen die Erwägungsgründe und zum anderen eben genannter Art. 1 Abs. 3 RbEuHb ein Bekenntnis zur Achtung des unionalen grundrechtlichen Schutzsystems erkennen lassen.624 Im Einzelnen ist in diesem Zusammenhang zunächst auf die Erwägungsgründe 10,625 12,626 13627 und 14628 RbEuHb einzugehen. Die Erwägungsgründe lassen dabei durchweg ein Bekenntnis zur Grundrechtswahrung i. R. d. Übergabeverkehrs auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls erkennen und rekurrieren dabei in Erwägungsgrund 10 und 12 – ähnlich wie Art. 1 Abs. 3 RbEuHb – auf die in Art. 6 Abs. 1 EUV enthaltenen Grundsätze. Insbesondere Erwägungsgrund 12 formuliert – wenn auch nicht mit dem formalen Rang eines Ablehnungsgrundes ausgestattet – ein Verbot dahingehend, eine Vorschrift des Rahmenbeschlusses derart auszulegen, dass sie die Ablehnung einer Übergabe bei drohender diskriminierender Verfolgung verhindern solle.629 Die Natur 624 de Groot, Mutual Trust in (European) Extradition Law, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 83 (91); Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 350 („Grundrechtsschutz als Leitmotiv“). 625 Erwägungsgrund 10 RbEuHb lautet: „[…] Die Anwendung dieses Mechanismus [des Europäischen Haftbefehls] darf nur ausgesetzt werden, wenn eine schwere und anhaltende Verletzung der in Artikel 6 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union enthaltenen Grundsätze durch einen Mitgliedstaat vorliegt und diese vom Rat gemäß Artikel 7 Absatz 1 des genannten Vertrags mit den Folgen von Artikel 7 Absatz 2 festgestellt wird.“ 626 Erwägungsgrund 12 RbEuHb lautet: „Der vorliegende Rahmenbeschluss achtet die Grundrechte und wahrt die in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union anerkannten Grundsätze, die auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union […] zum Ausdruck kommen. Keine Bestimmung des vorliegenden Rahmenbeschlusses darf in dem Sinne ausgelegt werden, dass sie es untersagt, die Übergabe einer Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl besteht, abzulehnen, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der genannte Haftbefehl zum Zwecke der Verfolgung oder Bestrafung einer Person aus Gründen ihres Geschlechts, ihrer Rasse, Religion, ethnischen Herkunft, Staatsangehörigkeit, Sprache oder politischen Überzeugung oder sexuellen Ausrichtung erlassen wurde oder dass die Stellung dieser Person aus einem dieser Gründe beeinträchtigt werden kann.“ 627 Erwägungsgrund 13 RbEuHb lautet: „Niemand sollte in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.“ Zur Anwendbarkeit des Erwägungsgrundes 13 auf das Übergabeverfahren nach dem RbEuHb trotz des engeren Wortlauts („ausgeliefert“) Gáspár- ­Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (203 f.). 628 Erwägungsgrund 14 RbEuHb lautet: „Da alle Mitgliedstaaten das Übereinkommen des Europarates vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten ratifiziert haben, sind die bei der Durchführung des vorliegenden Rahmenbeschlusses zu verarbeitenden personenbezogenen Daten gemäß den Grundsätzen dieses Übereinkommens zu schützen.“ 629 Den Unterschied zwischen einer „Achtung“ der Grundrechte und einem „Ablehnungsverbot“ betonen auch Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 127 f. und Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 68. Pohl nimmt insoweit auch auf Erwägungsgrund 13 RbEuHb

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als „bloßer“ Erwägungsgrund hindert dabei freilich eine Interpretation als echten grundrechtsorientierten Vollstreckungsverweigerungstatbestand, wogegen das BVerfG einem solchen Verständnis allerdings nicht abgeneigt scheint. In seinem Beschluss vom 15.12.2015 geht es zunächst auf die Erwägungsgründe 10, 12, 13 und 14 RbEuHb ein und hält dann fest, dass „[v]or diesem Hintergrund […] ein Europäischer Haftbefehl dann nicht zu vollstrecken [ist], wenn dem die gegenüber dem Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl vorrangige GRCh entgegensteht.“ 630 Mag diese Entscheidung im Ergebnis zutreffen, so überzeugt doch ihre Begründung nicht. Die Erwägungsgründe sind zwar Beweis für die Intention des Unionsgesetzgebers zum Erlass des Rahmenbeschlusses. Doch würde eine derart rechtsverbindliche Lesart der Erwägungsgründe mit der Folge, dass sich jenen ein weiterer eigenständiger Vollstreckungsverweigerungsgrund entnehmen ließe, „über das Ziel hinaus schießen.“ 631 Erwägungsgründe dienen zwar der Vermittlung der gesetzgeberischen Leitvorstellung zum Erlass eines Rechtsaktes, doch teilen sie als solche nicht die rechtsverbindliche Wirkung der den Erwägungsgründen folgenden Regelungen.632 Jähnke und Schramm verweisen zwar auf die hervorBezug, der jedoch aufgrund seiner weicheren Formulierung („sollte nicht ausgeliefert werden“) schon vom Wortlaut her nicht die zwingende Annahme eines Verweigerungsgrundes deckt. 630 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (359 f.); vgl. zur Interpretation des Erwägungsgrundes 12 RbEuHb durch das BVerfG auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 2 Rn. 51.; explizit auch ­BeckOK-StPO / Inhofer (35. Edition 2019), Art. 1 RB-EUHb Rn. 15 f. (unter Verweis auf die Erwägungsgründe 12 und 13), wonach „[b]ereits in der Präambel des RB-EUHb […] eine Auslieferung bei drohender Menschenrechtsverletzung ausdrücklich ausgeschlossen [wird]“; Bartels, Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils (2014), S. 124 f. Eine Berücksichtigung der Möglichkeit zur Aussetzung des Systems des RbEuHb bei einem Verstoß gegen Art. 6 EUV nach Maßgabe des Erwägungsgrundes 10 und i. Erg. einen expliziten Überstellungsvorbehalt auf Grundlage des Art. 6 EUV sieht auch Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 77 ff. 631 Gegen die Interpretation von Erwägungsgründen als Vollstreckungsverweigerungsgründe auch Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 123; s. auch Fichera, The Implementation of the European Arrest Warrant in the EU (2011), S. 177, wonach der RbEuHb eine „fair trial clause […] have split […] in different three recitals of the Preamble: 10, 12 and 13“, der aber zugleich insoweit von einem „open-ended approach“ spricht und betont, dass „[t]hese provisions, taken together, suggest that the Framework Decision relies on the assumption that the degree of mutual trust at the EU level is such that there is no need for raising too many barriers to surrender (i. e. explicit grounds for non execution) based on human rights.“ S. auch Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 200, 402 mit Fn. 1751, wonach die Rahmenbeschlüsse über „mehr oder weniger nebulöse Grundrechtsbeachtungsklauseln [verfügen].“ 632 A. A. de Groot, Mutual Trust in (European) Extradition Law, in: Blekxtoon / van Ballegooij, Handbook on the European Arrest Warrant (2005), S. 83 (91), wonach „the Preamble to the Framework decision also contains some recitals that could be qualified as an additional set of norms“, „[t]hese recitals of the Preamble could be read as containing general grounds for refusal which cannot be found in the specific grounds for refusal“, betonend, dass „the Preamble could be read as containing (general) grounds for refusal, comparable to Article 73 IRG“ und i. Erg. Erwägungsgrund 12 dahingehend interpretierend, „that a judicial authority can apply its national constitutional rules relating to due process […] and can be interpreted as another – more general – ground for refusal of surrender (similar to article 73 IRG) […]“ (94).

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gehobene Stellung der Erwägungsgründe gegenüber der Begründung des Gesetz­ gebers nach deutschem Recht, weil jene doch expliziter Bestandteil des Rechtsaktes seien,633 doch erscheint mir dies als zu formaler Einwand um eine über eine Interpretationshilfe hinausgehende rechtsverbindliche Natur der Erwägungsgründe zu statuieren. Denn zum einen belegen gerade die Erwägungsgründe, aus welchem Grund der Unionsgesetzgeber einen Rechtsakt erlassen hat und erfüllen damit gerade die klassische Funktion einer subjektiv-historisch bezogenen Auslegungshilfe. Zum anderen zeigt ein Sekundärrechtsakt eine deutliche Zäsur zwischen den Erwägungsgründen – eingeleitet mit der Formel „in Erwägung nachstehender Gründe“ – und dem eigentlichen Rechtsakt – beginnend mit den Worten „hat folgenden Rahmenbeschluss erlassen“ – was den Schluss zulässt, dass die Erwägungsgründe gerade nicht an der verbindlichen Rechtswirkung des eben nachfolgenden Rechtsaktes teilnehmen. Weiterhin sieht sie sich dem bereits angebrachten systematischen Einwand ausgesetzt, dass damit außerhalb des Katalogs der in Art. 3, 4 und 4a RbEuHb geregelten Verweigerungsgründe ein weiterer Ablehnungstatbestand normiert würde,634 der überdies noch der grundsätzlichen Überstellungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb systemfremd vorgeschaltet wäre. Insbesondere eine normative Aufwertung zu einer „echten Rahmenbeschlussvorschrift“ in Form eines Ablehnungsgrundes würde die unionsgesetzgeberische Intention, einen solchen eben nicht explizit zu regeln, überspielen. Wie nämlich bereits bezüglich Art. 1 Abs. 3 RbEuHb erläutert wurde, stellt dieser als „echte Rahmenbeschlussvorschrift“ schon keinen ordre-public-Einwand und in der Konsequenz auch keinen Vollstreckungsverweigerungsgrund dar, weshalb diese Rechtsnatur a maiore ad minus einem Erwägungsgrund ebenfalls nicht zugeschrieben werden kann. cc) Weitere individualschützende Vorschriften des Rahmenbeschlusses Weiterhin lassen sich im RbEuHb neben den Vorschriften zur obligatorischen und fakultativen Vollstreckungsverweigerung sowie zur bedingten Übergabe weitere Normierungen im grundrechtlichen Interesse finden.635 Die wohl größte Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Art. 23 Abs. 4 S. 1 RbEuHb zuzuschreiben, der aus „humanitären Gründen“ zwar keine gänzliche Verweigerung der Vollstreckung zulässt, jedoch eine „ausnahmsweise“ Aussetzung der Übergabe, die ausweislich des Abs. 4 S. 2 solange andauern kann, „bis diese Gründe nicht mehr gegeben sind.“ Eine Differenzierung zwischen der Verweigerung einer Übergabe 633 Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 2 Rn. 51, die i. Erg. dem Erwägungsgrund 12 und Art. 1 Abs. 3 RbEuHb einen „zusätzlichen zu den Versagungsgründen“ tretenden Garantievorbehalt beimessen; zur Berücksichtigung der Erwägungsgründe i. R. d. Auslegung auch Leisner, EuR 2007, 689 (703), wonach den Erwägungen „[e]indeutiges Ermittlungsgewicht für den Willen des Normgebers“ zukomme. 634 Systematische Bedenken auch bei Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 138. 635 S. auch die Auflistung bei KOM(2001), 522 endg. v. 19.09.2001, S. 4 f.

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und ihrer Aussetzung mag auf den ersten Blick zu formal erscheinen, kann doch die Aussetzung  – sollten die humanitären Bedenken fortbestehen  – unbefristet erfolgen und damit faktisch in eine Vollstreckungsverweigerung münden. Doch bedarf es hier aus folgendem Grund dennoch einer Differenzierung: Während die Aussetzung gem. Art. 23 Abs. 4 S. 1 RbEuHb die Übergabe nur zeitlich verzögert und der Europäische Haftbefehl wie ein Damoklesschwert über dem Betroffenen schwebt und gem. Art. 23 Abs. 4 S. 3 RbEuHb durch Vereinbarung eines neuen Übergabetermins unverzüglich „reaktiviert“ werden kann, bringt das Recht resp. die Pflicht zur Vollstreckungsverweigerung den Europäischen Haftbefehl gänzlich zu Fall.636 Es besteht mithin nicht nur ein normativer Unterschied zwischen einer bloßen Aussetzung der Übergabe und ihrer „harten“ Verweigerung, sondern auch ein Bedürfnis nach letzterer im Fall systematischer Grundrechtsverstöße. In diesem Zusammenhang sieht Art. 23 Abs. 5 RbEuHb zwingend die Freilassung des Inhaftierten vor, wenn dieser nach Ablauf einer eventuell auch infolge erneuter Terminsbestimmung datierten Zehntagesfrist noch inhaftiert ist. Daneben ist etwa auf Art. 11 Abs. 1 (Recht auf Unterrichtung über den Europäischen Haftbefehl und dessen Inhalt) und Abs. 2 (Anspruch auf einen Rechtsbeistand und einen Dolmetscher) sowie Art. 12 (Recht auf vorzeitige Haftentlassung nach innerstaatlichem Recht),637 Art. 14 (Recht auf Vernehmung) und Art. 18 Abs. 3 RbEuHb (Recht auf Rücküberstellung an den Vollstreckungsstaat bei zunächst nur vorübergehender Überstellung zur Teilnahme an einer Gerichtsverhandlung betreffend die Übergabeentscheidung) als Beleg für eine zumindest begleitende auf Individualschutz ausgerichtete Intention im Rahmenbeschluss hinzuweisen. dd) Zwischenergebnis Im Ergebnis lässt sich also festhalten, dass der RbEuHb in Gänze von einem Bekenntnis zur Grundrechtswahrung durchzogen ist,638 das sowohl mit einer vor 636

Wanitschek, Die Grundrechtecharta der EU (2018), S. 96. Nach Rung folge „aus der grundsätzlichen Vollstreckungspflicht i. V. m. Art. 4 Abs. 3 EUV eine Pflicht des ersuchten Mitgliedstaats, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, die einen grundrechtskonformen Transfer noch ermöglichen“ (Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation [2019], S. 462). 637 Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil weisen darauf hin, dass i. R. d. Entscheidung der Zweck des EuHb – die Gewährleistung einer zeitnahen Übergabe – zu berücksichtigen sei. Vgl. zur sogenannten Haftverschonung nach deutschem Recht § 116 StPO, wonach der Haftbefehl bei Vorliegen von Fluchtgefahr auszusetzen ist und bei weiteren Haftgründen ausgesetzt werden kann, wenn jeweils auch durch weniger einschneidende Maßnahmen der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden kann. S. dazu auch Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht (2017), § 30 Rn. 5 ff.; Kühne, Strafprozessrecht (2015), Rn. 435. 638 S. auch EuGH, Jeremy F., Urteil v. 30.05.2013 (C-168/13 PPU; ECLI:EU:C:2013:358), Tz. 50 („Der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, auf den sich das System des Europäischen Haftbefehls stützt, beruht nämlich seinerseits auf dem gegenseitigen Vertrauen der Mitgliedstaaten darauf, dass ihre jeweiligen nationalen Rechtsordnungen in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der auf Unionsebene und insbesondere in der Charta anerkannten Grundrechte zu bieten, […].“); vgl. auch Nettesheim, JZ 2016, 424 (426),

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behaltlosen Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls im Fall einer drohenden Grundrechtsverletzung kollidiert, als auch die Bewertung des Katalogs der Vollstreckungsverweigerungsgründe als abschließend nicht zulässt, da dieser einen allgemeinen Ablehnungsgrund zur Prävention drohender Grundrechtsverletzungen im Ausstellungsstaat – wie ihn Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA639 normiert – nicht kennt. Mit dieser individualschützenden Begleitintention – und dem normenhierarchischen Vorrang des primärrechtlich abgesicherten Grundrechtsschutzes – ist es unvereinbar, wenn sich die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls  – nur um der gegenseitigen Anerkennung blind zur Realisierung zu verhelfen – zu Lasten einer drohenden Grundrechtsverletzung auswirkt, die sich i. R. d. grenzüberschreitenden justiziellen Zusammenarbeit noch zu perpetuieren droht.640 Ich teile daher die Auffassung des Generalanwalts Cruz Villalón in seinem Schlussvortrag zum Vorabentscheidungsersuchen des belgischen Verfassungsgerichts in der Rechtssache I. B., in dem er ausführt, „dass bei einer Auslegung nach dem Wortlaut und dem Zweck des Rahmenbeschlusses sämtliche mit ihm verfolgten Ziele zu berücksichtigen sind. Wenn es richtig ist, dass die gegenseitige Anerkennung ein Instrument zur Stärkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist, so trifft es doch nicht weniger zu, dass der Schutz der Grundrechte und -freiheiten ein prius darstellt, das das Bestehen und die Entwicklung dieses Raums legitimiert. Dies wird in den Erwägungsgründen 10, 12, 13 und 14 sowie in Art. 1 Abs. 3 des Rahmenbeschlusses wiederholt zum Ausdruck gebracht.“ 641 Diese Kollision ist entsprechend der vorstehend dargestellten Normenhierarchie aufzulösen, sodass die Grundrechtsbindung im Primärrechtsrang die sekundärrechtliche Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb derogiert und jene diese grundrechtlich begrenzt.

wonach der Unionsgesetzgeber „erkennbar nicht die Absicht [hatte], die grundrechtliche Schutzkompetenz beim EuGH zu monopolisieren und die staatlichen Grundrechtsordnungen zu über­lagern“; dagegen und für eine Bewertung der Verbesserung der Rechtsstellung des Verfolgten als „Schutzreflex“ und „Synchronisierung mit anderen Rechtsakten“ Pohl, Vorbehalt und Anerkennung (2009), S. 58 f. 639 S. dazu noch ausf. S. 361 ff. 640 Diese Perpetuierungsgefahr betonen zutr. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 40; Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54); Streinz / Ohler / Herrmann, Vertrag von Lissabon (2010), S. 163. In diesem Zusammenhang vermag auch das Argument Kromreys zu überzeugen, wonach auf eine rechtliche Überprüfung der Übergabe nach Maßgabe des RbEuHb auch deshalb nicht verzichtet werden könne, weil auch im rein innerstaatlichen Strafverfahren gerichtlicher Rechtsschutz gewährt wird (Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis [2017], S. 122 f.). 641 GA Pedro Cruz Villalón, I. B. v. Conseil des ministres, Schlussantrag v. 06.07.2010 ­(C-306/09; ECLI:EU:C:2010:404), Slg. 2010, I-10341 (10355).

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c) Die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge im Staatenverbund der Europäischen Union und die Bedeutung ihrer indisponiblen Verfassungsidentität Geht die bis hierhin herausgearbeitete normenhierarchische und auch die dem RbEuHb zugrunde liegende grundrechtsbekennende Betrachtungsweise von der primären und sekundären unionsrechtlichen Ebene aus, soll im Folgenden weiterhin untersucht werden, ob sich aus dem Umstand, dass die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ 642 der EU Hoheitsgewalt übertragen und diese damit erst handlungsfähig machen, weitere Anhaltspunkte für die Geltendmachung eines – nunmehr nationalen – ordre-public-Einwands ergeben. Normativer Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist die Rechtsnatur der EU als Staatenverbund643 und die damit einhergehende fehlende bundesstaatliche Struktur, in der ihre Mitgliedstaaten also Inhaber ihrer nationalen Identität und Souveränität bleiben. Wenn die Union aber ihre Kompetenzen von einer Übertragung mitgliedstaatlicher Hoheitsrechte ableitet (Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV), belegt dies, dass die souveräne Staatsstruktur eines jeden Mitgliedstaates unangetastet bleibt644 und damit sämtliche, der Union nicht übertragenen Bereiche staatlicher Souveränität den Mitgliedstaaten verbleiben. Damit ist ebenfalls festzuhalten, dass auch durch eine fortschreitende europäische Integration ein gewisses Maß an staatlicher Souveränität im Kern unangetastet bleiben muss. Diesem unantastbaren Kernbereich ist per definitionem ein Wesentlichkeitsvorbehalt immanent, weil die EU von sich aus ohne Kompetenzübertragung durch die Mitgliedstaaten nicht auf deren Souveränitätskern zugreifen darf und solange die Mitgliedstaaten ihre eigene Staatlichkeit nicht zugunsten einer europäischen bundesstaatlichen Struktur aufgeben.645 Bereits in der „Solange I“-­

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S. bereits Fn. 24 mit Haupttext. S. zum Begriff auch bereits die Nachweise in Fn. 23. Zur Verfassungsidentität (zum Begriff sogleich) auch Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (97) („The principle of guaranteed constitutional identity is a genuine reflection of the compound structure of the European legal space.“). 644 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (348) („Das Grundgesetz kann nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG an die Entwicklung der Europäischen Union angepasst werden; zugleich wird dieser Möglichkeit durch Art. 79 Abs. 3 GG, auf den die Norm verweist, eine absolute Grenze gesetzt. Der durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Mindeststandard darf auch durch die Einbindung Deutschlands in überstaatliche Strukturen nicht unterschritten werden.“). 645 Für einen solchen Schritt bedürfte es einer förmlichen Verfassungsablösung i. S. d. Art. 146 GG. S. dazu etwa BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (332) („Art. 146 GG formuliert neben den materiellen Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 Satz 1 GG die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland an der europäischen Integration. Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“ [350]); Maunz / Dürig / Herdegen (88. Lfg. 2019), Art. 146 Rn. 57 ff.; Sachs / Huber (2018), Art. 146 Rn.  18 f.; Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 146 Rn. 5; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 10 Rn. 18, jeweils m. w. N. Gegen eine Anwendbarkeit des Art. 146 GG in 643

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Entscheidung des BVerfG wurde dazu betont, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt und „die Gemeinschaft“ damit zugleich nicht grundsätzlich angezweifelt werde: „So wenig das Völkerrecht durch Art. 25 GG in Frage gestellt wird, wenn er bestimmt, daß die allgemeinen Vorschriften des Völkerrechts nur dem einfachen Bundesrecht vorgehen, und so wenig eine andere [fremde] Rechtsordnung in Frage gestellt wird, wenn sie durch den ordre public der Bundesrepublik Deutschland verdrängt wird, so wenig wird das Gemeinschaftsrecht in Frage gestellt, wenn ausnahmsweise das Gemeinschaftsrecht sich gegenüber zwingendem Verfassungsrecht nicht durchsetzen läßt.“ 646 Die deutsch-verfassungsrechtliche Sichtweise kehrt den vom EuGH als absolut interpretierten Anwendungsvorrang des Unionsrechts somit in einen nur noch grundsätzlichen um.647 aa) Die Verfassungsidentität gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG Diesen Ausgangspunkt hat auch das BVerfG aufgegriffen und in einer Reihe bedeutender Entscheidungen einen unantastbaren Kern der grundgesetzlichen Identität betont. In seinem Maastricht-Urteil hatte das Gericht bereits ausgeführt, dass Art. 79 Abs. 3 GG die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU nur bis zur Grenze der Aushöhlung der Befugnisse des demokratisch legitimierten Bundestages zulasse und dass einer solchen drohenden Entleerung das Demokratieprinzip diesem Fall Kirchhof, § 21: Die Identität der Verfassung, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 60 (unter Hinweis auf die Integrationsermächtigungsgrenze des Art. 23 Abs. 1 GG). 646 BVerfG, Beschluss v. 29.05.1974 (2 BvL 52/71), BVerfGE 37, 271 (278 f.). 647 Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 22 („Insoweit hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit der Formulierung eines verfassungsrechtlichen Identitätsvorbehalts […] die staatsrechtliche Logik für sich.“); Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 36; Röß, EPL 25 (2019), 25 (26, 32) („[…] the identity of the German Constitution, namely core elements which cannot be superseded  – not even by formally higher-ranking EU law.“); Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (881); Hong, EuConstLRev 12 (2016), 549 (552). S. auch BVerfG, Beschluss v. 14.01.2014 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE  134, 366 (384); BVerfG, Beschluss v. 06.07.2010 (2 BvR 2661/06), BVerfGE 126, 286 (302) (jeweils: „Anders als der bundesstaatliche Geltungsvorrang, wie ihn Art. 31 GG für die deutsche Rechtsordnung vorsieht, kann der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht umfassend sein […].“); s. auch Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2018), § 5 Rn. 22 f. („Grundrechtsschutz gegen Vorschriften des Unionsrechts […] oder sonstige Rechtsakte der EU […] nach Maßgabe des Unionsrechts zu gewähren, allerdings nur sofern der Rechtsakt der EU nicht ultra vires erlassen wurde und den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes wahrt.“ [Herv. i. O.]). S. auch bereits Fn. 567 mit Haupttext. Vgl. auch zur Rspr. oberster Gerichtshöfe anderer EU-Mitgliedstaaten zu den Grenzen des Anwendungsvorrangs bei tangierten wesentlichen Verfassungswerten Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 47 m. w. N. Vgl. im Zusammenhang mit der Verfassungsidentität (dazu sogleich) auch Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (95, 97) („legal basis for exceptions to the EU law claim of absolute primacy“).

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entgegenstehe, „soweit es Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG für unantastbar erklärt.“ 648 Auch in seinem Urteil zum EuHbG I betonten die Karlsruher Richter, dass eine Grundgesetzänderung als unzulässig anzusehen sei, „wenn sie die Grenzen des Art. 79 Abs. 3 GG überschritte.“ 649 Die eigentliche Geburtsstunde eines in dieser Hinsicht konkreten Prüfungsvorbehalts bildete sodann die Entscheidung zum Vertrag von Lissabon: „Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungs­ gericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist. […] Die Identitätskontrolle ermöglicht die Prüfung, ob infolge des Handelns europäischer Organe die in Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze der Art. 1 und Art. 20 GG verletzt werden.“ 650 Zur Begründung beruft sich das BVerfG wiederum auf das Demokratieprinzip und das durch das als grundrechtsgleiches Recht ausgestaltete Wahlrecht des Art. 38 GG, das eine substanziell hinreichende Teilnahme am demokratischen Legitimationsprozess gewähre.651 Dem Gericht ist 648 BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (172, 182) („Art. 38 GG kann demnach verletzt sein, wenn die Wahrnehmung der Kompetenzen des Deutschen Bundestages so weitgehend auf ein von den Regierungen gebildetes Organ der Europäischen Union oder der Europäischen Gemeinschaften übergeht, daß die nach Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbaren Mindestanforderungen demokratischer Legitimation der dem Bürger gegenübertretenden Hoheitsgewalt nicht mehr erfüllt werden.“ Krit. zur Rechtsgrundlage Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 220 („gleichwohl im Rahmen einer teleologischen Interpretation vertretbar“). 649 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (296); s. auch BVerfG, Abweichende Meinung der Richterin Lübbe-Wolff zum Urteil des Zweiten Senats vom 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (336) (Art. 79 Abs. 3 GG „als verfassungsrechtliche Grenze der europäischen Integration“). 650 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (354); s. auch BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (337); Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 27. Für eine Nachzeichnung der Rspr. des BVerfG zur Identitätskontrolle Dietz, AöR 142 (2017), 78 (83 f.). Das italienische Verfassungsgericht (Corte Costitutionale Italiana) hat diesen Ansatz aufgegriffen, vgl. dazu m. w. N. Di Francesco Maesa, eucrim 2018, 50 (51); s. auch zur Verfassungsidentität aus französischer Perspektive Walter, ZaöRV 72 (2012), 177 (184 ff.). Vgl. m. w. N. zum entspr. Prüfungsvorbehalt des spanischen Verfassungsgerichts Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (557 mit Fn. 62); zur Identitätsrechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten s. auch Fabbrini / Sajó, ELJ 25 (2019), 457 (458 ff.), mit einer besonderen Betonung auf der Vorreiterrolle des BVerfG (472), weiteren Ausführungen zur Genealogie (462 ff.) und einer i. Erg. ablehnenden – auf der Unbestimmtheit und willkürlichen Anwendung basierenden – Haltung gegenüber dem Identitätskonzept, dass als „a danger to the European project at a time of growing geopolitical challenges and anti-European hysteria“ angesehen wird (466 ff.). Ausf. zur Entwicklung des Konzepts der Verfassungsidentität in der Rspr. des BVerfG auch Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 42 ff. (mit weiteren Ausführungen zum – als verfehlt bewerteten – Begriff der Verfassungsidentität [133 ff., 144 ff.]), die das Konzept der Verfassungsidentität ablehnt (143 ff.). 651 BVerfG, Urteil v. 18.03.2014 (2 BvR 1390/12 et al.), BVerfGE 135, 317 (399) („Das durch Art. 38 Abs. 1 GG geschützte Wahlrecht gewährleistet als grundrechtsgleiches Recht die Selbstbestimmung der Bürger und garantiert die freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt […]. Sein Gewährleistungsgehalt umfasst die Grundsätze des

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dabei insoweit zuzustimmen, als dass Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG nicht nur den Rechtsanwendungsbefehl für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts begründet, sondern in einem auf dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung aufbauenden Staatenverbund zugleich die Grenzen für diesen Vorrang aufzeigt.652 Entsprechend hat das BVerfG sodann auch wiederholt explizit ausgeführt, dass Gegenstand der Identitätskontrolle die Frage ist, „ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union berührt werden.“ 653 Abzugrenzen ist diese verfassungsrechtliche Identitätskontrolle zum einen von dem bereits dargelegten Prüfungsvorbehalt hinsichtlich eines äquivalenten Grundrechtsschutzes654 und zum anderen von der sogenannten „ultra vires“-Kontrolle.655 Im Rahmen letzterer prüft das BVerfG, ob ein Rechtsakt der Union sich in deren vom Prinzip begrenzter Einzelermächtigung abgesteckten Kompetenzbereich bewegt oder vielmehr ein „ausbrechender Rechtsakt“ vorliegt, wobei eine etwaige –

Demo­k ratiegebots im Sinne von Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung auch vor dem Zugriff durch den verfassungsändernden Gesetzgeber schützt.“); BVerfG, Urteil v. 12.09.2012 (2 BvR 1390/12 et al.), BVerfGE 132, 195 (238); s. auch BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (340); BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (171 f.); Kirchhof, § 21: Die Identität der Verfassung, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 55; Opper­mann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 10 Rn. 18; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 242. 652 Bender, ZJS 2016, 260 (261), wonach die Ausnahme der Identitätskontrolle demnach keiner Begründung bedürfe. S. für ein Erfordernis nach „geeigneter innerstaatlicher Sicherung zur Wahrnehmung dieser [Integrations]Verantwortung“ Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. 25. 653 BVerfG, Urteil v. 21.06.2016 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 142, 123 (195) (Herv. d. Verf.); s. auch BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (337); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (354). 654 S. zur „Solange“-Rechtsprechung bereits Fn. 560–563 und 646, jeweils mit Haupttext. 655 Für einen solchen dreigeteilten Prüfungsvorbehalt auch Streinz, Europarecht (2019), Rn. 241; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 26; Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (123 f. [128]); Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (853 ff.); Bender, ZJS 2016, 260 (261 f.); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (112 f.). Für eine Zweiteilung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz Dietz, AöR 142 (2017), 78 (118 ff.), die die Grundrechtskontrolle einschließlich der Solange-Rspr. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und die Identitätskontrolle als Unterfall der Ultra-vires-Kontrolle Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG zuschreibt, wobei der Solange-Vorbehalt in der Praxis keine Bedeutung mehr erlange und die Dreiteilung nicht mehr aufrechterhalten werden könne. Für eine Bewertung der ultra vires-Kontrolle als Unterfall der Identitätskontrolle auch Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 155; für eine ausf. Abgrenzung der Identitäts- von der ultra vires-Kontrolle Burchardt, ZaöRV 76 (2016), 527 (544 ff.). Die Etablierung einer gar vierten Kontrollkategorie i. R. d. Beschlusses des BVerfG sieht Finke, HRRS 2016, 327 (329 f.), wonach – wenig überzeugend – die Identitätskontrolle unter Verweis auf den Wortlaut des Art. 23 Abs. 1 GG nicht auf Sekundärrechtsakte anwendbar sei („Verfassungsidentität kein Meta-Zweck des Grundgesetzes“).

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

hier nicht weiter zu erörternde – Verwerfungskompetenz umstritten ist.656 Damit lässt sich für den weiteren Untersuchungsverlauf zweierlei festhalten: Zum einen darf nach bundesverfassungsgerichtlicher Rechtsprechung die europäische Integration und damit die Übertragung von Hoheitsrechten nicht ein solches Maß erreichen, dass dem deutschen demokratisch legitimierten Gesetzgeber „kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt.“ 657 Als eines der konkreten Beispiele nennt das BVerfG den Bereich „intensive[r] Grundrechtseingriffe wie de[n] Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege.“ 658 Zum anderen – und hieran lässt sich die Frage eines möglichen (nationalen) ordre-public-Einwands festmachen – kann ein bestimmter verfassungsrechtlicher Identitätskern nicht Gegenstand europäischer Integration und damit auch nicht der Unionsrechtsetzung sein und ist in diesem Sinne integrationsfest; das BVerfG selbst ordnet insoweit die Unanwendbarkeit eines unionalen Rechtsaktes kraft „Identitätskontrollkompetenz“ an.659 Damit 656 S. dazu BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (188) („Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrunde liegt, nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden.“); s. weiterführend auch Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2018), § 5 Rn. 15, 18 ff.; Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 28; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 10 Rn. 21 f.; Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (126 ff.); Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (855). 657 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (357 f.). 658 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (358). 659 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (337 f.) („Diese Prüfung kann […] im Ergebnis dazu führen, dass das Unionsrecht in Deutschland in eng begrenzten Ausnahmefällen für unanwendbar erklärt werden muss.“); BVerfG, Beschluss v. 14.01.2014 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 134, 366 (384) („Hat die Maßnahme eines Organs oder einer sonstigen Stelle der Europäischen Union Auswirkungen, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren, so ist sie in Deutschland von vornherein unanwendbar.“) und (387 f.) („Deutsche Staatsorgane dürfen am Zustandekommen und der Umsetzung […] von solchen Maßnahmen nicht mitwirken, die die durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsidentität berühren. Das gilt für alle Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte. Dies ergibt sich sowohl aus den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Demokratie [Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG] und des Rechtsstaats [Art. 20 Abs. 3 GG] als auch aus Art. 23 Abs. 1 GG und wird unionsrechtlich durch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung [Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV] und die Pflicht der Europäischen Union, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten [Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV], abgesichert.“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (354) („Sowohl die Ultra-vires- als auch die Identitätskontrolle können dazu führen, dass Gemeinschafts- oder künftig Unionsrecht in Deutschland für unanwendbar erklärt wird.“); Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 221; Burchardt, ZaöRV 76 (2016), 527 (540 f.); Rung, EWS 2016, 145 (147); Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (334); Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (856); Ludwigs  / ​ Sikora, EWS 2016, 121 (123), die aber überzeugend betonen, dass die Identitätskontrolle auch gegenüber nationalen Unionsrecht umsetzenden Hoheitsakten eingreift und damit nicht zwingend eine Unvereinbarkeitserklärung von Unionsrecht zum Gegenstand haben muss (128 f.).

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verbunden ist hingegen nur die Suspendierung des gegen die Verfassungsidentität verstoßenden Sekundärrechtsaktes; die Verwerfungskompetenz steht weiterhin gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV allein dem EuGH zu.660 Daraus lässt sich weiter ableiten, dass gewissen Entwicklungen im europäischen Integrationsprozess ein „identitätsgeleiteter national-verfassungsrechtlicher“ Fundamentaleinwand in Form eines hier in Rede stehenden ordre-public-Einwands entgegengehalten werden können muss. Wie dieser prozessual einzubinden, insbesondere, ob er i. R. d. bestehenden Verfahrensmechanismen vor dem BVerfG eingebunden oder auf ein Verfahren sui generis zu stützen ist, ist Gegenstand weiterer Diskussion, kann hier indes nicht weiter verfolgt werden.661 bb) Die Aktivierung der Identitätskontrolle im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.2015 (2 BvR 2735/14) Bedeutung für die Übergabe nach Maßgabe des RbEuHb hat diese verfassungsrechtliche Identitätskontrolle in einem jüngeren Beschluss des BVerfG vom 15.12.2015 erlangt,662 dessen zugrunde liegender Sachverhalt im Folgenden zunächst kurz nachgezeichnet werden soll. Dem Fall lag ein Europäischer Haftbefehl der Italienischen Republik zur Vollstreckung einer 30-jährigen Freiheitsstrafe aufgrund einer rechtskräftigen Abwesenheitsverurteilung des Corte di Appello Florenz vom 27.03.1992 zugrunde.663 Der verurteilte US-amerikanische Staatsbürger war wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung sowie der Einfuhr und des Besitzes von Betäubungsmitteln verurteilt worden und wurde auf Grundlage 660 Zum Verwerfungsmonopol des EuGH s. nur EuGH, Foto-Frost v. Hauptzollamt Lübeck-​ Ost, Urteil v. 22.10.1987 (Rs. 314/85; ECLI:EU:C:1987:452), Slg. 1987, 4225 (4230 ff.); Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 82; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 63. Von einem „Verwerfungsmonopol (entsprechend Art. 100 Abs. 1 GG)“ spricht ausdrücklich aber Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 28. 661 S. dazu nur BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (354 f.) („In Betracht kommt die Inanspruchnahme bereits jetzt vorgesehener Verfahren, mithin die abstrakte (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG) und konkrete (Art. 100 Abs. 1 GG) Normenkontrolle, der Organstreit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG), der Bund-Länder-Streit (Art. 93 Abs. 1 Nr. 3 GG) und die Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Denkbar ist aber auch die Schaffung eines zusätzlichen, speziell auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle zugeschnittenen verfassungsgerichtlichen Verfahrens durch den Gesetzgeber zur Absicherung der Verpflichtung deutscher Organe, kompetenzüberschreitende oder identitätsverletzende Unionsrechtsakte im Einzelfall in Deutschland unangewendet zu lassen.“). 662 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317. Der Entscheidung in der Hauptsache war eine erstmals mit Datum vom 27.11.2014 erlassene und zweimal – nämlich am 13.05.2015 und am 03.11.2015 – wiederholte einstweilige Anordnung vorausgegangen. Dem explizit folgend etwa OLG Hamburg, Beschluss v. 03.08.2016 (1 Ausl A 14/15), juris, Tz. 7. S. auch rechtsvergleichend für die Identitätsrechtsprechung in anderen Mitgliedstaaten Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (95 mit Fn. 72). 663 S. zu den Tatsachenfeststellungen OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 2 ff.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

eines Europäischen Haftbefehls der italienischen Generalstaatsanwaltschaft beim Corte di Appello Florenz vom 31.07.2014 in Deutschland festgenommen. In dem Formblatt zum Europäischen Haftbefehl664 war dabei zum einen nicht angegeben, ob der Betroffene zur Verhandlung persönlich erschienen ist, jedoch, dass dem Verurteilten die Entscheidung des Corte di Appello Florenz persönlich zugestellt worden ist (Punkt 3.4). Das Oberlandesgericht Düsseldorf hat die Übergabe des Betroffenen mit Beschluss vom 07.11.2014665 für zulässig erklärt und damit den seitens des Betroffenen gegen die Übergabe geltend gemachten Einwänden, dass die Verurteilung ohne seine Kenntnis erfolgt sei und ihm das italienische Rechtsmittelrecht keine Möglichkeit zur umfassenden Überprüfung der Verurteilung und damit des Anklagevorwurfs biete, verworfen.666 Den Zulässigkeitshinderungsgrund des § 83 Nr. 3 IRG sah das Oberlandesgericht nach einer Neufassung des italienischen Straf­prozessrechts als nicht mehr einschlägig an. Zwar führt das Oberlandesgericht aus, dass sich in Fällen einer Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils „der zu beachtende Maßstab […] aus den zu § 73 entwickelten Grundsätzen [ergibt]“ 667 und mit Einführung des § 83 Nr. 3 IRG zur Umsetzung des Art. 5 Nr. 1 RbEuHb a. F. eine Anhebung des zu § 73 IRG etablierten Schutzniveaus nicht verbunden sei.668 Doch betont der Senat im Wesentlichen auch, dass die einschlägige Rechtsgrundlage des Art. 175 CCP (Codice di procedura penale) n. F. zum einen eine gegenüber der vormaligen Zehntagesfrist „mit 30 Tagen – ausreichend – bemessene Frist zur Antragstellung“ hinsichtlich der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähre und zum anderen „eine Umkehr der Beweislast zu Gunsten des Verfolgten“ gegenüber der vorherigen Fassung enthalte, da die nunmehr geltende Fassung den italienischen Justizbehörden die kumulative Beweispflicht dahingehend auferlege, dass der Betroffene sowohl von der Verhandlung positive Kenntnis hatte als auch auf etwaige Rechtsmittel verzichtet hat.669 Für einen solchen erfolgreichen Beweisantritt sah das Oberlandesgericht indes keine 664 S. das Muster im Anhang zum RbEuHb (Abl. EU 2002, L 190, 13) in der durch den Änderungsrahmenbeschluss ergänzten Fassung (Abl. 2009, L 81, 27). 665 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris. 666 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz 12 ff. 667 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 12. 668 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 16. 669 OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 14. Den Feststellungen des BVerfG lässt sich hierzu entnehmen, dass Art. 175 Abs. 2 CCP a. F. (von 2005) mit Art. 603 Abs. 4 CCP i. d. F. v. 1988 identisch sei, der durch Urteil des italienischen Corte di Cassazione vom 17.07.2014 auf Abwesenheitsverurteilungen vor Inkrafttreten der Gesetzesänderung zum 28.04.2014 Anwendung finde und vom in absentia Verurteilten verlange, dass „er den Beweis erbringt, dass er wegen Zufalls, wegen höherer Gewalt oder deswegen, weil er keine Kenntnis vom Ladungsdekret erhalten hatte, nicht erscheinen konnte, freilich voraus­ gesetzt, dass dieser Umstand im gegebenen Fall nicht auf sein Verschulden zurückzuführen ist oder dass er sich […] nicht willentlich der Kenntnisnahme von den Verfahrenshand­lungen entzogen hat“ (vgl. BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 [2 BvR 2735/14], BVerfGE 140, 317 [325 f.]).

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Anhaltspunkte, sodass „davon auszugehen [ist], dass dem Verfolgten vorliegend ein tatsächlich wirksamer, von seinem Antrag abhängiger und nicht im Ermessen der italienischen Justizbehörden stehender Rechtsbehelf auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zur Verfügung steht“ und „damit gleichzeitig gewährleistet [ist], dass eine umfassende Überprüfung des Abwesenheitsurteils stattfindet.“ 670 Auf die gegen den die Gegenvorstellung des Betroffenen vom 13.11.2014 ablehnenden Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 27.11.2014671 erhobene Verfassungsbeschwerde hin hob das BVerfG diesen auf und verwies die Sache an das Oberlandesgericht zurück. In der Sache monierten die Karlsruher Richter eine Verletzung des Rechts aus Art. 1 Abs. 1 i. V. m. Art. 23 Abs. 1 S. 3 und Art. 79 Abs. 3 GG.672 Sie betonten, ihrer ständigen Rechtsprechung folgend, dass sie sich eine Prüfung der Verletzung deutscher Grundrechte vorbehalten, soweit damit der unantastbare Verfassungskern berührt werde,673 weshalb dem Gericht in der Reaktion auf die Entscheidung bisweilen die Rückkehr zur „Solange I“-Entscheidung 670

OLG Düsseldorf, Beschluss v. 07.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), juris, Tz. 15. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 27.11.2014 (III-3 Ausl 108/14), NRWE. 672 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (334 ff.). 673 BVerfG, Beschluss v. 29.05.1974 (2 BvL 52/71), BVerfGE 37, 271 (279) („[E]r [Art. 24 GG] eröffnet nicht den Weg, die Grundstruktur der Verfassung, auf der ihre Identität beruht, ohne Verfassungsänderung, nämlich durch die Gesetzgebung der zwischenstaatlichen Einrichtung zu ändern. […] Aber Art. 24 GG begrenzt diese Möglichkeit, indem an ihm eine Änderung des Vertrags scheitert, die die Identität der geltenden Verfassung der Bundesrepublik Deutschland durch Einbruch in die sie konstituierenden Strukturen aufheben würde. Und dasselbe würde für Regelungen des sekundären Gemeinschaftsrechts gelten, die aufgrund einer entsprechenden Interpretation des geltenden Vertrags getroffen und in derselben Weise die dem Grund­ gesetz wesentlichen Strukturen berühren würden.“); BVerfG, Urteil v. 12.10.1993 (2 BvR 2134, 2159/92), BVerfGE 89, 155 (174 f.); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (353 f., 400 ff.) („Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist […].“ [354], „Insofern widerspricht es nicht dem Ziel der Völkerrechtsfreundlichkeit, wenn der Gesetzgeber ausnahmsweise Völkervertragsrecht […] nicht beachtet, sofern nur auf diese Weise ein Verstoß gegen tragende Grundsätze der Verfassung abzuwenden ist […].“ [400 f.]); s. auch Kingreen / Poscher, Grundrechte (2019), Rn. 248, wonach der Anwendungsvorrang des Unionsrechts bei Beeinträchtigung der „in Art. 1 Abs. 1 GG verbürgte[n] grundrechtliche[n] Identität […] nicht gelten [kann].“; in diesem Zusammenhang betont auch Streinz, dass die Rücknahme der Prüfungskompetenz seitens des BVerfG i. R. d. „Solange“-Rspr. aufgrund des zwingenden grundgesetzlichen Kontrollauftrags nur als Beschränkung auf eine „negative Evidenzkontrolle“ zu verstehen sei (Streinz, Europarecht [2019], Rn. 256). Nach Ansicht Schroeders setze sich das Unionsrecht hingegen auch „gegenüber grundlegenden Verfassungsprinzipien, die eigentlich änderungsfest sind (z. B. nach Art. 79 Abs. 3 GG)“ durch (Schroeder, Grundkurs Europarecht [2019], § 5 Rn. 18), der jedoch auch betont, dass „das Unionsrecht die in Deutschland geltenden verfassungsrecht­ lichen Grenzen respektieren [muss, weil das aufgrund des GG erlassene Zustimmungsgesetz als verfassungsrechtliche ‚Brücke‘ wirkt]“ und „damit der Vorrang des Unionsrechts in Deutschland letztlich aus der Perspektive des GG durch Art. 79 Abs. 3 GG begrenzt [wird],“ weshalb „Rechtshandlungen der Union, die mit der ‚generelle[n] Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards‘ in Deutschland nicht mehr vereinbar sind […], gegen das Rechtsstaatsprinzip [verstoßen]“ (30 f.). 671

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

attestiert wurde.674 Im Grundsatz bekennt sich das BVerfG zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts und dem daraus resultierenden grundsätzlichen Überprüfungsverbot von „Hoheitsakte[n] der Europäischen Union und – soweit sie durch das Unionsrecht determiniert werden – Akte[n] der deutschen öffentlichen Gewalt […] am Maßstab der im Grundgesetz verankerten Grundrechte.“ 675 Dieser Anwendungsvorrang finde jedoch seine Grenze in dem vom Grundgesetz für zulässig erklärten Maß der Übertragung von Hoheitsrechten, wobei sich solche Grenzen „aus der in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegten Verfassungsidentität des Grundgesetzes [ergeben].“ 676 Konkret benennt die Entscheidung als von der Verfassungsidentität des Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Rechtsgüter die Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) sowie den in dieser und im Rechtsstaatsprinzip verankerten Schuldgrundsatz, wobei die unzulässige Relativierung der Schutzgüter betont wird.677 Eine Anwesenheit des Beschuldigten in der Verhandlung sei demnach erforderlich, um sich mit der Persönlichkeit des Täters sowie den konkreten Tatumständen auseinandersetzen zu können und dem Beschuldigten gemäß seiner aus der Menschenwürdegarantie folgenden Verfahrensstellung eine aktive Teilnahme am Prozessgeschehen samt Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte zu ermöglichen.678 Diese Grundsätze beanspruchten auch im Fall einer Auslieferung zur Vollstreckung einer Abwesenheitsverurteilung Geltung; den deutschen Gerichten komme eine besondere Prüfungspflicht im Hinblick auf die Anforderungen im Strafverfahren des ersuchenden Staates zu („Gewährleistungsverantwortung“),679 weil „bei der Auslieferung zur Vollstreckung von Abwesenheitsurteilen die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze […] beziehungsweise der unver 674 Meyer, HRRS 2016, 332 (334) („‚Solange II‘ hat hier ausgedient; es gilt ‚Für immer I‘.“); vgl. auch Classen, EuR 2016, 304 (308), der von einer „gewissermaßen Wiedererlangung eines grundrechtlichen Kontrollzugriffs“ spricht; Sauer, NJW 2016, 1134 (1137) betont darüber hinaus, dass durch die Annahme einer Identitätskontrolle „die Vergemeinschaftung des Auslieferungsrechts innerhalb der EU der Sache nach einseitig wieder rückgängig gemacht [wird]“ und der Anwendungsvorrang des Unionsrechts „in einen Vorrang der Verfassung vor dem Unionsrecht umgekehrt werden [kann].“ 675 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (334). 676 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (336). 677 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (341, 343 f.). 678 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (345). 679 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (346 ff.) („Die zuständigen Auslieferungsgerichte tragen insoweit auch für die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat Verantwortung. […] Gleichwohl darf die deutsche Hoheitsgewalt die Hand nicht zu Verletzungen der Menschenwürde durch andere Staaten reichen.“ [347 m. w. N.]); etwa bestätigt in BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 33; auch im Fall der Auslieferung an Europaratsstaaten, s. BVerfG, Beschluss v. 22.10.2019 (2 BvR 1661/19), juris, Tz. 37, 39. Krit. dazu Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (878) („erste, leicht verbrämte und inzidente Ultra-vires-Feststellung durch das BVerfG in Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH“); Kühne, StV 2016, 299 (300), der die damit einhergehende Verantwortung der Gerichte zwar begrüßt, doch zutr. die Frage aufwirft, „wo denn der so oft beschworene Erleichterungseffekt bei der innereuropäischen Strafverfolgung bleibt und wie es mit dem wechselseitigen Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten bestellt ist.“

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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zichtbare Bestand der deutschen öffentlichen Ordnung […] zu beachten sind.“ 680 Die Anordnung einer umfassenden Rechtsprüfung ist hierin jedoch nicht zu sehen.681 Was den Übergabeverkehr nach Maßgabe des RbEuHb angeht, betont das Gericht zwar auch den unter den Mitgliedstaaten der EU „herrschenden Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens.“ 682 Doch könne dieses Vertrauen nicht nur im Einzelfall erschüttert werden, es bestehe im Fall einer Abwesenheitsverurteilung bei Vorliegen tatsächlicher Anhaltspunkte vielmehr „Anlass zur Prüfung, ob die Auslieferung und die ihr zugrunde liegenden Akte mit dem vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz vereinbar sind.“ 683 Zugleich weist das Gericht jedoch – wenn auch sehr knapp – darauf hin, dass allein der Umstand einer Abwesenheitsverurteilung nicht den zwingenden Schluss auf einen Konflikt mit der Verfassungsidentität zulasse, sondern die Wertung des Art. 4a RbEuHb zu berücksichtigen sei und erst eine Feststellung der Nichteinhaltung des grundgesetzlichen Mindeststandards seitens des Auslieferungsgerichts zur Erklärung der Übergabe als unzulässig führen dürfe.684 So statuiert das BVerfG in der Konsequenz, dass die deutschen Gerichte und Behörden „gehalten [sind], beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl und des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitgliedstaat beachtet werden, oder – wo dies nicht möglich ist – von einer Auslieferung abzusehen. Insoweit wird der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt.“ 685 Im Ergebnis schlagen die Karlsruher Richter indes einen anderen Weg ein: Unter Verweis auf die normenhierarchisch vorrangige GRCh und den über Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh verbindlichen konventionsrechtlichen Mindeststandard des Art. 6 EMRK betont der Zweite Senat zutreffend die unionsrechtliche Begrenzung des RbEuHb.686 Das Gericht verweist hierzu ferner auf die Aufwertung des Art. 5 Nr. 1 RbEuHb a. F. zum fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgrund durch den Rb 2009/299/JI und die damit einhergehende Stärkung der Verfahrensrechte des in absentia Verurteilten.687 Auch sei i. R. d Art. 6 EMRK die Rechtsprechung des EGMR zu beachten, weshalb die 680

BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (346 f.) unter Verweis auf BVerfG, Beschluss v. 09.03.1983 (2 BvR 315/83), BVerfGE 63, 332 (338). 681 Meyer, HRRS 2016, 332 (336). 682 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (348). 683 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (349 ff.). 684 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (351 f.). 685 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (355) (Herv. d. Verf.). Für eine grundrechtliche Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung bereits auf Ebene des Unionsprimärrechts s. bereits S. 164 ff. 686 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (356 ff.). S. auch bereits Fn. 596 mit Haupttext. 687 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (357 f.). S. dazu sowie zur gleichzeitigen Durchbrechung durch die Aufnahme von Ausnahmevorschriften bereits Fn. 326 mit Haupttext.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

persönliche Anwesenheit des Angeklagten als essentielle Voraussetzung eines fairen Verfahrens anzusehen sei und eine negative Beweislast des Angeklagten für seine unverschuldete Abwesenheit die Effektivität eines Rechtsmittels beeinträchtige.688 Daraus schlussfolgert das BVerfG, „dass die nationalen Justizbehörden bei entsprechenden Anhaltspunkten unionsrechtlich berechtigt und verpflichtet sind, die Einhaltung der rechtsstaatlichen Anforderungen zu prüfen, selbst wenn der Europäische Haftbefehl in formaler Hinsicht den Voraussetzungen des Rahmenbeschlusses entspricht.689 […] Damit bleiben die unionsrechtlichen Anforderungen an die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht hinter denjenigen zurück, die das Grundgesetz als von Art. 1 Abs. 1 GG gebotene Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten enthält.“ 690 Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Düsseldorf hält einer Überprüfung anhand dieser Maßstäbe nicht stand. Der Senat moniert, die Vorschrift des Art. 603 Abs. 4 CCP finde auf den vorliegenden Sachverhalt Anwendung, sehe jedoch eine bereits angesprochene negative Beweislast des Verurteilten, die „kaum zu führen ist“, sowie eine erneute Beweisaufnahme nur in Ausnahmefällen vor.691 In diesem Zusammenhang verweist das BVerfG auf die die italienische Rechtslage beanstandende Rechtsprechung des EGMR.692 Das Berufungsgericht sei zudem nicht zu einer erneuten Beweisaufnahme von Amts wegen verpflichtet, weshalb diese nicht hinreichend gewährleistet sei,693 sodass im Ergebnis weitere Ermittlungen zur Aufklärung der Rechtslage in Italien durch das Oberlandesgericht geboten gewesen seien.694 Im Anschluss wurde die Entscheidung vom 15.12.2015 in einer Reihe von Folgeentscheidungen bestätigt.695 cc) Die verfassungsrechtliche Identitätskontrolle als Ausdruck ordre-public-gestützter Vollstreckungsverweigerung Im Ergebnis ist dem BVerfG beizutreten, wenn es i. R. d. Frage des Anwendungs­ vorrangs verfassungsidentitätsbeeinträchtigender Rechtsakte des Unionsrechts „das letzte Wort“ für sich reklamiert.696 Es geht hier indes nicht um eine allgemeine Würdigung der Entscheidung, sondern vielmehr um die Frage, ob in der 688

BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (362 ff.). BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (364). 690 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (366). 691 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (369 f.). 692 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (371). 693 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (372). 694 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (373 ff.). 695 S. zuletzt BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR  424/17), juris, Tz. 30 ff.; BVerfG, Beschluss v. 23.01.2017 (2 BvR 2584/12), NJW 2017, 1731 (1732); BVerfG, Beschluss v. 21.09.2016 (2 BvL 1/15), BVerfGE 143, 38 (52); BVerfG, Beschluss v. 06.09.2016 (2 BvR 890/16), JZ 2016, 1113 (1114); BVerfG, Urteil v. 31.05.2016 (1 BvR 1585/13), BVerfGE 142, 74 (112, 116); BVerfG, Beschluss v. 24.03.2016 (2 BvR 175/16), NStZ 2017, 43 (45). 696 Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (123); Nettesheim, JZ 2016, 424 (425) (Erstreckung der Jurisdiktionsgewalt auf EU-Akte „systematisch-funktional richtig“). 689

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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verfassungsrechtlichen Rechtsgrundlage für eine Mitwirkung an der EU zugleich eine solche für einen Einwand fundamentaler Wertentscheidungen der deutschen Verfassungsrechtsordnung angelegt ist. Dazu ist zunächst anzumerken, dass ein gegenüber der europäischen Integration abgesicherter verfassungsrechtlicher Identitätsbestand vom Grundgesetz vorgesehen ist. Dieser Identitätsschutz findet seinen Ausdruck zunächst in der auf die europäische Ebene bezogenen „Struktursicherungsklausel“ des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG, wonach die EU selbst „demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.“ Daneben tritt die an den deutschen Gesetzgeber adressierte „Verfassungsbestandsklausel“,697 wonach diesem i. R. d. Mitgestaltung an der EU eine Disposition über die Grenzen des Art. 79 Abs. 2 und 3 GG hinaus verwehrt ist. Damit gibt die Verfassung zu ihrem eigenen Schutz ein integrationsfestes Fundament nicht frei, das wie im Fall eines ordre-public-Vorbehalts im einfachgesetzlichen Rahmen zur Absicherung vor Beeinträchtigungen eines Wesentlichkeitsvorbehaltes bedarf. Dieser Kernbereichsschutz kann sich insbesondere zugunsten der Grundrechte des Grundgesetzes auswirken, die durch eine Hoheitsrechtsübertragung nicht berührt werden dürfen.698 Weiterhin ist der Rechtsprechung aber auch insoweit zuzustimmen, als dass ein identitätsbezogener Prüfungsvorbehalt gegenüber Maßnahmen der Union und unionsrechtlich determinierter nationaler Hoheitsakte699 zwar als aktiver Prüfungs-,700 in Anbetracht des etablierten unionsrechtlichen Grundrechtsniveaus jedoch nicht als allgemeiner grundrechtlicher Reservevorbehalt i. S. d. „Solange“-Rechtsprechung begriffen werden kann.701 Jener ist vielmehr von diesem zu differenzieren und auf eine 697 Zu den Begriffen „Struktursicherungs- und Verfassungsbestandsklausel“ s. Kirchhof, § 21: Die Identität der Verfassung, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 52 m. w. N. zu Art. 24 Abs. 1 GG a. F. („durch ausdrücklichen Verweis auf Art. 79 Abs. 3 G verstärkt und inhaltlich mit der Aussage des Art. 79 GG zur Deckung gebracht“); ders., § 214: Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, in: Isensee / K irchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. X (2012), Rn. 158; Maunz / Dürig / Scholz (88. Lfg. 2019), Art. 23 Rn. 70 ff., 122 ff.; Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (122). 698 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (335) („[…] gehören die Grundrechte des Grundgesetzes zu den Verfassungskerngehalten, die die Übertragung von Hoheitsrechten nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Europäische Union begrenzen […].“). 699 Dietz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine Identitätsverletzung zuerst auf Ebene des Sekundärrechts an Bedeutung gewinnen könne, da Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG dem Gesetzgeber i. R. d. Mitwirkung am Primärrecht Grenzen setze (Dietz, AöR 142 [2017], 78 [90 f.]). 700 S. dazu instruktiv Nettesheim, JZ 2016, 424 (425), wonach der durch den Solange-Vorbehalt eingeleitete „Rückzug auf eine Beobachterposition […] durch den Beschluss vom 15.12.2015 beendet worden [ist].“ 701 Satzger, NStZ 2016, 514 und 516 mit Fn. 2 („Solange 3“ als „plakative, jedoch sachlich verfehlte Benennung“); i. Erg. auch Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (557 mit Fn. 71); s. auch Britz, JZ 2013, 105 (108 f.), die einen ordre-public-Einwand als strengeren Prüfungsvorbehalt gegenüber dem „Solange“-Vorbehalt herausstellt (109) und sich mangels Vergleichbarkeit zutr. gegen eine Übertragung der „Solange II“-Doktrin auf Fälle

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Extremfälle betreffende Einzelfallanwendung beschränkt.702 Eine grundsätzliche Differenz zum Grundrechtsniveau des Grundgesetzes muss insoweit nicht nachgewiesen werden; vielmehr ist ein Reservevorbehalt zugunsten der durch die Verfassungsidentität abgesicherten Rechtspositionen gar nicht erforderlich.703 Somit ist auch einer pauschalen Aktivierung der Verfassungsidentitätskontrolle zur Grundrechtsabsicherung eine Absage zu erteilen, da diese einer Reaktivierung der „Solange I“-Rechtsprechung entsprechen würde. Vielmehr ist der Prüfungsvorbehalt auf den Schutz von zur Verfassungsidentität zählenden Grundrechtspositionen zu beschränken. Dies hindert freilich die Berücksichtigung nationaler Grundrechte

grenzüberschreitender Zusammenarbeit ausspricht; für eine Relativierung des Solange-Vorbehalts aber Burchardt, ZaöRV 76 (2016), 527 (543); s. auch Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 28 („Solange III“); Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (238) mit Fn. 67 („known as Solange III“), allerdings ohne weitere Nachweise; Hong, EuConstLRev 12 (2016), 549 ff. (560 m. w. N. in Fn. 3) („the Solange-III ruling“); offen gelassen bei Swoboda, ZIS 2018, 276 (289) mit Fn. 124; s. auch die Nachweise in Fn. 674. S. zur „Solange“-Rechtsprechung bereits Fn. 560–563 und 646, jeweils mit Haupttext. I. Erg. betont jedoch Polzin, die zu dem Schluss gelangt, dass der Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht unter Verweis auf eine auf Art. 79 Abs. 3 GG gestützte Verfassungsidentität begrenzt werden könne, dass das BVerfG für die Grundrechtsprüfung von Unionsrechtsakten zur Solange-II-Rpsr. zurückkehren müsse (Polzin, Verfassungsidentität [2018], S. 178 ff. [190]). 702 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 („Wird die Verletzung der Menschenwürdegarantie geltend gemacht, so prüft das Bundesverfassungsgericht – ungeachtet der bisherigen Rechtsprechung zur Unzulässigkeit von Verfassungsbeschwerden und Vorlagen, mit denen die Verletzung in Grundrechten des Grundgesetzes durch sekundäres Gemeinschafts- beziehungsweise Unionsrecht gerügt wurde […] – einen solchen schwerwiegenden Grundrechtsverstoß im Rahmen der Identitätskontrolle […].“) (334) und („Vor diesem Hintergrund gewährleistet das Bundesverfassungsgericht im Wege der Identitätskontrolle den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz uneingeschränkt und im Einzelfall.“) (341); BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 48 f., wonach die generelle Prüfung des grundrechtlichen Schutzniveaus nicht die „weiteren Vorbehalte der Ultra-vires-Kontrolle und der Wahrung der Verfassungsidentität […] berührt.“; Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (95); Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (558); Herdegen, Europarecht (2019), § 10 Rn. 28 („absolute Integrationsschranke“, bei der es einer „Prüfung der Voraussetzungen des ‚Solange II-Vorbehaltes‘“ nicht mehr bedürfe), der jedoch ebenfalls von einer „Solange III“-Entscheidung spricht (s. den Nachweis in Fn. 701); Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 224; Brodowski, JR 2016, 415 (422 f.); Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (334), die zutr. darauf hinweisen, dass der Identitätskontrolle „die für Solange typische prospektive Anknüpfung an einen bestimmten Integrationsverlauf“ fehle; Satzger, NStZ 2016, 514 (518); Rung, EWS 2016, 145 (147); Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (124, 129); Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (859); Dietz, AöR 142 (2017), 78 (80); Classen, EuR 2016, 304 (308); von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (719 f.); Bender, ZJS 2016, 260 (263 f.) („Solange-Vorbehalt ‚light‘“). Demgegenüber stellt Klesczewski auch für den Identitätskontrollvorbehalt darauf ab, dass „die in Art. 79 III GG niedergelegten Grundsätze [generell] missachtet“ werden (Klesczewski, Europäisches Strafrecht [2019], Rn. 161). 703 Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (877); Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (334 f.); Finke, HRRS 2016, 327 (330); Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (859, 861).

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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außerhalb des determinierten Bereichs, etwa im Anwendungsbereich der fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgründe, nicht.704 Damit ergibt sich aus verfassungsrechtlicher Sicht folgendes Bild: Ein allgemeiner Grundrechtsvorbehalt ist, wie in der „Solange-II“-Entscheidung und Folgerechtsprechung konstatiert, im Grundsatz weiterhin ausgeschlossen. Allein die Möglichkeit einer restriktiv zu handhabenden705 Identitätskontrolle gibt dem BVerfG die Möglichkeit, den zum Identitätsverstoß führenden unionalen oder umsetzenden nationalen Rechtsakt für unanwendbar zu erklären und damit den Anwendungsvorrang des Unionsrechts auszusetzen.706 Entsprechend einem auf Ausnahmefälle beschränkten ordre-public-Einwand kann die Identitätskontrolle damit weder zur Abwehr beliebiger Kompetenzüberschreitungen (ultra  vires-­ Kontrolle) noch jeder Art von drohenden Grundrechtsverletzungen, sondern nur im Fall der Beeinträchtigung eines das Kernfundament des Grundgesetzes als „TabuBereich“707 angreifenden Rechtsaktes in Stellung gebracht werden. Dass das BVerfG diese Beschränkung auf Evidenzfälle ernst nimmt, lässt sich etwa einem Beschluss vom 06.09.2016 entnehmen, in dem das Gericht eine Auslieferung genehmigte – nachdem es diese noch mittels einstweiliger Anordnung unterbunden hatte708 –, obwohl ein Verstoß gegen den nemo tenetur-Grundsatz im Raum stand, der in concreto aber nicht hinreichend gravierend gewesen sei.709 Die Verfassungs­ 704

Merli, Europäischer Haftbefehl und nationales Verfassungsrecht, in: Lagodny / Wiederin / ​ Winkler, Probleme des Rahmenbeschlusses am Beispiel des Europäischen Haftbefehls (2007), S. 125 (127). 705 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (341) wonach die Identitätskontrolle auf den in „Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz“ beschränkt sei (Herv. d. Verf.); Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 115, wonach die Identitätskontrolle nicht über „die von Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG erfassten ‚rechtsstaatlichen Grundsätze‘“ hinausgehen dürfe. S. auch für eine Beschränkung auf eine Evidenzkontrolle Ludwigs / Sikora, EWS 2016, 121 (129) m. w. N. Für eine restriktive Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG auch Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 136 ff., 149 f, die i. Erg. das Konzept der Verfassungsidentität sogar ablehnt; ebenso Fabbrini / Sajó, ELJ 25 (2019), 457 (472 f.), die betonen, dass „some national courts may have considered in good faith constitutional identity as yet another tool for judicial dialogue, its cooperative features are outweighed by its disintegrative effects.“ 706 S. dazu bereits Fn. 659 mit Haupttext. 707 Nettesheim, JZ 2016, 424. 708 BVerfG, Beschluss v. 29.04.2016 (2 BvR 890/16), juris und BVerfG, Beschluss v. 06.05.2016 (2 BvR 890/16), StV 2016, 586. 709 BVerfG, Beschluss v. 06.09.2016 (2 BvR 890/16), JZ 2016, 1113 (1115) („Nur wenn der unmittelbar zur Menschenwürde gehörende Kerngehalt der Selbstbelastungsfreiheit berührt ist, liegt auch eine Verletzung von Art. 1 GG vor. […] Dagegen folgt unmittelbar aus Art. 1 GG nicht, dass ein Schweigen des Beschuldigten unter keinen Umständen einer Beweiswürdigung unterzogen und gegebenenfalls zu seinem Nachteil verwendet werden darf.“); ebenso Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (559). Oehmichen sieht hierin einen Beleg für eine noch andauernde Unsicherheit des BVerfG, s. Oehmichen, StV 2017, 257 (260). Wie hier auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 26d; ders., EuClR 8 (2018), 317 (328 f.) („This illustrates the Constitutional Court’s rather restrictive approach vis-á-vis a national ordre public.“).

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

identitätskontrolle entspricht daher einem „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwand gegenüber identitätsangreifendem Unionsresp. diesbezüglich determiniertem nationalen Recht, der i. R. d. vorliegenden Untersuchung auf die Außerkraftsetzung der Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls (Art. 1 Abs. 2 RbEuHb) gerichtet ist.710 Es sei an dieser Stelle jedoch angemerkt, dass es einer Bedienung dieses identitätsbasierten ordre-public-Einwands nur bedarf, wenn im konkreten Einzelfall die Grundrechte effektiv vom Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt werden.711 dd) Die Pflicht zur Achtung der nationalen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV Neben dieser Grundlage im nationalen Verfassungsrecht und der höchstrichterlichen Rechtsprechung bietet allerdings auch das Unionsrecht selbst einen norma­tiven Anknüpfungspunkt. Dieses bekennt sich in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zur „Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre[r] jeweilige[n] nationale[n] Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen […] zum Ausdruck kommt“712 und legt damit die Identitätskontrolle „in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV der Sache nach an.“713 Keine Berücksichtigung findet 710

BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (344) („Es [das Grundgesetz] macht aber auch deutlich, dass die Verfassung der Deutschen in Übereinstimmung mit der internationalen Entwicklung gerade auch seit Bestehen der Vereinten Nationen einen universellen Grund besitzt, der durch positives Recht nicht veränderbar sein soll.“). S. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 114 f. („Verfassungsidentität als Teil des deutschen ordre public européen“); ders. / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (113) („wirken sich folglich […] die vom BVerfG angemeldeten grundgesetzlichen Vorbehalte unmittelbar auf die Bestimmung desjenigen ordre public aus, den deutsche Hoheitsträger bei Auslieferungsersuchen anderer EU-Staaten im Rahmen eines europäischen Haftbefehlsverfahrens zu beachten haben.“). Für eine Anwendbarkeit der Identitäts- aber auch der ulta-vires-Kontrolle im Fall einer grund- bzw. menschenrechtswidrigen Vollstreckung eines EuHb auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 158. 711 S. dazu i. R. d. des Beschlusses 2 BvR 2735/14 noch S. 209 ff. 712 Herv. d. Verf. Vgl. dazu von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (715) („Damit ist das mitgliedstaatliche Verfassungsrecht primärrechtlich direkt eingebunden. […] Art. 4 Abs. 2 EUV bietet so eine unionsrechtliche Grundlage für eine rechtliche Verknüpfung zwischen nationalem Verfassungsrecht und Unionsrecht.“). Meyer kritisiert, dass das BVerfG „diese Passage knapp als Autorisierung des eigenen Vorgehens [deutet]“ (Meyer, HRRS 2016, 332 [335]). 713 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (337); krit. dazu Sauer, NJW 2016, 1134 (1136 f.). S. auch Federico, EPL 25 (2019), 347 (354 f.), wonach sich aus einer Zusammenschau der Achtungspflicht zugunsten der nationalen Identität mit den Grundsätzen der begrenzten Einzelermächtigung, der loyalen Zusammenarbeit, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit eine Begrenzung des Unionsrechts ergebe. Krit. zu dieser Interpretation des Art. 4 Abs. 2 EUV Fabbrini / Sajó, ELJ 25 (2019), 457 (472 f.), die sich für eine eindeutige Positionierung des EuGH dahingehend aussprechen, den Mitgliedstaaten vorzugeben, dass die Norm nicht „as a carte blanche to disregard EU law, or challenge the supremacy

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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im Folgenden der dritte Absatz der Präambel zur GRCh, wonach „[d]ie Union […] zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte [gemeint sind die in Abs. 2 der Präambel genannten714] unter Achtung […] der nationalen Identität der Mitgliedstaaten […] bei[trägt].“ Denn die Beachtung der nationalen Identität i. R. d. GRCh („zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte“) betrifft nicht das Verhältnis von nationaler Identität zur hier untersuchten Durchsetzung resp. Beschränkung eines Sekundärrechtsaktes. Vielmehr geht es unter Anleitung einer Auslegungsmaxime um die Tragweite der Chartagarantien selbst715 und damit deren Beschränkung unter Berücksichtigung des Topos der nationalen Identität. Auch wurde bereits positiv festgestellt, dass die Gewährleistungen der GRCh die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund ihres normenhierarchischen Vorrangs begrenzen.716 Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV selbst verzichtet dabei auf eine Definition des Begriffs der nationalen Identität, wobei dieser bereits im Einzelnen aufgrund interdisziplinärer Einflüsse verschiedene Fragen aufwirft.717 Von einer ausführlichen Unter­ suchung dieser Terminologie soll hier freilich abgesehen werden. Es kann in diesem Zusammenhang vielmehr mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass dem autonomen718 Identitätsbegriff ein Charakterisierungs- resp. Selbstbestimthereof“ ausgelegt werden könne (Herv. i. O.). Vielmehr könne Art. 4 Abs. 2 EUV „plausibly be interpreted as exclusively preventing the EU from interfering in the internal organization of state power.“ (473). 714 Abs. 2 der Präambel zur GRCh lautet: „In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.“ 715 S. dazu nur Holoubek / Lienbacher / Holoubek / Lienbacher (2019), Präambel Rn. 12, 15; Streinz / Streinz (2018), Präambel GRCh Rn. 6; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Präambel Rn.  1; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Augsberg (2015), Präambel GRCh Rn. 1 („inkorporierte Erläuterung der nachfolgenden Grundrechtsbestimmungen“); Meyer / Hölscheidt / Meyer (2019), Präambel Rn. 6 m. w. N.; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 2 Rn. 3. 716 S. dazu bereits S. 164 ff. 717 S. dazu nur Pache, DVBl. 2002, 1154 f.; Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 14 jeweils m. w. N.; s. auch für ein objektivistisches und subjektivistisches Verständnis von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (711 f.). Für einen „uniqueness approach“ Kaczorowska-Ireland, EPL 25 (2019), 57 ff. (insbes. 61 ff.), die die Frage, ob ein Element zur nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 EUV zu zählen ist, anhand dreier Fragen klären will, nämlich, ob das in Rede stehende Merkmal (1.) im Vergleich zu den anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen als „uniqueness“ anzusehen [63 ff.], (2.) Teil der „constitutional and political structures“ des anführenden Mitgliedstaates [70 ff.] und (3.) für diese Strukturen „fundamental“ [74 ff.] ist. Für „Zweifel an der rechtlichen Qualität“ des Identitätsbegriffs auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 25 m. w. N. 718 Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art.  4 EUV Rn.  28; Grabitz / Hilf / Nettesheim / ​ Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 13; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (711); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 27; Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 24; Bieber et al., Die Europäische Union

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

mungsmoment immanent ist719 und Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, der auf die „nationale“ Identi­tät verweist, den Bezugspunkt in Form der mitgliedstaatlichen Rechtsordnung eindeutig erkennen lässt. Es geht also zunächst um spezifische Eigenheiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, die „die Union achtet.“ Die Bestimmung abstrakter Maßstäbe für die inhaltliche Ausgestaltung der nationalen Identität sieht sich indes dem Problem der Konturenlosigkeit ausgesetzt.720 Im Zuge dessen ist darauf hinzuweisen, dass gegenüber den Vorgängerfassungen721 nicht mehr auf ein allumfassendes nationalstaatliches Souveränitätsverständnis abgestellt werden kann. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV steckt den Definitionsrahmen insoweit ab, als nur noch mitgliedstaatliche Wertungen, die auf „ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ beruhen, für ein nationales Identitätsverständnis im unionalen Staatenverbund Berücksichtigung finden dürfen.722 Eine Klärung inhaltlicher Maßstäbe ist damit – sieht man einmal von der Eingrenzung auf „grundlegende politische und verfassungsmäßige Strukturen“ ab – freilich nicht gewonnen, sondern vielmehr eine Verlagerung der Definitionsfrage erfolgt. Innerhalb (2019), § 2 Rn. 57; Meyer, HRRS 2016, 332 (335); Swoboda, ZIS 2018, 276 (284); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 107; Di Francesco Maesa, eucrim 2018, 50 (54); Federico, EPL 25 (2019), 347 (374); gegen eine Bewertung als „Blanko-Ermächtigung für autonom von den Mitgliedstaaten zu bestimmende Vorranggrenzen“ auch Sauer, NJW 2016, 1134 (1137). 719 Vgl. etwa Pache, DVBl. 2002, 1154 (1155 m. w. N.); s. auch sehr anschaulich Kaczorowska-Ireland, EPL 25 (2019), 57 (78) („The nationality clause contained in Article 4(2) TEU has a very specific objective, i. e. it ensures that the core constitutional and political features of a Member State, without which that State would become a different state in terms of its constitutional and political make up, are protected. For that reason Article 4(2) TEU should stand on its own, and not be trivialized. Comparison with an individual emphasizes this point. If my DNA profile is altered I will become a different person.“), die i. Erg. jedoch die Letztentscheidungskompetenz dem EuGH zuspricht, der jedoch noch einen „appropriate test for the determination of whether a particular matter is within the scope of Article 4(2) TEU“ zu entwickeln habe (82). Zur Interpretation des Begriffs der nationalen Identiät als „Selbstverständnis“ der Mitgliedstaaten auch Geiger / K han / Kotzur / Geiger (2017), Art. 4 EUV Rn. 3; s. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Hilf / Schorkopf (40. Lfg. 2009), Art. 6 EUV Rn. 79 („Eigenbild“); von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (712) („staatliche Selbstbehauptung“); Walter, ZaöRV 72 (2012), 177 (180). 720 Zum weiten Verständnis s. auch Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 14; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 25; Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 9; unter Verweis auf die Definitionsansätze des EuGH seit der Lissabonner Vertragsreform auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 22 m. w. N. zur Rspr. 721 Eine solche Identitätsklausel war bereits ebenfalls in Art. F Abs. 1 EUV i. d. F. des Vertrags von Maastricht vom 07.02.1992 (Abl. EG C 191, 1) („Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten, deren Regierungssysteme auf demokratischen Grundsätzen beruhen.“) und Art. 6 Abs. 3 EUV i. d. F. des Vertrags von Amsterdam vom 02.10.1997 (Abl. EG C 340, 145) („Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedstaaten.“) enthalten. S. dazu Federico, EPL 25 (2019), 347 (353 f.). 722 S. zum Verständnis als Interpretationsrahmen auch von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (713). Vgl. aber für eine „Präzisierung statt Verengung der Schutzgüter“ Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 26 f.

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dieses normativ umgrenzten Definitionsbereichs ist es sodann Recht und Aufgabe mitgliedstaatlicher Gerichte, den unionsrechtlich vorgegebenen Identitätsrahmen inhaltlich auszufüllen,723 würde eine abschließende Auslegung seitens der Unionsorgane es den souveränen Mitgliedstaaten doch gerade verweigern, sich selbst zu definieren.724 Hinsichtlich des Terminus der „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ hält der EU-Vertrag wiederum keine Definition bereit. In einem ersten Schritt ist hierzu anzumerken, dass Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV von verfassungsmäßigen statt verfassungsrechtlichen725 Strukturen spricht. Jedoch ist mit Puttler zu betonen, dass damit keine inhaltliche Änderung verbunden, sondern mit Blick auf die anderen Sprachfassungen eine Angleichung bezweckt ist.726 Außerdem führen beide Fassungen zum identischen Ergebnis, findet doch ein ver 723

Grabitz / H ilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 15 („Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV legt also unionsrechtliche Kriterien fest, was als nationale Identität gegenüber Unionshandeln Achtung verlangen kann. Insofern geht Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV davon aus, dass der Gehalt dessen, was zur nationalen Identität der Mitgliedstaaten zählt, durch die jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungen selbst bestimmt wird. Der unionsrechtliche Rahmenbegriff nationaler Identität wird insofern durch national zu verantwortende Identitätsverständnisse aufgefüllt.“); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn.  27; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 28; Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 10; Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 29; vgl. auch Di F ­ rancesco Maesa, eucrim 2018, 50 (51) m. w. N. zur Rspr. des Corte Costituzionale Italiana („[…] it is up to the national authorities to ascertain whether fundamental rights […] are violated by disapplication of the national provisions at issue […].“); unklar Swoboda, ZIS 2018, 276 (284 f.), die sich für eine Inhaltsbestimmung durch den EuGH ausspricht („justizieller Balanceakt“), jedoch auch betont, dass die Mitgliedstaaten die Zuordnung bestimmter Rechtspositionen zur nationalen Identität aufgrund der Loyalitätspflicht nicht erschweren dürften – sodass diese i. Erg. doch auf die Begriffsbestimmung einwirken können –, es „zur Kompetenz des BVerfG […] gehören [mag], den Normbereich zu differenzieren, der nach Art. 79 Abs. 3 GG zum Kernbestand der deutschen Verfassung gehört […]“ und dass „nur die nationalen Verfassungsgerichte die Definitionskompetenz darüber besitzen, was der EuGH als unantastbaren Identitätskern […] zu akzeptieren hat“; ähnlich Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 107, der zwar die nationalen Verfassungsgerichte zur Auslegung berufen sieht, jedoch zugleich dem EuGH die Letztentscheidungskompetenz zugestehen will, die sich indes auf eine Plausibilitätskontrolle beschränke. 724 Vgl. auch Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 14 („[…] Bestand an Ideengehalten und Werten, die das Selbstverständnis und die Eigenart dieses Staates […] prägen […].“). Für eine Bewertung des Art. 4 Abs. 2 EUV als „fully justiciable“ Federico, EPL 25 (2019), 347 (355), der zudem eine Gefahr unterschiedlicher Anwendung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten sieht und betont, dass „[b]y contrast, considering the final wording and the constitutional positioning, it cannot be construed as indicating a list of areas excluded from the scope of EU law.“ 725 So aber noch Art. I-5 Abs. 1 VVE (Abl. EU 2004, C 310, 1) („Die Union achtet die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor der Verfassung sowie die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die in deren grundlegender politischer und verfassungsrechtlicher Struktur einschließlich der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt.“) 726 Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 15 mit Fn. 30 unter Verweis auf den spanischen, englischen, französischen, italienischen, niederländischen, portugiesischen und schwedischen Wortlaut; vgl. auch Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 28.

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fassungsmäßiges Kriterium als ein der Verfassungsebene zuzuordnendes und dieser entsprechendes Merkmal erst durch seine verfassungsrechtliche Normierung seine allgemeingültige normative Verbindlichkeit.727 Ob damit eine Verengung des Anwendungsbereichs auf einen unantastbaren Verfassungskern i. S. d. Art. 79 Abs. 3 GG angestrebt ist, lässt sich nicht eindeutig festmachen.728 Die Bezugnahme auf „grundlegende“ Strukturen stellt klar, dass es sich gegenüber beliebigen politischen nur um elementare Entscheidungen des mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts handeln kann.729 Damit ist jedoch nicht gesagt, dass der Anwendungsbereich damit auf einen unantastbaren Verfassungskern i. S. d. Verfassungsidentität gem. Art. 79 Abs. 3 GG beschränkt wäre; sonst wäre nämlich der Anwendungsbereich des Achtungsgebots nicht nur sehr stark eingeschränkt.730 Diese Sichtweise würde auch dazu führen, dass andere „grundlegende verfassungsmäßige Strukturen“ aus dem Achtungsgebot herausfielen und damit einer zugunsten dieser zumindest erforderlichen Abwägungslösung die normative Grundlage entzogen würde. Im Ergebnis kann mit Blick auf die deutsche Rechtsordnung die vom BVerfG betonte und in Art. 79 Abs. 3 GG statuierte Verfassungsidentität zwar als vom Begriff der nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV i. S. e. Minimalstandards erfasst,731 jedoch nicht als mit diesem äquivalent betrach 727

So auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 30. Vgl. auch von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (711). 728 Ausf. zur Abgrenzung von nationaler und Verfassungsidentität Polzin, Verfassungsiden­ tität (2018), S. 62 ff., wonach die Verfassungsidentität als ein „absolutes, allein dem Grundgesetz verhaftetes Konzept“ zu verstehen sei, dass „nicht mit der Rechtsprechung des EuGH zu Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV kompatibel [ist]“; Ingold, AöR 140 (2015), 1 (10 ff.). 729 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 18; Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 15; Federico, EPL 25 (2019), 347 (379) („protect the fundamental structures and essential functions of the Member States“). S. zur Definition der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ i. R. d. Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV noch S. 215 ff. 730 Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 36 (zum der dt. Verfassungsidentität vergleichbaren Konzept des österreichischen „integrationsfesten Verfassungskerns“). 731 So zutr. Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 15; von der Groeben / Schwarze / Hatje / ​ Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 30 („jedenfalls der aus mitgliedstaatlicher Sicht ‚integrationsfeste‘ Verfassungskern“); Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 111; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 57; s. aber auch Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 17, wonach sich der Begriff der verfassungsmäßigen Strukturen mit dem der Verfassungsidentität aus Art. 79 Abs. 3 EUV (gemeint wohl GG) decke, unter Verweis auf den OMT-­Beschluss des BVerfG (BVerfG, Beschluss v. 14.01.2014 [2 BvR 2728/13 et al.], BVerfGE 134, 366), der diesen Gleichklang des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV mit Art. 79 Abs. 3 GG allerdings nicht bestätigt. Vielmehr betont das BVerfG, dass das Verständnis der nationalen Identität weiter reichen könne als die Verfassungsidentität i. S. d. Art. 79 Abs. 3 GG („Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV verpflichtet die Organe der Union, die nationale Identität zu achten. Dem liegt ein Begriff der nationalen Identität zugrunde, der dem Begriff der Verfassungsidentität im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG nicht entspricht, sondern weit darüber hinausreicht.“ [386]); vgl. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 18 und 24, die zur Prüfung auf eine hypothetisch zulässige Verfassungsänderung abstellen; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (714), die jeweils auf einen „außergewöhnlichen Konfliktfall zwischen

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tet werden.732 Der EuGH sowie das BVerfG teilen diese Interpretation wenn sie ausführen, dass die nationale Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV weiter reiche als die Verfassungsidentität.733 Auf das Verhältnis zwischen Verfassungsidentität auf der einen und der nationalen Identität auf der anderen Seite muss hier jedoch nicht weiter eingegangen werden.734 Es genügt an dieser Stelle vielmehr die Feststellung, dass zumindest die Verfassungsidentität als Anknüpfungspunkt für einen nationalen ordre-public-Einwand und konstitutionelles Kernfundament  – wenn auch neben weiteren „verfassungsmäßigen Strukturen“ – als Mindestbestandteil der nationalen Identität zu begreifen ist. Damit wird die Verfassungsidentität von einem allein nationalen zu einem vom Unionsrecht zumindest mitgetragenen Vorbehalt,735 was im Rahmen dessen inhaltlicher Ausgestaltung aufzugreifen ist. Zum anderen betont der EuGH – und in Anbetracht eines umfassenderen Verständnisses der nationalen Identität ist dies nur die logische Konsequenz –, dass diese grundsätzlich i. R. d. Rechtfertigung von Eingriffen in unionale Rechtsgüter einer Abwägung zugänglich sei.736 Diese Abwägungslösung versagt jedoch in dem Moment, Unions- und Verfassungsrecht“ Bezug nehmen, und für ein Indiz auf eine hypothetische innerstaatlich erforderliche Verfassungsänderung abstellen; Geiger / K han / Kotzur / Geiger (2017), Art. 4 EUV Rn. 3; vage Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 109 („zumindest denkbar“); offen gelassen bei Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (558); a. A. Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 190 ff., wonach das Konzept der Verfassungsidentität nicht anhand von Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zu begründen sei. 732 I. Erg. betont auch Polzin, dass ein „unionales Konzept der Verfassungsidentität basierend auf Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV“ […] „kein auf Art. 79 Abs. 3 GG basierendes Verfassungsidentitätskonzept [wäre]“ (Polzin, Verfassungsidentität [2018], S. 194 ff. [197]). Zum Zusammenspiel der nationalen Identitätskontrolle und der Achtungspflicht vgl. nur Schorkopf, EuZW 2009, 718 (721 f.). 733 BVerfG, Beschluss v. 14.01.2014 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 134, 366 (386) (s. dazu auch bereits. Fn. 731); vgl. auch BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (400); EuGH, Sayn-Wittgenstein v. Landeshauptmann von Wien, Urteil v. 22.12.2010 (C-208/09; ECLI:EU:C:2010:806), Slg. 2010, I-13718 (13744); zust. Classen, EuR 2016, 304 (308); s. dazu auch Paulus, Gedanken zur Verfassungskontrolle der Europäischen Union aus völkerrechtlicher Sicht, in: Bouffier et al., Liber amicorum Landau (2016), S. 269 (280). 734 S. dazu etwa von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (715 ff.). 735 Paulus, Gedanken zur Verfassungskontrolle der Europäischen Union aus völkerrecht­ licher Sicht, in: Bouffier et al., Liber amicorum Landau (2016), S. 269 (280) („Teil der vertrag­ lichen Bindung selbst“); für eine „European and a domestic dimension“ der Verfassungsidentität sowie zur Feststellung, dass „its normative basis is both EU law and domestic law“ auch Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (95). S. auch Streinz, Europarecht (2019), Rn. 174, wonach Art. 4 Abs. 2 EUV belege, „dass die Union nicht zentralistisch sein soll“ und die Norm „ein Signal an die Unionsorgane, insbesondere den Gerichtshof [ist], der sein Rollenverständnis als ‚Motor der Integration‘ überdenken sollte […].“ 736 S. statt vieler etwa EuGH GK, Anton Las v. PSA  Antwerp NV, Urteil v. 16.04.2013 (C-202/11;  ECLI:EU:C:2013:239), Tz. 26 f.; EuGH GK, Kommission v. Luxemburg, Urteil v. 24.05.2011 (C-51/08;  ECLI:EU:C:2011:336), Slg. 2011, I-4235 (4268); EuGH, Malgo­ žata Runevič-Vardyn und Łukasz Paweł Wardyn, Urteil v. 12.05.2011 (C-391/09; ECLI:​EU:​ C:2011:291), Slg. 2011, I-3818 (3847 f.); EuGH, Sayn-Wittgenstein v. Landeshauptmann von Wien, Urteil v. 22.12.2010 (C-208/09;  ECLI:EU:C:2010:806), Slg. 2010, I-13718 (13744);

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in dem der unantastbare Verfassungskern berührt ist, da sich dieser gegenüber dem Anwendungsvorrang zwingend durchsetzt.737 Ich gehe daher für die folgenden Erwägungen davon aus, dass die Achtung der nationalen Identität wie folgt differenziert zu betrachten ist: Zum einen verlangt die unionale Achtungspflicht des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV eine hinreichende Berücksichtigung der „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ i. R. e. Abwägungsentscheidung. Zum anderen beinhaltet die Norm a maiore ad minus eine Pflicht zur Beachtung der nationalen Verfassungsidentität, in deren Anwendungsbereich die Achtungspflicht von einem bloßen Abwägungsgebot zu einer absoluten Vorrangwirkung zugunsten der Verfassungsidentität erstarkt.738 EuGH, Omega v. Oberbürgermeisterin der Bundesstadt Bonn, Urteil v. 14.10.2004 (C-36/02; ECLI:EU:C:2004:614), Slg. 2004, I-9641 (9653 f.) (Abwägung der Dienstleistungsfreiheit mit dem Schutz der Menschenwürde im Geltungsbereich des GG); EuGH, Kommission v. Luxemburg, Urteil v. 02.07.1996 (C-473/93; ECLI:EU:C:1996:263), Slg. 1996, I-3248 (3258); EuGH, Groener v. Minister for Education and the City of Dublin Vocational Education Committee, Urteil v. 28.11.1989 (C-379/87; ECLI:EU:C:1989:599), Slg. 1989, 3987 (3993); s. dazu auch von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (707 f., 726) mit einer weitergehenden Untersuchung relevanter Schlussanträge der Generalanwälte; vgl. auch Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn.  111; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 21 ff.; Meyer, HRRS 2016, 332 (335). 737 Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 64 f.; Kaczorowska-Ireland, EPL 25 (2019), 57 (78) („In this respect, it can be said that although no one denies that fundamental constitutional matters concern the public order of a Member State, the unique fundamental features of a Member State’s constitutional and political structures pertaining to that Member State’s natio­nal identity are of a superior nature as compared to other features of the public policy of a Member State. […] No one should be allowed to decide whether that essence is compa­tible with some other considerations, however important. If this reasoning is applied to Article 4(2) TEU, it is clear that the proportionality inquiry that the Court carries out when assessing ­whether a particular feature or arrangement of a Member State is compatible with EU law should be done away with. This is because, any proportionality review would be inappropriate in that the EU’s interest in the uniform and effective application of EU law should yield to the interest of a Member State in the protection of its ‚hard core‘ constitutional and political identity. ­Otherwise, the EU would, in effect, show its disrespect for the most cherished, most fundamental values and principles on which a particular Member State is based, and this would be in direct collision with the purpose of Article 4(2) TEU.“); vgl. auch Federico, EPL 25 (2019), 347 (374) („The respect of national identities is at the very core of the European integration process; the Union drawing legitimation from the legal orders of the Member States, whose basic structure and essential functions cannot be called into question.“). S. auch bereits Fn. 659 und 706 mit Haupttext. Dagegen aber Mayer / Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 37, der auch in diesem Fall allein auf „besonders hohe Rechtfertigungsanforderungen“ abstellen will; für eine Abwägung der Verfassungsidentität und explizit gegen die Bewertung als absolute Grenze auch Burchardt, EuConstLRev 15 (2019), 73 (96, 98). 738 So auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 57, der – in Übereinstimmung mit dem soeben angeführten OMT-Beschluss des BVerfG – zugleich betont, dass der Identitätsbegriff weiter reiche als die Verfassungsidentität gem. Art. 79 Abs. 3 GG und insoweit eine Abwägungslösung erforderlich sei; für diese Differenzierung i. Erg. auch Polzin, Verfassungsidentität (2018), S. 62 f. Nach Rung komme es angesichts des weichen – aber nach meinem Dafürhalten keinesfalls eindeutigen – Wortlauts des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV der Union zu, die Rechtsfolgen der Achtungspflicht zu bestimmen (Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation [2019], S. 107).

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Im Ergebnis läuft diese Ansicht zwar darauf hinaus, dass der Pflicht zur Achtung der nationalen Identität – sobald die nationale Verfassungsidentität betroffen ist – die denkbar durchsetzungskräftigste Interpretation zugrunde gelegt wird, weil insoweit der Anwendungsvorrang des Unionsrechts in Gänze ausgesetzt wird. Und so überrascht es nicht, dass dieses Verständnis der Achtung der „nationalen Identität“ in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV als eine selbstständige (unionale) Rechtsgrundlage für einen nationalen (!) ordre-public-Einwand neben Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG gegenüber der Erfüllung einer Sekundärrechtspflicht teilweise kritisch betrachtet wird.739 Während auch hier zunächst auf eine inhaltliche Konkretisierung verzichtet werden kann, spricht aber ein normenhierarchisches Argument für diese Auffassung. Das Bekenntnis zur Achtung der „nationalen Identität“ in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV begründet in erster Linie eine Achtungspflicht der EU und bindet damit die Unionsorgane i. R. d. Kompetenzausübung, scil. bei dem Erlass von Sekundärrechtsakten.740 Darüber hinaus sind jedoch alle die Unionsrecht ausführenden Mitgliedstaaten im Verhältnis zugunsten der nationalen Identität anderer Mitgliedstaaten Adressaten der Norm.741 Damit überlagert auch die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch die EU kraft primärrechtlichen Vorrangs742 die Umsetzung eines Sekundärrechtsaktes und geht damit zumindest die Verfassungsidentität auch aus Sicht des Unionsrechts der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb vor.743 Diese Interpretation hat das BVerfG ebenfalls angedeutet.744 Schill und Krenn verweisen in diesem Zusammenhang sogar darauf, dass 739

Krit. Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 19, wonach „eine Berufung auf die öffentliche Ordnung in Art. 4 Abs. 2 […] ohnehin nur dann in Betracht [kommt], wenn spezielle Normen nicht eingreifen“; ebenso von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 42. 740 von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 36 und 47, wonach die Verletzung der nationalen Identität eines Mitgliedstaates durch einen Sekundärrechtsakt zu dessen Invalidation führe; Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 20; Grabitz / Hilf / Nettesheim / ​Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 44 f. („Kompetenzausübungsschranke“); von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (726 ff.); Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 62 (beschränkend auf unverhältnismäßige Eingriffe); zurückhaltender für eine bloße Anfechtungsmöglichkeit GA Yves Bot, Stefano Melloni, Schlussantrag v. 02.10.2012 (C-399/11; ECLI:EU:C:2012:600), Tz. 139. 741 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Hilf / Schorkopf (40. Lfg. 2009), Art. 6 EUV Rn. 85; offen gelassen bei von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 48; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (714 f.), die allerdings auch zu bedenken geben, dass diese Definition in den Mitgliedstaaten „mit dem Preis einer Vervielfachung der Interpretation einher[geht].“ Gegen einen „28-fachen Identitätsvorbehalt“ aber Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 54. 742 S. zur normenhierarchischen Überordnung des Primärrechts bereits Fn. 582 mit Haupttext. 743 Vgl. auch zur Bewertung eines „Rechtfertigungsgrunds für die Befreiung von einer Unionspflicht“ Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 65 ff.; ebenso Gra­ bitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 44 und 47; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (726 ff.); Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 20. 744 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (366) („Ob und inwieweit zur Auslegung des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl auf Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV zurückzugreifen ist, wonach die Europäische Union die jeweilige nationale

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„die Aufnahme von Ausnahmevorschriften zum Schutz der in Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten Rechtsgüter in sekundärrechtlichen Akten […] vorgesehen werden [kann].“745 Weiterhin belegt die Unionsstruktur als Zusammenschluss souveräner Staaten, die – wie das Beispiel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG belegt – über ihr Souveränitätsfundament nicht verfügen können, gerade ein absolutes statt relatives Verständnis der Achtungsverpflichtung jedenfalls in Bezug auf die Verfassungsidentität.746 Soweit von Seiten Hilfs und Schorkopfs (noch zur Rechtslage vor der Lissabonner Reform) eingewendet wird, dass die Achtungspflicht nicht in einem „prinzipiellen Zielvorrang“ aufgehe und damit keine einer rechtlichen Garantie entsprechende unumstößliche Wirkung entfalte,747 ist dem insoweit zuzustimmen, als dass dem Begriff der „Achtung“ ein solches absolutes Verständnis nicht immanent ist, vielmehr sowohl i. S. e. absoluten Achtungsvorrangs als auch einer bloßen Berücksichtigungspflicht interpretiert werden kann.748 Entscheidend kann aber nicht eine starre Wortlautinterpretation,749 sondern muss vielmehr eine teleologische Betrachtung sein, die den Bezugspunkt – nämlich die „grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen“ – in die Überlegungen einbezieht. Diese lässt indes einen nur relativen Schutz nicht genügen, wenn sich die nationale Identität im Einzelfall zur Verfassungsidentität i. S. d. Art. 79 Abs. 3 GG verdichtet.750 Eine Identität ihrer Mitgliedstaaten achtet, und der Rahmenbeschluss daher unter Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Rechtslage auszulegen ist […], kann deshalb offen bleiben.“). 745 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 46. 746 Ebenso BVerfG, Beschluss v. 14.01.2014 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 134, 366 (386) („Als abwägungsfähiger Belang aber genügt die nach Art. 4 Abs. 2 Satz  1 EUV gebotene Achtung der nationalen Identität nicht dem Anspruch auf Schutz des unantastbaren und nicht abwägungsfähigen Kernbestands des Grundgesetzes im Sinne von Art. 79 Abs. 3 GG.“); vgl. auch Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (880). 747 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Hilf / Schorkopf (40. Lfg. 2009), Art. 6 EUV Rn. 84, die jedoch auch zugestehen, dass „die Grundsätze, die die Verfassungsidentität ausmachen, für die Union weitgehend unüberwindbar sein dürften“ (97); gegen einen prinzipiellen Vorrang auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 43; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (725). 748 Nach Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 22 sei mit dem Vertrag von Lissabon eine Änderung der Rechtslage derart eingetreten, dass sich die „bloße Bemühenspflicht“ i. R. d. Art. 6 Abs. 3 EUV a. F. zu einem „Gegengewicht zur nicht unerheblichen Kompetenzausweitung der Union“ gewandelt habe. 749 Darauf abstellend aber Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 43; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (726). 750 So auch Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 22, der im Grundsatz zwar davon ausgeht, dass die „Achtungsgebote […] keinen absoluten Schutz der Güter des Art. 4 Abs. 2 [vermitteln]“, jedoch auch betont, dass das der Vorschrift zu entnehmende „Konkordanzmodell“ an seine Grenzen stoße, wenn der „[abwägungsfeste] Kernbereich der von Art. 4 Abs. 2 geschützten Güter“ betroffen sei; weitergehend Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 22 („In einem Konflikt zwischen nationaler Identität eines Mitgliedstaates und Kompetenzanspruch der Union hat letzterer zurückzustehen. Für eine Abwägung zwischen Interessen des betreffenden Mitgliedstaates und der Union unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist hier kein Raum […].“); für eine generelle Abwägungslösung Pechstein / Nowak / ​ Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 58 ff. („keine Souveränitätsreserve, die absolut verstanden werden dürfte“); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 49;

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Beschränkung auf den unantastbaren Verfassungskern kann nämlich per definitionem in Übereinstimmung mit der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur indisponiblen und damit absolut geltenden Verfassungsidentität nur in einen unbedingten Vorrang letzterer münden. In diesem Zusammenhang wird zwar bemängelt, dass damit die Unionsorgane an mitgliedstaatliche Verfassungsstrukturen gebunden seien,751 doch ist dies – jedenfalls beschränkt auf einen unantastbaren Verfassungskern – der Preis, den ein Staatenverbund zahlen muss, der sich – ungeachtet einer noch so fortgeschrittenen Integration – aus weiterhin souveränen Mitgliedstaaten zusammensetzt, die als „Herren der Verträge“ die Quelle sämtlicher derivativer Hoheitsgewalt der Union bleiben. Zusätzlich macht die Wertung des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV deutlich, dass das Unionsrecht einen Sachverhalt, der den Wesensgehalt einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung berührt, gar nicht abschließend regeln kann und die Verfassungsidentität der Umsetzung eines Rechtsaktes zur Konkretisierung der gegenseitigen Anerkennung auch ohne einen etwaigen positiv kodifizierten normenhierarchischen Vorrang vorgehen würde. Denn die einzelne mitgliedstaatliche Verfassungsidentität – freilich beschränkt auf die „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ – muss vor dem Hintergrund der Charakterisierung der EU als Verbund weiterhin souveräner Staaten auch innerhalb des Unionsrechts als ranghöchstes Rechtsgut begriffen werden.752 Dem kann sich auch das Unionsrecht selbst nicht überordnen, weil auch der mitgliedstaatliche verfassungsändernde Gesetzgeber zu einer so weitgehenden Übertragung von Hoheitsrechten kraft nationaler „Verfassungssperre“ aufgrund der in einem gewissen Mindestmaß erforderlichen demokratischen Legitimation753 nicht berechtigt ist. Diesem Ergebnis stellt sich der EuGH freilich entgegen, wenn er apodiktisch feststellt, dass der Mayer / ­Stöger / Stöger (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 1, 2 EUV Rn. 36, der betont, dass „der integrationsfeste Verfassungskern […] den Bereich des nationalen Verfassungsrechts dar[stellt], der […] dem Einfluss des Vertragsänderungsverfahrens gem. Art. 48 EUV überhaupt entzogen ist, in diesen Bereich eingreifende Unionsrechtsakte wären daher aus nationaler Sicht absolut nichtig. Das Unionsrecht wiederum kennt kein vergleichbares Konzept, sondern ‚nur‘ das Achtungsgebot des Art. 4 EUV […].“; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 43; von Bogdandy / Schill, ZaöRV 70 (2010), 701 (725 f.). 751 Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 59; Rohlff, Der Europäische Haftbefehl (2003), S. 79, der jedoch ebenfalls zu dem Ergebnis gelangt, dass die Vollstreckung eines EuHb verweigert werden dürfe, „wenn das Schutzniveau im Zielstaat generell nicht eingehalten wird, was sorgfältiger Prüfung bedarf“; krit. auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 63. 752 Vgl. zur Bewertung der nationalen Identität als politisches Gegengewicht zur „im Entstehen begriffene[n] europäische[n] Identität“ Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 8 f., wonach „kein politischer Konsens erkennbar [ist], die EU zu einem föderal gegliederten Staat weiterzuentwickeln“; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Hilf / Schorkopf (40. Lfg. 2009), Art. 6 EUV Rn. 72; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 57 („dass die Mitgliedstaaten […] neben der Union ihren eigenen Platz beanspruchen“); Hobe, Europarecht (2017), Rn. 262 („Hierin kommt das Bestreben der Mitgliedstaaten, sich ihre nationale Souveränität bewahren zu wollen, zum Ausdruck.“). 753 S. dazu bereits Fn. 651 m. w. N. zur Rspr. des BVerfG.

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Anwendungsvorrang des Unionsrechts auch durch die Berufung auf Rechtssätze des nationalen Verfassungsrechts nicht beeinträchtigt werden dürfe.754 Außerdem sei ergänzend darauf hingewiesen, dass das hier zugrunde gelegte Verständnis der nationalen Identität als ranghöchstes Rechtsgut die Mitgliedstaaten sogar von konträren primärrechtlichen Verpflichtungen entbinden kann,755 sodass a maiore ad minus auch der Anwendungsvorrang zugunsten eines Sekundärrechtsaktes entkräftet werden muss. Würde man dieses absolute Verständnis zu einem nur relativen Vorrang i. R. e. Abwägungslösung degradieren, liefe man Gefahr, die effektive Durchsetzung des Unionsrechts gegenüber der nationalen Identität zulasten elementarer Grundwerte einer Verfassungsrechtsordnung zu erkaufen. Deshalb muss die Achtungspflicht des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV im Anwendungsbereich der Verfassungsidentität über eine bloße „Selbstbeschränkung“756 hinaus zwingend als absolutes Einschränkungsverbot interpretiert werden. Darüber hinaus ist dieser normenhierarchische Vorrang der nationalen Iden­ tität aufgrund seiner möglichen Definitionsweite sogar noch weiter ausgestaltet als der bereits herausgearbeitete explizit normierte grund- und menschenrechtliche Vorrang des Art. 6 Abs. 1 EUV. Denn es steht den Mitgliedstaaten selbst zu, ihr eigenes Verständnis der Identität festzulegen und muss dieses nicht auf grundrechtliche Erwägungen beschränkt sein. Ob insoweit auch nationalstaatliche Souveränitätserwägungen Berücksichtigung finden dürfen, wird angesichts der fortgeschrittenen europäischen Integration bereits auf Ebene des Schutz­bereichs dieser Identitätsklausel bestritten.757 Meines Erachtens verlangt der Wortlaut dieser

754 EuGH, Internationale Handelsgesellschaft mbH v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Urteil v. 17.12.1970 (Rs. 11/70; ECLI:EU:C:1970:114), Slg. 1970, 1126 (1135); bestätigt in EuGH GK, Winner Wetten GmbH, Urteil v. 08.09.2010 (C-409/06; ECLI:​ EU:C:2010:503), Slg. 2010, I-8041 (8064) („Es kann nämlich nicht zugelassen werden, dass Vorschriften des nationalen Rechts, auch wenn sie Verfassungsrecht haben, die einheitliche Geltung und die Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigen […].“); EuGH GK, Jozef Križan et al. v. Slovenská inšpekcia životného prostredia, Urteil v. 15.01.2013 (C-416/10; ECLI:EU:C:2013:8), Tz. 70; EuGH, Stefano Melloni, Urteil v. 26.02.2013 (C-399/11; ECLI:​ EU:C:2013:107), NJW 2013, 1215 (1219); vgl. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 37. 755 So auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 35 m. w. N. zur Rspr. des EuGH zur Abwägung der nationalen Identität mit anderen mit Primärrechtsrang ausgestatteten Rechtsgütern; a. A. Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 58 mit Fn. 136 („keine Ermächtigung an die Mitgliedstaaten zur Aufkündigung der Bindung an das Unionsrecht“). 756 So aber Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 58 mit Fn. 136. 757 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 14, wonach Art. 4 Abs. 2 EUV die unter Verweis auf „die erreichte Tiefe der europäischen Integration und die fundamentale Transformation, die ein Staat als Mitgliedstaat der Union vollzieht“, „nationale Identität und nicht staatliche Souveränität“ schütze (Herv. i. O.); s. auch Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 14, wonach die den Vorgängerfassungen zugrunde liegende „alle Facetten der nationalen Identität einbeziehende[n] Bedeutung“ nicht auf Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV übertragen werden könne.

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Norm mitnichten eine solch weitgehende europarechtsfreundliche Lesart. Denn wie soeben betont, bleiben die Mitgliedstaaten grundsätzlich Inhaber ihrer Souve­ ränität, auch wenn sie Hoheitsrechte auf die Union übertragen haben, und lässt die Vorschrift allein eine Beschränkung auf „grundlegende politische und verfassungsmäßige Strukturen“ zu. Zu der Frage, ob diese „nur“ grundrechtlicher oder auch – inwieweit auch immer ausgeprägt758 – souveränitätsorientierter Natur sein dürfen, schweigt die Norm, sodass auch Belange letzterer Art von Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV nicht von vornherein ausgeschlossen sind.759 Zu betonen bleibt an dieser Stelle jedoch – nochmal –, dass die Zulässigkeit eines Einwands gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb noch keine Antwort darauf liefert, wie dieser Einwand inhaltlich konkret ausgestaltet sein darf und inwieweit eine Berufung auf Souveränitätserwägungen auf anderer Ebene ausgeschlossen ist. ee) Beschränkung der Identitätskontrolle auf Bereiche effektiven Anwendungsvorrangs Wenn damit also die grundgesetzlich gebotene und unionsrechtlich anerkannte Verfassungsidentitätskontrolle den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zu blockieren vermag, ist für diese nur dort Raum, wo das Unionsrecht seinen Vorrang effektiv anordnet. Daraus folgt, dass ein Ersuchen um Überstellung nach Maßgabe des RbEuHb nur dann an der Hürde zur Verfassungsidentität scheitern kann, wenn der Rahmenbeschluss den konkreten Sachverhalt abschließend regelt, scil. die Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb unbedingt aufrechterhält. Dies trifft aber, wie der Katalog der fakultativen und obligatorischen Verweigerungsgründe als auch der Bedingungs­tatbestände belegt, nicht in jedem Fall zu. Der dem Anwendungsvorrang unterfallende Kerngehalt des RbEuHb ist die grundsätzliche Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb. Wenn der Rahmenbeschluss diese Übergabeverpflichtung aber durch Vollstreckungsverweigerungsgründe selbst relativiert, und dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis darüber hinaus auch noch bei Vorliegen eines obligatorischen Verweigerungsgrundes umkehrt, wird die Vollstreckungspflicht durch das Unionsrecht selbst eliminiert (obligatorischer Verweigerungsgrund) oder stellt sie in das Ermessen des vollstreckenden Mitgliedstaates (fakultativ verweigerte oder bedingte Übergabe), womit der Be-

758 S. zur individualschützenden und souveränitätsorientierten Besetzung des ordre-public-​ Begriffs noch S. 249 ff. 759 von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 30 („Das schließt aber nicht aus, dass auch andere Bestimmungen des Verfassungsrechts besondere Bedeutung haben und der nationalen Identität zugerechnet werden können.“); Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 11. Für eine Unterteilung der Verfassungsidentität in grundrechtliche und souveränitätsorientierte Aspekte auch Nettesheim, JZ 2016, 424 (425) sowie Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (855).

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

zugspunkt eines Anwendungsvorrangs entfällt.760 Mit anderen Worten: In Fällen, in denen der Pflicht zur Vollstreckung eine Pflicht oder ein Recht zu Verweigerung resp. Bedingung dieser Vollstreckung entgegensteht, wird der Anwendungsvorrang des Unionsrechts und mit ihm die Pflicht zur Anerkennung der justiziellen Entscheidung zu einem Anwendungs­befehl ohne Bindungswirkung. Damit erlangt der Einwand der Verfassungsidentitätsverletzung als zusätzlicher ungeschriebener und – vor dem Hintergrund der bereits herausgestellten Indisponibilität des Verfassungskerns – obligatorischer Vollstreckungsverweigerungsgrund nur in Fällen Bedeutung, in denen der Vollstreckungsstaat die Übergabe nicht ohnehin bereits zwingend abzulehnen hat oder die Verfassungsidentität bereits i. R. d. fakultativen oder bedingten Übergabe zur Begründung der Ablehnung in Stellung gebracht werden kann. Damit ist die Aktivierung der Identitätskontrolle durch das BVerfG im Beschluss vom 15.12.2015 mit der Mehrheit der kritischen Stimmen auch als unnötig anzusehen,761 da es insoweit an einem Konflikt zwischen der deutschen Rechtslage und den Vorgaben des RbEuHb mangelte. Dieser sieht doch bereits die Möglichkeit zur Voll­streckungsverweigerung vor, wenn „aus dem Haftbefehl [nicht] hervorgeht“ – und die nicht hinreichende Eindeutigkeit der Angaben im Formblatt sowie die naheliegende Anwendbarkeit der alten nachteiligen Rechtslage in Italien hat das BVerfG deutlich herausgestellt762 –, dass dem in absentia Verurteilten im Ausstellungsstaat nicht die Möglichkeit eingeräumt ist, gegen die Abwesenheitsverurteilung ein den in Art. 4a Abs. 1 lit. d) RbEuHb aufgestellten Anforderungen gerecht werdendes Wiederaufnahme- oder Rechtsmittelverfahren zu erwirken. So sehr dem BVerfG im Ergebnis zuzustimmen ist, dass es zur Abwehr von Eingriffen in die grundgesetzliche Kernidentität eines „allerletzten“763 verfassungsprozessualen Schutzmechanismus bedarf, so sehr ist doch zu erkennen, dass es dessen Aktivierung im vorliegenden Beschluss nicht bedurft hätte und die Karlsruher Richter gut beraten gewesen wären, sich die Verfassungsidentitäts-

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Satzger, NStZ 2016, 514 (521 f.), der eine Anwendbarkeit der Identitätskontrolle zudem davon abhängig machen will, dass kein „außergewöhnlicher Umstand“ i. S. d. Rspr. des EuGH im Fall Aranyosi und Căldăraru vorliegt. Meines Erachtens kann diesbezüglich jedoch noch nicht von einer hinreichend gefestigten und verlässlichen Rspr. gesprochen werden. 761 Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (336) („keine Normenkollision“); ebenso Meyer, HRRS 2016, 332 (334); Sauer, NJW 2016, 1134 (1135 f.); Sachs, JuS 2016, 373 (375); Rung, EWS 2016, 145 (149); Brodowski, JR 2016, 415 (426); Schönberger, JZ 2016, 422 („mangels Fallrelevanz völlig hypothetisch“); Burchardt, ZaöRV 76 (2016), 527 (547 ff.); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (122); van Ooyen, RuP 2017, 199 (202); Swoboda, ZIS 2018, 276 (287); gegen eine zwingende Aktivierung der Identitätskontrolle im vorliegenden Fall auch Eßlinger  / ​ Herzmann, Jura 2016, 852 (864); Sarmiento, Awakenings: the „Identity Control“ decision by the German Constitutional Court (27.01.2016). 762 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (319 f., 369 ff.). 763 S. auch Brodowski, JR 2016, 415 (423) („Identitätskontrolle damit zu Recht als allerletztes, höchstgefährliches und brisantes Mittel, ja als ‚nuclear option‘“). Krit. m. w. N. zum Instrument der Verfassungsidentitätskontrolle Schönberger, JZ 2016, 422 (423) („ohnehin eine theoretisch und dogmatisch sehr zweifelhafte Argumentationsfigur“).

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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kontrolle weiter vorzubehalten, statt die aussagekräftige Symbolwirkung dieses schärfsten Schwertes zu begraben.764 ff) Zwischenergebnis Damit lässt sich festhalten, dass die Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb in dem Moment von Seiten der mitgliedstaatlichen Gerichte rechtswirksam ausgesetzt werden kann, in dem der Anwendungsvorrang des Unionsrechts durch die Übergabe eine Verletzung des mitgliedstaatlichen Verfassungsfundaments bedeuten würde. Freilich bedarf die Identitätskontrolle in Anbetracht ihrer möglichen weiten Auslegung einer inhaltlichen Konkretisierung, die auf der einen Seite eine hinreichende Absicherung dieses Kernfundaments gewährleistet und damit die weiterhin souveräne Stellung der Mitgliedstaaten im Unionsgefüge unangetastet lässt. Auf der anderen Seite sind diese Wertungen aber in Anbetracht der Europarechtsfreundlichkeit der grundgesetzlichen Ordnung765 und Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit gem. Art. 4 Abs. 3 EUV766 letztlich mit dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts und in concreto der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb in einem Verhältnis der Wechselwirkung zu be­trachten. Allerdings bedarf auch diese inhaltliche Fragestellung erst an späterer Stelle einer Beantwortung; entscheidend ist zunächst einmal festzuhalten, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls unter Verweis auf eine Verletzung der Verfassungsidentität in rechtlich zulässiger Weise abgelehnt werden darf 767 und damit 764

S. dazu statt vieler nur die starke Kritik bei Schönberger, JZ 2016, 422 (424), der dem Senat ein „juristisches Münchhausen-Stellvertretersyndrom“ zuschreibt. 765 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (347) („Das Grundgesetz will eine europäische Integration und eine internationale Friedensordnung: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit.“). Hieraus folgert das BVerfG, dass ihm das Feststellungsmonopol bzgl. der Verletzung der Verfassungsidentität zukomme (BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 [2 BvR 2735/14], BVerfGE 140, 317 [337] [„verlangt die europarechtsfreundliche Anwendung von Art. 79 Abs. 3 GG zum Schutz der Funktionsfähigkeit der unionalen Rechtsordnung und bei Beachtung des in Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck kommenden Rechtsgedankens aber, dass die Feststellung einer Verletzung der Verfassungsidentität dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten bleibt.“]). Diese Kontrollbefugnisse seien indes „zurückhaltend und europarechtsfreundlich auszuüben.“ (BVerfG, a. a. O., 339). S. dazu auch Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 1 Rn. 76 f.; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 251 ff. 766 Für eine Bewertung des Art. 4 Abs. 2 EUV als Ausprägung des Loyalitätsgrundsatzes Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 10. S. zu einem möglichen dem ordre-­publicVorbehalt entgegen zu haltenden Gegeneinwand aus dem Loyalitätsgebot noch ausf. S. 220 ff. 767 S. auch BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (339 ff.), mit Nachweisen zur verfassungsrechtlichen Begrenzung des Anwendungsvorrangs in der Rspr. anderer Mitgliedstaaten der EU; s. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 27 mit rechtsvergleichenden Ausführungen zu entspr. Kontrollverfahren in anderen Mitgliedstaaten; krit. dazu Satzger, NStZ 2016, 514 (517) („nicht näher erläuterte und recht wahllos erscheinende Aufzählung“); Kühne sieht hierin den Versuch einer „politischen

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

die Berufung auf einen rein nationalen ordre-public-Einwand auch im Bereich der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zulässig ist.768 Kromrey sieht für eine Berufung auf einen ordre public international neben der Anwendung des nationalen ordre public européen (hier als europäisierter nationaler ordre public verstanden) keinen Bedarf, da ein „menschenrechtlicher ‚Extrem­fall‘“ der vom Grundgesetz, nicht aber von der GRCh, der EMRK noch den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gedeckt ist, nicht vorstellbar sei.769 In der Begründung überzeugt jedenfalls der Verweis auf den „durch den EuGH gewährleisteten Grundrechtsschutz“ nicht, haben doch die Untersuchungen zur gegenseitigen Anerkennung im ersten Kapitel belegt, dass der EuGH seine nahezu apodiktische Rechtsprechung zu einem vermeintlich bestehenden gegenseitigen Vertrauen ohne überzeugende Begründung aufrecht erhält. Der Gerichtshof hat vielmehr seine Judikatur zur unberechtigten Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls aufgrund anderer als der in Art. 3, 4 und 4a RbEuHb genannten Gründe über lange Zeit unangetastet gelassen und hat diese erst durch die Urteile in den Sachen Aranyosi und Căldăraru sowie Tupikas einen ersten Riss erlitten. Damit kann der EuGH im Ergebnis noch keineswegs als „Grundrechtswächter“ angesehen werden.770 Für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts i. R. d. Übergabe nach Maßgabe eines Europäischen Haftbefehls bedeutet dies, dass jener nur in Fällen an Bedeutung gewinnt, in denen der RbEuHb den Anwendungsvorrang nicht selbst entkäftet (Art. 3 RbEUHb) oder das Recht dazu den Mitgliedstaaten zugesteht (Art. 4, 4a und 5 RbEuHb). Im verbleibenden Anwendungsbereich der aufrechterhaltenen Vollstreckungspflicht wird der Anwendungsvorrang damit zugleich auf einen relativen beschränkt, da er dem durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG abgesicherten verfassungsrechtlichen Identitätsbestand nicht vorgehen kann.

Rechtfertigung“ (Kühne, StV 2016, 299 [300]); vgl. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 158 mit Fn. 883 in fine. 768 Dagegen Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 47 mit Fn. 156 („gesetzes- und europarechtswidrig“); Bartels, Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils (2014), S. 130 f. 769 Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 118 f., 133 („Konkre­ tisierung des deutschen ordre public durch den Europarats-ordre public international“). 770 S. dazu noch Fn. 894 mit Haupttext. Die Rspr. in der Sache Melloni ebenfalls nicht als „Grundrechtsprüfung“ bewertend Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (556), der zudem in der Rspr. in der Sache Aranyosi und Căldăraru einen „ersten Ansatz für einen – allerdings sehr strikt interpretierten  – ‚europäischen ordre public‘“ sieht (562). Für eine Bewertung des Urteils in der Sache Aranyosi und Căldăraru als „Meilenstein“ hingegen ­Z eder, JSt 2016, 262 (265); ähnlich Mancano, CML Rev. 56 (2019), 61 (76 f.) („foundational development“).

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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d) Der Gedanke des „Notbremseverfahrens“ der Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV Des Weiteren wird im Folgenden untersucht, ob sich aus dem in den Art. 82 Abs. 3 und 83 Abs. 3 AEUV niedergelegten sogenannten „Notbremseverfahren“ („emergency break“)771 ein allgemeingültiger Gedanke für die Berücksichtigung nationaler Interessen der Mitgliedstaaten herleiten lässt. Die genannten Vorschriften betreffen zwar das Gesetzgebungsverfahren auf Unionsebene und sind damit gerade der Frage eines etwaigen ordre-public-Einwands i. R. e. bereits in Kraft gesetzten Rechtsaktes wie des RbEuHb vorgeschaltet. Doch ist damit keineswegs vorab ausgeschlossen, dass in inhaltlicher Hinsicht vergleichbare Maßstäbe an die Ausfüllung der Begriffe der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ gem. Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV einerseits und einem ordre-public-Vorbehalt andererseits anzulegen sind und sich im Ergebnis die Frage einer Verallgemeinerung des hinter dem „Notbremsemechanismus“ stehenden Gedankens ergibt. aa) Exkurs: Das Rechtsetzungsverfahren der Art. 82 und 83 AEUV und der sogenannte „Notbremsemechanismus“ Durch den Vertrag von Lissabon wurde das Gesetzgebungsverfahren auf Unionsebene neu geordnet und für den strafrechtlichen Bereich in den Art. 82 f. AEUV geregelt. Während eine Harmonisierung des Strafprozessrechts nur in Bezug auf die in Art. 82 Abs. 2 AEUV abschließend genannten Regelungsbereiche zulässig ist,772 enthalten Art. 83 Abs. 1 und 2 AEUV die allgemeine Ermächtigung für den Erlass von Maßnahmen zur Angleichung materiellen Strafrechts. Beiden Kompe 771

Zum Begriff s. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 47 („größtes[s] Potential, um einen ausufernden Gebrauch der Harmonisierungskompetenzen wirksam einzudämmen“); Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (56) sieht darin einen den Mitglied­ staaten eingeräumten „Freiraum“; s. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 63, der von einem „Opt-Out-Mechanismus“ ausgeht (Herv. i. O.); Heger, ZIS 2009, 406 (414) mit einer Darstellung der Unterschiede der Mehrheitsentscheidung mit ausnahmsweisem Veto de lege lata gegenüber dem vorherigen Einstimmigkeitserfordernis; zur Grundlage im Vertragsentwurf über eine Europäische Verfassung Walter, ZStW 117 (2006), 912 (923 f.). 772 Zur restriktiven Anwendung der Kompetenzvorschrift auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 29; Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 40, die jedoch zugleich betonen, dass die Voraussetzung der Erforderlichkeit zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung „regelmäßig zu bejahen sein dürfte“. Art. 82 AEUV ermächtigt gem. Abs. 2 zum Erlass von Mindestvorschriften, „soweit dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist“. Dabei betreffen die Vorschriften gem. Abs. 2 UA 2: –– die Zulässigkeit von Beweismitteln auf gegenseitiger Basis zwischen den Mitgliedstaaten; –– die Rechte des Einzelnen im Strafverfahren; –– die Rechte der Opfer von Straftaten;

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

tenzvorschriften ist indes gemäß deren jeweiligen Abs. 3 UA 1 S. 1 für den Fall, dass ein Mitgliedstaat der Auffassung ist, „dass ein Entwurf einer Richtlinie […] grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde“, ein sogenanntes „Notbremseverfahren“ gemein. Danach kann der „notbremsende“ Mitgliedstaat durch einseitige Erklärung den Erlass einer Richtlinie verhindern.773 In concreto bedeutet dies, dass das Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt und der Europäische Rat, der als eine Art Mediator774 auf ein Einvernehmen mit dem die Aussetzung bewirkenden Mitgliedstaat hinwirken soll, mit dem Vorbringen befasst wird (jeweils Abs. 3 UA 1 S. 1 und 2).775 Kommt in dieser Aussprache ein Einvernehmen zustande, wird die Aussetzung des Verfahrens gem. der jeweiligen Abs. 3 S. 3 aufgehoben und das ordentliche Gesetzgebungsverfahren fortgesetzt, was jedoch eine nochmalige Blockadehaltung desselben Mitgliedstaates in derselben Sache nicht ausschließt.776 Scheitert eine solche Einigung, fällt mit ihr auch das Verfahren zum Erlass einer unionsweit gültigen Richtlinie777 und damit die Möglichkeit, einen unionsweiten Mindeststandard in der betreffenden Sache einzuführen. Allerdings besteht gem. der Art. 82 bzw. 83 Abs. 3 UA 2 AEUV als letzte Möglichkeit778 –– sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens, die zuvor vom Rat durch Beschluss bestimmt worden sind; dieser Beschluss wird vom Rat einstimmig nach Zustimmung des Europäischen Parlaments erlassen. 773 Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 63; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 47 (jeweils Schutz vor „oktroyierter Selbstaufgabe“); zust. Mayer / ​ Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 44. 774 Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S. 16. 775 Der deutsche Vertreter hat gem. § 9 Abs. 1 IntVG auf Weisung des Bundestages oder – in Fällen des § 5 Abs. 2 IntVG  – gem. § 9 Abs. 2 IntGV des Bundesrates das „Notbremseverfahren“ einzuleiten. Mansdörfer betont, dass das deutsche Vetorecht damit faktisch zu einem Parlamentsvorbehalt werde (Mansdörfer, HRRS 2010, 11 [20]); zust. Zöller, Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon, in: Baumeister / Roth / Ruthig, FS  Schenke (2011), S. 579 (594). Ausf. dazu Kötter, Einspruchs- und Kontrollrechte, in: von Arnauld / Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen (2018), Rn. 1 ff.; Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts (2017), S. 172 ff., unter Hinweis auf die Wirksamkeit eines auch weisungswidrigen Abstimmungsverhaltens; s. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 123; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 50; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 41; Klesczewski, Europäisches Strafrecht (2019), Rn. 154, jeweils m. w. N. 776 Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 57; von der Groeben  /  Schwarze  / ​ Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 51; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 120; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 42; a. A. Kötter, Einspruchs- und Kontrollrechte, in: von Arnauld / Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen (2018), Rn. 29. 777 Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 8/56; ders., § 10 Harmonisierung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 45, 47 („bringt daher grundsätzlich einen von der erforderlichen Mehrheit im Rat getragenen Rechtsakt auf dem Gebiet des Strafrechts zu Fall“); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 47; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 65. 778 Nach Art. 20 Abs. 2 S. 1 EUV wird „[d]er Beschluss über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit […] vom Rat als letztes Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraums verwirklicht werden können, […].“ (Herv. d. Verf.).

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die zur verstärkten Zusammenarbeit gem. Art. 20 EUV i. V. m. Art. 326 ff. AEUV.779 Danach müssen sich mindestens neun der Mitgliedstaaten finden, die den Rechtsakt weiter tragen wollen. Dieser Rechtsakt erlangt insoweit nur „partielle Verbindlichkeit“,780 als dass er gem. Art. 20 Abs. 4 EUV nur die die verstärkte Zusammenarbeit tragenden Mitgliedstaaten bindet und damit einen unionsweiten Mindeststandard verhindert.781 bb) Der Begriff der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ Was nun den Terminus der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ anbelangt, ist zunächst einmal festzuhalten, dass dieser ebenso wie eine ordre-­ public-Klausel konkretisierungsbedürftig bleibt.782 Soweit Art. 82 resp. 83 Abs. 3 AEUV weiterhin auf die Aspekte „seiner Strafrechtsordnung“ abstellt, nehmen die Vorschriften explizit auf die nationale Rechtsordnung des das „Notbremseverfahren“ auslösenden Mitgliedstaates Bezug.783 Damit sind ausschließlich nationalstaatliche Bedenken gegen den in Rede stehenden geplanten Rechtsakt angesprochen. Zwar ist zur Auslegung des primären Unionsrechts ausschließlich der EuGH berufen (Art. 267 Abs. 1 lit. a] AEUV). Doch ist mit Satzger zutreffend darauf hin­ zuweisen, dass es gerade der Sinn und Zweck des „Notbremsemechanismus“ ist, „die Identität der Mitgliedstaaten zu wahren und die nationalen Strafrechtsordnun­ gen zu schonen“,784 sodass die Beurteilung, ob „grundlegende Aspekte seiner 779

Weiterführend dazu Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 84 ff.; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 3 Rn. 44 ff.; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 18 ff.; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 72 ff.; Fastenrath / Groh, Europarecht (2016), Rn. 54 ff., jeweils m. w. N. 780 Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 19 („Setzung partiellen Sekundärrechts“). 781 Krit. auch Geiger / K han / Kotzur / Kotzur (2017), Art. 82 AEUV Rn. 16, wonach mit der „schwer zugänglichen Vorschrift […] einmal mehr die Chance eines bürgernahen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vertan [wurde]“; Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 47 („Zersplitterung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“). Keine Bedenken insoweit bei Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 122, wonach gerade keine „‚Rechtszersplitterung‘“ drohe und die Erfahrung zeige, „dass außen gebliebene Mitgliedstaaten über kurz oder lang nachziehen.“; zust. bzgl. letzterer Vermutung auch Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 42; s. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 4 („als Versuchslabor und Innovationsmotor bewährt“). 782 Gegen eine abstrakte Bestimmung auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 52. 783 Klip, European Criminal Law (2016), S. 39, der zugleich darauf hinweist, dass „the principle of conferral, subsidiarity and proportionality may influence a finding that fundamental aspects of the criminal justice system are affected.“ 784 Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 64; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 49; s. auch Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn.  37; ähnl. von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 54, der betont, dass die Frage nach der Beeinträchtigung grundlegender Aspekte seiner Rechtsordnung

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Strafrechtsordnung“ berührt sind, zunächst in unionsgerichtlich nicht überprüfbarer Weise dem betreffenden Mitgliedstaat zusteht.785 Ihre Grenze findet dieser Beurteilungsspielraum allerdings in der Berücksichtigung sachfremder Erwägungen.786 Insoweit ist mit der überwiegenden Auffassung dem EuGH die Befugnis zur Missbrauchskontrolle i. R. e. Vertragsverletzungsverfahrens zuzugestehen,787 weshalb auch vereinzelt eine Begründungspflicht für den widersprechenden Staat gefordert wird.788 Weiterhin bedarf die Frage nach der inhaltlichen Konkretisierung „faktisch grundsätzlich nur der betroffene Mitgliedstaat selbst [wird] überzeugend beantworten können“, jedoch zugleich anmerkt, dass der Begriff „‚grundlegender Aspekte‘ autonom zu konkretisieren [ist].“ (53); Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts (2017), S. 171; s. auch Peers, E.L.Rev. 33 (2008), 507 (526) („The decision to pull the emergency break should not be directly reviewable as such before the EU courts, since it would be a step in the decision-making process, rather than a final legal act.“). 785 Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 64; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art.  82 AEUV Rn.  54; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 117, die einer unionsrechtlich autonomen Bestimmung des Terminus die praktische Bedeutung absprechen; Vogel, Strafgesetzgebungskompetenzen in der EU, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 41 (45); Asp, The Substantive Criminal Law Competence of the EU (2012), S. 139 f.; Peers, E.L.Rev. 33 (2008), 507 (527), wobei „any doubt would have to be resolved in favour of the Member State concerned, since that Member State would obviously be the best judge (as it were) of its own criminal justice system.“ 786 von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 54; Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 63; Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 45; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 11; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 149; Vogel, Strafgesetzgebungskompetenzen in der EU, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 41 (45 mit Fn. 13); Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 8/58 und ders., § 10 Harmonisierung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 47; s. auch Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts (2017), S. 169, der unter Hinweis auf den Wortlaut (des Art. 83 AEUV: „Rechtsordnung“ [Herv. i. O.]) betont, dass eine politische „Notbremse“ nicht erfasst sei sowie zu den Anforderungen an die Feststellung eines solchen Missbrauchs (171). 787 Pechstein / Nowak / Häde / Hochmayr (2017), Art. 82 AEUV Rn. 37; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 118; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 40; Böse, § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 22; Rosenau / Petrus (2012), Art. 83 AEUV Rn.  26; Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 45; Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 63; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (2016), § 9 Rn. 49; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 11; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 8/58; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 149; Zimmermann, Jura 2009, 844 (848); a. A. von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 54, der ein Vertragsverletzungsverfahren als unstatthaft ansieht, jedoch eine Grundlage für eine Begründungspflicht seitens des „notbremsenden“ Staates im Grundsatz der Unionstreue bzw. loyalen Zusammenarbeit sieht; s. dazu auch Klip, European Criminal Law (2016), S. 39, der betont, dass eine umfassende Justiziabilität durch den EuGH diesem eine Position „similar to that of a constitutional court“ einräume, andererseits der Verzicht auf jede Kontrolle dem „Notbremsemechanismus“ den Charakter eines Vetos zukommen lasse, „which has the effect of blocking common Union legislation in the area.“ 788 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 118, unter Verweis auf § 13 Abs. 5 IntVG; Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 40; Böse, § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches

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des Begriffs der „grundlegenden Aspekte seiner Strafrechtsordnung“ hier keiner ausführlichen Untersuchung. Entscheidend ist, dass der Begriff national-rechtlich aufgeladen ist und die Berücksichtigung von in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaates begründeten Abweichungen zum (geplanten) Unionsrecht in Form einer zukünftigen Maßnahme zulässt. Zugleich ist dabei auch zu betonen, dass – wie der Wortlaut („grundlegend“) bereits zu erkennen gibt – der Anwendungsbereich für die Mitgliedstaaten auf Ausnahmefälle begrenzt bleibt.789

Strafrecht (2013), Rn. 22; Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 50 f. („ausreichend begründeter Antrag“); Kötter, Einspruchs- und Kontrollrechte, in: von Arnauld / Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen (2018), Rn. 25 f., wonach jedoch die inhaltliche Begründetheit des Antrags keine Voraussetzung sei; Peers, E.L.Rev. 33 (2008), 507 (526 f.), der vier Elemente der Begründungspflicht nennt (1. „that its concern related to a current draft proposal“, 2. „that its concerns relate to its criminal justice system“, 3. „how its criminal justice system is would be affected“, 4. „why the relevant national rule is considered fundamental“ [Herv. jeweils i. O.]), mit weiteren Überlegungen zur Betätigung der „Notbremse“ aus politischen Gründen (528 f.); zw. gegenüber einer solchen Begründungspflicht Heger, ZIS 2009, 406 (414). 789 So geht Vogel davon aus, der Maßnahmenentwurf müsse „gravierende Probleme, namentlich solche verfassungsrechtlicher Art“ aufwerfen (Vogel, Strafgesetzgebungskompetenzen in der EU, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon [2011], S. 41 [45]); s. auch zum verfassungsrechtlich verankerten Schuldgrundsatz BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (413) („Das Schuldprinzip gehört zu der wegen Art. 79 Abs. 3 GG unverfügbaren Verfassungsidentität, die auch vor Eingriffen durch die supranational ausgeübte öffentliche Gewalt geschützt ist.“); Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68.  Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 117 („Grundstrukturen […], Grundprinzipien […] und Vorgaben aus mitgliedstaatlichem Verfassungsrecht“); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 11 („tiefgreifende und fundamentale Prinzipien“) mit weiteren Bsp. in Fn. 88; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 50, zudem unter Verweis auf eine bedenkliche Verbandsstrafbarkeit oder Einheitstäterschaft; s. auch Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 10 Rn. 64 („fundamentale Grundentscheidungen des Strafrechtssystems“); Kötter, Einspruchs- und Kontrollrechte, in: von Arnauld / Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen (2018), Rn. 24 („Grundstruktur bzw. Grundprinzip“); Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 150, der ebenfalls die materiell-rechtlichen Strafvorschriften zur Sterbehilfe und Abtreibung unter die Vorschrift des Art. 83 Abs. 3 AEUV subsumieren will; Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (20) („tiefliegende und konstante Eigenschaften einer Rechtsordnung“); für eine Auflistung in Betracht kommender Aspekte Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 8/57; ders., § 10 Harmonisierung, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 46; Heger, ZIS 2009, 406 (414 f.); ausf. dazu auch Hadding, Strafrechtliche Aspekte des Unionsrechts (2017), S. 169 ff.; Maiwald, Harmonisierung ohne Harmonie?, in: Freund et al., FS  Frisch (2013), S. 1375 (1377 ff.), mit rechtsvergleichenden Ausführungen zu nationalen Besonderheiten anderer EU-Mitgliedstaaten und dem Hinweis, dass dogmatische Unterschiede i. d. R. im Verfassungsrecht begründet seien und es zunächst einer Harmonisierung dieser unterschiedlichen Wertvorstellungen bedürfe.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

cc) Verallgemeinerung der hinter dem „Notbremsemechanismus“ stehenden Wertungen? Vergleicht man nun die herausgearbeiteten allgemeingültigen Grundsätze eines ordre-public-Vorbehalts mit dem Einwand des Widerspruchs mit „grundlegenden Aspekten seiner Rechtsordnung“, lassen sich verschiedene vergleichbare Wesens­merkmale beider Rechtsinstrumente aufzeigen. Es geht bei dem „Notbremseverfahren“ zwar zunächst um die Berücksichtigung nationaler Bedenken im der Anwendung einer sekundärrechtlichen Maßnahme vorgeschalteten Gesetzgebungsverfahren. Doch steht eben dahinter zunächst einmal der grundsätzliche Gedanke, dass nationale Erwägungen eine Rechtswirkung auf Unionsebene blockieren können. Den Mitgliedstaaten wird hier  – ebenso wie im Fall eines ordre-public-Einwands790  – die Möglichkeit eingeräumt, einseitig eine Rechtswirkung zulasten ihrer Rechtsordnung abzuwehren, indem sie sogar durch Erklärung gleichsam einem Veto-Recht791 die Aussetzung eines Rechtsetzungsvorgangs in Gänze erreichen.792 Des Weiteren kann im Wege eines argumentum  a maiore ad minus bereits mit gutem Grund bezweifelt werden, dass nationale Bedenken im Ausnahmefall – und nur um eine solche Extremkonstellation geht es 790

S. für einen Vergleich insoweit auch Satzger, EuClR 8 (2018), 317 (331). BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (410); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 49 („Quasi-Veto“); Rosenau / Petrus (2012), Art. 83 AEUV Rn. 26; Streinz / Satzger (2018), Art. 82 AEUV Rn. 63; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht (2016), § 9 Rn. 47; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 11; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 8/56; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 148; Klip, European Criminal Law (2016), S. 39; Suhr, ZEuS 2009, 687 (698); Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 39 („‚weiches‘ suspensives Veto“); ebenso ders., § 4 Kompetenzen der Union auf dem Gebiet des Straf- und Strafverfahrensrechts, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 22; dagegen Zöller, Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon, in: Baumeister / Roth / ­Ruthig, FS  Schenke (2011), S. 579 (594); Heger, ZIS 2009, 406 (413); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (20) (jeweils: „‚hartes‘ suspensives Veto“); für eine Differenzierung zwischen „Notbremse“ und Veto Peers, E.L.Rev. 33 (2008), 507 (524 f.). 792 S. auch Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 53, wonach „ein Mitgliedstaat im Ernstfall verhindern kann, überstimmt zu werden.“; Zöller, Neue unionsrechtliche Strafgesetzgebungskompetenzen nach dem Vertrag von Lissabon, in: Baumeister / Roth / Ruthig, FS  Schenke (2011), S. 579 (594) („im Ergebnis einer Rechtsangleichung entziehen“), der zudem höchst krit. prognostiziert, dass „in Zukunft jeder Richtlinienentwurf potenziell mit 27 nationalen Einspruchsmöglichkeiten behaftet ist“ und „der Gebrauch der ‚Notbremse‘ durch die EU-Mitgliedstaaten entscheidenden Einfluss auf Wohl und Wehe des strafrechtlichen Harmonisierungsprozesses in Europa haben wird“ (595); Heger, ZIS 2009, 406 (413) („Vetorecht, das – wenn der sein Veto einlegende Staat davon nicht abzubringen ist – einer für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlichen Anweisung zur Strafgesetzgebung sowohl auf dem Gebiet der – traditionell gesprochen – ersten als auch dritten Säule entgegen steht; […].“); vgl. auch Kötter, Einspruchs- und Kontrollrechte, in: von Arnauld / Hufeld, Systematischer Kommentar zu den Lissabon-Begleitgesetzen (2018), Rn. 11 („Das Bild von der Notbremse unterstreicht dabei, dass der Wagen nicht vom Steuermann selbst, sondern […] von einem der Mitreisenden zum Stehen gebracht wird.“). 791

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im Anwendungsbereich des „Notbremseverfahrens“793 wie eines etwaigen ordre-public-Einwands – eine Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht tragen sollen. Durch eine ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung würde doch der Rechtsakt selbst – hier also der RbEuHb – nicht in Zweifel ge­zogen. Demgegenüber kann die geplante Richtlinie im Fall des „Notbremseverfahrens“ verhindert werden794 und wird dieser weitreichendere Schritt vom primären Unionsrecht offenkundig zugelassen und damit eine Optimierung der justiziellen Zusammenarbeit mit Mitteln einer Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen sehenden Auges verhindert. Zwar ließe sich dagegen vorbringen, dass ein Vergleich des „Notbremsemechanismus“ mit einer ordre-­public-basierten Vollstreckungsverweigerung daran scheitere, dass jener einen politischen Kompromiss zur Wahrung der mitgliedstaatlichen Hoheitsbefugnisse im Bereich des „grundlegenden“ Straf- und Strafverfahrensrechts darstelle,795 793 Den Ausnahmecharakter als „Kompromissformel“ betont insoweit auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 52. 794 Allerdings ist an dieser Stelle zu betonen, dass eine dem RbEuHb entspr. „Maßnahme gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ i. S. v. Art. 82 Abs. 1 UA 2 AEUV (wozu gem. Art. 288 AEUV auch Richtlinien zählen) nach gegenwärtigem Unionsrecht zwar sowohl als Maßnahme, um „Regeln und Verfahren festzulegen, mit denen die Anerkennung aller Arten von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen in der gesamten Union sichergestellt wird“ (lit. a]), oder um „die Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden oder entsprechenden Behörden der Mitgliedstaaten im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzugs und der Vollstreckung von Entscheidungen zu erleichtern“ (lit. d]) erlassen werden könnte. Doch wäre diese damit gerade nicht „notbremsefähig“, da sich dieser Mechanismus nur auf Richt­ linienentwürfe nach Art. 82 Abs. 2 AEUV bezieht, s. auch Heger, ZIS 2009, 406 (411); Mansdörfer, HRRS 2010, 11 (20). 795 S. ausf. dazu sowie zur Berücksichtigung bereits im Entwurf für eine Verfassung für Europa Grabitz / Hilf / Nettesheim / Vogel / Eisele (68. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 114; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 49, 52 („Kompensation für die Aufgabe des Intergouvernementalismus“); Schwarze / Böse (2019), Art. 82 AEUV Rn. 39 („‚Preis‘ für den Übergang zur Mehrheitsentscheidung“); Mayer / Stöger / Murschetz (232. Lfg. 2019), Art. 82 AEUV Rn. 44; Mitsilegas, EU Criminal Law after Lisbon (2016), S.16 („primarily political mechanism of dispute resolution“); Asp, The Substantive Criminal Law Competence of the EU (2012), S. 140, der zugleich betont, dass ein Rückgriff auf die „Notbremse“ wegen eines „large extent common to the Member States“ unwahrscheinlich sei; Suhr, ZEuS 2009, 687 (708); s. auch BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (410), wonach das „Veto“ dazu diene, strafrechtsbedeutsame Richtlinien vor dem Hintergrund der „besonders sensible[n] demokratische[n] Entscheidung über das rechtsethische Minimum“ zu verhindern; zur demokratisch-legitimierenden Funktion der „Notbremseregelung“ auch Sieber, ZStW 121 (2009), 1 (57) („das Mittel der Richtlinie stellt damit in Zusammenhang mit dem genannten ‚Notbremseverfahren‘ im Lissabonner Vertrag eine – vor allem auch psychologisch wichtige – Legitimation des harmonisierten Europäischen Strafrechts dar.“); Gärditz, § 6 Europäisierung des Strafrechts und nationales Verfassungsrecht, in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 31. Nach Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 148 stelle der „Notbremsemechanismus“ eine „Konkretisierung des Art. 4 II 1 EUV dar, der die EU verpflichtet, die nationale Identität und die grundlegenden verfassungsmäßigen Strukturen der Mitgliedstaaten zu respektieren“ (Herv. d. Verf.). Noch weitergehend schreibt das BVerfG dem „Notbremsemechanismus“ eine Korrekturfunktion für die sich „in der Bedeutung einer Vertragsänderung an[nähernde] konkretisierende Ausfüllung der Ermächti-

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

während dieser die Ebene der Durchsetzung des Unionsrechts betreffe und endlich ein Vorbringen nationaler Bedenken nicht mehr zulässig sein könnte, wenn sie im Gesetzgebungsverfahren selbst nicht angebracht worden sind. Doch verliert dieser Einwand vor dem Hintergrund an Überzeugungskraft, dass es gerade erst i. R. d. Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu einer tatsächlichen Verletzung von Grundrechten kommen kann. Im Ergebnis wird man jedenfalls sagen können, dass eine Berufung auf „grundlegende Aspekte“ einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung im Geltungsbereich des RbEuHb nicht unter Verweis auf einen etwaigen abschließenden Charakter der obligatorischen und fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgründe verweigert werden kann, wenn bereits das Primärrecht diesen Einwand erlaubt und das nachgeordnete und durch dieses begrenzte796 Sekundärrecht dessen Zielvorgaben konkretisieren soll.797 dd) Zwischenergebnis Damit lassen sich zwar keine unmittelbaren Rückschlüsse auf die Berechtigung einer ordre-public-gestützten Vollstreckungsverweigerung im Anwendungsbereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit im Unionsrecht herleiten; doch zeigen die vorstehenden Ausführungen, dass dem Unionsrecht in seit seiner durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Form im Bereich der strafrechtlichen Zusammenarbeit die Berücksichtigung „grundlegender Aspekte“ der Strafrechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten nicht nur nicht fremd ist, sondern – wichtiger noch – von diesem auf primärrechtlicher Ebene sogar ausdrücklich akzeptiert wird.798 2. Primärrechtlicher Einwand der Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV) Sind nun vier verschiedene Argumentationslinien aufgezeigt worden, die für eine Zulässigkeit eines ordre-public-gestützten Vollstreckungseinwands bezüglich eines Europäischen Haftbefehls sprechen, bleibt die Frage zu klären, ob diesem Ergebnis das primäre Unionsrecht in Form des sogenannten Loyalitätsgebots in Art. 4 Abs. 3 EUV entgegensteht. In seiner Rechtsprechung zur Identitätskontrolle hat auch das BVerfG diesen möglichen Einwand aufgegriffen und – wenn auch gungen nach Art. 82 Abs. 2 sowie Art. 83 Abs. 1 und Abs. 2 AEUV“ zu, s. BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (413 f.); krit. dazu Calliess / Ruffert / Suhr (2016), Art. 82 AEUV Rn. 54; ders., ZEuS 2009, 687 (709). 796 S. zum normenhierarchischen Verhältnis in der Union bereits Fn. 582 mit Haupttext. 797 Vgl. Dietz, AöR 142 (2017), 78 (90). 798 S. dazu auch Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 67, wonach die Berücksichtigung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten „is reflected not only in Article 4(2) TEU, but also, indirectly, in the emergency brake-institution provided for in Articles 82 and 83 TFEU.“

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ohne Begründungsaufwand – so doch – wie wir gleich sehen werden – im Ergebnis zutreffend abgelehnt.799 Art. 4 Abs. 3 EUV stellt eine das Kooperationsverhältnis zwischen den Mitgliedstaaten untereinander sowie zwischen diesen und der Union wechselseitig800 absichernde subsidiäre Generalklausel dar.801 Es geht dabei um die Gewährleistung eines Mindestmaßes an gegenseitiger Rücksichtnahme und Zusammenarbeit im unionalen Staatenverbund802 ähnlich dem aus der grundgesetzlichen Ordnung bekannten Prinzip der Bundestreue,803 wobei hinsichtlich der Frage der Vergleichbarkeit und der terminologischen Einzelheiten keine Klarheit herrscht.804 So geht auch der bereits angesprochene Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des

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BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 34; BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (337 f.); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (354). Das Gericht beruft sich insoweit nur auf die im Interesse der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes „verfassungsrechtlich radizierte Prüfungskompetenz“. S.  auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 137, der zutr. ausführt, dass keine „allgemeine Pflicht zur Anerkennung von Hoheitsakten eines anderen Mitgliedstaates […] aus Art. 4 Abs. 3 ableitbar [ist].“ 800 Neben diesem dreidimensionalen Adressatenkreis sind die Unionsorgane untereinander zwar nicht durch Art. 4 Abs. 3 EUV („die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig“), jedoch über den über die Norm hinausreichenden Grundsatz der Organtreue zur gegenseitigen Kooperation verpflichtet, s. dazu Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 61 f.; s. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 65 f., der die Kooperationspflicht zwischen den Mitgliedstaaten als nicht explizit von Art. 4 Abs. 3 EUV geregelt sieht; für eine Rechtsgrundlage in Art. 13 Abs. 2 S. 2 EUV Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn.  46, 50, 121 ff.; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 61; krit. bzgl. des Grundsatzes der Unionstreue Streinz, Europarecht (2019), Rn. 173. 801 EuGH, Eurico Italia Srl et al., Urteil v. 03.03.1994 (C-332/92, C-333/92 und C-335/92; ECLI:​EU:C:1994:79), Slg. 1994, I-726 (736); Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S.  62 f.; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 91, 101; Calliess /  Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 38 ff., 48; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 28; Geiger / K han / Kotzur / Geiger (2017), Art. 4 EUV Rn. 6; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Ob­ wexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 84 f.; Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 38 („deklaratorische Wirkung“ des Art. 4 Abs. 3 im Fall umfassender anderweitiger Pflichtenregelung); Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 74; Zuleeg, NJW 2000, 2846 f.; vgl. auch EuGH, Kommission v. Dänemark, Urteil v. 15.09.2005 (C-464/02; ECLI:EU:C:2005:546), Slg. 2005, I-7943 (7972); EuGH, Kommission v. Italien, Urteil v. 17.06.1987 (Rs. 394/85; ECLI:EU:C:1987:293), Slg. 1987, 2749 (2754). 802 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 63 ff.; Pechstein / Nowak / Häde / ​ ­Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 91; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 62 und 126; Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 63; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 33, 40; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 4. 803 Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 33; Zuleeg, NJW 2000, 2846; zu einzelnen Ausprägungen einer der Bundes- entspr. Gemeinschaftstreue Bleckmann, DVBl. 1976, 483 (486 f.); gegen eine Analogie aus dem Prinzip der Bundestreue Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 83 ff.; ausf. dazu auch Unruh, EuR 2002, 41 (45 ff.). 804 S. weiterführend dazu Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 29 ff. m. w. N.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Grundgesetzes mitunter im Loyalitätsprinzip auf.805 Entscheidend ist an dieser Stelle, dass es, um Art. 4 Abs. 3 EUV für spezifische unionsrechtliche Pflichten der Mitgliedstaaten fruchtbar zu machen, zunächst eines Anknüpfungspunktes im Zielkatalog des primären Unionsrechts bedarf, da das Loyalitätsgebot dem Grundsatz der Vertragsakzessorietät806 folgend nur in Bereichen wirken kann, die einen Bezugspunkt zum Unionsrecht aufweisen.807 Insoweit lässt sich noch bedenkenlos auf Art. 67 Abs. 3, 82 Abs. 1 AEUV und die dortige primärrechtliche Normierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung verweisen.808 Art. 4 Abs. 3 UA 3 Hs. 2 EUV schreibt sodann vor, dass die Mitgliedstaaten „alle Maßnahmen [unterlassen], die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten.“809 Daraus lässt sich die Pflicht der Mitgliedstaaten ableiten, einem (zukünftigen) Sekundärrechtsakt zuwiderlaufendes nationales Recht – hier also in Umsetzung des RbEuHb die § 73 S. 1 und S. 2 IRG – nicht zu erlassen resp. aufzuheben.810 Hierbei ist anzu 805

Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 33. S. zur Europarechtsfreundlichkeit auch bereits die Nachweise in Fn. 765. 806 Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 60 f.; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 48; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 25; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 93 f. (keine kompetenzbegründende Wirkung); von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 70; Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 20 ff. 807 Temple Lang, CML Rev. 27 (1990), 645 (654 f.) (keine Anwendung des Art. 5 EGV a.F. i. R. e. Angelegenheit, die sich „in the purely national law sphere“ bewegt); ebenso Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 48. 808 Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 UA 1 EUV nimmt auf Aufgaben Bezug, „die sich aus den Verträgen ergeben“ und knüpft damit gem. Art. 1 UA 3 EUV sowohl an EUV als auch AEUV an, s. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 77. Weiterhin ließe sich gem. Art. 4 Abs. 3 UA 2 EUV auf die effektive Umsetzung der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb als eine der „Verpflichtungen, die sich […] aus den Handlungen der Organe der Union ergeben“, Bezug nehmen. 809 S. dazu EuGH, Batista Morais, Urteil v. 19.03.1992 (Rs. 60/91; ECLI:EU:C:1992:140), Slg. 1992, I-2102 (2106); EuGH, Henri Cullet, Urteil v. 29.01.1985 (Rs. 231/83;  ECLI:​ EU:C:1985:29), Slg. 1985, 315 (320); EuGH, Walt Wilhelm et al., Urteil v. 13.02.1969 (Rs. 14/68; ECLI:EU:C:1969:4), Slg. 1969, 1 (14) (jeweils: „keine Maßnahmen ergreifen oder aufrechterhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages beeinträchtigen könnten“); EuGH, Deutsche Milchkontor GmbH et al. v. Bundesrepublik Deutschland, Urteil v. 21.09.1983 (C-205/82 und 215/82; ECLI:EU:C:1983:233), Slg. 1983, 2633 (2666) (Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts „praktisch unmöglich machen würde.“). 810 EuGH, Kommission v. Frankreich, Urteil v. 13.07.2000 (C-160/99; ECLI:EU:C:2000:410), Slg. 2000, I-6143 (6151); EuGH, Kommission v. Deutschland, Urteil v. 26.04.1988 (Rs. 74/86;  ECLI:EU:C:1988:198), Slg. 1988, 2145 (2148 f.) (jeweils: „Eine solche Beibehaltung stellt deshalb eine Verletzung der Verpflichtungen des genannten Mitgliedstaats aus dem EWG-Vertrag dar.“); EuGH, Komission v. Frankreich, Urteil v. 11.06.1991 (C-307/89; ECLI:​ EU:C:1991:245), Slg. 1991, I-2910 (2914); EuGH, Association des Centres distributeurs ­Édouard Leclerc et al., Urteil v. 10.01.1985 (Rs. 229/83; ECLI:EU:C:1985:1), Slg. 1985, 17 (31) („[…] so dürfen diese doch nach Artikel 5 Absatz 2 EWG-Vertrag durch ihre nationalen Rechtsvorschriften nicht die uneingeschränkte und einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts und die Wirksamkeit der zu dessen Vollzug ergangenen oder zu treffenden Maßnahmen beeinträchtigen und keine Maßnahmen, auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen, ergreifen oder beibehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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merken, dass Art. 4 Abs. 3 EUV in erster Linie die „Indienststellung“811 nationaler materieller Strafrechtsvorschriften zugunsten von Rechtsgütern der Union zum Gegenstand hat.812 Der Wortlaut steht indes der Erstreckung der Anordnung an die Mitgliedstaaten, nationale Vorschriften mit sich zulasten der Unionsrechtsgüter auswirkender Rechtsfolge nicht zu bedienen,813 auf die Absicherung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung, scil. die mit Anwendungsvorrang ausgestatte Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb nicht über die in den Art. 3, 4, 4a und 5 RbEuHb geregelten Fälle hinaus zu beeinträchtigen, indem die nationalen Rechtsgrundlagen der § 73 S. 1 und S. 2 IRG unangewendet bleiben, nicht entgegen. Bereits in der Rechtssache Costa v. E. N. E. L. hatte der EuGH zur Gewährleistung des Anwendungsvorrangs konstatiert, „daß es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung, nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. […] Denn es würde eine Gefahr für die Verwirklichung der in Artikel 5 Absatz 2 aufgeführten Ziele des Vertrages bedeuten […], wenn das Gemeinschaftsrecht je nach der nachträglichen innerstaatlichen Gesetzgebung von einem Staat zum andern verschiedene GelWettbewerbsregeln ausschalten könnten […].“); EuGH, Aktiengesellschaft GB-INNO-BM, Urteil v. 16.11.1977 (Rs. 13/77; ECLI:EU:C:1977:185), Slg. 1977, 2115 (2145); Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 48 („Bereinigungspflicht“); Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn.  102 f. („Frustrationsverbot“); Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 20, der auch von einer „Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Anpassung der innerstaatlichen Rechtslage an die Vorgaben des Unionsrechts“ spricht („bloße Nichtanwendung iSd Anwendungsvorrangs reicht nicht aus“). 811 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 26 („Die Mitgliedstaaten müssen danach ihr nationales Sanktionenrecht [inkl. Strafrecht] in den Dienst der Gemeinschaft / Union stellen [..].“). 812 S. hierzu nur das Urteil des EuGH im sog. „griechischen Maisskandal“ (EuGH, Kommission v. Griechenland, Urteil v. 21.09.1989 [Rs. 68/88; ECLI:EU:C:1989:339], Slg. 1989, 2979 [2985] [„Dabei müssen die Mitgliedstaaten, denen allerdings die Wahl der Sanktionen verbleibt, namentlich darauf achten, daß Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht nach ähn­lichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht, wobei die Sanktion jedenfalls wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein muß.“]); dazu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 11 Rn. 39; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 28 f.; Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 9 Rn. 13; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 7/24 ff. 813 EuGH GK, Ivo Taricco et al., Urteil v. 08.15.2015 (C-105/14; ECLI:EU:C:2015:555), StV 2017, 65 (69 m. w. N. zur Rspr.) („Falls das nationale Gericht zu dem Ergebnis kommen sollte, dass die fraglichen nationalen Bestimmungen dem Erfordernis des Unionsrechts bezüglich des wirksamen und abschreckenden Charakters der Maßnahmen zur Bekämpfung von Mehrwertsteuerbetrug nicht genügen, wäre es gehalten, die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten, indem es erforderlichenfalls diese Bestimmungen unangewendet ließe […], ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmungen auf gesetzgeberischem Wege oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste […].“); s. aber auch das Urteil des EuGH vom 05.12.2017 (EuGH GK, M. A. S. und M. B., Urteil v. 05.12.2017 [C-42/17; ECLI:EU:C:2017:936], Tz. 47 ff.), wonach diese Pflicht zur Nichtbeachtung nationalen Rechts und damit die gegenseitige Anerkennung durch den Bestimmtheitsgrundsatz begrenzt sei.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

tung haben könnte.“814 Unterstützt wird diese Rechtsprechung durch die aufgrund des Kooperationsgebots angehaltene rahmenbeschlusskonforme Auslegung des nationalen Rechts.815 Damit ließe sich die an sich als zulässig herausgestellte Berufung auf einen ordre-public-Einwand unter Verweis auf das Kooperationsgebot der Mitgliedstaaten zur Erfüllung der vertraglichen Pflichten in Konkre­tisierung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung als unzulässig zurückweisen. Man mag insoweit auch noch für eine Abwägung – etwa nach dem Vorbild der praktischen Konkordanz816 – von Loyalitätsgrundsatz gem. Art. 4 Abs. 3 EUV auf der einen und der Achtungspflicht gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV, die zumindest auch im „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwand aufgeht,817 auf der anderen Seite argumentieren.818 Doch können diese Ansätze aus verschiedenen Überlegungen, die im Folgenden danach zu differenzieren sind, ob ein rein „identitätsgeleiteter national-verfassungsrechtlicher“ ordre-public-Vorbehalt (Art. 79 Abs. 3 GG) auf der einen oder ein europäischer oder europäisierter Einwand auf der anderen Seite im Raum steht, nicht durchdringen: Zuallererst kann das Loyalitätsgebot nicht den Einwand des ordre public entkräften, soweit er einer möglichen Verletzung von europäischen Grundrechten entgegengehalten wird. Denn es kann schwerlich argumentiert werden, dass es Ziel des Loyalitätsgrundsatzes sein soll, gem. Art. 4 Abs. 3 UA 3 EUV „alle Maßnahmen [unterlassen]“ zu wissen, die der effektiven Ausgestaltung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung zwar zuwider laufen, dies jedoch mit dem Ziel, den mit Primärrechtsrang ausgestatteten Gewährleistungen von GRCh und EMRK zur 814

EuGH, Costa v. E. N. E. L., Urteil v. 15.07.1964 (Rs. 6/64; ECLI:EU:C:1964:66), Slg. 1964, 1259 (1269 f.). 815 EuGH GK, Pupino, Urteil v. 16.06.2005 (C-105/03; ECLI:EU:C:2005:386), Slg. 2005, I-5309 (5329); s. auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 5 Rn. 30. 816 Nach dem auf Hesse zurückgehenden Grundsatz praktischer Konkordanz sind kollidie­ rende verfassungsrechtliche Schutzgüter derart gegeneinander abzuwägen, dass nicht bestimmte Positionen zurückstehen müssen, sondern die beteiligten Rechtsgüter ihre optimale Wirksamkeit entfalten können, s. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD (1995), Rn. 72. 817 S. bereits o. Fn. 735 mit Haupttext. 818 S. dazu Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 89 ff. (92), der zutr. betont, dass ein Vorrang der Loyalitätspflicht zugunsten der Union gegenüber dem Achtungsgebot zugunsten der Mitgliedstaaten mangels eines Über-Unterordnungsverhältnisses ausscheide und zugleich den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Restriktion horizontaler Loyalitätspflichten anführt (84); ebenso gegen eine Abwägungslösung Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 108 f.; Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 81, wonach unter Verweis auf die Rspr. des EuGH derjenige Mitgliedstaat, der sich zur Kooperationspflicht außer Stande sieht, die Kommission informieren müsse, der sodann die Pflicht zur Problemlösung obläge. Art. 4 Abs. 2 EUV wird auch als lex specialis zu Art. 4 Abs. 3 gesehen, vgl. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 85. S. auch zur richterrechtlichen Konkretisierung des Art. 4 Abs. 3 EUV als Resultat eines u. a. die nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 EUV) berücksichtigenden Abwägungsprozesses Grabitz / Hilf / Nettesheim / ​ Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 65 m. w. N.; zur hier grds. akzeptierten Abwägbarkeit der nationalen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV s. bereits. o. Fn. 736–738 Haupttext.

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Durchsetzung zu verhelfen. Entsprechend ist aus Sicht einer aktiven Schutzpflicht darauf hinzuweisen, dass die Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Abs. 3 UA 2 EUV eine Pflicht dahingehend trifft, die Geltung und effektive Anwendung des Unionsrechts u. a. in Form der Grundrechtsbindung in Art. 6 EUV819 zu gewährleisten.820 Betrifft die Loyalitätspflicht insoweit zwar in erster Linie einen hinter dem unionsrecht­ lichen Schutz zurückstehenden nationalen Standard, sodass Art. 4 Abs. 3 EUV die mitgliedstaatliche Schutzpflicht aufwertet, betrifft die hier vorliegende Konstellation gerade den umgekehrten Fall, nämlich dass eine nationale Rechtsvorschrift den unionalen Schutz des Art. 6 EUV mangels unionsrechtlicher Äquivalenz absichert. Vor diesem Hintergrund hat auch die Regelung des § 73 S. 2 IRG durchaus ihre Berechtigung, wenn der EuGH von den Mitgliedstaaten einen wirksamen Schutz der dem Einzelnen durch das Unionsrecht gewährten Rechte verlangt.821 Zum anderen muss sich die Loyalitätspflicht aufgrund der Vertragsakzessorietät im primärrechtlichen Rahmen bewegen und kann damit eine Durchsetzung der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb als Konkretisierung des primärrechtlich verankerten Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung822 gegenüber der Grundrechtsbindung des Art. 6 EUV nicht bewirken. Dies gilt selbst dann, wenn man dem Loyalitätsgrundsatz die Bedeutung eines „unionalen Verfassungsprinzips“ beimisst.823 Denn das Primärrecht  – selbst seinen Charakter als unionale Verfassungsordnung unterstellt824  – kennt keine primärrechtsinterne Rangdifferenzierung zwischen den Verträgen und den auf Primärrechtsebene angesiedel 819

S. zur unmittelbaren Wirkung der Grundrechte bereits Fn. 435 und 601 mit Haupttext. S. etwa EuGH, Unibet (London) Ltd. und Unibet (International) Ltd., Urteil v. 13.03.2007 (C-432/05; ECLI:EU:C:2007:163), Slg. 2007, I-2301 (2316) („Insoweit haben die nationalen Gerichte aufgrund ihrer Mitwirkungspflicht aus Art. 10 EG den Schutz der Rechte zu gewährleisten, die den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsen […].“); EuGH GK, Winner Wetten GmbH, Urteil v. 08.09.2010 (C-409/06; ECLI:EU:C:2010:503), Slg. 2010, I-8041 (8062); EuGH, The Queen v. Secretary of State for Transport, ex parte: Factortame Ltd. et al., Urteil v. 19.06.1990 (C-213/89; ECLI:EU:C:1990:257), Slg. 1990, I-2466 (2473); zust. von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 108; zum Verbot, entgegenstehendes nationales Recht zu erlassen (Frustrationsverbot); s. bereits die Nachweise in Fn. 810. Zur problematischen Abgrenzung der Handlungs- (Art. 4 Abs. 3 UA 2 EUV) von der Unterlassungspflicht (Art. 4 Abs. 3 UA 3 Hs. 2 EUV) Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 73; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 68; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 65 („Die Unterstützungspflicht beinhaltet zwangsläufig das Unterlassen des Gegenteils […].“); Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 101 („komplementäre Kehrseite“). 821 S. die Nachweise in der vorherigen Fn. 820. 822 Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 274 ff. Rung verweist denn auch zutr. auf die fehlende unmittelbare Wirkung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung (Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation [2019], S. 87 f. m. w. N.), der sich u. a. auf den zurückhaltenden Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 AEUV („beruhen“) beruft. 823 von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 68; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 60; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn.  30; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 34 („fundamentales Verfassungsstrukturprinzip“). 824 S. dazu bereits die Nachweise in Fn. 583 mit Haupttext. 820

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

ten Grundrechten:825 Bereits das Unionsvertragsrecht ordnet insoweit in Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV die Gleichrangigkeit von EUV und AEUV an („Beide Verträge sind rechtlich gleichrangig.“) und stellt dazu noch die GRCh auf dieselbe Ebene (Art. 6 Abs. 1 EUV). Aber auch einen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-​ public-Einwand gem. Art. 79 Abs. 3 GG vermag das Loyalitätsgebot nicht zu verdrängen. Auch hier kann auf die Vertragsakzessorietät verwiesen werden: Denn das Unionsrecht hat – wie bereits festgestellt – die mitgliedstaatliche Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zu achten und kann als deren Mindestbestand das grundgesetzliche Kernfundament gem. Art. 79 Abs. 3 GG nicht beeinflussen. Dieses ist ausweislich des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch einer Übertragung auf die Union durch den nationalen Gesetzgeber und damit einer Einflussnahme seitens des Unionsrechts in Gänze entzogen.826 Ähnlich hat auch der EuGH in der Rechtssache Paul Vandevenne erklärt, dass die Pflicht der Mitgliedstaaten aus dem Loyalitätsgrundsatz zu einem äquivalenten und wirksamen materiellen strafrechtlichen Schutz des Unionsrechts ihre Grenze in den „Grundprinzipien des nationalen Strafrechts“ finde.827 Daraus wird als allgemeingültige Grenze für die Loyalitätspflicht in zutreffender Weise auf den von Satzger entwickelten „strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatz“828 verwiesen.829 Damit muss auch eine systematische 825

Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 9 Rn. 20, wonach grds. nicht zwischen „grundlegenderem und sonstigem, ranghöherem und rangniedrigerem primären Vertragsrecht“ differenziert werden könne; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 453 (Primärrechtsquellen „in […] Rang und Charakter einheitlich“); Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 384; Hobe, Europarecht (2017), Rn. 129. Vgl. auch ausf. zur Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon Nettesheim, EuR 2006, 737 (740 ff.), wonach insbes. ein normenhierarchischer Unterschied zwischen „‚historisch erster Verfassung‘ und Vertragsänderung“ nicht bestehe (741); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 6 Rn. 48, wonach die Gleichrangigkeit der Verträge nur ein „subsidiäres Ordnungselement“ für die Lösung von Normenkollisionen darstelle und diese durch den Grundsatz der Spezialität zu lösen seien. Vage für eine herausgehobene Stellung der Grundrechte aber Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (211) („[…] EU standards of fundamental rights protection which are hierarchically equal [if not superior] to the principal of mutual recognition.“). 826 S. auch Friauf, Die Bindung deutscher Verfassungsorgane an das Grundgesetz bei Mitwirkung an europäischen Organakten, in: Friauf / Scholz, Europarecht und Grundgesetz (1990), S. 11 (49 ff.), wonach die identische Vorgängervorschrift des Art. 5 Abs. 2 EWG-Vertrag  – „abgesehen von ihrem zweifelhaften unmittelbaren Geltungsanspruch“ (49) – nicht als Beschränkung der Grundrechtsbindung des Art. 1 Abs. 3 GG in Betracht komme, „wie das dem hohen Rang der unter dem Schutz der Unabänderlichkeitsgarantie des Art. 79 III GG stehenden Vorschrift im Rahmen der Verfassungsordnung entspricht“ (51). 827 EuGH, Paul Vandevenne et al., Urteil v. 02.10.1991 (C-7/90;  ECLI:EU:C:1991:363), Slg. 1991, 4383 (4387 f.). 828 S. hierzu Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts (2001), S. 166 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 9 m. w. N. und 27. 829 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27; Esser, Europäisches und Internationales Strafrecht (2018), § 2 Rn. 62; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 7/40. Für einen Vorrang des Art. 4 Abs. 2 EUV als „Spezialvorschrift“ hinsichtlich eines materiellrechtlich ausgeprägten Loyalitätsgrundsatzes auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius

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Herangehensweise scheitern, da Art. 4 Abs. 3 EUV die Absicherung einer stabilen Unionsrechtsordnung und wirksamen -durchsetzung bezweckt.830 Das Ziel eines ordre-public-Einwands ist i. R. d. vorliegenden Untersuchungsgegenstands ja gerade die Absicherung europäischer oder nationaler Werte vor einer zu weitgehenden automatisierten gegenseitigen Anerkennung. Ein etwaiger fehlender normenhierarchischer Unterschied zwischen der Achtungspflicht gem. Art. 4 Abs. 2 einerseits und der Loyalitätspflicht gem. Abs. 3 EUV andererseits kann auch in Anbetracht des identischen Wortlauts („achten“) zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn dieser bezieht sich nur auf die gesamte mitgliedstaatliche Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 EUV. Insoweit vermag eine Abwägung beider Rechtsgüter noch zu überzeugen. Doch verdichtet sich die Achtungspflicht in Bezug auf den Ausschnitt der Verfassungsidentität zu einer absoluten Vorrangwirkung.831 Damit kann das Loyalitätsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV einen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Vorbehalt denklogisch nicht begrenzen, da dieser einer unionsrechtlichen Beeinflussung vorgeschaltet ist. Ergänzend kann insoweit auf die Rechtsprechung des EuGH hingewiesen werden, der im Zusammenhang mit einer durch das Loyalitätsgebot veranlassten unionsrechtskonformen Auslegung832 bereits festgestellt hat, dass im Wege dieser Auslegung dem nationalen Recht – hier § 73 S. 1 IRG – keine Lesart unterstellt werden darf, mit der es „nicht so angewandt werden kann, dass ein Ergebnis erzielt wird, das mit dem durch den Rahmenbeschluss angestrebten Ergebnis vereinbar ist. Mit anderen Worten darf der Grundsatz konformer Auslegung nicht zu einer Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen.“833 In der Rechtsfolge muss in diesem (2017), Art. 4 EUV Rn. 103. S. auch zur Wahrung „rechtskultureller Identitäten im europäischen Integrationsprozess“ Bock, ZIS 2019, 298 (299 f.). 830 Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 26; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 34 f. m. w. N. in Fn. 135 und 139 („quasi die Geschäftsgrundlage des gesamten europäischen Integrationsprojekts“); Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 96; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 67; Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 1; Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 128 f. 831 S. bereits o. Fn. 737. 832 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 110. Zur Erstreckung der ursprünglich entwickelten richtlinienkonformen Auslegung auf das gesamte Unionsrecht Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn. 54; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 33; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 47 f. (insbes. auch zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung); Jarass, EuR 1991, 211 (223); s. in diesem Zusammenhang zur rahmenbeschlusskonformen Auslegung auch EuGH, Popławski, Urteil v. 24.6.2019 (C-573/17; ECLI:EU:C:2019:530), Tz. 58 ff, 69 ff. 833 EuGH GK, Impact, Urteil v. 15.04.2008 (C-268/06; ECLI:EU:C:2008:223), Slg. 2008, I-2533 (2565); EuGH GK, Konstantinos Adeneler et al. v., Urteil v. 04.07.2006 (C-212/04; ECLI:​ EU:C:2006:443), Slg. 2006, I-6091 (6131); EuGH GK, Pupino, Urteil v. 16.06.2005 (C-105/03; ECLI:EU:C:2005:386), Slg. 2005, I-5309 (5329); s. auch EuGH, Popławski, Urteil v. 24.6.2019 (C-573/17; ECLI:EU:C:2019:530), Tz. 76.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Fall der „identitätsgeleitete national-verfassungsrechtliche“ ordre-public-Vorbehalt aufgrund seines Absolutheitsanspruchs den Anwendungsvorrang des Unionsrechts – hier in Form der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb – aussetzen. Zwar betont nicht zuletzt der EuGH, dass sich der Anwendungsvorrang im Fall einer unmöglichen unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts durchsetzt und entgegenstehendes nationales Recht damit unangewendet bleiben müsse.834 Doch würde diese Lösung zum einen den der Verfassungsidentität unterliegenden unbedingten Durchsetzungsbefehl unzulässigerweise entkräften. Zum anderen hat sich der EuGH in seinem jüngeren Urteil im Fall M. A. S. und M. B. vom 05.12.2017 ebenfalls gegen eine umfassende Pflicht der mitgliedstaatlichen Gerichte zur Nichtanwendung des nationalen Rechts ausgesprochen.835 Damit kann auch die nationale Rechtsgrundlage des § 73 S. 1 IRG – soweit die Verfassungsidentität des Art. 79 Abs. 3 GG betroffen ist – nicht derart ausgelegt werden, dass sie einer Berufung auf einen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwand entgegensteht, da diese Auslegung die Bindung an den auch dem Gesetzgeber entzogenen grundgesetzlichen Kernbestand des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG nicht hinreichend beachten, mithin mit der Verfassungsidentität brechen und im Ergebnis auf eine Auslegung contra legem hinauslaufen würde.836 Weiterhin ist i. R. d. Bewertung der Wirkungsweise des Loyalitätsgebots zu berücksichtigen, dass Art. 4 Abs. 3 EUV eindeutig als wechselseitige Verpflichtung konzipiert ist („achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig“ 837). Damit erwachsen aus der Norm ebenfalls – und auch nur i. R. d. Vertragsakzessorietät  – Pflichten der Union gegenüber den Mitgliedstaaten.838 834 EuGH, ITC Innovative Technology Center GmbH, Urteil v. 11.01.2007 (C-208/05; ECLI:​ EU:C:2007:16), Slg. 2007, I-213 (236); Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 36; s. auch Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 99 m. w. N. in Fn. 502, der zwar noch zutr. darauf verweist, dass der Rechtsbindung des Art. 20 Abs. 3 GG auch das über den Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erfasste, in der Anwendung vor­gehende Unionsrecht unterfällt, doch insoweit nicht weiter darauf eingeht, dass die Verfassungsidentität des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG diesen Rechtsanwendungsbefehl begrenzt. 835 S. dazu bereits o. Fn. 607–610 mit Haupttext. 836 Vgl. insoweit auch zur Verbindlichkeit eines auch europarechtswidrigen § 73 S. 2 IRG Burchard, § 14 Auslieferung (Europäischer Haftbefehl), in: Böse, Europäisches Strafrecht (2013), Rn. 47. 837 Herv. d. Verf. 838 EuGH, Kommission v. Frankreich, Urteil v. 13.11.2008 (C-214/07; ECLI:EU:C:2008:619), Slg. 2008, I-8380 (8394); EuGH, Kommission v. Griechenland, Urteil v. 12.05.2005 ­(C-415/03; ECLI:EU:C:2005:287), Slg. 2005, I-3894 (3910) (jeweils: „redlich zusammenwirken müssen, um die Schwierigkeiten unter vollständiger Beachtung der Bestimmungen des Vertrages […] zu überwinden“); EuGH, Irland v. Kommission, Urteil v. 16.10.2003 (C-339/00; ECLI:​ EU:C:2003:545), Slg. 2003, I-11782 (11805); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 91; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 109; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 30; Calliess / Ruffert / Puttler / Kahl (2016), Art 4 EUV Rn. 26 (Loyalitätsgebot keine „‚Einbahnstraße‘“) und 110 m. w. N. in Fn. 566 („Rechtsgrundsatz des mit-

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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Demnach würde nicht nur, bezöge man für eine Beschränkung eines „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwands durch den Loyalitätsgrundsatz Stellung, diese Restriktion selbst wiederum durch das Gebot des Art. 4 Abs. 3 EUV unter Berücksichtigung einer wiederum durch das Loyalitätsgebot verstärkten Achtungspflicht gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV hinsichtlich der mitgliedstaatlichen Identität zurückgedrängt.839 In Anbetracht der unantastbaren und einer unionsrechtlichen Beeinflussung gänzlich entzogenen Verfassungsidentität gem. Art. 79 Abs. 3 GG kann auch der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit die Zulässigkeit eines auf Art 79 Abs. 3 GG zurückzuführenden Wesentlichkeitsvorbehalts nicht beeinträchtigen. Denn auch der Loyalitätsgrundsatz kann sich nur i. R. d. begrenzten derivativen Kompetenzen der Union (Art. 5 Abs. 1 EUV) bewegen, der wiederum eine Begrenzung durch Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG vorgeschaltet ist. Dies erkennt auch der EuGH an, wenn er in seiner Rechtsprechung zutreffend betont, dass i. R. d. „Indienststellung“ nationaler Strafrechtsvorschriften Grundwertungen des nationalen Rechts eine Grenze gegenüber den aus dem Loyalitätsprinzip erwachsenden Pflichten darstellen.840 Schließlich bleibt darauf hinzuweisen, dass das Loyalitätsgebot in seinem Bedeutungsgehalt über eine allgemeine Vertragserfüllungspflicht hinausgehen muss;841 die Verweigerung der Berufung auf einen weiteren Vollstreckungsverweigerungstatbestand führt jedoch „nur“ zur Wiederherstellung der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb in seiner durch die Art. 3, 4, 4a und 5 RbEuHb umgrenzten Form und damit zur Absicherung des sekundärrechtlich kodifizierten status quo ante.

gliedstaatsfreundlichen Verhaltens“); Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 56 unter Hinweis auf den durch den Lissabonner Vertrag insoweit intensivierten Wortlaut; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 74. 839 S. auch Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 63 („Der Schutzbereich des Art. 4 Abs. 3 EUV bezieht sich jedenfalls auf grundlegende mitgliedstaatliche Verfassungsstrukturen und ist insoweit mit Art. 4 Abs. 2 EUV deckungsgleich; […].“); für eine Deckungsgleichheit des Art. 6 Abs. 3 EUV a. F. auch Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 156; nach Kahl beinhalte Art. 4 Abs. 2 EUV insoweit einen deklaratorischen Charakter (Calliess / Ruffert / Kahl [2016], Art. 4 EUV Rn. 10). S. aber Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 170, der zwar eine „gewisse Asymmetrie im ‚Pflichtengefüge‘ des Loyalitätsprinzips zulasten der Mitgliedstaaten“ betont, zugleich aber anmerkt, dass „ein Mitgliedstaat der Union nicht das eigene Rechtssystem entgegenhalten [kann], das ihm die Befolgung des Unionsrechts unmöglich mache.“ 840 EuGH, Paul Vandevenne et al., Urteil v. 02.10.1991 (C-7/90; ECLI:EU:C:1991:363), Slg. 1991, 4383 (4387 f.) (in concreto betonte der Gerichtshof, dass ein Sekundärrechtsakt von den Mitgliedstaaten nicht die Einführung einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen verlange); s. dazu auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27 mit Fn. 27 („kein ‚Bruch‘ mit dem nationalen Strafrechtssystem“ und Vereinbarkeit „mit den Grundprinzipien des nationalen Rechts“ als Ausfluss des „strafrechtsspezifischen Schonungsgrundsatzes“ [s. dazu bereits Fn. 828 mit Haupttext]). 841 Streinz, Europarecht (2019), Rn. 170; Calliess / Ruffert / Kahl (2016), Art. 4 EUV Rn. 30 m. w. N. in Fn. 94; Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 1; Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 74.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

Die Bewirkung eines über die Rahmenbeschlusskonformität hinausgehenden Rechtszustandes ist damit folglich mitnichten verbunden. Damit hat sich gezeigt, dass eine zulässigerweise ordre-public-basierte ungeschriebene Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auch nicht unter Berufung auf die Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten zurückgewiesen werden kann. 3. Ergebnis Dem ordre public kommt also der Charakter eines beschränkbaren, jedoch – zumindest im System eines Verbunds souveräner Staaten wie der EU – niemals gänzlich unverzichtbaren842 und damit auch nicht ausschließbaren Rechtsinstruments zu. Damit ist der Aussage, die Schultz bereits 1953 getätigt hat, wonach ein ordre-public-Vorbehalt „dem gegenseitigen Vertrauen, welches Grundlage allen Auslieferungsverkehrs ist, [widerspreche],“843 eine Absage zu erteilen.844 Der ordre-public-Einwand ist nach hiesigem Verständnis und derzeitigem Stand der Rechtsangleichung ein begriffsnotwendiger Bestandteil der unionalen Rechtsordnung und kann auch vom Grundsatz gegenseitiger Anerkennung (noch) nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Durch eine fortschreitende Harmonisierung des Straf- und gerade des Strafverfahrensrechts kann das gegenseitige Vertrauen in den Entscheidungsfindungsprozess in anderen Mitgliedstaaten und in eine zu vollstreckende fremdstaatliche justizielle Entscheidung gestärkt und damit der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung weiter konturiert werden.845 Als Beispiel sei hier nur auf die bereits angesprochene Harmonisierung der Rechtslage betreffend die Verurteilung in Abwesenheitsverfahren durch Ergänzung des Art. 4a RbEuHb durch den Rahmenbeschluss 2009/299/JI und die Richtlinie 2016/343/EU über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf An-

842 MüKo-ZPO / Gottwald (2016), § 328 Rn. 117; Zöller / Geimer (2020), § 328 Rn. 246, der sogar betont, dass die Prüfungsdichte unter den Mitgliedstaaten der EU nicht geringer sei. S. aber noch von Brunn, NJW 1962, 985 (988) („Vielleicht wird man sogar sagen müssen, daß auch diese Feststellung jedenfalls innerhalb einer Völkergemeinschaft, die so eng ist, daß sie zu einem teilweisen Souveränitätsverzicht geführt hat, schon überhaupt nicht mehr zulässig ist, weil ein Souveränitätsverzicht zugunsten einer gemeinsamen Spitze Widersprüche in fundamentalen Prinzipien nicht mehr duldet.“). 843 Schultz, Das schweizerische Auslieferungsrecht (1953), S. 240 mit Fn. 104. S. auch bereits für weitere Nachweise zu Ansichten, die im ordre public einen Widerspruch zur gegenseitigen Anerkennung sehen Fn. 540. 844 S. auch bereits die Nachweise in Fn. 611–613. 845 S. dazu bereits den Haupttext zu Fn. 545. Für eine Berechtigung zur Vollstreckungs­ verweigerung im Fall von Abwesenheitsurteilen zur Gewährleistung der aus der EMRK folgenden Schutzpflicht auch Bartels, Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils (2014), S. 184 ff., die – allerdings ohne nähere Begründung – betont, dass die „Installation eines zwingenden Nichtauslieferungsgrundes […] durch die Union ein verfassungsrechtlich zulässiges und erforderliches Mittel [ist], um die Funktionsfähigkeit des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung sicherzustellen“ (186).

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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wesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren846 hingewiesen.847 Diese Rechtsänderung kann in inhaltlicher Hinsicht die Verfahrensordnungen in Bezug auf Abwesenheitsverurteilungen angleichen und einen unionsweiten Mindest­standard etablieren, der – die Umsetzung in allen Mitgliedstaaten vorausgesetzt – hinreichende Gewähr dafür bietet, dass dem in absentia Verurteilten effektive Möglichkeiten für ein Rechtsmittel- oder Wiederaufnahmeverfahren zur Verfügung stehen und damit eine tragfähige Grundlage für gegenseitiges Vertrauen und eine effektive gegenseitige Anerkennung bilden. Damit ließe sich ein möglicher Anwendungsbereich eines ordre public im Bereich der Abwesenheitsverurteilung aus diesem herausnehmen und eindeutig dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zuschreiben.848 Insoweit kann dem ordre public neben seiner Funktion als „Grundrechtswächter“849 die eines politischen Steuerungsmechanismus zukommen, indem er aufzeigt, welche Bereiche noch der Absicherung durch eine Vorbehaltsklausel bedürfen, weil insoweit noch kein hinreichender unionsweiter Mindeststandard etabliert und eine weitergehende Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen angezeigt ist.850 Im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit innerhalb der EU kann ein ordre-public-Einwand damit solange nicht gänzlich ausgeschlossen sein, wie die Harmonisierung der mitgliedstaat­lichen Rechtsordnungen nicht ein „quasi-bundesstaatliches“851 Niveau erreicht. Dieser Gedanke kann schließlich an einer im Loyalitätsgrundsatz des Art. 4 Abs. 3 UA 1 EUV begründeten Wertung festgemacht werden: Die Union mit ihren Organen trifft die Pflicht, die Mitgliedstaaten i. R. d. Umsetzung des Unionsrechts dahingehend

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Richtlinie 2016/343/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 09.03.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (Abl. EU L 65, 1). 847 Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 61 f. begrüßt insoweit die Angleichung der Handhabung von Abwesenheitsverurteilungen, lässt aber zugleich offen, „ob die in dem Rahmenbeschluss [gemeint ist der Rb 2009/299/JI] niedergelegten Mindestanforderungen ausreichend sind […].“ 848 Ausf. zur Fallgruppe der Abwesenheitsverurteilungen noch S. 323 ff. 849 S. zur Grundrechtsabsicherung durch einen ordre-public-Vorbehalt auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 59 f.; Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (60) („unverzichtbar“); Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 54; Grützner / Pötz / K reß / ​ ­Gazeas  /  Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 42; ders., JZ 2001, 937 (941); Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 40 f., wonach der ordre public individual- und allgemeinschützende Funktion habe; Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 209 f. 850 Streinz, Der Europäische Haftbefehl als Bewährungsprobe für den europäischen Grundrechtsschutz, in: Kert / Lehner, FS Höpfel (2018), S. 549 (562 ff.), der zwei Lösungswege aufzeigt: 1. zunehmende gegenseitige Anerkennung durch Konturierung eines Grundrechtsvorbehalts als Übergabehindernis in der Rspr. des EuGH und 2. Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen; Satzger, NJECL 10 (2019), 44 (54 f.); s. insoweit auch zur komplementären Funktion der Harmonisierung Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 91 f. 851 S. zum Begriff bereits Fn. 281.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

zu unterstützen, das umsetzungsbedürftige Unionsrecht zu konkretisieren.852 Im Fall der Nichterfüllung dieser Unterstützungspflicht sind – als Folge eigenen illoyalen Verhaltens – die Reaktionsmöglichkeiten gegenüber den Mitgliedstaaten eingeschränkt.853 Auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand übertragen lässt sich damit die Aussage treffen, dass die Unionsorgane kraft Loyalitätspflicht angehalten sind, durch eine weitergehende Harmonisierung des Strafverfahrensrechts den Anwendungsbereich der gegenseitigen Anerkennung durch Stärkung ihrer Grundlage – dem gegenseitigen Vertrauen – zu erweitern und damit zugleich einem ordre-public-Einwand die Grundlage zu entziehen. Bis dahin steht es den Mitgliedstaaten nicht zuletzt kraft Unionsrechts (Art. 6 EUV!) zu, durch einen ordre-public-Einwand die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu verweigern, und zwar ohne dass sich die Union insoweit auf eine etwaige Rechtsverletzung durch die Mitgliedstaaten berufen darf. Freilich entbindet auch allein eine hinreichende Harmonisierung die Mitgliedstaaten nicht von der Aktivierung eines ordre-public-Einwands, soweit neben einer Rechtsangleichung nicht auch eine faktische Gewähr für die einheitliche Rechtsanwendung und -gewäh­r ung besteht.

II. Zulässigkeit einer ordre-public-gestützten Verweigerung der Auslieferung auf Grundlage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens Wendet man sich der Frage nach der Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands gegenüber einem Auslieferungsersuchen auf Grundlage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens zu, ist zunächst in Erinnerung zu rufen, dass es sich dabei nach hier befürworteter Ansicht zum einen aufgrund der Transformation in innerstaatliches Bundesrecht (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) nur um einen aus deutscher Sicht europäisierten nationalen ordre public handeln kann. Zum anderen hält das Übereinkommen ebenfalls keine einschlägige Rechtsgrundlage bereit und stimmt die rechtliche Ausgangslage insoweit mit dem Übergabeverkehr nach Maßgabe des RbEuHb überein. Als wohl elementarster Unterschied zu diesem lässt sich sodann die Grundlage des vertraglichen Auslieferungsverkehrs ausmachen: Diese ist im 852

Zu Unterstützungspflichten der Kommission s. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill /  Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 126; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 169, jeweils m. w. N. 853 Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 126; Pechstein / ​ Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 169. S. auch EuGH, Kommission v. Frankreich, Urteil v. 13.12.2001 (C-1/00; ECLI:EU:C:2001:687), Slg. 2000, I-10029 (10070) (kein Verstoß gegen die Loyalitätspflicht bei unklaren Gemeinschaftsvorschriften); ähnlich auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 60, wonach es „[j]edenfalls das gute Recht nationaler Verfassungs- und Obergerichte [ist], […] die Verfassungsidentität des betroffenen MS in Bezug auf den EuHb und andere Instrumente der gegenseitigen Anerkennung zu gewährleisten, wenn der EuGH den Kern eines europäischen ordre public […] nicht ausreichend schützt.“ (Herv. i. O.).

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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Verhältnis der Vertragsstaaten des Europarats zueinander eine nur „allgemeine“ Vertrauensbasis854 und lässt damit das Pendel zwischen vertrauensbasierter Auslieferungspflicht (Art. 1 EuAuslÜbk) und Auslieferungsverweigerung nicht durch Verstärkung einer Maxime gegenseitiger Anerkennung zugunsten ersterer ausschlagen. Damit stellt sich also bezüglich des Auslieferungsverkehrs im Rechtsraum des Europarats von den Besonderheiten des Unionsrechts losgelöst die Frage nach der Vereinbarkeit eines – nicht explizit normierten – ordre-public-Vorbehalts als weiteren Verweigerungsgrund mit einer völkervertraglichen Erfüllungspflicht in Form der Auslieferungspflicht gem. Art. 1 EuAuslÜbk. Als nationale Rechtsgrundlage kommt insoweit allein § 73 S. 1 IRG in Betracht,855 da der Gesetzgeber § 73 S. 2 IRG eindeutig auf den Übergabeverkehr nach Maßgabe des Europäischen Haftbefehls zugeschnitten hat856 und der Anwendungsbereich der Norm insoweit nicht eröffnet ist. Wie aber ebenfalls bereits ausgeführt, muss sich § 73 S. 1 IRG wiederum auf eine taugliche völkerrechtliche Rechtsgrundlage stützen können. 1. Kein genereller Ausschluss eines ordre-public-Einwands gem. Art. 27 S. 1 WÜRV a) Vorgaben der Art. 27 S. 1 und Art. 53 S. 1 WÜRV Einen ersten Anknüpfungspunkt für die Beantwortung der Frage nach der Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands scheint Art. 27 S. 1 WÜRV zu liefern, wonach sich eine Vertragspartei eines völkerrechtlichen Vertrages „nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen [kann], um die Nichterfüllung eines Vertrages zu rechtfertigen.“ Ein auf den ersten Blick somit zwingender Ausschluss einer auf nationales Recht zurückzuführenden ordre-public-basierten Auslieferungsverweigerung ergibt sich daraus jedoch nur teilweise, und zwar aus folgenden Erwä­ gungen: Konsequenz der hier dargelegten Auffassung zum Begriff des europäischen ordre public und dem Erfordernis der innerstaatlich zu transformierenden völkervertraglichen Normen ist die Notwendigkeit der Geltendmachung des europaratsinternen ordre public durch die Vertragsstaaten in Form eines europäisierten nationalen ordre public i. w. S.857 Wenn aber die Auslieferung zu einem Verstoß gegen grundlegende Wertentscheidungen des Rechts des Europarats führen würde, kann dem ersuchten Staat nicht abverlangt werden, ja ist es gerade auch seine wiederum völkervertragliche Pflicht, sein nationales Europarecht i. w. S. absicherndes Recht – jedenfalls soweit es genannte grundlegende Wertentscheidungen repräsentiert – gegen die Auslieferung in Stellung zu bringen. Für diesen Gedanken lässt 854

S. dazu bereits o. Fn. 271 und 272 mit Haupttext. Vgl. dazu bereits die Nachweise zur bundesverfassungs- und obergerichtlichen Rspr. in Fn. 479 mit Haupttext. 856 S. insoweit zur Gesetzesbegründung bereits die Nachweise in Fn. 508. 857 S. o. S. 141 ff. 855

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

sich ebenfalls auf die als einem ordre-public-Einwand vergleichbare Kollisionsnorm des Art. 53 WÜRV verweisen:858 Die Norm regelt in S. 1 die Verletzung des ius cogens durch Völkervertragsrecht und bestimmt als Rechtsfolge dessen Nichtigkeit. Der darin zum Ausdruck kommende Gedanke eines zwingenden Vorrangs des ius cogens lässt sich ebenfalls auf das Recht des Europarats übertragen: Wie bereits dargelegt, bildet der Mindestbestand an gemeinsamen Werten unter den Vertragsstaaten des Europarats einen europarechtlichen ordre public interne i. w. S.859 Geht man nun von einem derart regionalen ius cogens des Europarats aus, verlangt Art. 53 S. 1 WÜRV die Nichtigkeit eines diesen europarechtlichen ordre public interne i. w. S. verletzenden Vertragswerks des Europarats – und zwar in relativer Form gegenüber allen anderen Europaratsstaaten. Es lässt sich also in einem ersten Schritt festhalten, dass das EuAuslÜbk nicht ohne einen die Auslieferungspflicht beschränkenden ordre-public-Einwand auskommen kann, soweit das Abkommen zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Wahrung des angesprochenen, den Europaratsstaaten gemeinsamen Wertefundaments durch das bestehende Regime von Auslieferungsverweigerungsgründen nicht abzusichern vermag. Ein europäisierter nationaler ordre public i. w. S. als Ausdruck des europarechtlichen ordre public interne i. w. S. kann damit gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 EuAuslÜbk nicht ausgeschlossen sein. b) Möglichkeit eines Vorbehalts gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk Einen (weiteren) Anhaltspunkt für die Zulässigkeit eines rein nationalen ordre public sowie europäisierten nationalen ordre public i. w. S. könnte sodann in Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk begründet sein. Danach ist es den Vertragsstaaten erlaubt – und allein die Möglichkeit ist für die Frage der rechtlichen Zulässigkeit ausreichend –, „bei der Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde zu einer oder mehreren genau bezeichneten Bestimmungen des Übereinkommens einen Vorbehalt [zu] machen.“ Demnach könnten Vertragsstaaten die Auslieferungspflicht des Art. 1 E ­ uAuslÜbk zugunsten eines rein nationalen ordre-public-Vorbehalts abbedingen, ohne Art. 27 S. 1 WÜRV zu verletzen, da die Ermächtigung zur ordre-public-basierten Auslieferungsverweigerung insoweit eine rechtliche Grundlage im EuAuslÜbk selbst findet.860 Tatsächlich hat die Mehrzahl der Vertragsstaaten einen Vorbehalt zu 858

S. zur Interpretation des Art. 53 WÜRV als Ausdruck eines ordre-public-Einwands bereits die Nachweise in Fn. 401. 859 S. o. Fn. 480 mit Haupttext. 860 S. bzgl. der EMRK auch EGMR, Loizidou v. Türkei (Preliminary Objections), Urteil v. 23.03.1995 (15318/89), Tz. 75 („If […] substantive or territorial restrictions were permissible under these provisions, Contracting Parties would be free to subscribe to separate regimes of enforcement of Convention obligations depending on the scope of their acceptances. Such a system, which would enable States to qualify their consent under the optional clauses, would

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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Art. 1 EuAuslÜbk erklärt.861 Fraglich bleibt dabei jedoch, ob allein die Möglichkeit, einen solchen Vorbehalt anzubringen, als allgemein zulässiger Wesentlichkeitsvorbehalt für jede einzelne der 47 nationalen Rechtsordnungen angesehen werden kann. In diesem Zusammenhang muss man nämlich zu bedenken geben, dass ein Grund zur Auslieferungsverweigerung aus humanitären Erwägungen, insbesondere wegen des Alters oder des Gesundheitszustands des Betroffenen, in einem beabsichtigten Art. 6 (a) EuAuslÜbk-E erwägt, auf diesen jedoch zugunsten der genannten, in Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk normierten Vorbehaltsoption verzichtet wurde.862 Man wird auf Grundlage dieses Kompromisses von einem beabsichtigten normativ-qualitativen Unterschied zwischen der Freistellung des Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk und einem echten ordre-public-Vorbehalt ausgehen müssen. Unterstützen lässt sich diese Ansicht durch das bereits in Bezug auf den RbEuHb angebrachte entsprechende Argument,863 wonach dem EuAuslÜbk im Gegensatz zum Europäischen Rechtshilfeübereinkommen (Art. 2 lit. b) EuRhÜbk) eine explizite allgemeine Vorbehaltsklausel fremd ist und bei konvergierendem Willen eine solche Klausel – nachträglich – hätte aufgenommen werden können. Zu Recht kann man an dieser Stelle jedoch die Frage aufwerfen, wo denn noch der Unterschied bestehen soll zwischen dem Recht eines jeden Vertragsstaates, einen Vorbehalt auf Grundlage rein nationaler Erwägungen gegenüber der Auslieferungspflicht gem. Art. 1 EuAuslÜbk anzubringen, und einem tatsächlich normierten Auslieferungsverweigerungsgrund in Form einer ordre-public-Klausel. Die Auslieferungspflicht würde doch in beiden Fällen seitens des den Vorbehalt anbringenden Staates im gesamten Geltungsbereich des Übereinkommens zu Fall gebracht.864 Erschwert wird die doch recht formale Betrachtungsweise, die einen normativ-qualitativen Unterschied zwischen einem Vorbehalt nach Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk und einer vertraglichen ordre-public-Klausel aus humanitären Grünnot only seriously weaken the role of the Commission and Court in the discharge of their functions but would also diminish the effectiveness of the Convention as a constitutional instrument of European public order [ordre public]. Moreover, where the Convention permits States to limit their acceptance under Article 25 [art. 25], there is an express stipulation to this effect […].“). 861 Dies sind die Staaten: Aserbaidschan, Belgien, Bulgarien, Dänemark, die Ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Finnland, Frankreich, Georgien, Island, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, die Republik Moldau, die Russische Föderation, San Marino, Schweden, Spanien, die Schweiz, die ­U kraine, Ungarn, das Vereinigte Königreich und Zypern. S. dazu die Auflistung der Vorbehalte und Erklärungen zum EuAuslÜbk unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/ conventions/treaty/024/declarations?p_auth=UUKnhL1x (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 862 Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition (13.12.1957), S.  3 f. S.  dazu auch Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1106. 863 S. dazu bereits o. Fn. 526 mit Haupttext. 864 S. dazu auch Schomburg / Lagodny / Riegel / Trautmann (2020), EuAlÜbk Rn. 2, wonach sich Reichweite und Bedingungen der Auslieferungspflicht des Art. 1 EAuslÜbk u. a. „für jedes Land gesondert aus Vorbehalten und Erklärungen im Verhältnis zu allen Partnerstaaten“ ergäben.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

den865 sieht, durch den Umstand, dass sich die Inhalte beider teilweise decken, eine Auslieferungsverweigerung bei Nichterreichen einer bestimmten Altersgrenze oder aus gesundheitlichen Gründen vorsehen866 und in der Regel darüber noch hinausgehen. Einen weiteren wichtigen Anwendungsbereich betreffen danach Vorbehalte zur Auslieferungsverweigerung im Fall drohender Verfahren vor Sondergerichten. Der einzige ersichtliche Unterschied zu einer vertraglich vorgesehenen ordre-public-Klausel bestünde in der Möglichkeit der Vorgabe noch gewisser normativer Grenzen für die Anwendung der Vorbehaltsklausel, indem diese nämlich einer autonomen Begriffsbestimmung auf völkervertraglicher Ebene zugänglich gemacht würde und gegebenenfalls auf die Geltendmachung eines europäisierten nationalen ordre public i. w. S. beschränkt wäre. Demgegenüber ist die getroffene Alternative des Rechts eines nationalen Vorbehalts für jeden der 47 Vertragsstaaten ein die Auslieferungspflicht noch massiver beeinträchtigender Kompromiss, sieht er doch 47 verschiedene potentielle Maßstäbe für den Geltungsbereich der Auslieferungspflicht vor und läuft Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk damit im Ergebnis auf die rechtliche Zulässigkeit eines nationalen ordre public hinaus. Weder der Versuch, die Vorbehalte auf „essential and justifiable reservations“ zu begrenzen,867 noch die Pflicht der Vertragsstaaten gem. Art. 26 Abs. 2 EuAuslÜbk, einen angebrachten Vorbehalt „zurück[zu]ziehen, sobald die Umstände es gestatten“, vermögen an diesem Ergebnis etwas zu ändern. Denn zum einen entspricht die genannte Beschränkung der ohnehin bereits dargelegten Begrenzung des ordre-public-Einwands auf Ausnahmefälle868 und führt damit zu keinen weitergehenden Restriktionen. Zum anderen lässt sich der Rücknahmeverpflichtung des Art. 26 Abs. 2 EuAuslÜbk nicht entnehmen, dass die Bewertung, wann „die Umstände“ die Annullierung eines solchen Vorbehalts „gestatten“, nicht ebenfalls den Vertragsstaaten obliegt. Der authentische englische Vertragswortlaut verlangt – in vage gehaltener Formulierung – nur, dass der Vertragsstaat „which has made a reservation shall withdraw it as soon as circumstances permit.“869 Vielmehr liegt es somit nahe, diese Einschätzung ebenfalls den einzelnen Staaten einzuräumen, sind es doch diese, die die mit dem Vorbehalt einhergehende Beurteilung der diesen Einwand rechtfertigenden Sachlage vornehmen. Zuletzt trifft eine Verpflichtung zur Rücknahme eines Vorbehalts auch keine verbindliche Aussage über die rechtliche Zulässigkeit seiner Erhebung. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass die Vorbehalte Maltas, der Russischen Föderation, San Marinos sowie Zyperns ausdrücklich auf 865

S. dazu bereits Fn. 862. Einen solchen identischen Vorbehalt haben Aserbaidschan, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Georgien („right to refuse the extradition of any person on humanitarian grounds“), Island, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, die Russische Föderation, Schweden, die Ukraine (Beschränkung auf den Gesundheitszustand) und Ungarn angebracht. 867 Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition (13.12.1957), S. 14. 868 S. dazu S. 108 ff. 869 S. insoweit auch die identische Formulierung des erläuternden Berichts (Council of ­Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition [13.12.1957], S. 14). 866

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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internationale Gewährleistungen und das nationale Auslieferungsrecht resp. verfassungsrechtliche Vorgaben verweisen, deren Wortlaut sogar aufnehmen und damit zum Maßstab des jeweiligen vertragsstaatlichen Vorbehalts machen.870 Ein nationaler Wesentlichkeitsvorbehalt ist damit – so sehr er auch nicht als beabsichtigt

870

Der entspr. Vorbehalt Maltas lautet: „Malta reserves the right to apply the Convention in accordance with Section 20 of Chapter 276 of the laws of Malta (The Extradition Act, 1978) which section reads as follows: ‚On an appeal made to the Court of Criminal Appeal or an application for redress to the Constitutional Court under Section 46 of the Constitution of Malta, either of the said Courts may, without prejudice to any other jurisdiction, order the person committed to be discharged from custody if it appears to such Court that, a) by reason of the trivial nature of the offence of which he is accused or was convicted; or b) by reason of the passage of time since he is alleged to have committed it or to have become unlawfully at large, as the case may be; or c) because the accusation against him is not made in good faith in the interests of justice, it would, having regard to all circumstances, be unjust or oppressive to return him.‘“ Der entspr. Vorbehalt der Russischen Föderation lautet: „In accordance with Article 1 of the Convention the Russian Federation shall reserve the right to refuse extradition: a. if extradition is requested for the purpose of bringing to responsibility before an ad hoc tribunal or by summary proceedings or for the purposes of carrying out a sentence rendered by an ad hoc tribunal or by summary proceedings when there are grounds for supposing that in the course of these proceedings the person will not be or was not provided with minimum guarantees set forth in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights and Articles 2, 3 and 4 of Protocol 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms. The terms ‚ad hoc tribunal‘ and ‚summary proceedings‘ do not include any international criminal court with authorities and jurisdiction recognised by the Russian Federation; b. if there are grounds for supposing that the person requested for extradition in the requesting State was or will be exposed to torture or other cruel, inhuman or degrading treatment or punishment in the course of the criminal proceedings, or the person was not or will not be provided with minimum guarantees set forth in Article 14 of the International Covenant on Civil and Political Rights and Articles 2, 3 and 4 of Protocol 7 to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms; c. based on the considerations of humanity, when there are grounds for supposing that the extradition of the person can seriously affect him due to his old age or state of health.“ Der entspr. Vorbehalt San Marions lautet: „Concerning Article 1 of the Convention, the Republic of San Marino shall not grant extradition of persons: a. who are tried by a special court or who are to serve a sentence passed by such court; b. who will be subjected to a trial which affords no legal q[g]uarantees of criminal proceedings complying with the conditions internationally recognized as essential for the protection of human rights, or will serve their sentences in inhuman conditions.“ Der entspr. Vorbehalt Zyperns lautet: „The Government of the Republic of Cyprus declares that under Article 11. 2. f. of the Constitution of the Republic no extradition of citizens of the Republic can be made. The provisions, therefore, of this Article, as far as the Republic of Cyprus is concerned, should be restricted to extradition of aliens.“

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

betont wird871 – nicht nur Realität, sondern in Anbetracht des Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk rechtlich zulässig. c) Kein „identitätsgeleiteter national-verfassungsrechtlicher“ ordre-public-Einwand im Bereich des Europäischen Auslieferungsübereinkommens Eine Parallele zum gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb zulässigen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public lässt sich hier allerdings nicht ziehen, nicht zuletzt weil ein möglicher nach Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk vorbehaltsbasierter Wesentlichkeitseinwand nicht allein auf verfassungsrechtliche Identitätsvorstellungen beschränkt ist. Zwar ließe sich – entsprechend der oben aufgezeigten Argumentation i. R. d. Vorrangs einer nationalen ordre-public-Klausel vor aus Art. 4 Abs. 3 EUV resultierenden Verpflichtungen872 – unter Verweis auf die Natur der ordre-public-Klausel als vertraglichen Verpflichtungen denklogisch vorgeschalteten und auch durch diese nicht aushebelbaren „Notanker“ anführen, dass es auch unter sich im wechselseitigen Verhältnis völkervertraglich verpflichteten Staaten ein unantastbares nationales Kernfundament geben müsse. Doch hinkt dieser Vergleich mit der Rechtslage zur Situation der Unionsmitgliedstaaten: Insoweit ist zunächst auf die unterschied­ liche – mittlerweile autonome873 – rechtliche Struktur der EU auf der einen und dem Europarat als bloßem völkerrechtlichen, intergouvernemental agierenden Staatenbund874 auf der anderen Seite zu differenzieren. Letzterer geht nämlich nicht in einer supranationalen Organisation mit eigener Rechtspersönlichkeit (vgl. für die EU Art. 47 EUV) und eigener (derivativer) Hoheitsgewalt auf. Damit besteht vor dem Hintergrund der zur Transformation erforderlichen Bundesgesetzgebung und der auf völkerrechtlicher Ebene von der Beteiligung der einzelnen Vertragsstaaten abhängigen Rechtsetzung die Gefahr einer der Kontrolle der Vertragsstaaten entzogenen Einwirkung auf den Wesentlichkeitskern der nationalen Rechtsordnungen nicht. Denn sowohl die Zustimmung seitens des deutschen Vertreters i. R. d. Verhandlungen (im Innenverhältnis)875 wie auch der Entwurf eines völkerrechtlichen Vertrages seitens der Bundesrepublik hat sich insoweit an Art. 79 Abs. 3 GG messen zu lassen.876 Mit anderen Worten besteht der Unterschied zwischen der 871

Vgl. dazu Fn. 862 mit Haupttext. S. o. S. 220 ff. 873 S. o. Fn. 428 mit Haupttext. 874 S. dazu die Nachweise in Fn. 467. 875 Ein Überschreiten der Vollmacht berührt nach h. A. in den Grenzen des Art. 46 WÜRV nicht die völkerrechtliche Verbindlichkeit des Vertragsrechts, s. dazu nur Herdegen, Völkerrecht (2019), § 15 Rn. 13. 876 Für die Prüfung eines völkerrechtlichen Vertragsentwurfs sieht § 16 Abs. 2 der Richtlinien für die Behandlung völkerrechtlicher Verträge (RvV) nach § 72 Abs. 6 GGO des Auswärtigen Amtes eine „in jedem Einzelfall gebotene verfassungsrechtliche Prüfung“ durch das BMI und das BMJV vor. 872

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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Rechtslage nach dem RbEuHb einerseits und dem EuAuslÜbk andererseits darin, dass dieses auf eine unmittelbare Partizipation und Verantwortung – und der damit einhergehenden direkten verfassungsrechtlichen Rückbindung – der jeweiligen an der Völkervertragsrechtsetzung beteiligten Staatsorgane zurückzuführen ist. Im Fall des Europäischen Haftbefehls hingegen trifft die unmittelbare Verantwortung den Unionsgesetzgeber, der der Rückbindung zum deutschen Gesetzgeber zwischengeschaltet und die Legitimation damit „nur“ eine allgemeine über die Hoheitsrechtsübertragung gem. Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG ist. Damit bleibt ein Rückgriff auf rein nationale (§ 73 S. 1 IRG) – scil. nicht i. w. S. europäisierte – Erwägungen – und damit auch die Grundrechte des Grundgesetzes – im Grundsatz durch Art. 27 S. 1 WÜRV gesperrt.877 Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik als einer der wenigen Vertragsstaaten keinen Vorbehalt gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 EuAuslÜbk angebracht hat, sodass auch die Annahme „stillschweigend vereinbarter Einschränkungen“878 nicht zu überzeugen vermag. Im Ergebnis kann damit festgehalten werden, dass es nur für die wenigen, keinen Vorbehalt gem. Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk vorgebrachten Staaten879 bei einer den rein nationalen ordre-public-Vorbehalt betreffenden unbedingten Auslieferungsverpflichtung nach Art. 1 EuAuslÜbk bleibt, womit bedauerlicherweise jedoch ein normativer Flickenteppich geschaffen wurde. Eine Verschärfung droht zwar insoweit nicht, als dass die Möglichkeit eines Vorbehalts auf den Zeitpunkt der „Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde“ beschränkt ist. Dies vermag allerdings nicht über den unbefriedigenden Rechtszustand hinwegzuhelfen. Für die Bundesrepublik ergibt sich daraus der unglückliche Zustand, dass sie die – vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung aufrechterhaltene880 – Grenze der „gemäß Art. 79 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze beziehungsweise das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz“ einem Ersuchen um Auslieferung nach Maßgabe des 877

I. Erg. a. A. Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1106, wonach „im Einzelfall […] jedoch besondere Umstände auftreten [können], die vor dem Hintergrund der nationalen Verfassung (innerer ordre public) […] doch zu einem Auslieferungshindernis führen […]“, die zur Begründung u. a. auf die Regelung des § 73 S. 1 IRG verweisen (Fn. 91), jedoch dabei nicht berücksichtigen, dass die Anwendung dieser Vorschrift im vertraglich geregelten Auslieferungsverkehr gerade an Art. 27 S. 1 WÜRV scheitert. 878 Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 802, zum einen zutr. darauf abstellend, dass „§ 73 S. 1 IRG nicht unmittelbar anwendbar sein soll“, die zum anderen aber dennoch zu dem Ergebnis gelangen, dass „‚Mindeststandards‘ […] als ‚stillschweigend vorbehaltene Einschränkungen‘ gleichwohl eingehalten werden [müssen]“, weshalb sich in der Folge sogar „ohne weiteres“ des § 73 S. 1 IRG bedient werden könne. Dass die Autoren unter der Bezugnahme des § 73 S. 1 IRG nationale, nicht europäisierte Wertvorstellungen als Auslieferungshindernis genügen lassen wollen, ergibt sich aus dem Verweis auf „andere Abweichungen von der innerdeutschen Rechtsordnung“, die nicht zur Auslieferungsverweigerung berechtigten (a. a. O.). 879 S. hierzu die Aufzählung in Fn. 861. 880 BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 23 m. w. N. zur Rspr.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

EuAuslÜbk mangels geltend gemachten Vorbehalts nicht in völkerrechtlich wirksamer Weise entgegenhalten kann. Diese Möglichkeit hätte sich ergeben, wenn die Bundesrepublik bei der Unterzeichnung des Auslieferungsübereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde einen entsprechenden auf Art. 79 Abs. 3 GG zugemünzten Vorbehalt gem. Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk angebracht hätte. Die innerstaatliche (völkerrechtswidrige!) Pflicht zur Beachtung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Mindestgarantien bleibt davon jedoch unberührt, sodass die deutschen Stellen bei einer (drohenden) Verletzung des grundgesetzlichen Mindestschutzes die Vorgaben des EuAuslÜbk außer Acht lassen und völkervertragsbrüchig handeln müssen.881 Eine Frage der inhaltlichen Bewertung ist es, wann im Einzelfall der vom Grundgesetz vorgegebene Maßstab mit dem der EMRK deckungsgleich ist und der verfassungsrechtliche Schutz damit durch die Hintertür mitverwirklicht wird. Eine weitere Relativierung tritt ferner dadurch ein, dass die EMRK in der Bundesrepublik als Bundesgesetz gem. Art. 59 Abs. 2 GG gilt und damit die deutsche Hoheitsgewalt über Art. 20 Abs. 3 GG bindet.882 Dieses Ergebnis mag nicht zuletzt deswegen verwundern, weil diese Sichtweise zur Konsequenz hat, dass die Mitgliedstaaten in der EU einen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Vorbehalt gegenüber der auf gegenseitiger Anerkennung aufbauenden Übergabe ins Feld führen und damit also ein „mehr“ an nationalem Recht dem auf einem „mehr“ als vertraglicher Zusammenarbeit aufbauenden Unionsrecht entgegenhalten dürfen. Dieses soll ihnen hingegen im Bereich des auf „bloßer“ völkervertraglicher Grundlage stattfindenden Auslieferungsverkehrs mit anderen Europaratsstaaten verwehrt sein. Doch ist dies die Konsequenz der Tatsache, dass ein zwischenstaatliches Vertragswerk gerade auf die Einhaltung seitens der Vertragsparteien angewiesen und eine (Grund-) Rechtsverletzung durch die Vertragsstaaten i. R. d. Vertragserfüllung durch eine entsprechende Ausweichmöglichkeit im Vertrag selbst im Voraus zu unterbinden ist.883 Die Vertragspflichten sollen nicht unter Berufung auf die Wertvorstellungen eines Vertragsstaates ausgehebelt werden, was Art. 27 S. 1 WÜRV als Ausdruck des in Art. 26 WÜRV verbürgten Grundsatzes pacta sunt servanda gerade zu ver­hindern sucht.884 Zudem ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass im Bereich des Europarats mit der Möglichkeit des Individualbeschwerdeverfahrens gem. Art. 34 EMRK und der im Gegensatz zum EuGH885 ausgeprägten indivi 881

S. in diesem Zusammenhang auch für einen Vorrang des Art. 1 Abs. 1 GG vor der völkervertraglichen Auslieferungspflicht Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 90 m. w. N. in Fn. 397 („Vertragsverletzung in Kauf zu nehmen“). 882 BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 26 m. w. N. zur Rspr.; BVerfG, Beschluss v. 14.10.2004 (2 BvR 1481/04), BVerfGE 111, 307 (322 f., 325 f.). 883 Zu möglichen Vorbehalten s. sogleich. 884 Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties (2009), Article 27 Rn. 4; Dörr / Schmalenbach / Schmalenbach (2018), Art. 27 VCLT Rn. 1 f. Art. 26 WÜRV lautet: „Every treaty in force is binding upon the parties to it and must be performed by them in good faith.“ 885 Zur Grundrechtswahrung durch den EuGH s. noch sogleich.

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dualschützenden Rechtsprechung des EGMR ein etabliertes Grundrechtsschutzsystem ausgemacht werden und eine hinreichende Gewährleistung strafverfahrensrelevanter Grundrechte angenommen werden kann.886 Außerdem bleibt noch einmal zu betonen, dass nach den Vorgaben des EuAuslÜbk keine über das einer Rechtshilfebeziehung ohnehin zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen im untechnischen Sinne hinausgehende Maß an Erwartungen in die Rechtsordnung des ersuchten Staates abverlangt wird. Daraus folgt aber gerade das Erfordernis eines gegenüber dem Übergabeverkehr nach Maßgabe des RbEuHb reduzierten Anwendungsbereichs einer die Auslieferung hindernden ordre-public-Klausel: Denn indem das Postulat der gegenseitigen Anerkennung des Art. 82 Abs. 1 AEUV einem anzustrebenden Rechtszustand vorgreift,887 begründet es selbst das Erfordernis für eine durch einen auch „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ­ordre-public-Vorbehalt gebotene Begrenzung desselben. Zugleich hat diese Sichtweise einen einheitlichen, nämlich europaratsinternen und -weiten Grundrechtsstandard im Auslieferungsverkehr nach Maßgabe des EuAuslÜbk zur Folge, der gerade für die international-arbeitsteilige Strafverfolgung von elementarer Bedeutung und nach wie vor auch für den Unionsraum anzustreben ist, da sich der Betroffene insoweit im ersuchenden wie ersuchten Staat auf identische Garantien berufen kann. Wenn aber für den Auslieferungsverkehr unter den Vertragsstaaten des Europarats kein nur erstrebenswerter, sondern ein etablierter Grundrechtsstandard festgehalten werden kann, bedarf es gerade keines „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public, um etwaige grundrechtliche Beeinträchtigungen infolge eines Anerkennungsbefehls ohne hinreichende Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu korrigieren. All dies soll im Umkehrschluss nicht bedeuten, dass auf Unionsebene kein ausreichend adäquates Grundrechtsniveau gegeben ist, doch fehlt es insoweit zunächst an einem der Individualbeschwerde gem. Art. 34 EMRK entsprechenden prozessualen Durchsetzungsmechanismus. Zwar kann der EuGH eine ihm gem. Art. 267 AEUV vorgelegte Rechtsfrage nutzen und damit – wie im Fall Aranyosi und Căldăraru exemplarisch geschehen – betroffene Verfahrensgrundrechte stärken. Doch ist der Betroffene auf die Vorlage durch das Gericht angewiesen, da nur diese gem. Art 267 Abs. 2 und 3 AEUV vorlageberechtigt resp. -verpflichtet sind. Eine Vorlageberechtigung steht den betroffenen Parteien selbst insoweit nicht zu,888 weshalb allenfalls von einer mitindividualschützenden Wirkung des Vorab 886 Vgl. zu aktuellen Bestrebungen einiger Vertragsstaaten, den Konventionsschutz zu beschränken Esser, StV 2018, Editorial Heft 4. 887 S. zur erforderlichen Harmonisierung für eine berechtigte gegenseitige Anerkennung S. 84 ff. 888 EuGH, Wöhrmann und Lütticke v. Kommission, Urteil v. 14.12.1962 (Rs. 31 und 33/62; ECLI:EU:C:1962:49), Slg. 1962, 1029 (1042 f.); EuGH, Hessische Knappschaft v. Maison Singer et fils, Urteil v. 09.12.1965 (Rs. 44/65; ECLI:EU:C:1965:122), Slg. 1965, 1268 (1275); EuGH, Pierre Corbiau v. Administration des contributions, Urteil v. 30.03.1993 (C-24/92; ­ECLI:EU:C:1993:118), Slg. 193, I-1300 (1304); Calliess / Ruffert / Wegener (2016), Art. 267 AEUV Rn.  19; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Gaitanides (2015), Art. 267 AEUV Rn. 40;

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

entscheidungsverfahrens gesprochen werden kann,889 auch wenn der Betroffene bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 267 AEUV einen Anspruch auf Vorlage an den EuGH als gesetzlichen Richter gem. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hat.890 Der EuGH hat in seiner Pupino-Entscheidung insoweit darauf hingewiesen, dass „[d]iese Zuständigkeit […] ihrer praktischen Wirksamkeit im Wesentlichen beraubt [würde], wenn die Einzelnen nicht berechtigt wären, sich auf Rahmenbeschlüsse zu berufen, um vor den Gerichten der Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts zu erreichen.“ 891 Zum anderen ist darauf hinzuThomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren (2009), S. 138 f.; Haken­berg, EuR, Beiheft 3, 2008, 164 (171) („daher für den Individualrechtsschutz nicht wirklich geeignet“). 889 Streinz / Ehricke (2018), Art. 267 AEUV Rn. 8, 49, der zugleich zutr. betont, dass „Art. 267 AEUV aufgrund fehlender Erzwingungsmechanismen keinen umfassenden Individualschutz gewährleisten kann“; ähnl. Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 580, wonach der Einzelne die Vorlage nicht erzwingen könne; s. dazu auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Karpenstein (68. Lfg. 2019), Art. 267 AEUV Rn. 3; Schwarze / Schwarze / Wunderlich (2019), Art. 267 AEUV Rn. 5; Lenz / Borchardt / Borchardt (2012), Art. 267 AEUV Rn. 2; ErfK / Wißmann / Schlachter (2020), Art. 267 AEUV Rn. 1; Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 718; Thiele, Europäisches Prozessrecht (2014), § 9 Rn. 5 m. w. N. in Fn. 906; Haratsch, EuR, Beiheft 3, 2008, 82 (92); von Danwitz, NJW 1993, 1108 (110 f.); ausf. zum Individualrechtsschutz durch Vorabentscheidungsverfahren Thomy, Individualrechtsschutz durch das Vorabentscheidungsverfahren (2009), S. 102 ff.; Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 129 f., der explizit betont, dass es keine europäische Grundrechtsbeschwerde gebe und sich das Vorabentscheidungsverfahren am besten eigne, um die Durchsetzung der Unionsgrundrechte abzusichern. Haltern spricht im Zusammenhang mit dem Souveränitätsverlust der Mitgliedstaaten i. R. d. europäischen Integration von den Bürgern als „dezentrale Staatsanwälte zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts“, s. Haltern, Was bedeutet Souveränität? (2007), S. 99. S. in diesem Zusammenhang jedoch zur Prüfung anhand der Garantien der GRCh durch das BVerfG bereits Fn. 563 a. E. und BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 63, wonach eine „Kontrolle der fachgerichtlichen Rechtsanwendung auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten […] ansonsten [gemeint ist die Erstreckung der Verfassungsbeschwerde auf die Durchsetzung der Unionsgrundrechte] jenseits von Art. 267 AEUV nicht möglich [wäre].“ 890 S. aus der Rspr. des BVerfG: BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (366 ff.); BVerfG, Beschluss v. 31.05.1990 (2 BvL 12/88 et al.), BVerfGE 82, 159 (195); BVerfG, Beschluss v. 06.07.2010 (2 BvR 2661/06), BVerfGE 126, 286 (315); BVerfG, Urteil v. 28.01.2014 (2 BvR 1561–1464/12), BVerfGE 135, 155 (230); BVerfG, Beschluss v. 19.12.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 37 ff.; BVerfG, einstw. Anordnung v. 12.01.2018 (2 BvR 37/18), juris, Tz. 22; BVerfG, Beschluss v. 03.09.2018 (1 BvR 552/17), juris, Tz. 3; vgl. auch Böhm, NStZ 2018, 197 (199); ders., NStZ 2019, 256 (258). S. jüngst aber auch BVerfG, Beschluss v. 06.11.2019 (1 BvR 276/17), juris, Tz. 64 ff., wonach es nicht genüge, „die Fachgerichte unter der Perspektive der Garantie des gesetzlichen Richters […] nur daraufhin zu kontrollieren, ob sie ihren unionsrechtlichen Vorlagepflichten genügen. (64) […] Als Garant eines umfassenden innerstaatlichen Grundrechtsschutzes hat das Bundesverfassungsgericht die Fachgerichte diesbezüglich zu kontrollieren. Das aber erfordert eine Kontrolle nicht nur am Maßstab des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, sondern die Einbeziehung der Unionsgrundrechte selbst in seinen Prüfungsmaßstab.“ (66). 891 EuGH GK, Pupino, Urteil v. 16.06.2005 (C-105/03; ECLI:EU:C:2005:386), Slg. 2005, I-5309 (5327); krit. zu diesem Argument Ambos, Fälle zum internationalen Strafrecht (2010), Fall 2 Rn. 31.

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weisen, dass der EuGH in seiner bisherigen Judikatur nicht die für einen unionsweiten Grundrechtsraum erforderliche individualschützende Rücksicht hat walten lassen. Die Darstellung der Rechtsprechung zum gegenseitigen Vertrauen und der darauf aufbauenden Anerkennung justizieller Entscheidungen892 hat gezeigt, dass ein effektiver Grundrechtsschutz im Bereich strafjustizieller Zusammenarbeit immer noch übermäßig der Gewährleistung eines funktionierenden Raums verkehrsfähiger justizieller Entscheidungen zum Opfer fällt893 und diese Verteidigung der effektiven Zusammenarbeit durch die Entscheidungen in den Sachen Aranyosi und Căldăraru, Tupikas und jüngst LM einen ersten Dämpfer erlitten hat. Damit ist in diesem Zusammenhang – den Ausführungen Sarmientos folgend – zu resümieren, dass der EuGH noch nicht die Position eines „Grundrechtswächters“ einzunehmen bereit ist.894

892 S. in diesem Zusammenhang zum vom EuGH etablierten Grundsatz gegenseitigen Vertrauens S. 84 ff. 893 Swoboda, ZIS 2018, 276 (277 f.) („Der EuGH setzt seine Priorität weiter darauf, ‚Motor der Integration‘ zu sein. […] Darüber kommt die Idee der Abwehrfunktion von Grundrechten zu kurz.“). Den Ursprung dieses Selbstverständnisses sieht Swoboda in der Richterauswahl, für die primär auf ein „integrationswilliges Vorverständnis“ geachtet werde (278); Wanitschek, Die Grundrechtecharta der EU (2018), S. 90 („entsteht der Anschein, als würde der EuGH zugunsten der effektiven Durchsetzung des sekundären Unionsrechts einen reduzierten Grundrechtsschutz in Kauf nehmen“). S. auch die Darstellung bei Fichera, EU Fundamental Rights and the European Arrest Warrant, in: Douglas-Scott / Hatzis, Research Handbook on EU Law and Human Rights (2017), S. 418 (429 ff., 437); Hüttemann, European Criminal Procedure (2012), S. 105 ff. (106), die i. R. d. Kritik zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung betont, dass die Zusammenarbeit momentan nur auf Sicherheit, nicht jedoch auf die Grundrechte einzelner abziele, aber beides gleichsam geschützt werden müsse („Fundamental rights are not there to promote and help cooperation, but to protect the individual and safeguard him in criminal proceedings and also in judicial cooperation.“); Willems, GLJ 20 (2019), 468 ff. 894 Sarmiento, Awakenings: the „Identity Control“ decision by the German Constitutional Court (27.01.2016) („[…] this is another opportunity for the Court of Justice to forget that phrase so frequently used by its judges in public lectures, according to which ‚we are not a fundamental rights court.‘“); Kaiafa-Gbandi, EuClR 7 (2017), 219 (240) („growing ECJ attention to the protection of fundamental rights“); Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (210 f.); Wanitschek, Die Grundrechtecharta der EU (2018), S. 89 f. („keine besonders große Grundrechtssensibilität“); Jahn / Zink, StraFo 2019, 318 (329) („aus Grundrechtssicht im Ganzen ein inhaltlich blasser Akteur“); Swoboda, ZIS 2018, 276 ff., die unter Verweis auf das Gutachten 2/13 des EuGH zum EMRK-Beitritt (EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 [2/13; ECLI:EU:C:2014:2454], JZ 2015, 773 ff.) betont, dass der EuGH die GRCh explizit den Zielsetzungen des Unionsrechts unterordne (276) und dass es nicht den Eindruck erwecke, „als wäre es die Priorität des Gerichts, eine Grundrechtsperspektive zu entwickeln.“ [277]); Bachmaier, eucrim 2018, 56 (62) („[…] the ECJ has moved from a rather effectiveness-oriented stance towards a position more attentive to the protection of fundamental rights […].“); für eine Gleichwertigkeit des Grundrechtsschutzes durch den EuGH und den EGMR aber Ravasi, Human rights protection by the ECtHR and the ECJ (2017), S. 381 ff., die jedoch auch zugesteht, dass der unionale Grundrechtsschutz Mängel aufweise und der Grundrechtsschutz durch andere Belange wie etwa das Funktionieren des Binnenmarktes oder des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begrenzt werde (393 f.). S. auch bereits die Nachweise in Fn. 770.

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

d) Zwischenergebnis Im Ergebnis lässt sich folglich festhalten: Art 27 S. 1 WÜRV untersagt im Grundsatz allein den Einwand eines rein nationalen ordre public, während die Berufung auf einen europäisierten nationalen ordre public i. w. S. von der Norm nicht unterbunden, vielmehr i. S. e. regionalen ius cogens auch durch Art. 53 S. 1 WÜRV verlangt wird. Durch die Möglichkeit gem. Art. 26 Abs. 1 EuAuslÜbk, ­­ einen na­ uAuslÜbk antionalen Vorbehalt gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 E zubringen, wird zudem den Vertragsstaaten gewährt, elementare rein nationale Wertvorstellungen der vertraglichen Erfüllungspflicht entgegenzustellen. Der „identitätsgeleitete national-verfassungsrechtliche“ ordre-public-Vorbehalt hingegen kann gegenüber Auslieferungsersuchen anderer Europaratsstaaten nicht zur Anwendung gelangen, weil er als Korrektiv gegenüber die Verfassungsidentität beeinträchtigenden Rechtsakten (der Union auf Grundlage der gegenseitigen Anerkennung) dient, die aber seitens des Europarats mangels eigener Hoheits­ gewalt nicht erlassen werden können.895 Zugleich besteht im intergouvernemental funktionierenden Rechtsraum des Europarats auch kein Bedürfnis nach einer die Verfassungsidentität absichernden Vorbehaltsklausel, da durch die verfassungsrechtliche Rückbindung der beteiligten deutschen Stellen die grundgesetzlichen Vorgaben und damit auch die Verfassungsidentität gem. Art. 79 Abs. 3 GG als unüberwindbarer Maßstab gilt und zudem auf einen etablierten Grundrechtsschutz verwiesen werden kann. 2. Keine grundsätzliche Vorrangwirkung der Konventionsgewährleistungen und die Rechtsfigur der „flagrant denial of justice“ Nur ergänzend sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass sich eine allgemeine Vorrangwirkung der Konventionsgarantien i. R. d. europaratsinternen Auslieferungsverkehrs nicht entsprechend des normenhierarchischen Vorrangs der mit Primärrechtsrang ausgestatteten Unionsgrundrechte gegenüber dem RbEuHb begründen lässt. Zwar kann die mit Recht vielseits proklamierte herausragende Bedeutung der EMRK für das nationale (Strafverfahrens-)Recht der Vertragsstaaten kaum überschätzt werden.896 Es geht hierbei allerdings nicht um die Frage einer allgemeinen Geltung der Konventionsgarantien im Auslieferungsverkehr.897 Vielmehr betrifft die Untersuchung an dieser Stelle die Frage, ob die Konventions 895

S. dazu auch Meyer, HRRS 2016, 332 (337) („Wenn das BVerfG formuliert, dass die Verfassungsidentitätsrechtsprechung jedenfalls in Bezug auf Auslieferungen auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls gelten soll, lässt sich als Argument für eine entsprechende Beschränkung nur anführen, dass aus Sicht des BVerfG eine Gefährdung der Verfassungsidentität nur von Seiten der EU droht.“). 896 S. bereits o. Fn. 41 mit Haupttext. 897 S. dazu bereits S. 65 ff.

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

245

gewährleistungen i. S. e. ordre-public-Einwands in bestimmten Konstellationen unbedingten Vorrang genießen. Festhalten lässt sich damit zunächst, dass ein allgemeingültiger normenhierarchischer Unterschied zwischen der EMRK und dem ­EuAuslÜbk aufgrund der Gleichrangigkeit der einschlägigen völkervertraglichen Rechtsquellen nicht in Betracht kommt. Eine andere Bewertung könnte sich allein aus Art. 30 WÜRV ergeben, wonach sich ein vertragliches Konkurrenzverhältnis in Bezug auf völkerrechtliche Verträge ergeben kann, wenn die in Rede stehenden Verträge denselben Gegenstand regeln.898 Die Vertragskollision kann hier darin gesehen werden, dass das E ­ uAuslÜbk in Art. 1 eine unbedingte Auslieferungspflicht begründet, soweit keiner der in diesem Abkommen genannten Auslieferungsverweigerungstatbestände eingreift. Demgegenüber verbietet die EMRK jede staatliche Handlung und damit auch eine Auslieferung, soweit durch deren Umsetzung eine Verletzung der Konventionsgewährleistungen droht. Insoweit griffe gem. Art. 30 Abs. 3 WÜRV die Kollisionsregel des lex posterior derogat legi priori zu­ uAuslÜbk Platz. Zwar ist insoweit noch zu konstatieren, dass das gunsten des E Erfordernis der Identität der Vertragsparteien (Art. 30 Abs. 1 und 3 WÜRV: „Vertragsparteien aufeinander folgender Verträge“, „Vertragsparteien eines früheren Vertrags zugleich Vertragsparteien eines späteren“)899 gewahrt ist, da sämtliche Europaratsstaaten Vertragsstaaten sowohl der EMRK als auch des E ­ uAuslÜbk sind. Es kann jedoch bereits – vor dem Hintergrund der möglichen in Rede stehenden auslieferungsbeschränkenden Wirkung der Konventionsgarantien und der daraus resultierenden konfligierenden Zielsetzungen der Übereinkommen – mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass das ­EuAuslÜbk und die EMRK – selbst ein weites Verständnis des Art. 30 Abs. 1 WÜRV unterstellt900 – den gleichen Regelungsgehalt zum Gegenstand haben, den Art. 30 Abs. 1 WÜRV fordert („über denselben Gegenstand“).901 Im Ergebnis wird die EMRK als früherer Vertrag nicht vom Auslieferungsübereinkommen als späterer Vertrag verdrängt. Ebenfalls Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des EGMR, der bereits in der Entscheidung Soering v. Vereinigtes Königreich betont hat, dass „ausnahmsweise eine Verletzung des Art. 6 durch eine Auslieferungsentscheidung“ nicht ausgeschlossen werden könne.902 In der Folgezeit hat der Gerichtshof diese Rechtsfigur der „flagrant denial of justice“ wiederholt auf 898

S. weiterführend dazu Ipsen, Völkerrecht (2018), § 15 Rn. 18 ff.; Herdegen, Völkerrecht (2019), § 15 Rn. 18. 899 S. dazu Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties (2009), Art. 30 Rn. 13; Dörr / Schmalenbach / von der Decken (2018), Art. 30 VCLT Rn. 22; Stein / von Buttlar, Völkerrecht (2017), Rn. 109; von Arnauld, Völkerrecht (2019), Rn. 286. 900 Dörr / Schmalenbach / von der Decken (2018), Art. 30 VCLT Rn. 12. 901 Vgl. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties (2009), Art. 30 Rn. 6 („Article 30 extends in its scope beyond the notion of conflicts and incompa­ tibility by addressing more generally the rights and obligations of states parties to successive treaties relating to the same subject-matter […].“); Ipsen, Völkerrecht (2018), § 15 Rn. 21. 902 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 (2188).

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Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

gegriffen und damit – gleichsam einem Wesentlichkeitsvorbehalt – einen unantastbaren Kern des Rechts auf ein faires Verfahren etabliert.903 Auch das BVerfG hat sich dieser Judikatur angeschlossen und ein Auslieferungshindernis in Fällen einer „offenkundigen Verweigerung eines fairen Verfahrens“ postuliert.904 Dabei beschränkt sich der EGMR anstelle einer abstrakten Definition auf eine einzelfallabhängige Betrachtungsweise.905 Allein diese Rechtsprechung kann jedoch die rechtliche Zulässigkeit eines solchen Fundamentaleinwands nicht ersetzen. Anders verhält sich die normative Ausgangslage im Fall der verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle: Insoweit kann sich das BVerfG auf den von vornherein begrenzten Rechtsanwendungsbefehl des Grundgesetzes (Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG) berufen. Eine vergleichbare Beschränkung enthält jedoch weder das ­EuAuslÜbk noch die EMRK selbst. Eine rechtliche Grundlage findet der Ansatz der „flagrant denial of justice“ ebenfalls nicht in einem grundrechtlichen Bekenntnis des E ­ uAuslÜbk, wie es für den RbEuHb herausgearbeitet wurde.906 Denn das ­EuAuslÜbk beinhaltet insoweit zwar individualschützende Verweigerungstatbestände; ihm ist darüber hinaus jedoch keine allgemein grundrechtsbekennende

903

S. etwa EGMR, Al-Moayad v. Deutschland, Entscheidung v. 20.02.2007 (35865/03), NVwZ 2008, 761 (764); EGMR, Ismoilov et al. v. Russland, Urteil v. 24.04.2008 (2947/06), Tz. 156; EGMR, Othmann (Abu Qatada) v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 17.01.2012 (8139/09), NVwZ 2013, 487 („Es ist bemerkenswert, dass der Gerichtshof in den 22 Jahren nach dem Soering-Urteil […] nie entschieden hat, dass eine Abschiebung gegen Art. 6 EMRK verstoße. […], dass die ‚flagrante Rechtsverweigerung‘ ein strenges Kriterium für die Unfairness ist. Sie geht über bloße Unregelmäßigkeiten und das Fehlen von Garantien im Gerichtsverfahren hinaus, wie sie innerhalb des Konventionsstaats selbst eine Verletzung von Art. 6 EMRK sein können. Erforderlich ist eine Verletzung der in dieser Vorschrift garantierten Grundsätze des fairen Verfahrens, die so massiv ist, dass sie einer Aufhebung oder Zerstörung des Wesensgehalts des in Art. 6 EMRK garantierten Rechts gleichkommt.“); EGMR, Husayn (Abu Zubaydah) v. Polen, Urteil v. 24.07.2014 (7511/13), Tz. 552 ff. S. dazu auch Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / Harrendorf / König (2017), Art. 6 Rn. 87 („diametraler Gegensatz zum fairen Verfahren“). Die „flagrant denial of justice“-Doktrin entfaltet ferner im Zusammenhang mit dem Freiheitsrecht des Art. 5 EMRK und der Frage nach einer recht­ mäßigen Freiheitsentziehung auf Grundlage gerichtlicher Verurteilung (Abs. 1 lit. a]) Bedeutung und kann in diesem Zusammenhang zu einem Konventionsverstoß führen, wenn das zur Verurteilung führende Verfahren einen solchen evidenten Rechtsmangel erkennen lässt, s. dazu nur Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 68 m. w. N. 904 BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 31 ff. 905 Der Leitfaden des EGMR zu Art. Art. 6 benennt insoweit (1.) „convicton in absentia with no subsequent possibility of a fresh determination of the merits of the charge“, (2.) „a trial which is summary in nature and conducted with a total disregard for the rights of the defence“, (3.) „detention without any access to an independent and impartial tribunal to have the legality of the detention reviewed“, (4.), „deliberate and systematic refusal of access to a lawyer, especially for an individual detained in a foreign country“ und (5.) „use in criminal proceedings of statements obtained as a result of a suspect’s or another person’s treatment in breach of Article 3“, s. EGMR, Guide on Article 6 of the European Convention on Human Rights (2019), Tz. 534 m. w. N. zur Rspr. S. auch die Aufzählung bei BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 32. 906 S. bereits S. 176 ff.

C. Ordre-public-Einwand im europäischen Auslieferungsverkehr?

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Stellungnahme wie im Fall des RbEuHb zu entnehmen.907 Vielmehr scheint dort die das Verfahren beschleunigende Zielsetzung im Vordergrund zu stehen, wenn betont wird, „daß die Annahme gemeinsamer Vorschriften auf dem Gebiet der Auslieferung dieses Einigungswerk [das E ­ uAuslÜbk] zu fördern geeignet ist.“ Die rechtliche Zulässigkeit der „flagrant denial of justice“-Doktrin verstanden als einen auf das aus Art. 6 Abs. 1 EMRK folgende allgemeine Fairnessgebot908 zugeschnittenen spezifischen ordre public kann sich bereits aus der oben getroffenen Feststellung ergeben, dass den Europaratsstaaten ein bestimmtes Wertefundament gemein ist und ein solcher fairnesswahrender Wesentlichkeitsvorbehalt diesen Wertekanon abzusichern vermag, vorausgesetzt, dass ein faires Verfahren gem. Art. 6 Abs. 1 EMRK diesem unterfällt. Die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit der Figur der „flagrant denial of justice“ kann dabei nur dann positiv bewertet werden, wenn sie sich als dem EGMR zustehende Auslegung der Konventionsgarantien kategorisieren lässt. Würde sie über diese Grenze der Interpretation hinausgehen, würde sie sich im Bereich der unzulässigen richterlichen Rechtsfortbildung bewegen, die nicht mehr an den bestehenden Normgehalt der EMRK anknüpfen kann909 und insoweit den Vertragsstaaten in Form der ergänzenden Rechtsetzung vorbehalten ist. Es ist nämlich insoweit festzuhalten, dass es ausweislich des Art. 19 EMRK Aufgabe des EGMR ist, „die Einhaltung der Verpflichtungen [der EMRK] sicherzustellen“ und dieser damit auf eine Rolle als Rechtsanwender beschränkt, ihm eine Funktion als zusätzlicher Rechtsetzer hingegen verwehrt ist.910 In diesem Fall hängt also die Zulässigkeit der „flagrant denial of justice“-Rechtsprechung sowie ihre Interpretation als auslieferungshindernder ordre-public-Einwand davon ab, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens aus Art. 6 Abs 1 EMRK (zumindest in seinem Wesensgehalt) zum regionalen ius cogens des Europarats zählt, was den weiteren Untersuchungen des nächsten Kapitels vorbehalten bleibt. Lässt sich diese Frage bejahen, folgt die Zulässigkeit der „flagrant denial of justice“-Doktrin aus dem aus Art. 53 Abs. 1 WÜRV folgenden zwingenden Charakter der Konventionsgarantien. 3. Ergebnis Für den Auslieferungsverkehr unter den Europaratsstaaten nach Maßgabe des ­ uAuslÜbk lässt sich damit festhalten, dass ein ordre-public-Einwand zur AuslieE ferungsverweigerung in rechtlich zulässiger Weise erhoben werden darf, soweit er entweder auf den europäisierten ordre public i. w. S. als Ausdruck des regionalen ius 907 S. zum Sonderfall der Abwesenheitsverurteilung, für die sich dem Explanatory Report zum ZP II zum E ­ uAuslÜbk ein solches eindeutiges Bekenntnis entnehmen lässt, noch ausf. S. 328 ff. 908 S. nur Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 25; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 58; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/53. 909 Vgl. dazu Baade, Der EGMR als Diskurswächter (2017), S. 90. 910 Gegen eine richterliche Rechtsfortbildung durch den EGMR auch Baade, Der EGMR als Diskurswächter (2017), S. 90.

248

Kap. 3: Die Zulässigkeit des ordre-public-Einwands

cogens des Europarats (Art. 53 Abs. 1 WÜRV) oder aber auf einen gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk angebrachten Vorbehalt gem. Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk gestützt wird. Letzterer bedarf allerdings ausweislich des Vertragswortlauts eines tatsächlich erklärten Vorbehalts zur Zeit der Unterzeichnung des Auslieferungsübereinkommens oder der Hinterlegung der Ratifikations- oder Beitrittsurkunde. Während sich insoweit zwar die Auslieferungs­anforderungen in den einen Vorbehalt erklärenden Vertragsstaaten ändern können,911 kann insoweit von Staaten, die zum in Art. 26 Abs. 1 EuAUslÜbk genannten maßgeblichen Zeitpunkt keinen Vorbehalt erklärt haben, nachträglich keiner erhoben werden, sodass dieser selbst statisch ist.

III. Ergebnis Die zweite Frage der vorliegenden Untersuchung nach der Existenz eines Wesentlichkeitsvorbehalts im europäischen Übergabe- resp. Auslieferungsverkehr lässt sich sowohl für die Mitgliedstaaten der EU als auch für die Vertragsstaaten des Europarats eindeutig in Form eines zusätzlichen ungeschriebenen Vollstreckungs- bzw. Auslieferungsverweigerungstatbestandes positiv beantworten. Die Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls lässt sich insoweit auf vier wesentliche Argumente stützen: Eine normenhierarchisch übergeordnete Grundrechtsbindung i. R. d. Unionsrechts, ein fundiertes dem RbEuHb selbst zugrunde liegendes Grundrechtsbekenntnis, die indisponible Verfassungsidentität der Unionsmitgliedstaaten sowie die Berücksichtigung der dem „Notbremseverfahren“ zugrunde liegenden Wertung hinsichtlich der Berücksichtigung „grundlegender Aspekte“ der jeweiligen mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen. Während die ersten beiden Argumentationsstränge bereits auf eine Berücksichtigung individualschützender Belange zugeschnitten sind, ist den beiden letzteren eine derartige Beschränkung nicht zu entnehmen, sodass die rechtliche Zulässigkeit einer Berücksichtigung auch staatssouveräner Belange zunächst nicht zu bestreiten ist. Hinsichtlich der Auslieferungsverweigerung unter den Vertragsstaaten des Europarats ist ebenfalls eine Zweiteilung der durch eine ordre-public-basierte Auslieferungsverweigerung verwirklichten Belange auszumachen: Sowohl die Möglichkeit eines nationalen europäisierten Wesentlichkeitsvorbehalts i. w. S. als auch die Auslieferungsversagung über den in Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk vorgesehenen Vorbehalt gegenüber der Auslieferungspflicht sind nicht allein auf individualschützende Aspekte beschränkt. Genauere Ausführungen folgen sogleich im sich anschließenden Kapitel.

911 S. zum dynamischen Charakter des ordre-public-Vorbehalts bereits Fn. 360 und 361 mit Haupttext.

Kapitel 4

Inhaltliche Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands Die dritte Kernfrage der Untersuchung betrifft die inhaltliche Ausgestaltung eines grundsätzlich als zulässig bewerteten ordre-public-Einwands gegenüber der Vollstreckungs- resp. Auslieferungsverpflichtung aus Art. 1 Abs. 2 RbEuHb bzw. Art. 1 E ­ uAuslÜbk. Im weiteren Verlauf der Untersuchung erfolgt eine in zweifacher Hinsicht differenzierte Darstellung, zum einen anhand des vom in Rede stehenden ordre-public-Einwand betroffenen Rechtsregimes (des RbEuHb und des ­EuAuslÜbk) sowie anhand der jeweils innerhalb der beiden Rechtsregime zulässigen Ausprägung des Wesentlichkeitsvorbehalts (rein nationaler Vorbehalt, europäisierter nationaler Vorbehalt i. e. und i. w. S sowie echter unmittelbar wirkender europäischer Vorbehalt).

A. Zweigliedrige Schutzrichtung: Individualschützende und souveränitätsorientierte Besetzung des ordre-public-Begriffs Des Weiteren lässt sich eine Unterteilung der inhaltlichen Maßstäbe anhand ihrer Schutzrichtung ausmachen. Wie im ersten Kapitel dieser Untersuchung dargelegt, hat sich die internationale Rechtshilfe in Strafsachen von einer klassischen zwischenstaatlichen und damit allein zwei- zu einer dreidimensionalen Materie entwickelt, in der die individualrechtlichen Belange des Betroffenen als fester Bestandteil etabliert sind.912 Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass daneben weiterhin souveränitätsorientierte Aspekte Berücksichtigung finden können, auch wenn gegenwärtig zweifellos das Hauptaugenmerk vermehrt auf individualschützende Fragestellungen gerichtet ist.913 Während jedoch eine grund- resp. menschenrechtliche Schutzrichtung möglicher Auslieferungshindernisse an einzelne dem Betroffenen zustehende Rechtspositionen anknüpft und damit in terminologischer 912

S. dazu bereits S. 40 ff. Nach Vogel seien jedoch „Souveränität, Sicherheit und andere wesentliche Interessen der Bundesrepublik“ kein Gegenstand der ordre-public-Prüfung, sondern vielmehr der politischen Bewilligungsentscheidung vorbehalten, s. Grützner / Pötz / K reß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 25 (zugleich auch gegen einen Vergleich mit der österreichischen Härteklausel des § 22 ARHG). Zw. auch bzgl. der Berücksichtigung „elementare[r] staatspolitische[r] Zielsetzungen“ auch ­BeckOK-EGBGB / Stürner (Stand: 01.11.2019), Art. 6 EGBGB Rn. 7. 913

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Hinsicht aus sich heraus verständlich ist,914 bedarf der Begriff souveränitätsorientierter Interessen näherer Untersuchung, ohne jedoch auf die Einzelheiten der Diskussion um den Souveränitätsbegriff einzugehen.915 Wenn zu Beginn dieser Untersuchung auf das aus dem Souveränitätsanspruch eines jeden Staates folgende Interventionsverbot als Grundlage des Erfordernisses zwischenstaatlicher Rechtshilfe Bezug genommen wurde,916 ist mit dem damit zusammenhängenden Grundsatz der Gebietshoheit nur ein Aspekt der staatlichen Souveränität angesprochen. Der Begriff der im Zusammenhang mit der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen allein relevanten äußeren – mithin im Interaktionsverhältnis zu anderen Staaten und Einrichtungen bestehenden917  – Souveränität ist zunächst nicht als strikter Gegensatz zu einer individualrechtlichen Schutzrichtung zu verstehen. Vielmehr stellt sich jene als Ausdruck der Selbstbestimmung eines Staates dar, die in heutiger Zeit keinem willkürlichen Eigenverständnis mehr unterliegt, sondern in ein völkerrechtliches Normensystem eingeflochten ist und notwendigerweise in Beziehung zu anderen Staaten und völkerrechtlichen Organisationen besteht.918 Dabei ist zwischen dem nationalstaat­ lichen Selbstbestimmungsverständnis und seiner völkerrechtlichen Regulierung 914

S. zur fundamentalen Bedeutung der Grundrechte als Bestandteil des ordre public bereits S. 117 f. 915 S. weiterführend dazu Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 9 Rn. 3 ff.; Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 1 ff.; Herdegen, Souveränität heute, in: Herdegen et al., FS Herzog (2009), S. 117 (118 ff.); Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: Cremer et al., FS Steinberger (2002), S. 258 (272 ff.); insbes. zur historischen Entwicklung Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 8 ff. 916 S. dazu bereits S. 30 ff. 917 Die innere Souveränität beschreibt die Staatsgewalt als im innerstaatlichen Bereich ranghöchste und von äußeren – wie etwa fremdstaatlichen – Einflüssen unantastbare Gewalt. S. zu den Begriffen äußerer und innerer Souveränität Bleckmann, AVR 23 (1985), 450 (453 ff., 464 ff.); Garner, Black’s law dictionary (2014), S. 1611; Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 1, 69 ff. (zugleich den Unterschied zwischen internal / external und domestic / international sovereignty aufzeigend [70]); Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht (1984), S. 29, die auf die identische Bedeutung von äußerer Souveränität und Unabhängigkeit hinweisen; Ipsen, Völkerrecht (2018), § 7 Rn. 137 f. („innere Souveränität als Verfassungsautonomie“); Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 1. Abschn. Rn. 46, 2. Abschn. Rn. 9; Voulgaris, Transnationales „ne bis in idem“ (2016), S. 181 f. m. w. N. in Fn. 137; zur souveränen Staatlichkeit nach der grundgesetzlichen Vorstellung Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 9 Rn. 2. 918 Crawford, Brownlie’s Principles of public international law (2019), S. 431; Verdross  / ​ Simma, Universelles Völkerrecht (1984), S. 28, wonach völkervertragliche Verpflichtungen die Freiheit des Staates, jedoch nicht dessen Souveränität einschränken könnten; ebenso Herdegen, Souveränität heute, in: Herdegen et al., FS Herzog (2009), S. 117 (119); s. auch Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 9 Rn. 6; Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 4, der unter Verweis auf die Kompetenzen des UN-Sicherheitsrates den „Wandel des Völkerrechts von einer reinen Koordinationsrechtsordnung hin zu einem System mit subordinationsrechtlichen Zügen“ unterstreicht; Voulgaris, Transnationales „ne bis in idem“ (2016), S. 182, der der Souveränität in diesem Zusammenhang die Bedeutung eines Kompetenzzuweisungsbegriffs beimisst.

A. Zweigliedrige Schutzrichtung des ordre public   

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und Kontrolle ein gewisses Spannungsverhältnis nicht zu übersehen.919 Souveränität stellt somit kein Hindernis für eine zwischenstaatliche Interaktion dar und ist nicht mit dem Begriff der Eigenstaatlichkeit identisch.920 Denn die mit dem Beitritt zu internationalen Übereinkommen verbundenen Beschränkungen nimmt ein Staat gerade aufgrund des Selbstbestimmungsrechts des in ihm verfassten Staatsvolks in Kauf.921 Diesbezüglich wurde auch bereits auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die EU eingegangen.922 Herdegen betont in diesem Zusammenhang, dass von der nationalstaatlichen Souveränität nur noch ein „Torso“ verbleibe,923 und auch der EuGH beschreibt die nationalstaatliche Souveränität der Mitgliedstaaten als „eingeschränkt.“924 Dies belegt zum einen die mangelnde Starrheit des Souveränitätsbegriffs,925 verdeutlicht aber zugleich auch, dass Vertragsstaaten internationaler Organisationen ungeachtet der Beschränkung ihres bereits völkerrechtlich begrenzten Selbstbestimmungsrechts durch vertragliche Verpflichtungen, aber insbesondere auch die Mitgliedstaaten der EU trotz ihrer Hoheitsrechtsübertragung grundsätzlich Inhaber eines Souveränitätskerns bleiben.926 919

S. dazu nur Herdegen, Völkerrecht (2019) § 1 Rn. 17, der jedoch resümiert, dass „sich der Rückzug auf die ‚Souveränität‘ der Staaten als Bastion der Handlungsfreiheit gegenüber als allzu einengend empfundenen Beschränkungen auch heute noch großer Beliebtheit [erfreut].“ 920 Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 3. 921 Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 1. Abschn. Rn. 73 unter Verweis auf die Entscheidung des IGH aus dem Jahr 1923 im Fall Wimbledon, 3. Abschn. Rn. 83. S. auch Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 75 f. („The modern conception of sovereignty understands it, however, as inherently limited through domestic law, but also, since the second half of the 20th century, through international law and this even without the consent of the sovereign State and hence beyond self-limitation. […] This is most particularly the case of external sovereignty which, as presented before, cannot be regarded as ultimate or final; it is inherently limited since public international law and external sovereignty imply each other.“; Crawford, Brownlie’s Principles of public international law (2019), S. 436 f. 922 S. in diesem Zusammenhang zur Rechtsfigur der „geteilten Souveränität“ (klassische Volkssouveränität und Unionsbürgersouveränität) Schorkopf, Staatsrecht der internationalen Beziehungen (2017), § 9 Rn. 8 ff. m. w. N. 923 Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 7 („[…] kann von einem Mindestmaß an Souveränität nur dann die Rede sein, wenn wesentliche Kompetenzbereiche noch weithin dem eigenen Gestaltungswillen der einzelnen Mitgliedstaaten überlassen bleiben und wenn die Europäische Union nicht einseitig ihre Hoheitsrechte auf Kosten der Mitgliedstaaten ausweiten darf.“); ders., Souveränität heute, in: Herdegen et al., FS Herzog (2009), S. 117 (120). 924 S. nur EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 26/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (24 f.) („[…] daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben […]“); s. zum Souveränitäts­begriff i. R. d. europäischen Integration auch Haltern, Was bedeutet Souveränität? (2007), S. 99 f. 925 Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 7 („Elastizität“); ders., Souveränität heute, in: Herdegen et al., FS Herzog (2009), S. 117 (118 ff.); Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 79 („Generally, the problem is the absence of consensus and the constant change in the paradigmatic constitutive elements of sovereignty“). 926 Verdross / Simma, Universelles Völkerrecht (1984), S. 31 m. w. N.; von Arnauld spricht insoweit in Abgrenzung zum Souveränitätsverzicht von einem „Souveränitätsausübungsverzicht“ (von Arnauld, Völkerrecht [2019], Rn. 128 mit Fn. 113); Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019),

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Souveränität lässt sich damit in Folge der Völkerrechtsunmittelbarkeit der einzelnen Staaten – scil. der alleinigen Unterordnung unter das Völkerrechtssystem – als Inbegriff der ihnen in den Grenzen der völkerrechtlichen Ordnung qua Selbstbestimmungsrechts927 zustehenden und verbleibenden Hoheitsrechte verstehen.928 Daran anknüpfend kann ein rechtshilferelevantes Souveränitätsverständnis zugrunde gelegt werden, das alle Elemente erfasst, die sich aus dem soeben erhobenen allgemeingültigen Souveränitätsbegriff ableiten lassen und die von einer zwischenstaatlichen rechtshilferechtlichen Vereinbarung tangiert werden.929 Wenn also i. R. d. Untersuchung von einer souveränitätsorientierten Besetzung des ordre-​ public-Begriffs die Rede ist, ist damit ein die originäre und verbleibende nationalstaatliche Hoheitsgewalt betreffender Kerngehalt angesprochen, der zu einer individualschützenden resp. grundrechtlichen Aufladung der Vorbehaltsklausel in einem Komplementaritäts- und nicht Exklusivitätsverhältnis steht.

B. Der Inhalt des ordre-public-Einwands gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb Im Bereich der Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen H ­ aftbefehls wurde herausgearbeitet, dass entgegen der überwiegenden, auch von Seiten des EuGH vertretenen Ansicht, zugunsten des ordre-public-Einwands von einem ungeschriebenen Vollstreckungsverweigerungsgrund auszugehen ist.930 Die Frage nach dem Inhalt dieses ungeschriebenen Tatbestandes hat dabei die vorangegangenen Überlegungen zur Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands gegenüber der Vollstreckungspflicht gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb widerzuspiegeln. Soweit diese 3.  Abschn. Rn. 83 ff.; Ipsen, Völkerrecht (2018), § 7 Rn. 138, wonach die Übernahme völkervertraglicher Verpflichtungen und die Übertragung von Hoheitsrechten auf internationale Organisationen „die äußere Souveränität eines Staates nicht zu beeinträchtigen [vermögen], sofern dieser sich nicht einseitig einem anderen Staat unterwirft.“ S. zu einem „minimal content of the sovereignty threshold“ auch Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 77 ff., die resümiert, dass „[t]he content of the threshold cannot but remain contestable and different paradigms have been used at different times in the history of the concept of sovereignty“ und festhält, dass „it is one of the characteristics of sovereignty to be a threshold-concept, whose threshold itself is contestable“ (79 f.). 927 Vgl. auch Besson, Sovereignty, in: Wolfrum, MPEPIL (2015), Rn. 114 ff. („Sovereignty qua indepence“). 928 Vgl. Herdegen, Völkerrecht (2019), § 28 Rn. 9; Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 3. Abschn. Rn. 83; Ipsen, Völkerrecht (2018), § 7 Rn. 138. 929 Für eine Begriffsklärung anhand einzelner Merkmale auch Crawford, Brownlie’s Principles of public international law (2019), S 431 („[1] a jurisdiction, prima facie exclusive, over a territory and the permanent population living there; [2] a duty of non-intervention in the area of exclusive jurisdiction of other states; and [3] the ultimative independence upon consent of obligations arising whether from customary law or from treaties.“); Voulgaris, Transnationales „ne bis in idem“ (2016), S. 181 f., der die Merkmale der Völkerrechtsunmittelbarkeit, territorialen Integrität und souveränen Gleichheit der Staaten benennt. 930 S. o. Fn. 611 mit Haupttext.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

253

Statthaftigkeit auf eine normenhierarchisch übergeordnete Grundrechtsgeltung im Unionsraum zurückgeführt wird,931 muss sich dieser grundrechtliche Inhalt im Wesentlichkeitsvorbehalt niederschlagen.932

I. Der auslieferungsrelevante Inhalt des echten europäischen ordre public 1. Schutzbereichsdifferenzierte Berücksichtigung im Fall individualschützender Rechtssätze Es wurde bereits herausgearbeitet, dass der RbEuHb aufgrund seiner primärrechtlichen und damit insbesondere grundrechtlichen Begrenzung trotz seines eindeutigen Wortlauts einer Auslegung am Maßstab der GRCh unterliegt. Damit liegt es zunächst auf der Hand, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Fällen, in denen die Vollstreckung im überstellenden oder das Verfahren im ausstellenden Mitgliedstaat nicht den Anforderungen an die GRCh genügt, aus grundrechtlichen Erwägungen zu verweigern ist.933 Die Untersuchung kann bei diesem schlichten Resümee jedoch nicht stehen bleiben: Eine unbedingte vorrangige Berücksichtigung der Grundrechte i. R. d. Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führte nämlich ebenso offensichtlich zu einer weitreichenden Negierung der Wirkung der (ebenfalls mit Primärrechtsrang ausgestatteten!) gegenseitigen Anerkennung. Sie ließe überdies die Grenze zwischen einer – bereits als anerkannt herausgearbeiteten934 – lediglich grundrechtswahrenden und einer spezifischen ordre-public-basierten Vollstreckungsverweigerung verschwimmen. Insoweit wurde nämlich bereits festgestellt, dass der ordre-public-Einwand auf die Vermeidung von Kollisionen mit elementarsten Wertvorstellungen einer Rechtsordnung beschränkt ist.935 Eine absolute Verdrängung der Vollstreckungspflicht durch die Gewährleistungen der GRCh würde damit – ungeachtet der unstreitigen herausragenden Stellung der Grundrechte im unionsinternen Normgefüge – den Bedeutungsgehalt eines Wesentlichkeitsvorbehalts als sich in jedem Fall durchsetzenden Normbefehl entkräften.936

931

S. dazu bereits S. 164 ff. S. für einen politischen Lösungsansatz Braum, GA 2005, 681 (694), wonach sich der Inhalt des ordre public danach richte, was „die jeweilige politische Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten gerade noch für normativ vertretbar hält.“ 933 Zur Bewertung eines ungeschriebenen Vollstreckungsverweigerungstatbestandes s. bereits o. Fn. 611 mit Haupttext. 934 Zur Bewertung von Grundrechten als Auslieferungsgegenrechte s. bereits S. 65 ff. 935 S. dazu bereits S. 108 ff. 936 S. zur Charakterisierung des ordre-public-Einwands als negativen Normbefehl bereits Fn. 391 mit Haupttext. 932

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

a) Erste Beschränkung auf absolut gewährleistete Garantien Damit verbunden ist als nächster denklogischer Schritt aber auch die Differen­ zierung der Gewährleistungen der GRCh in solche mit absoluter und relativer Schutzintensität. Eine solche Abstufung ist der europäischen Rechtsordnung keineswegs unbekannt: Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh enthält  – in Abgrenzung zu den aus dem Grundgesetz und der EMRK bekannten jeweils grundrechtsspezifischen Schrankenregelungen937 – zunächst im Grundsatz eine allgemeingültige Schrankenklausel.938 Danach muss u. a. „[j]ede Einschränkung der Ausübung der in dieser Charta anerkannten Rechte und Freiheiten […] gesetzlich vorgesehen sein.“ Mit der Kommission ist dabei jedoch zu betonen, dass nicht sämtliche Gewährleistungen der GRCh dieser Beschränkung resp. überhaupt einer Möglichkeit zur Beschränkung unterliegen, die Charta vielmehr ebenfalls absolute Bestimmungen bereit hält.939 Eine genauere Differenzierung lässt die Stellungnahme der Kommission 937

Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn. 59; Fassbender, NVwZ 2010, 1049 (1050), der jedoch zu Recht darauf hinweist, dass die einheitliche Regelung des Art. 52 Abs. 1 GRCh durch die Inkorporation der grundrechtsspezifischen Schranken weitestgehend durchbrochen wird (1051 f.); vgl. insoweit auch Streinz, ZÖR 68 (2013), 663 (671). S. zur umfassenden Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation bereits die Nachweise in Fn. 460 mit Haupttext. 938 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (Abl. EU 2007, C 303, 17 [32]: „allgemeine Einschränkungsregelung“); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (334); Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes (2019), Art. 52 Rn. 7 (unter explizitem Hinweis auf die alternative Lösung der spezifischen Schrankenklauseln der EMRK); Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 30 („einheitliche Rechtfertigungsnorm“); Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 10, 27 f.; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 4 f.; Vedder / Heintschel von Heinegg / Folz (2018), Art. 52 GRCh Rn. 2 f.; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 19 ff.; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 6 Rn. 19 (unter expliziter Abgrenzung von den individuellen Schrankenregelungen des GG); Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 124; Hilf, § 164 Die Schranken der EU-Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), Rn. 38, 59 ff.; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 99; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 22; Fassbender, NVwZ 2010, 1049 (1050 f.); ausf. zum historischen Hintergrund der Vorschrift etwa Peers et al. / Peers / Prechal (2014), Art. 52 Rn. 52.15 ff.; Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 1 ff. 939 S. dazu KOM(2010), 573 endg. v. 19.10.2010, S. 5 („Abgesehen von einigen absoluten Rechten können die Grundrechte unter bestimmten Bedingungen Einschränkungen unterworfen werden.“). Explizit nennt das Dokument in der enthaltenen „Grundrechts-Checkliste“ (6) den Verweis auf „absolute Rechte, die in keinem Fall eingeschränkt werden dürfen.“ S. dazu auch Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 27; Hilf, § 164 Die Schranken der EU-Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), Rn. 51 ff.; Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 362 ff., die sich für eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs des Art. 52 GRCh ausspricht; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn.  60; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Terhechte (2015), Art. 52 GRCh Rn. 5; Peers et al. / Peers / Prechal (2014), Art. 52 Rn. 52.34 („[…] it is clear that Article 52(1) does not state that any of the Charter Articles may be limited; it rather sets out rules that apply if those rights are limited.“ [Herv. i. O.); Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 14 ff. („zumindest das Verbot

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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sodann allerdings vermissen. Eine detaillierte Untersuchung der Frage, welche der Chartagarantien jenseits der Gewährleistung der Menschenwürde in Art. 1 GRCh, für die ein solcher absoluter Schutz unzweifelhaft bestehen dürfte,940 einen unbedingten Schutzauftrag beinhalten, wird nicht einheitlich beantwortet. Sie kann an dieser Stelle bereits aus Platzgründen nur angerissen werden und muss der Beantwortung im Einzelfall vorbehalten bleiben.941 Insoweit seien im Folgenden nur zwei Anhaltspunkte aufgegriffen: Ein Hinweis für eine etwaige schrankenlos gewährleistete Grundrechtsbestimmung kann sich etwa aus der systematischen Stellung eines Grundrechts in Kapitel 1 der Charta, der mit „Würde des Menschen“ betitelt ist und damit wohl die enthaltenen Rechte942 neben der eigenständigen Menschenwürdegarantie mit einem absolut garantierten Schutz ausstatten dürfte, ergeben. Weiterhin kann aus der entsprechenden vorbehaltlos garantierten Bestimmung der EMRK über die Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation gem. Art. 52

der Todesstrafe in Art. 2 Abs. 2, das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung in Art. 4, das Verbot der Sklaverei oder Leibeigenschaft in Art. 5 Abs. 1, der Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung in Art. 19 Abs. 2, der in Art. 49 Abs. 1 und 2 entfaltete Grundsatz ‚nulla poena sine lege‘ und möglicherweise das Verbot der Doppelbestrafung in Art. 50.“); Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 21; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 6 Rn. 21, die Art. 1 (Menschenwürde), Art. 4 (Folterverbot) und Art. 5 (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit) benennen; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 99, der zutr. betont, dass Art. 52 Abs. 1 GRCh vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte nicht ausschließt und als Bsp. die Menschenwürdegarantie (Art. 1 GRCh), das Verbot der Folter (Art. 3 GRCh), das Verbot der Sklaverei (Art. 4 und 5 GRCh) sowie das Verbot von Kollektivausweisungen (Art. 19 Abs. 1 GRCh) anführt. Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn. 60 will an den Wortlaut anknüpfen und Gewährleistungen für unbeschränkbar halten, die als „unantastbar“ umschrieben sind oder deren Beeinträchtigung „verboten“ ist; vom Wortlaut ausgehend auch Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 63, der Art. 1 GRCh und als „besondere Ausprägung der Menschenwürde“ Art. 2 Abs. 2, Art. 3 Abs. 2 lit. a)-d), Art. 4 und Art. 5 GRCh als absolut gewähreistet betrachtet. A. A. Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 22 („Einschränkungslos gewährleistete Grundrechte gibt es [bislang] nicht.“); vage Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 212 („auf den ersten Blick keine absoluten Rechte“). 940 Vgl. dazu nur Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 27; Jarass / Kment, EU-Grundrechte (2019), § 6 Rn. 21; Hilf, § 164 Die Schranken der EU-Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), Rn. 52; Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 367 ff. Beachtenswerterweise hat das BVerfG allerdings in seiner Entscheidung zum Vertrag von Lissabon obiter dictum ausgeführt, dass „[d]ie allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRCh […] allenfalls die in Art. 1 GRCh garantierte Menschenwürde einschränken [kann] […], nicht aber Art. 1 Abs. 1 GG.“ (BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 [2 BvE 2/08 et al.], BVerfGE 123, 267 [334]). 941 S. für Ansätze zur Kategorisierung unbeschränkter Chartagarantien bereits die Nachweise in Fn. 939. Ausf. zu dieser Frage auch Bühler, Einschränkung von Grundrechten (2005), S. 362 ff. 942 Diese sind die Würde des Menschen selbst (Art. 1 GRCh), das Recht auf Leben (Art. 2 GRCh), das Recht auf Unversehrtheit (Art. 3 GRCh), das Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung (Art. 4 GRCh) sowie das Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit (Art. 5 GRCh).

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Abs. 3 S. 1 GRCh943 auf einen absoluten Schutz geschlossen werden.944 Da nach hier vertretener Auffassung durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh eine umfassende Inkorpo­ ration der konventionsrechtlichen Schrankenbestimmungen und dadurch deren Ergänzung durch die Chartagarantien erreicht wird, ist insoweit von einer Komplettierung, jedoch nicht der Verdrängung der einschlägigen Konventionsgarantien durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh auszugehen.945 Wenn sich ein Individualrechtssatz aber unbedingt gegenüber anderen Rechtsnormen durchsetzt, weil er durch den zuständigen Normgeber mit einer solchen unbedingten Vorrangwirkung ausgestattet worden ist, ist ihm zugleich die genannte negative Normbefehlswirkung eines ordre-public-Einwands eigen und können absolut gewährleistete Grundrechtspositionen zu seinem Inhalt gerechnet werden. Die ordre-public-basierte Verweigerung der Vollstreckung eines Euro­ päischen Haftbefehls kann sich damit in einem ersten Schritt auf Gewährleistungen der GRCh stützen, denen in abstrakter Ausprägung (ggf. infolge Inkorporation durch die entsprechenden Garantien der EMRK) ein absoluter Geltungsanspruch zukommt. b) Zweite Beschränkung auf den Wesensgehalt eines Grundrechts Ist nun aber ein individualschützender Rechtssatz nicht per se absolut gewährleistet, kann ihm bereits nicht in abstrakter Weise der den ordre-public-Einwand kennzeichnende negative Normbefehl zugeschrieben werden, da eine generelle Beschränkbarkeit des Rechtssatzes seine unbedingte Durchsetzung gegenüber anderen denklogisch ausschließt. Eine ähnliche Abgrenzung scheint Popp unter Zugrundelegung einer Abstufung der Schutzintensität vorzunehmen, wenn er in Bezug auf das vordergründigste aller absolut gewährleisteten Menschenrechte betont, dass sich „höchstens die Würde des Menschen per se […] je einzeln und insgesamt zum ordre public rechnen lässt […].“946 Nun ist aber neben absolut garantierten ebenso beschränkbaren Grundrechten ein Wesensgehalt immanent, 943

S. bereits die Nachweise in Fn. 460 mit Haupttext. So auch Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 27; Hilf, § 164 Die Schranken der EU-Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), Rn. 53; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 99. S. zum Inhalt des sich aus der EMRK ergebenden ordre public noch ausf. S. 282 ff. 945 Vgl. weiterführend dazu mit Nachweisen zu den vertretenen Ansichten Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes (2019), Art. 52 Rn. 8; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 100. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass eine Relativierung absolut gewährleisteter Chartarechte durch Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh ausgeschlossen ist, es vielmehr insoweit bei absolut garantierten Rechten verbleibt, s. nur Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 62. 946 Popp, Grundzüge (2001), Rn. 390 (Herv. i. O.), jedoch zugleich betonend, dass „diese Einschränkung ohne Nachteil [bleibt], weil aus anderen Gründen ein Primat der Menschenwürde besteht.“ 944

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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der als vom unantastbaren Bestand einer Rechtsordnung erfasst und damit ihrem ­ordre-public-Vorbehalt zuzurechnen ist.947 Entsprechend sieht auch Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh vor, dass jede Einschränkung „den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten [muss].“ Hierbei ist überzeugend von einer abstrakt umschriebenen Restriktion der Einschränkbarkeit der Chartarechte („Schranken-­Schranke“)948 auszugehen.949 Im Ergebnis ist die Wesensgehaltsgarantie als Ausprägung eines absolut gewährleisteten Mindestschutzes anzusehen und lässt sich damit zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls in Stellung bringen. Dieser Wesensgehaltsvorbehalt findet im Wortlaut des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh wiederum keine Begrenzung auf bestimmte Grundrechte und ist somit – entsprechend seinem deutschen Pendant in Art. 19 Abs. 2 GG950 – auf alle Garantien der Charta anwendbar. Würde nämlich ein Kernfundament eines jeden Grundrechts nicht als unantastbar garantiert, könnte das entsprechende Grundrecht allein aufgrund seiner fehlenden Deklaration durch den Gesetzgeber als formal unbeschränkbar in Gänze unterlaufen werden.951 Mit zunehmender Eingriffsintensität und möglicher Gefährdung eines unantastbaren Wesenskerns  – und hier lohnt 947

So auch Stern, § 85 Der Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 837 (856), wonach die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG als „letzte Reservebastion“ zu verstehen sei. S. auch im Zusammenhang mit dem Urteil des EuGH in der Sache LM Wendel, EuR 2019, 111 (121), wonach im in der Entscheidung postulierten Wesentlichkeitsschutz zugunsten des Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 47 Abs. 2 GRCh) in Bezug auf die Unabhängigkeit des Gerichts ein „verallgemeinerbarer und auf andere Grundrechte übertragbarer Rechtsgedanke Bahn zu brechen [scheint], dass ein Überstellungsverbot immer dann anzunehmen ist, wenn die echte Gefahr besteht, dass im Zielstaat der Wesensgehalt eines Unionsgrundrechts angetastet wird.“ 948 Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes (2019), Art. 52 Rn. 18; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 108 f. („Gegenschranke“). 949 Einer Übertragung des aus der deutschen grundgesetzlichen Dogmatik bekannten „verfassungsimmanenten Schranken“ (s. dazu nur Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht [2018], § 24 Rn. 19 ff.) bedürfe es nach Auffassung von Rumler-Korinek und Vranes aufgrund des eindeutigen Verweises in Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh auf die „Rechte und Freiheiten anderer“ jedoch nicht (Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes [2019], Art. 52 Rn. 19 mit Fn. 78). Nach Borowsky verbiete sich dieser Rückgriff sogar (Meyer / Borowsky [2014], Art. 52 Rn. 22). Für ein Verständnis des Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh als „Normierung ‚verfassungsimmanenter‘ Schranken“ jedoch Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 36. 950 S. dazu nur Sachs / Sachs (2018), Art. 19 Rn. 40 ff.; Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 669; Ipsen, Staatsrecht II (2018), Rn. 211, auch m. w. N. zur Gegenansicht, wonach die Wesensgehaltsgarantie nicht unmittelbar, sondern im Wege der Analogie auf jedes Grundrecht anwendbar sei. 951 S. dazu Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 7, wonach die Wesensgehaltsgarantie der „Siche­r ung der Grundrechtssubstanz vor einem unbeschränkten, ohne eine derartige Sicherungszone zur vollständigen Entleerung und praktischen Auslöschung des Grundrechts führenden Zugriff des […] Gesetzgebers“ diene; zust. Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2018), § 24 Rn. 47. Zur der hier nicht zu behandelnden weiterführenden Frage, ob Art. 19 Abs. 2 GG auch gegenüber unionsrechtlichen Einwirkungen schütze Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 5.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

sich zur Veranschaulichung ein Vergleich zur sogenannten „Sphärentheorie“ des BVerfG952 – steigen somit die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit des Eingriffs seinerseits. Das Gericht hat in einem Beschluss zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen eines Beschuldigten im Strafverfahren in Abhängigkeit von der betroffenen Schutzbereichsebene unterschiedliche Anforderungen an die Rechtfertigung der Grundrechtsbeschränkung aufgestellt. Unter Verweis auf die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG und dem von der Menschenwürdegarantie determinierten Kerngehalt des Persönlichkeitsschutzes wurde ein „letzte[r] unantastbare[r] Bereich“ als auch gegenüber „selbst schwerwiegenden Interessen der Allgemeinheit“ beeinträchtigungsfest angesehen.953 Damit wird aber nichts anderes als ein allgemeingültiger unantastbarer Kern von Grundrechten – etwa der einem Grundrecht zugrunde liegende Menschenwürdegehalt954 – zum Ausdruck gebracht,955 wie er gerade im Wesen eines ordre-public-Vorbehalts seinen Niederschlag findet. Für die vorliegende Untersuchung bedeutet dies – überträgt man die „Sphärentheorie“ des BVerfG auch auf den Grundrechtsschutz im Unionsraum –, dass nicht nur jedes absolut gewährleistete, sondern darüber hinaus auch jeder Individualrechtssatz der GRCh, soweit sein unantastbarer Wesenskern betroffen ist, den negativen Normbefehl eines ordre-public-Einwands teilt. Allerdings muss auch die Frage, ob durch eine etwaige Übergabe der Wesensgehalt eines Grundrechts tangiert wird, aufgrund der zu berücksichtigenden Einzelfallumstände einer spezifischen Prüfung vorbehalten bleiben.956

952

BVerfG, Beschluss v. 31.01.1973 (2 BvR 454/71), BVerfGE 34, 238 (245 ff.). S. hierzu auch die Darstellungen bei Kingreen / Poscher, Grundrechte (2019), Rn. 446; Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2018), § 27 Rn. 17 ff. Letztere sehen hierin allerdings – unzutr., da das BVerfG selbst betont, dass auf der letzten Stufe (der Intimsphäre) „eine Abwägung nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes […] nicht statt [findet]“ (BVerfG, Beschluss v. 14.09.1989 [2 BvR 1062/87], BVerfGE 80, 367 [373] m. w. N. zur früheren Rspr.]) – eine besondere Ausprägung der Verhältnismäßigkeit. 953 BVerfG, Beschluss v. 14.09.1989 (2 BvR 1062/87), BVerfGE 80, 367 (373). 954 Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 14 und 23 („engste Berührung zum Grundsatz und Grundrecht der Menschenwürde“ sowie: „Der Menschenwürdekern und der Wesensgehalt, ‚le contenu essentiel‘, ‚the essence‘ der Grundrechte dürften sich daher weitestgehend decken, wenn nicht übereinstimmen.“); Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 34. S. zu den Problemen hinsichtlich der Bestimmung des Wesensgehalts Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 29 m. w. N. 955 Vgl. auch Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes (2019), Art. 52 Rn. 18; sehr deutlich auch Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 16 und 23 („als last resort eine absolute Schranke und Sperre für die Staatsräson“ [Herv. i. O.]). S. auch weiterführend zur Diskussion im Grundrechtekonvent Stern / Sachs / Krämer (2016), Art. 52 Rn. 6; Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 23, jeweils m. w. N. S. aus der Rspr. des BVerfG auch das bereits in Fn. 952 aufgeführte Zitat aus BVerfG, Beschluss v. 14.09.1989 (2 BvR 1062/87), BVerfGE 80, 367 (373) sowie BVerfG, Beschluss v. 31.01.1973 (2 BvR 454/71), BVerfGE 34, 238 (245). 956 Vgl. insoweit nur mit ausgewählten Bsp. aus der Rspr. des EuGH Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 109.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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2. Berücksichtigung der fehlenden Verhältnismäßigkeit als weiteres ordre-public-immanentes Mindestkriterium Anknüpfend an die soeben erhobene Differenzierung zwischen unbedingt geltenden und beschränkbaren Grundrechten stellt sich unweigerlich die Frage nach der Ausgestaltung einer solchen Beschränkung letzterer, die sich ausweislich des Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh auch am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu messen lassen hat und damit zur Durchsetzung eines legitimen Ziels geeignet, erforderlich und i. e. S. verhältnismäßig sein muss. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist zum einen als allgemeiner Rechtsgrundsatz957 gem. Art. 6 Abs. 3 EUV und nunmehr gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 4 EUV auch geschriebener Bestandteil des primären Unionsrechts und nimmt insoweit an dessen normenhierarchischer Vorrangwirkung teil. Zum anderen ist die Unverhältnismäßigkeit (!) eines Grundrechtseingriffs durch die Übergabe resp. das Verfahren im Ausstellungsstaat aus teleologischen Erwägungen Mindestanforderung zur Initiierung des durch den auslieferungsrelevanten ordre public garantierten Elementarschutzes.958 Demnach kann die Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls durch einen 957

EuGH, Testa et al. v. Bundesanstalt für Arbeit, Urteil v. 19.06.1980 (Rs. 41, 121 und 796/79; ECLI:EU:C:1980:163), Slg. 1980, 1981 (1997); EuGH, Hermann Schräder v. Hauptzollamt Gronau, Urteil v. 11.07.1989 (Rs. 265/87; ECLI:EU:C:1989:303), Slg. 1989, 2263 (2269); EuGH, Hubert Wachauf v. Bundesamt für Ernährung und Landwirtschaft, Urteil v. 13.07.1989 (Rs. 5/88; ECLI:EU:C:1989:321), Slg. 1989, 2609 (2639); EuGH, Hauptzollamt Hamburg-Jonas v. Wünsche Handelsgesellschaft, Urteil v. 16.10.1991 (C-26/90;  ECLI:EU:C:1991:389), Slg. 1991, I-4972 (4976 f.); EuGH GK, Schecke GbR und Eifert v. Land Hessen, Urteil v. 09.11.2010 (C-92/09 und C-93/09; ECLI:EU:C:2010:662), Slg. 2010, I-11117 (11149); Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 35; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Kadelbach (2015), Art. 5 EUV Rn.  49; Calliess / Ruffert / Calliess (2016), Art. 5 EUV Rn. 43; Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 33; Bieber et al., Die Europäische Union (2016), § 3 Rn. 34; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 177; Schweitzer / Dederer, Staatsrecht III (2016), Rn. 586; Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 112; Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 198 ff. S. zur Grundlage des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im deutschen Äquivalent Miettinen, Criminal Law and Policy in the EU (2013), S. 115. S. zur Prüfung durch den Vollstreckungsstaat Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (206). 958 S. zur Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als Bestandteil des ordre public auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 884 (mit Einzelfallbeispielen), wonach der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz explizit Teil des „internationalen und europäischen ordre public“ sei; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 71. Zur Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit als Maxime des Rechtshilfeverkehrs etwa auch Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 92 ff. m. w. N. zur Rspr. des schweizerischen BGer; Popp, Grundzüge (2001), Rn. 391, 404, der bei fehlender expliziter Verhältnismäßigkeitsklausel im einschlägigen Übereinkommen von einer solchen als „stillschweigend mitenthaltenen zwingenden Rahmenbedingung“ der Rechtshilfe ausgeht; für eine grds. rechtshilfehindernde Berücksichtigung des innerstaatlich verankerten (Art.  20 Abs.  3  GG) Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auch Ambos / König / Rackow / Güntge (2015), 4. Hauptteil Rn. 14. S. auch zum Zusammenhang von ordre public und Verhältnis­ mäßigkeitsgrundsatz im IPR Völker, Dogmatik des ordre public (1998), S. 153 ff.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

grundrechtlich aufgeladenen ordre-public-Einwand abgewehrt werden, wenn die Vollstreckung zumindest einen unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff zur Folge hätte. Denn allein die unverhältnismäßige Beschränkung von Individualrechtssätzen vermag den negativen Normbefehl des ordre public auszulösen. Eine – die Wahrung etwaiger weiterer gesetzlicher Vorgaben vorausgesetzt – verhältnismäßige Restriktion kann nämlich im Ergebnis eine Rechtsbeeinträchtigung schon nicht begründen: Soweit ein Eingriff (noch) als verhältnismäßig zu beurteilen ist, kann er im Ergebnis nicht in einem unerträglichen Widerspruch zur durch den ordre-public-Einwand absichernden Rechtsordnung führen, würde im Fall eines verhältnismäßigen Eingriffs doch mehr als das unbedingt erforderlich zu Wahrende (ordre public!) garantiert.959 Wenn überdies ein Mitgliedstaat innerhalb der eigenen Rechtsordnung die normative Entscheidung für einen noch verhältnismäßigen Eingriff im Einzelfall trifft, kann er sie nicht als den Elementarvorbehalt seiner Rechtsordnung verletzend gegenüber fremden Staaten vorbringen. Auch das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum EuHbG I im Zusammenhang mit der Garantie des Art. 16 Abs. 2 S. 2 GG betont, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Bestandteil des für Auslieferungen „nicht verfügbaren […] Rechtsstaatsprinzips“ anzusehen sei.960 Und auch ein unverhältnismäßiger Eingriff kann nur als Indiz für einen Anwendungsfall eines ordre-public-Verstoßes gewertet werden, da sich in der Bewertung der Unverhältnismäßigkeit eines Eingriffs nicht unbedingt ein Verstoß gegen wesentliche Wertvorstellungen einer Rechtsordnung ausdrücken muss. Sie betrifft vielmehr die Feststellung einer rechtlich unzulässigen „Relation von Belastungen und verfolgtem Ziel“961 und damit das Ergebnis eines Abwägungsvorgangs, während die Wesensgehaltsgarantie eine solche Abwägung bereits im Grundsatz ausschließt.962 Es besteht damit – wie der Wortlaut des Art. 52 Abs. 1 GRCh ebenfalls deutlich erkennen lässt – ein normativ-qualitativer Unterschied zwischen einem bloß unverhältnismäßigen Eingriff auf der einen und einer Beeinträchtigung des

959

Für ein argumentum a maiore ad minus auch Jüngst, Der europäische verfahrensrechtliche ordre public (2013), S. 77. 960 BVerfG, Urteil v. 18.07.2005 (2 BvR 2236/04), BVerfGE 113, 273 (299). S. dazu auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1015. 961 Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 28. 962 Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 17 Rn. 29. S. in diesem Zusammenhang auch zum absoluten und relativen (und damit auf eine Abwägung hinauslaufenden) Verständnis der grundgesetzlichen Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 Abs. 2 GG) Sodan / Sodan (2018), Art. 19 Rn. 10 m. w. N., der i. Erg. zutr. die Wesensgehaltsgarantie von der Verhältnismäßigkeitsprüfung abgrenzt („Substanz und Relation sind voneinander zu trennen.“ [Herv. i. O.]); Hömig / Wolff / Antoni (2018), Art. 19 Rn. 6 („[…] darf die Wesensgehaltsgarantie nicht durch Abwägungen iS der Verhältnismäßigkeitsprüfung relativiert werden, da es sich dabei um eine absolute (letzte) Grenze handelt […].“). S. auch bereits Dürig, AöR 81 (1956), 117 (146), der zutr. betont, dass sich die Erschöpfung des Art. 19 Abs. 2 GG in einer Verhältnismäßigkeitsprüfung als eine „unrichtige Verengung des Art. 19 II“ darstelle.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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Wesensgehalts eines Grundrechts auf der anderen Seite,963 die sich auch auf die Aktivierung eines möglichen ordre-public-Einwands auswirkt: Ein unverhältnismäßiger Grundrechtseingriff erreicht eo ipso nicht zwingend die Schwelle zum für den ordre-public-Einwand erforderlichen Maß der absoluten Unvereinbarkeit. Er kann jedoch eine ordre-public-basierte Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls begründen, soweit in ihm zugleich eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts gesehen werden kann. Hiervon zu unterscheiden ist die Frage, ob die Ausstellung oder Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls selbst einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu unterwerfen ist,964 der hier aber nicht weiter nachgegangen werden soll, die aber mit der vorliegenden Untersuchung nach den soeben getroffenen Feststellungen insoweit eine teilweise Übereinstimmung aufweist, als dass eine unverhältnismäßige Vollstreckung zugleich einen Anwendungsfall der ordre-public-basierten Voll 963

So auch Meyer / Borowsky (2014), Art. 52 Rn. 23, der insoweit von einer „relativen und absoluten Theorie“ spricht („Mehrwert“, „eigenständige Bedeutung und absolute Geltung“ der Wesensgehaltsgarantie sowie: „Die Garantie schafft mithin eine absolut geschützte Kernzone und geht nicht etwa im Verhältnismäßigkeitsprinzip auf.“ [Herv. i. O.]); Meyer / Hölscheidt / Schwerdtfeger (2019), Art. 52 Rn. 34; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 52 Rn. 28; Calliess / Ruffert / Kingreen (2016), Art. 52 GRCh Rn. 64, beide unter Hinweis auf EuGH GK, Sky Österreich GmbH v. Österreichischer Rundfunk, Urteil v. 22.01.2013 (C-283/11; ECLI:​ EU:C:2013:28), Tz. 48 ff. sowie EuGH GK, Digital Rights Ireland Ltd v. Minister for Communications, Marine and Natural Resources et al., Urteil v. 08.04.2014 (C-293/12 und C-594/12; ECLI:EU:C:2014:238), Tz. 39 f., in denen der EuGH jeweils zumindest die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs und die mögliche Beeinträchtigung der Wesensgehaltsgarantie getrennt voneinander prüft; ebenso EuGH, Geoffrey Léger v. Ministre des Affaires sociales, Urteil v. 29.04.2015 (C-528/13; ECLI:EU:C:2015:288), Tz. 52 ff.; Hilf, § 164 Die Schranken der EU-Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), § 164 Rn. 62; Streinz, ZÖR 68 (2013), 663 (672), der jedoch keine große praktische Bedeutung sieht; krit. bzgl. einer Surrogation der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung auch Stern, § 85 Der Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 837 (856). Nach Frenz lasse sich das Verhältnis zwischen Wesensgehaltsgarantie und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht an Art. 52 Abs. 1 GRCh ablesen (Frenz, Europäische Grundrechte [2009], Rn. 671 m. w. N.). S. auch entspr. für Art. 19 Abs. 2 GG und seinem Verhältnis zum Übermaßverbot Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 78; Ipsen, Staatsrecht II (2018), Rn. 212 m. w. N., der zutr. betont, dass im Fall einer Identität von Verhältnismäßigkeit und Wesentlichkeitsvorbehalt dieser nicht über die Vorgabe einer nicht mehr als erforderlichen Einschränkung hinausginge. Keine eigenständige Bedeutung der Wesensgehaltsgarantie sieht hingegen Ehlers, § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 109, wonach diese in der Verhältnismäßigkeitsprüfung aufgehe. 964 S. ausf. dazu nur Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 128 ff.; Böse, The pilot project: The principle of proportionality and the EAW, in: Albers et al., Towards a common evaluation framework to assess mutual trust in the field of EU judicial cooperation in criminal matters (2013), S. 81 ff.; für eine „generelle Verhältnis­ mäßigkeitsprüfung iRd Ausstellung und Vollstreckung eines EuHb“ auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 71 m. w. N. in Fn. 420 (Herv. i. O.); ein eindeutiges Bekenntnis zur Verhältnismäßigkeit eines EuHb ist auch im Handbuch mit Hinweisen zur Ausstellung und Vollstreckung eines EuHb enthalten, s. C(2017) 6389 final v. 28.09.2017, S. 19 f.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

streckungsverweigerung ausmachen kann. Die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls steht dabei im Spannungsverhältnis zum Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung und läuft damit auf die Frage der Begrenzung dessen allein durch Verhältnismäßigkeitserwägungen hinaus.965 Soeben wurde jedoch festgestellt, dass die Unverhältnismäßigkeit eines Grundrechtseingriffs durch die Vollstreckung einen unabdingbaren Ausschnitt des auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands darstellt, ohne diesen jedoch zugleich für sich genommen auslösen zu können. Der ordre-public-Einwand selbst geht dabei aufgrund seiner Natur als Wesentlichkeitsvorbehalt zugunsten absolut unverträglicher Verstöße mit elementaren Grundentscheidungen einer Rechtsordnung dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung zwingend vor und kann demnach in keinem Spannungsverhältnis zu diesem stehen. Die Feststellung, dass der individualrechtlich aufgeladene ordre public kraft normenhierarchischen Vorrangs der GRCh der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb als Ausdruck der gegenseitigen Anerkennung vorgeht,966 hilft insoweit allerdings nicht weiter. Denn es stellt sich hierbei nämlich die weitere – noch zu klärende967 – Frage, ob nicht der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung – und seine ebenfalls grundlegende Bedeutung für die Zusammenarbeit unter den Mitgliedstaaten der EU vermag hierfür ein Indiz zu geben – nicht auch zum Inhalt des unionsrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalts zu zählen ist. 3. Der Kernbestand der mitgliedstaatlichen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV als Bestandteil des unionsrechtlichen ordre public Bereits oben wurde ausgeführt, dass die nationale Identität der Mitgliedstaaten nicht nur durch diese selbst, sondern auch durch das primäre Unionsrecht garantiert wird (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV). Dieser Vorbehalt findet seine Grundlage in der Ausgestaltung der Unionsrechtsordnung als Verbund souveräner Mitgliedstaaten, der „Herren der Verträge.“968 Da dieser verbleibende Souveränitätskern den entscheidenden Unterschied zwischen der supranational ausgestalteten EU und einer bundesstaatlichen Rechtsordnung darstellt, in der die Gliedstaaten von einer übergeordneten Rechtsordnung völlig durchdrungen werden, ist die verbleibende nationale Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV charakteristisches Merkmal des

965 S. weiterführend dazu Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnis­ mäßigkeit (2018), S. 345 ff.; zur Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung durch das Verhältnismäßigkeitskriterium im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts auch Fichera  / ​ Herlin-Karnell, EPL 19 (2013), 759 (763 ff.). 966 S. dazu bereits S. 164 ff. 967 S. dazu noch S. 273 ff. 968 S. bereits Fn. 24 mit Haupttext.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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Unionsrechts,969 was nicht zuletzt im Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 2 EUV deutlich zum Ausdruck kommt. Wenn aber die Union den Umfang ihrer eigenen Hoheitsgewalt von der Übertragung durch die Mitgliedstaaten ableitet und sämtliche nicht übertragenen Kompetenzen wegen der begrenzten Einzelermächtigung i. S. e. negativen Zuständigkeitsdefinition bei den Mitgliedstaaten verbleiben (Art. 4 Abs. 1, Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV),970 ist die nationale Identität der Mitgliedstaaten fortwährender und unverzichtbarer Bestandteil der Unionsrechtsordnung und damit dessen eigenen Wesentlichkeitsvorbehalts.971 Dieses Unverzichtbarkeitskriterium entfällt freilich nur auf den die Verfassungsidentität ausmachenden abwägungsfesten Bestandteil der nationalen Identität, da hinsichtlich des überschießenden Schutzbereichs des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV entsprechend oben getroffener Abgrenzung972 eine Abwägung mit anderen Rechtspositionen möglich bleibt und eine solche Abwägungslösung der Zuordnung zum mit absolutem Geltungsvorrang ausgestatteten ordre public entgegensteht.973 Der echte europäische – also sich aus der Unionsrechtsordnung speisende – ordre-public-Einwand nimmt damit selbst einen Vorbehalt zugunsten elementarer, rein 969 Vgl. BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (347) („Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legiti­mation bleiben.“ [Herv. i. O.]); Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 57 („Im Gegensatz zur staatlichen Einheitsbildung zielt das Recht der europäischen Integration nicht auf eine [innerstaatliche] Homogenität der Lebensverhältnisse, sondern auf die institutionelle Weiterentwicklung des gemeinsamen Handelns unter gleichzeitiger Absicherung der Vielfalt unterschiedlicher mitgliedstaatlicher [Verfassungs-]Kulturen.“); Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 77 („Sie [die Mitgliedstaaten] bestimmen bis zur Übertragung auch der verfassungsgebenden Gewalt auf die Union über die Grundlagen und Wesenszüge […] der Europäischen Einigung.“); Doehring, Die nationale „Identität“ der Mitgliedstaaten, in: Due / Lutter / Schwarze, FS Everling (1995), S. 263 (271) („Beide Auffassungen, diejenige von der Überordnung des Gemeinschaftsrechts über das nationale Recht und diejenige von der Gleichordnung der beiden Rechtsordnungen, mögen in sich schlüssig sein; keine aber ist so zwingend, daß die andere als rechtliche Konstruktion auszuschalten ist.“). 970 Calliess / Ruffert / Calliess (2016), Art. 5 EUV Rn. 7; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn. 173, mit weiteren Ausführungen zur Kompetenzabgrenzung (165 ff.). 971 Explizit nennt Franzius u. a. die nationale Identität als „Verbundprinzip“ (Pechstein / ​ Nowak / Häde / Franzius [2017], Art. 4 EUV Rn. 2 ff., der zudem betont, dass Art. 4 EUV „die Funktion einer Negation der Staatlichkeit der Union“ zukomme [Herv. i. O.]); Walter, Z ­ aöRV 72 (2012), 177 (180) („Verbundkonzept“); s. auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Bast (68. Lfg. 2019), Art. 5 EUV Rn. 1 ff. („Art. 5 EUV als Grundlagenbestimmung über die föderale Kompetenzordnung“); von einer der „wichtigsten Funktionen der europäischen Kompetenzordnung“ sprechen im Zusammenhang mit der begrenzten Einzelermächtigung auch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 3. Zur Bewertung der nationalen Identität als „äußerste Grenze für ein Tätigwerden der Union“ auch Calliess / Ruffert / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 14. 972 S. dazu bereits Fn. 736–738 mit Haupttext. 973 S. zur Unvereinbarkeit einer Abwägung mit der Wesensgehaltsgarantie bereits Fn. 962 mit Haupttext.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

nationaler (!) Wertentscheidungen974 seiner Mitgliedstaaten – für das Beispiel der Bundesrepublik gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG – in sich auf. In der Konsequenz ist ein gegenüber anderen Unionsmitgliedstaaten anzuführender nationaler ordre public international der Mitgliedstaaten als Teil des europäischen ordre public selbst anzusehen. a) Schnittmenge des europäischen ordre public und des nationalen ordre public international Ebenfalls wurde in inhaltlicher Hinsicht bereits herausgearbeitet, dass den mitgliedstaatlichen Gerichten die Aufgabe zukommt, den Begriff der nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV inhaltlich auszufüllen.975 Damit liegt auf den ersten Blick jedoch ein gravierendes Folgeproblem auf der Hand: Der Umsetzung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten kann dann mit der Konsequenz einer Rechtszersplitterung ein zur Zeit 28-facher ordre-public-Einwand unterschied­ lichen Inhalts entgegengehalten werden. Dieses Problem stellt sich allerdings unter Berücksichtigung zweier Aspekte als ein Scheinproblem heraus: Zum einen führt bereits die Begrenzung der Anwendung eines nationalstaatlichen ordre public international auf strikte Ausnahmefälle zu einer weitestgehenden Entschärfung dieser drohenden uneinheitlichen Rechtsanwendung. Zum anderen ist es gerade die Konsequenz eines aus souveränen Staaten zusammengeschlossenen Verbundes, dass diese ihren unbedingten Identitätskern auch gegenüber gemeinschaftsrecht­ lichen Einwirkungen verschließen, um ihre Stellung als „Herren der Verträge“ zu behaupten und nicht – wie im Fall einer bundesstaatlichen Ordnung – von einer übergeordneten Rechtsordnung völlig durchdrungen zu werden. Wenn aber der Begriff der nationalen Identität, die in den „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommt (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV), der Definitionsgewalt dieser Mitgliedstaaten unterliegt, hat dies die Feststellung einer gemeinsamen Schnittmenge des unionsrechtlichen mit den nationalen Wesentlichkeitsvorbehalten der Mitgliedstaaten zur Folge: Denn soweit jener den Schutz der nationalen Identität zum Gegenstand hat, korrespondiert er mit dem nationalen ordre public international unter den Mitgliedstaaten der Union. Für die Inhaltsbestimmung am Beispiel der Bundesrepublik trifft dies auf die indisponible Verfassungsidentität gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG zu,976 ohne mit der (weiter gefassten) nationalen Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV identisch sein zu müssen.977 Dies führt zu dem Ergebnis, dass in Fällen der 974 S. auch Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 67 („although they obviously cannot invoke every difference between the legal systems of the issuing state their own legal systems for the purpose of refusing recognition“). 975 S. dazu die Nachweise in Fn. 723. 976 S. zur Interpretation der Verfassungsidentitätskontrolle als Ausdruck einer ordre public-­ gestützten Vollstreckungsverweigerung bereits S. 194 ff. 977 Vgl. dazu o. Fn. 728 mit Haupttext.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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drohenden Verletzung der Verfassungsidentität durch die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls die ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung nicht nur – wie bereits festgestellt978 – unter unmittelbarer Berufung auf Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG, sondern ebenfalls unter Verweis auf Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zulässig ist.979 Eine inhaltliche Konkretisierung der Verfassungsidentität erfolgt deshalb im nachfolgenden Abschnitt zum Inhalt des „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public.980 b) Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit als nicht ordre-public-fähiges fundamentales Strukturprinzip der Europäischen Union Ungeachtet der Interpretationsgewalt der Mitgliedstaaten über den Inhalt ihrer jeweiligen nationalen Identität ist diese nach wie vor ein primärrechtlicher und damit autonomer Begriff des Unionsrechts und hat sich demnach in dessen Rahmen zu bewegen.981 Von der Frage, wie ein Mitgliedstaat seine nationale Identität i. S. d. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV definiert, ist also diejenige zu trennen, inwieweit der mitgliedstaatliche ordre public international von der Unionsrechtsordnung gegenüber ihrer eigenen Durchsetzung, scil. der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls, als zulässig angesehen wird. Damit verbunden ist wiederum die Frage, welche inhaltlichen Rahmenbedingungen die Unionsrechtsordnung selbst für die Bestimmung der nationalen Identität absteckt. Insofern ist darauf hinzuweisen, dass die EU mangels eigener Vollstreckungsorgane auf die Kooperation durch die Mitgliedstaaten angewiesen ist. Wie aber bereits der Grundsatz der Vertragsakzessorietät und die Ausgestaltung des Art. 4 Abs. 3 EUV als subsidiäre Generalklausel belegen,982 soll der bereits dargestellte Loyalitätsgrundsatz in isolierter Form ein nicht zu unterschreitendes Mindestmaß an Kooperation gewährleisten, um die Handlungsfähigkeit der Union abzusichern.983 Damit kommt auch dem Loyalitätsgrundsatz als dem „Elementargebot“ für das Verhältnis von Union und Mitgliedstaaten untereinander grundlegende Bedeutung zu,984 da die Union als 978

S. bereits S. 198 ff. A. A. insoweit Bock, ZIS 2019, 298 (306 f.), die insoweit betont, dass nationale Belange i. R. e. „europäischen ordre public“ keine Berücksichtigung fänden und die die Etablierung eines solchen „europäischen ordre public“ als akzeptable Alternative zur „Handreichungsdoktrin“ des BVerfG ansieht. 980 S. dazu noch S. 296 ff. 981 S. bereits die Nachweise in Fn. 718. 982 S. dazu bereits o. Fn. 801 und 806 mit Haupttext. 983 S. bereits Fn. 830 mit Haupttext. 984 Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 9 Rn. 74 („einer der tragenden Pfeiler der supranationalen Rechtsordnung“); Calliess / Ruffert / Kahl / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 3 m. w. N. („fundamentales Verfassungsstrukturprinzip der EU“); Grabitz / Hilf / Nettesheim / ​ Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 1 („Grundprinzip“); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 62 („unabdingbares Element“); Mortelmans, MJ 5 (1998), 67 ff., der im Zusammenhang mit Art. 5 EGV von einer Norm spricht, die „is the basis for some of 979

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Staatenverbund notwendig nur in der rechtlichen Beziehung zu den Mitgliedstaaten existiert. Diese Feststellung beantwortet jedoch noch nicht die Frage nach der möglichen Zuordnung des Loyalitätsgrundsatzes selbst zum europäischen ordre public, da allein der Charakter als fundamentaler Rechtsgrundsatz und seine mögliche selbstständige Justiziabilität985 noch keine Aussage über eine etwaige absolute Vorrangwirkung trifft. Allein die positive Beantwortung der vorgenannten Frage ist Voraussetzung für eine Einschränkung des bereits festgestellten ordre-public-​ Inhalts zugunsten des europäischen Grundrechtsschutzes auf der einen sowie dem Kernbestand der mitgliedstaatlichen Identität auf der anderen Seite durch das Kooperationsgebot des Art. 4 Abs. 3 EUV. Ihre Bejahung würde meines Erachtens auf eine eindeutige Konsequenz hinauslaufen: Das Gebot der loyalen Zusammenarbeit führte zu einer ordre-public-internen Wechselwirkung zwischen dem Recht der Mitgliedstaaten, die Durchsetzung des Unionsrechts unter Berufung auf ihre „grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen“ als unionsrechtlich zulässig zu verweigern und der wiederum mitgliedstaatlichen Pflicht, dem Unionsrecht – und damit der gegenseitigen Anerkennung – kraft Loyalitätspflicht zur Durchsetzung zu verhelfen.986 Wenn das Loyalitätsgebot aufgrund seiner unstreitig wesentlichen Bedeutung für die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten untereinander und mit den Unionsorganen nun zum europäischen ordre public gezählt würde, wäre damit freilich kein weiterer Ertrag gewonnen. Denn wie bereits ausgeführt, bedarf es zur Bedienung des Loyalitätsgrundsatzes nach dem Prinzip der Vertragsakzessorietät eines Anknüpfungspunktes im Unionsvertragsrecht.987 Damit fragt das Kooperationsgebot in Art. 4 Abs. 3 EUV in Form der subsidiären Generalklausel vielmehr selbst nach einem Bezugspunkt, der wiederum gegebenenfalls einer unbedingten Durchsetzung durch einen Wesentlichkeitsvorbehalt unterliegt. Es kann insoweit the most fundamental and far reaching principles of Community law“ (67) und betont, dass „[n]evertheless, like other fundamental principles of Community law, […] Article 5 EC retains an important safety net function.“ (87); vgl. auch Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 91 („Konstitutionalisierung der Verbundidee“); ähnl. Zuleeg, NJW 2000, 2846 f., der das Loyalitätsprinzip als einen der föderativen Grundsätze des Unionsrechts ansieht, die dazu bestimmt seien, „einen europäischen Zentralstaat abzuwehren“; Satzger, § 1 Institutionelle Grundlagen, in: Sieber / Satzger / von Heintschel-Heinegg, Europäisches Strafrecht (2014), Rn. 42, wonach das Loyalitätsprinzip über den Grundsatz pacta sunt servanda hinausgehe; ebenso Streinz, Europarecht (2019), Rn. 170; Haratsch / Koenig / Pechstein, Europarecht (2018), Rn.  209; Mayer / Stöger / Haider (232. Lfg. 2019), Art. 4 Abs. 3 EUV Rn. 1; Unruh, EuR 2002, 41 (61) („als rechtlich, und nicht nur politisch verbindlicher Grundsatz justiziabel“); vage Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 20 (über ein bloßes politisches Bekenntnis hinausgehende Bedeutung als „Ordnungsprinzip“). 985 Ausf. dazu Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 20 ff. m. w. N. 986 Zur Rspr. des EuGH, wonach die Mitgliedstaaten die Pflicht treffe, „alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten“, s. bereits die Nachweise in Fn. 809. 987 S. dazu bereits Fn. 806 mit Haupttext.

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aber nie um eine isolierte Berufung auf den Loyalitätsgrundsatz gehen. Die überwiegende Auffassung geht denn auch davon aus, dass dem Loyalitätsgebot im Grundsatz keine unmittelbare Wirkung zukomme.988 Dann bedarf es der Berufung auf Art. 4 Abs. 3 EUV jedoch bereits deshalb schon nicht mehr, weil ein etwaiger ordre-public-fähiger Rechtssatz des Unionsvertragsrechts selbst mit unbedingter Vorrangwirkung ausgestattet ist. Es fehlt dem Loyalitätsgrundsatz somit an der für den ordre public charakterisierenden unbedingten Vorrangwirkung, weil sich vorab in abstrakter Weise nicht bestimmen lässt, welche beteiligten Institutionen welchen inwieweit zu schützenden Rechtssatz geltend machen.989 Die Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit kann auch bereits deshalb nicht zum europäischen ordre public gezählt werden, da diese im Gegenseitigkeitsverhältnis gilt990 und damit ein mit einem absoluten Vorrang ausgestatteten Wesentlichkeitsvorbehalt unverträglicher Zustand der Unsicherheit einherginge, könnten sich im konkreten Einzelfall doch die beteiligten Institutionen im wechselseitigen Verhältnis auf Art. 4 Abs. 3 EUV berufen. Damit lässt sich aber gerade keine eindeutige Aussage dahingehend treffen, welche Rechtsposition der am konkreten Zusammenarbeitsverhältnis beteiligten Körperschaften sich durchsetzt, scil. ob sich die von den Mitgliedstaaten angeführten Aspekte gegenüber den Belangen des Unionsrechts durchsetzen oder umgekehrt. Die Loyalitätspflicht kann insoweit im Einzelfall zu einer Abwägungslösung führen,991 die aber – wie i. R. d. Verhältnismäßigkeit bereits 988 S. etwa GA Karl Roemer, Walt Wilhelm et al. v. Bundeskartellamt, Schlussantrag v. 19.12.1968 (Rs. 14/68;  ECLI:EU:C:1968:55), Slg. 1969, 17 (27) („Zum anderen ist Artikel 5 [EWG-Vertrag] auch nicht geeignet, […] ein prozessuales Gebot auszudrücken. Wie die Bundesregierung mit Recht betont, fehlt es dafür an einer wesentlichen Voraussetzung, nämlich der unmittelbaren Anwendbarkeit der Vorschrift.“); Schwarze / Hatje (2019), Art. 4 EUV Rn.  29 f.; Calliess / Ruffert / Kahl / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 45; von der Groeben / ​ Schwarze / Hatje / Obwexer (2015), Art. 4 EUV Rn. 79 ff., jeweils m. w. N.; Lenz / Borchardt / L enz (2012), Art.  4 EUV Rn.  24; Pechstein / Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 95; Gra­ bitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 72; vgl. auch EuGH, Staat der Nederlanden v. Ten Kate et al., Urteil v. 20.10.2005 (C-511/03; ECLI:EU:C:2005:625), Slg. 2005, I-8998 (9010) („Der in diesem Artikel [Art. 10 EGV] zum Ausdruck kommende Grundsatz verpflichtet die Mitgliedstaaten und die Organe zu gegenseitiger loyaler Zusammenarbeit […], lässt sich aber nicht so auslegen, dass ein Mitgliedstaat gegenüber einem seiner Bürger verpflichtet sein könnte, eine Nichtigkeits- oder eine Untätigkeitsklage zu erheben.“). 989 S. zur erforderlichen Konkretisierung etwa Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 44 ff.; Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 22. 990 S. dazu bereits o. Fn. 837 f. mit Haupttext. 991 S. explizit zu einer solchen Abwägung Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schill / Krenn (68. Lfg. 2019), Art. 4 EUV Rn. 65 („Abwägung der im Konflikt stehenden Prinzipien, Rechtspositionen und Interessen“); Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 63 („[…] geht es dabei um eine Rücksichtnahmepflicht, die einen Ausgleich von EU- und mitgliedstaatlichen Interessen und Zielen unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert.“); wohl auch Streinz, Europarecht (2019), Rn. 172, wonach im Zusammenhang mit dem Loyalitätsgrundsatz auch seitens der Union gegenüber den Mitgliedstaaten der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten sei; für eine Begrenzung der Loyalitätspflicht durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auch Hatje, Loyalität als Rechtsprinzip in der EU (2001), S. 82 ff.

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herausgestellt992 – eben aufgrund des zwingenden Vorrangs des ordre public mit diesem unvereinbar ist. Das Gebot loyaler Zusammenarbeit gem. Art. 4 Abs. 3 EUV ist zwar für das Unionsrecht „lebensnotwendig“993 und damit auf den ersten Blick denklogischer Bestandteil des unionalen Wesentlichkeitsvorbehalts, kann jedoch aufgrund seiner Unbestimmtheit isoliert betrachtet diesem nicht zugeordnet werden. c) Grundsätzlicher Ausschluss des souveränitätsorientierten ordre public international im Verhältnis der EU-Mitgliedstaaten zueinander Soweit schließlich bislang eine individualschützende Ausrichtung des ordre-­ public-Einwands betrachtet wurde, stellt sich schließlich auch im Verhältnis der Unionsmitgliedstaaten zueinander die Frage nach seiner souveränitätsorientierten Besetzung. An dieser Stelle gewinnt nunmehr die bereits getroffene994 abstrakte Differenzierung hinsichtlich des Anwendungsbereichs des ordre-public-Einwands in individualschützende wie souveränitätswahrende Belange an Bedeutung. Führt man sich nämlich vor dem Hintergrund der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 2 EUV das Erfordernis der Hoheitsrechtsübertragung auf die Union vor Augen, gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten einen ordre-­ public-Einwand solange – und in diesem Zusammenhang lässt sich durchaus die Methodik der „Solange“-Rechtsprechung des BVerfG fruchtbar machen995 – nicht erheben dürfen, soweit dieser zur Absicherung souveränitätswahrender Rechtspositionen dient, deren Durchsetzung infolge der Übertragung von Hoheitsrechten in den Kompetenzbereich der Union fällt. Die Durchsetzung des Unionsrechts würde insoweit entgegen der Kompetenzzuweisung gem. Art. 4 Abs. 1 EUV996 und der Pflicht zur effektiven Unionsrechtsdurchsetzung gem. Art. 4 Abs. 3 EUV behindert. Es kann an dieser Stelle dahin stehen, ob mit der Übertragung der Kompetenzen auf die Union eine tatsächliche Schmälerung der mitgliedstaatlichen Souveränität einhergeht, oder ob diese lediglich auf eine Souveränitätsausübung verzichten.997 Es kann hier mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass die Be 992

S. zur Unvereinbarkeit einer Abwägung mit der Wesensgehaltsgarantie bereits Fn. 962 mit Haupttext. 993 Wille, Die Pflicht der Organe der Europäischen Gemeinschaft zur loyalen Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten (2003), S. 128. 994 S. bereits S. 249 ff. 995 S. zur „Solange“-Rechtsprechung bereits Fn. 560–563 und 646, jeweils mit Haupttext. 996 S. zur negativen Zuständigkeitsabgrenzung durch den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bereits Fn. 970 mit Haupttext. 997 S. dazu nur EuGH, van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Urteil v. 05.02.1963 (Rs. 26/62; ECLI:EU:C:1963:1), Slg. 1963, 7 (21 f.) („Aus alledem ist zu schließen, dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben.“ [Herv. d. Verf.]); EuGH, Costa v. E. N. E. L., Urteil v. 15.07.1964 (Rs. 6/64; ECLI:​ EU:C:1964:66), Slg. 1964, 1259 (1269) („Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für

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dienung eines Wesentlichkeitsvorbehalts allein zur Wahrung der nationalen Souveränität in Bereichen, in denen der Ausschnitt der konkret betroffenen Souveränität auf die Union übertragen ist, der supranationalen Ausgestaltung der Union und der begrenzten Einzelermächtigung gem. Art. 5 Abs. 2 EUV, die in diesem Fall zugunsten der Union wirkt,998 zuwiderliefe. Denn wenn und soweit die Mitgliedstaaten durch eine entsprechende Ermächtigung der Einwirkung auf ihre Rechtsordnung durch eine abgeleitete „unionale Hoheitsgewalt“999 zustimmen, wäre es widersinnig, dem einen souveränitätsorientierten nationalen Wesentlichkeits­ vorbehalt entgegenhalten zu können, der eben diese Einwirkung durch die von den Mitgliedstaaten akzeptierte Hoheitsrechtsübertragung unterbinden soll.1000 Ein entsprechendes Ergebnis ergibt sich jedoch auch in Bereichen der inter­ gouvernementalen Zusammenarbeit der Unionsmitgliedstaaten ohne Einfluss durch supranationale Unionsrechtsakte. Soweit ein Staat sich nämlich an dieser Form der Zusammenarbeit beteiligt, kann es ihm nicht gewährt werden, sich zugleich in sich widersprechender Weise auf seine nationale Souveränität zu berufen.

unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“ [Herv. d. Verf.]); EuGH, Gutachten 1/91, Gutachten v. 14.12.1991 (1/91; ECLI:EU:C:1991:490), Slg. 1991, I-6084 (6102) („Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes haben die Gemeinschaftsverträge eine neue Rechtsordnung geschaffen, zu deren Gunsten die Staaten in immer weiteren Bereichen ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben […].“ [Herv. d. Verf.]). Von einer „Zurücknahme des Herrschaftsanspruchs“ der Bundesrepublik spricht auch das BVerfG, s. etwa BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (374) m. w. N. zur früheren Rspr. 998 S. zur Begründungs- und Begrenzungsfunktion des Grundsatzes begrenzter Einzelermächtigung etwa Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 11 Rn. 3 f. 999 S. auch Schwarze / Lienbacher (2019), Art. 5 EUV Rn. 8 („eigene, begrenzte hoheitliche Befugnisse der Union“); Maunz / Dürig / Scholz (88. Lfg. 2019), Art. 23 Rn. 28 („Hoheitsgewalt der Europäischen Union“). Von einer „gemeinsamen Souveränität […] auf höherer Ebene in einer übernationalen Gemeinschaft verschmolzen“ spricht auch Borchardt, Die rechtlichen Grundlagen der EU (2015), Rn. 71; ähnl. Bieber et al., Die Europäische Union (2019), § 2 Rn. 54, wonach der Souveränitätsbegriff „weder auf die Mitgliedstaaten noch auf die Union zu[trifft], so dass man hier jedenfalls von einer geteilten Souveränität ausgehen muss.“ Gegen eine eigenständige Souveränität der Union aber ausdrücklich noch Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2016), § 4 Rn. 22. 1000 I.  Erg. betonen auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 4 Rn. 34, dass souveränitätsbezogene Auslieferungshindernisse in der Union zurückgedrängt seien und den Vertragszielen in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts widersprächen („herkömmliche Versagungsgründe als Anachronismus“). S. auch BT-Drs. 9/1338, S. 93 f., wonach Souveränitätserwägungen deshalb nicht zum (nationalen) ordre public (international) zu zählen seien, weil deren Beeinträchtigung nicht der Zulässigkeitsprüfung unterfalle, vielmehr Gegenstand der ermessensbasierten Bewilligungsentscheidung sei und sich „ihre Einbeziehung […] schon wegen der Vielfalt möglicher Fallgestaltungen [verbietet].“

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Insoweit lässt sich auf den Gedanken des bereits angesprochenen1001 Notbremseverfahrens der Art. 82 f. AEUV Bezug nehmen: Wenn ein Mitgliedstaat einen EU-Rechtsakt als mit den grundlegenden Aspekten seiner Strafrechtsordnung nicht vereinbar ansieht, kann er die Bindungswirkung des Rechtsaktes für sich verhindern. I. R. d. intergouvernementalen Zusammenarbeit sollte ein Mitgliedstaat dann ebenfalls auf diese „Alles-oder-Nichts“-Lösung1002 verwiesen sein und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit auf Ebene der Übereinkunft nicht befürworten und i. R. d. praktischen Umsetzung sodann durch eine Berufung auf seine souveränen Interessen blockieren können. Zur Begründung lässt sich in dem Bereich der intergouvernementalen Zusammenarbeit auf den allgemeinen völkerrechtlichen Rechtsgrundsatz des venire contra factum proprium verweisen, der es einem Vertragsstaat unter Vertrauensschutzgesichtspunkten verbietet, sich zu seiner eigenen Beitrittsund Verpflichtungserklärung in Widerspruch zu setzen.1003 Dieser Grundsatz kann im Wege eines argumentum a fortiori als Bestandteil des Loyalitätsgrundsatzes als Generalklausel zur Gewährleistung eines Mindestmaßes an Kooperation im Unionsraum angesehen werden.1004 Denn wenn den Mitgliedstaaten eine aktive Pflicht dahingehend auferlegt wird, der Verwirklichung der vertraglichen Ziele des Unionsrechts nicht entgegenzuwirken, muss dieses Vereitelungsverbot erst recht für ein widersprüchliches Verhalten eines Mitgliedstaates gelten. Insoweit lässt sich beispielsweise für die Zusammenarbeit auf Grundlage des Schengen-Rechts eine Zurückdrängung der Möglichkeit souveränitätsorientierter Einwände zur Wahrung nationaler fiskalischer Interessen etwa in Form des Steueraufkommens erkennen, da deren Verteidigung im Interesse einer effektiven transnationalen Verbrechensbekämpfung der gemeinschaftlichen Zusammenarbeit unterstellt ist. So trifft Art. 63 SDÜ eine fiskalische Straftaten betreffende Regelung und verpflichtet die Vertragsstaaten zur Auslieferung, wenn eine in Art. 50

1001

S. dazu bereits S. 213 ff. Zur Möglichkeit eines Mitgliedstaates, im sog. „Notbremseverfahren“ durch einseitige Erklärung den Erlass eines unionsweit gültigen Rechtsaktes verhindern zu können, s. bereits o. Fn. 773 und 777, jeweils mit Haupttext. 1003 Im Völkerrecht ist insoweit auch vom estoppel-Grundsatz die Rede. S. dazu etwa Vitzthum / Proelß, Völkerrecht (2019), 1. Abschn. Rn. 149; von Arnauld, Völkerrecht (2019), Rn. 267 m. w. N.; Herdegen, Völkerrecht (2019), § 17 Rn. 3. 1004 Calliess / Ruffert / Kahl / Puttler (2016), Art. 4 EUV Rn. 101 („Verbot des Rechtsmissbrauchs bzw. des venire contra factum proprium als besonders starke Störungen der Unionstätigkeit“ [Herv. i. O.]) m. w. N. in Fn. 517; Streinz / Streinz (2018), Art. 4 EUV Rn. 68; Pechstein / ​ Nowak / Häde / Franzius (2017), Art. 4 EUV Rn. 109. S. hierzu bereits die EuGH-Rspr. in Fn. 809 (jeweils: „keine Maßnahmen ergreifen oder aufrechterhalten, welche die praktische Wirksamkeit des Vertrages beeinträchtigen könnten“); vgl. auch EuGH, Kommission v. Deutschland, Urteil v. 02.02.1989 (Rs. 94/87; ECLI:EU:C:1989:46), Slg. 1989, 189 (192) („redlich zusammenwirken, um Schwierigkeiten […] zu überwinden“); so auch Geiger / Khan / Kotzur / Geiger (2017), Art. 4 EUV Rn. 10; s. auch Lenz / Borchardt / Lenz (2012), Art. 4 EUV Rn. 11 (Art. 4 EUV als „spezielle, auf die Bedürfnisse der EU zugeschnittene Fassung der Regel ‚pacta sunt servanda‘“). 1002

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SDÜ aufgeführte strafbare Handlung als Auslieferungstat in Rede steht.1005 Und auch im Fall des Auslieferungseinwands im Bereich militärischer Delikte ist nicht zuletzt im Hinblick auf Art. VII Nr. 5 a) NATO-TS ein Erstarken der Rechtshilfeverpflichtung zu verzeichnen. Die konkrete Zusammenarbeit unter den EUMitgliedstaaten ist dabei in der jüngsten Vergangenheit intensiviert worden: Bereits 2016 hat die Kommission i. R. d. „Europäischen Verteidigungs-Aktionsplans“ erklärt, „sich in einem bisher nicht gekannten Ausmaß in der Verteidigung zu engagieren, um die Mitgliedstaaten zu unterstützen. Sie wird die der EU zur Verfügung stehenden Instrumente einschließlich EU-Finanzierungen und das volle Potenzial der Verträge ausschöpfen mit dem Ziel, eine Verteidigungsunion aufzubauen.“1006 Ebenfalls ist im Weißbuch zur Zukunft Europas vom 01.03.2017 von einer „enge­ re[n] Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Verteidigung“ die Rede.1007 Darüber hinaus hat die Mehrzahl der Mitgliedstaaten1008 mit einer Erklärung vom 13.11.2017 das Gründungsdokument zur Errichtung einer Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO)1009 unterzeichnet und damit den Grundstein für eine weitere intensivere Zusammenarbeit in Bereichen der gemeinsamen Truppen­ausbildung und operativen Einsatzbereitschaft gelegt.1010 Wenn sich die beteiligten Mitgliedstaaten jedoch verbindlich zu einer inten­ siveren Kooperation verpflichten, muss es ihnen – ungeachtet der ihnen weiterhin

1005 Art. 50 Abs. 1 SDÜ benennt als solche „Verstöße gegen die gesetzlichen Bestimmungen und Vorschriften im Bereich der Verbrauchsteuern, der Mehrwertsteuern und des Zolls“, und damit Taten im Zusammenhang mit sog. indirekten Steuern, d. h. Abgaben, bei denen im Gegensatz zu den direkten Steuern (z. B. Einkommenssteuer) die steuerschuldende Person nicht mit der wirtschaftlich belasteten resp. steuertragenden identisch ist (vgl. Melchior, Steuerarten, in: Alber et al., Beck’sches Steuer- und Bilanzrechtslexikon [49. Edition 2019], Rn. 9; Fehrenbacher, Steuerrecht [2020], § 1 Rn. 46 f. mit Bezügen zur europarechtlichen Harmonisierung). 1006 COM(2016), 950 final v. 30.11.2016, S. 23. 1007 COM(2017), 2025 final v. 01.03.2017, S. 8. S. ebenfalls den Bericht der Kommission für ein Arbeitsprogramm 2018 (COM(2017), 650 final v. 24.10.2017, S. 13) („den Weg hin zu einer vollwertigen Verteidigungsunion fortzusetzen“). 1008 Diese sind Belgien, Bulgarien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, Slowenien, die Slowakei, Spanien, Schweden, die Tschechische Republik, Ungarn sowie Zypern. 1009 Permanent Structured Cooperation. 1010 S. dazu die Notification on Permanent Structured Cooperation (PESCO) to the Council and to the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy (2017), https://www.consilium.europa.eu/media/31511/171113-pesco-notification.pdf (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). Das Dokument beinhaltet eine Darstellung der Strukturprinzipien von PESCO (Annex I) („PESCO would provide opportunities for Member States to improve defence capabilities through participation in well-coordinated initiatives and concrete common projects, potentially capitalising on existing regional clusters.“) sowie eine Auflistung der 20 vereinbarten Zielvorgaben und gemeinsamen Verpflichtungen (Annex II). Der Rat hat den Beschluss am 11.12.2017 angenommen, s. den Beschluss (GASP) 2017/2315 des Rates vom 11.12.2017 über die Begründung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und über die Liste der daran teilnehmenden Mitgliedstaaten (Abl. EU L 331, 57).

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verbleibenden nationalen Souveränität1011 – verwehrt sein, diese Zusammenarbeit unter Berufung auf ihre nationale Souveränität leer laufen zu lassen. Denn es ist ihnen durch eine Teilnahme an der Zusammenarbeit ein zumindest konkludenter Verzicht auf den entsprechenden souveränitätswahrenden Gegeneinwand vorzuhalten.1012 Als Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass die (verbleibende)  mitgliedstaatliche Souveränität auch vom Schutzbereich des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV gedeckt sein kann.1013 Ein hierfür in Stellung gebrachter ordre-public-Vorbehalt darf jedoch insoweit nicht bedient werden, als dass der betroffene Bereich zur derivativen „unionalen Herrschaftsgewalt“ in Folge Hoheitsrechtsübertragung zu zählen oder von einer intensiveren intergouvernementalen Zusammenarbeit geprägt ist. Für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls hat dies zur Konsequenz, dass der europäische ordre public zwar um souveränitätsorientierte Belange der Mitgliedstaaten angereichert sein kann. Es widerspräche jedoch der Loyalitätspflicht des Art. 4 Abs. 3 EUV, diesen souveränitätsgestützten Wesentlichkeitseinwand der Vollstreckungspflicht gegenüber geltend zu machen, soweit Konstellationen betroffen sind, die im Fall des RbEuHb als Konkretisierung der gegenseitigen Anerkennung in den Kompetenzbereich des Unionsrechts fallen.1014 d) Zwischenergebnis Im Ergebnis hält das Unionsrecht damit eine Negativbegrenzung des nationalen ordre public international eines Mitgliedstaates bereit, indem es kraft Gebots loyaler Zusammenarbeit die Mitgliedstaaten verpflichtet, auf die Geltendmachung ihres souveränitätswahrenden ordre public international solange zu verzichten, wie sie dadurch die Durchsetzung des auf der Übertragung entsprechender Hoheitsrechte basierenden Unionsrechts behinderten. Damit kann sich der Kern­ bestand der mitgliedstaatlichen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV nur noch in Fällen durchsetzen, soweit sie nicht der Abwehr von Einwirkungen auf die Souveränität der Mitgliedstaaten dient, von deren Durchsetzung diese durch Übertragung von Hoheitsrechten zugunsten der Union oder im Rahmen intergouvernementaler Zusammenarbeit abgesehen haben. Damit vermag das Loyalitätsgebot den unionsrechtlich zulässigen nationalen ordre public international einzuschränken, soweit 1011 So betont die in der vorherigen Fn. in Bezug genommene Notification ausdrücklich, dass „Participation in PESCO is voluntary and leaves national sovereignty untouched.“ (Notification on Permanent Structured Cooperation [PESCO] to the Council and to the High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy [2017], https://www.consilium. europa.eu/media/31511/171113-pesco-notification.pdf [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019], Annex I). 1012 S. zur Abgrenzungsproblematik Herdegen, Völkerrecht (2019), § 17 Rn. 3 m. w. N. zur Rspr. des IGH. 1013 S. zur Gegenansicht die Nachweise in Fn. 757. 1014 S. zur Zurückdrängung der nationalen Souveränität der Unionsmitgliedstaaten i. R. d. Zusammenarbeit auf Grundlage des RbEuHb auch Fuchs, JBl 2003, 405 (406 f.).

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dieser in souveränitätswahrender Absicht in Stellung gebracht werden soll. Demgegenüber scheidet die angesprochene Wechselwirkung zwischen Loyalitätsgrundsatz und Pflicht zur Achtung der nationalen Identität zugunsten ersterer eindeutig aus, da das Loyalitätsgebot mangels isolierter Bestimmtheit auf eine mit dem ordre-public-Einwand unverträgliche Abwägungslösung angewiesen ist. 4. Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des unionsrechtlichen ordre public War bislang i. R. d. Untersuchung – und soweit ersichtlich auch in der Literatur – vom ordre-public-Vorbehalt als Einwand gegenüber der Vollstreckungspflicht aus Art. 1 Abs. 2 RbEuHb die Rede, bleibt zum Schluss dieses Abschnitts die Frage zu klären, inwieweit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung selbst zum unionsrechtlichen Wesenskern zu zählen ist. Die Antwort hierauf lässt sich im Wege einer teleologischen Betrachtung des unionsrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalts selbst ermitteln. Dieser Bestandteil würde freilich für die Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb streiten und gegenüber den bislang angeführten inhaltlichen Kriterien des ordre public als eine Art „Gegen-ordre public“ gegenüber der Vollstreckungsverweigerung wirken. a) Grundlegende Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung ist insoweit nicht nur primärrechtlich kodifiziert (Art. 67 Abs. 3 und 82 Abs. 1 AEUV) – wobei diese Tatsache allein für eine Zuordnung zum Wesensgehalt des Unionsrechts nicht ausschlaggebend sein kann –,1015 sondern als „Eckstein der justitiellen Zusammenarbeit“1016 auch unabdingbare Voraussetzung eines funktionierenden Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts.1017 Denn wie bereits ebenfalls herausgearbeitet wurde, ist es die 1015 Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 310 ff. sieht so auch zutr. in der primärrechtlichen Kodifizierung allein weder einen „Nachweis der Prinzipienqualität“ noch einen „Beleg für die Primärrechtsgeltung“ (mit einer Untersuchung zur Abgrenzung von der bloßen politischen Leitlinie). 1016 S. bereits die Nachweise in Fn. 251. 1017 S. ausf. zur Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung für einen „einheitlichen Rechtsraum“ von der Groeben / Schwarze / Wasmeier (2003), Art. 31 EUV Rn. 23 ff. (insbes. 25), der zutr. betont, dass im Fall „uneingeschränkter Geltung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung […] ein einheitlicher Rechtsraum [bestünde], in dem die Entscheidungen der nationalen Justizbehörden Gültigkeit im gesamten Unionsgebiet beanspruchen könnten.“ (Herv. i. O.); s. auch GA Pedro Cruz Villalón, I. B. v. Conseil des ministres, Schlussantrag v. 06.07.2010 (C-306/09; ECLI:EU:C:2010:404), Slg. 2010, I-10341 (10355) („gegenseitige Anerkennung als Instrument zur Stärkung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“); Satzger,

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Intention des Unionsgesetzgebers, mit der Ausrichtung der justiziellen Zusammenarbeit am Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung den Rechtshilfeverkehr unter den Mitgliedstaaten von Grund auf zu reformieren und durch Etablierung eines unionsweiten Raums verkehrsfähiger justizieller Entscheidungen die förmlichen Hindernisse und politischen Begleiterwägungen der klassischen multilateralen Zusammenarbeit zugunsten einer effektiveren unionsweiten Strafverfolgung zu überwinden. Die grundlegende Bedeutung des Anerkennungsprinzips tritt weiterhin vor allem dann deutlich zu Tage, wenn man sich seine originäre Aufgabe in der Vermeidung einer diffizilen Rechtsangleichung vor Augen führt.1018 Denn die kraft Unionsrechts angeordnete Anerkennung fremdstaatlicher justizieller Entscheidungen berührt ebenfalls die souveräne Entscheidung eines Mitgliedstaates hinsichtlich der Akklamation zum in Rede stehenden justiziellen Akt in seinem Hoheitsgebiet.1019 Dadurch wird nämlich die gegenseitige Anerkennung elementarste Grundvoraussetzung der Zusammenarbeit weiterhin souveräner, nicht im Bundesstaat aufgelöster Mitgliedstaaten. Überdies ist anzubringen, dass der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung bereits deshalb Bestandteil des Wesenskerns des Unionsrechts ist, weil er sich auf ein hinreichendes Maß gegenseitigen Vertrauens gründet1020 und dieses über das dem traditionellen Rechtshilfeverkehr immanente1021 hinausgehende Vertrauen gerade die intensivere Zusammenarbeit unter EU-Mitgliedstaaten rechtfertigt. Denn diese haben gerade durch die Überführung der justiziellen Zusammenarbeit von der bloßen intergouvernementalen Kooperation in den supranationalen Rechtsbereich des Unionsrechts den Willen

Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 24, wonach sich die justizielle Zusammenarbeit nach Maßgabe des traditionellen Auslieferungsrechts nicht für einen einheitlichen Rechtsraum eigne und die gegenseitige Anerkennung den Weg zu einem „echten Europäischen Rechtsraum“ öffne; Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 749 (784 f.) („Kernprinzip des kooperativen Ansatzes im Rahmen des RFSR“); Safferling, Internationales Strafrecht (2011), § 12 Rn. 44; Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 77 f., der die Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung als „major element of the EU primary law“ sowohl für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts als auch für die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen betont; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 1008 (im Bereich der justiziellen Zu­sammenarbeit „tonangebend“); Oppermann / Classen / Nettesheim, Europarecht (2018), § 32 Rn. 25 („Grundprämisse des RFSR im gegenseitigen Vertrauen der MSen in die Leistungs­fähigkeit des Rechts- und Gerichtssystems“); Suominen, Mutual Recognition (2011), S. 22 („The recognition of decisions […] expresses the common AFSJ.“); für eine Verankerung der gegenseitigen Anerkennung im (angestrebten) Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auch van Ballegooij, The Nature of Mutual Recognition in European Law (2015), S. 160 f., 305 f.; vgl. auch COM(2014), 144 final v. 11.03.2014, S. 3, wonach die Grundlage eines Europäischen Rechtsraums in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Anerkennung zu sehen sei. 1018 S. hierzu bereits Fn. 244 mit Haupttext. 1019 Harms / Knauss, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Heinrich / Jäger / Schünemann, FS Roxin (2011), S. 1479 (1482). 1020 Zur Grundlage der gegenseitigen Anerkennung im gegenseitigen Vertrauen s. bereits S. 84 ff. 1021 S. o. Fn. 271 mit Haupttext.

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zur verdichteten Zusammenarbeit eindeutig zum Ausdruck gebracht.1022 Dieses (angestrebte) intensive Vertrauen ist aber gerade eine Eigenheit der in der supranationalen Union verbundenen Mitgliedstaaten infolge der der Union durch die Staaten übertragenen Kompetenz, auf deren Rechtsordnungen über eine rein völkerrechtliche Verbindung hinaus einzuwirken und diese zu harmonisieren. Dass dieses Vertrauen infolge mangelnder Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur Zeit noch nicht in umfassender Weise als berechtigt angesehen werden kann,1023 hat auf die abstrakte Zuordnung der gegenseitigen Anerkennung zum unionalen Wesensgehalt zwar keinen Einfluss. Es bewirkt aber – wie wir gleich sehen werden – eine Einschränkung der berechtigten Berufung auf den ordre-public-Vorbehalt im Einzelfall. Im Ergebnis lässt sich damit auch der Anerkennungsgrundsatz selbst zum unionalen ordre public zählen.1024 Schließlich lässt sich der Unterstellung des Anerkennungsgrundsatzes unter den Schutz des ordre public auch nicht seine vermeintlich mangelnde Konkretisierung entgegenhalten. Soweit Asp in diesem Zusammenhang vorbringt, dass sich der Inhalt des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung nur aus der Zusammenschau mit anderen Werten der Union ergebe,1025 ist dem mit dem Hinweis entgegenzutreten, dass im Fall der gegenseitigen Anerkennung kein mit dem absoluten Vorrang eines ordre-public-Einwands unverträglicher Rechtszustand – wie für den Verhältnismäßigkeits- und Loyalitätsgrundsatz festgestellt – entsteht. Es kann nämlich – ungeachtet primärrechtlicher Anordnung – zum einen nur zwischen einem die gegenseitige Anerkennung rechtfertigenden Zustand hinreichender Rechtsharmonisierung und einem solchen (gegenwärtigen) differenziert werden, in dem eine solche Harmonisierung noch nicht zu verzeichnen ist. Das bedeutet aber, dass sich die von Asp vorgebrachte Wechselwirkung von gegenseitiger Anerkennung und anderen grundlegenden Prinzipien des Unionsrechts auf den zweiten Blick als nur vermeintliche darstellt. Denn eine solche Wechselwirkung würde gerade voraussetzen, dass den an der konkreten Beziehung beteiligten Rechtspositionen jeweils ein eigenständiger Nennwert verbleibt. Da sich die gegenseitige Anerkennung nach den soeben getroffenen Feststellungen aber entweder in Gänze durchsetzt oder komplett zurückzutreten hat, kann sie aufgrund dieses Exklusivitätsverhältnisses1026 nicht in eine Wechselwirkung zu anderen Rechtspositionen treten. 1022

Vgl. Monar, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in: von Bogdandy / Bast, Europäisches Verfassungsrecht (2009), S. 749 (796) („Die Säulenteilung des RFSR […] ist gleichfalls ein Ergebnis des fehlenden Willens zumindest einiger Mitgliedstaaten, sich auf eine umfassendere gemeinsame Politikgestaltung in den sensibleren Bereichen des RFSR einzulassen.“). 1023 S. insoweit zur Kritik bereits S. 84 ff. 1024 S. auch Grützner / Pötz / Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 40 („Schließlich wird mit dem europäischen ordre public der Umstand umschrieben, dass sich die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union gegenseitig anerkennen.“ 1025 Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 67 ff., der explizit ausführt, das „[t]he principle of mutual recognition will have to be balanced against other principles.“ 1026 S. bereits o. Fn. 547 mit Haupttext.

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Zum anderen streitet die gegenseitige Anerkennung trotz ihrer Neutralität1027 allein für die Anerkennung einer justiziellen Entscheidung und gerade nicht für die Verweigerung jener, weshalb ein – mit dem absoluten Geltungsvorrang eines ordre-public-Einwands ohnehin unverträglicher  – Abwägungsprozess insoweit bereits ausgeschlossen ist.1028 Sollte nun die Harmonisierung im Unionsraum ein das gegenseitige Vertrauen unter den Mitgliedstaaten tragendes Maß erreicht haben und damit eine taugliche Grundlage für eine effektive gegenseitige Anerkennung bieten, ist eine hinreichende Konkretisierung der gegenseitigen Anerkennung durch die Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb zu konstatieren. Diese würde sodann mangels ordre-public-Einwands – das Nichtvorliegen anderer Vollstreckungsverweigerungsgründe vorausgesetzt – zum unbedingten Vollstreckungsautomatismus erstarken und damit gerade nicht auf eine mit dem Wesentlichkeitsvorbehalt unverträgliche Abwägung zurückzuführen sein. Entsprechend der oben festgestellten, auf die Möglichkeit des Unionsgesetzgebers zur Harmonisierung zurückgehenden politischen Flankierung des europäischen ordre public kann also die gegenwärtige Rechtslage mit dem grundrechtswahrenden ordre-­publicEinwand gegenüber der unbedingten Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung aufgrund des bestehenden Exklusivitätsverhältnisses nicht auf einen Abwägungsprozess hinauslaufen, sondern nur im Fall einer hinreichenden Harmonisierung in eine unbedingte Anerkennungspflicht umschlagen. Im Ergebnis überzeugt es damit, in einem ersten Schritt im Grundsatz auch die gegenseitige Anerkennung aufgrund ihrer „fundamentale[n] Bedeutung, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglich[t]“,1029 als Bestandteil des 1027

S. hierzu bereits o. Fn. 289 mit Haupttext. S. zur Unvereinbarkeit einer Abwägung mit der Wesensgehaltsgarantie bereits Fn. 962 mit Haupttext. 1029 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU;  ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 36; EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU;  ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 49; EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU;  ECLI:​ EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1711). S. auch Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/53 („grundlegendes Strukturprinzip der JZS“); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 24 („grundlegende Bedeutung“); Mansel, RabelsZ 70 (2006), 651 (682) („rechtsübergreifendes Strukturprinzip“); zust. Nalewajko, Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung (2010), S. 107; Mavany, Europäische Beweisanordnung (2012), S. 29 („leitende[s] Prinzip der Rechtsentwicklung“); Klimek, Mutual Recognition (2017), S. 77 f. („mutual recognition of judicial decisions in criminal matters […] as major element of the EU primary law“); s. aber auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 27 mit Fn. 195 („bloßer Grundsatz, der eher als Optimierungserfordernis [unter Verweis auf die auf Alexy zurückgehende Differenzierung in Grundsätze und Regeln als Formen der Rechtsnormen in Fn. 195] oder ‚Soll-Vorschrift‘ denn als strikte Regel anzusehen ist“); Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 68 f., der zwar betont, dass die Abwägung der gegenseitigen Anerkennung mit anderen „principles“ im Bereich der strafjustiziellen Zusammenarbeit die besondere Grundrechtsrelevanz („burdensome for the individual“) zu berücksichtigen habe, jedoch i. Erg. dem Anerkennungsgrundsatz den Charakter als bloße Soll-Vorschrift („ought-to-follow“) zuschreibt; Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 242 ff., der den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung „mangels normativen Überschusses nicht als ‚Optimierungsgebot‘“ ansieht und diesen lediglich als „‚instrumentelles‘ Prinzip“ auffasst, „welches 1028

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absolut zu schützenden Wesentlichkeitskerns des Unionsrechts anzusehen und sie dem Schutz des europäischen ordre-public-Vorbehalts zu unterstellen. Wie wir aber sogleich ebenfalls sehen werden, ist dieser Grundsatz gewichtigen Restriktionen zu unterwerfen. b) Gegenseitige Anerkennung als im Ursprung beschränkter Bestandteil des ordre public Daran würde sich auf den ersten Blick wiederum unweigerlich die Frage nach dem Verhältnis der jeweiligen bereits herausgearbeiteten Ausprägungen des unionsrechtlichen ordre public zueinander  – namentlich die gegenseitige Anerkennung gegenüber der Pflicht zur Achtung der Unionsgrundrechte und dem Kernbestand der nationalen Identität der Mitgliedstaaten – stellen. Hierfür böte sich etwa eine Antwort wie nach der zuvor entwickelten Lösung zur Wechselwirkung mit dem Gebot zur loyalen Zusammenarbeit an. Diese Frage stellt sich hier indes nicht. Denn die Frage nach einer Abwägungslösung verbietet sich bereits aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem absoluten Geltungsvorrang des ordre ­public,1030 weshalb es nicht auf eine Abwägung, sondern allein auf den unbedingten Vorrang eines ordre-public-geschützten Rechtsguts ankommen kann. Im Fall der Kollision mehrerer dem ordre public unterstellter Rechtspositionen muss sich ein Rangordnungsverhältnis zwischen diesen ergeben, um die mit einer Abwägung einhergehenden Unsicherheiten zu vermeiden. An dieser Stelle soll zunächst das Verhältnis zur nationalen Identität der Mitgliedstaaten betrachtet werden. Insoweit führen zwei Erwägungen zu einem überzeugenden Ergebnis: Zunächst wirkt sich der Umstand aus, dass die Union einen Verbund souveräner Staaten bildet und die gegenseitige Anerkennung als Bestandteil des Unionsrechts diese Hürde des verbleibenden Souveränitätskerns nicht überwinden und den Mitgliedstaaten keine Anerkennung abverlangen kann, soweit diese deren verbleibenden Souveränitätskern berührt. Dieser Vorrang der verbleibenden Souveränität, die in der Achtung der nationalen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV zum Ausdruck kommt,1031 gegenüber der gegenseitigen Anerkennung ist ebenfalls im Unionsrecht selbst angelegt: So lässt sich dem Wortlaut des Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV eine eindeutige Achtungsverpflichtung zugunsten der nationalen Identität der Mitgliedstaaten entdann nicht mehr Legitimität beanspruchen kann als die von ihm repräsentierten Interessen der Strafverfolgung“ (247). Für eine Einordnung der gegenseitigen Anerkennung als „legal principle“ als „key source of EU’s legal system“ auch van Ballegooij, The Nature of Mutual Recognition in European Law (2015), S. 28, 354 f. mit einer weiterführenden Abgrenzung von „(general) principles“, „aims“ und „norms“ (27 ff.). S. für das gegenseitige Vertrauen insoweit auch EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777). 1030 S. zur Unvereinbarkeit einer Abwägung mit der Wesensgehaltsgarantie wiederum Fn. 962 mit Haupttext. 1031 S. bereits die Nachweise in Fn. 713.

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nehmen,1032 während die gegenseitige Anerkennung lediglich als Programmsatz der Errichtung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts verschrieben ist (Art. 67 Abs. 3 AEUV: „Die Union wirkt darauf hin, […]“).1033 Freilich hindert diese Feststellung nicht die Einordnung des Anerkennungsgrundsatzes selbst als Bestandteil des unionalen Wesentlichkeitsvorbehalts, da sich diese Frage eindeutig anhand der elementaren Bedeutung der gegenseitigen Anerkennung für den europäischen Rechtsraum beantworten lässt. An dieser Stelle kommt es vielmehr auf das Verhältnis kollidierender elementarer Bestandteile des Unionsrechts an, wobei für die Untersuchung dieser Frage die Bejahung ersterer logische Voraussetzung ist. Im Ergebnis führt die Untersuchung also dazu, dass die zu Beginn dieses Abschnitts festgestellte Zuordnung der gegenseitigen Anerkennung zum unionsrechtlichen ordre public für Fälle der Kollision mit der nationalen Identität der Mitgliedstaaten aufgrund deren Vorrangs zurückzunehmen ist.1034 c) Gegenwärtige ordre-public-interne Nachordnung der gegenseitigen Anerkennung gegenüber der individualrechtlichen Aufladung Damit kann sich die mit dem ordre-public-Einwand einhergehende absolute Vorrangstellung der gegenseitigen Anerkennung denklogisch nur noch gegenüber den Unionsgrundrechten auswirken. Und auch die Frage nach dem Verhältnis zu den Unionsgrundrechten lässt sich eindeutig klären: Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist von einer ordre-public-internen Abstufung dahingehend auszugehen, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gegenüber der Pflicht zur Grund-

1032 S. zur Differenzierung des aus Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV resultierenden Achtungsgebots als absolute Vorrangregel zugunsten der nationalen Verfassungsidentität auf der einen und als Anknüpfungspunkt für eine Abwägungslösung zugunsten der darüber hinaus gehenden nationalen Identität auf der anderen Seite bereits S. 198 ff. 1033 Schwarze / Herrnfeld (2019), Art. 67 AEUV Rn. 16 („programmatisches Ziel“); Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 60 f. („politische Programmatik“); von der Groeben / Schwarze / Hatje / Breitenmoser / Weyeneth (2015), Art. 67 AEUV Rn. 127 (Anerkennung als Oberbegriff, der „nicht unmittelbar anwendbar bzw anrufbar“ sei und aus dem sich „kein direkt anwendbarer Grundsatz, dass strafrechtliche Entscheidungen eines Mitgliedstaates ‚automatisch‘ in einem anderen Mitgliedstaat zu vollziehen wären“, ergebe [Herv. i. O.]); Harms / Knauss, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, in: Heinrich / Jäger / Schünemann, FS Roxin (2011), S. 1479 (1484 f.), wonach durch die primärrechtliche Kodifizierung des Anerkennungsgrundsatzes „[d]ie Zielrichtung der zukünftigen Rechtsetzung […] vorgezeichnet [ist].“; Gleß, ZStW 116 (2004), 353 (Gegenseitige Anerkennung als „Weiche“ für den „Zug in Richtung eines europäischen Strafrechts bzw. Strafprozessrechts“). S. auch Braum, GA 2005, 681 (683), der die gegenseitige Anerkennung bereits in Bezug auf die Bildung von Nationalstaaten als „Rechtsmodus zur Bildung politischer Einheit“ ansieht (697). 1034 I. Erg. aber für eine Abwägung von gegenseitiger Anerkennung und nationaler Identität explizit Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 67.

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rechtswahrung eine zur Zeit nachgeordnete Position einzunehmen hat:1035 Würde nämlich der gegenseitigen Anerkennung ihre auch nur teilweise Durchsetzung im Wege einer Wechselwirkung mit der Pflicht zur Achtung der Unionsgrundrechte zugestanden, würde damit das bereits herausgearbeitete fehlende, aber zwingend erforderliche „quasi-bundesstaatliche“ Niveau an Verfahrensrechten1036 umgangen und die gegenseitige Anerkennung dem harmonisierten Zustand wiederum durch die Hintertür vorgreifen.1037 Dass eben eine effektive gegenseitige Anerkennung von einer tatsächlichen Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen abhängt, vermag an dem Ergebnis der Zuordnung des Anerkennungsgrundsatzes zum unionsrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalt zwar in erster Linie nichts zu ändern. Doch sind die Konsequenzen einer fehlenden Harmonisierung insoweit zu berücksichtigen, als dass die gegenseitige Anerkennung als Ausprägung des europäischen ordre public solange zurückzustehen hat, wie eine tatsächliche Harmonisierung nicht zu verzeichnen ist. Damit lässt sich, was die Frage der Ausübung eines ordre-public-Einwands anbelangt, eine Parallele zum jeweils tatsächlichen Harmonisierungsfortschritt im Unionsrechtsraum ausmachen: Solange es nämlich im konkreten Einzelfall an einer die gegenseitige Anerkennung und das ihr zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen rechtfertigende Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen mangelt, ist die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen und mit ihr eine unbedingte Pflicht zur Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht nur nicht gerechtfertigt; es ist darüber hinaus auch die Geltendmachung eines europäischen ordre-public-Einwands gegenüber dem Überstellungsersuchen aus grundrechtlicher Sicht zwingend geboten. d) Gegenseitige Anerkennung als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des ordre public Allerdings wird auch insoweit der dynamische Charakter des ordre public deutlich: Sobald ein „quasi-bundesstaatliches“ Niveau an Verfahrensrechten die gegenseitige Anerkennung trägt, entfällt das Bedürfnis nach einer Blockade durch einen individualschützenden Wesentlichkeitsvorbehalt.1038 Sodann erstarkt der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung – gleichsam einer dem Privatrecht entlehnten An 1035 Für einen Vorrang eines grundrechtlich aufgeladenen ordre public i. Erg. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 60; ähnl. Böse, Gegenseitige Anerkennung unter Lissabon, in: Ambos, Europäisches Strafrecht post-Lissabon (2011), S. 57 (60) („Vorbehalte zur Sicherung der Grundrechte […] unverzichtbar“). I. Erg. keinen Konflikt zwischen gegenseitiger Anerkennung und Individualrechten sieht van Ballegooij, The Nature of Mutual Recognition in European Law (2015), S. 308 f. S. auch bereits die Nachweise in Fn. 849. 1036 S. zum Begriff bereits Fn. 281. 1037 S. dazu bereits Fn. 291 mit Haupttext. 1038 S. zum dynamischen Charakter des ordre public im Verhältnis zur gegenseitigen Aner­ kennung auch Satzger, EuClR 8 (2018), 317 (330 f.); ders., NJECL 10 (2019), 44 (55) („flexi­ble ‚outlet‘“).

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wartschaft1039 – zu einem ordre-public-fähigen Inhalt und darf eine Überstellung gem. Art. 1 Abs. 2 RbEuHb dann nicht mehr unter Hinweis auf einen individualschützenden ordre public verweigert werden. Stattdessen kann der ordre-­publicEinwand selbst in Repräsentation des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung eine unbedingte Vollstreckung des konkreten Europäischen Haftbefehls erfordern. Wie im Fall der privatrechtlichen Anwartschaft steht auch hier dem Ausstellungsstaat des Europäischen Haftbefehls eine Anwartschaftsposition zu – namentlich das im Grundsatz vom ordre public getragene Recht, vom Vollstreckungsstaat die unbedingte Exekution des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls und damit den Zugriff auf eine Person als Ausfluss seines souveränen Strafverfolgungsinteresses verlangen zu dürfen. Diese Anreicherung des unionsrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalts erstarkt jedoch erst im Zeitpunkt hinreichender Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zum vollgültigen ordre-public-Einwand. Damit ist indes eine entscheidende Voraussetzung einer subjektiven Anwartschaft in Person des Anordnungsstaates erfüllt: Es kommt insoweit zwar auf die Anreicherung des anwartschaftsbezogenen Tatbestandes durch den Unionsgesetzgeber in Form einer hinreichenden Harmonisierung an. Die Anwartschaft ist aber in dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung als Rechtsprinzip1040 bereits normativ angelegt1041 und bezieht sich auf den von der gegenseitigen Anerkennung angestrebten normativen Erfolg – nämlich die Erfüllung der unbedingten Vollstreckungspflicht im durch die vorgesehenen obligatorischen und fakultativen Verweigerungsgründe abgesteckten Rahmen.1042 Damit ist aber auch zugleich das Konkurrenzverhältnis zwischen der Aktivierung des Wesentlichkeitsvorbehalts zugunsten der gegen­ seitigen Anerkennung auf der einen und in grundrechtswahrender Absicht auf der anderen Seite angesprochen: Beide schließen sich aufgrund des Exklusivitätsverhältnisses gegenseitig aus und stehen in einem politischen Abhängigkeitsverhältnis vom tatsächlichen Harmonisierungsgrad im Unionsraum. In harmonisierten Rechtsbereichen wird der ordre-public-Einwand somit für den Anordnungsstaat relevant. Dieser darf unter Verweis auf die ordre-public-gestützte gebotene gegenseitige Anerkennung berechtigterweise die unbedingte und einem Automatismus unterliegende Vollstreckung eines in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls

1039 Würdinger definiert als Anwartschaft Fälle, „in denen die in einer Norm ausgesprochenen Befugnisse zwar noch nicht zum subjektiven Recht einer Person geworden sind, in denen aber doch schon ein Teil des bedingten Tatbestandes sich in einer Person verwirklicht hat.“ (Würdinger, Die privatrechtliche Anwartschaft als Rechtsbegriff [1928], S. 43). 1040 Vgl. hierzu bereits Fn. 1029 mit Haupttext. 1041 S. zur Abgrenzung insoweit auch Würdinger, Die privatrechtliche Anwartschaft als Rechtsbegriff (1928), S. 44, der betont, dass „[a]ll jene Hoffnungen und Aussichten, deren Existenz nicht durch das Vorhandensein einer Rechtsordnung bedingt ist, […] keine Anwartschaften [sind].“ 1042 S. wiederum Würdinger, Die privatrechtliche Anwartschaft als Rechtsbegriff (1928), S. 47, wonach die Anwartschaft „nur innerhalb ein und derselben Norm bestehen kann; d. h. die Anwartschaft richtet sich immer nur auf jenes Recht, das von der Norm gewährt wird, die jeweils Grundlage der Anwartschaft ist.“

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erwarten.1043 Ist eine hinreichende Harmonisierung hingegen noch nicht festzustellen, streitet der ordre-public-Einwand bis zum Erreichen eines „quasi-bundesstaatlichen“ Niveaus für den Vollstreckungsstaat, der die Überstellung aus wiederum ordre-public-gestützten individualrechtlichen Erwägungen zu verweigern berechtigt ist. Darin zeigt sich zuletzt aber auch ein entscheidender Unterschied zum privatrechtlichen Anwartschaftsrecht. Denn bis zur ausreichenden, die gegenseitige Anerkennung rechtfertigenden Harmonisierung kann sich der Ausstellungsstaat nicht auf den ordre-public-Einwand zugunsten des Anerkennungsgrundsatzes berufen. Ihm steht damit gerade kein „wesensgleiches Minus zum Vollrecht“1044 und damit keine eigenständige Rechtsposition1045 hinsichtlich eines zukünftigen ordre-public-Einwands zu. Die gegenwärtige Rechtslage erlaubt eben nur eine Durchsetzung des individualrechtlich aufgeladenen ordre public und schlägt der Wesentlichkeitsgrundsatz erst im Zeitpunkt der ausreichenden Harmonisierung unmittelbar zugunsten der gegenseitigen Anerkennung um.1046 Das Zugeständnis an den Anordnungsstaat erschöpft sich damit allein in einer vom politischen Willen des Unionsgesetzgebers abhängigen Anwartschaft, da die hinreichende Harmonisierung unmittelbar zum Erstarken der gegenseitigen Anerkennung zur ordre-public-fähigen Rechtsposition und damit zur Umkehr des bestehenden Konkurrenzverhältnisses zum individualschützenden Wesentlichkeitsvorbehalt führt. e) Zwischenergebnis Im Ergebnis ist somit der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung in abstrakter Weise als Bestandteil des unionsrechtlichen ordre public anzusehen.1047 Er kann sich jedoch einerseits nicht dem Kernbestand der nationalen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV gegenüber durchsetzen und bedarf andererseits zu seiner inhaltlichen Aktivierung im Übrigen der Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber in Form einer hinreichenden Harmonisierung derjenigen Rechtsbereiche, die von 1043

S. zur Darstellung eines solchen Szenarios eines Vollstreckungsautomatismus bei uneingeschränkter Gültigkeit der gegenseitigen Anerkennung von der Groeben / Schwarze / Wasmeier (2003), Art. 31 EUV Rn. 25. S. weiterführend zum Begriff des Automatismus i. R. d. gegenseitigen Anerkennung Kloska, Prinzip der gegenseitigen Anerkennung im Europäischen Strafrecht (2016), S. 281 ff. 1044 Staudinger-BGB / Berg (1956), § 929 Rn. 28c; BGH, Urteil v. 24.06.1958 (VIII ZR 205/57), BGHZ 28, 16 (21); s. auch BGH, Urteil v. 02.02.1984 (IX ZR 8/83), NJW 1984, 1184 (1185) („Vorstufe zum Eigentum“); s. auch bereits Schwister, JW 1933, 1857 (Anwartschaftsrecht als „das in der Entwicklung zum Vollrecht begriffene […] Teilrecht“). Weiterführend zur umstr. Einordnung im Privatrecht etwa Vieweg / Werner, Sachenrecht (2018), § 11 Rn. 36 m. w. N. 1045 Vgl. zur eigenständigen Rechtsposition des Anwartschaftsinhabers BGH, Urteil v. 02.02.1984 (IX ZR 8/83), NJW 1984, 1184 (1185); Lüke, Sachenrecht (2018), Rn. 562; Vieweg / Werner, Sachenrecht (2018), § 11 Rn. 34. 1046 S. explizit für ein Exklusivitätsverhältnis von „full non-recognition“ und „mutual recognition“ auch Asp, The procedural criminal law cooperation of the EU (2016), S. 67. 1047 So auch Grützner / Pötz / Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 40.

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einer konkreten Anerkennungspflicht tangiert werden. Der europäische Wesentlichkeitsvorbehalt ist damit – was den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung angeht – insoweit normativ geprägt, als dass dem Unionsgesetzgeber die Aufgabe zukommt, durch hinreichende Harmonisierungsmaßnahmen eine gegenseitige Anerkennung zu legitimieren und den ordre-public-Einwand zugunsten der Anerkennungspflicht mit Leben zu füllen. Bis dahin ist dem Anordnungsstaat eine Berufung auf den ordre-public-Einwand unter Hinweis auf den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung verwehrt. 5. Ergebnis Als Ergebnis lässt sich damit zunächst festhalten, dass zum Inhalt des echten europäischen ordre public –– jedes absolut gewährleistete Grundrecht der GRCh, –– der Wesensgehalt eines jeden beschränkbaren Grundrechts der GRCh, –– der abwägungsfeste Kernbestand der nationalen Identität der Mitgliedstaaten sowie –– der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zu zählen ist und eine Beeinträchtigung der vorgenannten Inhalte – mit Ausnahme der gegenseitigen Anerkennung  – grundsätzlich zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls berechtigt. Was den Grundsatz gegenseitiger Anerkennung betrifft, zählt dieser zwar ebenfalls zum unionsrechtlichen Wesentlichkeitsvorbehalt, berechtigt jedoch zum einen erst ab dem Zeitpunkt positiv festzustellender Harmonisierung zur Bedienung und ist bis dahin als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des ordre public anzusehen. Zum anderen verpflichtet er als ein „Gegen-ordre public“ in den Grenzen der Art. 3, 4, 4a und 5 RbEuHb zur unbedingten Vollstreckung, statt deren Verweigerung.

II. Der Inhalt des europäisierten nationalen ordre public international Da sämtliche Mitgliedstaaten der EU zugleich Vertragsstaaten des Europarats sind, ist dessen Recht ebenfalls bei der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zu berücksichtigen. Da die Arbeit i. R. d. Europarats aber zugleich Gegenstand völkervertraglicher Vereinbarung ist, können in Betracht kommende Rechtspositionen infolge der Inkorporation durch ein Bundesgesetz (Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG) nur als Bestandteil des europäisierten nationalen ordre public international Berücksichtigung finden. Es stellt sich dabei also die Frage nach der Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls wegen etwaiger Beeinträchtigungen von Gewährleistungen der EMRK, die – wie bereits festgestellt – keine unmittelbare Rechtsquelle innerhalb des Unionsrechts darstellt.

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Ungeachtet der ebenfalls fundamentalen Bedeutung der EMRK1048 liegt es in Anbetracht des auf Ausnahmefälle beschränkten negativen Normbefehls des ordre public aber auch auf der Hand, dass nicht alle Konventionsgarantien dessen absoluten Vorrang teilen.1049 Wie im Zusammenhang mit der Untersuchung der Gewährleistungen der GRCh bereits geschehen,1050 stellt sich auch hier die Frage nach einer rechtsaktinternen Abstufung der Schutzintensität und ihrer Auswirkung auf die Beantwortung der Frage nach der absoluten Vorrangwirkung einzelner Gewährleistungen. Denn da ein ordre-public-Einwand immer auf eine bestimmte Rechtsordnung bezogen ist, kann sich die Zugehörigkeit einzelner Rechtssätze zu jenem ausschließlich aus dieser allein ergeben. Im Fall der EMRK tritt allerdings ein weiteres Problem auf den Plan: Wegen der Gleichrangigkeit völkerrechtlicher 1048

S. bereits die Nachweise in Fn. 41. Grützner / Pötz / Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 48 („Es besteht kein Grundsatz des Inhalts, dass eine Auslieferung nur statthaft ist, wenn der ersuchende Staat sämtliche Garantien der MRK in vollem Umfang beachtet“ [Herv. i. O.]). Wie hier i. Erg. auch Heimgartner, Auslieferungsrecht (2002), S. 32 f., der „lediglich die drohende, nicht mit der EMRK zu vereinbarende Behandlung von einer gewissen Schwere zu einer Unzulässigkeit der Auslieferung führen“ lassen will, zur Begründung jedoch nicht überzeugend ausführt, dass die Abhängigkeit des „Verfahren[s] im ersuchenden Staat [von] sämtlichen Bestimmungen der innerhalb dieser Region vorausgesetzten Normen“ „einer Oktroyierung europäischer Werte gleich [käme]“, was bereits deshalb auf Bedenken stößt, weil es ja gerade Zweck der EMRK wie jeder überstaatlichen Grundrechtsordnung ist, einen grundrechtlichen Mindeststandard im Verbund der Vertragsstaaten zu etablieren. A. A. aber Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 133 („Gegenüber diesen anderen an die EMRK gebundenen Staaten kann und muss die Bundesrepublik bei der Entscheidung über Auslieferungsersuchen auf den EMRK-Gewährleistungen in vollem Umfang beharren.“); Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 2 Rn. 3; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 91. S. auch Häberle, EuGRZ 1991, 261 (264 f.), wonach der EGMR einen „ordre public européen“ geschaffen habe, „in dem die europäische Rechts- und Verfassungsgemeinschaft ihren kollektiven Ausdruck gefunden hat […].“. Vgl. für die Rspr. des schweizer. Bundesgerichts etwa BGer, Urteil v. 16.04.1996, BGE 122 II 140 (142) („[…] à des procédures pénales qui ne garantiraient pas à la personne poursuivie un standard minimal de protection correspondant à celui offert par le droit des Etats démocratiques, défini en particulier par la Convention européenne des droits de l’homme, ou qui se heurteraient à des normes généralement reconnues comme appartenant à l’ordre public international […].“); BGer, Urteil v. 01.07.1987, BGE 113 Ib 257 (273) („Ces restrictions ont pour but d’éviter que la Confédération ne participe, par sa coopération internationale, au déroulement de procédures répressives qui ne garantissent pas à la personne poursuivie un standard minimum correspondant à celui offert par le droit des Etats démocratiques et défini en particulier par la Convention européenne des droits de l’homme, ou qui se heurteraient à l’ordre public international […].“), jeweils m. w. N. Für eine „prinzipielle“ Anwendung der EMRK „in vollem Umfang“ in Fällen, in denen die Verletzung nach erfolgter Auslieferung durch den ersuchenden Staat erfolgt, auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 108 ff. (121 ff.), der sich zur Begründung auf die „Folgenbezogenheit“ der Konventionsgarantien, d. h. die fortwirkende Verantwortung des ersuchten Staates für die Gewährleistung der Garantien im ersuchenden Staat beruft (115 f.) und zugleich anhand des Schutzbereichs und Schrankenregimes diejenigen Fälle herausfiltern will, „in denen so schwere Rechtsbeeinträchtigungen aus dem Vollzug der Auslieferung resultieren würden, daß er unzulässig wird.“ (126), wobei die Gewährleistungen der Art. 6 und 7 EMRK nur über den „‚Menschenwürdegehalt‘ des Art. 3 EMRK“ heranzuziehen seien. 1050 S. dazu bereits S. 253 ff. 1049

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Verträge1051 bedarf es zunächst der positiven Feststellung, dass die Gewährleistungen der EMRK den Vorgaben des völkervertraglichen1052 primären Unionsrechts – in concreto der gegenseitigen Anerkennung – vorgehen. Eine ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung kann sich damit nur im Fall der positiven Beantwortung zweier Fragen ergeben: 1. Geht die EMRK dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung prinzipiell vor? 2. Enthält die EMRK Gewährleistungen, denen ein absoluter Vorrang zugeschrieben werden kann? 1. Vorrang der Gewährleistungen der EMRK vor dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung Art. 53 EMRK sieht vor, dass die „Konvention […] nicht so auszulegen [ist], als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.“ Die Vorschrift bietet damit den normativen Anknüpfungspunkt für das Verhältnis des Grundrechtsschutzes auf Ebene des Europarats und dem durch das Unionsrecht gewährleisteten und schreibt im Zuge dessen das durch die EMRK gewährleistete Schutzniveau als Mindeststandard im (die EU umfassenden) Rechtsraum des Europarats vor.1053 Auf das Verhältnis des unionalen und des konventionsgebotenen Grundrechtsschutzes in diesem „europäischen Mehrebenensystem“1054 zueinander kann hier bereits aus

1051 S. zur Gleichrangigkeit völkerrechtlicher Verträge, insbes. unter Berücksichtigung der EMRK, bereits S. 244 f. S. zum Fall fehlender kollisionsregelnder Vorschriften im Bereich des Auslieferungsrechts auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 107, der unter Verweis auf Zuleeg betont, dass es bei Fehlen von Kollisionsnormen keine rechtliche Lösung gebe und es auf die politische Entscheidung des ersuchten Staates ankomme, welcher vertraglichen Pflicht er nachkomme. 1052 Hobe, Europarecht (2017), Rn. 127; s. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / Jacqué (2015), Art. 1 EUV Rn. 18 („Die Rechtsnachfolge [der EU] beschränkte sich folglich auf die Übernahme der völkerrechtlichen Verträge.“); Herdegen, Europarecht (2019), § 5 Rn. 1 (Die EU als „auf der Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages errichtetes Gebilde“); s. zur völkervertraglichen Einordnung der Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften auch Grabitz / Hilf / Nettesheim / Nettesheim (68. Lfg. 2019), Art. 1 EUV Rn. 12; Streinz, Europarecht (2019), Rn. 87. 1053 EuGH Plenum, Gutachten 2/13, Gutachten v. 18.12.2014 (2/13; ECLI:EU:C:2014:2454), JZ 2015, 773 (777); Schabas, ECHR (2015), S. 902 („a kind of ‚savings clause‘“); Frowein / Peukert / Frowein (2009), Art.  53; Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / Renger (2017), Art. 53 Rn. 1; Lindner, EuR 2007, 160 (167) („Art. 53 EMRK […] als Geltungserhaltungsklausel“). 1054 Lindner, EuR 2007, 160 m. w. N. in Fn. 1. S. weiterführend dazu etwa Sauer, Grundrechtskollisionsrecht für das europäische Mehrebenensystem, in: Matz-Lück / Hong, Grundrechte und Grundfreiheiten (2011), S. 1 (12 ff.); Kraus, Kapitel 3: Grundrechtsschutz in der EU, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn.  3 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 1 ff.; Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 97 ff.; Swoboda, ZIS 2018, 276 (280 ff.), jeweils m. w. N.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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Platzgründen und muss im Übrigen auch nicht weiter eingegangen werden.1055 Denn die vorliegende Untersuchung hat an dieser Stelle allein die Frage nach der möglichen absoluten Vorrangwirkung etwaiger individualschützender Rechtssätze vor der Überstellungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb zum Gegenstand. Diese kann sich aus der GRCh oder – wie ich sogleich aufzeigen werde – aus der EMRK er­ geben. Wie das Verhältnis im Fall mehrerer einschlägiger Rechtssätze zueinander zu behandeln ist, hat dann aber auf das Ergebnis dieser Untersuchung – die berechtigte Vollstreckungsverweigerung wegen entgegenstehender unbedingt zu beachtender Wertungen der GRCh resp. der EMRK – keinen Einfluss mehr. Wenn die Vertragsstaaten des Europarats aber durch Art. 53 EMRK einen verbindlichen Mindeststandard festgelegt haben, können sie diesen als Unionsmitgliedstaaten nicht unter Verweis auf die gegenseitige Anerkennung unterlaufen. Vielmehr besteht – auch hierauf wurde bereits eingegangen – die völkervertragliche Verantwortung der Konventionsstaaten auch bei der Durchführung des Unionsrechts fort.1056 Das führt im Ergebnis zu der ersten Feststellung, nämlich dass auch die Konventionsrechte im unionalen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Geltung beanspruchen und die Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung darüber hinaus dem Schutzniveau der EMRK unterliegt.1057 2. Schutz durch den ordre-public-Einwand zugunsten notstandsfester, absolut gewährleisteter und im Wesensgehalt betroffener Konventionsgarantien Mit allein dieser Feststellung kann es indes nicht sein Bewenden haben. Denn dieses Ergebnis hat nur die grundsätzliche Anwendbarkeit der Konventionsgarantien im der gegenseitigen Anerkennung unterliegenden Unionsraum zur Folge1058 und trifft noch keine Aussage darüber, ob etwaige Konventionsrechte eventuell mit dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung in einen Abwägungsprozess aufzunehmen sind und der Eingriff in jene möglicherweise zu rechtfertigen ist. Eine darüber hinausgehende unbedingte – scil. den negativen Normbefehl des ordre public tragende – Anwendbarkeit einzelner Konventionsgarantien kann sich sodann nur aus der Konvention selbst ergeben. Insoweit ist entsprechend der Untersuchung der 1055 S. zur Inkorporation des Schutzbereichs- und Schrankenregimes der EMRK in die GRCh durch deren Art. 52 Abs. 3 S. 1 bereits Fn. 460 mit Haupttext. 1056 S. bereits o. Fn. 471 mit Haupttext. 1057 Ausf. dazu auch Schallmoser, Europäischer Haftbefehl und Grundrechte (2012), S. 105 ff., die sich auch ohne formalen Beitritt der EU zur EMRK für eine Bindung des Unionsgesetzgebers an die EMRK ausspricht (129). Nach Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (210) weicht die Rspr. des EGMR insoweit von der des EuGH ab, indem ersterer die gegenseitige Anerkennung nicht zum Kernbereich der EMRK zähle („This would have been the option preferred by the ECtHR, which does not recognise the principle of mutual recognition as being at the heart of echr law.“). 1058 Zur grundsätzlichen Anwendbarkeit von Grundrechten als Auslieferungsgegenrechte s. bereits S. 65 ff.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Chartagarantien in einem ersten Schritt festzuhalten, dass nur unverhältnis­mäßige Eingriffe den ordre-public-Einwand auszulösen geeignet sind. In diesem Zusammenhang wird der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwar auch als elementarer Bestandteil des Konventionsrechts bewertet;1059 die fehlende Verhältnismäßigkeit einer Konventionsverletzung vermag jedoch, da sie das Ergebnis einer Abwägungsentscheidung ist, isoliert betrachtet keine verlässliche Aussage über den Inhalt des Wesentlichkeitsvorbehalts zu liefern.1060 Weiterhin ist nach der Unterteilung in absolut gewährleistete und beschränkbare Garantien der EMRK zu fragen und ist im Zuge dessen zu konstatieren, dass die EMRK eine Art. 52 Abs. 1 GRCh entsprechende allgemeine Schrankenregelung nicht enthält und damit dem unter anderem aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten System der am jeweiligen Rechtssatz festgemachten individuellen Bestimmung der Schutzbereichsgrenzen folgt.1061 a) Keine generelle Beschränkbarkeit der Konventionsgarantien gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK Zunächst lässt Art. 15 Abs. 1 EMRK zwar die Außerkraftsetzung einzelner Garantien im Notstandsfall1062 zu und führte damit zu einer einzelfallbezogenen gänzlichen Unanwendbarkeit der betroffenen Konventionsgarantien,1063 ist jedoch als Ausnahmeregelung im Notstandsfall nicht als generelle Schrankenbestimmung für alle Konventionsgarantien zu verstehen.1064 Dies macht bereits die Formulie 1059 McBride, Proportionality and the ECHR, in: Ellis, The principle of proportionality in the laws of Europe (1999), S. 23; Haggenmüller, Der Europäische Haftbefehl und die Verhältnismäßigkeit (2018), S. 206 m. w. N. zur Rspr. des EGMR; zur Verhältnismäßigkeitsprüfung ausf. Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 18 Rn. 14 ff. 1060 S. zur entsprechenden Feststellung i. R. d. Chartagarantien bereits S. 259 ff. 1061 S. dazu o. Fn. 937 mit Haupttext. 1062 S. zum Begriff statt vieler etwa Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Lade­ wig / Schmaltz (2017), Art. 15 Rn. 3 ff.; Schabas, ECHR (2015), S. 594 ff.; Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 15 ff.; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 2 Rn. 9 ff.; Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 3 Rn. 22, jeweils m. w. N. zur Rspr. des EGMR; Nestler, KritV 101 (2018), 24 (34 ff.). 1063 EGMR Plenum, Brannigan and McBride v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 25.05.1993 (14553/89 und 14554/89), Tz. 36 ff. („derogation under Article 15“); Schabas, ECHR (2015), S. 587 („opting out“); Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 2 Rn. 8; SSW-StPO / Satzger (2020), Art. 15 EMRK Rn. 1; LR / Esser (2012), Art. 15 EMRK Rn. 1; Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 73 („Derogationsklausel, die als Schrankenregelung im weiteren Sinne angesehen werden kann“); Nestler, KritV 101 (2018), 24 (33 mit Fn. 54); für eine Bewertung als weitergehende Rechtfertigungsmöglichkeit hingegen Karpenstein / Mayer / Johann (2015), Art. 15 Rn. 9; Uerpmann-Wittzack, § 3 Höchstpersönliche Rechte und Diskriminierungsverbot, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 61; Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/33; unklar Frowein / Peukert / Frowein (2009), Art. 15 Rn. 1 („Einschränkungsmöglichkeit“). S. auch die engl. und franz. Fassung („derogating“/„dérogeant“). 1064 Von einer „allgemeinen Schranke“ sprechen aber Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 28, Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/33 und Saffer-

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rung der Norm deutlich, die eine Abweichung nur im Notstandsfall zulässt, damit nicht genereller Natur1065 und deren Anwendung einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen ist („ jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfordert“).1066 Überdies ist Abs. 3 S. 2 eine Pflicht der Vertragsstaaten zur Mitteilung an den Generalsekretär des Europarats über den Zeitpunkt des Beginns und der Beendigung der Beeinträchtigung zu entnehmen1067 und lässt damit eine nur temporäre1068 Möglichkeit der Beschränkung, nämlich für die Dauer des Notstands, erkennen.1069 Schließlich nimmt Art. 15 Abs. 2 EMRK einzelne Garantien von dieser möglichen Derogation im Notstandsfall wieder aus (dazu sogleich), sodass eine generelle Schranken­wirkung ausgeschlossen werden kann. b) Differenzierung in beschränkbare, „bloß“ absolut gewährleistete und notstandsfeste Konventionsgarantien Art. 15 Abs. 2 EMRK macht dabei deutlich, dass die Einschränkung bestimmter Garantien auch im Notstandsfall untersagt ist und normiert damit ein „notstandsfestes Minimum.“1070 Die Konvention unterscheidet damit nicht nur zwischen absolut gewährleisteten und generell beschränkbaren Garantien,1071 sondern weiterhin ling, Internationales Strafrecht (2011), § 13 Rn. 41. S. auch rechtsvergleichend zu nationalen Verfassungen einzelner Vertragsstaaten und weiteren völkerrechtlichen Menschenrechtsübereinkommen Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 3 ff. 1065 Vgl. auch SSW-StPO / Satzger (2020), Art. 15 EMRK Rn. 2 mit einem Vergleich zu anderen historischen „Ausnahmetatbeständen“; Karpenstein / Mayer / Johann (2015), Art. 15 Rn. 1 („Rechtseingriffe, die im Rahmen der Schrankenregelungen der einzelnen Konventionsrechte ansonsten nicht gerechtfertigt werden könnten“); Kitz, Die Notstandsklausel des Art. 15 EMRK (1982), S. 36 („außergewöhnliche Krisen- oder Gefahrensituation“). 1066 EGMR Plenum, Brannigan and McBride v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 25.05.1993 (14553/89 und 14554/89), Tz. 43 („It is for the Court to rule on whether inter alia the States have gone beyond the ‚extent strictly required by the exigencies‘ of the crisis.“). S. auch LR / Esser (2012), Art. 15 EMRK Rn. 15; Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 73; Kitz, Die Notstandsklausel des Art. 15 EMRK (1982), S. 39 ff. 1067 Zu den Anforderungen s. SSW-StPO / Satzger (2020), Art. 15 EMRK Rn. 12 m. w. N. zur Rspr. 1068 Schabas, ECHR (2015), S. 587 („temporarily opting out“). 1069 Nach Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 3 Rn. 22 a. E. handele es sich bei der Befristung hingegen um keine Gültigkeitsvoraussetzung. S. dazu sowie zum Ziel dieser Befristung, einen faktischen dauerhaften Notstand zu verhindern, auch Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn.  40. 1070 Menzel, DÖV 1968, 1 (2); ebenso Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / Schmaltz (2017), Art. 15 Rn. 1; s. auch Karpenstein / Mayer / Johann (2015), Art. 15 Rn. 8; Frowein / Peukert / Frowein (2009), Art. 15 Rn. 1 („elementare Menschenrechte“). 1071 EuGH, Schmidberger v. Österreich, Urteil v. 12.06.2003 (C-112/00; ECLI:EU:C:2003:​ 333), Slg. 2003, I-5694 (5719) („So können auch das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht, sich friedlich zu versammeln, die durch die EMRK gewährleistet sind – anders als andere durch diese Konvention gewährleistete Grundrechte wie das Recht jedes Menschen auf

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

auch notstandsfesten.1072 Der absolute Schutz bestimmter Garantien erweist sich – will man diesen als unantastbare „Tabuzone“ i. S. d. ordre public begreifen – infolge der Derogationsmöglichkeit gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK als nur scheinbar unbedingter. Denn wie soeben betont, stellt sich die Frage nach der Zuordnung zum ordre public als unumgänglicher Mindestschutz vor dem Hintergrund der von der in Bezug genommenen Rechtsordnung selbst vorgesehenen Restriktionsmöglichkeiten. Wenn aber die EMRK bereits die Anwendbarkeit bestimmter Garan­ tien – und sei es auch nur für den Notstandsfall – in Ausnahmefällen im Ergebnis der Dispositionsbefugnis der Mitgliedstaaten unterwirft,1073 gibt sie damit doch selbst einen unumgänglichen Schutz der vermeintlich absolut geschützten, aber nicht notstandsfesten Konventionsrechte (in Notstandszeiten) frei.1074 Da die ausnahmslose Anwendung eines Rechtssatzes aber charakteristisches Merkmal und Voraussetzung seiner Zuordnung zum ordre-public-Vorbehalt ist, würde diese Sichtweise dazu führen, dass die Konvention durch die Derogationsoption gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK dieser Zuordnung den Weg versperrt. Im Übrigen ließe sich anführen, dass die nicht notstandsfesten Garantien auch bereits deshalb per se nicht zum ordre public gezählt werden könnten, weil in Anbetracht der vom EGMR vorgenommenen Verhältnismäßigkeitsprüfung hinsichtlich der Anwendbarkeit der Derogationsoption des Art. 15 Abs. 1 EMRK1075 ein mit dem ordre-public-Einwand unvereinbarer Zustand der Rechtsunsicherheit entstünde. Die Frage, ob im konkreten Einzelfall über den notstandsfesten hinaus auch weiteren Garantien ein unbedingter Schutz zukommt, hinge insoweit von einer Abwägungsentscheidung ab. Im Ergebnis würde diese Feststellung dazu führen, dass als Bestandteil des durch die EMRK beeinflussten europäisierten nationalen ordre public international allein die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten Art. 2 (dieser überdies nur

Leben oder das Verbot der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe, die keinerlei Beschränkung unterliegen –, keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen […].“); Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 72; vgl. auch Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 18 Rn. 1; Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 3 Rn. 6. 1072 Für eine Hierarchie auch Schabas, ECHR (2015), S. 592. Unklar Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 28 (in „Art. 15 II EMRK angeordnete Schrankenlosigkeit“). 1073 EGMR Plenum, Brannigan and McBride v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 25.05.1993 (14553/89 und 14554/89), Tz. 43. S. auch Menzel, DÖV 1968, 1 (2), der e contrario nur bzgl. der notstandsfesten Garantien von einer „völkerrechtlichen Beschränkung des Inhalts der natio­ nalen Notstandsregelung“ spricht. 1074 S. dazu Kitz, Die Notstandsklausel des Art. 15 EMRK (1982), S. 71 ff. (82) der im Zusammenhang mit der Frage nach weiteren notstandsfesten Garantien außerhalb des Art. 15 Abs. 2 EMRK aufgrund der abschließenden Aufzählung in Abs. 2 betont, dass sich die zuständigen Gremien gegen „einen absoluten Schutz weiterer Konventionsbestimmungen“ ausgesprochen hätten; zum abschließenden Katalog der notstandsfesten Rechte auch Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn.  35. 1075 Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 25 ff.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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bei Todesfällen infolge unrechtmäßiger Kriegshandlungen), 3, 4 Abs. 1 und Art. 7 EMRK angesehen werden könnten.1076 Überzeugen kann dieses Ergebnis indes nicht. Denn diese Betrachtungsweise würde außer Acht lassen, dass die Derogation als auf Notstandsfälle zugeschnittene Ausnahmeregelung konzipiert ist und den Vertragsstaaten lediglich ermöglichen will, in Zeiten von Krieg oder anderem öffentlichen Notstand ihre umfassende völkervertragliche Bindung an die Konvention zeitweise zu suspendieren.1077 Zugleich soll aber auch in diesen Notstandszeiten ein Mindestschutzniveau durch Erklärung einzelner Garantien für auch in diesem Fall unantastbar garantiert werden. Legt man nun aber die vorher genannte Sichtweise zugrunde, würde sich auch in Friedenszeiten der ordre public am Notstandsminimum des Art. 15 Abs. 2 EMRK orientieren. Nun wird man aber zu Recht bezweifeln können, dass an den Rechtshilfeverkehr unter regulären Umständen und in Notstandszeiten identische Maßstäbe anzulegen sind. Mit anderen Worten wird man davon ausgehen müssen, dass die Konvention außerhalb einer Notstandslage mehr als die in Art. 15 Abs. 2 EMRK genannten notstandsfesten Garantien einem unbedingten Schutz unterstellt wissen will. Denn die Derogationsmöglichkeit des Art. 15 Abs. 1 EMRK besteht ja gerade nur in Notstandszeiten. In Zeiten, in denen wiederum kein Vertragsstaat von der Suspendierung Gebrauch macht und der Rechtshilfeverkehr folglich nicht von einer Notstandslage beeinflusst wird, müsste das Notstandsminimum des Art. 15 Abs. 2 EMRK somit „ausgeblendet“ und erneut nach absolut geschützten Konventionsgarantien gefragt werden. Es lässt sich also sagen, dass Art. 15 Abs. 1 EMRK in dem Zeitpunkt, in dem ein Vertragsstaat die Derogation wirksam initiiert, in seinem Verhältnis einen sogleich noch festzustellenden ordre-public-Bestand verschiebt und auf das „notstandsfeste Minimum“1078 reduziert, also den regulären zu einem notstandsfesten ordre-public-Einwand degradiert. c) Grundsätzliches Erfordernis der Entscheidung der Vertragsstaatengesamtheit zugunsten eines ordre-public-fähigen Schutzgutes Für die Feststellung der zum ordre public zu zählenden Konventionsgarantien ist also – entsprechend der Untersuchung zur GRCh – entscheidend, welche der Garantien der EMRK nebst ihrer Zusatzprotokolle unbeschränkbare Geltung beanspruchen. Und auch hier kann diese Frage aus Platzgründen keiner abschlie 1076

So auch explizit Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 35. 1077 Zur Verbindung zum humanitären Völkerrecht s. Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-Ladewig / Schmaltz (2017), Art. 15 Rn. 2 m. w. N.; Krieger, Kapitel 8: Notstand, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG Konkordanzkommentar (2013), Rn. 32 und 37 ff. („allerdings kein pauschale[r] Vorrang des humanitären Völkerrechts“). 1078 S. o. Fn. 1070 mit Haupttext.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

ßenden Klärung zugeführt, sondern wiederum nur angerissen werden. In einem ersten Schritt gilt es zu berücksichtigen, dass als vorbehaltlose Grundrechte – wie bereits benannt – entsprechend dem aus dem Grundgesetz bekannten System der einzelgrundrechtsbezogenen Schrankendogmatik nur diejenigen Garantien angesehen werden können, deren Wortlaut sich bereits selbst keine Beschränkung entnehmen lässt. Dabei lässt sich zunächst i. R. e. a fortiori-Schlusses von der ohnehin notstandsfesten Absicherung einer Konventionsgarantie auf deren absolut gewährleisteten Schutz schließen. Insoweit lässt sich nämlich bereits in der Erklärung des Art. 15 Abs. 2 EMRK unzweifelhaft erkennen, dass den dort genannten notstandsfesten Garantien eine besondere Bedeutung zukommt, die ja gerade auch in der besonderen Ausnahmekonstellation des Notstandsfalls weiterhin unbedingte Geltung beanspruchen sollen, sodass deren absoluter Schutz erst recht in Friedenszeiten anzunehmen sein wird.1079 Die notstandsfesten Garantien umfassen schließlich durch die Art. 3 ZP VI1080 und Art. 2 ZP XIII1081 das Verbot der Todesstrafe (worauf sogleich noch einmal eingegangen wird) sowie gem. Art. 4 Abs. 3 ZP VII1082 das Verbot der Doppelverfolgung (ne bis in idem). Hinsichtlich der Zuordnung des ne bis in idem-Grundsatzes zum konventionsrechtlichen ordre public lassen sich indes insoweit Bedenken anbringen, als dass das ZP VII bis heute von Deutschland und den Niederlanden nicht ratifiziert sowie dem Vereinigten Königreich weder unterzeichnet noch ratifiziert wurde.1083 Damit wird man der Klassifizierung des ne bis in idem-Schutzes als Bestandteil des konventionsrechtlichen ordre public einen fehlenden europaratsweiten Bindungswillen der Vertragsstaatengesamtheit entgegenhalten müssen.1084 Dieses Ergebnis mag vor dem Hintergrund anmuten, dass die Inhaltsbestimmung des sich aus der Konvention resp. ihrer Zusatzprotokolle ergebenden Wesentlichkeitsvorbehalts dann von den Leitlinien der jeweiligen vertragsstaatlichen Politik abhängt und diese gerade die Erweiterung und Effektivierung einer europaratsweiten Grundrechtsarchitektur behindern. Allerdings ist dem wiederum entgegenzuhalten, dass sich ein ­ordre-public-Einwand grundsätzlich aus der abzusichernden Rechtsordnung selbst 1079

Hinsichtlich des Rechts auf Leben, des Verbots der Folter, Sklaverei, unmenschlicher und erniedrigender Strafe sowie der Zwangsarbeit sprechen auch Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 20 von „Fundamentalgarantien“. 1080 S. zum Fundstellennachweis o. Fn. 194. 1081 S. zum Fundstellennachweis o. Fn. 195. 1082 ETS Nr. 117. 1083 S. zum Ratifikationsstand https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/ treaty/117/signatures?p_auth=DVy1ylaS (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 1084 S. i. R. d. Abschaffung der Todesstrafe (dazu sogleich) auch die Differenzierung des EGMR in eine de iure und de facto-Abschaffung in der Sache Soering, wobei jedoch das spätere Protokoll Nr. 6 belege, „daß die Vertragsstaaten erst 1983 die übliche Methode der Wortlaut­ änderung anwenden wollten, um die neue Verpflichtung einzuführen, die Todesstrafe in Friedenszeiten abzuschaffen. Darüber hinaus sollte dies durch eine fakultative Übereinkunft geschehen, die es jedem Staat überließ, den Zeitpunkt seiner Verpflichtung zu wählen.“ (EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 [1/1989/161/217], NJW 1990, 2183 [2186]).

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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ergibt und der Wahrung grundlegender sowie – und im Rahmen völkerrechtlicher Zusammenarbeit steht diese Feststellung vor besonderen Herausforderungen1085 – gemeinsamer Werte verschrieben ist. Wenn aber die Gesamtheit der im Europarat verbundenen Staaten die Teilung gemeinsamer Rechte nicht hinreichend erkennen lässt, können diese nicht als Bestandteil einer gemeinsamen Überzeugung angesehen werden, mit der Konsequenz, dass ihnen ein negativer Normbefehl derart, dass an ihnen die Durchsetzung aller Rechte brechen soll (!), nicht zugeschrieben werden kann. Eine Sonderposition kommt dem Recht auf Leben gem. Art. 2 EMRK zu: Von den Schutzbereichsausnahmen des Art. 2 Abs. 2 EMRK abgesehen1086 unterliegt das Recht auf Leben in der Ursprungsfassung der Konvention von 1950 noch der Restriktion durch die Anerkennung der Todesstrafe in Abs. 1 S. 2. Durch die Er­ gänzungen durch die Protokolle VI vom 28.04.1983 zur Abschaffung der Todesstrafe und XIII vom 03.05.2002 zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen wurde diese Schutzbereichseinschränkung zurückgedrängt. Da aber auch in Russland obgleich der bis heute fehlenden formalen Abschaffung der Todesstrafe von einer Vollstreckung dieser unter Verweis auf die konventionsrechtlichen Wirkungen abgesehen wird,1087 lässt sich von einer europaratsweiten Abstandnahme von der Todesstrafe sprechen, auch wenn insoweit von Seiten der Russischen Föderation noch keine wirksame völkervertragliche Erklärung abgegeben wurde.1088 Insoweit hat auch der EGMR im Fall Soering im Grundsatz betont, dass „[d]ie nachfolgende Praxis der nationalen Strafrechtspflege, die Todesstrafe generell abzuschaffen, […] dahingehend gewertet werden [könnte], die Vereinbarung der Mitgliedstaaten durchzusetzen, die Ausnahme nach Art. 2 I tatsächlich abzu­ schaffen […].“1089 Weiterhin hat es der Gerichtshof in der Sache Öcalan im Zusammenhang mit dem Verbot der Todesstrafe auch aufgegeben, zu formal auf die 1085 S. zur Bestimmung eines völkerrechtlichen Mindeststandards bereits Fn. 400–404 mit Haupttext. 1086 Dort heißt es: „Deprivation of life shall not be regarded as inflicted in contravention of this article when it results from the use of force which is no more than absolutely necessary: a) in defence of any person from unlawful violence; b) in order to effect a lawful arrest or to prevent the escape of a person lawfully detained; c) in action lawfully taken for the purpose of quelling a riot or insurrection.“ 1087 S. insoweit zum Moratorium des Russischen Verfassungsgerichts o. Fn. 198. S. auch zur faktischen europaratsweiten Abschaffung der Todesstrafe noch u. Fn. 1088 mit Haupttext. 1088 S. für eine „gewohnheitsrechtliche Abschaffung der Todesstrafe innerhalb des EMRK-­ Raumes“ auch Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 180 f. 1089 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 (2186). Weiter führt der EGMR aus: „In that case the Court accepted that subsequent practice in national penal policy, in the form of a generalised abolition of capital punishment, could be taken as establishing the agreement of the Contracting States to abrogate the exception provided for under Article 2 § 1 and hence remove a textual limit on the scope for evolutive interpretation of Article 3 […].“ (EGMR, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.03.2003 [46221/99], Tz. 191); bestätigt in EGMR GK, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.05.2005 (46221/99), NVwZ 2006, 1267 (1270).

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fehlende umfassende Ratifikation aller Vertragsstaaten abzustellen.1090 Schließlich ist in diesem Zusammenhang auf die jüngere Entscheidung im Fall Saidini v. Deutschland hinzuweisen, in der der Gerichtshof eine Beschwerde verworfen hat, der eine Abschiebung eines sogenannten „Gefährders“ nach Tunesien zugrunde lag, wobei der Beschwerdeführer vortrug, dass ihm dort die Todesstrafe drohe. Der Gerichtshof hat die Beschwerde mit der Begründung als unzulässig verworfen, dass die Todesstrafe aufgrund eines Moratoriums nicht mehr vollstreckt und faktisch in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt werde, sodass im Ergebnis „no real risk that the applicant would be executed“ bestehe.1091 Insoweit zeigt sich ein die differenzierte Behandlung rechtfertigender Unterschied zur Rechtslage hinsichtlich des ne bis in idem-Grundsatzes: Während dort zum einen drei Vertragsstaaten von der Ratifikation und einer auch noch von der Unterzeichnung abgesehen haben, verhält es sich hinsichtlich des Verbots der Todesstrafe so, dass zum einen alle Vertragsstaaten das Protokoll VI unterzeichnet haben und zum anderen die allein fehlende Ratifikation Russlands durch die faktische Abschaffung der Todesstrafe kompensiert wird. Im Ergebnis wird man daher den Lebensschutz – jedenfalls was seine Restriktion durch die Vollstreckung einer Todesstrafe gem. Art. 2 Abs. 1 S. 2 EMRK angeht – als Bestandteil des ordre public ansehen können,1092 was sich nicht zuletzt den Art. 3 ZP VI und Art. 2 ZP XIII entnehmen lässt, in denen ausdrücklich das Verbot der Derogation gem. Art. 15 EMRK hinsichtlich des Verbots der Todesstrafe festgeschrieben ist. Allerdings wirkt sich auch hier der Umstand aus, dass das Zusatzprotokoll XIII bezüglich der „Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen“ neben Russland auch von Aserbaidschan nicht unterzeichnet und von Armenien zwar unterzeichnet, jedoch nicht ratifiziert wurde,1093 sodass auch insoweit ein fehlender europaratsweiter Wille zur grundlegenden Anerkennung der Abschaffung der Todes­ 1090 In der ersten Öcalan-Entscheidung hat der EGMR insoweit ausgeführt, dass „[s]uch  a marked development could now be taken as signalling the agreement of the Contracting States to abrogate, or at the very least to modify, the second sentence of Article 2 § 1, particularly when regard is had to the fact that all Contracting States have now signed Protocol No. 6 and that it has been ratified by forty-one States. It may be questioned whether it is necessary to await ratification of Protocol No 6 by the three remaining States before concluding that the death penalty exception in Article 2 has been significantly modified. Against such a consistent background, it can be said that capital punishment in peacetime has come to be regarded as an unacceptable, if not inhuman, form of punishment which is no longer permissible under Article 2.“ (EGMR, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.03.2003 [46221/99], Tz. 196; bestätigt in EGMR GK, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.05.2005 [46221/99], NVwZ 2006, 1267 [1270]). 1091 EGMR, Saidani v. Deutschland, Entscheidung v. 27.09.2018 (17675/18), Tz. 33. 1092 S. auch EGMR, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.03.2003 (46221/99), Tz. 195 („As a result of these developments the territories encompassed by the member States of the Council of Europe have become a zone free of capital punishment.“); bestätigt in EGMR GK, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.05.2005 (46221/99), NVwZ 2006, 1267 (1270); zust. Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 5 Rn. 21, die überdies – unter Berufung auf die Rspr. des EGMR – das Verbot der Todesstrafe explizit als Bestandteil des „europäischen ordre public“ sowie als „regionales Völkergewohnheitsrecht“ benennen, allerdings ohne Nachweise für diese Aussage anzuführen. 1093 S. zum Fundstellennachweis o. Fn. 195.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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strafe zu konstatieren ist. Da sich dieser allerdings nur auf das Zusatzprotokoll XIII bezieht, bildet der dem ordre public zugrunde zu legende Maßstab der durch das Protokoll VI etablierte Rechtszustand mit der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten.1094 Im Ergebnis folgt daraus, dass die Abschaffung der Todesstrafe für den Rechtshilfeverkehr in Friedenszeiten auf einem europaratsweiten Konsens beruht und der durch die Konvention europäisierte nationale ordre public international den Schutz des Lebens gem. Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK umfasst.1095 d) Keine Berücksichtigung konventionsimmanenter Schranken Darüber hinaus kommt auch im Bereich der EMRK die Methodik der wiederum auch aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannten immanenten Schranken­ regelungen zur Geltung.1096 Da somit ein keine Beschränkung enthaltender Wortlaut allein nicht maßgeblich sein kann, stellt sich die Frage, ob von der Zuordnung zum Wesentlichkeitsvorbehalt in dem Maße Abstand zu nehmen ist, als dass unter dem Begriff der absolut gewährleisteten nur „echte“ schrankenlos garantierte und damit keiner immanenten Restriktion unterliegenden Rechte zu zählen sind. In diesem Punkt ist jedoch darauf hinzuweisen, dass eine immanente Beschränkung insoweit nur zugunsten des Strafverfolgungsinteresses des ersuchenden Staates in Betracht kommt. Immanente Schranken aus Rechten Dritter haben nämlich insofern keinen Einfluss auf ein Rechtshilfeverfahren, als deren Rechte – zu denken ist 1094 S. insoweit Art. 3 ZP VI: „A State may make provision in its law for the death penalty in respect of acts committed in time of war or of imminent threat of war; such penalty shall be applied only in the instances laid down in the law and in accordance with its provisions. The State shall communicate to the Secretary General of the Council of Europe the relevant provisions of that law.“ 1095 I.  Erg. auch Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 91 (Bestandteil des „europäischen ordre public“); Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 5 Rn. 21; für einen nur noch „formalen Schritt“ zur Sicherstellung der Abschaffung der Todesstrafe spricht auch Alleweldt, Kapitel 28: Abschaffung der Todesstrafe, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Konkordanzkommentar (2013), Rn. 11 ff. (13). Vgl. dazu auch EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 02.03.2010 (61498/08), Tz. 120 („These figures, together with consistent State practice in observing the moratorium on capital punishment, are strongly indicative that Article 2 has been amended so as to prohibit the death penalty in all circumstances.“ [Herv. i. O.]) und die Parliamentary Assembly of the Council of Europe’s (PACE) Resolution 1560, Ziff. 9 („Finally, a universal moratorium on the death penalty represents a concrete and highly symbolic political act, which could help change an international climate which is all too often characterised by violent actions which take their victims – by no means exclusively in a context of conflict – from among civilian populations. A universal moratorium on the death penalty would also make a significant contribution to the establishment of a shared and operational body of principles and rules leading towards a more effective rule of law at international level.“). 1096 Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 72 unter Verweis auf die Formulierung des Abs. 2 der jeweiligen Art. 8 bis 11 EMRK, die eine Begrenzung „zum Schutz der Rechte (und Freiheiten) anderer“ zulassen. Die Frage betrifft insbesondere das Verbot der Folter gem. Art. 3 EMRK, s. ausf. zu den vertretenen Ansichten Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 6 Rn. 3 m. w. N.

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etwa an das Recht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK zugunsten Ehe- und Lebenspartnern – allein auf Seiten des Auszuliefernden für dessen Rechtsposition streiten können. Gegenstand dieser Untersuchung ist aber allein die Frage, welche ordre-publicgeschützten Rechte des Betroffenen oder des ersuchenden Staates die Vollstreckung eines Auslieferungsersuchens (hier in Form des Europäischen Haftbefehls) zwingend zu Fall bringen oder eben zwingend gebieten. Das Strafverfolgungs­ interesse des ersuchenden Staates ist hingegen kein in der Konvention niedergelegtes Schutzgut,1097 das damit auch zu keiner konventionsimmanenten Beschränkung des individualschützenden ordre-public-Einwands gegenüber dem in Rede stehenden Auslieferungsersuchen führen kann. Entsprechendes wurde bereits auch im Zusammenhang mit dem grundrechtechartabasierenden ordre-public-Einwand thematisiert, wobei das Strafverfolgungsinteresse im Unionsraum im Grundsatz gegenseitiger Anerkennung aufgeht. e) „The very essence of the right“ als Wesensgehaltsgarantie der Europäischen Menschenrechtskonvention und die „flagrant denial of justice“-Doktrin Entsprechend der Untersuchung i. R. d. GRCh stellt sich nun abschließend die Frage nach einem etwaigen dem ordre public zu unterstellenden Wesensgehalt der auch beschränkbaren Konventionsgarantien. Eine Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh resp. Art. 19 Abs. 2 GG entsprechende Wesensgehaltsgarantie hält die Konvention insoweit zunächst nicht bereit.1098 Es kann jedoch mit gutem Grund bezweifelt werden, dass allein aufgrund einer fehlenden eindeutigen Kodifikation einer solchen Wesensgehaltsgarantie der elementare Kern eines jeden beschränkbaren Grundrechts preisgegeben werden sollte. Denn dann würde das in der Präambel niedergeschriebene Ziel der EMRK, nämlich die „universal and effective recognition and observance of the Rights therein declared“ und die „maintenance and further realisation of human rights and fundamental freedoms“, unterlaufen, wenn nicht bereits vorab feststünde, dass ein jedes Grundrecht seinem Berechtigten einen unantastbaren Kerngehalt zusichert.1099 Eine Wesensgehaltsklausel in der EMRK

1097 S. in diesem Zusammenhang auch Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 3 Rn. 20, wonach die EMRK „mangels staatsorganisationsrechtlicher Normen gar keine kollidierenden ‚Verfassungsgüter‘ als Konventionsgüter außerhalb der Schrankenbestimmungen der Konventionsrechte selbst […] [enthält].“ 1098 Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 18 Rn. 15; Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 3 Rn. 16. 1099 Vgl. auch Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 673, wonach sich die Wesensgehaltsgarantie „parallel zu den Grundrechten aus den Grundfreiheiten ableiten [lässt], dürfen doch auch diese nicht vollständig ausgehöhlt werden“ (unter Verweis auf EuGH, Watson und Belmann, Urteil v. 07.07.1976 [Rs. 118/75; ECLI:EU:C:1976:106], Slg. 1976, 1185 [1199], wonach sich die Unvereinbarkeit einer Sanktion daraus ergebe, dass „mit einer solchen Maßnahme das durch den Vertrag verliehene Recht selbst verneint wird.“).

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hätte demnach auch nur deklaratorische Bedeutung.1100 Dementsprechend haben auch die Straßburger Richter in ihrer Rechtsprechung auf einen solchen unantastbaren Kerngehalt („the very essence of the right“) abgestellt und damit einen Wesensgehaltsschutz richterrechtlich etabliert,1101 der nicht zuletzt für das besonders bedeutsame Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. 6 EMRK Bedeutung gelangt.1102 Darüber hinaus hat der Gerichtshof auch einen Kernbereich der unantastbaren Menschenwürde als Grundlage der Konvention hervorgehoben.1103 Einem solchen Schutz des Wesensgehalts steht auch nicht das Recht der Vertragsstaaten zur Derogation gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK entgegen. Denn wie bereits ausgeführt, folgt der Ausübung des Derogationsrechts die gänzliche Unanwendbarkeit der betroffenen Konventionsgarantien.1104 Damit würde zwar auch deren Wesensgehalt temporär schutzlos gestellt, doch gilt diese Konstellation für den Notstandsfall und trifft gerade keine Aussage über eine etwaige Beeinträchtigung des Wesensgehalts in Friedenszeiten. Im Ergebnis überzeugt es jedenfalls, auch zugunsten der beschränkbaren Garantien der EMRK einen unantastbaren Wesensgehalt anzunehmen, der, da absolut geschützt, dem europäisierten nationalen ordre public international der Vertragsstaaten unterfällt.1105 Schließlich bleibt in diesem Zusammenhang die „flagrant denial of justice“-​ Doktrin des EGMR1106 aufzugreifen, die ebenfalls insbesondere i. R. d. Art. 6 EMRK an Bedeutung gewinnt. Wie bereits ausgeführt, hängt die Zulässigkeit 1100 S. zur deklaratorischen Bedeutung des Art. 19 Abs. 2 GG auch Häberle, Die Wesens­ gehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1983), S. 234 ff. 1101 S. etwa EGMR Plenum, Rees. v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 17.10.1986 (9532/81), Tz. 50 („The limitations thereby introduced must not restrict or reduce the right in such  a way or to such an extent that the very essence of the right is impaired.“); EGMR GK, Christine Goodwin v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 11.07.2002 (28957/95), NJW-RR 2004, 289 (294) (jeweils bzgl. Art. 12 EMRK); EGMR GK, Hirst v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 06.10.2005 (74025/01) Tz. 62; EGMR Plenum, Mathieu-Mohin und Clerfayt v. Belgien, Urteil v. 02.03.1987 (9267/81), Tz. 52 (jeweils bzgl. Art. 3 ZP I); EGMR GK, Catan et al. v. Moldawien und Russland, Urteil v. 19.10.2012 (43370/04 et al.), NVwZ 2014, 203 (207) (Art. 2 ZP I). 1102 S. statt vieler nur EGMR GK, Regner v. Tschechien, Urteil v. 19.09.2017 (35289/11), Tz. 148; EGMR, Centre for the Development of Analytical Psychology v. ehem. jugoslawische Republik Mazedonien, Urteil v. 15.06.2017 (29545/10 und 32961/10), Tz. 41; EGMR, Ashingdane v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 28.05.1985 (8225/78), NJW 1986, 2173 (2175). 1103 EGMR GK, El-Masri v. ehem. jugoslawische Republik Mazedonien, Urteil v. 13.12.2012 (39630/09), NVwZ 2013, 631 (637) („das Wesen der Konvention ist die Achtung der Menschenwürde und der menschlichen Freiheit“); ebenso EGMR, Pretty v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 29.04.2002 (2346/02), NJW 2002, 2851 (2854). 1104 S. dazu bereits o. Fn. 1063 mit Haupttext. 1105 I. Erg. für eine (ungeschriebene) Wesensgehaltsgarantie der EMRK auch Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG (1983), S. 424 f., der von einer „schöpferische[n] Verwendung der Wesensgehaltsklausel“ durch den EGMR spricht und betont, dass die „Wesensgehaltformel […] zuvörderst ein Instrument des Verfassungsrichters und des Verfassungswissenschaftlers“ sei und „im Kompetenzbereich des EuGH und EGMR wegen des besonders fragmentarischen Charakters von Grundrechtsgarantien die dynamische Schöpferkraft von Richtern gefordert ist.“ 1106 S. hierzu bereits Fn. 903 mit Haupttext.

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dieser als Schutz des Wesensgehalts der betroffenen Konventionsgarantie zu begreifenden Rechtsprechung vom von der Konvention gebotenen und dem EGMR übertragenen Schutz eines solchen Wesensgehalts ab.1107 Wie soeben aber auch ausgeführt wurde, bedarf es dieses Schutzmechanismus zur wirksamen Durchsetzung der Konventionsgarantien, sodass die „flagrant denial of justice“-Rechtsprechung als wirksame Ausprägung des von der Konvention selbst verlangten Wesentlichkeitsschutzes zu begreifen ist. Sie ist damit zwar kein die Zulässigkeit des ordre public konstituierendes Kriterium, aber Ausprägung des auf den Wesenskern der Konventionsgarantien zugemünzten Wesentlichkeitsvorbehalts. 3. Ergebnis In abstrakter Weise lässt sich der Inhalt des sich aus der EMRK speisenden europäisierten nationalen ordre public international damit zusammenfassen als der Bestand aus: –– den notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– den in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen sowie –– in Friedenszeiten dem Wesensgehalt („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der EMRK und eines von der Vertragsstaatengesamtheit getragenen Zusatzprotokolls.

III. Der Inhalt des „identitätsgeleiteten nationalverfassungsrechtlichen“ ordre public Neben den Vorgaben des Unions- und Konventionsrechts hält mit der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auch das Grundgesetz einen zulässigen Anknüpfungspunkt für einen „identitätsgeleiteten national-verfassungs­ rechtlichen“ ordre public gegenüber der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bereit. Das BVerfG hat diesen Schutz der Verfassungsidentität überzeugend aus einer begrenzten Einwirkungsmöglichkeit des mit Anwendungsvorrang ausgestatteten Unionsrechts infolge einer „Durchwirkung“ des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG hergeleitet, der insoweit nicht nur die Befugnis des deutschen Gesetzgebers i. R. d. Mitwirkung bei der Fortentwicklung der EU be 1107

S. bereits die Nachweise zur Rspr. des EGMR in Fn. 903.

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schränkt, sondern auch die Rechtswirkung der Unionsrechtsakte selbst im deutschen Rechtsraum nur bis zur Grenze dieser Verfassungsidentität zulässt.1108 In diesem Fall verbieten sich aber rein teleologische Erwägungen aus grundrechtlicher Perspektive, sodass in der Konsequenz in einem ersten Schritt nicht alle schrankenlos gewährleisteten und den Kernbereich aller beschränkbaren Grundrechte zum Bestand dieses Vorbehalts gerechnet werden können, mögen diese auch – was Art. 6 S. 2 EGBGB und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO belegen – vom Gesetzgeber zum festen Bestandteil des nationalen ordre public international erklärt worden sein. An dieser Stelle müssen nämlich die aus dem Beitritt zur supranationalen EU resultierenden Auswirkungen Berücksichtigung finden, die insbesondere einer Bedienung des gesamten deutschen ordre public international entgegenstehen, sondern nur dessen von der Verfassungsidentität getragenen Ausschnitt gegenüber den anderen EU-Mitgliedstaaten zulassen. Insbesondere hinsichtlich der Geltendmachung von Grundrechten des Grundgesetzes ist daran zu erinnern, dass nach Ansicht des BVerfG im Unionsrechtsraum ein wirksamer Grundrechtsschutz gewährleistet ist, „der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt [..].“1109 Damit lässt Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG von vornherein nur eine Beschränkung auf den von Art. 79 Abs. 2 und 3 GG vorgegebenen Maßstab zu, da auch der Rechtsanwendungsbefehl des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG nur insoweit Grenzen unterworfen ist. Art. 79 Abs. 3 GG schreibt dabei als integrationsfest enumerativ1110 die „Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung [und] die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“ vor. Für die Einwirkung durch Sekundärrechtsakte gewinnen dabei die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze an Bedeutung. Es gilt damit zu klären, welche Inhalte von ihnen erfasst werden und auf Grundlage des „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls entgegengehalten werden können.

1108

BVerfG, Urteil v. 21.06.2016 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 142, 123 (195) m. w. N. („Im Rahmen der Identitätskontrolle prüft das Bundesverfassungsgericht, ob die durch Art. 79 Abs. 3 GG für unantastbar erklärten Grundsätze bei der Übertragung von Hoheitsrechten durch den deutschen Gesetzgeber oder durch eine Maßnahme von Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union berührt werden […].“ [Herv. d. Verf.]). S. zu dieser Doppelwirkung der Integrationsschranke des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG auch Walter, ZaöRV 72 (2012), 177 (183). S. dazu auch bereits o. Fn. 653 mit Haupttext. Gegen einen rechtlichen Anknüpfungspunkt für einen Vorbehalt zugunsten nationaler Grundrechte im RbEuHb Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 459 f. 1109 S. hierzu bereits die Nachweise in Fn. 563. 1110 BVerfG, Beschluss v. 18.04.1996 (1 BvR 1452, 1459/90 und 2031/94), BverfGE 94, 12 (34); Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art. 79 Rn. 8; krit. Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. 34, der Art. 19 Abs. 2 und 4 GG „unter rechtsethischen Gesichtspunkten“ ein „ähnliches Gewicht“ zuschreibt.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

1. Begrenzung auf die „in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze“ Dem Wortlaut des Art. 79 Abs. 3 GG lässt sich zunächst eine Begrenzung auf die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze und damit eine Abstandnahme von der Inbezugnahme des gesamten normativen Gehalts der genannten Vorschriften entnehmen.1111 Damit lässt sich zugleich eine Abgrenzung zum deutschen ordre public international, der etwa im Wege des vertragslosen Auslieferungsverkehrs Bedeutung erlangen kann, aufzeigen: Dieser erfasst nämlich zumindest die absolut geschützten sowie den Wesensgehalt der grundgesetzlich geschützten Grundrechte.1112 Wenn das BVerfG bezüglich der Terminologie in Art. 79 Abs. 3 GG postuliert, dass Grundsätze als solche „von vornherein nicht ‚berührt‘ [werden], wenn ihnen im allgemeinen Rechnung getragen wird und sie nur für eine Sonderlage entsprechend deren Eigenart aus evident sachgerechten Gründen modifiziert werden“,1113 kommt darin die Anerkennung eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses zum Ausdruck,1114 für das sich in Art. 79 Abs. 3 GG wiederum keine Stütze finden lässt. Dort ist – wie Dürig und Stern zutreffend herausstellen1115 – vielmehr von dem Schutz der Grundsätze, nicht von einem grundsätzlichen Schutz die Rede.1116 Eine solche Relation lässt schließlich auch das Lissabon-Urteil des BVerfG erkennen, wenn es dort heißt, dass „[i]nnerhalb der Ordnung des Grundgesetzes jedenfalls […] die Staatsstrukturprinzipien des Art. 20 GG, also die Demokratie, die Rechts- und die Sozialstaatlichkeit, die Republik, der Bundesstaat sowie die für die Achtung der Menschwürde unentbehrliche Substanz elementarer Grundrechte in ihrer prinzipiellen Qualität jeder Änderung entzogen [sind].“1117 Es kann 1111

So wohl aber Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art. 79 Rn. 15. S. nur Grützner / Pötz / Kreß / Gazeas / Vogel (48. Lfg. 2019), § 73 IRG Rn. 31. 1113 BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (24). 1114 Stern, JuS 1985, 329 (333). S. hierzu auch Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 158, der jedoch ausführt, dass „man bei der Prüfung der Verfassungsfestigkeit von den einen Grundsatz ausformenden Normen die Evidenz sachgerechter Gründe für eine Modifikation nicht [wird] beiseite schieben können, um eine maßvolle und elastische Handhabung des Art. 79 Abs. 3 GG zu ermöglichen.“ 1115 Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (43); Stern, JuS 1985, 329 (333); für eine solch strenge Interpretation ebenfalls Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 150 m. w. N. 1116 S. auch BVerfG, Abweichende Meinung der Richter Geller, Dr. v. Schlabrendorff und Dr. Rupp zum Urteil des Zweiten Senats vom 18.07.2005 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (41) („konstituierende Elemente“); Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (43); Stern, JuS 1985, 329 (333) („Substanz bildende“, „ihre Identität ausmachende“ und „fundamentale und wesentliche Aussagen“); Maunz / Dürig / Herdegen (88. Lfg. 2019), Art. 79 Rn. 110 („der das Wesentliche ausmachende Gehalt dieser Standards“); Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 153 m. w. N. („Dies setzt eine ganzheitlich-qualitative Betrachtung voraus, die zwischen den essentiellen und akzidentiellen Bestandteilen der geschützten Strukturprinzipien differenziert“). Vgl. auch Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 3 („ihre zentrale Bedeutung für die Gesamtverfassung, die Eigenschaft als Grundlage [auch ungeschriebener] konkreter[er] Normen“). 1117 BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (343) (Herv. d. Verf.). 1112

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im Ergebnis aber nur um Art. 1 und 20 GG jeweils zugrunde liegenden und gegebenenfalls konkretisierungsbedürftigen – jedoch weiterhin nicht einer Verfassungsänderung zugänglichen (!) – Wertentscheidungen gehen, zumal Art. 79 Abs. 3 GG einem Gebot restriktiver Interpretation unterliegt.1118 Die Konkretisierungsbedürftigkeit lässt sich daran festmachen, dass im Ausgangspunkt eine Differenzierung zwischen dem in Art. 1 GG festgeschriebenen Grundsatz zur Achtung der Menschenwürdegarantie, die „ihren Zweck in sich trägt“, und anderen lediglich als Ordnungsprinzipien zur Organisation der Staatsstruktur zu verstehenden Grundsätzen wie etwa der Bundesstaatlichkeit oder der Gewaltenteilung geboten ist.1119 Diese Staatsstrukturprinzipien müssen einer inhaltlichen Modifizierung – jedoch keiner Suspendierung  – durch den verfassungsändernden Gesetzgeber (wie der Gewaltenteilung zur Gewaltenverschränkung) zugänglich bleiben.1120 2. Der Menschenwürdekern eines jeden Grundrechts gem. Art. 1 Abs. 1 GG „Die in Art. 1 GG niedergelegten Grundsätze“ erfassen dabei die Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG als „höchsten Rechtswert“ der deutschen gesetzlichen Ordnung,1121 die diesbezügliche Schutzpflicht (Art. 1 Abs. 1

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BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (310); BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (25); Stern, § 89 Die Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 1071 (1088), unter Verweis auf die Beratungen im parlamentarischen Rat; Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 152, der jedoch zugleich betont, dass die „Gefahr einer Überinterpretation aber nur einer der zu berücksichtigenden Aspekte im Rahmen einer funktionalen und wertbezogenen, auch rechtspolitische Folgen berücksichtigenden Interpretation [ist].“; Sachs / Sachs (2018), Art. 79 Rn. 26; von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn.  29; Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 38; gegen eine Interpretation sowohl als Ausnahmevorschrift als auch über ihren Wortlaut hinaus Stern, JuS 1985, 329 (332). Gegen einen eigenen Anwendungsbereich der Verfassungsidentität gegenüber dem Demokratieprinzip sogar Rademacher, EuR 2018, 140 (147 ff.). 1119 Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 151 f., der sodann i. Erg. auch von einer „differenzierenden Beurteilung der Bindungswirkung der einzelnen Grundsätze“ ausgeht; ähnl. Stern, JuS 1985, 329 (333), der zwischen in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen und Prinzipien („Volkssouveränität, Gewaltenteilung, demokratischer und sozialer Bundesstaat“) differenziert. Für eine differenzierte Klassifizierung der in den Art. 1, 20 und 79 Abs. 3 GG in Bezug genommenen Normen in „Prinzipien“ und „unvollständige Konkretisierungen horizontaler vertikaler Gewaltenteilung“ von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 45 ff. 1120 S. dazu Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 151. 1121 S. statt vieler nur BVerfG, Beschluss v. 20.12.1960 (1 BvL 21/60), BVerfGE 12, 45 (53); BVerfG, Beschluss v. 26.01.1994 (1 BvL 12/86), BVerfGE 89, 346 (353); s. auch BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (311) („oberster Verfassungswert“); BGH, Urteil v. 16.03.1983 (2 StR 775/82), BGHSt 31, 296 (299) („Menschenwürde der oberste Wert“); BGH, Urteil v. 04.11.2004 (III ZR 361/03), BGHZ 161, 33 (36) („Höchstwert“); Dürig,

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S. 2 GG), die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte (Art. 1 Abs. 2 GG)1122 sowie die Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalt (Art. 1 Abs. 3 GG). Im Zuge der Entscheidung des BVerfG vom 15.12.20151123 wurde die erforderliche Inhaltsbestimmung der Verfassungsidentität unter Verweis auf die mögliche Konturenlosigkeit des Menschenwürdegehalts eines Grundrechts überwiegend skeptisch betrachtet.1124 Ausgangspunkt der Überlegungen muss die in Art. 1 Abs. 1 GG niedergelegte unantastbare Menschenwürdegarantie sein, die wiederum als Fundament anderer grundrechtlicher Garantien dienen kann, in diesem Fall jedoch auch dann nur deren menschenwürdebasiertes Fundament abzusichern vermag. In Anbetracht des eindeutigen Wortlauts des Art. 79 Abs. 3 GG („die in Art. 1 und 20 niedergelegten Grundsätze“1125) ist weiterhin festzuhalten, dass die in den Art. 2 ff. GG genannten Grundrechte selbst weder unmittelbar noch über ihren etwaigen menschenwürdebasierten Kerngehalt Gegenstand des Identitätsschutzes sind,1126 Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (53). 1122 S. zu der Frage, ob Art. 1 Abs. 2 GG im Zusammenhang mit Art. 79 Abs. 3 GG ein eigenständiger Bedeutungsgehalt zukommt, ausf. und i. Erg. ablehnend von Mangoldt / Klein / Starck / ​ Hain (2018), Art. 79 Rn. 70 f. m. w. N. („Normreserve“). 1123 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 ff., s. hierzu auch bereits die ausf. Darstellung auf den S. 189 ff. 1124 Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (335), die die Gefahr einer „Banalisierung“ durch „Anreicherung mit Einzelgarantien sehen“; so auch Finke, HRRS 2016, 327 (331); Meyer, HRRS 2016, 332 (333, 336 f.) („evidentes Ausfransungs- und Missbrauchspotential“); Nettesheim, JZ 2016, 424 (427) („Gefahr der Ausfransung“); Kühne, StV 2016, 299 (300, 302) („ein großes Tor geöffnet, durch welches es bequem schreiten kann, wann immer es mit Unionsrecht nicht zufrieden ist“) sowie („Gerade die extreme Unbestimmtheit des Begriffs der Menschenwürde macht Art. 1 GG zu einer Vorschrift, bei der schon während der Subsumtion ihres Wesens im Einzelfall fast beliebig viele Argumente zur Relativierung Einfluss nehmen können.“); Swoboda, ZIS 2018, 276 (279) („nationale Grundrechtsstandards häufig dem jeweiligen verfassungsrechtlichen Identitätskern sehr nahe stehen oder sogar dessen Bestandteil sind“); Burchardt, ZaöRV 76 (2016), 527 (544); Oehmichen, StV 2017, 257 (259); Bender, ZJS 2016, 260 (263); Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (878); Schönberger, JZ 2016, 422 (423), der zwischen Grundrechten und „Supergrundrechten“ differenzieren will; Hong, EuConstLRev 12 (2016), 549 (557), der jedoch zugleich betont, dass „absolute rights do not need to be irrefutable or absolutely certain. […] It is enough if the balancing of reasons leads to the conclusion that the right will with sufficient certainty outweigh all conterwalling arguments, so that exeptions to the right can be excluded. […] ‚balancing-proof‘.“ (560 f.; Herv. i. O.). S. aber auch Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (123), die zutr. betonen, dass eine eindeutige Schutzbereichsabgrenzung der Menschenwürdegarantie zu „effektiverer Wirksamkeit“ verhelfe. 1125 Herv. d. Verf. S. zur Diskussion im Parlamentarischen Rat Stern, § 89 Die Unantast­ barkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 1071 (1072) m. w. N. 1126 So die h. M., s. etwa BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (24 ff.); Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 41; gegen eine „‚Kettenreaktion‘, die alle Grundrechte dem Schutz des Art. 79 III GG unterstellte“ auch Stern, JuS 1985, 329 (332) (Herv. i. O.); ebenso Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 165, 172 m. w. N.; Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (77); krit. Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. 34.

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sondern allein ihr Menschenwürdegehalt als „partiell verselbstständigte[r] Ausschnitt aus der Menschenwürde.“1127 Die Menschenwürdegarantie kann insoweit anderen Gewährleistungen als Fundament dienen, ist selbst jedoch nicht auf einen von Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Menschenwürdekern beschränkt, sondern verdient in umfassender Weise dessen vollen Schutz.1128 In einem weiteren Schritt lässt sich der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts aber auch von seinem durch Art. 19 Abs. 2 GG geschützten Wesensgehalt abgrenzen: Während ein Wesenskern in jedem Grundrecht gesehen werden und dieser weiter als sein Menschenwürdekern gefasst sein kann,1129 knüpft der Menschenwürdegehalt denklogisch nur an diejenigen grundrechtlichen Gewährleistungen an, die auf der Menschenwürdegarantie aufbauen.1130 Denn der Wesensgehalt eines jeden Grundrechts ist in Abhängigkeit von dem betroffenen Grundrecht selbst und von diesem aus zu bestimmen,1131 während sein etwaiger Menschenwürdegehalt davon abhängt, ob das Grundrecht in seinem Kern überhaupt als Ausfluss der Menschenwürdegarantie gesehen werden kann. Denn die Verfassung „[kann] auch Grundrechte gewähren […], die von der Menschenwürde nicht geboten sind“,1132 wobei man wird zugestehen müssen, dass die inhaltliche Differenzierung zwischen einem Wesensgehalt und dem Menschenwürdekern mitunter schwierig sein

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Kübler, Über Wesen und Begriff der Grundrechte (1965), S. 151 f., wobei nur der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts absolut gewährleistet sei; ebenso Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art. 79 Rn. 15; Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 28. S. auch BVerfG, Beschluss v. 18.04.1996 (1 BvR 1452, 1459/90 und 2031/94), BverfGE 94, 12 (34) („Sie [Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 GG] können nur insoweit herangezogen werden, als Kernelemente dieser Grundrechte zu den in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätzen gehören […].“). 1128 Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 27 m. w. N. („Es gibt keine getrennten oder gestuften Schutzzonen: der Inhalt des Art. 1 I GG und dessen ‚Grundsätze‘ sind deckungsgleich.“); Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art. 79 Rn. 24; Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 24; von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn. 34 („Differenzierung zwischen der Verfassungsänderung zugänglichem Gehalt und nach Art. 79 Abs. 3 unberührten ‚Grundsätzen‘ kaum möglich“); Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (75). 1129 Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 55; Friauf / Höfling / de Wall (Stand 03/2019), Art. 19 I, II Rn. 82; Kirchhof, EuR, Beiheft 1, 1991, 11 (19); s. auch BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (42) („Es darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Gesetzgeber in Art. 79 Abs. 3 GG eine andere, und zwar substantiell engere Formulierung als in Art. 19 Abs. 2 GG gewählt hat.“ 1130 S. aber zur Anwendung der sogenannten „Objektformel“ (dazu sogleich) auf die Wesensgehaltsgarantie noch Dürig, AöR 81 (1956), 117 (136); vgl. dazu auch Stern, § 85 Der Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 837 (858 f.). 1131 BVerfG, Urteil v. 18.07.1967 (2 BvF 3–8/62, 139, 140, 334, 335/62), BVerfGE 22, 180 (219) („Worin der unantastbare Wesensgehalt eines Grundrechts besteht, muß für jedes Grundrecht aus seiner besonderen Bedeutung im Gesamtsystem der Grundrechte ermittelt werden.“); Maunz / Dürig / Remmert (88. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 41; von Mangoldt / Klein / Starck / ​ Huber (2018), Art. 19 Rn. 111 („akzessorisch zu dem jeweils betroffenen Grundrecht“); Dürig, AöR 81 (1956), 117 (139 ff.) mit Beispielen; Schaks, JuS 2015, 407 m. w. N. 1132 von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn. 37.

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kann.1133 Zur Verdeutlichung sei hier nur am Rande auf die Eigentumsgarantie des Art. 14 GG verwiesen, der unstreitig ein Wesensgehalt zuzuschreiben, aber entgegen der herrschenden Auffassung nicht als Ausfluss der Menschenwürdegarantie zu verstehen ist.1134 Die Eigentumsgarantie wird erst von der normativen Ausgestaltung durch den Gesetzgeber ausgefüllt und ist nicht als etwas dem Menschen „qua Menschseins“ an die Hand Gegebenes anzusehen. Es besteht damit auch hier ein normativ-qualitativer Unterschied zur Wesensgehaltsgarantie.1135 Dieser 1133

Vgl. Kübler, Über Wesen und Begriff der Grundrechte (1965), S. 152, wonach der Wesenskern eines Grundrechts primär durch dessen Menschenwürdekern bestimmt werde; ausf. auch von Mangoldt / Klein / Starck / Huber (2018), Art. 19 Rn. 121 ff. m. w. N. („dient Art. 19 Abs. 2 wie auch Art. 1 Abs. 1 dazu, einen Kernbereich an grundrechtlich geschützten Interessen einer Abwägung mit öffentlichen Belangen zu entziehen und ihn gegen Übergriffe der öffentlichen Hand daher definitiv abzuschirmen.“ [Herv. i. O.]) und 128 („umfasst der Wesensgehalt jedenfalls auch den Menschenwürdegehalt des in Rede stehenden Grundrechts“); Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 52. S. explizit mit Bezug zur Auslieferung auch Bock, ZIS 2019, 298 (305) („weil die geforderte Unterscheidung zwischen Beeinträchtigungen der Menschenwürde und sonstigen Grundrechtsverletzungen nicht immer trennscharf ist“). 1134 A. A. etwa Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 54; Schulz, Änderungsfeste Grundrechte (2008), S. 97 ff. S. aber auch BVerfG, Urteil v. 23.04.1991 (1 BvR 1170, 1174, 1175/90), BVerfGE 84, 90 (125 ff.); BVerfG, Beschluss v. 26.10.2004 (2 BvR 955/00, 1038/01), BVerfGE 112, 1 (39), wonach der in Art. 143 Abs. 3 GG vorgesehene Restitutions­ ausschluss nicht gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoße und damit keine Pflicht zur Rückgabe von im Zeitraum 1945–1949 außerhalb des damaligen Bundesgebietes entschädigungslos enteigneten Eigentums verlange (24). 1135 BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (311); Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 174, der die Wesensgehaltsbeeinträchtigung als Indiz für die Verletzung der Menschenwürdegarantie ansieht; Hömig / Wolff / Schnap­ auff (2018), Art. 79 Rn. 4, wonach die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht mit dem Wesensgehalt der einzelnen Grundrechte identisch seien, der Begriff des „Berührens“ i. S. d. Art. 79 Abs. 3 jedoch der Antastung des Wesensgehalts i. S. d. Art. 19 Abs. 2 GG entspreche; von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn. 37; Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 52 f.; Maunz / Dürig / Remmert (88. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 44; Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 28; Dreier / ders. (2013), Art. 19 II Rn. 20; Friauf / Höfling / de Wall (Stand 03/2019), Art. 19 I, II Rn. 82 („[…] werden sich zumeist weitgehend decken. Sie gehen aber nicht ineinander auf.“); Sachs / Sachs (2018), Art. 19 Rn. 35, wonach Art. 19 Abs. 2 GG nicht einschlägig sei, wenn eine in Rede stehende „verfassungsändernde Gesetzgebung […] nicht an die Grundrechte gebunden ist, sondern nur den Schranken des Art. 79 unterliegt“; Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art. 19 Rn. 66; Sachs / Sachs (2018), Art. 79 Rn. 52, wonach im Fall einer den Wesensgehalt eines Grundrechts beeinträchtigenden Grundgesetz­ änderung „die fortbestehende Bindung an Art. 1 I zu beachten [bliebe].“; Schulz, Änderungsfeste Grundrechte (2008), S. 413 ff. (425), wonach „die Bestandteile des Wesensgehaltes, die weder auf Art. 1 Abs. 1, 2 oder 20 GG rückführbar sind“, „den […] geringsten Schutz genießen.“ Zur Bewertung des Art. 19 Abs. 2 GG als eine Art. 79 Abs. 3 GG „theoretisch verwandte“ Vorschrift aber Stern, JuS 1985, 329 (329 f., 332 f.), der betont, dass „ein Unterschied zwischen dem Verbot, Grundsätze anzutasten bzw. zu berühren, indessen nicht erkennbar [ist].“. S. auch Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (47) („Die Begrenzung der Verfassungsänderung nach Art. 79 Abs. III gehört in dieselbe Linie, auf der durch Art. 19 Abs. II einer Aushöhlung der Grundrechte […] vorgebeugt werden soll.“). Für einen Bezug der Wesensgehaltsgarantie zur Menschenwürde auch BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (24), wonach „die Formel [des Art. 79

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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kommt ebenfalls in der horizontalen Schutzrichtung des Art. 19 Abs. 2 GG zum Ausdruck, indem sie einem jeden1136 Grund- oder grundrechtsgleichen Recht1137 – ohne Rücksicht auf einen jeweiligen Menschenwürdegehalt – ein unantastbares Kernfundament zubilligt.1138 Demgegenüber steht ein Menschenwürdegehalt nur selektiven Grund- resp. grundrechtsgleichen Rechten zu1139 und verlangt im VorAbs. 3 GG], jene Grundsätze dürfen ‚nicht berührt‘ werden, […] also keine striktere Bedeutung als die ihr verwandte Formel in Art. 19 Abs. 2 GG [hat] […].“; von Münch / Kunig / Krebs (2012), Art. 19 Rn. 25 („Nach dem GG sind die Grundrechte um die Würde des Menschen willen […] gewährleistet und damit vorrangig Individualrechte. Mit der Ausblendung ihres Bezuges zur Freiheit des einzelnen Menschen würde das ‚Wesen‘ der Grundrechte verfehlt […].“). Unklar Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (878), die unter Verweis auf Art. 1 Abs. 1 GG vom Wesensgehalt eines Grundrechts sprechen. S. zur normativ-qualitativen Abgrenzung der Wesengehaltsgarantie zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits o. Fn. 962 mit Haupttext, wobei insoweit freilich der Wesensgehalt eines Grundrechts als absolut geschützter Kernbestand enger zu begreifen ist als dessen „bloße“ auf eine Abwägung hinauslaufende unverhältnismäßige Beeinträchtigung. S. aber auch zur Bewertung der Verhältnismäßigkeitskontrolle als Bestandteil der Verfassungsidentität Sodan / Ziekow, Grundkurs Öffentliches Recht (2018), § 5 Rn. 16. Für ein „ähnliches Gewicht“ der Wesensgehaltsgarantie aber Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. 34. 1136 Die Anwendbarkeit des Wesentlichkeitsvorbehalts setzt nach überwiegender Auffassung die Einschränkbarkeit des Grundrechts voraus, s. BVerfG, Beschluss v. 17.06.1961 (1 BvL 44/55), BVerfGE 13, 97 (122); BVerfG, Beschluss v. 04.05.1971 (1 BvR 636/68), BVerfGE 31, 58 (69); Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 19 Rn. 8; a. A. von Münch / Kunig / Krebs (2012), Art. 19 Rn. 19; Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 9. 1137 Maunz / Dürig / Remmert (88. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 25; Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 9; Sachs / Sachs (2018), Art. 19 Rn. 33; Friauf / Höfling / de Wall (Stand 03/2019), Art. 19 I, II Rn. 87 ff. (90) (keine Anwendung auf grundrechtsgleiche Rechte); Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 95 ff. (beschränkte Anwendung auf Gleichheitsrechte [Rn. 115 ff. m. w. N.]); Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 19 Rn. 8; Schaks, JuS 2015, 407 (408) m. w. N.; Dürig, AöR 81 (1956), 117 (136 f.) („Die Sperre des Art. 19 II wirkt sich in jedem Grundrecht aus.“). 1138 Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 174 („da sie [die Wesens­ gehaltsgarantie] den Wesensgehalt aller Grundrechte des Grundgesetzes ungeachtet ihrer Menschenrechtsqualität vor einer Aushöhlung schützt“). Damit wird der Wesensgehalt eines Grundrechts hier als absolut geschützter verstanden, was unter anderem zur Unvereinbarkeit mit einer auf eine Abwägung hinauslaufenden Verhältnismäßigkeitsprüfung führt. S. zu den zu Art. 19 Abs. 2 GG vertretenen absoluten und relativen Definitionsansätzen weiterführend etwa Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II  GG (2005), S. 62 ff.; Sachs / Sachs (2018), Art. 19 Rn. 41 ff., jeweils m. w. N. 1139 So auch Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 28; Dreier / ders. (2013), Art. 1 I Rn. 163; Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 52 („wenn und soweit das Einzelgrundrecht einen Menschenwürdekern enthält“); wohl auch Uhrig, Die Schranken des Grundgesetzes für die europäische Integration (2000), S. 80 („Grundbestand an Menschenrechten, in denen sich der Anspruch auf Achtung und Schutz der Menschenwürde verwirklicht“); vgl. für eine Aufzählung in Betracht kommender grundgesetzlicher Garantien auch Maunz /  Dürig / Herdegen (88. Lfg. 2019), Art. 79 Rn. 121; s. bzgl. Art. 16a GG auch BVerfG, Urteil v. 14.05.1996 (2 BvR 1938, 2315/93), BVerfGE 94, 49 (103) („Daraus läßt sich indes nicht der Schluß ziehen, daß das Asylgrundrecht zum Gewährleistungsinhalt von Art. 1 Abs. 1 GG gehört.“). A. A. etwa BVerfG, Beschluss v. 10.10.1995 (1 BvR 1476, 4980/91 und 102, 221/92), BVerfGE 93, 266 (293) („Wurzel aller Grundrechte“); BVerfG, Beschluss v. 24.02.1971 (1 BvR

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aus die Beantwortung der Frage, ob ein konkretes Grundrecht überhaupt Ausfluss der Menschenwürde und damit Ausdruck einer „grundrechtsgewordenen Ethik“ ist.1140 In der Konsequenz gehe ich sodann auch davon aus, dass die Wesens­ gehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG mangels Bedarfs nicht auf die Menschenwürdegarantie anwendbar ist,1141 da diese nicht nur umfassend am durch Art. 79 Abs. 3 GG gewährten Schutz partizipiert, sondern eine Differenzierung zwischen der identitätsgesicherten Menschenwürdegarantie selbst und ihrem Wesensgehalt unmöglich erscheint.1142 Schließlich wird der Unterschied zwischen beiden Garantien auch hinsichtlich ihres jeweiligen Adressatenkreises deutlich: Während Art. 79 Abs. 3 GG den verfassungsändernden Gesetzgeber in die Pflicht nimmt, spricht Art. 19 Abs. 2 GG den einfachen Gesetzgeber an.1143 Damit ist mit Schöbener auch davon auszugehen, dass Art. 79 Abs. 3 GG keinen höheren Rang gegenüber an435/68), BVerfGE 30, 173 (194) („Gebot der Menschenwürde, das allen Grundrechten zugrunde liegt“); Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 49; Hömig, EuGRZ 2007, 633 (634) („Das Postulat der Unantastbarkeit der Menschenwürde liegt danach allen Grundrechten zugrunde […].“); Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (45) („Hineinwirken des Art. 1 Abs. I über alle Grundrechte“); vgl. auch von Mangoldt, Nr. 29: Zweiundzwanzigste Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen, in: Deutscher Bundestag / Bundesarchiv, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, 5/II (1993), S. 584 (591) („Es ist nicht ganz richtig, wenn Herr Geheimrat Thoma sagt, die ganzen anderen 18 oder mehr Artikel dienten nicht dieser Wahrung der Menschenwürde. Denn jeder Artikel für sich gewährleistet ein Stück Freiheit, das notwendig ist, um die Menschenwürde zu gewähr­ leisten.“); vage auch Bock, ZIS 2019, 298 (305) („fast alle Grundrechte“). Unklar BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (310) („Was im Rahmen einzelner Grundrechte zum Gewährleistungsinhalt des Art. 1 Abs. 1 GG gehört, ist durch Auslegung der jeweiligen Grundrechtsnorm eigenhändig zu bestimmen.“). S. für einen Überblick zur Rspr. des BverfG zu einzelnen an Art. 1 GG „sinngebundenen“ Grundrechten die Darstellung bei Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 173 m. w. N. 1140 Hufen, Staatsrecht II (2018), § 10 Rn. 1; vgl. auch Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (94) (Menschenwürde als Kodifikation der „wesentlichen Gerechtigkeitspostulate neuzeitlicher praktischer Vernunftphilo­ sophie“). Zutr. auch Schaks, JuS 2015, 407 (410) („Schließlich ist mit dem „Wesen“ das Typische des Grundrechts bezeichnet; die Menschenwürde knüpft allein an das Menschsein an.“); Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 151, wonach die Menschenwürde ihren Zweck in sich trage. S. dazu auch Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. 44 ff., der zutr. ausführt, dass der Föderalismus und die weiteren Strukturprinzipien der Bundesrepublik keiner naturrechtlichen Begründung zugänglich seien. 1141 Vgl. insoweit zutr. auch Sachs / Höfling (2018), Art. 1 Rn. 11 m. w. N., der sich gegen Ansätze zur Relativierung der Menschenwürdegarantie ausspricht und eine Differenzierung in einen Würdekern und einen weiteren Schutzbereich ausschließt. Gegen einen nur „deklarato­ rischen“ Charakter des Art. 79 Abs. 3 GG in diesem Zusammenhang etwa Stern, JuS 1985, 329 (334). 1142 Vgl. zur schwierigen Abgrenzung zwischen Menschenwürdekern und „Unantastbarkeitsdogma“ auch Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 28. 1143 BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (311); Maunz / ​ Dürig / Remmert (88. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 26, 31; Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 174; Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 7, 11; Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art. 19 Rn. 66, Art. 79 Rn. 28; Stern, § 89 Die Unantastbarkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 1071 (1083, 1099); Schaks, JuS

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deren grundgesetzlichen Normen einnimmt,1144 aber aufgrund der Tatsache, dass Art. 79 Abs. 3 GG auch der Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist, dieser als ius cogens des Grundgesetzes zu begreifen ist, während anderen – und damit auch Art. 19 Abs. 2 GG – der Rang von ius dispositivum zukommt.1145 Damit lässt sich mit dem BVerfG – jedenfalls im Ergebnis – zutreffend konstatieren, dass „[i]nsoweit […] der den europäischen Auslieferungsverkehr beherrschende Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens durch die Garantie der Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG begrenzt [wird].“1146 Der umstrittenen Frage, was nun genau unter dem Begriff der Menschenwürde zu verstehen und wie demnach der Schutzbereich des Art. 1 Abs. 1 GG zu definieren ist, kann an dieser Stelle nicht weiter nachgegangen werden.1147 Es bleibt nur festzuhalten, dass nicht zuletzt auch das BVerfG die Menschenwürde als ein dem Menschen aufgrund seines Menschseins zustehenden Achtungsanspruchs definiert1148 und dieses eher naturrechtliche denn normativ geprägte Verständnis dem hier vertretenen rechts-ethischen Ansatz sehr nahe kommt.1149 Im Ergebnis ist damit noch auf zweierlei hinzuweisen: Zum einen kann die Frage, ob der Menschenwürdegehalt eines Grundrechts betroffen ist, nur durch dessen Auslegung selbst erreicht werden.1150 Zum anderen soll es hier i. S. e. von Dürig vorgetra­genen Negativdefinition1151 mit der Feststellung sein Bewenden haben, dass eine Beeinträchtigung der Menschenwürdegarantie unter Rückgriff auf die ebenfalls von Dürig entwickelte „Objektformel“ jedenfalls dann vorliegt, sobald dem Betroffe2015, 407; i. Erg. eine Bindung des verfassungsändernden Gesetzgebers an Art. 19 Abs. 2 GG auch ablehnend Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG (2005), S. 33 ff. (37). 1144 So aber Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art. 79 Rn. 8. 1145 Friauf / Höfling / Schöbener (Stand 03/2019), Art. 79 Rn. 97. S. auch Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 90, wonach Art. 79 Abs. 3 GG keine „formal höhere Rangstufe innerhalb des GG“ einnehme, jedoch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber „förmlich als ranghöherer Prüfungsmaßstab“ anzusehen sei. 1146 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (355). 1147 S. etwa monographisch aus jüngerer Zeit nur Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte (2019), S. 181 ff.; von der Pfordten, Menschenwürde (2016), S. 54 ff.; Blömacher, Die Menschenwürde als Prinzip des deutschen und europäischen Rechts (2016), S. 20 ff.; für eine Untersuchung der Menschenwürdegarantie in der EMRK von Schwichow, Die Menschenwürde in der EMRK (2016), S. 23 ff.; s. auch Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 162 m. w. N.; Hömig, EuGRZ 2007, 633 (636 ff.). 1148 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 27.12.2005 (1 BvR 1359/05), BVerfGK 7, 120 (122); BVerfG, Beschluss v. 20.10.1992 (1 BvR 698/89), BVerfGE 87, 209 (228). Ebenso Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 1 Rn. 6; Poscher, JZ 2009, 269 (274). 1149 S. hierzu auch die sogenannte „Mitgifttheorie“, wonach die Menschenwürdegarantie als Inbegriff dessen anzusehen sei, was den Menschen als Menschen auszeichnet. Vgl. dazu m. w. N. nur Kingreen / Poscher, Grundrechte (2019), Rn. 412; Hufen, Staatsrecht II (2018), § 10 Rn. 5. 1150 BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (310 f.) (bzgl. Art.  13 Abs.  1  GG); Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 49. 1151 Dürig, Zur Bedeutung und Tragweite des Art. 79 Abs. III GG, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 41 (44 f.) („Natürlich sollte man sich nicht anmaßen, das Menschenwürdeprinzip positiv verbindlich zu interpretieren, aber man kann sagen, was dagegen verstößt.“ [Herv. i. O.]).

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

nen seine sich aus der Menschenwürde ergebende Subjektstellung aberkannt und er zum bloßen Objekt – im Fall der Auslieferung des staatlichen Strafanspruchs des ersuchenden Staates – degradiert wird1152 und ihm die seine subjektive Verfahrensrolle kennzeichnenden Rechte im Ausstellungs- oder Vollstreckungsstaat nicht zugestanden werden.1153 Für die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls muss damit aus rein grundgesetzlicher Perspektive jedoch unberücksichtigt bleiben, ob die Vollstreckung ein absolut gewährleistetes oder den Wesensgehalt eines beschränkbaren Grundrechts beeinträchtigen würde  – soweit damit nicht zugleich dessen Menschen­ würdegehalt betroffen ist. Denn zum einen gilt es, eine Rückkehr zum noch durch die „Solange I“-Rechtsprechung etablierten Rechtszustand zu vermeiden und darf zum anderen der im Unionsraum allein zulässige „identitätsgeleitete national-verfassungsrechtliche“ ordre public nicht durch einen allgemeinen nationalen ordre public international, der durch eine umfassende Grundrechtsbeachtung gekennzeichnet ist (Art. 6 S. 2 EGBGB und § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO), ersetzt werden.1154 Damit wird die Rechtsfolge einer (allein) i. S. d. Art. 19 Abs. 2 GG wesengehaltsbeeinträchtigenden Vollstreckung eines Haftbefehls durch deutsche Behörden – nämlich deren grundsätzliche Verfassungswidrigkeit1155 – durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts verdrängt. Allerdings wird auch vorgebracht, dass „[d]ie ver­ fassungsrechtliche Ermächtigung der Art. 24 und 23 GG […] zur Übertragung von Hoheitsbefugnissen auf […] die Europäische Union […] keine Rechtfertigung für das Antasten des Wesensgehalts der Grundrechte [bieten]“ und „der Wesensgehalt 1152 Dürig, AöR 81 (1956), 117 (127) („Die Menschenwürde als solche ist getroffen, wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird.“); BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (25 ff. [27]) („Mißachtung und Geringschätzung der menschlichen Person“ und ihre „Auslieferung an die Willkür der Behörden“ als Verletzung der Menschenwürde); BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (312 f.); BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 (2 BvR 2029/01), BVerfGE 109, 133 (149 f.); BVerfG, Urteil v. 15.02.2006 (1 BvR 357/05), BVerfGE 115, 118 (153); vgl. dazu auch Hong, Der Menschenwürdegehalt der Grundrechte (2019), S. 672 ff. 1153 S. insoweit auch BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (355) („Sie [die deutschen Behörden und Gerichte] sind vielmehr gehalten, beim Vollzug des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl […] sicherzustellen, dass die von Art. 1 Abs. 1 GG geforderten Mindestgarantien von Beschuldigtenrechten auch im ersuchenden Mitglied­staat beachtet werden, oder – wo dies nicht möglich ist – von einer Auslieferung abzusehen.“). 1154 Dagegen aber BVerfG, Beschluss v. 24.07.2018 (2 BvR 1961/09), juris, Tz. 30, 32 m. w. N. zur früheren Rspr., wonach „die generelle Gewährleistung des Wesensgehalts der Grundrechte als den vom Grundgesetz geforderten Mindeststandard an Grundrechtsschutz bei Verabschiedung und Vollzug eines Integrationsprogramms“ zu beachten sei. 1155 Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 149; Sachs / Sachs (2018), Art. 19 Rn. 47; Sodan / Sodan (2018), Art. 19 Rn. 9; Dreier / Dreier (2013), Art. 19 II Rn. 19 (Nichtigkeit bei Legislativakten); für die Rechtsfolge der Nichtigkeit aber etwa Maunz / ​ Dürig / Remmert (88. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 48; Friauf / Höfling / de Wall (Stand 03/2019), Art. 19 I, II Rn. 114 m. w. N.

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eines Grundrechts […] [a]uch gegenüber Eingriffsakten supranationaler Gewalt resistent ist […].“1156 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass – so sehr es auf den ersten Blick auch anmuten mag, nicht einmal den Wesensgehalt eines Grundrechts als Grenze der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls anzuerkennen1157 – die Wesensgehaltsgarantie den einfachen, nicht aber den verfassungsändernden Gesetzgeber bindet.1158 Diesem steht es – freilich nur bis zur Grenze des Art. 79 Abs. 3 GG – sogar frei, einzelne Grundrechte „zu ändern, einzuschränken oder sogar aufzuheben.“1159 Schließlich bleibt auch auf die – im Gegensatz zu Art. 19 1156

Schmidt-Bleibtreu / Klein / Hofmann (2018), Art. 19 Rn. 17; so auch noch BVerfG, B ­ eschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (386) („[der Wesensgehalt der Grundrechte […] ist unabdingbar und muß auch gegenüber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaft Bestand haben.“); s. auch Kirchhof, EuR, Beiheft 1, 1991, 11 (19); Stern, § 85 Der Schutz des Wesensgehalts der Grundrechte, in: Stern, Staatsrecht, Band III/2 (1994), S. 837 (883 f.), der jedoch zugleich unter Verweis auf die „Solange II“-Entscheidung des BVerfG (BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 [2 BvR 197/83], BVerfGE 73, 339) betont, „daß die zwischenstaatliche Einrichtung, die ‚den Wesensgehalt der vom Grundgesetz anerkannten Grundrechte zu beeinträchtigen in der Lage ist‘, an Rechtssätze gebunden sein muß, ‚die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar ist, im wesentlichen gleichkommen.“ 1157 Explizit für eine Begrenzung der Übertragung von Hoheitsrechten durch einen „‚indirekten Schutz‘ des Wesensgehalts der Grundrechte“ aber Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG (2005), S. 38, die i. Erg. jedoch ebenso betont, dass die Einwirkungsmöglichkeiten des Gemeinschaftsrechts allein durch Art. 23 GG begrenzt seien und Art. 19 II GG insoweit keine Bedeutung zukomme (42); für einen indirekten Schutz des Wesensgehalts durch Art. 79 Abs. 3 GG auch von Münch / Kunig / Krebs (2012), Art. 19 Rn. 21, der aber ebenfalls ausführt, dass „Art. 19 Abs. 2 GG gegenüber der Hoheitsgewalt der Europäischen Union [keine Bindungswirkung entfaltet];“ krit. insoweit Bonner Kommentar / Nierhaus (201. Lfg. 2019), Art. 19 Abs. 2 Rn. 139. Für eine Unanwendbarkeit sekundären Unionsrechts in Folge eines Verstoßes gegen die Wesensgehaltsgarantie im Grundsatz auch von Mangoldt / Klein / Starck / Huber (2018), Art. 19 Rn. 181 ff. (184), „wenn das (primäre) Unionsrecht aus strukturellen Gründen nicht in der Lage ist, Beeinträchtigungen der von Art. 1–19 erfassten Schutzgüter durch die Unionsgewalt wirksam abzuwehren […].“ 1158 S. dazu bereits Fn. 1143 mit Haupttext. 1159 BVerfG, Urteil v. 03.03.2004 (1 BvR 2378/98, 1084/99), BVerfGE 109, 279 (310) („Er [Art. 79 Abs. 3] hindert den verfassungsändernden Gesetzgeber dagegen nicht, die positivrechtliche Ausprägung dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren […]. Das Bundesverfassungsgericht hat das Recht des verfassungsändernden Gesetzgebers zu respektieren, einzelne Grundrechte zu ändern, einzuschränken oder sogar aufzuheben, sofern er die in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze nicht berührt.“); Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art. 79 Rn. 27. Wie u. a. Sachs ausführt, sei eine ersatzlose Streichung des Grundrechtskatalogs ebenfalls mit Art. 79 Abs. 3 GG unvereinbar, weil Art. 79 Abs. 3 GG auf Art. 1 Abs. 3 GG verweise, der die „Existenz ‚nachfolgender Grundrechte‘ voraus[setzt]“, s. Sachs / Sachs (2018), Art. 79 Rn. 57 m. w. N. in Fn. 160; s. auch BVerfG, Urteil v. 23.04.1991 (1 BvR 1170, 1174, 1175/90), BVerfGE 90 (120 f.); Kübler, Über Wesen und Begriff der Grundrechte (1965), S. 151; Drews, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG (2005), S. 33 („Art. 19 II GG zwar nicht ‚formell‘, jedoch über Art. 1 III GG ‚materiell‘ verfassungsänderungsfest“); von Münch / Kunig / Krebs (2012), Art. 19 Rn. 20; gegen eine solche Lösung unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG Schulz, Änderungsfeste Grundrechte (2008), S. 68 f.; für eine überzeugende Differenzierung unter Verweis auf den eindeutigen Wortlaut von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn. 37, der betont, dass die Menschenwürde ohne Konkretisierung in den Einzelgrundrechten leer liefe; s. auch von Mangoldt / Klein / Starck / Huber (2018), Art. 19 Rn. 115 (Parallelität von Art. 19 Abs. 2 und Art. 79 Abs. 3 GG, „soweit sich die Wesensgehaltsgarantie jedoch mit Art. 1 Abs. 1 GG deckt.“).

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Abs. 2 GG gegenüber der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bedeutsame  (!)1160  – auch im Unionsrecht vorgesehene Wesensgehaltsgarantie (Art. 52 Abs. 1 S. 2 GRCh) hinzuweisen.1161 Eine Unterstellung des haftbefehlsbasierten Übergabeverfahrens unter den deutschen Grundrechtsschutz ist damit freilich nicht verbunden. Denn einerseits wird ungeachtet des Identitätsschutzes am durch die „Solange II“-Rechtsprechung begründeten Rechtszustand mit seinem als grundsätzlich grundgesetzadäquat zu achtenden Schutzstandard in der Union festgehalten.1162 Andererseits beschränkt sich der Identitätsschutz auf die Menschenwürdegarantie und das entsprechende Fundament eines jeden menschenwürdegeprägten Grundrechts,1163 wobei jedoch darauf hinzuweisen ist, dass ein Menschenwürdegehalt durch Art. 1 GRCh auch im Unionsraum (sowie der Rechtsprechung des EGMR1164) anerkannt ist.1165 Die Durchsetzung des Unionsrechts hindernde Auswirkungen einer Berufung auf die Verfassungsidentität werden sich damit in Grenzen halten, weil zumindest in der Regel auch das Unionsrecht und die EMRK verletzt würden,1166 was wiederum zur Vollstreckungsverweigerung aufgrund des europäischen ordre public resp. des europäisierten nationalen ordre public international berechtigt. Die vorstehenden Überlegungen führen also dazu, dass die Menschenwürde­ garantie des Art. 1 Abs. 1 GG und das Menschenwürdefundament aller Grund 1160

S. hierzu bereits S. 256 ff. S. dazu aber Friauf / Höfling / de Wall (Stand 03/2019), Art. 19 I, II Rn. 78, wonach die Wesensgehaltsgarantie des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GRCh vor dem Hintergrund des Art. 23 Abs. 1 GG nicht zwingend erforderlich sei. 1162 S. zur Abgrenzung der Identitätskontrolle von einem umfassenden Grundrechtsvorbehalt i. S. d. „Solange I“-Rpr. bereits o. Fn. 701 mit Haupttext. 1163 S. in diesem Zusammenhang für eine restriktive Auslegung der Menschenwürdegarantie ausdrücklich auch Bock, ZIS 2019, 298 (305 f.). 1164 S. zur Rspr. des EGMR die Nachweise in Fn. 1103. 1165 EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712) („Das in Art. 4 der Charta aufgestellte Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung hat absoluten Charakter, da es eng mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist, auf die sich Art. 1 der Charta bezieht […].“); dazu auch Hong, EuConstLRev 12 (2016), 549 (562); Gáspár-Szilágyi, EurJCrClCJ 24 (2016), 197 (212); s. auch Holoubek / Lienbacher / Rumler-Korinek / Vranes (2019), Art. 52 Rn. 18, wonach die Würde des Menschen „als zum Wesensgehalt der übrigen Chartarechte gehörend verstanden wird.“ S. auch Rode, Verfassungsidentität und Ewigkeitsgarantie (2012), S. S. 44, wonach sich zumindest die hinsichtlich des Art. 20 GG ergebenden Grundentscheidungen auch „in den meisten europäischen Verfassungen in ähnlicher Weise“ finden ließen; s. für einen Rechtsvergleich hinsichtlich der „Ewigkeitsgarantie“ auch Friauf / Höfling / Schöbener (Stand 03/2019), Art. 79 Rn. 28 ff. Zur ungenauen Verpflichtung zur Achtung des Menschenwürdekerns aus Art. 2 S. 2 EUV aber Britz, JZ 2013,105 (107). S. zur „zurückhaltenden und europarechtsfreundlichen“ Ausübung der bundesverfassungsgerichtlichen Kontrollbefugnisse nur BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (339). 1166 S. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 116, wonach der Menschenrechtsstandard in der EU ein höherer etablierter als der globale und dem deutschen dabei auch erheblich näher sei. 1161

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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rechte des Grundgesetzes zur Verfassungsidentität zählen, soweit sie in ihrem engsten Bestand an Art. 1 Abs. 1 GG rückgekoppelt sind.1167 Damit sind sie der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls obligatorisch entgegen zu halten,1168 weil die Grundrechte als Schutzpositionen des Einzelnen den verfassungsändernden Gesetzgeber umfassend binden und der deutsche Rechtsanwendungsbefehl zugunsten des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sich insoweit am identitätsgesicherten Grundrechtsbestand des Grundgesetzes messen lassen muss. Damit ist aber gerade auch wegen der möglichen Aufladung des Identitätsschutzes um den Menschenwürdegehalt eines jeden grundgesetzlich gewährleisteten Rechts eine hinreichende Konturierung festzustellen, da insoweit zwar alle menschenwürdebasierten Grundrechte in ihrem Würdegehalt – aber eben auch nur diese und soweit – zur Vollstreckungsverweigerung bedient werden können.1169 Die Rückbindung einer grundrechtlichen Schutzposition an die Menschenwürde bedarf dabei ebenfalls der Untersuchung im Einzelfall. An dieser Stelle lässt sich 1167 BVerfG, Beschluss v. 10.10.1995 (1 BvR 1476, 4980/91 und 102, 221/92), BVerfGE 93, 266 (293) (Menschenwürde als „Wurzel aller Grundrechte“); BVerfG, Urteil v. 21.06.2016 (2 BvR 2728/13 et al.), BVerfGE 142, 123 (195) („Menschenwürdekern der Grundrechte“); Schulz, Änderungsfeste Grundrechte (2008), S. 70 f. mit einem eigenen Ansatz zur Konkretisierung des Würdegehalts (71 ff.); s. explizit mit Bezug zur Identitätskontrolle auch von Mangoldt / Klein / Starck / Huber (2018), Art. 19 Rn. 186, wonach eine Auslegung der einzelnen Grundrechte zu ergeben habe, ob der durch Art. 79 Abs. 3 GG garantierte Gewährleistungsgehalt des Art. 1 Abs. 1 GG beeinträchtigt sei; Sauer, NJW 2016, 1134 (1137); Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (114) („Aus dem Verbot einer Reduktion dieser Gewährleistungen des Art. 1 Abs. 1 GG muss wohl gefolgert werden, dass alle Gewährleistungen, die das BVerfG für inländische Sachverhalte der Menschenwürde entnimmt […], in vollem Umfang auch auf Sachverhalte mit Auslandsbezug zu erstrecken sind. Alle!“); Karaosmanoğlu / Ebert, DVBl. 2016, 875 (878 mit Fn. 55 [allerdings unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 GG]); Nettesheim, JZ 2016, 424 (427); Brodowski, JR 2016, 415 (423 f.) („dass jedenfalls das Allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) in all’ seinen Ausprägungen, möglicherweise aber auch weitere Grundrechte Gegenstand einer Identitätskontrolle werden können.“); Oehmichen, StV 2017, 257 (259 f.) mit einer nicht abschließenden Aufzählung möglicher Anwendungsbereiche der Verfassungsidentitätskontrolle (Verstöße gegen ein faires Verfahren, die Selbstbelastungsfreiheit [dazu noch unten Fn. 1175 mit Haupttext], Verletzungen des Kernbereichs privater Lebensgestaltung, des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme sowie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts). 1168 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (355); für ein Auslieferungshindernis auch Lagodny, Rechtsstellung des Auszuliefernden (1987), S. 60; Schmalenbach, § 122 Verbot der Auslieferung, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte (2010), Rn. 70 („Den Lackmustest des Art. 1 Abs. 1 GG muss die konkrete Auslieferung in jedem Einzelfall bestehen, wenn das Verfahren oder die zu erwartende Strafe im Empfangsstaat dazu Anlaß gibt.“). S. auch Paulus, Gedanken zur Verfassungskontrolle der Europäischen Union aus völkerrechtlicher Sicht, in: Bouffier et al., Liber amicorum Landau (2016), S. 269 (278), wonach eine Ermessensentscheidung hinsichtlich der Identitätskontrolle in Verantwortung der Mitgliedstaaten der mit Anwendungsvorrang ausgestatteten unionalen Rechtsordnung zuwiderliefe. 1169 S. auch Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (123), die zu Recht betonen, dass eine eindeutige Schutzbereichsabgrenzung der Menschenwürdegarantie zu „effektiverer Wirksamkeit“ verhelfe; Hong, EuConstLRev 12 (2016), 549 (558), der die Rspr. des BVerfG zum Menschenwürdegehalt als „way to escape dignity’s vagueness“ ansieht.

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festhalten, dass insoweit die durch Art. 1 Abs. 1 GG gebotenen strafverfahrensrelevanten Rechte eine besondere Rolle einnehmen, die dem Beschuldigten seine eigenständige Verfahrensposition zuerkennen.1170 Zur Verfassungsidentität werden sich damit in erster Linie und nicht abschließend das Verbot der Folter1171 und unmenschlicher sowie erniedrigender Bestrafung1172 und menschenrechtswidriger Haftbedingungen zählen lassen.1173 Aber auch Verstöße gegen die Unschuldsvermutung1174 und das Verbot zur Selbstbelastung (nemo tenetur se ipsum accusare)1175 sowie eklatante Beeinträchtigungen des Schuldgrundsatzes sind erfasst.1176 Nichts-

1170 Vgl. nur BVerfG, Beschluss v. 26.05.1981 (2 BvR  215/81), BverfGE 57, 250 (275) („[…] Art. 1 Abs. 1 GG, der […] einen Mindestbestand an aktiven verfahrensrechtlichen Befugnissen des Angeklagten voraussetzt.“). 1171 BVerfG, Beschluss v. 14.12.2004 (2 BvR 1249/04), BVerfGK 4, 283 (285); BVerfG, Beschluss v. 09.01.1963 (1 BvR 85/62), BVerfGE 15, 249 (255 f.). 1172 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 20.06.2012 (2 BvR 1048/11), BVerfGE 131, 268 (287); BVerfG, Beschluss v. 06.07.2005 (2 BvR 2259/04), BVerfGE 113, 154 (162); BVerfG, Urteil v. 05.02.2004 (2 BvR 2029/01), BVerfGE 109, 133 (150); BVerfG, Beschluss v. 24.04.1986 (2 BvR  1146/85), BVerfGE 72, 105 (115 f.); BVerfG, Urteil v. 21.06.1977 (1 BvL  14/76), BVerfGE 45, 187 (228). 1173 BVerfG, Beschluss v. 04.12.2019 (2 BvR 1258/19 und 1497/19), Tz. 59; BVerfG, Beschluss v. 28.07.2016 (1 BvR 1695/15), juris, Tz. 19; BVerfG, Beschluss v. 22.03.2016 (2 BvR 566/15), NJW 2016, 1872 (1874), jeweils zugleich betonend, dass die Frage, „[o]b die Art und Weise der Unterbringung eines Strafgefangenen die Menschenwürde verletzt, […] von einer Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände abhängig [ist] […].“; BVerfG, Beschluss v. 20.06.2012 (2 BvR 1048/11), BVerfGE 131, 268 (287) („Aus Art. 1 I GG folgt die Verpflichtung des Staates, auch die Freiheitsentziehung menschenwürdig auszugestalten.“); BVerfG, Beschluss v. 27.02.2002 (2 BvR 553/01), NJW 2002, 2699 (2700); Röß, EPL 25 (2019), 25 (32). S. dazu auch ausf. Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 165 ff., mit einer Untersuchung der auslieferungsrelevanten Rspr. zum ausländischen Strafvollzug (322 ff.). Zur Konstellation des menschenrechtswidrigen Haftvollzugs s. noch ausf. S. 333 ff. 1174 Brodowski, JR 2016, 415 (432), der auch Fälle des plea bargaining als möglichen Anwendungsbereich aufführt; zw. zur Vereinbarkeit des plea bargaining mit dem Schuldgrundsatz auch Oehmichen, StV 2017, 257 (259). 1175 S. etwa BVerfG, Urteil v. 19.03.2013 (2 BvR 2628, 2883/10, 2155/11), BVerfGE 133, 168 (201); BVerfG, Beschluss v. 06.09.2016 (2 BvR 890/16), JZ 2016, 1113 (1114); BVerfG, Beschluss v. 26.02.1997 (1 BvR 2172/96), BVerfGE 95, 220 (241); BVerfG, Beschluss v. 13.01.1981 (1 BvR 116/77), BVerfGE 56, 37 (43); BVerfG, Beschluss v. 22.10.1980 (2 BvR 1172, 1238/79), BVerfGE 55, 144 (150); Oehmichen, StV 2017, 257 (260). S. zur Verwertung des Schweigens auch Meyer, HRRS 2016, 332 (337); Brodowski, JR 2016, 415 (432). 1176 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (341); BVerfG, Urteil v. 30.06.2009 (2 BvE 2/08 et al.), BVerfGE 123, 267 (413); BVerfG, Beschluss v. 14.01.2004 (2 BvR 564/95), BVerfGE 110, 1 (13); BVerfG, Beschluss v. 15.06.1989 (2 BvL  4/87), BVerfGE  80, 244 (255); BVerfG, Beschluss v. 17.01.1979 (2 BvL  12/77), BVerfGE 50, 205 (214 f.); BVerfG, Urteil v. 21.06.1977 (1 BvL 14/76), BVerfGE 45, 187 (228); BVerfG, Beschluss v. 26.02.1969 (2 BvL 15, 23/68), BVerfGE 25, 269 (285); KG, Beschluss v. 15.02.2019 ((4) 151 AuslA 178/17 (10/18)), juris, Tz. 41; Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art. 79 Rn. 67; s. dazu auch Satzger, NStZ 2016, 514 (522), der drei mögliche Anwendungsbereiche für die Verfassungsidentitätskontrolle sieht, nämlich für Delikte, die (1.) im Ausstellungsstaat einer Bestrafung ohne umfassenden Schuldnachweis unterliegen („strict liability“), (2.) eine Be-

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destotrotz bleibt auch hier darauf hinzuweisen, dass die Beeinträchtigung genannter Rechtspositionen in der Regel auch seitens des Unions- wie Konventionsrechts zur Vollstreckungsverweigerung berechtigt.1177 Damit scheitert die Vollstreckung am deutschen Grundrechtsbestand, wenn das europäische Grundrechtsniveau gemäß der „Solange II“-Entscheidung ein systematisches Defizit derart erkennen lässt, dass dieses hinter dem deutschen zurückbleibt (dann Reaktivierung der „Solange I“-Rechtsprechung) oder im Einzelfall der deutsche identitätsstiftende Grundrechtsbestand als solcher nicht gewährleistet ist und dann die Identitätskontrolle eingreift. Dabei ist allerdings zu beachten, dass der identitätsprägende Grundrechtsbestand höchst restriktiv zu interpretieren ist,1178 da die Identitätskontrolle anderenfalls zu einem umfassenden Grundrechtsvorbehalt erstarken und damit tatsächlich die „Solange II“-Doktrin leerlaufen lassen würde1179 und schlussendlich die symbolische Wirkung einer fundamentalen Identitätsabsicherung verloren ginge.1180 3. Änderungsfeste Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips Wie bereits ausgeführt, erstreckt sich der Schutz der Verfassungsbestandsklausel endlich auch auf die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze. Dazu wird – entsprechend Art. 6 Abs. 1 EUV1181 – teilweise ungeachtet eines fehlenden eindeutigen Wortlautbezugs auch das Rechtsstaatsprinzip gezählt, das in der Homogenitätsklausel des Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG als Strukturprinzip für die Bundesländer gefordert und aufgrund der Anknüpfung an die Bundesstruktur auch für den Bund

strafung auf Grundlage der aus dem angloamerikanischen Rechtskreis bekannten Rechtsfigur des „Joint Criminal Enterprise“ ermöglichen und (3.) für die eine Bestrafung nach deutschem Recht an den §§ 20, 21 StGB scheitern würde. 1177 Für eine Bewertung des Folterverbots sowie des Verbots unmenschlicher und erniedrigender Bestrafung als Ausfluss der Menschenwürde etwa auch EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712); EGMR GK, Bouyid v. Belgien, Urteil v. 28.09.2015 (23380/09), NJOZ 2017, 703 (705) m. w. N. („Das Verbot der Folter sowie der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe ist ein Wert der Zivilisation, der unmittelbar mit der Achtung der Würde des Menschen verbunden ist.“). 1178 S. zur restriktiven Interpretation des Art. 79 Abs. 3 GG bereits die Nachweise in Fn. 1118. 1179 Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (335); Finke, HRRS 2016, 327 (331). S. auch ­Eßlinger / Herzmann, Jura 2016, 852 (859), die in Bezug auf die Entscheidung 2 BvR 2735/14 v. 15.12.2015 betonen, dass „das Kontrollinstrument [der Identitätskontrolle] weiter konturiert [wird].“ 1180 Schönberger, JZ 2016, 422 (424) („Entdifferenzierung der Unterscheidung zwischen einfachem und änderungsfestem Verfassungsrecht“); zust. Reinbacher / Wende, EuGRZ 2016, 333 (335). 1181 S. dazu Schmidt-Aßmann, § 26  Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 103 ff.

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vorausgesetzt wird.1182 Das BVerfG hat hierzu bereits in seinem sogenannten Abhörurteil vom 15.12.1970 statuiert, dass das Rechtsstaatsprinzip selbst nicht in Art. 20 GG niedergelegt, jenes vielmehr weiter gefasst sei als die Ausprägungen dieser Norm.1183 In späteren Entscheidungen wurde diese Lesart aufrechterhalten, wenn im Zusammenhang mit rechtsstaatlichen Garantien nur noch von der Grundlage „im Rechtsstaatsprinzip“ die Rede war, ohne jeweils auf Art. 20 oder 79 Abs. 3 GG zu rekurrieren.1184 In der Literatur wird das Rechtsstaatsprinzip selbst teilweise als gem. Art. 79 Abs. 3 GG einer Grundgesetzänderung entzogen angesehen.1185 Die Grundsatzfrage nach dem Umfang der Bindungswirkung des Art. 79 Abs. 3 GG zugunsten eines Rechtsstaatsprinzips als solchem bedarf hier auf den ersten Blick keiner abschließenden Beantwortung, wäre damit doch kein weiterer Ertrag gewonnen, da die Frage nach der inhaltlichen Ausgestaltung etwaiger einzelner durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützter Ausflüsse des Rechtsstaatsprinzips weiter unbeantwortet bliebe.1186 Darin liegt aber auch das Problem der Anwendung 1182

Bonner Kommentar / Evers (201. Lfg. 2019), Art. 79 Abs. 3 Rn. 202; Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 76; unter Verweis auf Art. 20 GG auch ­BeckOK-GG / Hellermann (41. Edition 2019), Art. 28 Rn. 7; Schmidt-Aßmann, § 26  Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 16. S. auch BVerfG, Beschluss v. 17.07.2003 (2 BvL 1, 4, 6, 16, 18/99, 1/01), BVerfGE 108, 186 (234 f.) („Das in Art. 20 Abs. 3 und in Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG verankerte Rechtsstaatsprinzip“). Gegen einen solchen Norminhalt Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 68 ff., der zugleich betont, dass sich damit nicht der Schluss auf ein allgemeingültiges Rechtsstaatsprinzip durch die Gesamtinterpretation der grundgesetzlichen Normen verbiete (72). S. zum Verhältnis von Art. 20 und Art. 28 Abs. 1 GG nur Maunz / Dürig / Mehde (88. Lfg. 2019), Art. 28 Abs. 1 Rn. 21 m. w. N. 1183 BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (24 f.); zust. Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 67; Bonner Kommentar / ​ Robbers (201. Lfg. 2019), Art. 20 Rn. 1779. Gegen eine ausschließliche Verortung in Art. 20 GG sowie eine Absicherung durch Art. 79 Abs. 3 GG auch Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (91 f.). S. auch Schneider, Die Einführung des offenen Sondervotums beim Bundesverfassungsgericht, in: Spanner et al., FG Maunz (1971), S. 345 (354), wonach es das Gericht [gemeint ist das BVerfG] in der Hand hätte, „den unantastbaren Grundsatzkern […] durch seine Rechtsprechung fortlaufend auszubauen.“ 1184 S. etwa BVerfG, Beschluss v. 30.04.2003 (1 PBvU 1/02), BVerfGE 107, 395 (401); BVerfG, Urteil v. 14.07.1998 (1 BvR 1640/97), BverfGE 98, 218 (261); BVerfG, Beschluss v. 30.10.1990 (2 BvR 562/88), BVerfGE 83, 24 (31); BVerfG, Beschluss v. 15.11.1978 (1 BvL 13/77), BVerfGE 50, 42 (47). Anders aber BVerfG, Beschluss v. 17.07.2003 (2 BvL 1, 4, 6, 16, 18/99, 1/01), BVerfGE 108, 186 (234 f.); wohl auch BVerfGE 102, 370 (392). S. dazu aber auch Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 53 Fn. 167, wonach der Entscheidung BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 ff. eine engere Interpretation als den Folgeentscheidungen zu entnehmen sei. 1185 Maunz / Dürig / Grzeszick (88. Lfg. 2019), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 34; Jarass / Pieroth / ​ Jarass (2016), Art. 20 Rn. 37; Sodan / Leisner (2018), Art. 20 Rn. 34; Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 36; Sachs / Sachs (2018), Art. 79 Rn. 73 („[n]icht alle rechtsstaatl. Einzelbestimmungen des GG sind unberührbar, doch sind jedenfalls Verfassungsänderungen ausgeschlossen […].“; Schmidt-Aßmann, § 26 Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 90; Walter, ZaöRV 72 (2012), 177 (182). 1186 So ausdrücklich auch von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 89.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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eines wie auch immer ausgestalteten und womöglich in Art. 20 GG niedergelegten „rechtsstaatlichen Grundsatzes.“ Denn anders als die Garantie eines Menschenwürdegehalts ist das Rechtsstaatsprinzip nicht aus sich heraus hinreichend spezifiziert, damit auch nicht abstrakt anwendbar und somit auf Konkretisierungen angewiesen.1187 Man steht also vor dem Problem, dass zum einen Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG auf die „Grundsätze des Rechtsstaates dieses Grundgesetzes“ Bezug nimmt, und zum anderen zwischen diesen Grundsätzen und Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips zu differenzieren ist. Daran schließt sich wiederum die Frage an, welche der in Erwägung zu ziehenden Konkretisierungen zur Verfassungsidentität zu zählen sind. Es steht also im Ausgangspunkt das (möglicherweise nach Art. 79 Abs. 3 GG umfassend geschützte) Rechtsstaatsprinzip als solches, wonach zwingend all dessen Bestandteile als änderungsfest anzusehen wären,1188 neben dessen selektiven (ebenfalls dem Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG unterstehenden) und den „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public ausmachenden Ausprägungen dieses Prinzips. Dabei ist dem BVerfG beizutreten, wenn es konstatiert, dass das Rechtsstaatsprinzip (im Sinne aller erfassten Konkretisierungen) weiter als ein möglicher von Art. 20 GG erfasster „rechtsstaatlicher Grundsatz“ gefasst ist.1189 Ein alleiniges Abstellen auf die Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips kann indes ebenso wenig überzeugen, da damit die Gefahr einer ausufernden Bestimmung der Verfassungsidentität drohte1190 und dieses Vorgehen weiterhin ihrer Beschränkung auf die Grundsätze des Verfassungskerns entgegenstünde. Es lässt sich nämlich mit Fug und Recht bezweifeln, dass eine Erstreckung des Identitätsschutzes auf alle vorgebrachten Ausprägungen eines Rechtsstaatsprinzips1191 dem restriktiven und absoluten Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG entspräche.1192 Im Übrigen verbietet sich jedoch auch eine weitergehende Differenzierung zwischen „bloßen“ die Verfassungsidentität ausmachenden Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips und solchen den „identitätsgeleiteten national-verfassungsrecht­ 1187 S. nur Maunz / Dürig / Mehde (88. Lfg. 2019), Art. 28 Abs. 1 Rn. 79; ­BeckOK-GG / Huster / Rux (41. Edition 2019), Art. 20 Rn. 141 f. („‚Schleusenbegriff‘, der offen ist für das Einströmen sich wandelnder verfassungsrechtlicher und -theoretischer Vorstellungen“); Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 75, wonach die „schlichte Erwähnung in Art. 20 Abs. 1 GG […] schwierigere Auslegungsprobleme aufgeworfen [hätte]“. 1188 Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 37. 1189 S. soeben Fn. 1183 mit Haupttext. 1190 Krit. insoweit von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 89; B ­ eckOK-GG / ​ Dietlein (41. Edition 2019), Art. 79 Rn. 48.1, die jeweils die Gefahr einer vom Verfassungsgeber nicht beabsichtigten Schutzbereichsausdehnung betonen. 1191 S. hierzu etwa die Untersuchung von Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat (1995), S. 27 ff., die i. Erg. einen Katalog von 142 Merkmalen des Rechtsstaates auflistet (254 ff., 471 ff.). S. auch die Aufzählung bei Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 77 f. und Bonner Kommentar / Robbers (201. Lfg. 2019), Art. 20 Rn. 1808 ff. (18 Ausprägungen). 1192 S. zur Bewertung als in Art. 79 Abs. 3 GG enumerativ aufgezählte Änderungsverbote Schmidt-Bleibtreu / Klein / Sannwald (2018), Art. 79 Rn. 7. Explizit für eine Absicherung „alle[r] im Rechtsstaatsprinzip zusammengefassten Grundsätze“ aber Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 36 f.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

lichen“ ordre public prägenden.1193 Denn eine solche Unterscheidung widerspräche der Entscheidung des Verfassungsgebers, neben den in Art. 1 niedergelegten nur die in Art. 20 GG enthaltenen – und davon sämtliche – Grundsätze absolut zu erfassen1194 und steht eine solche Differenzierung dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zu.1195 Im Ergebnis lässt sich für diese Sichtweise eben auch auf die Aussage des BVerfG im genannten Abhörurteil verweisen, wenn dort gesagt wird, dass das Rechtsstaatsprinzip weiter gefasst sei als die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze. Ungeachtet des Umstandes, dass der Verfassungsidentität damit ein weitgehender Inhalt möglicher rechtsstaatlicher Ausprägungen entzogen wird, überzeugt es im Interesse einer wortlautgetreuen Handhabung der Verfassungsidentitätsklausel und zur Prävention ihrer ausbrechenden Anwendung, sämtliche im Wesentlichen richterrechtliche Konkretisierungen des Rechtsstaatsprinzips nicht zum Bestand des Art. 20 GG zu zählen und damit nicht dem Schutz des Art. 79 Abs. 3 GG zu unterstellen,1196 was jedoch zugleich nicht die Feststellung ausschließt, dass Art. 20 GG rechtsstaatliche Grunderwägungen bereit hält. Diese von Art. 20 GG erfassten rechtsstaatlichen Ausprägungen beschränken sich damit aber auf den in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Gewaltenteilungsgrundsatz1197 sowie die Bindung 1193 Vgl. für eine Differenzierung wohl aber Schmidt-Aßmann, § 26 Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 90, wonach auf der einen Seite das Rechtsstaatsprinzip als solches unabänderlich i. S. d. Art. 79 Abs. 3 GG sei, auf der anderen Seite jedoch (nur) der Kern als änderungsfest anzusehen sei. 1194 Vgl. auch Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (91), die zutr. betont, dass sich „die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG […] auf diejenigen Gehalte des Rechtsstaatsprinzips [beschränkt], für die der Text des Art. 20 GG eine Grundlage bietet.“; ebenso von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 89. 1195 S. insoweit zur Änderungsfestigkeit des Art. 79 Abs. 3 GG selbst etwa BVerfG, Urteil v. 23.04.1991 (1 BvR 1170, 1174, 1175/90), BVerfGE 84, 90 (120) („Zu einer solchen Selbst­ befreiung von den im Grundgesetz festgelegten Schranken einer Verfassungsänderung wäre im übrigen der verfassungsändernde Gesetzgeber auch nicht befugt gewesen.“); Dreier / Dreier (2015), Art. 79 III Rn. 59 m. w. N. in Fn. 195; Maunz / Dürig / Herdegen (88. Lfg. 2019), Art. 79 Rn. 77 („zwingend in der Logik dieser Vorschrift“); Sachs / Sachs (2018), Art. 79 Rn. 80; Jarass / Pieroth / Pieroth (2016), Art.  79 Rn.  19; von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 41 f. m. w. N., der zutr. betont, dass Art. 79 Abs. 3 zwar änderbar, diese Änderungskompetenz jedoch allein der verfassungsgebenden Gewalt vorbehalten ist; von Münch / Kunig / Bryde (2012), Art. 79 Rn. 28; Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 47. 1196 So auch Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 72 ff., 477 ff., der in Art. 20 Abs. 1 GG zwar drei Anhaltspunkte für eine Verankerung des Rechtsstaatsbegriffs sieht, i. Erg. aber die Annahme einer Überführung des „Rechtsstaatsprinzips“ in „das Normprogramm des Art. 20 Abs. 1 GG“ ablehnt. 1197 BVerfG, Urteil v. 15.12.1970 (2 BvF 1/69, 2 BvR 629/68 und 308/69), BVerfGE 30, 1 (24 f.); von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 90; Zacharias, Die sog. Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG, in: Thiel, Wehrhafte Demokratie (2003), S. 57 (92 ff.); Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat (1995), S. 70 ff.; zw. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 76, wonach es „äußerst zweifelhaft“ sei, ob die Gewaltenteilung durch das Rechtsstaatsprinzip geboten sei.

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

315

der Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung und die Bindung der Exekutive und Judikative an Gesetz und Recht.1198 Im Ergebnis bedarf es damit eines weiteren Rückgriffs auf das „allgemeine“ Rechtsstaatsprinzip i. R. d. Art. 20 GG nicht.1199 Aber auch damit ist ein Verzicht auf wesentliche und gerade im Rechtshilfeverkehr Bedeutung erlangende, dem Rechtsstaatsprinzip zugeordnete individualschützende Rechtspositionen nicht verbunden, da diese, etwa das Gesetz­ lichkeitsprinzip – insbesondere in seiner Ausprägung als Rückwirkungsverbot – als an Art. 1 Abs. 1 GG rückgekoppelte Garantie1200 vom ebenfalls Art. 79 Abs. 3 GG unterstellten Schutz des Menschenwürdegehalts abgesichert wird.1201 Damit bleibt es bei der Rechtsbindung der Staatsgewalt  – im Zusammenhang mit der Voll­ streckung eines Europäischen Haftbefehls insbesondere der Exekutive und Judikative – gem. Art. 20 Abs. 3 GG.1202 Das Grundgesetz statuiert so in erster Linie einen umfassenden Vorrang des Verfassungsrechts für den Gesetzgeber1203 und für die Exekutive und Judikative überdies1204 eine Bindung an den Vorrang des einfachen

1198

Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 76 f. („‚teilweise‘ Positivierung ‚des‘ Rechtsstaatsprinzips“); Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat (1995), S. 77 ff.; dagegen ausdrücklich Sodan / Haratsch (2018), Art. 79 Rn. 36. 1199 So auch von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 89. S. aber für einen eigenständigen normativen Gehalt des Rechtsstaatsprinzips ungeachtet einer Konkretisierung Sodan / Leisner (2018), Art. 20 Rn. 35. 1200 Zur Grundlage des Rechtsstaatsprinzips in der Menschenwürde („materiale Basis“) s. von Mangoldt / Klein / Starck / Hain (2018), Art. 79 Rn. 88 m. w. N.; Schmidt-Aßmann, § 26 Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 30. Weitergehend sogar Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 77 f., der ausführt, dass die in Art. 1 GG niedergelegten Grundsätze „Bestandteile der Rechtsstaatsidee“ seien und man „die Erwähnung von Art. 1 und 20 GG in Art. 79 Abs. 3 GG für überflüssig halten könnte,“ wenn Art. 20 GG „‚das‘ Rechtsstaatsprinzip“ normiere. 1201 Für eine Ausprägung als justizielles Grundrecht auch Maunz / Dürig / Grzeszick (88. Lfg. 2019), Art. 20 Abschnitt VII Rn. 29. S. auch Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 477. 1202 Vgl. von Mangoldt / Klein / Starck / Sommermann (2018), Art. 20 Rn. 227 ff. mit rechtsvergleichenden Überlegungen; ­BeckOK-GG / Huster / Rux (41. Edition 2019), Art. 20 Rn. 164 („der eigentliche Standort des Rechtsstaatsprinzips“). 1203 Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 95 m. w. N. in Fn. 415; von Münch / Kunig / Schnapp (2012), Art. 20 Rn. 59 m. w. N. in Fn. 299; Bonner Kommentar / Robbers (201. Lfg. 2019), Art.  20 Rn.  3244 ff.; von Mangoldt / Klein / Starck / Sommermann (2018), Art. 20 Rn. 249 ff.; Dreier /  Schulze-​Fielitz (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 81; Leibholz / Rinck (79. Lfg. 2019), Art.  20 Rn.  587; Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 20 Rn. 45; Schmidt-Aßmann, § 26 Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 28; Schmidt-Bleibtreu / Klein / Hofmann (2018), Art. 20 Rn. 58 („Die jeweils zuständigen Gesetzgebungsorgane können sich daher gegenüber den Rechtsschranken des Grundgesetzes nicht auf ihr freies Ermessen, auf Gründe der Zweckmäßigkeit, auf staatspolitische Notwendigkeiten und ähnliche Erwägungen berufen.“) unter Verweis auf BVerfG, Urteil v. 23.10.1951 (2 BvG/51), BVerfGE 1, 14 (36) und („Vorrang der Verfassung als oft nicht klar von der Bindungswirkung unterschiedene Kollisionsregel“) sowie Rn. 83 und 91. 1204 Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 100, wonach der Wortlaut zwar nur die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung binde, die Bindung der Exekutive und Judikative aber – zutr. –„über deren Bindung an das (Verfassungs-)Gesetz“ erfolge.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Gesetzesrechts.1205 Inwieweit mit der in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehenen Bindung an „Gesetz und Recht“ eine solche weitergehende an etwaiges überpositives Recht verbunden ist, kann hier dahin stehen.1206 Im Ergebnis wird jedenfalls die in Art. 20 Abs. 3 GG vorgesehene Bindung der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt an allein nationales Recht durch den Anwendungsvorrang zugunsten des unmittelbar anwendbaren und des in nationales Recht umgesetzten Unionsrechts, der auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht Geltung beansprucht,1207 überspielt.1208 Eine Grenze findet dieser Anwendungsvorrang hingegen wiederum in der Bindung an Art. 1 Abs. 1 GG, sodass sich die Verfassungsidentitätskontrolle nach den hier erhobenen Untersuchungsergebnissen mithin allein im Rahmen von Beeinträchtigungen des Menschenwürdegehalts gem. Art. 1 Abs. 1 GG auszuwirken vermag.

1205

von Mangoldt / Klein / Starck / Sommermann (2018), Art. 20 Rn. 270 ff., 285; Dreier / Schulze-​ Fielitz (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 96, 101; Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 107, 109 und 119; ­BeckOK-GG  / Huster / Rux (41. Edition 2019), Art. 20 Rn. 169 ff.; Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 20 Rn. 45, 53; Schmidt-Aßmann, § 26 Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 61 ff. („Verwaltung als ‚gesetzesdirigierte Gewalt‘“). Hiervon erfasst ist auch die Bindung an das die EMRK gem. Art. 59 Abs. 2 GG transformierende Bundesrecht, s. dazu bereits die Nachweise in Fn. 882 1206 So etwa Dreier / Schulze-Fielitz (2015), Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 94 („überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen“); für eine „Kongruenz von Verfassungsrecht und überpositivem Recht“ auch Bonner Kommentar / Robbers (201. Lfg. 2019), Art. 20 Rn. 3335 ff. (3338). S. weiterführend dazu auch Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 103 ff.; Schmidt-Aßmann, § 26  Der Rechtsstaat, in: Isensee / Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, Bd. II (2004), Rn. 41 ff.; von Mangoldt / ​ Klein / Starck / Sommermann (2018), Art. 20 Rn. 265 („umfassendes Gebot der Rechtstreue“); Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 20 Rn. 52 („grundlegende Gerechtigkeitsvorstellungen“); für eine Bewertung als Tautologie etwa von Münch / Kunig / Schnapp (2012), Art. 20 Rn. 61 f. („Appell­charakter“); ­BeckOK-GG  / Huster / Rux (41. Edition 2019), Art. 20 Rn. 169.1 („lässt ein eindeutiges Auslegungsergebnis somit kaum zu“); Sodan / Leisner (2018), Art. 20 Rn. 46 („Pleonasmus und ohne selbstständige Bedeutung“). 1207 S. o. Fn. 437 mit Haupttext. 1208 Explizit insoweit von Mangoldt / Klein / Starck / Sommermann (2018), Art. 20 Rn. 255; von Münch / Kunig / Schnapp (2012), Art. 20 Rn. 60 („Der Vorrang der Verfassung besteht […] nicht aber gegenüber dem europäischen Unionsrecht.“) unter Verweis auf BVerfG, Beschluss v. 22.10.1986 (2 BvR 197/83), BVerfGE 73, 339 (374 f.), woraus sich meines Erachtens diese Aussage indes nicht unmittelbar ergibt. Vgl. zur Bindung an das unmittelbar anwendbare Unionsrecht i. R. d. Bindung an die verfassungsmäßige Ordnung auch Bonner Kommentar / Robbers (201. Lfg. 2019), Art. 20 Rn. 3329; Sachs / Sachs (2018), Art. 20 Rn. 107 m. w. N. in Fn. 513; Sodan / Leisner (2018), Art. 20 Rn. 38; Jarass / Pieroth / Jarass (2016), Art. 20 Rn. 53; s. auch BVerwG, Urteil v. 05.06.1986 (3 C 12.82), BVerwGE 74, 241 (248 f.), wonach der Bindung gem. Art. 20 Abs. 3 GG aufgrund ihrer fehlenden grundsätzlichen unmittelbaren Anwendbarkeit keine Richtlinien unterfielen; ebenso BFH, Urteil v. 25.04.1985 (V R 123/84), BFHE 143, 383 (386 f.). Vgl. zur Auslegung der Art. 24 Abs. 1 und 25 GG a. F. im Verhältnis zur Rechtsstaatlichkeit auch Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip (1986), S. 479 f., wonach „[d]ie prinzipielle Öffnung für die internationale Rechtsordnung […] eher für eine Harmonisierung des durch von beiden Normen erfaßten Rechts mit dem einschlägigen innerstaatlichen Recht als für die Prävalenz des letzteren [spricht].“

B. Inhalt gegenüber der Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb   

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IV. Ergebnis Als Ergebnis lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass jeder Mitgliedstaat der EU zur ordre-public-basierten Vollstreckungsverweigerung1209 hinsichtlich eines Europäischen Haftbefehls berechtigt ist, soweit im Ausstellungs- und / oder Vollstreckungsstaat eine Beeinträchtigung –– eines jeden absolut gewährleisteten Grundrechts der GRCh, –– des Wesensgehalts eines jeden beschränkbaren Grundrechts der GRCh, –– des abwägungsfesten Kernbestands der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, der für die Bundesrepublik im „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public international aufgeht und eine Beeinträchtigung des Menschen­würdegehalts eines jeden menschenwürdebasierten Grundrechts und grundrechtsgleichen Rechts verbietet, –– des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung, der jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt als bloße Anwartschaft begriffen werden kann und erst ab einer positiv festzustellenden Harmonisierung und damit einhergehenden ausreichenden Angleichung der Verfahrensrechte in den Mitgliedstaaten i. S. e. „quasi-bundesstaatlichen“ Niveaus ein gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten und den dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegenden Entscheidungsfindungsprozess rechtfertigt und erst damit zum ordre-public-fähigen Gegenrecht erstarkt, der den grundrechtswahrenden ordre public verdrängt, –– der notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– der in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen sowie –– in Friedenszeiten des Wesensgehalts („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der Konvention und eines von der Vertragsstaaten­ gesamtheit getragenen Zusatzprotokolls zu besorgen ist.

1209

Erfasst sind im Folgenden sowohl der europäische ordre public sowie der europäisierte nationale und der „identitätsgeleitete national-verfassungsrechtliche“ ordre public international.

318

Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

C. Der Inhalt des ordre-public-Einwands gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk Hinsichtlich des ordre-public-Einwands gegenüber der in Art. 1 ­EuAuslÜbk normierten Auslieferungspflicht ist in Erinnerung zu rufen, dass dieser aufgrund der Ablösung durch das haftbefehlsbasierte Rechtshilferegime (Art. 31 Abs. 1 lit. a) RbEuHb) nur Bedeutung erlangen kann, wenn die am konkreten Auslieferungsverkehr beteiligten Staaten Vertragsstaaten des Europarats und nicht zugleich beide Staaten Mitgliedstaaten der EU sind. Aufgrund der extraterritorialen Bindung der EMRK1210 gilt dies auch dann, wenn der ersuchende oder ersuchte Staat nicht Vertragsstaat des Europarats ist. Wie der Inhalt des gegenüber der Überstellungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb zulässigen ordre-public-Einwands sich aus dessen Zulässigkeit ergibt, gilt dies indes auch für den Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber ­ uAuslÜbk. Insoweit wurde bereits der Auslieferungsverpflichtung des Art. 1 E festgestellt, dass sich für die Zulässigkeit eines solchen europäisierten Vorbehalts im allgemeinen Völkervertragsrecht (Art. 27 S. 1 und Art. 53 S. 1 WÜRV) sowie eines allein nationalen ordre public im Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk eine taugliche Grundlage ausmachen lässt.1211 Es gilt also an dieser Stelle zu untersuchen, welche inhaltliche Aufladung diese Rechtsgrundlagen zulassen. In Betracht kommen dabei allein eine i. w. S. europarechtliche und rein nationale Aufladung. Die Geltendmachung eines „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public kommt i. R. d. Auslieferungsverkehrs allein auf Grundlage des Rechts des Europarats nicht in Betracht.1212

I. Der Inhalt des europäisierten nationalen ordre public i. w. S. Der Inhalt des europäisierten nationalen ordre public ergibt sich zunächst allein aus dem gem. Art. 59 Abs. 2 GG in nationales Recht transformierten Völkerrecht des Europarats (europäisierter nationaler ordre public i. w. S.). Eine Bindung an den europäischen resp. europäisierten nationalen ordre public i. e. S. kommt i. R. d. Auslieferung nach Maßgabe des ­EuAuslÜbk nicht in Betracht, da es sich insoweit nicht um die Durchführung von Unionsrecht i. S. d. Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh handelt. Was sodann die Bindung i. R. d. europäisierten nationalen ordre public i. w. S. angeht, gewinnt die EMRK vordergründige strafverfahrensrelevante Bedeutung. Insoweit kann jedoch auf die bereits erfolgte Untersuchung im Zusammenhang mit der Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls verwiesen werden.1213 Denn da sämtliche Unionsstaaten zugleich als Vertragsstaaten des Europarats in gleichem Umfang der Bindung an die Konventionsgarantien 1210

S. zur extraterritorialen Wirkung der EMRK bereits Fn. 183 mit Haupttext. S. bereits S. 233 ff. 1212 S. bereits S. 238 ff. 1213 S. bereits S. 282 ff. 1211

C. Inhalt gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 EuAuslÜbk  

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unterliegen, ergeben sich für die Verweigerung der Auslieferung auf Grundlage des ­EuAuslÜbk insoweit keine inhaltlichen Änderungen. Insbesondere stellt sich i. R. d. Zusammenarbeit der Europaratsstaaten nicht die Frage nach dem Konflikt eines Postulats gegenseitiger Anerkennung mit einer Vorrangwirkung elementarer Wertungen der EMRK. In diesem Zusammenhang ist zwar weiterhin auf die fort­geltende Bedeutung der „Bosphorus“-Rechtsprechung und der damit einhergehenden Vermutung des konventionskonformen Rechtszustands im Fall des unionsrechtskonformen staatlichen Handelns hinzuweisen.1214 Doch hat die Große Kammer des EGMR in der Sache Avotiņš v. Lettland sodann auch zutreffend betont, dass eine effektive gegenseitige Anerkennung nicht zu einer Grundrechts­ beeinträchtigung führen dürfe.1215 Somit setzt sich der Inhalt des sich aus der EMRK speisenden europäisierten nationalen ordre public international auch gegenüber der Auslieferung nach Maßgabe des ­EuAuslÜbk zusammen aus: –– den notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– den in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen sowie –– in Friedenszeiten dem Wesensgehalt („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der EMRK und eines von der Vertragsstaatengesamtheit getragenen Zusatzprotokolls.

II. Der Inhalt des zulässigen rein nationalen ordre public international Was die Frage des Inhalts eines rein nationale Erwägungen absichernden Vorbehalts angeht, haben die Untersuchungen zu dessen Zulässigkeit nach Maßgabe ­ uAuslÜbk bereits seine weite Bandbreite aufgezeigt, da sich des Art. 26 Abs. 1 E 1214

S. dazu bereits o. Fn. 454–456 mit Haupttext. EGMR GK, Avotiņš v. Lettland, Urteil v. 23.05.2016 (17502/07), Tz. 113 ff. („The Court has repeatedly asserted its commitment to international and European cooperation […]. Hence, it considers the creation of an area of freedom, security and justice in Europe, and the adoption of the means necessary to achieve it, to be wholly legitimate in principle from the standpoint of the Convention.“ [113] „Nevertheless, the methods used to create that area must not infringe the fundamental rights of the persons affected by the resulting mechanisms, as indeed confirmed by Article 67(1) of the TFEU.“ [114] „The Court emphasises that this results, paradoxically, in a twofold limitation of the domestic court’s review of the observance of fundamental rights, due to the combined effect of the presumption on which mutual recognition is founded and the Bosphorus presumption of equivalent protection.“ [115; Herv. i. O.]); s. dazu auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1013. 1215

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

die inhaltliche Bestimmung der vorbehaltsgestützten Auslieferungsverweigerung auch gerade mangels autonomer Definitionsmöglichkeit eben erst den einzelnen Vorbehalten eines jeden Vertragsstaates entnehmen lässt. Überdies ist der vertragsrechtlichen Ermächtigung zur Anbringung eines Vorbehalts gegenüber der ­ uAuslÜbk gerade keine inhaltliche Begrenzung Auslieferungspflicht des Art. 1 E zu entnehmen. Damit wird man aber davon ausgehen müssen, dass ein wirksam erklärter Vorbehalt dem betroffenen Vertragsstaat nicht nur die alleinige Zuständigkeit dafür zuschreibt, bis wann er diesen Vorbehalt aufrecht erhalten wissen will, da er allein zur Beurteilung der Frage, wann „die Umstände es gestatten“ (Art. 26 Abs. 2 ­EuAuslÜbk) im Stande ist. Es ist ihm auch zuzugestehen, den jeweiligen Vorbehalt auf Grundlage seines nationalen Rechts auszufüllen.1216 Damit liefert aber auch die beabsichtigte Beschränkung auf „fundamental principles of a country’s judicial system“ keine weitere Restriktionsmöglichkeit,1217 da diese Umschreibung zum einen wie im Fall der durch Art. 4 Abs. 2 EUV geschützten nationalen Identität einer vertragsstaatlichen Inhaltsbestimmung unterliegt und zum anderen ohnehin mit der auf Ausnahmefälle begrenzten Anwendungsmöglichkeit eines ordre-public-Einwands deckungsgleich ist. Da Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk jedoch zugleich auf Vorbehalte „bei der Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde“ abstellt, ist die Anbringung eines weiteren Vorbehalts gegenüber Art. 1 ­EuAuslÜbk nach diesem Zeitpunkt resp. in der Zukunft für die Ratifikationsstaaten ausgeschlossen. Gegenüber dem bereits angesprochenen dynamischen Charakter des ordre-public-Einwands ist in diesem Zusammenhang somit anzuführen, dass sich diese Dynamik allein auf die inhaltliche Auslegung des Vorbehalts auf nationaler Ebene auswirkt, während der Anknüpfungspunkt der völkerrechtlichen Zulässigkeit in Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk statisch ist. Der einzige Trost gegenüber dieser die Verpflichtung gem. Art. 1 ­EuAuslÜbk auf weiter Strecke durchbrechenden, da von den jeweiligen vorgebrachten nationalen Vorbehalten abhängigen Rechtslage ist damit die Aussicht auf die Tatsache, dass die einzelnen wirksamen Vorbehalte nicht weiter durch ihre Ausweitung selbst intensiviert werden können. Aber auch insoweit gilt es zu bedenken, dass damit keine Erweiterung des Anwendungsbereichs durch eine extensive Auslegung der nationalen Anknüpfungsnormen – etwa vorgebrachter zu wahrender Verfassungsnormen  – unterbunden werden kann. Die einzige völkerrechtlich wirksame Kontrolle einer Auslieferungsverweigerung erstreckt sich also auf die Frage, ob die vom ersuchten Staat vorgebrachten Gründe von seinem erklärten Vorbehalt getragen werden. Schließlich bleibt auch hier die Frage zu klären, ob der alleiniger nationaler Definitionsgewalt unterliegende Vorbehalt einer Einschränkung zugunsten eines Minimal­gebots völkervertraglicher Kooperation in Form des Grundsatzes pacta

1216

Zur Inbezugnahme nationalen (Verfassungs-)Rechts s. bereits. die Nachweise in Fn. 870. Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Extradition (13.12.1957), S. 14. 1217

C. Inhalt gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 EuAuslÜbk  

321

sunt servanda zugänglich ist. Zunächst erscheint ihre negative Beantwortung offenkundig, kann der Grundsatz der Vertragserfüllungspflicht doch allein in den Grenzen des einzuhaltenden Regelwerks selbst Geltung beanspruchen. Der Grundsatz des vertragskonformen Verhaltens kann aber bereits denklogisch kein Verhalten erzwingen, wenn und soweit er von den Vertragsstaaten durch die Vorbehalts­ uAuslÜbk selbst eingeschränkt worden ist und diese klausel des Art. 26 Abs. 1 E Vorbehaltsmöglichkeit überdies keine Beschränkung auf individualschützende Belange erkennen lässt. Im Bereich des europaratsinternen Auslieferungsverkehrs kommt überdies hinzu, dass der im Zusammenhang mit dem Europäischen Haftbefehlsregime vorgebrachte Ausschluss souveränitätswahrender Belange aufgrund der auf die Union übertragenen Hoheitsrechte nicht verfängt, da es sich bei der Zusammenarbeit i. R. d. Europarats um eine bloße völkerrechtlich basierte statt supranational geprägte handelt. Und auch im Hinblick auf den im Bereich des Unionsrechts angeführten Aspekt, wonach eine Berufung auf souveränitätsorientierte Belange unter Verweis auf den Grundsatz venire contra factum proprium abgelehnt wurde,1218 ist hier eine deutliche Differenzierung mit der Folge gegensätzlicher Behandlung angezeigt. Zwar gilt das Verbot, sich zu seiner eigenen Beitritts- und Verpflichtungserklärung in Widerspruch zu setzen, auch i. R. d. Auslieferungsverkehrs auf Grundlage des ­EuAuslÜbk. Doch ist dieses gerade wegen der in Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk vorgesehenen Vorbehaltsoption nicht wie das vom Loyalitätsgebot gem. Art. 4 Abs. 3 EUV geprägte Unionsrecht als geschlossenes Rechtsregime anzusehen. Das Gebot vertragskonformen Verhaltens kann ­ uAuslÜbk sich vielmehr nur auf den nicht ohnehin bereits durch Art. 26 Abs. 1 E geprägten Bereich des europaratsinternen Auslieferungsrechts erstrecken. So ist die Überstellungsverpflichtung des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb nach den getroffenen Feststellungen so zu lesen, dass sie den Mitgliedstaaten eine effektive gegenseitige Anerkennung in Form der Überstellungspflicht vorbehaltlich (1.) der explizit im RbEuHb genannten Vollstreckungsverweigerungsgründe und (2.) eines zulässigen ordre-public-Einwands abverlangt. Demgegenüber ist die in Art. 1 E ­ uAuslÜbk normierte Auslieferungspflicht so zu interpretieren, dass sie vorbehaltlich (1.) im ­EuAuslÜbk kodifizierter Ablehnungsgründe, (2.) eines zulässigen ordre-public-​ Einwands sowie – und hierin besteht der entscheidende Unterschied – (3.) eines die Auslieferungspflicht selbst einschränkenden Vorbehaltes gem. Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk gilt. Es fehlt i. R. d. europaratsinternen Auslieferungsverkehrs mithin bereits an einem Widerspruch zwischen Auslieferungspflicht und einem auf den gem. Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk gestützten Vorbehalt. Ein Vertragsstaat kann sich im Rahmen seines Vorbehalts auch auf souveränitätswahrende Belange stützen, ohne sich zu seiner vertraglichen Verpflichtung in Widerspruch zu setzen, da ihm das ­EuAuslÜbk selbst die Möglichkeit eines Vorbehalts auch zugunsten souve­ ränitätsorientierter Aspekte einräumt. Freilich gilt es abschließend zu beachten, dass diese Bewertung nicht für Vertragsstaaten eingreift, die – wie die Bundes­ republik – keinen oder nur einen eindeutig individualschützenden Vorbehalt ange 1218

S. dazu o. Fn. 1003 und 1004 mit Haupttext.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

bracht haben, da für diese Staaten das Rechtsregime des ­EuAuslÜbk vergleichbar dem nach dem RbEuHb als geschlossenes anzusehen ist, dem das Verbot vertragsbrüchigen Verhaltens in Gänze unterliegt.

III. Ergebnis An dieser Stelle ist damit zu resümieren, dass die Vertragsstaaten des Europarats zur ordre-public-basierten Auslieferungsverweigerung1219 berechtigt sind, soweit im ersuchenden und / oder ersuchten Vertragsstaat eine Beeinträchtigung –– der notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– der in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen, –– in Friedenszeiten des Wesensgehalts („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der Konvention und eines von der Vertragsstaatengesamtheit getragenen Zusatzprotokolls sowie –– des vom jeweiligen Vertragsstaat gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk angebrachten Vorbehalts gem. Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk und zwar auch, soweit dem Vorbehalt keine entsprechende Beschränkung zu entnehmen ist, in Bezug auf souveränitätsorientierte Belange, zu besorgen ist.

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle Sind nunmehr Antworten auf die zentralen Fragen der vorliegenden Unter­ suchung gefunden, sollen im Folgenden abschließend kurz ausgewählte Fallkonstellationen mit aktuellem Bezug hinsichtlich der erhobenen Ergebnisse untersucht werden. Hierbei werden Konstellationen der Abwesenheitsverurteilung (1.), der menschenrechtswidrigen Haftbedingungen (2.) sowie der Verweigerung eines rechtsstaatlichen Verfahrens (3.) in den Blick genommen.

1219 Erfasst sind hier der europäisierte nationale und ein allein nationaler ordre public international.

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle   

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I. Abwesenheitsverurteilungen 1. Im Anwendungsbereich des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl Bereits der den Streit um die Verfassungsidentitätskontrolle entfachenden Entscheidung des BVerfG vom 15.12.2015 lag die konkrete Situation einer Verur­ teilung in absentia zugrunde.1220 Die besondere Relevanz von Europäischen Haftbefehlen für die Bundesrepublik, denen eine Abwesenheitsverurteilung zugrunde liegt, zeigt sich weiterhin bereits daran, dass ausweislich einer statistischen Er­ hebung der Kommission von insgesamt 100 angegebenen Vollstreckungsver­ weigerungen im Unionsraum unter Verweis auf Art. 4a RbEuHb im Jahr 2017 nahezu die Hälfte (41) auf Deutschland entfielen.1221 Die Frage, ob die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls bei zugrunde liegendem Abwesenheitsurteil rechtmäßig verweigert werden darf, lässt sich den bisherigen Feststellungen zufolge anhand der im RbEuHb normierten Vollstreckungsverweigerungsgründe selbst oder unter Zuhilfenahme eines ungeschriebenen ordre-public-Einwands klären. De lege lata kann ein Europäischer Haftbefehl zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils gem. Art. 4a Abs. 1 Hs. 1 RbEuHb im Grundsatz verweigert werden, wobei dieser Grundsatz wiederum auf breiter Strecke durchbrochen wird, sodass von einer grundsätzlichen Berechtigung zur Vollstreckungsverweigerung nicht mehr gesprochen werden kann.1222 Die Möglichkeit einer ordre-public-­ basierten Verweigerung der Haftbefehlsvollstreckung stellt sich damit aber nur in Fällen, in denen es nicht bei der durch Art. 4a Abs. 1 Hs. 1 RbEuHb statuierten fakultativen Vollstreckungsverweigerung bleibt, sondern vielmehr in den Fällen der durch Art. 4a Abs. 1 RbEuHb selbst vorgesehenen und damit die Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb reaktivierenden Gegenausnahmen. So sieht etwa Art. 4a Abs. 1 lit. d) (i) RbEuHb vor, dass die Vollstreckung nicht ver­weigert werden darf, wenn der betroffenen Person vor ihrer Übergabe an den Ausstellungsstaat die Abwesenheitsentscheidung zwar nicht zugestellt wurde, dies aber unverzüglich nach Übergabe nachgeholt und die betroffene Person über ihr Recht, ein Wieder­aufnahme- oder Berufungsverfahren, „bei dem der Sachverhalt, einschließlich neuer Beweismittel, erneut geprüft werden und die ursprünglich ergangene Entscheidung aufgehoben werden kann“, zu beantragen, in Kenntnis gesetzt werden wird. Damit enthält Art. 4a Abs. 1 lit. d) (i) RbEuHb ungeachtet seines geringen Schutzgehalts aufgrund der Verlagerung der Verfahrensgarantie in den Ausstellungsstaat einen umfassenden Anspruch auf ein Wiederaufnahme­ 1220

S. zur Sachverhaltsdarstellung S. 189 ff. SWD(2019), 318 final v. 30.08.2019, S. 32. I. Ü. ist nur die Niederlande mit ebenfalls 41 diesbezüglichen Vollstreckungsverweigerungen im zweistelligen Bereich registriert. Allerdings liegen insoweit keine Angaben Belgiens, Maltas, Österreichs, Ungarns sowie des Vereinigten Königreichs vor. Zur weiterhin aktuellen Bedeutung s. auch Böhm, NStZ 2018, 197 (201); ders., NStZ 2019, 256 (259 f.); Satzger, EuClR 9 (2019), 285 (293 f.). 1222 S. dazu bereits Fn. 326 mit Haupttext. 1221

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resp. Berufungsverfahren1223 und damit – formal betrachtet – einen hinreichenden Schutz des Betroffenen. Der ordre-public-Einwand kann damit zunächst einmal Fälle betreffen, in denen dieser Rechtsanspruch auf ein Wiederaufnahme- resp. Berufungsverfahren im Ausstellungsstaat de facto oder de iure nicht hinreichend gewährleistet ist. Dies erlangt insbesondere deshalb Relevanz, weil der EuGH in der Sache Melloni betont hat, dass ein Mitgliedstaat die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht unter Berufung auf Art. 4a Abs. 1 RbEuHb unter den dort genannten Voraussetzungen von der Bedingung abhängig machen darf, dass die in Abwesenheit ausgesprochene Verurteilung im Ausstellungsmitgliedstaat überprüft werden kann.1224 Auch Art. 48 Abs. 2 GRCh, der auf die „Achtung der Verteidigungsrechte“ abstellt, verlangt nach der Rechtsprechung des EuGH keine absolute Gewährleistung eines persönlichen Anwesenheitsrechts des Angeklagten.1225 Für eine solche Aufladung des Art. 48 Abs. 2 GRCh besteht indes auch kein Anlass, da zum einen die korrespondierende Vorschrift des Art. 6 Abs. 3 lit. c) und d) EMRK1226 ein solches unbedingtes persönliches Anwesenheitsrecht ebenfalls nicht vorsieht. Zum anderen erkennt der EGMR vielmehr Ausnahmen ausdrücklich an,1227 soweit die Verteidigungsrechte des Betroffenen effektiv gewahrt sind1228 und führt damit auch die Schutzbereichsinkorporation für Art. 48 Abs. 2 GRCh zu keinem solchen Schutzstandard.1229 Die Norm zählt damit nicht zu den absolut gewährleisteten Garantien und ist gem. Art. 52 Abs. 1 GRCh einschränkbar, sodass sie allein nur in ihrem Wesensgehalt zum echten europäischen, scil. unio­ nalen ordre public zu zählen ist. In inhaltlicher Hinsicht ist vielmehr anzumerken, dass ein persönliches Anwesenheitsrecht solange keiner Absicherung durch einen ordre-public-Einwand bedarf, wie die Verteidigungsrechte des Beschuldigten auch 1223 S. bereits de Nachweise in Fn. 327. S. in diesem Zusammenhang zu Art. 8 f. der Rl 2016/343 sogleich. 1224 EuGH, Stefano Melloni, Urteil v. 26.02.2013 (C-399/11; ECLI:EU:C:2013:107), NJW 2013, 1215 (1218). 1225 EuGH, Stefano Melloni, Urteil v. 26.02.2013 (C-399/11; ECLI:EU:C:2013:107), NJW 2013, 1215 (1218). 1226 S. die Erläuterung zu Art. 48 GRCh, wonach dieser Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK entspreche (Abl. EU 2004, C 310, 1 [30]). Die genaue Einordnung des Anwesenheitsrechts in die Konventionsvorschrift wird nicht einheitlich beantwortet, s. dazu nur MüKo-StPO / Gaede (2018), Art. 6 EMRK Rn. 282 m. w. N. 1227 S. aus der ständigen Rspr. des EGMR bspw. EGMR, Boroancă v. Rumänien, Urteil v. 22.06.2010 (38511/03), Tz. 66 („La Cour rappelle qu’une procédure se déroulant en l’absence du prévenu n’est pas en soi incompatible avec l’article 6 de la Convention.“); EGMR GK, Sejdovic v. Italien, Urteil v. 01.03.2006 (56581/00), Tz. 82. 1228 S. etwa EGMR, Idalov v. Russland, Urteil v. 13.12.2016 (41858/08), Tz. 146 (möglicher Verzicht des Angeklagten auf Anwesenheit); EGMR, Ananyev v. Russland, Urteil v. 30.07.2009 (20292/04), Tz. 45 f. (Ausschluss des Angeklagten wegen ungebührlichen Verhaltens); EGMR, Marcello Viola v. Italien, Urteil v. 05.10.2006 (45106/04), Tz. 52 ff., 63 ff. (Videoübertragung in Verfahren gegen Mitglieder der Mafia aus Gründen des Zeugenschutzes). 1229 S. explizit EuGH, Stefano Melloni, Urteil v. 26.02.2013 (C-399/11; ECLI:EU:C:2013:​ 107), NJW 2013, 1215 (1218) („dass das Recht des Angeklagten, persönlich zur Verhandlung zu erscheinen, zwar ein wesentlicher Teil des Rechts auf ein faires Verfahren, aber kein absolutes Recht ist“); s. auch Calliess / Ruffert / Blanke (2016), Art. 48 GRCh Rn. 5.

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle   

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ohne dessen Anwesenheit einer effektiven Wahrnehmung zugänglich sind. Sonst kann nicht überzeugend vorgebracht werden, dass die Verteidigungsrechte in ihrem Menschenwürde- oder Wesensgehalt betroffen sind, weil der Betroffene insoweit nicht zum bloßen Verfahrensobjekt degradiert wird, ihm seine Verfahrensrechte vielmehr weiterhin umfassend zustehen, sie lediglich durch einen Verteidiger wahrgenommen werden. Damit ist aber weder die Aktivierung des echten europäischen noch des europäisierten nationalen ordre public angezeigt. Im Ergebnis ist also nicht das Anwesenheitsrecht selbst, sondern die menschenwürdebasierte Verfahrensrolle des Betroffenen durch Ausprägung in Form einzelner Verfahrensrechte Gegenstand eines etwaigen Wesentlichkeitsvorbehalts.1230 Und auch einer pauschalen Aktivierung der verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle im Fall einer Verurteilung in absentia bedarf es nicht, solange die Verfahrensrechte mit dem ihr immanenten Würdegehalt beachtet werden. Für die deutsche Rechtsordnung ist insoweit zwar auf § 230 Abs. 1 StPO hinzuweisen, der neben einem grundsätzlichen Anwesenheitsrecht ebenso eine Anwesenheitspflicht des Angeklagten während der Hauptverhandlung statuiert.1231 Jedoch ist damit keine Aussage dahingehend getroffen, dass diese Anwesenheitspflicht um ihrer selbst willen unbedingte Geltung beansprucht, sondern vielmehr dem Verteidigungsinteresse des Angeklagten sowie der Feststellung einer Entscheidungsgrundlage durch Würdigung dessen Person dient.1232 Weiterhin ist § 329 Abs. 1 StPO zu beachten, der auf die Rechtsprechung des EGMR in der Sache Neziraj v. Deutschland1233 dahingehend geändert wurde, dass eine Berufung nicht unter bloßem Hinweis auf das unentschuldigte Fernbleiben des Berufungsklägers verworfen werden 1230

A. A. wohl Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 200 f., die das „Anwesenheitsrecht des Angeklagten“ – und damit wohl dessen Anwesenheit in persona – zu den „grundlegenden Elementen des fairen Verfahrens“ zählt. 1231 BGH, Beschluss v. 11.12.2018 (2 StR 250/18), NStZ 2019, 421 f.; BGH, Beschluss v. 21.04.2010 (GSSt 1/09), BGHSt 55, 87 (89); MüKo-StPO / Arnoldi (2016), § 230 Rn. 5; Meyer-​ Goßner / Schmitt / Schmitt (2019), § 230 Rn. 2; LR / Esser (2012), Art. 6 EMRK Rn. 665 mit Fn. 1679; Beukelmann, NJW-Spezial 2014, 376. 1232 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (346) („[…] dass eine Strafe, die die Persönlichkeit des Täters nicht umfassend berücksichtigt, keine der Würde des Angeklagten angemessene Strafe sein kann. Dies wiederum setzt grundsätzlich voraus, dass das Gericht in der öffentlichen Hauptverhandlung in Anwesenheit des Angeklagten einen Einblick in seine Persönlichkeit, seine Beweggründe, seine Sicht der Tat, des Opfers und der Tatumstände erhält. Jedenfalls muss für den Angeklagten das Recht gewährleistet sein, insbesondere rechtfertigende, entschuldigende oder strafmildernde Umstände dem Gericht persönlich, im Gegenüber von Angeklagtem und Richter, darzulegen.“); BGH, Beschluss v. 21.04.2010 (GSSt 1/09), BGHSt 55, 87 (89); Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 213. Nach Bock ergebe sich aus der genannten Entscheidung des BVerfG (BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 [2 BvR 2735/14], BVerfGE 140, 317), dass der Einführung von Abwesenheits­ verfahren im deutschen Strafverfahrensrecht keine zwingenden verfassungsrechtlichen Bedenken entgegenstünden, s. Bock, ZIS 2019, 298 (302). 1233 EGMR, Neziraj v. Deutschland, Urteil v. 08.11.2012 (30804/07), NStZ 2013, 350; s. dazu etwa auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 47 m. w. N. in Fn. 291; Frisch, NStZ 2015, 69 ff.; Penkuhn / Brill, JuS 2016, 682 (684 f.).

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darf, wenn dessen Verteidiger zur Verhandlung bereit und im Stande ist.1234 Damit kann eine Verhandlung in Anwesenheit des Angeklagten nicht mehr als eiserner Grundsatz der deutschen Rechtsordnung, geschweige denn als Bestandteil deren (verfassungsrechtlichen) Wesentlichkeitsvorbehalts begriffen werden.1235 Für den Fall der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls lässt sich damit festhalten, dass Art. 4a Abs. 1 lit. d) RbEuHb bereits ein umfassendes Recht des Betroffenen auf eine Wiederaufnahme- resp. Berufungsverhandlung bereithält, sodass eine automatische Vollstreckung einer Abwesenheitsverurteilung ohne nachträgliche Überprüfungsmöglichkeit auch vom RbEuHb nicht gefordert wird und es in der Konsequenz in den meisten Fällen bereits einer Bedienung eines europäischen, europäisierten oder „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public schon nicht bedarf. Auf einen Wesentlichkeitsvorbehalt muss vielmehr erst dann zurückgegriffen werden, wenn die in Art. 4a Abs. 1 RbEuHb vorgesehenen Absicherungen im Ausstellungsstaat nicht garantiert sind oder diese zwar formal vorgesehen, der Schutzstandard faktisch aber nicht eingehalten ist. Einen ersten Anhaltspunkt dafür kann die fehlende Umsetzung bestimmter Sekundärrechtsakte des Unionsrechts, wie etwa die jüngere Richtlinie 2016/343 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren vom 09.03.20161236 liefern. Deren Artikel 8 sieht 1234

Art. 1 Nr. 5 des G zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe vom 17.07.2015 (BGBl. I, 1332). 1235 S. auch Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 669 mit Fn. 108, wonach die Entscheidung der deutschen Rechtsordnung, grundsätzlich keine Abwesenheitsverfahren durchzuführen, durch die Entscheidung des EGMR in der Sache Neziraj v. Deutschland „jedenfalls für Berufungsverfahren zu einer Abkehr führen [könnte].“ S. auch zur Frage der Konventionsmäßigkeit der Neufassung des § 329 StPO Böhm, NJW 2015, 3132 (3133), wonach die Neuregelung dem Tatrichter eine genaue Prüfung dahingehend abverlange, ob die Anwesenheit des Angeklagten zur Urteilsfällung unerlässlich sei; s. auch noch zur Weigerung der deutschen Obergerichte, der Auslegung des § 329 Abs. 1 StPO im Urteil Neziraj v. Deutschland bis zur Gesetzesänderung zu folgen, die Nachweise bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 47 mit Fn. 292 f. Die Frage der Kollision von Abwesenheitsverurteilungen mit dem nationalen deutschen ordre public offen gelassen bei Roger, Grund und Grenzen transnationaler Strafrechtspflege (2016), S. 265. Für eine potentielle Beeinträchtigung der Menschenwürdegarantie des Betroffenen durch eine Abwesenheitsverurteilung aber Röß, EPL 25 (2019), 25 (32). Mitunter ist nunmehr auch in der Literatur von dem „Recht auf Vertretung“ die Rede, s. etwa MüKo-StPO / Gaede (2018), Art. 6 EMRK Rn. 200; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 73a; Spitzer, StV 2016, 48 ff.; Penkuhn / Brill, JuS 2016, 682 (684 f.). 1236 Abl. EU 2016, L 65, 1; s. dazu auch Bachmaier, eucrim 2018, 56 (60). Die Richtlinie war gem. Art. 14 Abs. 1 bis zum 01.04.2018 in nationales Recht umzusetzen. Bislang fehlt es an einer nationalen Umsetzung in Belgien, Italien und Portugal, s. die Auflistung unter https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/NIM/?uri=CELEX:32016L0343 (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). S. zur Rechtslage vor der deutschen Umsetzung durch das G zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vom 17.12.2018 (BGBl. I, 2571) noch Böhm, NStZ 2018, 197 (201), wonach das deutsche Recht insoweit einer richtlinienkonformen Auslegung zugänglich gewesen sei. Dänemark, Irland und das Vereinigte Königreich sind gem. Art. 1 Protokoll Nr. 21 zum Vertrag von Lissabon über die Position des Vereinigten

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle   

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zunächst in Abs. 1 einen grundsätzlichen Anspruch des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung vor. Der Vollstreckung zugänglich sind jedoch gem. Abs. 3 auch Entscheidungen in Fällen, in denen der Beschuldigte zwar nicht persönlich anwesend war, dieser oder sein Verteidiger gem. Abs. 2 lit. a) jedoch über die Hauptverhandlung informiert wurde und gem. Abs. 2 lit. b) eine tatsächliche Vertretung durch einen bestellten Verteidiger erfolgt ist. Damit regelt die Richt­linie den soeben aufgezeigten Schutzstandard – keine Vollstreckungsverweigerung bei fehlender persönlicher Anwesenheit und gleichzeitiger hinreichender Möglichkeit der Rechtsausübung durch einen anwesenden Verteidiger – als geltendes Unionsrecht. Bereits in der Sache Krombach hatte der EuGH ausgeführt, „daß das nationale Gericht eines Vertragsstaats berechtigt ist, es als eine offensichtliche Grundrechtsverletzung anzusehen, wenn dem Verteidiger eines nicht in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten verwehrt wird, für diesen aufzutreten.“1237 Darüber hinaus sieht die Richtlinie begrüßenswerterweise sogar in Art. 8 Abs. 4 i. V. m. Art. 9 explizit ein umfassendes Recht des Betroffenen auf eine erneute Verhandlung vor, wenn die Wahrnehmung der Verfahrensrechte durch einen Verteidiger im Fall fehlender persönlicher Anwesenheit nicht gewährleistet ist.1238 Im Ergebnis führt diese Sichtweise zwar dazu, dass die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls einem inhaltlichen Prüfungsvorbehalt seitens des Vollstreckungsmitgliedstaates unterstellt wird, den das BVerfG in seiner Entscheidung vom 15.12.2015 zutreffend als „Gewährleistungsverantwortung“ umschrieben hat.1239 Dieser Vorbehalt ist nach meinem Dafürhalten auch nicht als Widerspruch zum Grundsatz gegenseitiger Anerkennung zu begreifen, sondern dient vielmehr dazu, das der gegenseitigen Anerkennung zugrunde liegende Vertrauen mit dem Ziel zu stärken, im Fall des Erreichens eines „quasi-bundesstaatlichen“ Grundrechtsniveaus im Unionsraum eine echte gegenseitige  – i. S. e. blinden  – Haftbefehlsvollstreckung zu ermöglichen.1240 Zusammenfassend kann also für die Königreichs und Irlands hinsichtlich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Abl. EU 2012, C 326, 295) und Art. 1 Protokoll Nr. 22 zum Vertrag von Lissabon über die Position Dänemarks (Abl. EU 2012, C 326, 299) nicht an die Richtlinie gebunden, s. dazu auch Erwägungsgrund 50 und 51 der Richtlinie sowie zum Opt-Out-Mechanismus Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 9 Rn. 11. 1237 EuGH, Krombach, Urteil v. 28.03.2000 (C-7/98; ECLI:EU:C:2000:164), Slg. 2000, I-1956 (1969). 1238 S. für eine Zulässigkeit der Auslieferung auf Grundlage allein nationalen Rechts vor Inkrafttreten des RbEuHb bei fehlender persönlicher Anwesenheit des Betroffenen, aber hinreichender Möglichkeit, eine erneute Verhandlung bewirken zu können, etwa OLG Karlsruhe, Beschluss v. 28.08.1998 (1 AK 14/98), NStZ-RR 1999, 92 (94). 1239 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (346 ff.); s. dazu auch bereits Fn. 679 mit Haupttext. 1240 S. dazu auch Böse, HRRS 2012, 19 (20, 22 f.), wonach „mit der Einführung eines Vollstreckungshindernisses eine entsprechende Prüfungsbefugnis bzw. -pflicht des (ersuchten) Vollstreckungsstaates einhergeht“ und der ordre-public-Vorbehalt „nicht als Misstrauensvotum gegenüber anderen Mitgliedstaaten, sondern als vertrauensbildende, besser vertrauenssichernde Maßnahme“ zu begreifen sei; ähnl. Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018),

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls mit zugrunde liegender Abwesen­ heitsverurteilung festgehalten werden, dass die Vollstreckungsverweigerung entweder auf Grundlage des Art. 4 Abs. 1 RbEuHb oder einem ungeschriebenen ordre-public-Einwand des europäischen, europäisierten oder rein nationalen Rechts – letzterer allein in Form der Identitätskontrolle – erfolgen darf, wobei die ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung Fälle des nicht oder faktisch nicht hinreichend gewährten Grundrechtsschutzes gegen die Vollstreckung von Abwesenheitsentscheidungen zum Gegenstand haben kann.1241 2. Im Anwendungsbereich des Europäischen Auslieferungsübereinkommens ­ uAuslÜbk in seiner Ursprungsfassung schweigt sich zur Auslieferungs­ Das E verweigerung im Fall einer Abwesenheitsverurteilung im Wesentlichen aus,1242 sieht lediglich in Art. 14 Abs. 2 E ­ uAuslÜbk vor, dass der ersuchende Staat „die erforderlichen Maßnahmen treffen kann, um […] ein Abwesenheitsverfahren durchzuführen.“ Der Explanatory Report selbst hält in diesem Zusammenhang ebenfalls keine Aussagen hinsichtlich der Auswirkung von Abwesenheitsverurteilungen auf die Auslieferungspflicht gem. Art. 1 ­EuAuslÜbk bereit. Weiterhin regelt Art. 2 Abs. 1 lit. h) ZP III allein die Pflicht des ersuchenden Staates zur Mitteilung, ob es sich bei der dem Auslieferungsersuchen zugrunde liegenden Entscheidung um ein Abwesenheitsurteil handelt, ohne wiederum Anhaltspunkte für mögliche Konsequenzen für die Auslieferungsverpflichtung zu liefern. Erst i. R. d. nicht von allen Vertragsstaaten ratifizierten1243 zweiten Zusatzprotokolls vom 17.03.1978 wurde diese Konstellation in Art. 3 ZP II einer Regelung unterworfen. Hierbei ist zunächst anzumerken, dass der Explanatory Report eine Legaldefinition für Abwesenheitsentscheidungen bereithält, wonach als solche auf eine Verhandlung folgende Entscheidungen zu verstehen sind, „at which the sentenced person was

§ 10 Rn. 26a („Konkretisierung der gegenseitigen Anerkennung durch eine Ordre-public-Vorschrift“); Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 347, wonach die gegenseitige Anerkennung gerade einen ordre-public-Vorbehalt voraussetze; Armada, NJECL 6 (2015), 8 (24); s. auch den Erwägungsgrund 10 der Rl 2016/343 (Fn. 1236) („Durch die Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften zum Schutz der Verfahrensrechte Verdächtiger und beschuldigter Personen zielt diese Richtlinie darauf ab, das gegenseitige Vertrauen der Mitgliedstaaten in ihre jeweilige Strafrechtspflege zu stärken und auf diese Weise die gegenseitige Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen zu erleichtern.“). 1241 S. in diesem Zusammenhang auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1055 f., wonach die in § 83 Abs. 2–4 IRG vorgesehenen Zulässigkeitsanforderungen im Fall einer Abwesenheitsverurteilung zugunsten eines in § 73 S. 2 normierten „europäischen ordre public“ nicht abschließend seien. 1242 Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1082. 1243 S. zum Ratifikationsstand https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/ treaty/098/signatures?p_auth=xpUGHh3s (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019).

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not personally present.“1244 Damit sind bereits per definitionem also auch solche Entscheidungen eindeutig als Abwesenheitsentscheidungen zu verstehen, in denen der Angeklagte nicht persönlich anwesend, aber durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertreten ist. Weiterhin führt der Umstand einer dem Ersuchen zugrunde liegenden Abwesenheitsentscheidung gem. Art. 3 Abs. 1 S. 1 ZP II zu einem fakultativen Auslieferungsverweigerungsrecht, wenn es dort heißt, dass „the requested Party may refuse to extradite for this purpose if, in its opinion, the proceedings leading to the judgment did not satisfy the minimum rights of defence recognised as due to everyone charged with criminal offence.“ In Abs. 1 S. 2 wird dieses fakul­tative Verweigerungsrecht allerdings zugunsten der Auslieferungspflicht gem. Art. 1 ­EuAuslÜbk zurückgenommen. Die Auslieferung ist danach obligatorisch zu bewilligen, „if the requesting Party gives an assurance considered sufficient to guarantee to the person claimed the right to a retrial which safeguards the rights of defence.“ Damit wird im Ergebnis aber dem Betroffenen entsprechend Art. 4a Abs. 1 lit. d) RbEuHb ein Rechtsanspruch auf eine erneute Tatsacheninstanz zugestanden. Der Unterschied besteht hingegen darin, dass das Auslieferungsrecht des Europarats die Auslieferungspflicht bereits dann aufrechterhält, wenn der ersuchende Staat eine Zusicherung für die Wahrung der Verteidigungsrechte i. R. e. erneuten Verfahrens nach Auslieferung abgibt. Das schließt indes die Geltendmachung eines ordre-public-Einwands insoweit nicht aus, als dass mit der bloßen Zusicherung gerade noch keine inhaltliche Prüfung dahingehend verbunden ist, ob eine hinreichende Garantie für die vom europäisierten nationalen oder rein nationalen, auf Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk gestützten Wesentlichkeitsvorbehalt erfassten Schutzinhalte besteht.1245 Damit kann eine etwaige Zusicherung einen der 1244

Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 4. 1245 Vgl. auch Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 123; Ausnahmen von einer „absoluten Zusicherungslösung“ sieht auch das BVerfG, s. BVerfG, Beschluss v. 22.10.2019 (2 BvR 1661/19), juris, Tz. 48 („völkerrechtlich verbindliche Zusiche­ rungen geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit der Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird […]. Eine Zusicherung entbindet das über die Zulässigkeit einer Auslieferung befindende Gericht jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können […].“ m. w. N. zur früheren Rspr.); Rung, Grundrechtsschutz in der Europäischen Strafkooperation (2019), S. 396 f. („Prüfung der Zusicherung auf ihre Verlässlichkeit hin“); a. A. wohl Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 815, wonach von einer Heilung der Verfahrensmängel im Abwesenheitsverfahren „unproblematisch“ ausgegangen werden könne, wenn eine Erklärung gem. Art. 3 Abs. 1 S. 2 ZP II seitens des ersuchenden Staates vorliege, jedoch zugleich eingestanden wird, dass eine solche hinreichende Zusicherung i. d. R. deshalb nicht möglich sei, weil über die Anforderungen des Wiederauf­ nahmeverfahrens nicht die zusichernde Regierung, sondern die Gerichte entscheiden. Vgl. für ein praktisches Beispiel dieser Zusicherungslösung OLG Brandenburg, Beschluss v. 10.04.2019 ((1) 53 AuslA 66/17 (34/17)), juris, Vor Tz. 1 und Tz. 58 ff., wobei jedoch i. R. d. erforderlichen präventiven (!) justiziellen Kontrolle unzureichend darauf abgestellt wird, dass „[…] ein Verstoß [gegen die Zusicherung] […] das in der gegenseitigen Auslieferungsverpflichtung des Art. 1 EuAlÜbk zum Ausdruck kommende Vertrauen der Vertragspartner enttäuschen und damit die

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

Auslieferungspflicht entgegengehaltenen ordre-public-Einwand im Ergebnis nicht beeinträchtigen, soweit der erforderliche, vom jeweiligen Wesentlichkeitseinwand abgesicherte Schutzstandard im ersuchenden Staat tatsächlich nicht gewährleistet ist. Schließlich lässt sich für die Bedeutung der Verfahrensrechte im Fall der Verurteilung in absentia wiederum auf den Explanatory Report zum Zweiten Zusatzprotokoll verweisen. Dort wird insoweit als Anlass für die Regelung des Art. 3 ZP II der seitens der Niederlande zu Art. 1 ­EuAuslÜbk erklärte Vorbehalt vom 14.02.1969 angeführt,1246 wonach sich die Niederlande das Recht vorbehält, „not to grant extradition requested for the purpose of executing a judgment pronounced by default against which no remedy remains open, if such extradition might have the effect of subjecting the person claimed to a penalty without his having been enabled to exercise the rights of defence prescribed in Article 6(3)c. of the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms signed at Rome on 4 November 1950.“1247 In aller Deutlichkeit heißt es sodann im Explanatory Report weiter, dass „[t]he sub-committee was, however, of the opinion that any exemption from the obligation to extradite should apply if there had been a violation of any of the generally acknowledged rights of defence, in particular those specified in the whole of Article 6.3 of the Human Rights Convention and not merely those mentioned in sub-paragraph c thereof.“1248 Damit wird man aber nicht mehr bestreiten können, dass die im Fall einer Abwesenheitsverurteilung in besonderem Maße bedrohten Verfahrensrechte des Angeklagten unweigerlich Vorrang vor der in Art. 1 ­EuAuslÜbk normierten Auslieferungspflicht erhalten sollen. Hinsichtlich der Konkretisierung der unbedingt zu wahrenden Verteidigungsrechte („generally acknowledged rights of defence“) ist sodann zweierlei zu bemerken: Zum einen bleibt nochmals darauf hinzuweisen, dass der EGMR keine unbedingte Anwesenheit verlangt, soweit eine effektive Wahrnehmung der Verteidigungsrechte gewährleistet ist,1249 sodass eine fehlende Anwesenheit per se zunächst nicht zur Berufung auf einen europäisierten nationalen ordre public berechtigt. Allerdings ergibt sich in diesem Zusammenhang eine Besonderheit, die ­ uAuslÜbk zu ihren Ursprung in der Möglichkeit, einen Vorbehalt gem. Art. 26 E weitere Zusammenarbeit im Bereich der Rechtshilfe nachhaltig stören [würde]“ (64); vage auch OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 04.04.2019 (2 Ausl A 96/18), Tz. 25 („Vertrauensgrundsatz grundsätzlich bis zum Beweis des Gegenteils“), wonach unzureichend auf die Mitgliedschaft Weißrusslands im Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte und die damit einhergehenden Verpflichtungen hingewiesen, jedoch in wohl nicht zu beanstandender Weise auf die Einschätzung des Auswärtigen Amts und vergangene Erfahrungen in Bezug auf eingehaltene Zusicherungen Bezug genommen wird. 1246 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5. 1247 S. die Auflistung der einzelnen Vorbehalte zum ­EuAuslÜbk unter https://www.coe.int/ de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/024/declarations?p_auth=RAghhDOM (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 1248 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5. 1249 S. dazu bereits Fn. 1227 und 1228 mit Haupttext.

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erklären, findet: Wie bereits dargelegt, ermöglicht dieses Recht zur Vorbehaltserklärung, die Auslieferungspflicht gem. Art. 1 ­EuAuslÜbk auch aus souveränitätsorientierten und nicht nur individualschützenden Aspekten zu suspendieren.1250 Das führt aber auch zu der Konsequenz, dass Vertragsstaaten unter den kumulativen Voraussetzungen, dass (1.) ihre nationale Rechtsordnung eine Anwesenheit des Angeklagten bedingungslos voraussetzt – und zwar ohne hierfür zwingend auf individualschützende Belange abzustellen – und sie (2.) einen entsprechenden Vorbehalt gem. Art. 26 ­EuAuslÜbk angebracht haben, die Auslieferungsverwei­ gerung für Fälle der Abwesenheitsverurteilung zu beanspruchen, das Ersuchen berechtigterweise zurückweisen dürfen, ohne dass es auf eine von Art. 3 ZP II in den Blick genommene Verletzung von Verfahrensrechten ankäme. Zum anderen stellt sich die Frage nach der Definition der im Explanatory Report genannten „rights of defence recognised as due to everyone charged with a criminal offence“ und ihres Verhältnisses zu den in Art. 6 Abs. 3 EMRK gewährleisteten Konventionsgarantien. Hierbei verweist der Explanatory Report auf die Resolution 75 (11) des Ministerkommitees des Europarats vom 21.05.19751251 und führt aus, dass die in der Resolution empfohlenen Mindestvorschriften für Abwesenheitsverfahren in den Vertragsstaaten die in der EMRK niedergelegten Garantien absichern sollen und dazu dienen können, den Anwendungsbereich der in Kapitel 3 ZP II in Bezug genommenen Verteidigungsrechte („rights of defence“) festzulegen.1252 Darüber hinaus ist dem Explanatory Report eine beabsichtigte Kongruenz der Verteidigungsrechte „due to everyone charged with a criminal offence“ mit den Konventionsgarantien zu entnehmen, wenn es dort heißt, dass die Inbezugnahme dieser Verteidigungsrechte „is indeed drawn from the Human Rights Convention and is intended to cover in particular the rights specified therein.“1253 Im Fall fehlender Sicherheit ob der hinreichenden Gewähr der Verteidigungsrechte, deren Prüfung überdies in die Kompetenz des ersuchten Vertragsstaates fällt und für die bereits Zweifel genügen (!) („has doubts on that point“), obliegt es diesem überdies, „to say, why it considers the proceedings unsatisfactory.“1254 Dieses Bekenntnis kann indes 1250

S. bereits S. 319 ff. Council of Europe, Committee of Ministers, Resolution 75 (11) on the criteria governing proceedings held in the absence of the accused of 21 May 1975, abrufbar unter https://rm.coe. int/CoERMPublicCommonSearchServices/DisplayDCTMContent?documentId=09000016804​ f7581 (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 1252 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5 („This resolution recommends the governments of member States to apply a number of minimum rules when a trial is held in the absence of the accused. These minimum rules are aimed at guaranteeing the accused’s rights as laid down in the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms and may serve for the purpose of determining the scope of the phrase ‚rights of defence‘ used in Chapter III.“). 1253 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5. 1254 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5. 1251

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allein den Schluss zulassen, dass der ersuchte Staat im Fall begründeter Zweifel am hinreichenden Schutz der Verfahrensrechte berechtigt ist, dem Auslieferungsersuchen nicht stattzugeben.1255 Hierauf deutet auch wiederum der Explanatory Report hin, dem in diesem Zusammenhang zu entnehmen ist, dass im Fall von „difficulties“ „new contacts will be necessary between the States“1256 und damit das Auslieferungsverfahren auf neuer Grundlage erneut einzuleiten, das ursprüngliche mithin als gescheitert anzusehen ist. Zwar sieht der Explanatory Report weiterhin eine Auslieferungspflicht im Falle einer Zusicherung hinsichtlich der Bereitstellung eines Rechtsbehelfs gegen das Abwesenheitsurteil im Wege einer effektiven Wiederaufnahme vor. Doch können dieser Zusicherungslösung gegenüber eben nur unter der Voraussetzung keine Bedenken entgegen gebracht werden, dass durch die Wiederaufnahme des Verfahrens die Verteidigungsrechte hinreichend gewahrt werden („effectiveness of that remedy“) und sich dem Rechtsbehelf nicht nur ein Scheinprozess im ersuchenden Staat anschließt, was wiederum eine Prüfung durch den ersuchten Staat bedingt.1257 Ein solcher Scheinprozess liefe im Ergebnis nämlich darauf hinaus, dass dem Betroffenen de facto gar kein Wiederaufnahme­ verfahren zugestanden würde; für diesen Fall hebt auch der Explanatory Report die Auslieferungspflicht gem. Art. 1 ­EuAuslÜbk auf.1258 Im Ergebnis bleibt damit für die Rechtslage nach Maßgabe des ­EuAuslÜbk festzuhalten, dass ein Abwesenheitsurteil vergleichbar den Feststellungen zum Europäischen Haftbefehlsregime zunächst als Auslieferungshindernis zur Aktivierung eines Wesentlichkeitsvorbehalts berechtigt, soweit die Auslieferungspflicht in der konkreten Fallgestaltung nicht bereits durch Art. 3 ZP II aufgehoben wird, weil für den Betroffenen keine Aussicht auf einen effektiven Rechtsbehelf und damit der Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte aus Art. 6 Abs. 3 EMRK besteht.1259 Dies setzt freilich eine Ratifizierung des Zweiten Zusatzprotokolls durch die am konkreten Auslieferungsverfahren beteiligten Vertragsstaaten voraus. Soweit es –

1255 Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1082; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 39. 1256 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5. 1257 Vgl. auch Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 1083, die be­ tonen, dass angesichts der verschiedenen nationalen Strafprozessordnungen eine ausreichende Zusicherung als zweifelhaft anzusehen sei; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 39; Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 129 m. w. N. zur Rspr. der deutschen Obergerichte. S. dazu auch OLG Bremen, Beschluss v. 07.09.2018 (1 Ausl. A 31/18), juris, Tz. 13, wonach das Fehlen eines „generelle[n] und unbedingte[n] Recht[s] auf Wiederaufnahme des Verfahrens für den Verfolgten“ den Anforderungen des § 83 Abs. 4 IRG nicht genüge. Zur Bewertung des Art. 3 ZP II als ordre public s. Wahl, eucrim 2015, 70 (71); s. auch bereits Fn. 512 mit Haupttext. 1258 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Extradition (17.03.1978), S. 5 („If the domestic law of the requesting Party does not allow a retrial, there is no obligation for the requested Party to extradite.“). 1259 I. Erg. auch Tinkl, Die Rechtsstellung des Einzelnen nach dem RbEuHb (2008), S. 214.

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wie gegenwärtig1260  – an dieser durch die Ratifizierung bewirkten Rechtsverbindlichkeit des Zusatzprotokolls fehlt, bleibt es mithin – in Bezug auf Abwesen­ uAuslÜbk in seiner Ursprungsfassung heitsverurteilungen – bei der durch das E geltenden Rechtslage. Damit erweitert sich aber zwingend der Anwendungsbereich eines ordre-public-Einwands, da die von Art. 3 ZP II erfassten Konstellationen zum Schutz der Verteidigungsrechte sodann nur über einen solchen Wesentlichkeitsvorbehalt zu lösen sind. Darüber hinaus sind die Vertragsstaaten berechtigt, dem auf einer Abwesenheitsentscheidung beruhenden Auslieferungsersuchen nicht zu entsprechen, wenn das im ersuchenden Staat durchzuführende Verfahren den Anforderungen an den weiteren europäisierten nationalen (sich aus der EMRK speisenden) oder einen rein nationalen (vom Vorbehalt des Art. 26 ­EuAuslÜbk gedeckten und nicht auf individualschützende Belange beschränkten) ordre ­public nicht gerecht wird.

II. Menschenrechtswidrige Haftbedingungen im Ausstellungs- resp. ersuchenden Staat Eine zu befürchtende Grundrechtsverletzung stellt sich in der ebenfalls gegenwärtig relevanten1261 Konstellation des menschenrechtswidrigen Haftvollzugs als noch gravierender dar, da diese erst eintreten kann, wenn der Betroffene dem Ausstellungsstaat übergeben und damit einer Einwirkung durch den Vollstreckungsstaat gänzlich entzogen ist. Eine Korrektur durch einen nachträglichen Rechtsbehelf wie im Fall der Abwesenheitsverurteilung ist darüber hinaus nicht in gleichem Maße möglich.1262 Insoweit bedarf auch eine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung ausreichender Anhaltspunkte für die wirksame Aufrechterhaltung der Auslieferungs- resp. Übergabepflicht,1263 wobei auch eine Zusicherung 1260

S. hierzu Fn. 1243. S. insoweit nur die jüngeren einstw. Anordnungen des BVerfG in den Verfahren 2 BvR 1845/18 und 2 BvR 2627/18, mit denen jeweils eine seitens des KG und des OLG Frankfurt a. M. für zulässig erachtete Auslieferung nach Rumänien wegen möglicher menschenrechtswidriger Haftbedingungen vorläufig ausgesetzt wurde. In diesem Fall wurde nach einstw. Anordnung vom 16.01.2019 (BVerfG, einstw. Anordnung v. 16.01.2019 [2 BvR 2627/18], juris) die Verfassungsbeschwerde zurückgenommen und das Verfahren vor dem BVerfG eingestellt (BVerfG, Beschluss v. 22.05.2019 [2 BvR 2627/18], juris). In jenem wurde die einstw. Anordnung vom 01.10.2018 (BVerfG, einstw. Anordnung v. 01.10.2018 [2 BvR 1845/18], juris) zweimal  – nämlich am 03.04.2019 und 26.09.2019 wiederholt (BVerfG, einstw. Anordnung v. 03.04.2019 [2 BvR 1845/18], juris und BVerfG, einstw. Anordnung v. 26.09.2019 [2 BvR 1845/18], juris); s. auch OLG Bremen, Beschluss v. 21.09.2018 (1 Ausl A 21/17), juris, Tz. 19 ff. Vgl. dazu auch Böhm, NStZ 2019, 256 (258 f.); Satzger, EuClR 9 (2019), 285 (296 f.); Mancano, CML Rev. 56 (2019), 61 ff. 1262 Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU (2012), S. 158 f.; Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (251). 1263 S. dazu Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (254 ff.) mit weiteren Überlegungen zur Zulässigkeit einer Zusicherung i. R. d. RbEuHb. 1261

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

per se gemäß den soeben getroffenen Feststellungen den ordre-public-Einwand nicht kategorisch ausschließt.1264 Art. 3 EMRK beinhaltet das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, wozu insbesondere auch die menschenrechtswidrige Unter­ bringung im Vollzug freiheitsentziehender Strafen und Maßregeln zählt,1265 wegen derer Verletzung die Straßburger Richter bereits mehrere Vertragsstaaten im Rahmen von Piloturteilen verurteilt haben.1266 Art. 3 EMRK zählt weiterhin nicht nur zu den notstandsfesten, sondern auch – und insoweit dürfte Einigkeit bestehen – zu den absolut geschützten Konventionsgarantien1267 und damit zum europäisierten nationalen ordre public,1268 an den als Vertragsstaaten des Europarats auch sämtliche Unionsmitgliedstaaten gebunden sind. Allerdings hat der EGMR in diesem Zusammenhang auch konstatiert, dass in einer Haftanstalt in den Grenzen der Verhältnismäßigkeit auch eine Gewaltanwendung zulässig sei und es für die Berücksichtigung des Verbots des Art. 3 EMRK eines Mindestmaßes an gro-

1264

S. o. Fn. 1245 mit Haupttext. S. auch Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (255), die selbst ausführen, dass der ersuchte Staat im Fall einer Verletzung der Zusicherung auf eine Abhilfe durch den ersuchenden Staat angewiesen sei. 1265 EGMR, Wenner v. Deutschland, Urteil v. 01.09.2016 (62303/13), NJOZ 2018, 464 (465) („Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten sicherzustellen, dass ein Gefangener unter Bedingungen festgehalten wird, die mit der Achtung seiner Menschenwürde vereinbar sind, dass Art und Vollzug der Haft ihn nicht Leiden oder Härten unterwirft, die über das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß hinausgeht und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse der Haft angemessen gewahrt werden, indem er u. a. notwendige medizinische Hilfe und Behandlung erhält […].“); EGMR GK, Kudła v. Polen, Urteil v. 26.10.2000 (30210/96), NJW 2001, 2694 (2695). S. dazu auch Bank, Kapitel 11: Das Verbot von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe, in: Dörr / Grote / Marauhn, EMRK / GG, Konkordanzkommentar (2013), Rn.  78 ff. 1266 S. hierzu nur die Entscheidung des EGMR in der Sache Domján v. Ungarn, wonach neben Ungarn Rumänien, Bulgarien, Italien, Polen und Russland zu den Art. 3 EMRK durch Haft­bedingungen verletzenden Vertragsstaaten zu zählen seien (EGMR, Domján v. Ungarn, Entscheidung v. 14.11.2017 [5433/17], Tz. 19 m. w. N. zu Piloturteilen gegen die anderen aufgeführten Vertragsstaaten); s. auch die Darstellung bei Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (255 ff.); einen Hinweis auf systematische Mängel legt auch das BVerfG seiner Rspr. zugrunde, s. etwa BVerfG, Beschluss v. 16.08.2018 (2 BvR 237/18), juris, Tz. 29. S. zur Rspr. der deutschen Obergerichte auch die Darstellung bei Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1062 f. m. w. N. in den Fn. 1365 ff. 1267 S. wiederum nur EGMR GK, Öcalan v. Türkei, Urteil v. 12.05.2005 (46221/99), NVwZ 2006, 1267 (1272) m. w. N. zur früheren Rspr. („Art. 3 EMRK kennt keine Ausnahmen und lässt gem. Art. 15 EMRK selbst in einem Krieg oder bei einem anderen öffentlichen Notstand keine Abweichung zu“); EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712); Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 1 („Art. 3 EMRK unterliegt als einzige Gewährleistung der EMRK keinerlei Beschränkungen oder Ausnahmen.“); Meyer-Ladewig / Nettesheim / von Raumer / Meyer-­ Ladewig / Lehnert (2017), Art. 3 Rn. 1; MüKo-StPO / Gaede (2018), Art. 3 EMRK Rn. 1 m. w. N.; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 20 Rn. 51 ff.; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 36; Addo / Grief, EJIL 9 (1998), 510 ff. 1268 S. dazu bereits ausf. S. 285 ff., insbes. S. 287 ff.

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ber Misshandlung bedürfe.1269 Dieser Ansatz führt indes allein zu einer Schutzbereichsabgrenzung und nicht zu einer Relativierung des absoluten Schutzes des Art. 3 EMRK, da dessen Wortlaut und überdies Art. 15 Abs. 2 EMRK eindeutig keine Abkehr vom uneingeschränkten Schutzbereich zulassen. Damit kann nur dann eine konventionskonforme Begründung gefunden werden, wenn die konkreten Modalitäten des Haftvollzugs nicht als „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung“ i. S. d. Norm zu begreifen sind, um sie einer Abwägung zugänglich machen zu können. Dem steht auch eine materielle Differenzierung zwischen Folter und (anderer) unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung,1270 die die besondere Verwerflichkeit ersterer betonen soll,1271 sowie die Zuordnung der Frage einschneidender Haftbedingungen zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht entgegen, da dies nicht die für den ordre-public-Vorbehalt allein relevante absolute Gewährleistung beider Ausprägungen berührt. Im Unionsraum ergibt sich das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung überdies aus dem korrespondierenden Art. 4 GRCh.1272 Soweit aber das Unionsrecht keinen einheitlich verbindlichen Grundrechtsschutz gegen eine etwaige menschenrechtswidrige Unterbringung vorsieht,1273 scheitert 1269 EGMR GK, Bouyid v. Belgien, Urteil v. 28.09.2015 (23380/09), NJOZ 2017, 703 (706); ebenso EGMR GK, N. v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 27.05.2008 (26565/05), NVwZ 2008, 1334 (1335 f.); EGMR, Tekin v. Türkei, Urteil v. 09.06.1998 (52/1997/836/1042), Tz. 52 f.; s. dazu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 122. 1270 S. dazu nur EGMR GK, Gäfgen v. Deutschland, Urteil v. 01.06.2010 (22978/05), NJW 2010, 3145, Tz. 90 („In addition to the severity of the treatment, there is a purposive element to torture, as recognised in the United Nations Convention against Torture, which in Article 1 defines torture in terms of the intentional infliction of severe pain or suffering with the aim, inter alia, of obtaining information, inflicting punishment or intimidating“) (nicht abgedr.); s. auch ausf. zu den einzelnen Schutzbereichsausprägungen Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 117 ff. m. w. N. 1271 S. nur EGMR GK, Gäfgen v. Deutschland, Urteil v. 01.06.2010 (22978/05), NJW 2010, 3145, Tz. 90 („In determining whether a particular form of ill-treatment should be classified as torture, consideration must be given to the distinction, embodied in Article 3, between this notion and that of inhuman or degrading treatment. As noted in previous cases, it appears that it was the intention that the Convention should, by means of such a distinction, attach a special stigma to deliberate inhuman treatment causing very serious and cruel suffering […].“) (nicht abgedr.). S. hierzu auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 117; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 35 jeweils m. w. N. zur Rspr. des EGMR. 1272 S. die Erläuterung zu Art. 4 GRCh, wonach dieser Art. 3 EMRK entspreche (Abl. EU 2004, C 310, 1 [18]). Zum Charakter des Art. 4 GRCh als absolut gewährleistete Garantie s. etwa EuGH GK, Dorobantu, Urteil v. 15.10.2019 (C-128/18; ECLI:EU:C:2019:857), Tz. 62, 82; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 4 Rn. 13. S. zur Untersuchung der Entwicklung des Grundsatzes gegenseitiger Anerkennung in der jüngeren Rspr. des EuGH zu Haftbedingungen im Unionsraum Caeiro / Fidalgo / Rodrigues, MJ 26 (2019), 689 (690 ff.). 1273 Insbesondere sind insoweit bis heute keine eine Rechtsvereinheitlichung anstrebenden Sekundärrechtsakte ergangen. Aktuell liegen allein das Grünbuch zur Anwendung der EU-Strafrechtsvorschriften im Bereich des Freiheitsentzugs (KOM(2011) 327 endg. vom 14.06.2011) mit einem pauschalen Bekenntnis zu der Empfehlung zu den europäischen Strafvollzugsvorschriften (s. dazu noch u. Fn. 1291) auf S. 12 f. sowie eine Entschließung des Europäischen Parlaments

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

die auf gegenseitiger Anerkennung basierende unbedingte Vollstreckungspflicht des Art. 1 Abs. 2 RbEuHb an einem „quasi-bundesstaatlichen“, die gegenseitige Anerkennung tragenden Grundrechtsniveau. In diesem Zusammenhang ist hier gerade vor dem Hintergrund der gegenseitigen Anerkennung jedoch genau genommen nicht die Frage berechtigt, ob und inwieweit ein Mitgliedstaat die Übergabe im Fall drohender menschenrechtswidriger Unterbringung verweigern darf, sondern muss man sich vielmehr auch im Unionsraum – unter dem Postulat gegenseitiger Anerkennung (!) – die Frage stellen, ob bei im Raum stehender Übergabe an einen Mitgliedstaat, dem bereits durch die Rechtsprechung des EuGH der Makel des menschenrechtswidrigen Haftvollzugs anhaftet, in der Konsequenz nicht bereits im Voraus die Frage nach einer Abkehr von der gegenseitigen Anerkennung zugunsten eines anzustrebenden „quasi-bundesstaatlichen“ Grundrechtsstandards durch die Frage zu ersetzen ist, ob im Fall der ersuchten Übergabe an einen solchen „gebranntmarkten“ Mitgliedstaat nicht bereits die Übergabe per se nicht in Betracht kommt.1274 Überzeugenderweise kann hierbei jedoch eine Übergabe nicht pauschal abgelehnt werden, da damit der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung in Gänze begraben würde und ist vielmehr weiterhin auf Grundlage einer Einzelfallentscheidung über die im Raum stehende Übergabe zu befinden. Darüber hinaus sieht die GRCh in Art. 19 Abs. 2 ein besonderes Verbot der Auslieferung in Fällen des ernsthaften Risikos der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung im ersuchenden Staat vor. Auf das Verhältnis der Norm zu Art. 4 GRCh1275 muss hier jedoch deshalb bereits nicht vom 05.10.2017 zu Strafvollzugssystemen und -bedingungen (2015/2062(INI)) vor (Abl. EU 2018, C 346, 94), in der sich das Parlament „angesichts der in einigen Mitgliedstaaten herrschenden Haftbedingungen und des Zustandes in manchen europäischen Gefängnissen [zutiefst besorgt]“ zeigt und darauf hinweist, „dass Freiheitsentzug nicht bedeutet, dass ein Mensch seine Würde verliert“ (Ziff. 1). Weiterhin wird unter Verweis auf die Rspr. des EuGH in der Rechtssache Aranyosi und Căldăraru darauf hingewiesen, dass „die Haftbedingungen von entscheidender Bedeutung für die Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts der Europäischen Union sind“ (Ziff. 3). S. auch KOM(2011), 175 endg. v. 11.04.2011, S. 7 (unter Verweis auf Art. 1 Abs. 3 RbEuHb: „Es ist klar, dass der Rahmenbeschluss zum EHB […] keine Übergabe vorsieht, bei der die vollstreckende Justizbehörde unter Berücksichtigung aller Umstände des Falls davon überzeugt ist, dass die Übergabe zu einem Verstoß gegen die Grundrechte des Betroffenen aufgrund inakzeptabler Haftbedingungen führen würde“). 1274 S. dazu Zeder, JSt 2016, 262 (265 f.), wonach in der genannten Konstellation eine Straflosigkeit drohe, da das Unionsrecht eine anstelle einer Übergabe mögliche Übertragung der Strafverfolgung noch nicht hinreichend vorsehe, weil entsprechende Rechtsakte entweder nicht zur Genüge umgesetzt seien oder die praktische Handhabung Probleme bereite. 1275 S. dazu Holoubek / Lienbacher / Thallinger (2014), Art. 19 Rn. 15 ff., wonach der Schutzbereich des Art. 19 Abs. 2 GRCh weiter gefasst sei als der des Art. 3 EMRK; ebenso Meyer / Hölscheidt / Bernsdorff (2019), Art. 19 Rn. 18 („Teilaspekt der Chartabestimmung des Art. 4“); Calliess / Ruffert / Rossi (2016), Art. 19 GRCh Rn. 1; für eine Bewertung des Art. 19 Abs. 2 GRCh als lex specialis auch Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 19 Rn. 4; ebenso Pechstein / ​Nowak / Häde / Thiele (2017), Art. 19 GRCh Rn. 21; Peers et al. / Guild (2014), Art. 19 Rn. 19.05. Nach Höfling und Kempny verbiete Art. 4 GRCh sogar keine Auslieferung an Staaten, in denen dem Betroffenen Folter drohe. Dies sei allein durch Art. 19 GRCh gewährleistet

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weiter eingegangen werden, weil auch Art. 19 Abs. 2 GRCh den Charakter als absolut gewährleistete Chartagarantie teilt1276 und damit ebenso als Bestandteil des unionalen ordre public anzusehen ist, sodass im Ergebnis die Auslieferung – und damit auch die Übergabe nach Maßgabe des Europäischen Haftbefehls als Auslieferungsinstrumentarium1277 – an den Art. 4 und 19 Abs. 2 GRCh scheitert. Den Erläuterungen zur GRCh ist in Bezug auf Art. 19 Abs. 2 GRCh auch keine weitere Information zu entnehmen, wenn es dort heißt, dass mit der Norm die „Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu Artikel 3 EMRK“ übernommen werden sollte. Denn dieses Ziel wird ebenfalls durch den sich aus Art. 3 EMRK ergebenden und in Art. 4 GRCh gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh inkorporierten1278 absoluten Schutzbereich erreicht. Im Gegensatz zur vorherigen Fallgestaltung der Abwesenheitsverurteilungen geht es damit hier im Schwerpunkt also nicht um die normative Frage, ob einschneidende Haftbedingungen gem. Art. 3 EMRK resp. Art. 4 und 19 Abs. 2 GRCh zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls berechtigen, was durch die genannten Normen hinreichend geklärt und eindeutig negativ zu beantworten ist. Die entscheidende – dem Einzelfall vorbehaltene – inhaltliche Frage ist hier die nach den tatsächlichen, eine Beeinträchtigung des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh begründenden Umständen. Denn nur wenn die Haftbedingungen die Intensität einer Folter oder unmenschlichen oder erniedrigen­den Behandlung erreichen, führte dies zur obligatorischen Aktivierung des Wesentlichkeits­vorbehalts.1279 Folter meint dabei unter Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 der UN-Folterkonvention1280 (Stern / Sacchs / Höfling / Kempny [2016], Art. 4 Rn. 11). Vgl. auch Holoubek / Lienbacher / Matti (2019), Art. 19 Rn. 1, wonach die Norm im Wesentlichen die Rspr. des EGMR zum Refoulement-Verbot des Art. 3 EMRK enthalte. 1276 Holoubek / Lienbacher / Matti (2019), Art.  19 Rn.  31; Pechstein / Nowak / Häde / Thiele (2017), Art. 19 GRCh Rn. 20; Calliess / Ruffert / Rossi (2016), Art. 19 GRCh Rn. 10, der jedoch auch auf die Anwendbarkeit des Art. 15 EMRK verweist; ebenso Lenz / Borchardt / Wolffgang (2012), Art. 19 GRCh Rn. 6; vgl. auch Stern / Sachs / Jochum (2016), Art. 19 Rn. 9, wonach eine dem Verbot widersprechende Regelung nicht getroffen werden könne; a. A. von der Groeben / Schwarze / ​ Hatje / Klatt (2015), Art. 19 GRCh Rn. 8, der sich u. a. sogar auf eine vermeintliche – freilich nicht überzeugende – Abwägbarkeit der Menschenwürde beruft. 1277 Meyer / Hölscheidt / Bernsdorff (2019), Art. 19 Rn. 18. S. zu dieser Wertung bereits o. Fn. 303 mit Haupttext. A. A. Pechstein / Nowak / Häde / Thiele (2017), Art. 19 GRCh Rn. 13; Schor­kopf, § 15 Würde des Menschen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 48; vgl. auch Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 19 Rn. 7. 1278 S. bereits die Nachweise in Fn. 460 mit Haupttext. 1279 S. zum Ausschluss „geringfügiger Misshandlungen“ Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 6 m. w. N. zur Rspr. des EGMR. 1280 „For the purposes of this Convention, the term ‚torture‘ means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted on a person for such purposes as obtaining from him or a third person information or a confession, punishing him for an act he or a third person has committed or is suspected of having committed, or intimidating or coercing him or a third person, or for any reason based on discrimination of any kind, when such pain or suffering is inflicted by or at the instigation of or with the consent or acquiescence of a public official or other person acting in an official capacity.“

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

die zweckgerichtete – etwa zur Erlangung bestimmter Informationen – Zufügung ernsthafter und grausamer, nicht notwendigerweise physischer Leiden.1281 Als demgegenüber „eingriffsschwächere“ Form liegt eine unmenschliche Behandlung oder Strafe in dem vorsätzlichen Beibringen intensiver psychischer oder physischer Leiden.1282 Die erniedrigende Behandlung oder Strafe zeichnet sich daneben durch eine beabsichtigte Demütigung des Betroffenen aus.1283 Die Rechtsprechung des EGMR,1284 des EuGH1285 und des BVerfG1286 geht denn weiterhin auch überein 1281 EGMR, Al Nashiri v. Polen, Urteil v. 24.07.2014 (28761/11), Tz. 508; EGMR, Husayn (Abu Zubaydah) v. Polen, Urteil v. 24.07.2014 (7511/13), Tz. 500; EGMR GK, Gäfgen v. Deutschland, Urteil v. 01.06.2010 (22978/05), NJW 2010, 3145 (Tz. 90) (nicht abgedr.); Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 11 Rn. 35; Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK (2015), S. 54 ff. 1282 EGMR, Hellig v. Deutschland, Urteil v. 07.07.2011 (20999/05), NJW 2012, 2173 (Tz. 51) (nicht abgedr.); EGMR, Stoica v. Rumänien, Urteil v. 04.03.2008 (42722/02), Tz. 60; EGMR GK, Jalloh v. Deutschland, Urteil v. 11.07.2006 (54810/00), NJW 2006, 3117 (3119); Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 8. 1283 EGMR, Hellig v. Deutschland, Urteil v. 07.07.2011 (20999/05), NJW 2012, 2173 (Tz. 51) (nicht abgedr.); EGMR, Stoica v. Rumänien, Urteil v. 04.03.2008 (42722/02), Tz. 60 f.; EGMR GK, Jalloh v. Deutschland, Urteil v. 11.07.2006 (54810/00), NJW 2006, 3117 (3119); Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 118; für eine Beeinträchtigung des Menschenwürdegehalts etwa LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 71. 1284 EGMR, Soering v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 07.07.1987 (1/1989/161/217), NJW 1990, 2183 (2184 f.); EGMR GK, M. S. S. v. Belgien und Griechenland, Urteil v. 21.01.2011 (30696/09), NVwZ 2011, 413 (418) („wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gab, dass der Betroffene im Aufnahmeland tatsächlich Gefahr läuft, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ausgesetzt zu werden“); EGMR, Allanazarova v. Russland, Urteil v. 14.02.2017 (46721/15), Tz. 99; EGMR, Al-Saadoon and Mufdhi v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 02.03.2010 (61498/08), Tz. 123 jeweils m. w. N. zur früheren Rspr. S. ausf. auch zum Begriff des „real risk“ Alleweldt, Schutz vor Abschiebung bei drohender Folter (1996), S. 26 ff. 1285 EuGH, ML, Urteil v. 25.07.2018 (C-220/18 PPU;  ECLI:EU:C:2018:589), Tz. 59, 61 („sofern sie [die Justizbehörde des Vollstreckungsmitgliedstaates] über Anhaltspunkte dafür verfügt, dass eine echte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung von Häftlingen im Ausstellungsmitgliedstaat besteht“ sowie „Die Feststellung des Vorliegens einer echten Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung aufgrund der allgemeinen Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat kann jedoch als solche nicht zur Ablehnung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls führen. Das bloße Vorliegen von Anhaltspunkten für systemische oder allgemeine, bestimmte Personengruppen oder bestimmte Haftanstalten betreffende Mängel bei den Haftbedingungen im Ausstellungsmitgliedstaat bedeutet nämlich nicht zwingend, dass in einem konkreten Fall der Betroffene einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird, sofern er den Behörden dieses Mitgliedstaats übergeben wird […].“); bestätigt in der auf das Vorlageverfahren folgenden Entscheidung des OLG Bremen, das die Vorlage in casu auch an den EuGH gerichtet hatte (OLG Bremen, Beschluss v. 21.09.2018 [1 Ausl A 21/17], juris, Tz. 19 ff.); ebenso EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712). S. dazu auch Konstadinides, CML Rev. 56 (2019), 743 (752 ff.). 1286 BVerfG, Beschluss v. 15.12.2015 (2 BvR 2735/14), BVerfGE 140, 317 (349) („Der Verfolgte hat […] eine Darlegungslast, mit der er den an der Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung beteiligten Stellen hinreichende Anhaltspunkte für ihre Ermittlungen geben muss“); BVerfG, Beschluss v. 24.06.2003 (2 BvR 685/03), BVerfGE 108, 129 (138 f.) („Eine

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stimmend davon aus, dass es hierfür konkreter Anhaltspunkte bedürfe und allein die theoretische Möglichkeit einer Konventions- resp. Grundrechtsverletzung nicht ausreiche. Damit führen Zweifel aber auch zugunsten des Betroffenen zu einer Vollstreckungsverweigerung.1287 Damit einhergehend ist aber zu verlangen, dass die drohende Beeinträchtigung der betroffenen Rechtsgüter des Auszuliefernden ein hinreichendes Ausmaß erlangt, das eine Aktivierung des auf Evidenzfälle beschränkten ordre-public-Einwands rechtfertigt und dass in der Konsequenz das bloße Absinken unter den nationalen Standard des Vollstreckungsstaates nicht genügt.1288 Vielmehr müssen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass das durch den unionalen, europäisierten nationalen oder identitätsgebundenen nationalen Grundrechtsstandard gewährleistete Schutzniveau in erheblichem Maße nicht mehr garantiert ist.1289 Abgestellt werden kann hierbei auf Informationen von internationalen oder Nichtregierungsorganisationen oder Urteile internationaler oder nationaler Gerichte.1290 Einen für den europäischen Rechtsraum relevanten Maßstab bilden insoweit die Europäischen Strafvollzugsgrundsätze des Europarats vom 11.01.2006.1291 Alternativ ließe sich auch auf das Merkmal einer Menschenwürdeverletzung abstellen, da einer Folter resp. unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Gefahr in dem beschriebenen Sinne kann angenommen werden, wenn stichhaltige Gründe vorgetragen sind, nach denen gerade in dem konkreten Fall eine ‚beachtliche Wahrscheinlichkeit‘ […] besteht […].“); s. aus der obergerichtlichen Rspr. etwa auch OLG Bremen, Beschluss v. 21.09.2018 (1 Ausl A 21/17), juris, Tz. 21 und 25. S. auch Hackner / Schierholt, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (2017), Rn. 123. Zur Prüfung von Amts wegen durch die Oberlandesgerichte Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1064. 1287 KG, Beschluss v. 13.10.1995 (Ausl. A 64/95), StV 1996, 103 (104); OLG  Karlsruhe, Beschluss v. 27.05.2004 (1 AK 40/03), NStZ-RR 2004, 345 (347); OLG Hamm, Beschluss v. 19.03.2013 (III-2 Ausl 34/12), StraFo 2013, 213 (215); Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 878. 1288 S. etwa OLG Frankfurt a. M., Beschluss v. 04.04.2019 (2 Ausl A 96/18), Tz. 20; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 876; Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (253). Vgl. auch BVerfG, Beschluss v. 06.07.2005 (2 BvR 2259/04), BVerfGE 113, 154 (162). 1289 S. im Zusammenhang mit der EEA auch Ahlbrecht, StV 2018, 601 (605). 1290 S. etwa EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712). S. dazu auch Röß, EPL 25 (2019), 25 (34 ff.), der sich für einheitliche Vorgaben durch den EuGH zur effektiveren Ausgestaltung der justiziellen Zusammenarbeit in der EU ausspricht. 1291 Recommendation Rec(2006)2 of the Committee of Ministers to member states on the European Prison Rules (abrufbar unter https://rm.coe.int/CoERMPublicCommonSearchServices/​ ­DisplayDCTMContent?documentId=09000016806f3d4f [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]) und Recommendation CM / Rec(2010)1  of  the Committee of Ministers to member states on the Council of Europe Probation Rules (abrufbar unter https://search.coe.int/cm/Pages/result_ details.aspx?ObjectId=09000016805cfbc7 [zuletzt aufgerufen am 27.01.2019]). S. weiterführend dazu etwa Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 878; Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (251); Dünkel / Morgenstern / Zolondek, NK 2006, 86 ff.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

der Regel zugleich ein Würdeverstoß wird entnommen werden können.1292 Dem­nach stellte sich die Frage nach einer tatsächlich drohenden Würdeverletzung i. R. d. bereits in Bezug genommenen sogenannten „Objektformel“1293 durch die im Ausstellungsstaat herrschenden Vollzugsbedingungen. So führt zum einen der EGMR in ständiger Rechtsprechung aus, dass die Vertragsstaaten menschenwürdegerechte Haftbedingungen bereit zu halten haben1294 und betont zum anderen auch der EuGH die Rückbindung des Art. 4 GRCh an den in Art. 1 GRCh niedergelegten Würdeschutz.1295 Schließlich setzt auch Art. 1 Abs. 1 GG einer Auslieferung im Fall drohender menschenunwürdiger Haftbedingungen Grenzen.1296 Für die Konstellation der menschenrechtswidrigen Haftbedingungen sieht indes der RbEuHb keinen expliziten Vollstreckungsverweigerungsgrund vor, sodass im Gegensatz zu den Fällen der Abwesenheitsverurteilungen allein auf den hier herausgearbeiteten ungeschriebenen Vollstreckungsverweigerungsgrund in Form des unionalen (Art. 1, 4 und 19 Abs. 2 GRCh) oder des europäisierten nationalen (Art. 3 EMRK) ordre public rekurriert werden muss. Darüber hinaus bietet jedoch 1292 S. in diesem Zusammenhang zur Bestimmung des Folterbegriffs unter Rückgriff auf die Menschenwürde Pösl, Das Verbot der Folter in Art. 3 EMRK (2015), S. 72 ff. und 131 ff.; ­MüKo-StPO  / Gaede (2018), Art. 3 EMRK Rn. 1; Meyer / Hölscheidt / Bernsdorff (2019), Art. 19 Rn. 24; für Art. 19 Abs. 2 GRCh auch Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 19 Rn. 10; ausf. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 164 ff., der i. Erg. zwischen einer absoluten („rote Linie“) und relativen Untergrenze für Eingriffe in die Menschenwürde differenziert (215 ff.); vgl. auch Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 3/40; s. auch zur Rückbindung an Art. 1 Abs. 1 GG LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 15; Karpenstein / Mayer / ​ Sinner (2015), Art. 3 Rn. 3. Krit. Schwarzburg, Die Menschenwürde im Recht der EU (2012), S. 158 („formelhaft“). 1293 S. hierzu bereits o. Fn. 1152 und 1153 mit Haupttext. 1294 EGMR GK, Kudła v. Polen, Urteil v. 26.10.2000 (30210/96), NJW 2001, 2694 (2695) („Art. 3 EMRK legt dem Staat jedoch die Verpflichtung auf, sich zu vergewissern, dass ein Gefangener unter Bedingungen festgehalten wird, die mit der Achtung seiner Menschenwürde vereinbar sind, dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme ihn nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden überschreitet und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Erfordernisse der Haft angemessen sichergestellt werden, indem er unter anderem notwendige medizinische Behandlung erhält […].“); ebenso EGMR, Valašinas v. Litauen, Urteil v. 24.10.2001 (44558/98), Tz. 102; EGMR GK, M. S. S. v. Belgien und Griechenland, Urteil v. 21.01.2011 (30696/09), NVwZ 2011, 413 (414); EGMR GK, El-Masri v. ehem. jugoslawische Republik Mazedonien, Urteil v. 13.12.2012 (39630/09), NVwZ 2013, 631 (636). 1295 EuGH GK, Aranyosi und Căldăraru, Urteil v. 05.04.2016 (C-404/15 und C-659/15 PPU; ECLI:EU:C:2016:198), NJW 2016, 1709 (1712); s. auch Pechstein / Nowak / Häde / Thiele (2017), Art. 4 GRCh Rn. 21 ff. (23); Schäfer, JuS 2019, 856 (858). 1296 BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 35. In der Entscheidung zur Hauptsache (BVerfG, Beschluss v. 19.12.2017 [2 BvR 424/17], juris) wurde diese Aussage angesichts eines festgestellten Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz  2 GG bewusst nicht mehr aufgegriffen (Tz. 59). S. auch BVerfG, Beschluss v. 22.03.2016 (2 BvR 566/15), NJW 2016, 1872 (1874); BVerfG, Beschluss v. 14.07.2015 (1 BvR 1127/14), NJW 2016, 389 (390); BVerfG, Beschluss v. 13.11.2007 (2 BvR 2201/05), BVerfGK 12, 417 (419 f.); BVerfG, Beschluss v. 13.03.2002 (2 BvR 261/01), NJW 2002, 2700 (2701).

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auch der „identitätsgeleitete national-verfassungsrechtliche“ ordre public einen hinreichenden Anhaltspunkt für die berechtigte Vollstreckungsverweigerung. Insoweit ist nämlich in Erinnerung zu rufen, dass die Verfassungsidentität die Menschenwürde in Gänze resp. den Menschenwürdegehalt eines jeden auf diese Menschenwürdegarantie basierenden Grundrechts erfasst1297 und Bestandteil der Menschenwürde selbst – wie soeben dargelegt – auch die menschenwürdige Unterbringung im Haft- bzw. Maßregelvollzug ist. Dies kann in concreto – ohne dem an dieser Stelle inhaltlich weiter nachgehen zu können – etwa die Größe des Haftraums und damit zusammenhängend eine etwaige Überbelegung,1298 medizinische Versorgung,1299 mögliche konkrete Hinweise auf gewalttätige Übergriffe durch Vollzugsbedienstete oder Mithäftlinge1300 oder unverhältnismäßige Isolationshaft1301 betreffen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass für den Bereich der menschenrechtswidrigen Vollzugsbedingungen ein Barometer durch die Tätigkeit des Europäischen Komitees für die Verhütung von Folter und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder Strafe vorliegt,1302 das durch Art. 1 des von allen 47 Vertragsstaaten ratifizierten Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe vom 26.11.1987 errichtet wurde.1303 Im Ergebnis lässt sich damit festhalten, dass der begründete Verdacht menschenrechtswidriger Haftbedingungen zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls berechtigt, soweit die im Einzelfall vorliegenden Anhaltspunkte 1297

S. bereits S. 299 ff. S. nur EGMR GK, Muršić v. Kroatien, Urteil v. 20.10.2016 (7334/13), Tz. 124, 132 ff. („a strong presumption of a violation of Article 3 arises when the personal space available to detainee falls below 3 sq. m in multi-occupancy accommodation“); EGMR, Ananyev et al. v. Russland, Urteil v. 10.01.2012 (42525/07 und 60800/08), NVwZ-RR 2013, 284 (Tz. 143 ff.) (nicht abgedr.); EGMR, Testa v. Kroatien, Urteil v. 12.07.2007 (20877/04), Tz. 57; s. ausf. dazu auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 194 ff. und 202 ff.; LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 86 ff.; Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 160 (118). 1299 EGMR, Budanov v. Russland, Urteil v. 09.01.2014 (66583/11), Tz. 65; EGMR GK, M. S. S. v. Belgien und Griechenland, Urteil v. 21.01.2011 (30696/09), NVwZ 2011, 413 (414); EGMR GK, Paladi v. Moldawien, Urteil v. 10.03.2009 (39806/05), Tz. 72; EGMR, Testa v. Kroatien, Urteil v. 12.07.2007 (20877/04), Tz. 46; EGMR GK, Kudła v. Polen, Urteil v. 26.10.2000 (30210/96), NJW 2001, 2694 (2695); s. dazu auch LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 85; s. auch Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 6 Rn. 15. 1300 EGMR GK, Aydin v. Türkei, Urteil v. 25.09.1997 (23178/94), Tz. 83; EGMR, Tomasi v. Frankreich, Urteil v. 27.08.1992 (12850/87), Tz. 108 ff.; Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 207 ff.; LR / Esser (2012), Art. 3 EMRK Rn. 81 und 84 m. w. N. 1301 EGMR, Babar Ahmad et al. v. Vereinigtes Königreich, Urteil v. 10.04.2012 (24027/07 et al.), NVwZ 2013, 925 (928 f.); EGMR, Hellig v. Deutschland, Urteil v. 07.07.2011 (20999/05), NJW 2012, 2173 (2175); EGMR, Mathew v. Niederlande, Urteil v. 29.09.2005 (24919/03), Tz. 199; s. dazu auch Karpenstein / Mayer / Sinner (2015), Art. 3 Rn. 14; Grabenwarter / Pabel, EMRK (2016), § 20 Rn. 66; Frowein / Peukert / Frowein (2009), Art. 3 Rn. 14, jeweils m. w. N. 1302 S. weiterführend dazu Rogan, NJECL 10 (2019), 209 ff. 1303 ETS Nr. 126. Das Abkommen ist am 01.02.1989 in Kraft getreten und wurde durch zwei Protokolle ergänzt (ZP I [ETS Nr. 151] und ZP II [ETS Nr. 152], jeweils vom 04.11.1993. 1298

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

die ernsthafte Gefahr – i. S. e. „real risk“1304 – einer Verletzung des Art. 3 EMRK, der Art. 1 oder 4 GRCh oder des Art. 1 Abs. 1 GG zu besorgen ist.1305 Entsprechend sieht auch das Handbuch zur Ausstellung und Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls vom 28.09.2017 eine dreistufige Prüfung vor, wonach der Vollstreckungsstaat zu prüfen habe, ob (1.) wegen der allgemeinen Haftbedingungen eine echte Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung des Betroffenen bestehe, (2.)  – bejahendenfalls  – es ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme gibt, dass eine solche echte Gefahr unmenschlicher und erniedrigender Behandlung unter den besonderen Umständen des Falles für den Betroffenen bestehe und (3.) – bejahendenfalls – eine abschließende Entscheidung über die Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls zu treffen ist. Dabei kann zum einen bereits vorab eine „Pflicht, die Vollstreckung des in Rede stehenden Europäischen Haftbefehls aufzuschieben“ eintreten und führt zum anderen eine negative Prüfung zur Beendigung des Übergabeverfahrens.1306 Lediglich weniger einschneidende individualschützende Rechtspositionen verletzende oder dem nationalen Standard des Vollstreckungsmitgliedstaates nicht entsprechende Vollzugsbedingungen im Ausstellungsstaat vermögen für sich betrachtet die ordre-publicbasierte Vollstreckungsverweigerung freilich nicht zu rechtfertigen. Vielmehr bedarf es entsprechend den zum Inhalt des unionalen resp. europäisierten Wesentlichkeitsvorbehalts getroffenen Feststellungen einer Beeinträchtigung an sich absolut geschützter Rechtspositionen der EMRK resp. der GRCh oder ihres Wesensgehalts. In erster Linie sind hierbei Art. 3 EMRK sowie Art. 1, 4 und 19 Abs. 2 GRCh zu erwägen. Es kommt indes unter Berücksichtigung der staatlichen Schutzpflich 1304

S. dazu bereits die Nachweise in Fn. 1284–1286, jeweils mit Haupttext. So i. Erg. auch BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 39 („[…] dass die Haftbedingungen sowohl in der Untersuchungs- als auch in der Strafhaft den gemäß Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 und Art. 1 Abs. 1 GG unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz unterschreiten, der auch im Rahmen einer Auslieferung auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls im Einzelfall zu gewährleisten ist.“). In der Entscheidung zur Hauptsache (BVerfG, Beschluss v. 19.12.2017 [2 BvR 424/17], juris) wurde dieser Frage wiederum angesichts eines festgestellten Verstoßes gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bewusst nicht nachgegangen (Tz. 59). Vgl. auch BVerfG, einstw. Anordnung v. 16.01.2019 (2 BvR 2627/18), juris, Tz. 25 („vielmehr möglich, dass die Entscheidung des Oberlandes­gerichts […], die Auslieferung des Beschwerdeführers trotz der Haftbedingungen, die ihn im Falle einer Auslieferung nach Rumänien erwarten, für zulässig zu erklären, mit der Menschenwürde des Beschwerdeführers unvereinbar ist […].“). S. auch Kromrey, Haftbedingungen als Auslieferungshindernis (2017), S. 164 ff., 215 ff., 361 ff.; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1064 m. w. N. zur obergerichtlichen Rspr.; Kromrey / Morgenstern, ZIS 2017, 106 (117 ff.), wonach „es für den EuGH auch in der Sache schwierig geworden sein [dürfte], solche Umstände weiter zu ignorieren bzw. mit dem Postulat des gegenseitigen Vertrauens zu überspielen“, mit weiteren Ausführungen zum Beweismaß für die Überzeugungsbildung der vollstreckenden Justizbehörde; Riegel / Speicher, StV 2016, 250 (253 f.) (unter Berufung auf § 73 S. 2 IRG). Vage Peers et al. / Nowak / Charbord (2014), Art. 4 Rn. 04.06, („In the case of an extradition where the sending state knew or ought to have known that conditions of detention in the requesting state could be in violation of Article 4 EUCR, the sending state would be itself in breach of the Charter.“). 1306 C(2017) 6389 final v. 28.09.2017, S. 51 ff. 1305

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle   

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ten1307 ebenso eine Verletzung anderer absolut gewährleisteter Konventions- bzw. Chartagarantien oder ihres Wesensgehalts durch Mithäftlinge oder die Vollzugsausgestaltung in Betracht. Für den besonderen Fall der Würdeverletzung durch den Haftvollzug besteht überdies die Möglichkeit einer „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-basierten Vollstreckungsverweigerung. Für den Auslieferungsverkehr nach Maßgabe des ­EuAuslÜbk ergeben sich insoweit keine Besonderheiten. Da weder das Abkommen nebst seiner Zusatzprotokolle Aussagen zu menschenrechtswidrigen Haftbedingungen im ersuchenden Vertragsstaat trifft, noch das Europäische Antifolterabkommen einschließlich seiner Protokolle Regelungen für den Auslieferungsverkehr bereithält, ist die Konstellation um die menschenrechtswidrigen Haftbedingungen insoweit allein nach dem sich in diesem Zusammenhang aus Art. 3 EMRK und Menschenwürdeerwägungen speisenden europäisierten nationalen ordre public1308 sowie dem allein nationalen Wesentlichkeitsvorbehalt auf Grundlage eines wirksamen Vorbehalts gem. Art. 26 ­EuAuslÜbk zu lösen.

III. Verstoß gegen ein faires Verfahren Abschließend soll eine Konstellation näher betrachtet werden, die zwar in ihrem Bezugspunkt gegenüber Abwesenheitsverurteilungen und menschenrechts­ widrigen Haftbedingungen sehr viel konturenloser auftritt, aber dennoch ebenso in jüngerer Zeit vermehrt Gegenstand der unionalen und auch deutschen Judikatur geworden ist: So hat die Große Kammer des EuGH im Zusammenhang mit der umstrittenen Justizreform in Polen1309 in einem Urteil vom 25.07.2018 ausgeführt, 1307

S. zu aus den Konventions- sowie Chartagarantien folgenden aktiven Schutzpflichten der Vertrags- resp. Unionsmitgliedstaaten etwa Ehlers, § 2 Allgemeine Lehren, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 31; ders., § 14 Allgemeine Lehren der Unionsgrundrechte, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten (2014), Rn. 45; Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 2 Rn. 33 ff.; s. auch speziell im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK BVerfG, einstw. Anordnung v. 18.08.2017 (2 BvR 424/17), juris, Tz. 39 („Pflicht [des OLG], die Wahrung der gemäß Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde und des Verbots unmensch­ licher Behandlung aus Art. 3 EMRK sicherzustellen“); GAin Verica Trstenjak, N. S. gegen Secretary of State for the Home Department, Schlussantrag v. 22.09.2011 (C-411/10; ECLI:​ EU:C:2011:611), Slg. 2011, I-13909 (13943 f.); Holoubek / Lienbacher / Lukan (2019), Art. 4 Rn. 23; s. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 116 m. w. N. zur Rspr. des EGMR. 1308 S. dazu soeben, Fn. 1294 und 1295 mit Haupttext. 1309 In diesem Zusammenhang sei nur auf den Beschluss der Großen Kammer des EuGH im vorläufigen Rechtsschutzverfahren verwiesen, wonach Polen u. a. die weitere frühzeitige Zwangspensionierung von Richtern des Obersten Gerichtshofs auszusetzen und die bisherige rückgängig zu machen habe (EuGH GK, Kommission v. Polen, Beschluss v. 17.12.2018 [C-619/18 R; ECLI:EU:C:2018:1021]). In der Hauptsacheentscheidung hat die Große Kammer eine Verletzung der aus Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV folgenden Verpflichtungen festgestellt (EuGH GK, Kommission v. Polen, Urteil v. 24.06.2019 [C-619/18; ECLI:EU:C:2019:531], Tz. 71 ff., 108 ff.). Vgl. dazu auch Böhm, NStZ 2019, 256 (260 f.), der in diesem Zusammenhang auf eine konkrete Auswirkung der „generellen rechtstaatlichen Mängel“ im Einzelfall abstellt.

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

dass der Vollstreckungsstaat unter Berücksichtigung des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte, die für sich betrachtet einen Vorschlag seitens der Kommission gem. Art. 7 Abs. 1 EUV begründeten,1310 weil eine ernsthafte Gefahr für die Verletzung des in Art. 47 Abs. 2 GRCh verbürgten Rechts auf ein faires Verfahren besteht, eine Prüfung dahingehend vorzunehmen habe, ob die betroffene Person nach Übergabe der Gefahr einer Verweigerung des in Art. 47 Abs. 2 GRCh verbürgten Rechts ausgesetzt wäre.1311 Weiterhin hat das BVerfG in einem Beschluss vom 26.02.2018 ausgeführt, dass das Recht auf ein faires Verfahren – hier in concreto das Konfrontationsrecht gem. Art. 6 Abs. 3 lit. d) EMRK – „zu einem Auslieferungshindernis hätte führen können.“1312 Es stellt sich damit als diesen Untersuchungsabschnitt abschließende Frage die nach einem Übergabe- resp. Auslieferungshindernis im Fall der Verletzung der Garantie eines fairen Verfahrens gem. Art. 47 Abs. 2 GRCh bzw. Art. 6 Abs. 1 EMRK.1313 Das österreichische Auslieferungs- und Rechtshilfegesetz sieht in § 19 Nr. 1 sogar ein explizites Auslieferungsverbot vor („ist unzulässig“), wenn „das Strafverfahren im ersuchenden Staat den Grundsätzen der Art. 3 und 6 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten […] nicht entsprechen werde oder nicht entsprochen habe.“ Schließlich lassen sich auch in der Literatur vereinzelt Aussprachen für ein auf die Einhaltung eines fairen Verfahrens abstellendes Auslieferungshindernis finden.1314 Freilich ergeben sich insoweit auch Überschneidungen mit Fällen der Abwesenheitsverurteilung, da auch insoweit eine Verletzung der Verteidigungsrechte im Raum steht und die nach den bereits dargestellten Untersuchungsergebnissen zu behandeln sind.1315 Obwohl die Beanstandung eines im Ausstellungs- resp. ersuchenden Staat drohenden nicht rechtsstaatlichen Verfahrens weiterer Konkre 1310 Art. 7 Abs. 1 S. 1 EUV lautet: „Auf begründeten Vorschlag eines Drittels der Mitgliedstaaten, des Europäischen Parlaments oder der Europäischen Kommission kann der Rat mit der Mehrheit von vier Fünfteln seiner Mitglieder nach Zustimmung des Europäischen Parlaments feststellen, dass die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 genannten Werte durch einen Mitgliedstaat besteht.“ 1311 EuGH GK, LM, Urteil v. 25.07.2018 (C-216/18 PPU; ECLI:EU:C:2018:586), Tz. 47 ff. 1312 BVerfG, Beschluss v. 26.02.2018 (2 BvR 107/18), juris, Tz. 27 f. I. Erg. hat das BVerfG in diesem Fall die Verfassungsbeschwerde jedoch nicht zur Entscheidung angenommen. Die diesem Beschluss zugrunde liegende nicht veröffentlichte Entscheidung des OLG München stellt indes auf den Umstand ab, dass aus einem Verstoß gegen das Konfrontationsverbot nicht ein zwingendes Beweisverwertungsverbot folge (vgl. Tz. 6 des Beschlusses des BVerfG). 1313 Zur Inkorporation des Art. 6 EMRK in Art. 47 Abs. 2 GRCh s. die Erläuterungen zur GRCh (Abl. EU 2007, C 303, 17 [30]). S. aber auch zum erweiterten Anwendungsbereich des Art. 47 Abs. 2 GRCh auf Verfahren aller Gerichtszweige etwa Holoubek / Lienbacher / Raschauer / Sander / Schlögl (2014), Art. 47 Rn. 38 f.; Calliess / Ruffert / Blanke (2016), Art. 47 GRCh Rn. 3 und 10, jeweils m. w. N. 1314 Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 862; Murschetz, Auslieferung und Europäischer Haftbefehl (2007), S. 197 f., die insoweit ohne weitere Ausführungen auf „unverzichtbare Verfahrensgarantien“ verweist; Oehmichen, StV 2017, 257 (260) (Auslieferungshindernis infolge der verfassungsrechtlichen Kernbereichskontrolle wegen Verstoßes gegen ein faires Verfahren). 1315 Vgl. dazu o. Fn. 1228 mit Haupttext.

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tisierung in Bezug auf die konkrete Rechtsverletzung unter Berücksichtigung der einzelnen Ausprägungen des Anspruchs auf ein faires Verfahren bedarf, lässt sich diese Fallkonstellation unter den oben getroffenen Feststellungen auflösen: Es bedarf insoweit konkreter Anhaltspunkte i. S. d. „real risk“, dass bestimmte die rechtsstaatliche Verfahrensgestaltung prägende Individualrechte nicht gewährleis­ tet sind. Dafür müssen diese Garantien entweder durch die EMRK oder die GRCh absolut garantiert oder in ihrem Wesensgehalt betroffen sein, oder schließlich für die Aktivierung der verfassungsrechtlichen Identitätskontrolle eine ernsthaft zu besorgende Verletzung der Menschenwürde durch Versagung elementarer Verteidigungsrechte in Rede stehen. Soweit der EuGH i. R. d. bereits benannten Entscheidung zur Rechtslage in Polen auf Anhaltspunkte abstellt, die gem. Art. 7 Abs. 1 EUV die Feststellung einer eindeutigen Gefahr der schwerwiegenden Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte rechtfertigt, kann dies zunächst, da Art. 7 Abs. 1 EUV selbst auf die Gefahr einer „schwerwiegenden Verletzung“1316 abstellt, als grundsätzlicher Verdacht für eine Verletzung des Art. 6 Abs. 1 EMRK resp. Art. 47 Abs. 2 GRCh in Betracht kommen. Diese Feststellung kann jedoch isoliert betrachtet nicht genügen, um hinreichend konkrete Anhaltspunkte i. S. e. „real risk“ zur Übergabe- resp. Auslieferungsverweigerung zu begründen. Die konkrete Gefahr zu besorgender Rechtsverletzungen muss sich nämlich allein auf die drohende Beeinträchtigung individualschützender Rechtspositionen im Einzelfall beziehen, während Art. 7 Abs. 1 EUV ein Verfahren zur Androhung – nicht zuletzt auch zur Korrektur politischer Entwicklungen1317 – von Sanktionen des betroffenen Mitgliedstaates betrifft.1318 Außerdem lässt die Feststellung einer solchen 1316 Wann von einer Verletzung oder Gefährdung der in Art. 2 EUV genannten Werte auszugehen ist, ist unklar und bislang nicht unionsrichterlich entschieden. S. zu den Begriffen etwa Pechstein / Nowak / Häde / Nowak (2017), Art. 7 EUV Rn. 8 und 10 f.; Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 7 EUV Rn. 21; Calliess / Ruffert / Ruffert (2016), Art. 7 EUV Rn. 5; monographisch zu Art. 7 EUV auch Schorkopf, Homogenität in der Europäischen Union (2000), S. 104 ff. 1317 Vgl. Grabitz / Hilf / Nettesheim / Schorkopf (68. Lfg. 2019), Art. 7 EUV Rn. 19; Calliess / ​ Ruffert / Ruffert (2016), Art. 7 EUV Rn. 11 („Aufgrund der begrenzten Rechtsfolgen, die die Stimmrechtsaussetzung auslöst, kann Art. 7 EUV dieses Ziel nur dadurch erreichen, dass die Homogenitätsverletzung politisch in der Öffentlichkeit markiert wird.“); Wendel, EuR 2019, 111 (117) („das schwerfällige und im Kern politische Artikel-7-Verfahren“). 1318 So auch OLG Bremen, Beschluss v. 07.09.2018 (1 Ausl. A 31/18), juris, Tz. 20 f. („[…] folgt aus dem Vorliegen solcher allgemeiner Anhaltspunkte alleine, auch wenn sie auf einem begründeten Vorschlag der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV beruhen, noch nicht, dass die vollstreckende Justizbehörde die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls ablehnen dürfte.“); OLG Karlsruhe, Beschluss v. 07.01.2019 (Ausl 301 AR 95/18), juris, Tz. 68. S. aber auch OLG Köln, Beschluss v. 15.01.2019 (6 AuslA 115/18–80), juris, Tz. 19, wonach „[d]ie von der Europäischen Kommission gegen Polen eingeleiteten beiden Vertragsverletzungsverfahren […] aus Sicht des Senats in einem ersten Schritt die echte Gefahr der Verletzung des Grundrechts auf ein faires Verfahren [begründen], die mit einer mangelnden Unabhängigkeit der Gerichte des Ausstellungsmitgliedstaats aufgrund systemischer oder allgemeiner Mängel in diesem Staat zusammenhängt“, jedoch zugleich relativierend, indem auf einer zweiten Stufe zu prüfen sei, „ob gerade der Verfolgte im vorliegenden Verfahren im Falle seiner Auslieferung einer echten Gefahr ausgesetzt sein könnte, dass sein Grundrecht auf ein unabhängiges Gericht und damit

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

„eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung“ noch keinen zwingenden Schluss auf eine drohende Verletzung von Verfahrensrechten im konkreten Einzelfall zu,1319 sodass im Ergebnis eine drohende „schwerwiegende Verletzung“ der in Art. 2 EUV genannten Werte auch, aber nicht zwingend zugleich eine ernsthafte Bedrohung von Verfahrensrechten des Betroffenen nach sich ziehen kann. Demgegenüber dürfte die positive Feststellung eines generellen konkreten Bedrohungsrisikos dieser Verfahrensrechte in einem Mitgliedstaat zugleich den Schluss auf eine „schwerwiegende Verletzung“ i. S. d. Art. 7 Abs. 1 EUV zulassen. Auf die einzelnen Ausprägungen des sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK resp. Art. 47 Abs. 2 GRCh ergebenden Gebots eines fairen Verfahrens kann sodann auch an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.1320 Es ist jedoch hervorzuheben, dass mit der Rechtsprechung des EGMR zum einen ein pauschaler Verweis auf ein etwaiges nicht faires Verfahren nicht zur Begründung einer Vollstreckungsbzw. Auslieferungsverweigerung genügen kann, da Art. 6 EMRK ungeachtet sei-

der Wesensgehalt seines Grundrechts auf ein faires Verfahren angetastet wird […].“ Vgl. auch von der Groeben / Schwarze / Hatje / van Vomizeele (2015), Art. 7 EUV Rn. 6 („soll aber dem betroffenen Mitgliedstaat eindeutig vor Augen führen, dass er Gefahr läuft, eine schwere Rechts­ verletzung zu begehen und den vollen Sanktionsmechanismus des Art. 7 Abs. 2 EUV auszulösen“); Pechstein / Nowak / Häde / Nowak (2017), Art. 7 EUV Rn. 6 („Warnfunktion […], dem betroffenen EU-Mitgliedstaat den Ernst der Lage zu verdeutlichen“). Zur fehlenden individualschützenden Funktion des politischen Sanktionsmechanismus des Art. 7 Abs. 1 EUV auch Konstadinides, CML Rev. 56 (2019), 743 (751). 1319 Vgl. Pechstein / Nowak / Häde / Nowak (2017), Art. 7 EUV Rn. 8, wonach Art. 7 EUV nicht auf die Lösung problematischer Einzelfälle gerichtet sei; Wendel, EuR 2019, 111 (129, 130) („dass der bloße Umstand, dass das Artikel-7-Verfahren eingeleitet wurde, andere Formen der Rechtsstaatlichkeitsaufsicht nicht präkludiert.“ [129] und „Bedeutung des begründeten Vorschlags der Kommission nach Art. 7 Abs. 1 EUV als zentrales Indiz für die Annahme systemischer Mängel“ [130]). A. A. i. Erg. OLG Düsseldorf, Beschluss v. 14.06.2019 (4 AR 38/19), juris, Tz. 15 ff., das unter Verweis auf Erwägungsgrund 10 des RbEuHb zwar betont, dass „es letztlich dem Europäischen Rat zukommt, eine Verletzung der in Art. 2 EUV enthaltenen Grundsätze, darunter desjenigen der Rechtsstaatlichkeit, im Ausstellungsmitgliedstaat im Hinblick auf die Aussetzung der Anwendung des Mechanismus des Europäischen Haftbefehls gegenüber diesem Mitgliedstaat festzustellen“, das jedoch auch differenzierend darauf abstellt, ob eine solche positive Feststellung – auch in Bezug auf die Aussetzung der Anwendung des RbEuHb – bereits ergangen ist, die sodann zu einer pauschalen Vollstreckungsverweigerung berechtige („Deshalb müsste die vollstreckende Justizbehörde nur dann, wenn der Europäische Rat unter den Voraussetzungen des Art. 7 Abs. 2 EUV eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Grundsätze wie derjenigen, die der Rechtsstaatlichkeit inhärent sind, im Ausstellungsmitgliedstaat festgestellt hat und die Anwendung des Rahmenbeschlusses 2002/584 gegenüber diesem Mitgliedstaat daraufhin vom Rat ausgesetzt worden ist, die Vollstreckung von Europäischen Haftbefehlen, die von dem besagten Mitgliedstaat ausgestellt worden sind, ohne Weiteres ablehnen, ohne in irgendeiner Weise konkret prüfen zu müssen, ob die betroffene Person der echten Gefahr ausgesetzt ist, dass ihr Grundrecht auf ein faires Verfahren in seinem Wesensgehalt angetastet wird […].“ [Herv. d. Verf.] [18]). 1320 S. insoweit nur die Darstellungen bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 25 ff.; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 47 Rn. 32 ff.; Stern / Sachs / Alber (2016), Art.  47 Rn.  111; Calliess / Ruffert / Blanke (2016), Art. 47 GRCh Rn. 14 f., jeweils m. w. N.

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ner fundamentalen Bedeutung1321 im Ergebnis selbst wiederum nicht als absolut geschützte Konventionsgarantie und damit eo ipso nicht als Bestandteil des europäisierten ordre public anzusehen ist. Der Straßburger Gerichtshof betont vielmehr in ständiger Rechtsprechung, dass i. R. d. Bewertung eines Strafverfahrens als fair eine Gesamtabwägung der die Verfahrensrechte beeinträchtigenden und kompensierenden Umstände („overall fairness“) vorzunehmen sei.1322 Entsprechend unterliegt aufgrund der Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh auch Art. 47 Abs. 2 GRCh keinem absoluten Schutz und unterliegt vor dem Hintergrund des Schrankenvorbehalts des Art. 52 Abs. 1 GRCh der Möglichkeit zur Restriktion.1323 Ebenso bedient sich denn auch der EuGH einer wertenden Gesamtbetrachtung des in Rede stehenden Verfahrens,1324 was sich nicht 1321

EGMR, Miracle Europe Kft v. Ungarn, Urteil v. 12.01.2016 (57774/13), Tz. 45 m. w. N. („the right to a fair trial holds so prominent a place in a democratic society that there can be no justification for interpreting Article 6 § 1 restrictively“); ähnl. bereits EGMR Plenum, Pretto et al. v. Italien, Urteil v. 08.12.1983 (7984/77), Tz. 21 („a fair trial, the guarantee of which is one of the fundamental principles of any democratic society“); EGMR, Delcourt v. Belgien, Urteil v. 17.01.1970 (2689/65), Tz. 25 a. E.; s. auch SSW-StPO / Satzger (2020), Art. 6 EMRK Rn. 1; Karpenstein / Mayer / Meyer (2015), Art. 6 Rn. 1; Peters / Altwicker, EMRK (2012), § 19 Rn. 1; s. zur praktischen Bedeutung der Konventionsgarantie Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 25. 1322 S. etwa EGMR, K. C. v. Rumänien, Urteil v. 30.10.2018 (45060/10), Tz. 45; EGMR, Sadkov v. Ukraine, Urteil v. 06.07.2017 (21987/05), Tz. 123; EGMR GK, Schatschaschwili v. Deutschland, Urteil v. 15.12.2015 (9154/10), StV 2017, 213 (216) („Das vorrangige Anliegen des Gerichtshofs bei der Prüfung einer Rüge des Art. 6 Abs. 1 besteht in der Beurteilung, ob das Strafverfahren insgesamt einen fairen Charakter hatte […]. Zu diesem Zweck zieht er das Verfahren insgesamt in Betracht […].“), jeweils m. w. N. zur früheren Rspr. S. weiterführend auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 10 Rn. 57 f.; Radtke / Hohmann / ders. (2010), Art. 6 EMRK Rn.  53 f.; Karpenstein / Mayer / Meyer (2015), Art. 6 Rn. 222 ff., jeweils m. w. N. S. zum Begriff auch Jung, „Overall Fairness“, in: Heger / Kelker / Schramm, FS Kühl (2014), S. 915 ff. 1323 Pechstein / Nowak / Häde / Nehl (2017), Art. 47 GRCh Rn. 78; Jarass, Grundrechtecharta (2016), Art. 47 Rn. 14 ff., 36; von der Groeben / Schwarze / Hatje / Lemke (2015), Art. 47 GRCh Rn.  16; Vedder / Heintschel von Heinegg / Folz (2018), Art. 47 GRCh Rn. 14; s. auch Schorkopf, § 53 Recht auf ein faires Verfahren, in: Heselhaus / Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte (2006), Rn. 71 f., wonach zutr. bereits auf der Tatbestandsebene Rechtfertigungsfragen anzustellen seien und sich des Weiteren allein die Frage nach etwaigen Rechtsfolgen einer Beeinträchtigung stelle. 1324 Vgl. EuGH, Gambazzi, Urteil v. 02.04.2009 (C-394/07; ECLI:EU:C:2009:219), Slg. 2009, I-2582 (2593) (verhältnismäßiger Ausschluss des Betroffenen von der Teilnahme am Verfahren); EuGH GK, Kadi und Al Barakaat International Foundation v. Rat und Kommission, Urteil v. 03.09.2008 (C-402/05 P und C-415/05 P; ECLI:EU:C:2008:461), Slg. 2008, I-6411 (6504) (Beschränkung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch „legitime Sicherheitsinteressen“); EuGH, Varec SA, Urteil v. 14.02.2008 (C-450/06; ECLI:EU:C:2008:91), Slg. 2008, I-601 (615 f.) (Beschränkung der Kenntnis von Beweismitteln zugunsten der Wahrung von Grundrechten Dritter oder zum Schutz wichtiger Interessen der Allgemeinheit). Vgl. auch Holoubek / ​ Lienbacher / Raschauer / Sander / Schlögl (2014), Art. 47 Rn. 2 unter Verweis auf EuGH, Krombach, Urteil v. 28.03.2000 (C-7/98; ECLI:EU:C:2000:164), Slg. 2000, I-1956 (1966), wobei sich eine Beschränkung auf eine Gesamtwürdigung der Verfahrensfairness aus dieser Entscheidung nicht ergibt. S. auch zur Einschränkung des Rechts auf rechtliches Gehör sowie der Waffengleichheit zugunsten des Schutzes Dritter, öffentlicher Interessen oder der nationalen Sicherheit

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Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

zuletzt aus der Anforderung des Art. 52 Abs. 1 GRCh und der darin verbürgten Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs (auch in Art. 47 Abs. 2 GRCh) ergibt. Wenn aber erst eine solche auf eine Verhältnismäßigkeit hinauslaufende Gesamtabwägung die Bewertung eines Strafverfahrens als (un)fair zulässt, kann die Garantie eines fairen Verfahrens isoliert betrachtet nicht dem elementaren Schutz des ordre-public-Einwands unterstellt werden, da er aufgrund der Abwägung nicht das Wesensmerkmal eines unbedingten Schutzes in sich birgt.1325 Mangels Zuordnung zum ordre public aufgrund fehlender absoluter Schutzausprägung bleibt somit nur der Weg über eine Beeinträchtigung des Wesensgehalts des Rechts auf ein faires Verfahren. Insoweit ist wiederum auf die Rechtsprechung des EGMR zur einem Wesentlichkeitskern entsprechenden „flagrant denial of justice“ zu verweisen.1326 Im Ergebnis kann damit eine ordre-public-basierte Vollstreckungs- resp. Auslieferungsverweigerung im Fall eines Verstoßes gegen das Recht auf ein faires Verfahren nicht bereits auf einen unverhältnismäßigen Eingriff, sondern erst auf die Beeinträchtigung dessen Wesensgehalts sowie auf eine so massive Beeinträchtigung gestützt werden, die den Menschenwürdegehalt des Betroffenen missachtet und diesen zum bloßen Verfahrensobjekt degradiert. Schließlich ist auf die Möglichkeit der gem. Art. 26 ­EuAuslÜbk vorbehaltsbasierten Auslieferungsverweigerung hinzuweisen, wenn ein Vertragsstaat nach seiner nationalen Rechtsordnung bestimmte Verfahrensstandards als zwingend voraussetzt – und hierbei lassen sich in Anbetracht der mannigfaltig denkbaren Vorgaben für ein faires Verfahren kaum inhaltliche Grenzen ausmachen1327 – und insoweit einen Vorbehalt gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk vorgebracht hat.

E. Zusammenfassung Die Untersuchung hat nunmehr gezeigt, dass sowohl im Übergabeverkehr nach Maßgabe des Europäischen Haftbefehls als auch im Auslieferungsverkehr auf Grundlage des Europäischen Auslieferungsübereinkommens eine Übergabe- resp. Frenz, Europäische Grundrechte (2009), Rn. 5043, 5045. S. auch zu einzelfallabhängigen Billigkeitsentscheidungen Pache, EuGRZ 2000, 601 (606), der als Bsp. die Fiktion des Obsiegens der verletzten Prozesspartei oder Entschädigungsansprüche nennt. 1325 S. zur Unvereinbarkeit einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit dem ordre-public-Vorbehalt bereits S. 259 ff. 1326 S. dazu o. Fn. 903 mit Haupttext. 1327 S. hierzu etwa die vage formulierten Vorbehalte Maltas und San Marinos zu Art. 1 ­EuAuslÜbk (Fn. 870), wonach im Fall Maltas u. a. ein Gericht „may order the person committed to be discharged from custody if it appears to such Court that, […] because the accusation against him is not made in good faith in the interests of justice, it would, having regard to all circumstances, be unjust or oppressive to return him“ sowie im Fall San Marinos „the Republic of San Marino shall not grant extradition of persons: […] who will be subjected to a trial which affords no legal guarantees of criminal proceedings complying with the conditions internationally recognized as essential for the protection of human rights, or will serve their sentences in inhuman conditions.“

D. Konkretisierung anhand ausgewählter aktueller Problemfälle   

349

Auslieferungsverweigerung aufgrund eines jeweils ungeschriebenen und dennoch rechtlich zulässigen ordre-public-Vorbehalts erfolgen kann. Hierbei ist zwischen den jeweiligen in Bezug genommenen Rechtsordnungen und damit einem „echten“ europäischen, einem europäisierten sowie einem rein nationalen Wesentlichkeitsvorbehalt zu unterscheiden.1328 In diesem Zusammenhang gilt es zu berücksich­ tigen, dass allein das unmittelbar anwendbare Unionsrecht – wie die GRCh – einen echten europäischen, scil. nicht auf die Durchsetzung durch die Unionsmitgliedstaaten angewiesenen Vorbehalt darstellt, während demgegenüber die Gewährleistungen der EMRK aufgrund ihrer völkervertraglichen Natur nur durch einen europäisierten nationalen ordre-public-Vorbehalt zur Wirkung gelangen. Da­neben gilt es, den Bestand der sich aus Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG speisenden Verfassungsidentität i. R. e. „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ Wesentlichkeitsvorbehalts zu berücksichtigen, der im Fall drohender Verstöße gegen die Menschenwürdegarantie resp. den Würdegehalt eines von Art. 1 Abs. 1 GG untermauerten Grundrechts virulent wird. Weder der RbEuHb noch das ­EuAuslÜbk halten hierfür jedoch eine explizite Rechtsgrundlage bereit. Insbesondere lässt sich Art. 1 Abs. 3 RbEuHb nicht als ein solcher weiterer Vollstreckungsverweigerungsgrund heranziehen.1329 Im Rahmen des haftbefehlsbasierten Übergaberegimes ergibt sich die Zulässigkeit eines Wesentlichkeitsvorbehalts zunächst aus einer Zusammenschau der normenhierarchisch übergeordneten Grundrechtsbindung sowie der dem RbEuHb neben der Absicht zur Beschleunigung und Vereinfachung der Übergabe zugrunde liegenden grundrechtsbekennenden Zielsetzung. Darüber hinaus kann das Unionsrecht den den Mitgliedstaaten zustehenden Vorbehalt zugunsten ihrer jeweiligen Verfassungsidentität aufgrund der Ausgestaltung der EU als Verbund weiterhin souveräner Mitgliedstaaten von vornherein nicht verwehren. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass das primäre Unionsrecht selbst im Bereich der strafrechtlichen Rechtsetzung mit der Einführung des sogenannten Notbremseverfahrens in den Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV „grundlegende Aspekte der Strafrechtsordnung“ eines Mitgliedstaates nicht nur berücksichtigt, sondern darüber hinaus als Hindernis eines unionsweit gültigen Rechtsaktes gelten lässt.1330 Für den Auslieferungsverkehr im Rechtsraum des Europarats ist festzuhalten, dass ein europäisierter ordre public i. w. S. als Ausdruck des regionalen ius ­cogens des Europarats (Art. 53 Abs. 1 WÜRV) oder in rein nationaler Ausprägung auf einen gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 E ­ uAuslÜbk angebrachten Vorbehalt gem. Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk gestützt werden kann. Die Bedienung eines gegenüber der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls zulässigen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ Wesentlichkeitsvorbehalts

1328

S. zur Terminologie bereits S. 128 ff. S. hierzu bereits o. Fn. 529 mit Haupttext. 1330 S. bereits o. Fn. 773 und 777 mit Haupttext. 1329

350

Kap. 4: Ausgestaltung eines auslieferungsrelevanten ordre-public-Einwands

ist gegenüber einem Auslieferungsersuchen nach Maßgabe des E ­ uAuslÜbk indes verwehrt.1331 In inhaltlicher Hinsicht ist zusammenfassend anzumerken, dass entsprechend der Natur des ordre-public-Einwands als auf Ausnahmefälle und die Wahrung elementarer Rechtspositionen zugeschnittene Rechtsfigur in individualschützender Hinsicht in einem ersten Schritt allein auf absolut gewährleistete Individualrechtssätze sowie deren Wesensgehalt abgestellt werden kann. Dies betrifft sowohl die Gewährleistungen der GRCh wie auch der EMRK, wobei letztere in der Anwendung in Friedenszeiten auf alle absolut geschützten und nicht nur die gem. Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfesten Rechtssätze erstreckt sind1332 und i. R. d. Übergabe aufgrund eines Europäischen Haftbefehls nicht als formaler Bestandteil des Unionsrechts, aber infolge der Tatsache, dass alle Unionsstaaten zugleich Vertragsstaaten des Europarats sind, verbindlich sind. Für die Übergabe nach Maßgabe des Haftbefehlsregimes gilt weiterhin, dass der Kern der mitgliedstaatlichen Verfassungsidentität seitens des Unionsrechts durch Art. 4 Abs. 2 EUV geachtet wird und für die Bundesrepublik gem. Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG als weiteres Übergabehindernis in Betracht kommt. Darüber hinaus ist der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung ebenfalls Bestandteil des europäischen ordre public, derzeit jedoch bis zur Erreichung eines unionsweiten „quasi-bundesstaatlichen“ und eine automatisierte Haftbefehlsvollstreckung rechtfertigenden Grundrechtsniveaus zugunsten des individualschützenden Wesentlichkeitsvorbehalts nach­ geordnet und auf eine Anwartschaftsposition beschränkt.1333 Im Anwendungsbereich des rein nationalen ordre-public-Einwands gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk ist zudem festzuhalten, dass dessen Inhalt schwerlich abstrakt festgeschrieben werden kann, da insoweit die Vertragsstaaten bei der Unterzeichnung des Abkommens oder der Hinterlegung ihrer Rati­ uAuslÜbk zulässigen fikations- oder Beitrittsurkunde einen gem. Art. 26 Abs. 1 E Vorbehalt erklären durften. Dieser kann wiederum – wie vereinzelte Vorbehalte zeigen1334 – in völkerrechtlich zulässiger Weise an nationale normative Wertmaßstäbe anknüpfen und diese zum Inhalt des Wesentlichkeitsvorbehalts machen. Als verbleibender Unterschied zwischen der Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls auf der einen und der Auslieferung nach Maßgabe des ­EuAuslÜbk auf der anderen Seite lässt sich abschließend aufzeigen, dass unter Verweis auf die gem. Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk zulässigen nationalen Vorbehalte auch souveräne Interessen durchgesetzt werden können, was den Unionsmitgliedstaaten unter Bezugnahme auf Art. 4 Abs. 3 EUV letztlich nicht gestattet ist.1335

1331

S. dazu bereits S. 238 ff. S. dazu S. 287 ff. 1333 S. dazu S. 273 ff. 1334 S. hierzu o. Fn. 870. 1335 S. dazu S. 268 ff. und 319 ff. 1332

Kapitel 5

Die Bedeutung des ordre-public-Vorbehalts im sonstigen europäischen Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr A. Vorüberlegungen In einem letzten Kapitel will ich schließlich der Frage nachgehen, ob auch die Unterstützung im Bereich der sonstigen Rechts- und Vollstreckungshilfe durch einen rein nationalen, europäisierten oder europäischen ordre-public-Einwand begrenzt ist. Ausgangspunkt ist hier aber im Kern nicht (mehr) die Frage, ob die Rechtsakte der EU und des Europarats im Bereich der sonstigen und Voll­ streckungshilfe selbst einen Wesentlichkeitsvorbehalt zulassen. Da die Ergebnisse im vierten Kapitel dieser Untersuchung nämlich gezeigt haben, dass der ordre-​public-Einwand im Übergabe- resp. Auslieferungsverkehr im Wesentlichen auf allgemeingültigen – insbesondere einer normenhierarchisch übergeordneten Grundrechtsbindung des Unionsgesetzgebers wie der Mitgliedstaaten  – und nur im Randbereich auf rechtsaktspezifischen Erwägungen beruht, muss die Ausgangsfrage an dieser Stelle nunmehr negativ formuliert werden: Ist ein auf Grundlage der im vierten Kapitel getroffenen Feststellungen im Bereich der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe des Unionsrechts und des Rechtsregimes des Europarats als zulässig anzusehender Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber einer weiterhin normierten Rechtshilfeverpflichtung als unzulässig anzusehen? Die Antwort auf diese Frage kann sich nunmehr nur noch aus einem Aspekt ergeben: Namentlich aus spezifischen normativen Entscheidungen i. R. d. jeweils zu betrachtenden Rechtsakte des Unionsrechts bzw. des Europarats. Andere Wertungen aus der Natur der sonstigen bzw. Vollstreckungsrechtshilfe unter Verweis auf eine etwaige eingriffsintensivere – da zumeist mit Inhaftierung einhergehende – Auslieferung lassen sich indes nicht ziehen, da auch durch mögliche Beweiserhebungen – etwa in Fällen der Telekommunikationsüberwachung oder Durchsuchungen  – sowie auch im Bereich der Vollstreckungshilfe mit massiven Grundrechtseingriffen zu rechnen ist.1336 Damit gilt es im Folgenden zu untersuchen, inwieweit sich den ein 1336 Vgl. auch Ahlbrecht, StV 2013, 114 (116), der unter Verhältnismäßigkeitsbedenken die mögliche Eingriffsintensität von Ermittlungsmaßnahmen betont; von der Groeben / Schwarze / ​ Hatje / Meyer (2015), Art. 82 AEUV Rn. 9 („Rechtskräftige Endurteile sind als statisches Endergebnis eines in sich geschlossenen justiziellen Verfahrens anders zu behandeln als Beweiserhebungen, deren Transferierbarkeit als Produkt einer spezifischen nationalen Verfahrenssituation in andere laufende Verfahren im Ausland [mit möglicherweise ganz anders gelagerten

352

Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

zelnen zu betrachtenden Rechtsakten ebenfalls ordre-public-relevante Aussagen entnehmen lassen. Die verschiedenen Definitionen des ordre public hinsichtlich der einzelnen in Bezug genommenen Rechtsordnungen (echter europäischer, europäisierter nationaler und rein nationaler ordre public)1337 behalten im Folgenden ihre Gültigkeit. Ebenso ergeben sich für die inhaltliche Ausgestaltung eines Wesentlichkeitsvorbehalts (im Wesentlichen die Bindung an die Garantien der GRCh und der EMRK sowie die unüberwindbare nationale Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten i. R. d. Unionsrechts sowie die Bindung an die Konventionsgarantien i. R. d. Rechts des Europarats) keine Besonderheiten. Das führt im Ergebnis dazu, dass sich die inhaltliche Ausgestaltung eines solchen Vorbehalts für die weitere Rechtshilfe unter den Unions- resp. Europaratsmitgliedstaaten – sobald sich den entsprechenden Rechtsakten ein geschriebener ordre-public-Vorbehalt entnehmen lässt oder entsprechend den Wertungen zum RbEuHb und dem E ­ uAuslÜbk von einem ungeschriebenen Wesentlichkeitsvorbehalt auszugehen ist – nach den im vorangegangenen Kapitel erhobenen Untersuchungsergebnissen richtet.

B. Der gegenwärtige sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union Im Folgenden werden allein die gegenwärtig geltenden Rechtsakte zum Gegenstand der Untersuchung gemacht; im Übrigen wird auf die zu Beginn der Unter­ suchung dargestellte Rechtsentwicklung verwiesen.1338 Zwischen den Mitgliedstaaten der EU erfolgt die Rechtshilfe, was etwaige Ermittlungstätigkeiten angeht, nach Maßgabe der Richtlinie 2014/41/EU über die Europäische Ermittlungsanordnung vom 03.04.2014,1339 die gem. deren Art. 34 Abs. 1 und 2 zum 22.05.2017 die vor­ Beweiserhebungs- und -verwertungsgrundsätzen und -verfahren] beträchtliche Schwierigkeiten bereiten kann.“) m. w. N. zur hier nicht weiter beleuchteten Frage der Anforderungen an den Beweistransfer; ähnl. Heydenreich, StraFo 2012, 439 (441), der ausführt, dass infolge des Abstellens allein auf die Rechtmäßigkeit der Ermittlungsmaßnahme nach nationalem Recht des Anordnungsstaates (wobei dieser pauschalen Aussage unter Verweis etwa auf die Möglichkeit der Vollstreckungsverweigerung gem. Art. 11 Abs. 1 lit. c), e) und g) RlEEA nicht gefolgt werden kann [dazu sogleich]) die „Gefahr der Nivellierung des Rechtsschutzniveaus“ bestehe. S. auch Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (814 f.). die zutr. die unmittelbare Bedeutung einer auch im Ausland erfolgten Beweiserhebung für das nationale Strafverfahren betont („Anders als der EuHb, welcher das Auslieferungsverfahren betrifft und dessen Wirkung somit auf einen Nebenarm des Hauptverfahrens beschränkt ist, beeinflusst die EEA das weitaus komplexere Herzstück des Strafverfahrens.“). Für einen eingriffsintensiveren Charakter der Auslieferung aber Vogler / Wilkitzki / Vogler (1992), § 73 Rn. 11. 1337 S. zur Terminologie o. S. 128 ff. 1338 S. zu den Rechtshilfequellen bereits die Darstellung auf S. 51 ff. 1339 S. zum Fundstellennachweis o. Fn. 525. Zur vorherigen (fragmentarischen) Rechtslage s. die Darstellung bei Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 82 ff. sowie die Erwägungsgründe 3, 4 und 5 der RlEEA. Zur Umsetzung in das deutsche Recht in den §§ 91a ff. IRG

B. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union   

353

herigen Abkommen auf Ebene der EU, die einschlägigen Sekundärrechtsakte sowie das Schengener Durchführungsübereinkommen insoweit ersetzt hat.1340 Im Bereich der Vollstreckungshilfe sind folgende Sekundärrechtsakte in den Blick zu nehmen: Der Rahmenbeschluss 2005/214/JI vom 24.02.2005 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen,1341 der Rahmenbeschluss 2006/783/JI vom 06.10.2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen,1342 der Rahmenbeschluss 2008/909/JI vom 27.11.2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme verhängt wird, für die Zwecke ihrer Vollstreckung in der Europäischen Union,1343 der Rahmen­ beschluss 2009/829/JI vom 23.10.2009 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen s. nur Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 41 ff.; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1310 f., 1322 (unter Hinweis auf die fortbestehende Unterteilung in Zulässigkeits- und Bewilligungsverfahren); Ahlbrecht, StV 2018, 601 (602 ff.); Brahms / Gut, NStZ 2017, 388 (389 ff.) und Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (317). 1340 Dies betrifft gem. Art. 34 Abs. 1 und 2 RlEEA das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen nebst Zusatzprotokollen (Fn. 49 und 122), das Schengener Durchführungsübereinkommen (Fn. 135), das Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union nebst Zusatzprotokoll (Fn. 48), den Rahmenbeschluss 2008/978/JI vom 18.12.2008 über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen (Abl. EU 2008, L 350, 72) sowie den Rahmenbeschluss 2003/577/JI vom 22.07.2003 über die Vollstreckung von Entscheidungen über die Sicherstellung von Vermögensgegenständen oder Beweismitteln in der Europäischen Union (Abl. EU 2003, L 196, 45). Die dadurch bewirkte vereinfachte Handhabung begrüßend etwa Belfiore, EuClR 5 (2015), 312 (316). Allerdings hat die Kommission im März 2018 Verfahren gegen vier Mitgliedstaaten wegen fehlender Umsetzung der Europäischen Ermittlungsanordnung eingeleitet, s. dazu Rats-Dok. 5908/1/18 Rev 1 und RatsDok. 6917/18, S. 3. 1341 Abl. EU 2005, L 76, 16. Im Folgenden wird der Begriff unter der Abkürzung Rahmenbeschluss Geldstrafen weiterverwendet. 1342 Abl. EU 2006, L 328, 59. Im Folgenden wird verkürzt der Begriff des Rahmenbeschlusses Einziehungsentscheidungen verwendet. Jüngst ist die Verordnung (EU) 2018/1805 vom 14.11.​2018 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen (Abl. EU L 303, 1) in Kraft getreten, die ausweislich deren Art. 39 u. a. den Rb 2006/783/JI vom 06.10.2006 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen m. W. z. 19.12.2020 (Art. 40 f. VO (EU) 2018/1805) ersetzt. 1343 Abl. EU 2008, L 327, 27. Im Folgenden wird verkürzt der Begriff des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung verwendet (RbEVA). Der Rb hat gem. dessen Art. 26 zum 05.12.2011 das Europäische Überstellungsübereinkommen nebst Zusatzprotokoll (ETS Nr. 112, BGBl. 1991 II, 1006; 1991 I, 1954; 1992 II, 98), das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen (ETS Nr. 70, von Deutschland am 28.05.1970 unterzeichnet, jedoch bislang nicht ratifiziert), Titel III Kapitel 5 des Schengener Durchführungsübereinkommens sowie das Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften über die Vollstreckung ausländischer strafrechtlicher Verurteilungen (BGBl. 1997 II, 1351) ersetzt.

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

als Alternative zur Untersuchungshaft1344 sowie der Rahmenbeschluss 2008/947/ JI vom 27.11.2008 über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile und Bewährungsentscheidungen im Hinblick auf die Überwachung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen.1345 Es stellt sich also nach Maßgabe der soeben angestellten Vorüberlegungen die Frage, ob diese Sekundärrechtsakte einen ordre-public-Einwand ausschließen. Auszugehen ist im Ansatz von der im dritten Kapitel festgestellten Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands infolge (1.) der normenhierarchisch übergeordneten Grundrechtsbindung des Unionsgesetzgebers wie der Mitgliedstaaten,1346 (2.) eines etwaigen den Rechtsakten zugrunde liegenden Grundrechtsbekenntnisses1347 sowie (3.) einer zwingenden Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Identität gem. Art. 4 Abs. 2 EUV in Ausprägung der Verfassungsidentität des Grundgesetzes,1348 unterstützt durch eine (4.) Berücksichtigung „grundlegender Aspekte“ der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen gem. Art. 82 und 83 Abs. 3 AEUV.1349

I. Der ordre-public-Einwand im unionsrechtlichen sonstigen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen am Beispiel der Europäischen Ermittlungsanordnung 1. Die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung und ihre Verweigerung Die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA) lässt sich – entsprechend dem Europäischen Haftbefehl als Rechtshilfemaßnahme zur Erlangung einer Person – als auf gegenseitiger Anerkennung basierendes Instrument zur Erlangung von Ermittlungsergebnissen begreifen.1350 Sie findet im gesamten Strafverfahren Anwendung.1351 So beschreibt denn auch Art. 1 Abs. 1 RlEEA die Europäische Ermitt 1344 Abl. EU 2009, L 294, 20. Im Folgenden wird verkürzt der Begriff des Rahmenbeschlusses über die Europäische Überwachungsanordnung verwendet (RbEÜA). 1345 Abl. EU 2008, L 337, 102. Im Folgenden wird der Begriff unter der Abkürzung Rahmenbeschluss Bewährungsmaßnahmen weiterverwendet. 1346 S. dazu S. 164 ff. 1347 Vgl. i. R. d. RbEuHb bereits S. 176 ff. 1348 S. dazu S. 184 ff. 1349 S. dazu S. 213 ff. 1350 Die RlEEA sieht in den Art. 22 ff. exemplarisch einzelne Ermittlungsmaßnahmen vor, nimmt jedoch in Art. 3 die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen sowie die Beweiserlangung i. R. d. Bildung solcher Ermittlungsgruppen und in den Erwägungsgründen 8 und 9 die grenzüberschreitende Observation aus ihrem sachlichen Anwendungsbereich aus. 1351 S. Erwägungsgrund 25 der RlEEA, wonach diese „die Durchführung von Ermittlungsmaßnahmen zur Erhebung von Beweismitteln in sämtlichen Phasen des Strafverfahrens, einschließlich der Gerichtsphase“ betrifft und allein die dauerhafte Überstellung einer Person zu Verfolgungszwecken, einschließlich der Verbringung der Person vor ein Gericht, um sich dort zu verantworten, auf Grundlage eines EuHb zu erfolgen hat. S. zur Untersuchung einzelner An-

B. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union   

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lungsanordnung als „eine gerichtliche Entscheidung, die von einer Justizbehörde eines Mitgliedstaates („Anordnungsstaat“) zur Durchführung einer oder mehrerer spezifischer Ermittlungsmaßnahme(n) in einem anderen Mitgliedstaat („Vollstreckungsstaat“) zur Erlangung von Beweisen1352 gemäß dieser Richtlinie erlassen oder validiert wird.“ Lediglich die Verwertbarkeit von Beweisen im Gerichtsverfahren des Anordnungsstaates unterfällt nicht dem Regelungsgegenstand der Richtlinie.1353 Hinsichtlich des sachlichen Anwendungsbereichs kann die Ermittlungsanordnung gem. Art. 4 RlEEA im Rahmen von Straf- und Verwaltungsverfahren sowie gem. lit. c) in Verfahren wegen Handlungen erlassen werden, „die nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats als Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften geahndet werden können.“ Sodann sieht die Richtlinie als Parallele zu Art. 1 Abs. 2 RbEuHb eine Pflicht des Vollstreckungsstaates zur Vollstreckung der Ermittlungsanordnung „gemäß dieser Richtlinie“ und „ohne jede weitere Formalität“ in Art. 1 Abs. 2, Art. 9 Abs. 1 RlEEA vor. Als Pendant zu der – hier nicht als Vollstreckungsverweigerungsgrund bewerteten Achtungsklausel des Art. 1 Abs. 3 RbEuHb1354 – sieht Art. 1 Abs. 4 RlEEA ebenfalls vor, dass die Richtlinie „nicht die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der Rechtsgrundsätze, die in Artikel 6 EUV verankert sind“, berührt.1355 Darüber hinaus hält Art. 11 Abs. 1 RlEEA einen Katalog1356 von allein fakultativen  (!)1357 Vollstreckungsverweigerungsgründen bereit, wonach der Vollstrewendungsbereiche etwa Schuster, StV 2015, 393 (395 ff.) (Zeugenvernehmung, Durchsuchung und Beschlagnahme sowie Telekommunikationsüberwachung). 1352 S. in diesem Zusammenhang auch den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Europäische Herausgabeanordnungen und Sicherungsanordnun­ gen für elektronische Beweismittel in Strafsachen („e-evidence“), COM (2018), 225 final v. 17.04.2018; s. dazu auch Jour-Schröder, ZIS 2018, 438 (441 f.) und Brodowski, ZIS 2018, 493 (502). 1353 Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 37. 1354 S. dazu bereits o. Fn. 529 mit Haupttext. 1355 Zur Bewertung des Art. 1 Abs. 4 RlEEA als ordre-public-Klausel aber Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (157); Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (827); ähnl. Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1311 mit Fn. 1924 („allgemeiner Zurückweisungsgrund“). 1356 S. hierzu die ausf. Darstellung bei Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (153 ff.); Bachmaier Winter, The PD EIO and the Grounds for Refusal: A Critical Assessment, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 71 (77 ff.), die eine fehlende hinreichende Bestimmtheit der Versagungsgründe (noch in der Form des Richtlinien­ entwurfs) bemängelt; einen abschließenden Charakter der Versagungsgründe betonend Jähnke  / ​ Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 38; Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (820). 1357 Krit. insoweit auch Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (153) („Dies ist zumindest bei den Ablehnungsgründen, die Rechte des Beschuldigten oder Dritter wahren sollen, gänzlich unzureichend.“ sowie „[…] unverständlich, weshalb der Vollstreckungsstaat insoweit irgendein Ermessen haben soll.“), der zudem betont, dass der Gesetzgeber „von den Ablehnungsgründen großzügig Gebrauch zu machen“ habe; s. auch Bachmaier Winter, The PD EIO and the Grounds for Refusal: A Critical Assessment, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 71 (88), die i. Erg. die positive Wirkung für die gegenseitige Anerkennung hervorhebt, zugleich aber auch auf einen „degree of legal uncertainty“ hinweist.

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

ckungsstaat die Umsetzung der Ermittlungsanordnung unter anderem verweigern kann, wenn das Ersuchen ein Verwaltungsverfahren oder Handlungen zum Gegenstand hat, „die nach dem nationalen Recht des Anordnungsstaats als Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften geahndet werden können“ und die ersuchte Ermittlungsmaßnahme für diesen Fall nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht zulässig wäre (lit. c).1358 Ebenso muss dem Ersuchen bei drohendem Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem (lit. d) nicht entsprochen werden. Weitere Anwendungsbereiche der Vollstreckungsverweigerung betreffen Handlungen, die nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nicht strafbedroht sind, es sei denn, dass die in Rede stehende Handlung vom Anordnungsstaat als im Anhang D zur RlEEA1359 aufgeführte Katalogtat angegeben wird und kumulativ nach dem Recht des Anordnungsstaates mit einer Freiheitsstrafe oder Maßregel der Sicherung im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht ist (lit. g). Zudem erfasst die Möglichkeit zur Vollstreckungsverweigerung Fälle, in denen die ersuchte Ermittlungsmaßnahme nach dem Recht des Vollstreckungsstaates auf bestimmte Straftaten per se oder solche mit einer bestimmten Mindestsanktion beschränkt ist (lit. h). Besondere Bedeutung für die vorliegende Untersuchung erlangt schließlich der – sogleich noch näher zu betrachtende  – Vollstreckungsverweigerungstatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA, wonach von der Vollstreckung abgesehen werden kann, wenn „berechtigte Gründe1360 für die Annahme bestehen, dass die Vollstreckung einer in der Ermittlungsanordnung angegebenen Ermittlungsmaßnahme mit den Verpflichtungen des Vollstreckungsstaats nach Artikel 6 EUV und der Charta unvereinbar wäre.“1361 Neben dieser Option zur Vollstreckungsverweigerung sieht Art. 15 Abs. 1 RlEEA vor, dass die Vollstreckung der Ermittlungsanordnung oder gar ihre Anerkennung und damit die Vollstreckungspflicht selbst aufgeschoben werden kann, wenn die unverzügliche Umsetzung der Anordnung eine laufende strafrechtliche Ermittlung oder Verfolgung zu beeinträchtigen droht (lit. a), oder die relevanten Beweismittel in anderen Verfahren verwendet werden (lit. b).

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Rafaraci spricht in diesem Zusammenhang vom „Check on ‚Double Procedural Legality‘“ (Rafaraci, General Considerations on the EIO, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe [2014], S. 37 (40 f.). 1359 Der Deliktskatalog ist mit den in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb genannten Tathandlungen identisch. S. hierzu auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 45; Armada, NJECL 6 (2015), 8 (17) („Euro-crimes“). 1360 S. zu diesem Begriff BT-Drs. 18/9757, S. 60, wonach berechtigte Gründe i. S. d. Norm vorlägen, „wenn sich plausible Zweifel der zuständigen deutschen Stellen an der Grundrechtskonformität anhand der vorliegenden Informationen nicht ausräumen lassen.“; s. dazu auch Ahlbrecht, StV 2018, 601 (605), der als Anwendungsbeispiele das Abhören eines kirchlichen Beicht- oder anwaltlichen Mandantengesprächs nennt. 1361 Nach deutschem Recht handelt es sich insoweit – unter Verweis auf § 73 S. 2 IRG – um ein Zulässigkeitshindernis gem. § 91b Abs. 3 IRG.

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2. Individualschützende Zielsetzung der Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung Was nun in concreto die Frage nach der Zulässigkeit des ordre-public-Einwands betrifft, ist – wie im Fall des RbEuHb1362 – der RlEEA ein Grundrechtsbekenntnis zu entnehmen.1363 Dieses ergibt sich zum einen aus den normativ verbindlichen Regelungen der Richtlinie sowie den diesen vorgeschalteten Erwägungsgründen. So heißt es in Erwägungsgrund 11 – bestätigt durch Art. 10 Abs. 3 RlEEA –, dass der Vollstreckungsstaat aus Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten auf eine Ermittlungsmaßnahme anderer Art zurückgreifen und damit die seitens des Anordnungsstaates vorgegebene Maßnahme ablehnen kann, wenn die alternative Maßnahme weniger einschneidend und gleich geeignet ist. Weiterhin schreibt Erwägungsgrund 12 RlEEA die „uneingeschränkte“ Beachtung der in Art. 48 GRCh normierten Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte des Betroffenen durch den Anordnungsstaat, und damit deren absolute Geltung über den von der Mitteilung der Ermittlungsanordnung bis zur Übermittlung der erlangten Beweise erfassten Zeitraum hinaus für das weitere Verfahren im Anordnungsstaat fest. Die Richtlinie bekennt sich überdies im Erwägungsgrund 15 zu den durch die Richtlinien 2010/64/EU,1364 2012/13/EU1365 und 2013/48/EU1366 etablierten Verfahrensrechten sowie in den Folgegründen zum Schutz der Privatsphäre und dem Recht auf Eigentum (Erwägungsgrund 16), dem Grundsatz ne bis in idem (Erwägungsgrund 17) sowie dem Schutz personenbezogener Daten (Erwägungsgrund 40). Schließlich sehen die Erwägungsgründe 18 und 39 vor, dass die RlEEA die Verpflichtung zur Achtung der Grundrechte und der in Art. 6 EUV normierten allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht berührt bzw. diese Grundrechte und Grundsätze – auch unter Heranziehung der EMRK – wahrt. Dabei ist jedoch entsprechend den bereits getroffenen Feststellungen zu konstatieren, dass den Erwägungsgründen zum einen mangels normativer Verbindlichkeit und zum anderen aufgrund ihrer deutlich systemwidrigen Stellung nicht der Charakter eines (weiteren) Vollstreckungs­ tatbestandes zukommen kann.1367 Darüber hinaus bekennt sich der Unionsgesetzgeber in Art. 1 Abs. 4 ebenfalls zur Achtung der Grundrechte und der in Art. 6 EUV normierten allgemeinen Rechts 1362

S. dazu bereits S. 176 ff. Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (826 ff.). 1364 Richtlinie 2010/64/EU vom 20.10.2010 über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren (Abl. EU L 280, 1). S. dazu Fingas, EuClR 9 (2019), 175 ff. 1365 Richtlinie 2012/13/EU vom 22.05.2012 über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren (Abl. EU L 142, 1). 1366 Richtlinie 2013/48/EU vom 22.10.2013 über das Recht auf Zugang zu einem Rechts­ beistand in Strafverfahren und in Verfahren zur Vollstreckung des Europäischen Haftbefehls sowie über das Recht auf Benachrichtigung eines Dritten bei Freiheitsentzug und das Recht auf Kommunikation mit Dritten und mit Konsularbehörden während des Freiheitsentzugs (Abl. EU L 294, 1). 1367 S. o. Fn. 631 mit Haupttext. 1363

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

grundsätze sowie der Verteidigungsrechte von Betroffenen. Weiterhin sieht der Rechtsakt – und auch insoweit ist ein Fortschritt gegenüber dem RbEuHb zu erkennen1368 – als Bedingung für den Erlass einer Europäischen Ermittlungs­anordnung in Art. 6 Abs. 1 lit. a) RlEEA deren positiv festzustellende Verhältnismäßigkeit „unter Berücksichtigung der Rechte der verdächtigen oder beschuldigten Person“ vor. Unter verhältnismäßigkeitswahrenden Voraussetzungen ist gem. Art. 10 Abs. 3 RlEEA ebenfalls der Rückgriff auf Ermittlungsmaßnahmen anderer Art vorgesehen. Hierbei ist auch zu betonen, dass die seitens des Vollstreckungsstaates festgestellte drohende unverhältnismäßige Umsetzung einer Ermittlungsanordnung faktisch zur Verweigerung der Vollstreckung führen kann, weil die unverhältnismäßige Vollstreckung – wie im Fall des Art. 10 Abs. 5 RlEEA1369 – als „in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht zur Verfügung stehende“ Ermittlungsmaßnahme i. S. d. Art. 10 Abs. 1 lit. b) RlEEA anzusehen wäre1370 und somit gem. Abs. 5 „die Vollstreckungsbehörde der Anordnungsbehörde mit[teilt], dass es nicht möglich war, die erbetene Unterstützung zu leisten.“ Weiterhin sieht die RlEEA vor, dass die Übermittlung der im Vollstreckungsstaat erhobenen Beweise gem. Art. 13 Abs. 2 RlEEA ausgesetzt werden kann, bis über ein gegen die Beweis­ erhebung, scil. die konkrete Umsetzung der Ermittlungsanordnung eingelegter Rechtsbehelf, zu deren Bereitstellung die Vollstreckungsstaaten nach Maßgabe des Art. 14 Abs. 1 RlEEA verpflichtet sind,1371 entschieden wurde. Damit ist zugleich – im Gegensatz zur Rechtslage nach dem Europäischen Haftbefehl1372 – unionsrechtlich anerkannt, dass die gänzliche Durchführung der Ermittlungsmaßnahme nebst Transfer des Ermittlungsergebnisses durch einen Rechtsbehelf im Vollstreckungs 1368 S. zur umstr. Frage der erforderlichen Verhältnismäßigkeit eines EuHb bereits o. Fn. 964 mit Haupttext. 1369 Wanitschek, Die Grundrechtecharta der EU (2018), S. 102 f. m. w. N.; Brodowski, ZIS 2015, 79 (95). 1370 So auch Böse, ZIS 2014, 152 (158 f.); Bachmaier Winter, The PD EIO and the Grounds for Refusal:  A Critical Assessment, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 71 (76 f.); vgl. auch Armada, NJECL 6 (2015), 8 (16 f.) (Art. 10 als ein „‚hidden‘ ground for refusal“), die überdies die Differenzierung hinsichtlich des obli­ gatorischen und fakultativen Rückgriffs auf andere Ermittlungsmaßnahmen betont; s. auch Brahms / Gut, NStZ 2017, 388 (390), die zum einen ausführen, dass es sich dabei in der Sache um einen Verweigerungsgrund handele, „wenngleich es einen anderen Namen und Standort hat“ und zum anderen zutreffend betonen, dass von Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus Art. 49 Abs. 3 GRCh Berücksichtigung finde; zu letzterem auch Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (318). Schließlich stellt auch Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (820 f.) das „unter Art. 10 Abs. 1 lit. b RL EEA festgelegte Gleichbehandlungsprinzip und de[n] bereits in Art. 1 Abs. 4 RL EEA betonte[n] Grundrechtsschutz“ als die „bedeutendsten Beweise für die Fortentwicklung der RL EEA gegenüber bisherigen Instrumenten der Rechtshilfe“ heraus. 1371 Heydenreich, StraFo 2012, 439 (444) moniert insoweit die fehlende Regelung notwendiger oder Pflichtverteidigung. 1372 Zwar ist die Übergabe auch nach Maßgabe des RbEuHb davon abhängig, dass der Betroffene im Vollstreckungsstaat entweder keine Rechtsmittel einlegt oder die Gerichte die Übergabe für zulässig erklären; eine entsprechende anerkennende Regelung fehlt indes im RbEuHb.

B. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union   

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staat zunächst blockiert werden kann. Zudem ordnet die Richtlinie in Art. 14 Abs. 2 explizit die Geltung der Grundrechte im Vollstreckungsstaat an. Was im Übrigen den Aufschub der Anerkennung resp. Vollstreckung einer Ermittlungsanordnung gem. Art. 15 Abs. 1 RlEEA anbelangt, ist zu konstatieren, dass die dort genannten Tatbestände (laufende Strafverfahren oder Verwendung der Beweismittel in anderen Verfahren) allein verfahrenstechnische Intentionen verfolgt und keine individualschützende Ausprägung erkennen lässt. Den bedeutendsten Anhaltspunkt für das gesetzgeberische Grundrechtsbekenntnis lässt sich indes den individualschützenden Vollstreckungsverweigerungs­ gründen des Art. 11 Abs. 1 RlEEA entnehmen.1373 Hierbei lässt sich in erster Linie der Verweigerungstatbestand des Abs. 1 lit. c) (Unzulässigkeit des Ermittlungs­ verfahrens nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaates) nennen. Dabei ergibt sich der individualschützende Grundgedanke aus der fehlenden Möglichkeit zur Vornahme bestimmter Ermittlungshandlungen, wenn der der Ermittlungsanordnung zugrunde liegende Tatverdacht eine entsprechende Ermittlungsmaßnahme nach alleiniger Bewertung am Maßstab des nationalen Rechts des Vollstreckungsstaates nicht zuließe und damit mangels gesetzlicher Grundlage für eine Ermittlungstätigkeit einen Vertrauensschutz zugunsten des Betroffenen begründete. Ähnlich verhält es sich im Fall des Art. 11 Abs. 1 lit. e) RlEEA (fehlende Strafbarkeit im Vollstreckungsstaat), wobei sich der Vertrauensschutz hier nicht erst auf die Unzulässigkeit einer Ermittlungsmaßnahme, sondern bereits aus der fehlenden Strafbarkeit des vorgeworfenen Verhaltens ergibt.1374 In diesem Zusam­ menhang schließlich ebenfalls zu erwähnen ist der Verweigerungstatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. h) RlEEA, der die Verweigerung für den Fall erlaubt, dass die ersuchte Ermittlungshandlung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates nur für bestimmte Taten eines Deliktskatalogs vorgesehen ist, der konkrete Tatverdacht sich indes nicht auf eine solche Katalogtat bezieht1375 und die Ermittlungsmaßnahme damit nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaates ebenfalls unzulässig wäre. Im Ergebnis steht dem Betroffenen hier  – wie im Fall des Art. 11 Abs. 1 lit. c) RlEEA – ein Vertrauenstatbestand hinsichtlich unzulässiger Ermittlungsmaßnahmen zur Seite. Darüber hinaus ist auch den Vollstreckungsverweigerungs­gründen der Art. 11 Abs. 1 lit. d) (ne bis in idem)1376 und lit. g) (fehlende gegenseitige Straf 1373

Zutr. spricht Zimmermann dem Verweigerungstatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. b) RlEEA eine individualschützende Zielrichtung ab (Zimmermann, ZStW 127 [2015], 143 [154]). S. auch die Darstellung bei Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (820 ff., 826 ff.). 1374 I. Erg. auch den der Norm zugrunde liegenden Vertrauensschutz betonend Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (156); s. zur Vorhersehbarkeit einer Ermittlungsmaßnahme auch Armada, NJECL 6 (2015), 8 (15), wonach der Unionsgesetzgeber „no common threshold in the EIO for resorting to coercive investigative techniques“ vorgesehen habe. 1375 Zu denken wäre nach deutschem Recht insoweit an das Erfordernis eines Tatverdachts hinsichtlich einer in § 100a Abs. 2 StPO genannten Tat für die Zulässigkeit einer Telekommunikationsüberwachung. 1376 S. zur individualschützenden Zielrichtung des Doppelverfolgungsverbotes in Form eines Vertrauenstatbestandes nur GA Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer, Gözütok und Brügge, Schluss­

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

barkeit) eine – im letzteren Fall wegen der zumindest fehlenden Verfolgbarkeit1377 – individualschützende Zielrichtung zuzuschreiben. Wie bereits angeführt, erlangt hier die größte Bedeutung allerdings der Tatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. f) EEA, der – mitsamt dem Erwägungsgrund 18 – gegenüber dem RbEuHb als absolutes Novum1378 ein erfreuliches und eindeutiges Bekenntnis für die Möglichkeit zur Vollstreckungsverweigerung bei Vorliegen „berechtigter Gründe“ für die Unvereinbarkeit der Vollstreckung der Ermittlungsanordnung mit den in Art. 6 EUV und der GRCh normierten Verpflichtungen enthält. An dieser Stelle genügt zunächst das Resümee, dass der Entschluss, eine zu erwartende Kollision der Vollstreckung mit den Garantien der GRCh sowie den in Art. 6 EUV niedergelegten Grundsätzen und damit auch den Garantien der EMRK als Verweigerungsgrund anzuerkennen, eine eindeutige individualschützende Haltung des Unionsgesetzgebers erkennen lässt.1379

antrag v. 19.09.2002 (C-187/01 und C-385/01; ECLI:EU:C:2002:516), Slg. 2003, I-1348 (1359); BGH, Urteil v. 29.09.1987 (4 StR 376/87), BGHSt 30, 60 (61); Ambos / König / Rackow / Heger / Wolter (2015), 2. Hauptteil Rn. 90; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 125; Voulgaris, Transnationales „ne bis in idem“ (2016), S. 56 ff. m. w. N. in Fn. 193; Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (821), wonach der Norm bereits ein „europäischer ordre public entlehnt“ werden könne. 1377 S. dazu bereits Fn. 169 mit Haupttext. 1378 S. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 91; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 45; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 194; Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (157); Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (318); Daniele, NJECL 6 (2015), 179 (184); s. auch Brahms / Gut, NStZ 2017, 388 (395), wonach dieser Vollstreckungsverweigerungsgrund für neue Sekundärrechtsakte „richtungsweisend sein dürfte“; Böhm, NJW 2017, 1512 (1515), der von einem „gesetzgeberischen Glücksfall“ spricht. 1379 S. dazu auch die Darstellung bei Böse, ZIS 2014, 152 (153 ff.); Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (319), die die RlEEA „aufgrund des ausdrücklichen Grundrechtsschutzes“ begrüßen; Garcimartín Montero, eucrim 2017, 45 (46 ff.) („[…] the commitment of Directive 2014/41/UE to the protection of fundamental rights in criminal investigations is expressly recognised.“); Daniele, NJECL 6 (2015), 179 (189 f.), der die Art. 6 Abs. 1, 1 Abs. 4, 9 Abs. 2, 11 Abs. 1 lit. f), 10 Abs. 3 sowie 14 Abs. 7 nennt (mit einer weitergehenden Untersuchung des Schutzes des Konfrontations- sowie des Rechts auf Achtung des Privatlebens [190 ff.]). S. aber auch Belfiore, EuClR 5 (2015), 312 (321 ff.), wonach „[t]he objective of strengthening mutual assistance between Member States has prevailed, once again, over the objective of enhancing the role of the accused in criminal proceedings having a cross-border dimension.“ S. aber zur Bedeutung i. R. d. Gesetzgebungshistorie auch Vogler, The EIO: Fundamental Rights at Risk?, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 45 ff., der von einer gewichtigen Kritik gegen die „PD EIO’s reluctance to acknowledge the primacy of human rights protections in its text“ spricht.

B. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union   

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3. Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA als nicht ausreichender und nicht abschließender ordre public Wurde i. R. d. Untersuchung zum RbEuHb festgestellt, dass in Ermangelung eines expliziten Wesentlichkeitsvorbehalts nur von einem solchen ungeschriebenen auszugehen ist, stellt sich im Zusammenhang mit der RlEEA nunmehr die Frage, ob Art. 11 Abs. 1 lit. f) EEA als ein (ausreichender) ordre-public-Vorbehalt angesehen werden kann. Hierzu ist in Erinnerung zu rufen, dass gegenüber Sekundär­rechtsakten der Union nicht nur die normenhierarchisch übergeordnete Grundrechtsbindung an die GRCh gem. Art. 6 Abs. 1 EUV  – und gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh auch ein äquivalenter Grundrechtsschutz durch die EMRK1380 – in einem solchen Vorbehalt ihren Niederschlag findet. Im Bereich des Unionsrechts muss auch gerade die unüberwindbare Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Abs. 2 EUV als zwingender Gegenstand eines solchen Vorbehalts anerkannt werden.1381 Damit ist dem Verweigerungsgrund des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA zunächst derjenige Anwendungsbereich des bereits herausgearbeiteten ordre-­public-Einwands zuzuschreiben: Nämlich der Schutz einer absolut gewährleisteten und des Wesensgehalts einer jeden Garantie der GRCh, der notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK einschließlich des Verbots der Todesstrafe sowie der in Friedenszeiten absolut garantierten Gewährleistungen der EMRK und des Wesensgehalts („the very essence of the right“) sämtlicher Konventionsrechte. Allerdings lässt sich bereits dieser Schutz nicht als für einen ordre-public-Einwand ausreichend anerkennen, da der Art. 11 Abs. 1 RlEEA sämtliche Vollstreckungsverweigerungsgründe lediglich als fakultative ausgestaltet und die GRCh bereits aufgrund ihrer normenhierarchisch übergeordneten Stellung einen zwingenden Vorrang i. S. e. obligatorischen Vollstreckungsverweigerungstatbestandes verlangt,

1380 S. zur Bedeutung einer Verletzung des von Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK garantierten Konfrontationsrechts durch eine Beweiserhebung im Wege der Rechtshilfe EGMR, Stojkovic v. Frankreich und Belgien, Urteil v. 27.10.2011 (25303/08), NJW 2012, 3709 (3710 f.). S. dazu auch Armada, NJECL 6 (2015), 8 (22 ff.), wonach „[t]he reduction of grounds for refusing judicial cooperation that characterises mutual recognition instruments sits uncomfortably with this liability [gemeint ist die Verantwortlichkeit für Verstöße gegen die EMRK], triggering an examination of the level of protection of fundamental rights afforded in other Member States.“ 1381 Ausdrücklich betont Meyer die Übertragbarkeit der Rspr. des BVerfG zur Identitätskon­ trolle i. S. e. absoluten Mindestschranke auf die sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfe (Meyer, HRRS 2016, 332 [335]). Nach Böhm sei insoweit der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlich unabdingbar und ein Verstoß führe gem. § 91a Abs. 3 IRG zu einem zwingenden Zulässigkeitshindernis (Böhm, NJW 2017, 1512 [1513]); ebenso Ahlbrecht, StV 2018, 601 (605 f.); Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (318 f.). Hier bleibt jedoch darauf hinzuweisen, dass nach hiesiger Ansicht eine Verhältnismäßigkeitsbewertung wegen des darin zum Ausdruck kommenden Abwägungsvorgangs nicht Bestandteil eines ordre-public-Einwands sein kann (s. bereits S. 259 ff.). Überdies kommt eine faktische Vollstreckungsverweigerung wegen eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gem. Art. 10 Abs. 1 lit. b) RlEEA in Betracht (s. o. Fn. 1370 mit Haupttext).

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

die die RlEEA jedoch in Gänze vermissen lässt.1382 Zwar wird man davon ausgehen können, dass die Mitgliedstaaten von ihrem Verweigerungsrecht bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA in der Regel Gebrauch machen werden.1383 Doch genügt zum einen allein diese Aussicht nicht zur effektiven Grundrechtswahrung. Zum anderen lässt diese Rechtslage unberücksichtigt, dass schließlich auch die RlEEA auf dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung beruht und die Mitgliedstaaten damit bereits per se – jedenfalls formal – zu einer restriktiven Handhabung der Vollstreckungsverweigerungsgründe angehalten sind.1384 Dies wird indes der zwingenden Berücksichtigung der Gewährleistungen der GRCh und insbesondere – was den ordre-public-Einwand angeht – der absoluten und des Wesensgehalts aller Garantien nicht gerecht. Damit kann Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA schon bereits aus drei Gründen nicht als (abschließender) ordre-public-Vorbehalt betrachtet werden: Zum ersten verlangt die Natur des Wesentlichkeitsvorbehalts als letzte „Bastion“ zum Schutz elementarer Wertungen einer Rechtsordnung die zwingende Durchsetzung gegenüber allen Einwirkungen und lässt damit nur die Einordnung als zwingenden Vollstreckungsverweigerungsgrund zu.1385 So sehr also Art. 11 Abs. 1 lit. f)  RlEEA bereits die Vollstreckung einer Ermittlungsanordnung zu suspendieren erlaubt, ist doch zugleich zu konstatieren, dass dieses Recht eben gerade nicht für einen ordre-­publicEinwand genügt. Denn im Fall eines Verstoßes gegen dessen Inhalt – soweit es hier zunächst die GRCh sowie die über Art. 6 Abs. 3 EUV erfassten Konventionsgarantien als Rechtsgrundsätze des Unionsrechts erfasst – ist eine Suspendierung der Vollstreckungspflicht zwingend erforderlich und ein verbleibender Spielraum der Mitgliedstaaten inakzeptabel. Zum zweiten stellt der Tatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA allein auf die Garantien der GRCh sowie die in Art. 6 EUV verankerten Grundsätze ab und bezieht damit die Gewährleistungen der EMRK lediglich als „allgemeine Grundsätze des Unionsrechts“ i. S. d. Art. 6 Abs. 3 EUV mit ein. Wie bereits festgestellt, führt dies zwar zu keiner unmittelbaren Bindung 1382 S. zur Kritik bereits o. Fn. 1357. Den Verweigerungsgrund des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA als „angemessenen Ausgleich“ bewertend Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 6 Rn. 44. 1383 S. zur Ausgestaltung der fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgründe als obligatorische Ablehnungstatbestände im deutschen Recht etwa auch Schuster, StV 2015, 393 (399) („Aufgabe des deutschen Gesetzgebers wird es sein, die rechtsstaatlichen Spielräume zu nutzen.“). 1384 Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (146 f.); Bachmaier, eucrim 2015, 47 (53); s. auch Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1311, die den abschließenden Charakter der Zurückweisungsgründe betonen; Böhm, NStZ 2018, 197 (204) („sofern keine ausdrücklichen Zurückweisungsgründe im nationalen Recht bestehen.“). 1385 Zur Berücksichtigung von Amts wegen auch Armada, NJECL 6 (2015), 8 (26); zur „unzureichenden“ Ausgestaltung als fakultativer Vollstreckungsverweigerungsgrund auch Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (153). S. auch Garcimartín Montero, eucrim 2017, 45 (47 und 49), wonach der Verweigerungsgrund zwar als „a sharp sword for the protection of fundamental rights“ anzusehen, die Ausgestaltung als fakultativer Verweigerungsgrund jedoch zugleich bedenklich sei und „may turn out to be an obstacle to effective fundamental rights protection.“

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der Unionsmitgliedstaaten in dieser Rolle an die Konventionsgarantien, solange die EU nicht selbst der EMRK beitritt und damit dieser innerhalb des Unionsrechts den Rang einer formalen Rechtsquelle zukommen lässt.1386 Doch ist die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung auch deshalb durch Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA an die Gewährleistungen der EMRK gebunden, weil diese nach hier zugrunde gelegtem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh als umfassende Schutzbereichs- und Schrankeninkorporation eben durch diese Inkorporationsklausel in das Unionsrecht einwirken und damit einen inhaltlichen Gleichklang beider Grundrechtsquellen bewirken.1387 Damit kommt es auf die Tatsache, dass die Unionsmitgliedstaaten als Vertragsstaaten ebenfalls unmittelbar an die EMRK gebunden sind, nicht mehr an und müssen die Konventionsgarantien damit in einer umfassenden ordre-public-Klausel nicht mehr separat angesprochen werden. Allerdings ist auch die nationale Identität der Mitgliedstaaten gem. Art. 4 Abs. 2 EUV – soweit im abwägungsfesten Kernbestand der Verfassungsidentität betroffen – bereits als Hinderungsgrund für die Vollstreckung einer auf gegenseitiger Anerkennung basierenden Maßnahme anderer Mitgliedstaaten herausgearbeitet worden und insoweit als weiterer Inhalt eines ordre-public-Vorbehalts zu berücksichtigen.1388 Es lässt sich damit zunächst festhalten, dass der Verweigerungstatbestand des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA mit der Inbezugnahme sämtlicher Charta- und über Art. 6 Abs. 3 EUV der inhaltsgleichen Konventionsgarantien lediglich einen Ausschnitt des gegenüber der Umsetzung von Sekundär­rechtsakten rechtlich zulässigen und erforderlichen Wesentlichkeitsvorbehalts ausmacht. Er geht jedoch zugleich über die Anforderungen des Vorbehalts auch hinaus, der nämlich als Elementarvorbehalt allein auf die unbedingte Durchsetzung der absolut garantierten und des Wesensgehalts der Gewährleistungen der GRCh und EMRK begrenzt ist.1389 Auch wenn die Einhaltung sämtlicher Chartagarantien durch deren Primärrechtsrang von Rechts wegen eingefordert wird und Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA damit eine ohnehin bestehende Rechtspflicht der Mitgliedstaaten deklaratorisch normiert,1390 deckt sich dieses Ergebnis nicht mit den inhaltlichen Anforderungen des ordre public, mag dieser auch zugleich als Minimalanforderung – was zumindest die GRCh anbelangt – von Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA erfasst sein. Zum dritten ist mit Zimmermann und Armada schließlich darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA allein die Grundrechtsbeeinträchtigung durch 1386

S. o. Fn. 447 mit Haupttext. S. o. Fn. 460 mit Haupttext. 1388 Zur fehlenden Erstreckung des Art. 11 Abs. 1 lit. f)  RlEEA auf den nationalen Grundrechtsschutz auch Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (157 f.). 1389 S. auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 91, der zu Recht den weiten Anwendungsbereich des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA betont; vgl. auch Bachmaier, eucrim 2015, 47 (54); zur Begrenzung eines grundrechtswahrenden Vollstreckungsverweigerungsgrundes auf Ausnahmefälle Armada, NJECL 6 (2015), 8 (25) m. w. N.; Schneiderhahn, DRiZ 2014, 176 (178) (Erfordernis einer kasuistischen Weiterentwicklung). 1390 Vgl. auch Daniele, NJECL 6 (2015), 179 (184) („But one may reply that such clause can be considered superfluous.“) m. w. N. zur EBA. 1387

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

die Vollstreckung zum Regelungsgegenstand macht und damit etwaige Verletzungen i. R. d. Verfahrens im Anordnungsstaat außer Acht lässt;1391 diese sind jedoch aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens der beteiligten Staaten ebenfalls in die Betrachtung einzustellen.1392 Hierfür bleibt auf Art. 6 Abs. 1 lit. b) RlEEA hinzuweisen, der die Zulässigkeit der Ermittlungsanordnung unter den Maßstab des nationalen Rechts des Anordnungsmitgliedstaates stellt („hätte[n] in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall unter denselben Bedingungen angeordnet werden können“). Damit inkorporiert die RlEEA auch dessen nationalen, auf die mitgliedstaatliche Identität zurückzuführenden ordre public in die Richtlinie und beschränkt dadurch bereits in inhaltlicher Hinsicht die Anordnungsbefugnis des Anordnungsstaates.1393 Es bleibt mithin zu konstatieren, dass der Vollstreckungsverweigerungsgrund des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA nicht als umfassender ordre-public-Vorbehalt in Frage kommt,1394 da jener dessen Inhalt nicht in Gänze erfasst und damit – wie im Fall des RbEuHb – auf einen weiteren ungeschriebenen und zwar obligatorischen (!) Vollstreckungsverweigerungsgrund abgestellt werden muss.1395 In diesem 1391

Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (158); Armada, NJECL 6 (2015), 8 (25 f.). Zimmermann, ZStW 127 (2015), 143 (158) („lässt sich eine strikte Trennung zwischen grundrechtswidriger Vollstreckung und grundrechtswidriger Anordnung der Maßnahme nicht durchhalten“), der sich i. Erg. für ein „Durchschlagen“ der grundrechtswidrigen Anordnung auf die Vollstreckungsebene ausspricht; Armada, NJECL 6 (2015), 8 (26). 1393 Vgl. auch Eisenberg, Beweisrecht (2017), Rn. 480 („Verbot der Ungleichbehandlung“). 1394 A. A. aber Böse, ZIS 2014, 152 (154); Oehmichen / Weißenberger, StraFo 2017, 316 (318); Hecker, Europäisches Strafrecht (2015), 12/14; Donatsch et al., Internationale Rechtshilfe (2015), S. 194 („Die ausdrückliche Anerkennung eines europäischen Ordre-public-Vorbehalts ist ein großer Fortschritt gegenüber den bisherigen Rechtshilfeinstrumenten.“ [Herv. i. O.]); Mosna, ZStW 131 (2019), 808 (817, 821); wohl auch Bachmaier, eucrim 2015, 47 (54) („calling the ground provided in Article 11.1 (f) DEIO such would not be erroneous and […] it represents a specific safeguard for the protection of the fundamental rights in the AFSJ.“); s. a. Eisenberg, Beweisrecht (2017), Rn. 476 („Grundrechte-Vorbehalt“); eucrim 2018, 27, wonach in Bezug auf den Entwurf einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen „a refusal ground of ‚ordre public‘ is proposed.“ Dieser ist nach hiesiger Argumentation jedoch gerade nicht vorgesehen. Die in Kraft getretene Verordnung 2018/1805 zur gegenseitigen Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen (s. zum Fundstellennachweis Fn. 1342) regelt ähnlich wie Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA nur einen Ausschnitt des einschlägigen Wesentlichkeitsvorbehalts. In Art. 8 VO Sicherstellung und Einziehung heißt es insoweit, dass die Vollstreckungsbehörde die Anerkennung und die Vollstreckung einer Sicherstellungsentscheidung nur versagen kann, wenn [lit. f] „in Ausnahmefällen aufgrund genauer und objektiver Angaben berechtigte Gründe zu der Annahme bestehen, dass die Vollstreckung der Sicherstellungsentscheidung unter den besonderen Umständen des Falles die offensichtliche Verletzung eines in der Charta verankerten relevanten Grundrechts, insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, des Rechts auf ein faires Verfahren oder des Rechts auf Verteidigung zur Folge hätte.“ Vage auch noch Meyer, ZStW 128 (2016), 1089 (1113) („Quasi-Experimentierklausel“). 1395 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 41, der zu Recht betont, dass eine weitergehende Angleichung von Verfahrensrechten erforderlich sei; krit. insoweit auch Schünemann, The EIO: A Rush into the Wrong Direction, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 29 1392

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Zusammenhang gilt es zunächst zu betonen, dass ausweislich Art. 9 Abs. 1 sowie Erwägungsgrund 11 RlEEA grundsätzlich keine weiteren als die vorgesehenen Vollstreckungsverweigerungsgründe zu bedienen sind. Damit wird zugleich die bereits kritisierte1396 Vermutung gegenseitigen Vertrauens hervorgehoben. Allerdings hält die RlEEA – und auch insoweit ist ein deutlicher Unterschied zum RbEuHb auszumachen – im Erwägungsgrund 19 ein eindeutiges Bekenntnis dahingehend bereit, dass das Vertrauen in die Grundrechtskonformität in den mitgliedstaat­ lichen Rechtsordnungen widerlegbar sei. Damit ist der Intention des Unionsgesetzgebers allerdings bereits selbst ein Loslösen von einer zwingenden gegenseitigen Anerkennung zu entnehmen und öffnet sich dadurch die Tür für die zumindest politische Akzeptanz einer ordre-public-basierten Vollstreckungsverweigerung einer Europäischen Ermittlungsanordnung. Schließlich bleibt wiederum auf Erwägungsgrund 11 RlEEA zu verweisen, wonach explizit „[d]ie Vollstreckung einer EEA […] nur aus den in dieser Richtlinie aufgeführten Gründen versagt werden [sollte].“1397 Diese nicht verbindliche Lesart – anderenfalls hätte die Ausgestaltung mittels einer zwingenden Ist-Formulierung nahegelegen – springt dem Leser geradezu ins Auge. Im Übrigen findet ein ordre-public-Einwand auch keine Stütze in Art. 9 Abs. 4 S. 2 RlEEA, der unter anderem vorsieht, dass „[d]ie Vollstreckungsbehörde […] dem Ersuchen [entspricht], sofern diese Unterstützung nicht den wesentlichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats zuwiderläuft.“ Die Norm betrifft nämlich – wie sich aus einer Zusammenschau mit S. 1 ergibt – allein die Unterstützung der Vollstreckungsbehörde durch eine Behörde des Ausstellungsstaates und damit allein etwaige Gefährdungen wesentlicher Rechtsgrundsätze des Vollstreckungsstaates gerade durch die Unterstützung seitens des Anordnungsstaates. Nicht erfasst ist damit die nach wie vor dem Vollstreckungsstaat obliegende Umsetzung der in Rede stehenden Ermittlungsanordnung. Ebenso genügt Art. 9 Abs. 2 RlEEA nicht als Wesentlichkeitsvorbehalt, der allein auf einen Konflikt der seitens des Anordnungsstaates vorgegebenen Formvorschriften mit den „wesent­ lichen Rechtsgrundsätzen des Vollstreckungsstaats“ und damit – ungeachtet möglicher individualschützender Formvorgaben  – gerade nicht den im Besonderen grundrechtsrelevanten Vollstreckungsakt selbst zum Gegenstand hat.1398

(31 ff.); Rafaraci, General Considerations on the EIO, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 37 (42 f.); Belfiore, Critical Remarks on the Proposal for a EIO, in: Ruggeri, Transnational Evidence and Multicultural Inquiries in Europe (2014), S. 91 (101 f.) („This framework undermines all together the principle of equality of arms […].“). 1396 S. dazu ausf. o. S. 84 ff. 1397 Herv. d. Verf. 1398 I. Erg. ebenso Ahlbrecht, StV 2013, 114 (118) (noch zu Art. 8 Abs. 2 des Rl-Entwurfs vom 21.12.2011 [Rats-Dok. 18918/11]). Zur besonderen Bedeutung der Bindung an die Formvorgaben des Anordnungsstaates s. auch Belfiore, EuClR 5 (2015), 312 (313 f.) („[…] it ensures a high level of compatibility between the investigative measure to be carried out in the executing Member State and the law of the criminal proceedings in the issuing Member State.“).

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4. Ergebnis Im Ergebnis ist die Vollstreckung einer Europäischen Ermittlungsanordnung damit auch aufgrund eines ungeschriebenen europäisierten resp. „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwands zwingend zu versagen. Als entscheidender Unterschied zur Rechtslage nach dem RbEuHb lässt sich indes darauf hinweisen, dass der Anwendungsbereich des ordre-public-Einwands aufgrund des Verletzungen sämtlicher Charta- und Konventionsgewährleistungen erfassenden Verweigerungstatbestandes des Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA als geringer anzusehen ist. Der Wesentlichkeitsvorbehalt bedarf insoweit keiner zwingenden Aktivierung, wenn die Mitgliedstaaten ihre grundrechtliche Verpflichtung ernst nehmen und den fakultativen Vollstreckungsverweigerungsgrund im Rahmen ihres Beurteilungsspielraums zu einem obligatorischen Verweigerungsgrund aufwerten.

II. Der ordre-public-Einwand im unionsrechtlichen Vollstreckungshilfeverkehr Im Rahmen des Vollstreckungshilfeverkehrs im Unionsraum gilt es zunächst die eingangs genannten1399 Sekundärrechtsakte in Bezug auf ihre jeweilige Zielsetzung zu differenzieren: Insoweit stehen sowohl bei dem Rahmenbeschluss zur Europäischen Vollstreckungsanordnung sowie dem Rahmenbeschluss Bewährungsmaßnahmen jeweils der Resozialisierungsgedanke im Vordergrund,1400 während der Rahmenbeschluss Geldstrafen ohne Eingriff in Freiheitsrechte auskommt und damit „nur“ die unionsweite Vollstreckung von Geldsanktionen und den grenzüberschreitenden Transfer des abgeschöpften Betrages zum Gegenstand hat. Schließlich regelt der Rahmenbeschluss über die Europäische Über­ wachungsanordnung die unionsweite Vollstreckung untersuchungshaftvermeidender Überwachungsmaßnahmen. Im Folgenden soll entsprechend der bereits erfolgten Darstellung zur Ermittlungsanordnung in gebotener Kürze das jeweilige Vollstreckungsverfahren beleuchtet und sodann auf die Möglichkeiten zur Verweigerung und die Aussagen der einzelnen Rechtsakte zu einem ordre-­public-Einwand näher eingegangen werden. Dabei ist im Ausgangspunkt auch hier von der Zulässigkeit eines Wesentlichkeitsvorbehalts zugunsten der absolut garantier­ten Charta-

1399

S. die Fundstellennachweise in den Fn. 1341 bis 1345. Erwägungsgrund 9, Art. 3 Abs. 1 RbEVA (Vollstreckungsstaat als „Ort familiärer, sprachlicher, kultureller, sozialer, wirtschaftlicher oder sonstiger Verbindungen“); Erwägungsgrund 8 und 24, Art. 1 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen; Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), RB-​ Freiheitsstrafen Rn.  3; Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 263; Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 183; Böhm / Ahlbrecht, Das Rechtshilfeverfahren, in: Ahlbrecht et al., Internationales Strafrecht (2018), Rn. 1265; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 99; Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht (2018), § 10 Rn. 48; Hüttemann, StV 2016, 519 (521). 1400

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und Konventionsgarantien sowie ihres Wesensgehalts und der Verfassungs­identität des Grundgesetzes auszugehen. 1. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über die Europäische Vollstreckungsanordnung Der Rahmenbeschluss 2008/909/JI zur Europäischen Vollstreckungsanordnung (RbEVA) betrifft ausweislich seines Art. 3 Abs. 1 und 2 die Vollstreckung einer in einem seitens des Anordnungs- resp. Urteilsstaates ergangenen und grundsätzlich anzuerkennenden Urteil verhängten Sanktion im Vollstreckungsstaat, wenn sich die verurteilte Person in diesem aufhält. Die Vollstreckung selbst richtet sich dabei nach dem Recht des Vollstreckungsstaates (locus regit actum; Art. 17 RbEVA). Als Sanktion gilt insoweit nur eine „Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Maßnahme, die aufgrund eines Strafverfahrens wegen einer Straftat für eine bestimmte Zeit oder auf unbestimmte Zeit verhängt worden ist“ (Art. 1 lit. b) RbEVA), womit (etwaige parallel verhängte) Geldstrafen und -bußen ausdrücklich vom Anwendungsbereich ausgenommen sind (Art. 3 Abs. 3 RbEVA). Das grundsätzliche Erfordernis beiderseitiger Strafbarkeit wird auch in diesem Zusammenhang für den bereits aus Art. 2 Abs. 2 RbEuHb und Anhang D RlEEA bekannten Katalog von 32 Tathandlungen aufgegeben (Art. 7 Abs. 1 RbEVA).1401 Der Vollstreckungsstaat ist gem. Art. 8 Abs. 1 RbEVA zur Anerkennung des Urteils und Vollstreckung der Sanktion infolge der gegenseitigen Anerkennung verpflichtet und hat dem Urteilsstaat gem. Art. 12 Abs. 1 RbEVA unverzüglich die Entscheidung hinsichtlich der Anerkennung und Vollstreckung mitzuteilen. Der RbEVA bietet dem Vollstreckungsstaat dabei neben einem als enumerativ angesehenen Katalog von Verweigerungsgründen (Art. 9 RbEVA)1402 auch das Recht, die im Urteil ausgesprochene Sanktion durch eine nach seinem nationalen Recht vorgesehene zu ersetzen, wenn die Sanktionsdauer (Art. 8 Abs. 2 RbEVA) oder die Sanktionsart (Art. 8 Abs. 3 RbEVA) mit dessen Rechtsordnung unvereinbar ist. Eine Umwandlung steht unter dem Verbot der Strafschärfung (Art. 8 Abs. 4 RbEVA), darf in eine Geldsanktion jedoch nicht erfolgen. Die Vollstreckungsverweigerungsgründe sind wie im Fall der Ermittlungsanordnung ausschließlich als lediglich fakultative ausgestaltet. Art. 9 RbEVA sieht insoweit vor, dass die Anerkennung und Vollstreckung unter anderem versagt werden kann, wenn durch die Vollstreckung eine Verletzung des Grundsatzes ne bis in idem droht (lit. c). Ferner besteht das Recht zur Verweigerung der Vollstreckung, wenn ihr nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eine Vollstreckungsverjährung (lit. e) oder Strafunmündigkeit (lit. g) entgegensteht. Einen 1401

Zur „faktischen Aufhebung“ des Erfordernisses beiderseitiger Strafbarkeit insoweit Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 271. 1402 Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), RB-Freiheitsstrafen Rn. 6; Jähnke / Schramm, Euro­ päisches Strafrecht (2017), Kap. 8 Rn. 7.

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weiteren Anwendungsfall machen etwa Vollstreckungsentscheidungen aus, die auf einem Abwesenheitsurteil beruhen, soweit der Betroffene weder nachweislich von dem Verhandlungstermin Kenntnis hatte noch einen Rechtsmittelverzicht erklärt hat (lit. i). Bei unvollständig vorgelegten oder offenkundig nicht mit dem Urteil übereinstimmenden Unterlagen besteht außerdem die Möglichkeit des Vollstreckungsaufschubs gem. Art. 11 RbEVA. Abschließend können sowohl der Urteilsals auch der Vollstreckungsstaat gem. Art. 19 Abs. 1 RbEVA eine Amnestie oder Begnadigung gewähren, wobei jedoch über eine Wiederaufnahme des Verfahrens nur vom Ausstellungsstaat entschieden werden kann (Art. 19 Abs. 2 RbEVA). Wie den vorbehandelten Sekundärrechtsakten lässt sich auch dem RbEVA ein durchweg grundrechtliches Bekenntnis entnehmen. Dies drückt sich zunächst in verschiedenen Erwägungsgründen aus: So betont Erwägungsgrund 5 die Verfahrensrechte in Strafverfahren als „entscheidendes Element“ des gegenseitigen Vertrauens in die Rechtsordnungen der anderen Mitgliedstaaten und verlangt, „dass für die verurteilte Person angemessene Rechtsgarantien vorgesehen sein müssen.“ Wie bereits erwähnt, rücken daneben Erwägungsgrund 9 und Art. 3 Abs. 1 RbEVA das Resozialisierungsziel des Rahmenbeschlusses in den Vordergrund und lassen damit – über das Grundrechtsbekenntnis der bisher behandelten Rechtsakte hinaus, die zuvörderst die Beschleunigung und Vereinfachung des Rechtshilfeverfahrens bezwecken – eine eindeutige primäre individualschützende Zielsetzung erkennen.1403 Der individualschützende Aspekt wird darüber hinaus durch das Recht des Betroffenen, gem. Art. 4 Abs. 5 S. 2 RbEVA die Überstellung in seinen Heimat­staat zum Zwecke der Vollstreckung zu beantragen, herausgestellt. Weiterhin ist Art. 3 Abs. 4 sowie Erwägungsgrund 11 RbEVA die bereits bekannte Formulierung um das Bekenntnis zur Wahrung der Grundrechte und der in Art. 6 EUV verankerten Grundsätze zu entnehmen. Schließlich bleibt auch an dieser Stelle auf die Vollstreckungsverweigerungstatbestände im Interesse des Betroffenen hinzuweisen, namentlich die Verweigerung wegen drohender Verletzung des Doppelverfolgungsverbotes, von Verjährungsvorschriften und von Regelungen über die Strafunmündigkeit. Auch die mögliche Vollstreckungsverweigerung in Fällen zugrunde liegender Abwesenheitsverurteilungen lässt wegen der damit einhergehenden Gefahren für die Verletzung von Verteidigungsrechten ein eindeutiges Schutzbekenntnis erkennen. Was nunmehr die Frage nach einer möglichen ordre-public-basierten Vollstre­ ckungsverweigerung i. R. d. RbEVA anbelangt, lässt sich zunächst darauf hinweisen, dass der Rechtsakt keine weiteren als die in Art. 9 RbEVA genannten Versagungsgründe vorsieht, insbesondere Art. 4 Abs. 4 und Art. 6 Abs. 3 RbEVA ausweislich des Erwägungsgrundes 10 keinen Verweigerungstatbestand darstellen sollen. An dieser Stelle bleibt jedoch zu betonen, dass die Erwägungsgründe – wie 1403 S. bereits die Nachweise in Fn. 1400. S. aber auch zur der Resozialisierung zuwiderlaufenden Strafungerechtigkeit durch eine mögliche Sanktionsanpassung gem. Art. 8 RbEVA Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 279.

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die Untersuchungen zum RbEuHb gezeigt haben1404 – selbst mangels hinreichender normativer Verbindlichkeit keine Aussage über die Exklusivität eines Verweigerungskatalogs bzw. die Zulässigkeit eines weiteren ungeschriebenen Verweigerungstatbestandes zu treffen vermögen. Vor dem Hintergrund der inhaltlichen Kongruenz von Art. 3 Abs. 4 RbEVA und Art. 1 Abs. 3 RbEuHb und dem Fehlen weiterer ausdrücklicher Versagungsgründe  – insbesondere eines Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA entsprechenden  – ist die Rechtslage hinsichtlich der Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands mit der nach Maßgabe des RbEuHb identisch und kann weitestgehend auf die Untersuchungen in diesem Zusammenhang verwiesen werden.1405 Einziger hier herauszustellender, sich jedoch im Ergebnis nicht weiter auswirkender Unterschied zur Rechtslage nach dem RbEuHb ist das Fehlen weiterer obligatorischer Versagungsgründe. Insoweit ist jedoch zu konstatieren, dass ein (ungeschriebener) ordre-public-Einwand aufgrund seiner zwingenden Vorrangwirkung ohnehin als verpflichtender Verweigerungstatbestand ausgestaltet ist. Ob neben einem solchen ungeschriebenen obligatorischen Verweigerungsgrund die bereits geregelten Tatbestände als fakultative oder (teilweise) obligatorische ausgestaltet sind, ist daher ohne Belang. Art. 3 Abs. 4 RbEVA ist damit zwar nicht als konstitutive ordre-public-Klausel zu interpretieren. Im Ergebnis ist aber auch i. R. d. Europäischen Vollstreckungsanordnung von einem ungeschriebenen ordre-​ public-basierten Vollstreckungsverweigerungsgrund in Form des europäischen, des europäisierten nationalen und des „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ Wesentlichkeitsvorbehalts auszugehen.1406 2. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Bewährungsmaßnahmen Ein ähnliches Bild zeichnet der Rahmenbeschluss 2008/947/JI über Bewährungsmaßnahmen (Rb Bewährungsmaßnahmen), der gem. Art. 1 Abs. 3 lit. a) in Abgrenzung zum RbEVA nicht die Anerkennung freiheitsentziehender Maßnahmen, sondern von Urteilen und Bewährungsentscheidungen zum Gegenstand hat.1407 Der Rahmenbeschluss sieht insoweit vor, dass ein Vollstreckungsmitgliedstaat ein Urteil oder eine Bewährungsentscheidung des Urteilsstaates anerkennt 1404

S. dazu bereits Fn. 631 f. mit Haupttext. S. dazu S. 158 ff. 1406 I.  Erg. für eine Vollstreckungsverweigerung gem. § 73 S. 2 IRG auch Hüttemann, StV 2016, 519 (525 f.). Für eine ordre-public-basierte Begrenzung der gegenseitigen Anerkennung im Bereich der Vollstreckungshilfe auch Schumann, Anerkennung und ordre public (2016), S. 271 ff., der sich für eine Berücksichtigung eines „unionsrechtlich kontrollierten nationalen ordre public“ und einen „europäischen ordre public“ ausspricht (289 ff.), wobei auch eine Überschneidung beider in Betracht komme. S. zur Terminologie bereits S. 128 ff. 1407 Von der Anwendung des Rb Bewährungsmaßnahmen sind darüber hinaus gem. Art. 1 Abs. 3 lit. b) die Anerkennung und Vollstreckung von Geldbußen und Geldstrafen ausgenommen. Zum Rb Geldstrafen s. sogleich. 1405

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und die erforderlichen Bewährungsmaßnahmen überwacht und damit den eben nicht freiheitsentziehenden Sanktionsinhalt einer Bewährungsentscheidung vollstreckt (Art. 1 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen). Einem solchen Vollstreckungshilfeersuchen können ausweislich des Art. 2 Nr. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen Freiheitsstrafen, deren weitere Vollstreckung bedingt ist, Bewährungsstrafen, bedingte Verurteilungen oder alternative Sanktionen zugrunde liegen.1408 Das Ziel dieser Vollstreckung von Bewährungsmaßnahmen resp. alternativen Sanktionen liegt ausweislich des Art. 1 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen eindeutig in der Erleichterung der Resozialisierung, indem eine nicht freiheitsentziehende Sanktion in dem Mitgliedstaat vollstreckt wird, in dem der verurteilten Person „die Möglichkeit verschafft wird, die familiären, sprachlichen, kulturellen und sonstigen Beziehungen aufrechtzuerhalten.“1409 Als mögliche zu vollstreckende nicht freiheitsentziehende Sanktionen sieht Art. 4 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen einen Katalog möglicher Bewährungsmaßnahmen und alternativer Sanktionen, wie etwa Meldeauflagen (lit. e), die Erbringung gemeinnütziger Leistungen (lit. i), das Verbot, sich an bestimmten Orten aufzuhalten (lit. b) oder die Auflage, den Kontakt mit bestimmten Personen zu unterlassen (lit. f), vor. Die Vollstreckung der im Urteilsstaat verhängten Maßnahmen resp. Sanktionen ist für den Vollstreckungsstaat nach dem Grundsatz gegenseitiger Anerkennung grundsätzlich verpflichtend (Art. 8 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen)1410 und richtet sich gem. Art. 13 Abs. 1 und Erwägungsgrund 15 Rb Bewährungsmaßnahmen wiederum nach dem Recht des Vollstreckungsstaates (locus regit actum).1411 Die Möglichkeit eines Aufschubs der Anerkennungspflicht besteht gem. Art. 8 Abs. 2 Rb Bewährungsmaßnahmen lediglich im Fall unvollständig übermittelter Unterlagen oder eines offensichtlich falschen Urteils. Ähnlich den Fällen des Rückgriffs auf Ermittlungsmaßnahmen anderer Art gem. Art. 10 RlEEA sieht Art. 9 Rb Bewährungsmaßnahmen vor, dass der Vollstreckungsstaat die verhängten Bewährungsmaßnahmen oder alterna­ tiven Sanktionen im Fall der Unvereinbarkeit mit seinem nationalen Recht an die nach diesem bei entsprechender Sach- und Rechtslage vorgesehenen Maßnahmen anpassen darf (Art. 9 Abs. 1 S. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen). Dabei muss die angepasste Maßnahme gem. S. 2 „so weit wie möglich der im Ausstellungsstaat verhängten Bewährungsmaßnahme […] entsprechen.“ Auch darf die angepasste Maßnahme nicht strenger sein oder länger andauern als die ursprünglich verhängte; 1408 S. zu den einzelnen Begriffsbestimmungen Art. 2 Nr. 2 bis 7 Rb Bewährungsmaßnahmen. U. a. besteht der Unterschied zwischen einer „Freiheitsstrafe mit bedingter Entlassung“ (Art. 2 Nr. 1 lit. a], Nr. 6) und einer „Bewährungsstrafe“ (Art. 2 Nr. 2) darin, dass im Fall jener bereits eine Freiheitsstrafe teilweise vollstreckt wurde und die Vollstreckung einer Reststrafe unter Auflagen ausgesetzt wird, während diese keine Vollstreckung voraussetzt und diejenigen Konstellationen betrifft, in der bereits im Zeitpunkt der Verurteilung von der Vollstreckung einer freiheitsentziehenden Sanktion bedingt abgesehen wird. Dem gegenüber meint der Begriff der „bedingten Verurteilung“ (Art. 2 Nr. 3) den zugunsten etwaiger Bewährungsauflagen zurückgestellten Strafausspruch. 1409 Erwägungsgrund 8 Rb Bewährungsmaßnahmen. 1410 S. auch Erwägungsgrund 10 Rb Bewährungsmaßnahmen. 1411 S. bereits Fn. 114 mit Haupttext.

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es gilt insoweit ein Verschlechterungsverbot (Art. 9 Abs. 3 Rb Bewährungsmaßnahmen).1412 Schließlich sieht auch Art. 11 Rb Bewährungsmaßnahmen einen Katalog fakultativer Verweigerungsgründe vor, wobei zum einen entsprechend der bereits untersuchten Sekundärrechtsakte auch hier für aus dem Art. 2 Abs. 2 RbEuHb entlehnten Katalog stammende Deliktskategorien auf die beiderseitige Strafbarkeit verzichtet wird (Art. 10 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen). Die vorgesehene Auflistung von Vollstreckungsverweigerungsgründen soll ausweislich des Erwägungsgrundes 9 Rb Bewährungsmaßnahmen wiederum als abschließend betrachtet werden.1413 Demnach kann gem. Art. 11 Abs. 1 Rb Bewährungsmaßnahmen der Vollstreckung unter anderem ein drohender Verstoß gegen den ne bis in idem-Grundsatz (lit. c), eine Verjährung der Strafvollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates (lit. e)  oder eine Strafunmündigkeit des Betroffenen (lit. g) entgegengehalten werden. Betrifft das zugrunde liegende Urteil eine Abwesenheitsentscheidung und hatte der Betroffene nachweislich von dem Verhandlungstermin keine Kenntnis und auch keinen Rechtsmittelverzicht erklärt (lit. h), ist der Vollstreckungsstaat ebenfalls zur Verweigerung berechtigt. Schließlich ist das Recht zur Vollstreckungsverweigerung gegeben, wenn die Bewährungsmaßnahme oder Sanktion eine Dauer von sechs Monaten nicht erreicht (lit. j). Nunmehr lässt sich auch dem Rb Bewährungsmaßnahmen ein zugrunde lie­ gendes individualschützendes Bekenntnis entnehmen. So heißt es zugleich im Erwägungsgrund 1 Rb Bewährungsmaßnahmen, dass die Errichtung eines gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ein „gleiches Verständnis von Freiheit, Sicherheit und Recht“ voraussetze, „das auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit beruht.“ Weiterhin beinhalten Erwägungsgrund 5 und Art. 1 Abs. 4 Rb Bewährungsmaßnahmen das bereits bekannte Bekenntnis zur Achtung der Grundrechte und der in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätze. Am deutlichsten jedoch tritt die individualschützende Zielrichtung dieses Rahmenbeschlusses indes in den Erwägungsgründen 8, 14 und 24 sowie Art. 1 Abs. 1 zu Tage, wenn dort das Resozialisierungsziel unzweideutig hervorgehoben und sogar die Vollstreckung in einem anderen als dem Wohnsitzstaat des Betroffenen als möglich herausgestellt wird. Voraussetzung ist insoweit allein, dass der Betroffene dort einer Erwerbstätigkeit oder Ausbildung nachgeht oder ein Angehöriger in dem designierten Vollstreckungsstaat seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Im Gegensatz zum RbEuHb und der RlEEA steht hier also entsprechend dem RbEVA1414 nicht eine Effektivierung des Rechtshilfeverfahrens selbst im Vordergrund, sondern geht es sogar an erster Stelle um die Belange des Betroffenen in Form dessen optimaler Resozialisierung. Des Weiteren ist in den Erwägungsgründen 21 und 22 Rb Be­ währungsmaßnahmen eine verfahrensrechtliche Grundrechtsabsiche­r ung vorgesehen: Dem Betroffenen stehen in den einzelnen Mitgliedstaaten Rechtsbehelfe 1412

Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 306. So auch Schomburg / Lagodny / Hackner (2020), RB-Bewährungsüberwachung Rn. 5. 1414 S. insoweit Fn. 1403 mit Haupttext. 1413

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gegen die Anerkennung und Vollstreckung zu und die Verhängung weitergehender freiheitsentziehender Maßnahmen soll einer Justizbehörde – zur Gewährleistung einer umfassenden auch die Rechtsposition des Einzelnen hinreichend berücksichtigenden Rechtskontrolle – vorbehalten sein. Zwar ist die Möglichkeit des Aufschubs der Anerkennungsentscheidung gem. Art. 8 Abs. 2 Rb Bewährungsmaßnahmen allein im Fall unvollständiger Unterlagen oder eines offensichtlich falschen Urteils vorgesehen. Doch kommt auch darin insoweit eine individualschützende Zielrichtung zum Ausdruck, als dass der Betroffene vor einer unrechtmäßigen oder inhaltlich unzutreffenden Vollstreckung einer – möglicherweise intensiveren als ausgeurteilten – Sanktion (vorübergehend) geschützt ist. Außerdem ist der Möglichkeit zur Anpassung der ausgeurteilten Sanktion durch eine nach nationalem Recht des Vollstreckungsstaates zulässige Maßnahme ein individualschützender Gesichtspunkt insoweit zu entnehmen, als dass die angepasste Maßnahme nicht „strenger oder härter“ ausfallen darf als die ursprünglich ausgeurteilte und der Betroffene damit vor einer unverhältnismäßigen Inanspruchnahme infolge einer Erhöhung oder Intensivierung durch die ersetzte Maßnahme geschützt ist (Art. 9 Abs. 3 Rb Bewährungsmaßnahmen). Schließlich bleibt auch hier auf die eine eindeutig individualschützende Zielrichtung beinhaltenden Vollstreckungsverweigerungsgründe des Art. 11 Abs. 1 lit. c), e) bis h) Rb Bewährungsmaßnahmen hinzuweisen. Hinsichtlich der Frage nach einer ordre-public-basierten Verweigerung der Vollstreckung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen ist zunächst darauf hinzuweisen, dass gem. Erwägungsgrund 9 Rb Bewährungsmaßnahmen, wonach die Überwachung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses „obligatorisch sein [soll], vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen nach diesem Rahmenbeschluss“, kein zusätzlicher Verweigerungsgrund vom Rechtsakt anerkannt ist. Auch hier bleibt jedoch wiederum in Erinnerung zu rufen, dass sich einer Aussage in den Erwägungsgründen kein verbindlicher Anhaltspunkt für die Zulässigkeit eines weiteren ungeschriebenen Verweigerungstatbestandes entnehmen lässt. Darüber hinaus ergibt sich für die Auslegung des nahezu mit Art. 1 Abs. 3 RbEuHb wortgleichen Art. 1 Abs. 4 Rb Bewährungsmaßnahmen ein mit der Untersuchung jener Vorschrift identisches Ergebnis, sodass in der Konsequenz im Wesentlichen auf die Untersuchungen zum ordre-public-Einwand i. R. d. Überstellungsverkehrs nach Maßgabe des RbEuHb verwiesen werden kann.1415 Dass dieser gegenüber dem Rb Bewährungsmaßnahmen auch obligatorische Vollstreckungsverweigerungsgründe vorsieht, führt nach den bereits getroffenen Feststellungen i. R. d. Europäischen Vollstreckungsanordnung zu keinem abweichenden Ergebnis. Damit ist auch Art. 1 Abs. 4 Rb Bewährungsmaßnahmen nicht als eigenständiger Verweigerungstatbestand anzusehen und es liegt dem Rb Bewährungsmaßnahmen ebenfalls ein ungeschriebener Versagungsgrund zugunsten des europäischen, europäisierten und „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Vorbehalts zugrunde. 1415

S. wiederum S. 152 ff. und 158 ff.

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3. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Geldstrafen Neben den behandelten Rechtsakten zur Vollstreckung freiheitsentziehender Sanktionen und zur Überwachung von Bewährungsmaßnahmen hat der Rahmenbeschluss 2005/214/JI zur gegenseitigen Anerkennung von Geldstrafen und Geldbußen (Rb Geldstrafen)1416 die Vollstreckung von in einem Entscheidungsstaat verhängten Zahlungsverpflichtungen in einem anderen Vollstreckungsmitgliedstaat, in dem die betroffene natürliche Person ihren Wohnsitz oder die juristische Person ihren Sitz hat oder dort über Vermögen verfügt, zum Gegenstand (Art. 4 Abs. 1 Rb Geldstrafen). Der Begriff der Geldbuße oder -strafe meint dabei nicht nur Geldstrafen als echte Kriminalstrafe i. S. d. §§ 40 ff. StGB, sondern unter anderem gem. Art. 1 lit. b) (i) Rb Geldstrafen auch Zahlungsverpflichtungen infolge einer Verurteilung wegen „Zuwiderhandlungen“ und erfasst damit auch Geldbu­ ßen nach Maßgabe des Ordnungswidrigkeitenrechts.1417 Demgegenüber sind gem. Art. 1 lit. b) a. E. Rb Geldstrafen Entscheidungen über die Einziehung gem. §§ 73 ff. StGB sowie zivilrechtliche Schadensersatzzahlungen nicht erfasst. Im Grundsatz hat der Vollstreckungsstaat gem. Art. 6 Rb Geldstrafen die eine Zahlungs­ verpflichtung beinhaltende Entscheidung anzuerkennen und nach seinem innerstaatlichen Recht (Art. 9 Abs. 1 Rb Geldstrafen) zu vollstrecken. Ein etwaiger Einwand der fehlenden strafrechtlichen Verantwortlichkeit juristischer Personen ist gem. Art. 9 Abs. 3 Rb Geldstrafen unbeachtlich. Dabei wird gem. Art. 5 Abs. 1 Rb Geldstrafen nach dem aus dem RbEuHb bekannten System auf die Überprüfung der beiderseitigen Strafbarkeit verzichtet, wobei der in Art. 5 Abs. 1 Rb Geldstrafen genannte Deliktskatalog über den in Art. 2 Abs. 2 RbEuHb enthaltenen hinausgeht.1418 Dabei werden zum einen geringere Kriminalitätsformen als die in Art. 2 RbEuHb genannten und zum anderen auch nicht zwingend als Kriminalstrafnorm ausgestaltete Verhaltensweisen erfasst, wobei zur Begründung auf die weniger eingriffsintensiven Vollstreckungsfolgen verwiesen werden kann. Im Übrigen ist der Vollstreckungsstaat berechtigt, einerseits die zu vollstreckende Geldsanktion gem. Art. 8 Abs. 1 Rb Geldstrafen auf das nach seinem innerstaatlichen Recht für die zugrunde liegende Tat vorgesehene Höchstmaß herabzusetzen, wenn 1416 Zur Umsetzung durch die Einführung der §§ 86–87p IRG durch das EU-Geldsanktionengesetz vom 18.10.2010 (BGBl. I, 1408). s. Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 8 Rn. 22 ff.; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 101 m. w. N. 1417 So nimmt Art. 5 Abs. 1 Rb Geldstrafen explizit auf „Straftaten und Verwaltungsübertretungen (Ordnungswidrigkeiten)“ Bezug. 1418 Art. 5 Abs. 1 RbEuHb nennt darüber hinaus als Verhalten, für das auf die gegenseitige Strafbarkeit zu verzichten ist: „gegen die den Straßenverkehr regelnden Vorschriften verstoßende Verhaltensweisen, einschließlich Verstößen gegen die Vorschriften über Lenk- und Ruhezeiten und des Gefahrgutrechts, Warenschmuggel, Verletzung von Rechten an geistigem Eigentum, Bedrohungen von Personen und Gewalttaten gegen sie, einschließlich Gewalttätigkeit bei Sportveranstaltungen, Sachbeschädigung, Diebstahl sowie Straftatbestände, die vom Entscheidungsstaat festgelegt wurden und durch Verpflichtungen abgedeckt sind, die sich aus im Rahmen des EG-Vertrags oder des Titels VI des EU-Vertrags erlassenen Rechtsakten ergeben.“

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die vorgeworfene Handlung auch seiner Jurisdiktionsgewalt unterliegt und nachweislich nicht im Entscheidungsstaat begangen wurde. Andererseits steht es ihm mit Erlaubnis des Entscheidungsstaates zu, eine Ersatzstrafe – insbesondere eine Ersatzfreiheitsstrafe – anzuordnen, sollte die Vollstreckung der verhängten Geldstrafe oder -buße unmöglich ein (Art. 10 Rb Geldstrafen). Dabei darf das seitens des Entscheidungsstaates vorgegebene Höchstmaß der Ersatzstrafe nicht überschritten werden. Zudem sieht Art. 7 Abs. 2 Rb Geldstrafen – neben dem formalen Verweigerungsgrund des Abs. 1 bei unvollständigen Unterlagen und offensichtlich unrichtigen Entscheidungen – einen wiederum als abschließend bewerteten1419 Katalog von rein fakultativen Verweigerungsgründen vor. Demnach darf die Vollstreckung unter anderem verweigert werden, wenn ein Verstoß gegen den ne bis in idem-Grundsatz droht (lit. a) oder der Vollstreckung nach dem Recht des Vollstreckungsstaates eine eingetretene Verjährung entgegensteht (lit. c). Ferner darf von der Vollstreckung abgesehen werden, wenn die zugrunde liegende Entscheidung nach dem vollstreckungsstaatlichen Recht wegen fehlender Strafmündigkeit nicht hätte ergehen können (lit. f). Auch steht die Berechtigung zur Vollstreckungsverweigerung im Raum, wenn der Betroffene im Fall eines schriftlichen Verfahrens nicht hinreichend über ein ihm gegen die Entscheidung zustehendes Rechtsmittel und dessen Einlegungsmodalitäten unterrichtet worden ist oder nicht persönlich zur Verhandlung erschienen ist, es sei denn, dass die Person nachweislich von dem Verhandlungstermin informiert worden ist oder einen Rechtsmittelverzicht erklärt hat (lit. g). Die Berechtigung zur Verweigerung der Vollstreckung ist ferner auch dann eröffnet, wenn die zu vollstreckende finanzielle Sanktion weniger als einen Betrag von 70 Euro ausmacht (lit. h). Schließlich – und insoweit ist eine Besonderheit gegenüber den bisher untersuchten Sekundärrechtsakten auszumachen – sieht der Rb Geldstrafen in Art. 20 Abs. 3 in Form eines in Anbetracht des eindeutigen Wortlauts echten aber systemwidrigen Vollstreckungsverweigerungsgrundes1420 vor, dass im Fall von Anhaltspunkten, „dass Grundrechte oder allgemeine Rechtsgrundsätze gemäß Artikel 6 des Vertrags verletzt wurden, […] jeder Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen verweigern [kann].“ Zudem ist im nächsten Schritt wiederum auch dem Rb Geldstrafen – neben dem primären Ziel der Verfahrensbeschleunigung und -vereinfachung (Erwägungsgrund 2) – ein Grundrechtsbekenntnis zu entnehmen. Insoweit lässt sich in Art. 3 und Erwägungsgrund 5 ebenfalls die bereits bekannte Verpflichtung zur Achtung der in Art. 6 EUV garantierten Grundrechte und Rechtsgrundsätze ausmachen. Weiterhin lässt die Mehrzahl der soeben dargestellten Vollstreckungsverweigerungsgründe, namentlich die Berechtigung zur Verweigerung wegen eines zu besorgenden Verstoßes gegen das Doppelverfolgungsverbot, entgegenstehender Verjährungs-, Befreiungs- und Strafmündigkeitsvorschriften sowie schlussendlich im Grundsatz wegen einer zugrunde liegenden in Abwesenheit ergangenen Entschei 1419

Schomburg / Lagodny / Trautmann (2020), RB-Geldsanktionen Rn. 4a. S. sogleich Fn. 1423 mit Haupttext.

1420

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dung, eine eindeutige individualschützende Zielrichtung erkennen. Der Bagatellklausel des Art. 7 Abs. 2 lit. h) Rb Geldstrafen lässt sich überzeugenderweise keine individualschützende Zielsetzung entnehmen, da insoweit allein auf einen Verzicht der unverhältnismäßigen Inanspruchnahme des Vollstreckungsstaates in Bagatellfällen abzustellen ist.1421 Darüber hinaus ist ein eindeutiges individualschützendes Element dem Verbot des Art. 10 Rb Geldstrafen zuzuschreiben, wonach eine durch den Vollstreckungsstaat angeordnete Ersatzstrafe nicht das Höchstmaß der seitens des Urteilsstaates angeordneten Sanktion übersteigen darf. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 15 Abs. 2 Rb Geldstrafen eine doppelte Inanspruchnahme des Betroffenen dadurch verhindert, dass dem Urteilsstaat das Vollstreckungsrecht solange nicht zusteht, wie dieser von der fehlenden Anerkennungsentscheidung durch den Vollstreckungsstaates nicht informiert ist oder der Urteils- dem Vollstreckungsstaat die Vollstreckung entzieht und jener diesen davon unterrichtet hat. Im Ergebnis ist auch i. R. d. Vollstreckung finanzieller Sanktionen innerhalb der EU festzuhalten, dass auch dem Rb Geldstrafen de lege lata eine geschriebene ordre-public-basierte Vollstreckungsverweigerung fremd ist. Dem Erwägungsgrund 5 Rb Geldstrafen, der die Achtung der Grundrechte und in Art. 6 EUV niedergelegten Grundsätze vorschreibt, kommt nach hier vertretener Auffassung keine einem Verweigerungsgrund entsprechende hinreichende normative Verbindlichkeit zu.1422 Aufgrund seiner Systemwidrigkeit kann zur Vollstreckungsverweigerung ebenfalls nicht auf Art. 3 Rb Geldstrafen zurückgegriffen werden. Weiterhin lässt sich aber auch Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen nicht als Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber der Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht ansehen.1423 Zur Begründung ist zum einen darauf hinzuweisen, dass Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen zwar aus systematischen Erwägungen auf den ersten Blick ebenfalls nicht als Vollstreckungsverweigerungsgrund zu qualifizieren ist. Dem steht allerdings der eindeutige Wortlaut der Norm („kann jeder Mitgliedstaat die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen verweigern“) entgegen, die im Fall der fehlenden Interpretation als Vollstreckungsverweigerungsgrund leer liefe. Damit ist ein eindeutiger inhaltlicher Unterschied zu Art. 3 Rb Geldstrafen (und im Übrigen auch Art. 1 Abs. 3 RbEuHb sowie den entsprechenden Regelungen der Art. 3 Abs. 4 RbEVA und Art. 1 Abs. 4 Rb Bewährungsmaßnahmen) festzustellen. Dieser drückt wie seine korrespondierenden Vorschriften in den anderen Sekundärrechtsakten ein einen Verweigerungstatbestand nicht konstituierendes Grundrechtsbekenntnis aus und geht damit nicht über die bereits kraft normenhierarchischen Vorrangs begründete primärrechtliche Grundrechtsbindung hinaus. Zum anderen gilt für die Frage der Einordnung des Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen als Wesentlichkeitsvorbehalt das 1421 Vgl. zur Bagatellklausel auch Jähnke / Schramm, Europäisches Strafrecht (2017), Kap. 8 Rn. 24. 1422 S. zur fehlenden Verbindlichkeit der Erwägungsgründe bereits o. Fn. 631 f. mit Haupttext. 1423 So aber Schomburg / Lagodny / Trautmann (2020), RB-Geldsanktionen Rn. 8; Böse, ­Human Rights Violations and Mutual Trust: Recent Case Law on the European Arrest Warrant, in: Ruggeri, Human rights in European criminal law (2015), S. 135 (136 f.).

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zu Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA Herausgearbeitete entsprechend:1424 Die Norm kann demnach bereits deshalb nicht als reiner Wesentlichkeitsvorbehalt betrachtet werden, weil er über die von einem solchen Verweigerungsgrund erfassten elementaren Wertvorstellungen hinaus sämtliche Grundrechtspositionen der GRCh und EMRK in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze zum Gegenstand des Verweigerungsrechts macht. Er ist damit umfassender als ein ordre-public-Einwand. Die von diesem zu schützenden absoluten und Wesensgehalte der Individualrechtspositionen sind indes von dem Verweigerungsgrund des Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen miterfasst, sodass es in den relevanten Konstellationen einer Geltendmachung des ordre-­ public-Einwands nicht bedarf. 4. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses über die Europäische Überwachungsanordnung Regelungsgegenstand des Rahmenbeschlusses 2009/829/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Entscheidungen über Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft (RbEÜA) schließlich ist die Anerkennung und Vollstreckung von untersuchungshaftvermeidenden Überwachungsmaßnahmen (Art. 1 RbEÜA). Ziel des Rechtsaktes ist ausweislich dessen Art. 2 Abs. 1 Nr. 2 und 3 und Erwägungsgrund 3 der Ausgleich zwischen dem Schutz der Allgemeinheit und der Vermeidung der Untersuchungshaft einer verdächtigen Person sowie gem. Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 RbEÜA die Gewährleistung der Durchführung des Verfahrens im Entscheidungsstaat durch persönliche Anwesenheit des Betroffenen. Der RbEÜA will die Vollstreckung von Untersuchungshaft in Fällen, in denen gegen eine Person allein deshalb der Haftgrund der Fluchtgefahr (gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) besteht, weil sie ihren Aufenthalt oder Wohnsitz in einem anderen Mitglied- als dem Entscheidungsstaat führt, verhindern (Erwägungsgrund 5 RbEÜA).1425 Einen Rechtsanspruch auf die Anordnung nicht freiheitsentziehender Überwachungsmaßnahmen als Alternative zur Untersuchungshaft gewährt der Rahmenbeschluss hingegen explizit nicht, wie sich aus Art. 2 Abs. 2 RbEÜA ergibt. Hinsichtlich der dem RbEÜA unterfallenden einzelnen Überwachungsmaßnahmen differenziert Art. 8 RbEÜA zwischen obligatorischen (Abs. 1) und fakultativen (Abs. 2: „welche Überwachungsmaßnahmen neben den in Absatz 1 genannten er zu überwachen bereit ist“). Die Überwachung selbst obliegt wiederum dem Recht des Vollstreckungsstaates (Art. 16 RbEÜA). 1424

S. dazu bereits S. 361 ff. S. dazu etwa KK / Graf (2019), § 112 Rn. 21 („gewichtiges Indiz“); zurückhaltend M ­ üKo-​ StPO / Böhm / Werner (2014), § 112 Rn. 58, wonach aufgrund des RbEuHb der Betroffene jederzeit mit einer Auslieferung rechnen müsse und demnach zwischen einer Flucht ins inner- und außereuropäische Ausland zu differenzieren sei; für einen Verstoß gegen das europarechtliche Diskriminierungsverbot SSW-StPO / Herrmann (2020), § 112 Rn. 58; Meyer-Goßner / Schmitt / Schmitt (2019), § 112 Rn. 20a. 1425

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Obligatorisch zu überwachen sind demnach gem. Art. 8 Abs. 1 RbEÜA die Mittei­ lung eines Wohnsitzwechsels (lit. a), die Auflage, bestimmte Orte nicht zu betreten (lit. b) oder sich an bestimmten Orten aufzuhalten (lit. c), eine Ausreise­ beschränkung aus dem Vollstreckungsstaat (lit. d), eine Meldeauflage (lit. e) sowie die Pflicht, den Kontakt zu bestimmten Personen zu unterlassen (lit. f). Darüber hinaus kann der Vollstreckungsstaat gem. Art. 8 Abs. 2 RbEÜA unter anderem die Überwachung berufsbezogener Verhaltensauflagen (lit. a), Fahrverbote (lit. b) oder ein Umgangsverbot (lit. e) vornehmen. Im Übrigen regelt Art. 12 Abs. 1 RbEÜA die aus den anderen Sekundärrechtsakten bereits bekannte grundsätz­liche Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht, wobei sich die zwanzigtägige Anerkennungsfrist um weitere 20 Tage verlängert, wenn ein Rechtsbehelf gegen die anzuerkennende Entscheidung im Ausstellungsstaat eingelegt worden ist (Art. 12 Abs. 2 RbEÜA). Auf die Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit wird nach Maßgabe des Art. 14 RbEÜA verzichtet, und zwar wiederum bei Vorliegen einer aus Art. 2 Abs. 2 RbEuHb bekannten Katalogtat. Darüber hinaus ist auch in Art. 12 Abs. 4 RbEÜA die Möglichkeit eines Aufschubs der Anerkennungsentscheidung bei unvollständig vorgelegten Unterlagen oder offensichtlich unrichtigen zugrunde liegenden Entscheidungen vorgesehen. Weiterhin ist der Vollstreckungsstaat gem. Art. 13 Abs. 1 und 2 RbEÜA berechtigt, die angeordnete Überwachungsmaßnahme im Fall der Unvereinbarkeit mit seinem nationalen Recht durch eine nach diesem zulässige Maßnahme zu ersetzen, wobei die angepasste Maßnahme der angeordneten weitestgehend entsprechen muss und nicht schwerwiegender als diese sein darf. Schließlich beinhaltet Art. 15 Abs. 1 RbEÜA einen Katalog – wiederum rein fakultativer – Gründe für die Vollstreckungsverweigerung. Danach ist der Vollstreckungsstaat berechtigt, von der Vollstreckung unter anderem abzusehen, wenn mit einem Verstoß gegen den ne bis in idem-Grundsatz zu rechnen ist (lit. c) oder der Strafverfolgung nach dem vollstreckungsstaatlichen Recht Strafunmündigkeit (lit. g) entgegensteht. Weiterhin darf die Vollstreckung im Fall der Verjährung verweigert werden, vorausgesetzt, dass die in Rede stehende Handlung der Strafgewalt des Vollstreckungsstaates unterfällt (lit. e), sowie im Fall eines Verstoßes seitens des Betroffenen gegen die angeordneten Überwachungsmaßnahmen, wenn dessen Übergabe auf Grundlage eines Europäischen Haftbefehls ausgeschlossen ist (lit. h). Was nunmehr eine rahmenbeschlussimmanente individualschützende Absicht anbelangt, wird zwar der Schutz der Allgemeinheit laut Art. 2 Abs. 1 lit. c) betont und in Erwägungsgrund 3 RbEÜA sogar als „vorrangiges“ Ziel angesehen. Das schließt aber – wie etwa im Fall des RbEuHb, bei dem es in erster Linie um die Effektivierung und Beschleunigung des Übergabeverfahrens geht (Erwägungsgrund 5, 7 und 11 RbEuHb) – ein daneben bestehendes Bekenntnis zu individualschützenden Rechtspositionen nicht aus. Dieses kommt hier eindeutig darin zum Ausdruck, dass die alternativen Überwachungsmaßnahmen zum einen gerade zur Umgehung der Untersuchungshaft als massive freiheitsbeschränkende Ermittlungsmaßnahme und zum anderen ausweislich Erwägungsgrund 5 RbEÜA zur Vermeidung von Nachteilen gegenüber EU-Ausländern angestrebt werden.

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Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 und Erwägungsgrund 16 das besagte Bekenntnis zu den in Art. 6 EUV in Bezug genommenen Grundrechten und Rechtsgrundsätzen enthalten. Daneben gilt es zu betonen, dass Art. 9 Abs. 1 RbEÜA grundsätzlich denjenigen Mitgliedstaat als Vollstreckungsstaat vorsieht, in dem der Betroffene seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, sodass auch insoweit die Förderung der Resozialisierung Bedeutung erlangt und Art. 13 Abs. 2 RbEÜA ebenfalls ein Verschlechterungsverbot zugunsten des Betroffenen für den Fall der Sanktionsanpassung enthält.1426 Auch lässt Art. 12 Abs. 2 RbEÜA eine individualschützende Richtung erkennen, wenn sich die Anerkennungsfrist im Fall eines eingelegten Rechtsbehelfs verlängert, da damit den Verfahrensrechten des Betroffenen zur effektiven Durchsetzung verholfen wird. Schließlich sei auch hier nur auf die individualschützenden Versagungsgründe des Art. 15 Abs. 1 lit. c) (ne bis in idem), lit. e) (Verjährung) und lit. g) (Strafunmündigkeit) hingewiesen. Damit ist im Ergebnis auch dem RbEÜA ein Grundrechtsbekenntnis zu entnehmen. Im Zusammenhang mit der Frage nach einer ordre-public-basierten Vollstreckungsverweigerung ist im Ausgangspunkt darauf hinzuweisen, dass Art. 11 Abs. 1 RbEÜA für die Zuständigkeitsabgrenzung anerkennt, dass der Vollstreckungsstaat die Anerkennung und Überwachung verweigern darf, nämlich wenn die Norm besagt, dass die Zuständigkeit beim Anordnungsstaat verbleibt, „[s]olange die zuständige Behörde des Vollstreckungsstaates die an sie übermittelte Entscheidung über Überwachungsmaßnahmen nicht anerkennt […].“ Damit ist jedoch keine zwingende Anerkennung weiterer nicht im RbEÜA enthaltener Versagungsgründe ausgesprochen; vielmehr liegt es nahe, hierin allein ein Bekenntnis zu den in Art. 15 RbEÜA normierten Verweigerungsgründen zu sehen, zumal Art. 12 Abs. 1 RbEÜA als Rückausnahme für die grundsätzliche Anerkennungspflicht allein auf die in Art. 15 RbEÜA niedergelegten Versagungsgründe abstellt. Im Übrigen ergibt sich damit keine andere Beurteilung gegenüber den bisher untersuchten Sekundärrechtsakten, was zum einen den Umstand allein fakultativer geschriebener Vollstreckungsverweigerungsgründe und zum anderen das in Art. 5 und Erwägungsgrund 16 RbEÜA geregelte Grundrechtsbekenntnis angeht. In der Konsequenz ist damit festzuhalten, dass der Erwägungsgrund 16 mangels hinreichender normativer Verbindlichkeit und Art. 5 RbEÜA aufgrund seiner systemwidrigen Stellung im Gefüge des Rahmenbeschlusses und seiner weichen Formulierung nicht als konstitutiver Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber der in Art. 12 Abs. 1 RbEÜA normierten Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht angesehen werden kann. Dem RbEÜA liegt damit entsprechend der Rechtslage nach Maßgabe des RbEVA, für die wiederum auf das Europäische Haftbefehlsregime verwiesen werden kann,1427 ebenfalls ein ungeschriebener Vollstreckungsverweigerungstatbestand zugunsten der absolut gewährleisteten und des Wesensgehalts sämtlicher Garantien der GRCh, der in Friedenszeiten absolut gewährleisteten und des We 1426 S. die entspr. Regelungen in Art. 10 Rb Geldstrafen und Art. 9 Abs. 3 Rb Bewährungs­ maßnahmen; zur letzteren s. auch bereits Fn. 1412 mit Haupttext . 1427 S. dazu bereits den Haupttext zu Fn. 1405.

B. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum der Europäischen Union   

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sensgehalts sämtlicher Gewährleistungen der EMRK sowie der gem. Art. 15 Abs. 2 EMRK notstandsfesten Garantien unter Einbeziehung des Verbots der Todesstrafe und schlussendlich der Verfassungsidentität des Grundgesetzes zugrunde.1428 5. Die Vollstreckungshilfe und ihre Verweigerung nach Maßgabe des Rahmenbeschlusses Einziehungsentscheidungen Ein identisches Bild zeichnet sich bei der Beurteilung des – noch geltenden1429 – Rahmenbeschlusses 2006/783/JI über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Einziehungsentscheidungen (Rb Einziehungsentscheidungen), weshalb dieser im Folgenden in gebotener Kürze betrachtet wird. Der Rahmenbeschluss verfolgt das Ziel, „die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen zur Einziehung von Vermögensgegenständen zu erleichtern, so dass ein Mitgliedstaat verpflichtet wird, Einziehungsentscheidungen, die von einem in Strafsachen zuständigen Gericht eines anderen Mitgliedstaats erlassen wurden, anzuerkennen und in seinem Hoheitsgebiet zu vollstrecken“ (Erwägungsgrund 8 Rb Einziehungsentscheidungen). Die Vollstreckung richtet sich wiederum nach dem innerstaat­ lichen Recht des Vollstreckungsstaates (Art. 12 Rb Einziehungsentscheidungen) und unterliegt einem Verzicht auf die Prüfung beiderseitiger Strafbarkeit bei Vorliegen eines dem Katalog des Art. 2 Abs. 2 RbEuHb entlehnten Delikts (Art. 6 Abs. 1 Rb Einziehungsentscheidungen). Auch dieser Rahmenbeschluss folgt schließ­ lich dem bekannten System von grundsätzlicher Anerkennungs- und Vollstreckungspflicht in Art. 7 Abs. 1 und Ausnahmen hiervon durch einen Katalog fakultativer Versagungs­gründe in Art. 8 Abs. 1 und 2. Daneben beinhalten auch Erwägungsgrund 13 und Art. 1 Abs. 2 Rb Einziehungsentscheidungen die Standardformulierung um die Achtung der „Grundrechte und d[er] allgemeinen Rechtsgrundsätze, wie sie in Artikel 6 des Vertrags über die Europäische Union niedergelegt sind.“ Eine individualschützende Absicht des Normgebers lässt sich daneben unter anderem den Vollstreckungsverweigerungstatbeständen des Art. 8 Abs. 2 lit. a) (ne bis in idem), lit. e) (Abwesenheitsverurteilungen) sowie lit. h) (Verjährung) entnehmen. Weiterhin ist insoweit auf die Möglichkeit der Einlegung von Rechtsbehelfen für „alle betroffenen Personen“ und damit auch desjenigen, zu dessen Lasten die Vollstreckung erfolgen soll, gegen die Vollstreckungsentscheidung gem. Art. 9 Abs. 1 Rb Einziehungsentscheidungen sowie die eines Vollstreckungs­ aufschubs gem. Art. 10 Abs. 1 lit. b) Rb Einziehungsentscheidungen hinzuweisen. Zur Bewertung der Frage nach der Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands 1428 Für eine Berücksichtigung von ordre-public- und Verhältnismäßigkeitserwägungen in diesem Zusammenhang auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 102. 1429 S. zur Ablösung durch die neue Verordnung (EU) 2018/1805 vom 14.11.2018 über die gegenseitige Anerkennung von Sicherstellungs- und Einziehungsentscheidungen zum 19.12.2020 o. Fn. 1342.

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

gegenüber der Anerkennung und Vollstreckung ergibt sich kein Unterschied zur im vorherigen Abschnitt festgestellten Rechtslage unter dem RbEÜA.1430 Auch hier fehlt ein expliziter Verweigerungsgrund und können Erwägungsgrund 13 sowie Art. 1 Abs. 2 Rb Einziehungsentscheidungen nicht als zusätzlicher ausgelegt werden, sodass es im Ergebnis also auch hier auf die Anerkennung eines ungeschriebenen Wesentlichkeitsvorbehalts in Form eines echten europäischen, europäisierten nationalen und „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre public hinausläuft.

III. Ergebnis Die vorstehende Untersuchung zu den verschiedenen Sekundärrechtsakten des Unionsrechts im Bereich der sonstigen und Vollstreckungshilfe hat gezeigt, dass keine der betrachteten Rechtsquellen eine abschließende Regelung der Anerkennungspflicht und ihrer Ausnahmen beinhaltet. Dabei gilt es insbesondere zu betonen, dass ein echter Vollstreckungsverweigerungsgrund zugunsten der in Art. 6 EUV in Bezug genommenen Garantien der GRCh und Konventionsgewährleistungen als Rechtsgrundsätze des Unionsrechts  – wie er allein in Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA und Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen enthalten ist – nicht als ordre-­ public-Einwand gegenüber der jeweiligen Vollstreckungspflicht angesehen werden kann. Die Verweigerungstatbestände nehmen auf der einen Seite die gesamten grundrechtlichen Garantien der GRCh resp. EMRK in Bezug, ohne zwischen ordre-public-geschützten, mithin sich unbedingt durchsetzenden Gewährleistungen einerseits und solchen beschränkbaren andererseits zu differenzieren und gehen damit über den von einem Wesentlichkeitseinwand erforderlichen Gehalt hinaus. Auf der anderen Seite kommen die beiden angeführten Normen schon deshalb nicht als ordre-public-Einwand in Betracht, weil sie jeweils als fakultative Verweigerungstatbestände ausgestaltet sind („kann“) und damit nicht den Anforderungen an einen sich unbedingt durchsetzenden Wesentlichkeitseinwand genügen, der vielmehr nur als obligatorischer Versagungsgrund verstanden werden kann. Diese Wertung wird auch nicht durch eine etwaige obligatorische Ausgestaltung i. R. d. nationalen Umsetzung berührt. Damit ist im Ergebnis die rechtliche Ausgangslage – nämlich 1430 Art. 8 Abs. 1 lit. f) der VO (EU) 2018/1805 enthält insoweit einen fakultativen, die Sicherstellung betreffenden Vollstreckungsverweigerungsgrund, wenn „in Ausnahmefällen aufgrund genauer und objektiver Angaben berechtigte Gründe zu der Annahme bestehen, dass die Vollstreckung der Sicherstellungsentscheidung unter den besonderen Umständen des Falles die offensichtliche Verletzung eines in der Charta verankerten relevanten Grundrechts, insbesondere des Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf, des Rechts auf ein faires Verfahren oder des Rechts auf Verteidigung zur Folge hätte.“ Die Einziehung kann darüber hinaus gem. Art. 19 Abs. 1 lit. h) VO (EU) 2018/1805 unter identischen Voraussetzungen verweigert werden. Nach den zu Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA getroffenen Feststellungen (s. dazu S. 361 ff.) kann jedoch auch diese Norm nicht als (ausreichende) ordre-public-Klausel angesehen werden; a. A. aber Brodowski, ZIS 2019, 602 (609).

C. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum des Europarats  

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ein grundsätzlich zu verzeichnender fehlender ordre-public-Einwand  – mit der Rechtslage nach dem RbEuHb identisch und von einem ungeschriebenen ordre-­ public-Vorbehalt – nämlich einem echten europäischen, europäisierten nationalen und „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ – auszugehen. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung kann wiederum auf die bereits erfolgte Untersuchung zum Europäischen Haftbefehl verwiesen werden.1431

C. Der gegenwärtige sonstige Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum des Europarats Soweit eine Anwendung von Sekundärrechtsakten im Verhältnis der am konkre­ ten Rechtshilfeverfahren beteiligten Staaten ausscheidet, weil nicht beide Staaten Mitglied der EU aber des Europarats sind, kommt ein Rückgriff auf dessen Vertragswerke in Betracht. Als Rechtsgrundlagen sind dabei im Bereich des sonstigen Rechtshilfeverkehrs das Europäische Rechtshilfeübereinkommen (­EuRhÜbk) vom 20.04.19591432 samt seiner zwei Zusatzprotokolle vom 17.03.1978 und 08.11.20011433 einschlägig. Ergänzt wird dieses Regelungswerk weiterhin durch die Art. 48–53 SDÜ.1434 Für den Vollstreckungshilfeverkehr unter den Europaratsstaaten ist sodann das Europäische Überstellungsübereinkommen (EuÜberstÜbk) vom 21.03.1983 relevant, dem seinerseits wiederum zwei Zusatzprotokolle vom 18.12.1997 und 22.11.2017 zur Seite stehen.1435 Ferner ist auch diesbezüglich eine Ergänzung durch die Art. 67 ff. SDÜ anzumerken. Auch i. R. d. sonstigen und Vollstreckungshilfeverkehrs des Europarats ist sodann an die im dritten Kapitel erhobenen allgemeingültigen Untersuchungsergebnisse zu einem zulässigen Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber der Ausliefe­ rungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk anzuknüpfen.1436 Ausgangspunkt der folgenden Untersuchungen ist damit die Berücksichtigungspflicht zugunsten eines europäisierten nationalen und rein nationalen ordre-public-Vorbehalts aufgrund des zwingenden Vorrangs der notstandsfesten und in Friedenszeiten absolut gewährleisteten Garantien der EMRK sowie ihres jeweiligen Wesensgehalts („the very essence of the right“). Zudem sind die seitens der Vertragsstaaten gegenüber einer Rechtshilfepflicht angebrachten Vorbehalte und zwar – soweit diesen keine Beschränkung dahingehend zu entnehmen ist – auch in Bezug auf souveränitätsorientierte Belange zu berücksichtigen.

1431

S. wiederum S. 252 ff. S. zum Fundstellennachweis bereits o. Fn. 49. Mit San Marino ist das Übereinkommen am 16.06.2009 auch für den letzten Vertragsstaat in Kraft getreten. 1433 S. zum Fundstellennachweis bereits o. Fn. 122. 1434 S. zum Fundstellennachweis bereits o. Fn. 135. 1435 S. zu den Fundstellennachweisen bereits o. Fn. 124. 1436 S. dazu S. 232 ff. 1432

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

I. Der sonstige Rechtshilfeverkehr in Strafsachen im Rechtsraum des Europarats nach Maßgabe des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens Das EuRhÜbk erlangt entsprechend der Europäischen Ermittlungsanordnung zuallererst i. R. d. Beweisrechtshilfe besondere Bedeutung und hat „die Vornahme von Untersuchungshandlungen oder die Übermittlung von Beweisstücken, Akten oder Schriftstücken zum Gegenstand“ (Art. 3 Abs. 1 EuRhÜbk). Der Anwendungsbereich wurde durch Art. 3 ZP I jedoch auch auf das Feld der Vollstreckungshilfe erweitert, und umfasst nunmehr unter anderem auch „Maßnahmen betreffend die Aussetzung des Ausspruchs oder der Vollstreckung einer Strafe, die bedingte Entlassung, den Aufschub des Beginns der Vollstreckung einer Strafe oder die Unterbrechung ihrer Vollstreckung“ (lit. b).1437 Ausgenommen sind gem. Art. 1 Abs. 2 ZP II jedoch weiterhin „Verhaftungen und die Vollstreckung verurteilender Erkenntnisse.“ Zudem erweitert das zweite Zusatzprotokoll in Art. 1 Abs. 3 in Übereinstimmung mit Art. 49 lit. a) SDÜ1438 die Anwendung des EuRhÜbk auf Verstöße gegen Rechtsvorschriften, die einer Ahndung durch Verwaltungsbehörden unterliegen, soweit hiergegen der Rechtsweg zu einem Gericht in Strafsachen offen steht, und damit insbesondere auf das deutsche Ordnungswidrigkeitenrecht.1439 Zu Beginn des Übereinkommens wird sodann eine ausdrückliche und umfassende Rechtshilfeverpflichtung der Vertragsstaaten in Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk begründet. Daran anschließend sind in Art. 2 EuRhÜbk zwei fakultative Verweigerungsgründe geregelt, nämlich für den Fall politischer oder fiskalischer Delikte (lit. a)1440 und „wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, daß die Erledigung des Ersuchens geeignet ist, die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen seines Landes zu beeinträchtigen“ (lit. b). Dabei ist die Verweigerung in jedem Fall zu begründen (Art. 19 EuRhÜbk). Weiterhin gewährt auch Art. 5 EuRhÜbk das Recht, einzelne Rechtshilfehandlun 1437 Art. 3 lit. a) ZP I benennt zudem „die Zustellung von Urkunden betreffend die Vollstreckung einer Strafe, die Eintreibung einer Geldstrafe oder Geldbuße oder die Zahlung von Verfahrenskosten“ und betrifft damit Fälle, in denen es vor Vollstreckung der ersuchten Maßnahme einer förmlichen Mitteilung über die Vollstreckung selbst bedarf, s. Council of Europe, Explanatory Report to the Additional Protocol to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters (17.03.1978), S. 3. 1438 Des Weiteren ist u. a. eine Erstreckung der Rechtshilfepflicht für Verfahren über Ansprüche auf Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen (Art. 49 lit b) SDÜ), in Zivilsachen, die mit einer Strafklage verbunden sind (Art. 49 lit. d) SDÜ) und wegen Verstößen gegen das Steuer- und Zollrecht (Art. 60 Abs. 1 SDÜ) vorgesehen. 1439 Council of Europe, Explanatory Report to the Second Additional Protocol to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters (08.11.2001), S. 3. 1440 Für die Einordnung als fiskalisches Delikt kommt es gem. Art. 1 ZP I nicht auf die alleinige Beurteilung durch den ersuchten Staat an. Für den Bereich militärischer Delikte soll die Rechtshilfe nach dem erläuternden Bericht zum EuRhÜbk bereits per se ausgeschlossen sein, s. Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters (20.04.1959), S. 2, was durch Art. 1 Abs. 2 ZP II bekräftigt wurde.

C. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum des Europarats  

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gen – namentlich Ersuchen um Durchsuchung oder Beschlagnahme – bedingt zu gewähren. Als Bedingung kommt dabei die positiv festzustellende beiderseitige Strafbarkeit (lit. a), die Auslieferungsfähigkeit der zugrunde liegenden Straftaten nach (lit. b) und die Vereinbarkeit der Erledigung des Ersuchens mit dem innerstaatlichen Recht des ersuchten Staates (lit. c) in Betracht. Auch die Aufschiebung der Vornahme der ersuchten Maßnahme ist gem. Art. 6 Abs. 1 EuRhÜbk möglich, soweit der ersuchte Staat die betreffenden Beweismittel für ein durchzuführendes Strafverfahren benötigt. Daneben enthält Art. 23 Abs. 1 EuRhÜbk einen allgemeinen mit Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk übereinstimmenden Vorbehalt,1441 wonach eine Vertragspartei „bei der Unterzeichnung dieses Übereinkommens oder der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde zu einer oder mehreren genau bezeichneten Bestimmungen des Übereinkommens einen Vorbehalt machen [kann].“ Auch hier zeichnet sich ein Anhaltspunkt für einen ordre-public-Vorbehalt ab, wie er aufgrund des Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk bereits für den Auslieferungsverkehr im Raum des Europarats herausgearbeitet wurde.1442 Was nunmehr konkret die ordre-public-basierte Verweigerung gegenüber der in Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk normierten völkervertraglichen Verpflichtung zur Umsetzung eines Rechtshilfeersuchens anbelangt, ist zunächst festzustellen, dass sich in inhaltlicher Hinsicht keine Änderung gegenüber der Rechtslage nach dem ­EuAuslÜbk ergibt. Auch hier gilt der Vorrang der notstandsfesten, in Friedenszeiten absolut gewährleisteten und im Wesensgehalt betroffenen Garantien der EMRK. Insoweit wurde bereits festgestellt, dass Art. 27 S. 1 WÜRV einer Berufung auf die Garantien der EMRK zur berechtigten Rechtshilfeverweigerung nicht entgegensteht.1443 Überdies bestätigt der Art. 53 WÜRV zugrunde liegende Gedanke eines zwingenden Vorrangs des (regionalen und damit europaratsbezogenen) ius cogens die Dominanz der EMRK vor einer auch auf Europaratsebene begründeten weiteren völkervertraglichen Verpflichtung.1444 Des Weiteren konnte als Untersuchungsergebnis festgehalten werden, dass die Möglichkeit eines Vorbehalts gem. Art. 26 Abs. 1 E ­ uAuslÜbk – und angesichts der Übereinstimmung mit Art. 23 Abs. 1 EuRhÜbk ist auch insoweit das Untersuchungsergebnis übertragbar – die Berechtigung zur Berufung auf rein nationale elementare Wertvorstellungen begründet, wobei auch souveränitätsorientierte Belange zulässigerweise mitumfasst sind. Zur Voraussetzung ist insoweit allein zu benennen, dass – wie Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk und Art. 23 Abs. 1 EuRhÜbk übereinstimmend verlangen – im Zeitpunkt der Unterzeichnung des Übereinkommens oder der Hinterlegung der Rati­ fikations- oder Beitrittsurkunde ein entsprechender Vorbehalt zu Art. 1 Abs. 1

1441

Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters (20.04.1959), S. 12. 1442 S. dazu S. 234 ff. 1443 S. dazu bereits S. 233 f. 1444 S. zur Interpretation des Art. 53 WÜRV als Ausdruck eines orde-public-Einwands bereits die Nachweise in Fn. 401.

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

EuRhÜbk angebracht worden ist.1445 Damit lässt sich zunächst resümieren, dass der Vorrang des hier zugrunde gelegten regionalen ius cogens des Europarats in Form der Gewährleistungen der EMRK auch gegenüber der Rechtshilfeverpflichtung des Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk Geltung beansprucht und für den ordre-public-Einwand als Elementarvorbehalt auf die notstandsfesten und in Friedenszeiten absolut gewährleisteten Garantien sowie ihres jeweiligen Wesensgehalts („the very essence of the right“) beschränkt ist. Darüber hinaus erfasst der ordre-public-basierte Rechtshilfeversagungstatbestand auch i. R. d. sonstigen Rechtshilfe – einen gem. Art. 23 Abs. 1 EuRhÜbk zulässigen Vorbehalt vorausgesetzt – nationale und zwar sowohl individual- als auch souveränitätswahrende Aspekte in Form eines rein nationalen ordre-public-Vorbehalts. Entscheidender, sich auf das Ergebnis dieses Untersuchungsabschnitts indes nicht auswirkender Unterschied zwischen dem E ­ uAuslÜbk und dem EuRhÜbk ist die bereits angeführte Kodifizierung eines fakultativen Verweigerungsgrundes in Art. 2 lit b) EuRhÜbk im Fall eines zu besorgenden Verstoßes gegen „die Souveränität, die Sicherheit, die öffentliche Ordnung (ordre public) oder andere wesentliche Interessen“ des ersuchten Vertragsstaates. Es geht damit allein noch um die Frage, ob dem EuRhÜbk ein – wie im Fall des ­EuAuslÜbk – ungeschriebener Verweigerungsgrund zuzuschreiben ist oder die vorstehenden Erwägungen zur Zulässigkeit eines europäisierten und rein nationalen Wesentlichkeitsvorbehalts von Art. 2 lit b) EuRhÜbk gedeckt sind. Insoweit spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: Zum einen ist aufgrund des weit gefassten Wortlauts der Norm („oder andere wesentliche Interessen“) zwar davon auszugehen, dass die als zulässig ermittelten Inhalte eines ordre-public-Vorbehalts sich unter die Vorschrift subsumieren lassen. Insbesondere rein nationale (souveränitätsorientierte) Erwägungen sind vom Wortlaut ausdrücklich mitumfasst. Und auch die Einhaltung der sich aus der EMRK ergebenden völkervertraglichen Verpflichtungen dürfte – auch wenn die Formulierung eindeutig nicht als individualschützend aufgeladen verstanden werden soll1446 – zumindest als „wesentliches Interesse“ des ersuchten

1445 Gegenüber der durch Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk begründeten Rechtshilfepflicht haben Island, Montenegro, Österreich und Serbien einen Vorbehalt erklärt. Darüber hinaus hat Aserbaidschan einen relevanten allgemeinen Vorbehalt gegen sämtliche Bestimmungen des EuRhÜbk angebracht, der die Gebietsbesetzungen durch Armenien betrifft („The Republic of Azerbaijan declares that it will be unable to guarantee compliance with the provisions of the Convention in its territories occupied by the Republic of Armenia until these territories are liberated from that occupation.“), s. dazu die Auflistung unter https://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/ conventions/treaty/030/declarations?p_auth=NiMvCEOW (zuletzt aufgerufen am 27.01.2019). 1446 Council of Europe, Explanatory Report to the European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters (20.04.1959), S. 4. Insbesondere wurde ein individualschützender Aspekt, wonach die Rechtshilfe bei konkreten Anhaltspunkten „for believing that the proceedings against the person concerned have been instituted for the purpose of prosecuting or punishing him on account of his race, religion, nationality or political opinions“ hätte versagt werden können, als „unnecessary“ abgetan (5). Im Übrigen wurde auch der aus Art. 9 ­EuAuslÜbk bekannte Versagungsgrund nicht aufgenommen (5) („It was considered that the insertion of this clause

C. Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Raum des Europarats  

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Vertragsstaates angesehen werden, sähe sich dieser doch sonst dem Vorwurf eines vertragsbrüchigen Handelns ausgesetzt. Zum anderen kann Art. 2 lit. b) EuRhÜbk im Ergebnis jedoch ebenfalls nicht als umfassender ordre-public-Vorbehalt angesehen werden.1447 Dem steht nämlich wie im Fall der oben bereits behandelten Sekundärrechtsakte des Unionsrechts die Ausgestaltung als bloßer fakultativer Rechtshilfeverweigerungstatbestand entgegen. Zwar liegt die Annahme nahe, dass ein Vertragsstaat die Rechtshilfe bei Verstoß gegen die vom ordre-public-Einwand erfassten Schutzgüter – insbesondere der nationalen Souveränität – in der Regel auch verweigern wird. Doch genügt eine solche Vermutung in Anbetracht der sich zwingend durchsetzenden betroffenen Rechtspositionen auf Seiten des Wesentlichkeitseinwands nicht. Vielmehr verlangt dieser – aufgrund seines Charaktermerkmals als letzter unumstößlicher Kern von Wertvorstellungen einer Rechtsordnung – eine in jeder Hinsicht zwingende Durchsetzung, sodass es bei der reinen Möglichkeit zur Rechtshilfeverweigerung nicht sein Bewenden haben kann. Es kommt doch zwingend auf die Pflicht zu Verweigerung an, der Art. 2 lit. b) EuRhÜbk insoweit nicht gerecht wird und damit im Ergebnis auch hier von einem weiteren ungeschriebenen Versagungstatbestand auszugehen ist, der in inhaltlicher Hinsicht nicht hinter Art. 2 lit. b) EuRhÜbk zurücksteht, jedoch als obligatorischer ausgestaltet ist.

II. Der Vollstreckungshilfeverkehr in Strafsachen im Rechtsraum des Europarats nach Maßgabe des Europäischen Überstellungsübereinkommens Schlussendlich bleibt für den Vollstreckungshilfeverkehr auf Grundlage des EuÜberstÜbk festzuhalten, dass auch dieses in der Präambel das aus dem unionsrechtlichen Vollstreckungshilferecht bekannte Resozialisierungsziel in den Vordergrund stellt, indem auf die Förderung der sozialen Wiedereingliederung verurteilter Personen abgestellt wird. Dieses Ziel soll durch die Vollstreckung im Urteilsstaat angeordneter freiheitsentziehender Sanktionen in einem anderen Vertragsstaat, dem Vollstreckungsstaat, erreicht werden. Als ersten entscheidenden Unterschied zum ­EuAuslÜbk und auch zum ­EuRhÜbk sieht das EuÜberstÜbk zwar in Art. 2 Abs. 1 eine weich formulierte allgemeine Zusammenarbeitspflicht vor, die jedoch hinter einer strikten Pflicht zur Übernahme

would have reduced the scope of the Convention.“). S. zur (fortbestehenden) Grundrechtsbindung i. R. d. Rechtshilferechts im Raum des Europarats auch Schomburg / Lagodny / Gleß / Hackner / Lagodny (2012), Vor II B Rn. 5. 1447 Für eine Bewertung des Art. 2 als nationaler ordre public aber Schomburg / Lagodny / ​ Gleß / Hackner / Lagodny (2012), Vor II B Rn. 13; Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 79.

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Kap. 5: Bedeutung in der sonstigen und Vollstreckungsrechtshilfe    

einer überstellten Person zurückbleibt.1448 In diesem Zusammenhang verweisen auch Art. 1 lit. c) und d) EuÜberstÜbk i. R. d. Begriffsbestimmungen zum Urteilsund Vollstreckungsstaat auf diejenigen Vertragsstaaten, „in dem die Sanktion gegen die Person, die überstellt werden kann, […] verhängt worden ist“1449 resp. „in den die verurteilte Person zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion überstellt werden kann.“1450 Ebenso betont Art. 2 Abs. 2 EuÜberstÜbk, dass „[e]ine im Hoheitsgebiet einer Vertragspartei verurteilte Person […] nach diesem Übereinkommen zum Vollzug der gegen sie verhängten Sanktion in das Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei überstellt werden [kann],“1451 sodass bereits insoweit ein normativer Unterschied zu einer möglichen Formulierung auszumachen ist, die darauf hätte abstellen können, dass eine Person zu überstellen ist. Weiterhin lässt sich in Art. 2 Abs. 2 EuÜberstÜbk durch die Formulierung „nach diesem Übereinkommen“ ein Verweis auf die nach dem Übereinkommen weiterhin vorgesehenen, mithin in Art. 3 Abs. 1 EuÜberstÜbk normierten Überstellungsvoraussetzungen ausmachen. Demnach ist eine Überstellung unter anderem „nur“ (!) unter der Voraussetzung möglich, „daß sich der Urteils- und der Vollstreckungsstaat auf die Überstellung geeinigt haben“ (Art. 3 Abs. 1 lit. f) EuÜberstÜbk). Damit ist dem Überstellungsübereinkommen jedoch bereits eine deutliche Abkehr von dem der Untersuchung bislang zugrunde liegenden Regel-Ausnahme-Verhältnis von Rechtshilfepflicht und Ausnahmetatbeständen zu entnehmen. Dies hat entscheidende Auswirkung auf die Untersuchungsfrage nach einer etwaigen ordre-­publicgestützten Rechtshilfeverweigerung: Ein Vertragsstaat, der bereits im Grundsatz nicht zur Rechtshilfe verpflichtet ist, weil die Begründung einer konkreten Rechtshilfebeziehung wie im Fall des Art. 3 Abs. 1 lit. f) EuÜberstÜbk vom Einvernehmen der beteiligten Staaten abhängt, ist schon nicht auf die völkervertragliche Zulässigkeit der Rechtshilfeverweigerung angewiesen. Der Inhalt eines gegenüber auf Europaratsebene völkervertraglich etablierten Rechtshilfeverpflichtungen anzubringenden ordre-public-Einwands wird dabei bereits auf die nationale Ebene verlagert, indem die beteiligten Vertragsstaaten aufgrund völkervertraglicher Bindung die Gewährleistungen der EMRK umfassend – und als Mindestbestandteil auch deren ordre-public-fähigen Inhalt – zu berücksichtigen haben.1452 Dann sind die Vertragsstaaten bei einem zu besorgenden Verstoß völkervertraglich gehindert, das Einvernehmen i. S. d. Art. 3 Abs. 1 lit. f) EuÜberstÜbk herbeizuführen. Ebenso verhält es sich mit rein nationalen Erwägungen, die i. R. d. Entscheidung für ein 1448

So auch Ambos, Internationales Strafrecht (2018), § 12 Rn. 95. Der erläuternde Bericht verweist zu Art. 2 EuÜberstÜbk zwar auf den eine Rechtshilfepflicht beinhaltenden Art. 1 Abs. 1 EuRhÜbk, äußert sich bzgl. Art. 3 Abs. 1 lit. f) EuÜberstÜbk jedoch ausdrücklich dahingehend, dass „[t]he sixth condition f confirms the convention’s basic principle that a transfer requires the agreement of the two States concerned“ (Herv. d. Verf), s. Council of Europe, Explanatory Report to the Convention on the Transfer of Sentenced Persons (21.03.1983), S. 4. 1449 Herv. d. Verf. 1450 Herv. d. Verf. 1451 Herv. d. Verf. 1452 S. hierzu auch Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 459.

D. Ergebnis  

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Einvernehmen zu berücksichtigen sein werden und für deren ordre-public-fähigen Inhalt bereits das nationale (Verfassungs-)Recht verbindliche Vorgaben wie im Fall des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG vorsieht. Für den Vollstreckungshilfeverkehr unter den Europaratsstaaten bleibt damit festzuhalten, dass eine ordre-public-basierte Rechtshilfeverweigerung ausscheidet, da es an einem Anknüpfungspunkt in Form einer grundsätzlichen Rechtshilfeverpflichtung mangelt. An dieser Rechtslage ändern auch die beiden Zusatzprotokolle nichts. Im Ergebnis ergibt sich eine identische Beurteilung für das Europäische Übereinkommen über die internationale Geltung von Strafurteilen vom 28.05.1970,1453 das in Art. 1 Abs. 2 noch zurückhaltender als das EuÜberstÜbk formuliert, dass „[i]n den in diesem Übereinkommen vorgesehenen Fällen und unter den darin bezeichneten Voraussetzungen […] jeder Vertragsstaat befugt [ist], eine Sanktion zu vollstrecken, die in einem anderen Vertragsstaat verhängt worden und dort vollstreckbar ist.“1454 Die Befugnis zur Vollstreckungshilfe kann dabei freilich erst recht nicht als völkervertragliche Verpflichtung interpretiert werden, sodass es auch insoweit keines Rückgriffs auf einen Wesentlichkeitsvorbehalt bedarf.1455

D. Ergebnis Als Ergebnis der Untersuchung bleibt zu resümieren, dass sämtlichen hier betrachteten Sekundärrechtsakten und dem EuRhÜbk ein ungeschriebener Wesentlichkeitsvorbehalt gegenüber der jeweiligen Vollstreckungs- resp. Rechtshilfepflicht zugrunde liegt. Einem ordre-public-Einwand nahestehende Verweigerungstatbestände wie Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA, Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen oder Art. 2 lit. b) EuRhÜbk erfassen in inhaltlicher Hinsicht zwar mehr als das vom Wesentlichkeitsvorbehalt allein erfasste zwingend geltende Fundament einer Rechtsordnung. Sie können jedoch nicht als Fundamentaleinwand genügen, da sie nicht auf die für einen ordre-public-Einwand zwingend erforderliche obligatorische Vollstreckungs- und Rechtshilfeverweigerung aufbauen und damit dem Wesentlichkeitsvorbehalt nicht genügen können. Allein dem EuÜberstÜbk liegt ein solcher zusätzlicher ungeschriebener Versagungstatbestand nicht zugrunde, da insoweit bereits die verbindliche Rechtshilfepflicht nicht normiert ist und die von einem ordre-public-Einwand geschützten inhaltlichen Belange durch Erwägungen auf nationaler Ebene einer Absicherung zugänglich sind und eine etwaige Rechtshilfebereitschaft unterbinden können.

1453 ETS Nr. 070. Das Übereinkommen ist von Deutschland bislang nicht ratifiziert worden. S.  dazu nur die Darstellung bei Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 436 ff. 1454 Herv. d. Verf. 1455 Gegen eine Interpretation als Rechtshilfepflicht auch Ambos / König / Rackow / Bock (2015), 3. Hauptteil Rn. 437 („können“).

Zusammenfassung der wesentlichen Untersuchungsergebnisse Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde zunächst die heute wohl unstreitige Dreidimensionalität1456 des Rechtshilfeverfahrens mit der damit einhergehenden Berücksichtigung von Grundrechtspositionen herausgearbeitet. Nach einer Darstellung der Grundlagen des Auslieferungsverkehrs wurde auf die Besonderheiten der Rechtshilfe im Unionsraum eingegangen und das Postulat der gegenseitigen Anerkennung näher untersucht. In diesem Zusammenhang wurde jedoch herausgestellt, dass die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen auf ein hinreichendes Maß an gegenseitigem Vertrauen zurückzuführen sein muss. Somit muss auch der Rechtsprechung des EuGH, in der ein gegenseitiges Vertrauen unter den Mitgliedstaaten pauschal als bestehend deklariert wird, eine Absage erteilt werden. Soweit ein gegenseitiges Vertrauen in die Rechtsordnung und den Entscheidungsfindungsprozess i. R. d. nationalen Strafverfahrens eines um Rechtshilfe ersuchenden Staates auch tatsächlich besteht, kann – und zwar nur dann – ein ersuchter Mitgliedstaat darauf vertrauen, dass das durch ihn unterstützte Ersuchen im Vollstreckungsstaat grundrechtskonform umgesetzt wird. Das führt dazu, dass von einem Komplementaritätsverhältnis zwischen anerkennungsbasierter unbedingter Vollstreckung von Rechtshilfeersuchen und diesem gegenüber stehender Vollstreckungsverweigerung auszugehen ist:1457 Denn erst, wenn ein hinreichender, ein gegenseitiges Vertrauen rechtfertigender Grundrechtsstandard im ersuchenden Staat erreicht ist, hat ein ersuchter Mitgliedstaat keinen Anlass mehr, sich eines Wesentlichkeitsvorbehalts zur Vollstreckungsverweigerung zu bedienen. Es ist damit ein „quasi-bundesstaatliches Niveau“ an Grundrechtsstandard im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts anzustreben.1458 Damit ist die Ausgangslage im Bereich des Unionsrechts von der unter den Vertragsstaaten des Europarats zu unterscheiden. Im ersten Fall ist die traditionell völkervertragliche Rechtshilfeverpflichtung durch das in der EU vorherrschende System der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen abgelöst worden und bleibt damit kein Raum mehr für politische Ermessensentscheidungen. Daneben erhält der EuGH mit striktem Integrationswillen am Postulat gegenseitiger Anerkennung auch um den Preis einer Grundrechtsaufopferung fest und reichert seine Rechtsprechung seit jüngerer Zeit um einen vermeintlichen unionsrechtlichen 1456

S. dazu S. 40 ff. S. o. Fn. 549 mit Haupttext. 1458 S. dazu bereits Fn. 1038 und 1240, jeweils mit Haupttext. S. zum Begriff auch bereits Fn. 281. 1457

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„Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ an.1459 Diese streng integrationsorientierte Rechtsprechung hat der Gerichtshof in jüngerer Zeit in den Rechtssachen Aranyosi und Căldăraru sowie LM leicht relativiert, ohne zugleich von der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung zugunsten grundrechtlicher Belange effektiv abzurücken.1460 Damit trifft die Untersuchungsfrage die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen aber geradezu scheinbar ins Mark, würde ein weiterer – im jeweiligen Rechtsakt in der Regel nicht angelegter – Verweigerungstatbestand das auf gegenseitiger Anerkennung basierende Kooperationsgefüge doch massiv erschüttern. Ausgehend von diesem Konflikt eines Wesentlichkeitsvorbehalts mit einer völkervertraglich oder anerkennungsbasierten Auslieferungspflicht wurde die Begrifflichkeit jenes näher untersucht und einer im Wesentlichen relevanten Dreiteilung zugeführt: (1.) Auf der nationalen Ebene erlangt insoweit ein rein nationaler Wesentlichkeitsvorbehalt zum Schutz allein mitgliedstaatlicher Elementar­ vorstellungen Bedeutung (nationaler ordre public international).1461 (2.)  Dieser wird sodann durch internationale Einflüsse – im Fall der deutschen Rechtsordnung über die bundesgesetzliche Inkorporation gem. Art. 59 Abs. 2 GG – zu einem internationalisierten und hier relevanten europäisierten ordre public international angereichert, der die grundlegenden völkerrechtlichen Wertungen des Europarats erfasst.1462 (3.) Schließlich ist i. R. d. europäischen Integration ein mittlerweile selbstständiger „echter“ europäischer ordre public anzuführen, dessen Inhalt keiner nationalstaatlichen Absicherung bedarf. Dieser Vorbehalt teilt vielmehr die unmittelbare Wirkung des Unionsrechts und erfasst die Gewährleistungen der GRCh.1463 Daran anschließend wurde umfassend die Vereinbarkeit eines solchen Vorbehalts mit den Rechtsregimen des Europäischen Haftbefehls einerseits und des ­EuAuslÜbk andererseits betrachtet. Dabei ergab die Untersuchung, dass der anerkennungsbasierte Übergabeverkehr keine abschließende Regelung durch die im RbEuHb aufgeführten Vollstreckungsverweigerungsgründe erreichen kann. Dem steht die normenhierarchische Überordnung der Bindung der Mitgliedstaaten an die GRCh entgegen.1464 Dass neben den Gewährleistungen der GRCh auch der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung den Primärrechtsrang teilt (Art. 82 Abs. 1 AEUV), führt zu keinem anderen Ergebnis, da allein die grundrechtlichen Gewährleistungen als „self-executing“ angesehen werden können, während dem die gegenseitige Anerkennung als konkretisierungsbedürftiger Rechtsgrundsatz nachgeordnet ist. Daneben liegt dem RbEuHb, der zuvörderst auf eine Beschleunigung und Vereinfachung des Auslieferungsverkehrs abzielt, ebenso ein individualschüt 1459

S. o. Fn. 276 und 277 mit Haupttext. S. o. Fn. 315–322 mit Haupttext. Positiver formuliert aber Konstadinides, CML Rev. 56 (2019), 743 (765) im Zusammenhang mit der Rspr. des EuGH im Fall LM: „[…] the ECJ ­ensured that mutual trust is not applied automatically and blindly.“ 1461 S. zur Terminologie S. 119 f. 1462 S. dazu S. 141 ff. 1463 S. dazu S. 129 ff. 1464 S. dazu S. 164 ff. 1460

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zendes Bekenntnis des Unionsgesetzgebers zugrunde,1465 das in erster Linie in Vollstreckungsverweigerungs- und Bedingungstatbeständen seinen Niederschlag gefunden hat. Daneben weisen auch Erwägungsgründe des RbEuHb eine individualschützende Intention auf, wobei diese mangels Rechtsverbindlichkeit nicht als Verweigerungstatbestand herangezogen werden können. Einen dritten Anhaltspunkt für die Zulässigkeit eines ordre-public-Einwands im Bereich der Unionsrechtsakte bietet sodann die Ausgestaltung der EU als supranationaler Staatenverbund, in dem die indisponible Verfassungsidentität der Bundesrepublik nicht von einer Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung verdrängt werden kann.1466 Der normative Anknüpfungspunkt liegt hierbei in der Verfassungsbestandsklausel des Art. 23 Abs. 1 S. 3 i. V. m. Art. 79 Abs. 3 GG, die den Rechtsanwendungsbefehl für den Anwendungsvorrang des Unionsrechts von vornherein zugunsten des grundgesetzlichen Identitätsbestands beschränkt. Im Unionsrecht sichert auch Art. 4 Abs. 2 EUV die Pflicht zur Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten ab. Schließlich lässt sich für die Zulässigkeit des Wesentlichkeitsvorbehalts auf die dem Unionsrecht aus Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV bekannte Berücksichtigung „grundlegender Aspekte der Strafrechtsordnung“ eines Mitgliedstaates verweisen.1467 Da das Unionsrecht bereits auf Rechtsetzungsebene die Berücksichtigung wesentlicher nationaler Belange ausdrücklich akzeptiert, gilt dies a fortiori auch für die besonders grundrechtsrelevante Rechtsdurchsetzung. Im Bereich des ­EuAuslÜbk ist mit Art. 1 eine völkervertraglich vereinbarte Auslieferungspflicht begründet und kennt der Rechtsakt wiederum keine explizite wesentlichkeitsvorbehaltsbasierte Verweigerung. Insoweit hat die Untersuchung allerdings ebenfalls die Vereinbarkeit eines ordre-public-Einwands bestätigt, da die elementaren Gewährleistungen der EMRK zum regionalen ius cogens zu zählen sind und der betreffende Vertragsstaat gem. Art. 53 WÜRV deren Einhaltung ­ uAuslÜbk in Art. 26 Abs. 1 vorrangig zu verantworten hat.1468 Überdies lässt das E die Möglichkeit eines vertragsstaatlichen Vorbehalts zu, der die Auslieferungspflicht umfassend auszuhebeln vermag und damit auch souveränitätsorientierte Belange gegen die Auslieferungspflicht in Stellung gebracht werden können.1469 Die Berufung auf einen solchen Vorbehalt steht allerdings nur denjenigen Vertragsstaaten zu, die eine entsprechende Erklärung bei der Hinterlegung ihrer Ratifikations- oder Beitrittsurkunde abgegeben haben. Eine spätere Beschränkung der Auslieferungspflicht durch einen solchen Vorbehalt scheidet hingegen aus. Auch kommt die Berufung auf einen „identitätsgeleiteten national-verfassungsrechtlichen“ ordre-public-Einwand i. R. d. Auslieferungsverkehrs unter Europaratsstaaten nicht in Betracht, da die geschützte Verfassungsidentität insoweit nicht durch eine mit Anwendungsvorrang ausgestattete Rechtsordnung beeinträchtigt werden kann. 1465

S. dazu S. 176 ff. S. dazu S. 184 ff. 1467 S. dazu S. 213 ff. 1468 S. dazu S. 233 f. 1469 S. dazu S. 234 ff. 1466

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Das vierte Kapitel betrifft sodann den Inhalt eines zulässigen Wesentlichkeitsvorbehalts. Die Untersuchung gelangt zu dem Ergebnis, dass die Beeinträchtigung folgender Rechtspositionen zur Verweigerung der Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls resp. der Bedienung des ordre-public-Einwands verpflichtet: –– Jedes absolut gewährleisteten Grundrechts der GRCh, –– des Wesensgehalts eines jeden beschränkbaren Grundrechts der GRCh, –– des abwägungsfesten Kernbestands der nationalen Identität der Mitgliedstaaten, –– des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung selbst, wobei dieser jedoch zum einen erst ab dem Zeitpunkt positiv festzustellender Harmonisierung zu bedienen und bis dahin als Anwartschaft auf einen vollgültigen Bestandteil des ordre public anzusehen ist und zum anderen als ein „Gegen-ordre public“ zur unbedingten Vollstreckung, statt deren Verweigerung verpflichtet, –– der notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– der in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen sowie –– in Friedenszeiten des Wesensgehalts („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der Konvention und eines von der Vertragsstaatengesamtheit getragenen Zusatzprotokolls. ­ uAuslÜbk ergibt sich die Für die Leistung der Rechtshilfe nach Maßgabe des E Pflicht zur Auslieferungsverweigerung aus einer drohenden Verletzung –– der notstandsfesten Garantien des Art. 15 Abs. 2 EMRK, in Bezug auf den Lebensschutz beschränkt auf den durch das Zusatzprotokoll VI etablierten Schutzstandard, namentlich der Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, –– der in Friedenszeiten absolut geschützten Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle, unabhängig von ihrer möglichen Restriktion durch konventionsimmanente Beschränkungen und soweit sie sich auf einen europaratsweiten Konsens der Vertragsstaatengesamtheit zurückführen lassen, –– in Friedenszeiten des Wesensgehalts („the very essence of the right“) einer jeden beschränkbaren Garantie der Konvention und eines von der Vertragsstaatengesamtheit getragenen Zusatzprotokolls sowie –– des vom jeweiligen Vertragsstaat gegenüber der Auslieferungspflicht des Art. 1 ­EuAuslÜbk angebrachten Vorbehalts gem. Art. 26 Abs. 1 ­EuAuslÜbk und zwar auch, soweit dem Vorbehalt keine entsprechende Beschränkung zu entnehmen ist, in Bezug auf souveränitätsorientierte Belange.

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Im Rahmen der untersuchten Übertragung der bis dahin erlangten Erkenntnisse auf den sonstigen Rechts- und Vollstreckungshilfeverkehr im Unionsrecht und im Rechtsraum des Europarats hat sich abschließend ergeben, dass keiner der relevanten unionsrechtlichen Sekundärrechtsakte eine abschließende Regelung enthält. Vielmehr ist auch insoweit von einem ungeschriebenen Wesentlichkeitsvorbehalt mit dem oben genannten Inhalt auszugehen. Insbesondere die Art. 11 Abs. 1 lit. f) RlEEA und Art. 20 Abs. 3 Rb Geldstrafen können letztlich aufgrund ihrer nur fakultativen Ausgestaltung nicht als ordre-public-Einwand angesehen werden.1470 Im Rahmen des europaratsbezogenen Vertragsrechts hat sich eine differenzierte Rechtslage herausgestellt: Zwar enthält keiner der behandelten Rechtsakte einen den Anforderungen an eine ordre-public-Klausel gerecht werdenden Verweigerungstatbestand. Allerdings bedarf es eines solchen auch nur im Fall des EuRhÜbk, da auch nur dieses eine abzuwehrende Rechtshilfepflicht begründet. An dieser mangelt es sowohl i. R. d. EuÜberstÜbk als auch des Europäischen Übereinkommens über die internationale Geltung von Strafurteilen, sodass die Absicherung der einen ordre-public-Einwand ausmachenden Inhalte auf die politische Ermessensebene der Vertragsstaaten verlagert ist.1471

1470

S. dazu S. 361 ff. und 373 ff. S. dazu S. 381 ff.

1471

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Sachverzeichnis Abwesenheitsverurteilung  91, 322 ff. –– ordre-public-Einwand gegenüber Art. 1 Abs. 2 RbEuHb  323 ff. –– ordre-public-Einwand gegenüber Art. 1 EuAuslÜbk  328 ff. –– und verfassungsrechtliche Identitäts­ kontrolle  325 ff. –– und Vollstreckung eines EuHb  101 f. Auslieferung  43 ff. –– akzessorische 74 Auslieferungsgegenrechte  65 ff. Auslieferungshindernis –– Abwesenheitsurteil  77 f., 323 ff. –– faires Verfahren  71 ff., 343 ff. –– Folter  69 f. –– individualschützendes, siehe Auslieferungsgegenrechte –– lebenslange Freiheitsstrafe  70 –– ne bis in idem  75 –– Todesstrafe  68 f., 76 f. Auslieferungsverfahren  73 ff., 97 –– i. R. d. EU  78 ff. –– i. R. d. Europarats  74 ff. aut dedere aut iudicare  46 Bosphorus-Rechtsprechung des EGMR  136 f., 173, 319 Durchlieferung 44 effet atténué  115 ff. EMRK 37 –– als Bestandteil des ordre public  287 ff. –– Derogation gem. Art. 15 Abs. 1  286 f. –– extraterritoriale Wirkung  66, 143 –– Individualbeschwerdeverfahren  241 f. –– keine unmittelbare Wirkung der  133 ff. –– kohärenter Grundrechtsschutz  134 ff. –– Wesensgehaltsschutz siehe „The very ­essence of the right“-Rspr. des EGMR EU-Auslieferungsübereinkommen  54 f.

EU-Rechtshilfeübereinkommen 55 EU-VereinfAuslieferungsübereinkommen ​ 54 Europäische Ermittlungsanordnung siehe Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung Europäischer Haftbefehl  95 ff. siehe auch Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl Europäisches Auslieferungsübereinkommen ​ 53 Europäisches Rechtshilfeübereinkommen ​ 53 f., 382 ff. Europäisches Überstellungsübereinkommen ​ 385 ff. Exequaturverfahren 46 „flagrant denial of justice“-Doktrin  72, 245 ff., 295 f. forum regit actum  52 Fremdrechtsanwendung im Strafrecht ​113 ff. gegenseitige Anerkennung –– als Bestandteil des europäischen ordre public  273 ff. –– Anwartschaft auf vollgültigen Bestandteil des ordre public  279 ff. –– Definition für justizielle Zusammenarbeit  83 f. –– Genese  80 ff. –– grundrechtliche Begrenzung  170 ff., 193 –– und Harmonisierung  90 f., 160 f., 275 f., 278 ff. –– und Verweigerung der Vollstreckung eines EuHb  104, 162 f. gegenseitiges Vertrauen  84 ff. Gegenseitigkeit  60 f. Gewährleistungsverantwortung 192 GRCh –– Bindung i. R. d. Vollstreckung eines EuHb  168 ff.

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Sachverzeichnis

–– Durchführung von Unionsrecht  67 f., 168 –– kohärenter Grundrechtsschutz  134 ff. –– Kongruenzklausel  135 ff. –– normenhierarchischer Vorrang vor gegenseitiger Anerkennung  168 ff. –– Primärrechtsrang 171 –– prozessuale Durchsetzung  241 ff. Günstigkeitsprinzip 51 Identitätskontrolle siehe Verfassungsidentität international-arbeitsteiliges Strafverfahren ​ 73, 97 justizielle Zusammenarbeit  35 f., 79 f. locus regit actum  52, 57, 74 Loyalitätsgebot siehe Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit menschenrechtswidrige Haftbedingungen ​ 333 ff. –– ordre-public-Einwand gegenüber Art. 1 Abs. 2 RbEuHb  335 ff. –– ordre-public-Einwand gegenüber Art. 1 EuAuslÜbk 343 –– und verfassungsrechtliche Identitäts­ kontrolle  339 f.

–– dynamischer Charakter  110 f., 278 f. –– europäischer  105 f., 119 ff., 121 ff., 128 ff. –– europäisierter  121 ff., 128 ff. –– Grundrechte als Bestandteil  117 ff. –– „identitätsgeleiteter national-verfassungsrechtlicher“  194 ff., 238 ff., 296 ff. –– in Art. 1 Abs. 3 RbEuHb  152 ff. –– Inhalt  249 ff. –– internationaler  121 ff. –– internationalisierter  121 ff. –– kein Ausschluss gem. Art. 27 S. 1 WÜRV ​233  ff. –– und absolut garantierte Grundrechte ​ 254 ff. –– und Derogation gem. Art. 15 Abs. 1 EMRK  287 ff. –– und unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts  129 ff. –– und Verhältnismäßigkeit  259 ff. –– und völkerrechtliche Zusicherung  329 f., 333 f. –– und Wesensgehaltsgarantie  256 ff. –– Vereinbarkeit mit gegenseitiger Anerkennung  159 ff., 274 ff. –– Zulässigkeit im europäischen Auslieferungsverkehr  158 ff. ordre public international  119 f. ordre public interne  119 f.

nationale Identität (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV) ​ 198 ff. –– als Bestandteil des europäischen ordre public  262 ff. –– Begriff  199 ff. –– und Verfassungsidentität  202 ff. Notbremseverfahren  213 ff. –– grundlegende Aspekte einer Strafrechtsordnung  215 ff.

Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit  220 ff. –– als nicht geeigneter Bestandteil des ­ordre public  265 ff. –– Beschränkung der Berufung auf natio­ nale Souveränität  268 ff. polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit  35 f., 79 f. Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ​ 34

ordre public –– Abwehr- und Durchsetzungswirkung ​ 111 ff. –– als Steuerungselement  162 f. –– anerkennungsrechtlicher  113 ff. –– Begriff  106 ff. –– bei Abwesenheitsverurteilungen siehe Abwesenheitsverurteilung

„quasi-bundesstaatliche“ Rechtsordnung ​ 90 f., 160 f. Rahmenbeschluss Bewährungsmaßnahmen  354, 369 ff. Rahmenbeschluss Einziehungsentschei­ dungen  353, 379 f. Rahmenbeschluss Geldstrafen   353, 373 ff.

Sachverzeichnis Rahmenbeschluss über den Europäischen Haftbefehl  95 ff. –– Erwägungsgründe   179 ff. –– individualschützende Zielsetzung  176 ff. Rahmenbeschluss über die Europäische Überwachungsanordnung  353 f., 376 ff. Rahmenbeschluss über die Europäische Vollstreckungsanordnung  353, 367 ff. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 33 Rechtsetzung, supranationale  35, 79 Rechtshilfe –– autonome  50 f. –– Bewilligung 58 –– dreidimensionale  40 ff. –– in Strafsachen  38 ff. –– internationale 38 –– kleine  43, 45 –– ordre-public-Einwand gegenüber sons­ tiger  354 ff., 382 ff. –– vertragslose  50 f. –– Zulässigkeit 58 Rechtshilfepflicht –– asymmetrische 60 –– völkervertragliche  49 ff. Reziprozität  60 f. Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung  354 ff. –– fehlender ordre-public-Einwand  361 ff. –– individualschützende Zielsetzung ​357  ff. Schengen-Besitzstand  55 f. Soering-Fall  69 f. Solange-Rechtsprechung des BVerfG  136, 165 ff., 184 f. –– Abgrenzung zur Identitätskontrolle ​ 187 ff., 195 ff. Souveränität  250 ff. Spezialitätsgrundsatz  64 f. –– Verfahrenshindernis 64

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–– Vollstreckungshindernis bzgl. EuHb ​64 f. Sphärentheorie des BVerfG  258 Staatenverbund 34 Strafbarkeit, beiderseitige  61 f. Strafrechtspflege, stellvertretende  47 ff. Struktursicherungsklausel 195 „The very essence of the right“-Rspr. des EGMR  294 f. Todesstrafe, als Bestandteil des ordre ­public ​ 291 ff. Übernahme der Strafverfolgung  46 ff. Unionsstrafrecht 35 Verfassungsbestandsklausel 195 Verfassungsidentität  185 ff. –– Abgrenzung zum Solange-Vorbehalt  187 ff., 195 ff. –– Abgrenzung zur ultra vires-Kontrolle ​ 187 ff. –– änderungsfeste Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips  311 ff. –– als ordre-public-Vorbehalt  194 ff. –– Gewährleistungsverantwortung  192 f., 327 –– „in Art. 1 und 20 GG niedergelegte Grundsätze“  298 ff. –– und Anwendungsvorrang des Unionsrechts  167 f. Verfolgbarkeit, beiderseitige  62 ff. Verstoß gegen ein faires Verfahren  343 ff. –– Gefahr einer schwerwiegenden Ver­ letzung der in Art. 2 EUV genannten Werte  345 f. –– ordre-public-basierte Vollstreckungsund Auslieferungsverweigerung  346 ff. Vollstreckungshilfe  43, 45 –– ordre-public-Einwand  366 ff., 385 ff. Weiterlieferung 44