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German Pages [127] Year 2023
Barbara Aulinger
DER MALER LUCIEN C. KAPP ZWISCHEN MUR UND MISSISSIPPI Werkbetrachtungen
Barbara Aulinger
Der Maler Lucien C. Kapp zwischen Mur und Mississippi Werkbetrachtungen
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2024 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Lucien Kapp: Cahokia. Mississippian Moment, 1969/2018, Privatbesitz Satz: Bettina Waringer, Wien Korrektorat: Elena Mohr Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN e-lib: 978-3-205-21923-1
Inhalt
Weltverdichtung.............................................................. 9 „Ich habe meine Gründe vergessen …“..................................... 11 Urteilsfragen... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Der Künstler................................................................. 21 Historische Koordinaten.................................................... 37 Die Armory Show 1913. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Der Blaue Reiter 1912. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Nach dem Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Die Suche nach der „Ur-Kunst“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Kreise, Bögen, Körper und ein Zentrum................................... 51 Grenzüberschreitungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Der Bildtitel – Vom Hinweis zum Paradoxon. . ............................................. 67 Die Potawatomi, die Illini und die Tamaroa................................ 79 Satz-Malerei. . ................................................................ 87 Poems for Sabryn from Grampie, Lankowitz, Summer 2008. . . . . . . . . . . . . 87 Poems for Lilly and Oliver by Lucien Kapp (aka Grampie) 2020.. . . . . . . . 90 „The American Way of Life“................................................ 93 Die Pürgg-Transformation................................................. 101 Earthen Hues, Awash und ZenOderNicht................................ 107 Earthen Hues... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Awash....... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Zen oder nicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Literaturverzeichnis. . ....................................................... 123 Bildnachweis................................................................ 125
„Es ist etwas Entsetzliches, wenn man beginnt, die kreative Arbeit durch die Formulierung einer Theorie zu ersetzen. Ich behaupte, dass geniale Schöpfer keine Theorie schufen, sondern Kunstwerke, an denen man später Theorien entwickelte.“ (Natalia Gontscharowa 1912: Brief an den Herausgeber)
„Jedes Kunstwerk ist Kind seiner Zeit. […] So bringt jede Kulturperiode eine eigene Kunst zustande, die nicht mehr wiederholt werden kann.“ (Wassily Kandinsky 1912: Über das Geistige in der Kunst.)
„I paint within the limitations of the prevailing mode. Its time in the continuum seems right.“ (Lucien Cyril Kapp 1960)
„Wir werden vom Kunstwerk als einer ‚Form‘ sprechen. […] Eine Form ist ein gelungenes Werk, das Ziel einer Produktion und Ausgangspunkt einer Konsumtion ist, die der ursprünglichen Form immer wieder neu von verschiedenen Perspektiven her Leben gibt.“ (Umberto Eco 1962: Das offene Kunstwerk)
Abb. 1: Lucien C. Kapp 2016 in seinem Atelier, auf der Staffelei ein noch unfertiges Bild von Maria Lankowitz.
Weltverdichtung
Der amerikanische Maler, Grafiker, Poet und Designer Lucien Cyril Kapp, geboren 1933, Nachfahre deutscher Einwanderer und mit einer Österreicherin verheiratet, hat im Laufe von fast 70 Jahren ein umfangreiches Werk geschaffen. Sein abstrakt-expressionistischer Weg ist von drei Erinnerungslinien und Erlebnisorten bestimmt: zunächst von seiner Heimat Illinois, einst Siedlungsgebiet indigener Völker wie der Cahokia, der Menominee oder der Illini, sodann von der asiatisch-japanischen Kunst, die er als junger Künstler während seines zweijährigen Dienstes in der US-Navy kennengelernt hatte, und schließlich von seinen vielen Aufenthalten in Österreich, vor allem in der westlichen Steiermark. In diesen drei Gedankenwelten entwickelte Lucien Kapp seine unverwechselbare Formensprache, berührt vom Surrealismus und den „Mythmakers“ der 1940er Jahre. Dabei verleiht er dem Bildtitel eine neue, vom Werk untrennbare Rolle, in der Semantik und Bild den Betrachter, die Betrachterin herausfordern. Während sich viele Künstler, vor allem in den Großstädten, der Pop-Art zuwandten, fand Kapp in der Abstraktion seiner Erinnerungen und seiner Sicht des „American Way of Life“ einen neuen Weg einer „Weltverdichtung“. Der Unruhe der künstlerischen Richtungen dieser Jahrzehnte setzte er einen inneren Fantasiestrom entgegen, der dem Abstrakten Expressionismus eine Brücke in die Gegenwart schlägt.
„Ich habe meine Gründe vergessen …“ Urteilsfragen
Die Zitate, die ich dieser Arbeit über den amerikanischen Maler Lucien Cyril Kapp vorangestellt habe, reflektieren eine unbeantwortbare Frage: Wer hat die Deutungshoheit über ein Werk, über ein Bild? Was ist die legitime Herangehensweise? Die des Künstlers, der Künstlerin oder die der Rezipierenden, der „Konsumtion“, sei es durch Kauf oder Betrachtung? Kommt es in erster Linie darauf an, was der Künstler und die Künstlerin „meinen“ oder kommt es darauf an, was der Betrachter und die Betrachterin sehen oder zu sehen vermeinen? Oder gibt es eine Instanz, die aufgrund ihres „Wissens“ das letzte Wort hat? Diese Fragen stellen sich vor allem auf dem Gebiet der abstrakten Kunst in all ihren Spielarten, ob Expressionismus, Kubismus, Orphismus oder Suprematismus, und sie laufen auf das Paradox hinaus: Kann etwas Kunst sein, das nicht die Natur oder die Wirklichkeit zum Vorbild hat? Das nichts bedeutet, nichts erzählt? Nicht nur kunstinteressierte Laien stellten sich diese Frage, sondern auch die Kunstgeschichte musste ihre Methoden prüfen. Nicht selten – das gilt für Eugène Delacroix ebenso wie für Wassily Kandinsky oder Barnett Newman – stehen Künstler den Deutungen von Kritikern und Kunsthistorikern kritisch, sogar ablehnend gegenüber.1 Marc Rothko wollte angeblich sogar verbieten, dass man seine Werke kommentiert, was sich natürlich nicht verwirklichen lässt. Das Misstrauen ist zum einen darin begründet, dass Worte ein bildnerisches Werk nicht adäquat wiedergeben, sondern nur in einem anderen Medium, eben in dem der Sprache, beschreiben können. Ein Wort scheint ebenso zu passen wie ein anderes oder wie ein drittes, obwohl die Augen dasselbe Bild, dasselbe Kunstwerk oder, um einen Begriff Ecos zu verwenden, die gleiche „Form“ sehen.2 Dass die Wahl der Worte und der Ansatz und Schwerpunkt einer Beschreibung wiederum von der „Absicht“ – gewis1 2
Kandinsky, Wassily, Über die Formfrage [1912], in: Der Blaue Reiter, hrsg. von Wassily Kandinsky und Franz Marc, dokumentarische Neuausg. hrsg. von Klaus Lankheit, Jubiläumsausg., München 2004, 133. Auf den zu seiner Zeit berühmt-berüchtigten Topos Heinrich Wölfflins „Jede Zeit sieht anders“ – an den viel später der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg anschließt –, sei hier nur kurz verwiesen.
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sermaßen von der Poetik – des Interpreten, der Interpretin abhängen, verweist auf die Komplexität der Kunstbeschreibung und Kunstkritik.3 Und während ein Bild mehr oder weniger simultan erfasst wird, muss es in jeder Beschreibung einen Anfang und ein Ende geben. Die Reserviertheit mancher Künstler gegenüber Kunstgeschichte und Kunstwissenschaft ist aber auch darin begründet, dass die Kunst-Geschichte als ihre inhärente Aufgabe in die Vergangenheit blickt. Nicht immer allerdings. Am Beginn der „neuen“ Kunst auf ihrem Weg in die Abstraktion standen auch Protagonisten wie Hugo Tschudi oder Wilhelm Worringer für eine Kunstkritik, die sich mit der Kunst ihrer Gegenwart befasste.4 Und es ist schließlich darin begründet, dass wir mit jedem Bild, mit jedem Werk, wenn wir es betrachten, auch das weite Umfeld seiner Entstehung mitdenken, das künstlerische, das politische, das kulturelle, wenn wir es „verstehen“ wollen. Umberto Eco spricht von der „Poetik“ eines Werks (nicht nur der bildenden Kunst) und meint damit das „Operativprogramm“, das einem Werk zugrunde liege, teils bewusst angewendet, teils unbewusst. Er verweist in diesem Zusammenhang auf den Kunsthistoriker Alois Riegl, der dies um 1900 mit dem Begriff des „Kunstwollens“ habe fassen wollen,5 und auf Erwin Panofskys „letzten und endgültigen Sinn“ eines Kunstwerks.6 Doch während Riegls „Kunstwollen“ – der Begriff hat sich in der Kunstgeschichte nicht durchgesetzt und Riegl lebte nicht lange genug, um ihn modifizieren zu können –, das sich dem Kunstwerk als Form nähert, durchaus auf die abstrakte Kunst anwendbar scheint , bezieht sich Panofskys Konzept auf den Inhalt eines Werks, auf das, was es darstellt oder meint beziehungsweise was es zu seiner Zeit meinte. Er konnte sich daher auch 3
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Die Verzweigung der Ikonologie im Laufe der Jahrzehnte hat das Symposium Frankfurter Schule und Kunstgeschichte von 1991 offengelegt, wesentlich mitgestaltet und zusammengefasst von Johann Konrad Eberlein. Ders., Kunstgeschichte und Frankfurter Schule. Ein Rückblick, in: Frankfurter Schule und Kunstgeschichte, hrsg. von Andreas Berndt, Peter Kaiser, Angela Rosenberg und D. Trinkner, Berlin 1992, 191 ff. Die Tagungsbeiträge legen u. a. die besondere Position dialektischer Modelle offen, die auf eine Einbeziehung der Ästhetik und auf eine Wertung nicht verzichten wollen. Eberlein betont in seinem Beitrag etwa die besondere Rolle Wölfflins, der unter Hintanstellung der Inhalte der Form eine „neue Gewichtung“ gegeben habe. Worringer, Wilhelm, Abstraktion und Einfühlung, München 1959 [Erstausg. 1908]. Über die Bedeutung Worringers in Beziehung zu Kandinsky und zur Vorstellung von Abstraktion handelt ausführlich Sabine Flach. Dies., Die Wissenskünste der Avantgarden. Kunst, Wahrnehmungswissenschaft und Medien 1915–1930, Bielefeld 2016. Riegl, Alois, Die spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901/1927. Eco, Umberto, Das offene Kunstwerk, Frankfurt 1990 [Erstausg. 1962], 10 ff.
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Abb. 2: Lucien Kapp: Kruzifixus, 1966, 20 x 14 cm, Sepiatusche.
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zeitlebens mit der abstrakten, „inhaltslosen“ Kunst nicht anfreunden.7 1951 kam es aus diesem Grund zur Kontroverse mit Barnett Newman, einem der Hauptvertreter der Farbfeldmalerei. Der Dreischritt Panofskys von Beschreibung (Inhalt), Ikonografie und Ikonologie verhakt sich hier schon bei der Beschreibung. Was die ikonologische Ebene der Bild- oder Handlungsinterpretation betrifft – ich verwende hier absichtlich nicht die Begriffe „Tiefe“ oder „letzter Sinn“ –, so hat diese immer auch eine soziologische Komponente, die über das Werk hinausgreift auf das Umfeld des Künstlers oder des Handelnden. Nicht von ungefähr war der Philosoph und Soziologe Karl Mannheim der Erste, der noch vor Panofsky diese dritte Ebene der Interpretation herausarbeitete.8 Bemerkenswert ist es, dass die Vorstellung des „Kunstwollens“ von Riegl viel öfter in philosophische oder soziologische Gedankenmodelle eingeflossen ist als in kunsthistorische Ansätze.9 Auch Karl Mannheim beruft sich auf Riegl. Das Gemeinsame an den Gedankenmodellen von Eco, Riegl, Mannheim und Panofsky (und anderen Kunsthistorikern und Theoretikern) ist, dass ein Kunstwerk zwar nur einmal gemacht, aber dann im Laufe der Zeit hundertund tausendfach rezipiert und interpretiert wird, dass es im neukantianischen Sinn jedes Mal „neu geschaffen“ wird und „offen“ bleibt, obwohl es in sich vollendet ist. Von dem in sich vollendeten, dem „fertigen“ Kunstwerk geht Karl Mannheim aus: Man könne ein Kunstwerk soziologisch, philosophisch, psychologisch oder aus der Perspektive der Semiotik oder der Konfession untersuchen, oder man könne es naiv auf sich wirken lassen. Es sei jedenfalls zunächst es selbst, trete uns in „originärer Einstellung“ gegenüber und scheine zu sagen: „Ich habe meine Gründe vergessen.“10 7
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Panofsky, Erwin, Drei Jahrzehnte Kunstgeschichte in den Vereinigten Staaten. Eindrücke eines versprengten Europäers, in: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978 [Engl. Erstausg. 1955], 373–406. In diesem wenig beachteten Aufsatz beginnt er mit einer Skizze der Entwicklung der Kunstgeschichte zu einer „deutschen“ Wissenschaft und ihrer Wandlung durch die Emigration vieler Wissenschaftler in den 1930er Jahren nach England und in die USA. Mannheim, Karl, Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation, in: Jahrbuch für Kunstgeschichte I (XV) 1921/22, 236–274. Mannheim beobachtet einen Freund, wie dieser einem Bettler ein Geldstück gibt. U. a. spricht Arnold Hauser in seinen Schriften (1953 und später) vom Kunstwollen und verwendet den Begriff ohne Anführungszeichen. Mannheim, Karl, Über die Eigenart kultursoziologischer Erkenntnis [1922], in: ders., Strukturen des Denkens, hrsg. von David Kettler, Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt am Main 1980, 69 f. Einprägsam die Positionierung: Das Kunstwerk tritt uns gegenüber und spricht mit uns.
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Abb. 3: Wassily Kandinsky: Reiter, Abbildung im Blauen Reiter, 1912.
Kandinsky hingegen meint in Über das Geistige in der Kunst: „Verstehen ist das Heranbilden des Zuschauers auf den Standpunkt des Künstlers“.11 In seinem zu gleicher Zeit entstandenen Beitrag im Almanach Der Blaue Reiter – von dem weiter unten noch zu sprechen sein wird – nennt er in linguistischer Ausdrucksweise den Künstler „Absender“ und den Betrachter „Empfänger“. Letzterer müsse dem Künstler folgen. Er spinnt den Gedanken nicht weiter zu der Überlegung, dass der Absender einmalig ist, die Empfänger aber sozusagen vielmalig sind. Hier tritt schon auf, was die russischen Expressionisten auch in den späteren Jahren von den französischen und amerikanischen unterscheiden wird: Sie wollten nicht nur eine neue Kunst, sondern einen neuen Menschen bilden. Diesen Anspruch sollten dann auch die Bauhaus-Künstler erheben. Doch findet sich im Blauen Reiter auch die Überlegung des geistig aktiven Rezipienten. Unter dem Aspekt des „Absenders“ und des „Empfängers“ schreibt Roger Allard in Die Kennzeichen der Erneuerung in der Malerei: „[Camille Mauclair] vergisst, dass zum Genuss eines Kunstwerks zwei schöpferische Wesen gehören: einmal der Künstler, der es schafft, der große Erreger und Erfinder, und 11
Kandinsky, Wassily, Über das Geistige in der Kunst, mit einer Einführung von Max Bill, 10. Auflage, Bern 1952, 26.
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zum anderen der Beschauer, dessen Geist den Rückschluss zur Natur finden muss – je weitere Wege beide wandern, um sich schließlich am selben Ziel zu finden, desto schöpferischer arbeiten beide.“12 In Bezug auf den Begriff „Abstraktion“ sei hier noch einmal Kandinsky zitiert. Jede Kunst, so meint er, bewege sich zwischen der großen Realistik einerseits und der großen Abstraktion andererseits in vielen Kombinationen. Doch an den Polen treffen sich die Begriffe: Realistik sei zugleich immer auch Abstraktion, Abstraktion sei zugleich immer auch Realistik. Beide würden auf ihre Weise ihren „inneren Klang“ ausdrücken.13 Kasimir Malewitsch geht dann noch einen Schritt weiter: Alles „Wert-Volle“ beruhe doch nur auf unserem jeweiligen Welt-Bild und breche mit diesem zusammen, auch die Abstrahierung des Gegenstandes. Nur die gegenstandslose Welt, das „Nichts“, der Suprematismus, sei Freiheit.14 Umberto Eco geht von einem „Plan“ des Künstlers aus, von einer gedachten Ordnung, eben einer „Poetik“. Die „Poetik“ Ecos ist jedoch nicht weit entfernt vom Begriff der „inneren Notwendigkeit“ eines Werks, das die Schriften Kandinskys durchzieht, außer dass Kandinsky als Künstler das Gefühl miteinschließt.15 Das Gefühl (des Künstlers) zu erkennen, wäre aber ein von der Wissenschaft hoch gegriffenes Endziel. Es ist nicht gleichzusetzen mit der dritten Stufe der Bilderkenntnis der ikonologischen Forschung, die Panofsky „letzten Sinn“ nennt. Doch ist es legitim, es zu versuchen, sofern man außerkünstlerische Zeugnisse von der Denkweise eines Künstlers hat – wie es bis zu einem gewissen Grad für Lucien C. Kapp zutrifft, da er zwar keine „Erklärungen“ seiner Werke liefert, aber kuriose „Poems“ und persönliche Eindrücke, wenn er betont, dass jedem seiner Werke die Erinnerung an eine Lebenssituation zugrunde liegt. Etwa zur gleichen Zeit wie Umberto Eco hatte in den USA der Kunstkritiker und Kunsttheoretiker Clement Greenberg von der „Offenheit“ eines male12 13
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Allard, Roger, Die Kennzeichen der Erneuerung in der Malerei, in: Der Blaue Reiter, 77–87, 80. Kandinsky, Formfrage, 132–182. Sabine Flach bietet im umfangreichen, elaborierten Überblick über die Vorstellungen und das Wesen der Abstraktion diese Definition: „Abstraktion ist ein Oszillationsphänomen in dem Sinne, dass sie einerseits immer an die ganz grundsätzliche Disponiertheit der Welt in einer Erfahrung angebunden ist. Andererseits ist sie genau das Medium durch das sich diese je spezifische Erfahrung überhaupt erst aufbauen kann.“ Flach, Wissenskünste, 293. Ich paraphrasiere hier aus verschiedenen, oft nicht direkt zusammenhängenden Passagen aus Malewitschs umfangreichem, nicht fertiggestelltem Manuskript von 1922 und 1927. Kasimir Malewitsch, Suprematismus – Die gegenstandslose Welt, übers. von Hans von Riesen, Köln 1962. Als eines von vielen Beispielen sei hier genannt: Der Blaue Reiter, 189 ff.
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rischen Werks als Qualität im Sinne des Schweizer Kunsthistorikers Heinrich Wölfflin gesprochen.16 Wölfflins Werk von 1915 über kunsthistorische Grundbegriffe, mit denen er epochenübergreifende, antithetische Eigenheiten der Malerei feststellte – etwa das „Malerische“ des Barock im Gegensatz zum „Linearen“ der Renaissance –, war 1932 ins Englische übersetzt worden. Greenberg sah „Offenheit“ zunächst im Verzicht auf konturierte, grafische oder räumliche Elemente, wie bei Rothko oder Still, als Qualitätsmerkmal einer Höherentwicklung der Malerei. Solche qualifizierenden teleologischen Denkmodelle waren in Europa schon überholt, um nicht zu sagen: verpönt. Und dies nicht nur infolge „völkischer“ Charakterisierungen von Kunst, die für politische Zwecke instrumentalisiert wurden, sondern auch weil die neuen drucktechnischen und publizistischen Möglichkeiten die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) hatten zutage treten lassen.17 Auf den in den USA wirkenden Erwin Panofsky, einem Gegner der Abstraktion, geht Greenberg nicht ein. 1960 (und erweitert 1975) verlegt Hans-Georg Gadamer die Verantwortung des Verstehens ganz in den Betrachter: Die Ikonografie zu erkennen, bedeute noch nicht, das Werk zu verstehen. Auch buchstabieren können, heiße noch nicht lesen können. „Indem von allem abgesehen wird, worin ein Werk in seinem ursprünglichen Lebenszusammenhang wurzelt, von aller religiösen oder profanen Funktion, in der es stand und in der es seine Bedeutung besaß, wird es als das ‚reine Kunstwerk‘ sichtbar.“18 Es gehe darum, die Frage zu erkennen, die das Werk stellt, und dann eine Antwort zu finden. Was bedeute, ein Werk zu verstehen, sei ein „Wiedererkennen“ nicht nur als Abbildung der Wirklichkeit, sondern auch in der Abstraktion. Einen Picasso zu beschreiben, bedeute noch nicht, das Bild zu verstehen. Denn das Werk sei eingebettet in eine Kultur und in eine Zeit, in einen Erlebnisstrom, dessen sich der Künstler, die Künstlerin auch selbst nicht bewusst sein könne. Dabei sei es unerlässlich, methodisches Wissen anzuwenden, dessen Gebrauch man erlernen müsse. Und erst nach einem „ganzen Prozess der inneren Ausbildung“ fange man an, „die richtigen 16
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Eine komprimierte Darstellung der Kunsttheorie Greenbergs findet sich bei AnneGrit Becker, After Abstract Expressionism oder Clement Greenbergs Qualität der „Offenheit“, in: ALL-OVER 1, Juli 2011, URL: https://allover-magazin.com/?=326 (04.07.2023). Umberto Eco zeigte sich irritiert darüber, dass ihm von „einigen Malern und Romanschreibern nach der Lektüre (seines) Buches“ die Frage gestellt wurde, ob er ihre Werke für „offen“ halte. In: Eco, Kunstwerk, 11. Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik, Bd. I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990 [Erstausg. 1960], 91.
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Gesichtspunkte“ zu finden. 19 Man kann es als Plädoyer für die Wissenschaft Kunstgeschichte verstehen. Wassily Kandinsky, Franz Marc, David Burljuk oder Kasimir Malewitsch haben als Künstler zugleich mit ihren Werken auch ihre Gedanken, mit den Worten Ecos ihre „Poetiken“, dargelegt, die unterschiedlicher nicht sein können, aber insgesamt Wegweiser der Denkfiguren der abstrakten Kunst wurden, auch dort, wo ein Künstler, eine Künstlerin sich nicht in Schrift und Theorie geäußert hat.20 Wie Gadamer fordert, müssen wir lernen – und zwar auf fundierte Weise – ein Kunstwerk zu „lesen“, auch wenn wir die Ikonografie nicht verstehen oder, wie in der gegenstandslosen Kunst, vermeintlich keine solche erkenntlich ist. Denn es handle sich letztlich um ein „Wiedererkennen von etwas“.21 Hier kommt der dritte Akteur neben dem Künstler und dem Rezipienten ins Spiel, die Vermittlerin und der Vermittler oder, im Sinne Mannheims, der Beobachter und Forscher. Dieser ist selbst in einer Doppelrolle als Empfänger und Interpret, als „neuer Schöpfer“ einerseits und als „Transformator“ andererseits, der eben jenes historische, politische und kulturelle Umfeld absucht, in dem jedes Werk, auch das gegenstandslose, entstanden ist. Sehr deutlich formuliert dies Gadamer: „Daraus folgt auch – was die Hermeneutik nie vergessen sollte –, dass der Künstler, der ein Gebilde schafft, nicht der berufene Interpret desselben ist. Als Interpret hat er vor dem bloß Aufnehmenden keinen prinzipiellen Vorrang an Autorität.“22 Erstmals wurde die Forderung, Kunstwerke in ihrem historischen und sozialhistorischen Zusammenhang zu betrachten, im 18. Jahrhundert von dem Historiker Herman Grimm (ein Sohn des Germanisten Wilhelm Grimm) formuliert, noch bevor sich die Kunstgeschichte als eigene Wissenschaft etabliert hatte und ein halbes Jahrhundert, bevor die abstrakte Kunst zum Thema der Interpretation wurde. Der Forscher, die Forscherin sucht den Überblick, ohne das Einzelne aus den Augen zu verlieren. Oder vielmehr vollzieht sich ein umgekehrter Vorgang: 19 20
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Ebd., 142 f. Neben Umberto Ecos semiotischer Position hat sich die prominente „HandlungsTheorie der Kunst“ etabliert, Arthur C. Dantos auf die Pop-Art reagierende Die Verklärung des Gewöhnlichen von 1981 (Engl. Erstausg. Transfiguration of the Common Place, 1981), die dem Rezipienten wenig Platz für den eigenen schöpferischen Akt belässt. Gegen eine Definition, dass Kunst sei, was (sich) dafür erklärt, ist vor allem Adorno aufgetreten, aber auch Arnold Hauser in seinen kunstphilosophischen und kunstsoziologischen Schriften 1953 ff. Gadamer, Hans-Georg, Über das Lesen von Bauten und Bildern [1979], in: ders., Ästhetik und Poetik I. Kunst als Aussage, Tübingen 1993, 331–338. Gadamer, Hermeneutik, 196.
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Viele Einzelne reihen sich aneinander, reihen sich in andere Einzelne anderer Künstler, Künstlerinnen, in Kunstwerke anderer Zeiten ein oder sondern sich ab und bilden eigene Zweige aus. So ist auch die Autorin dieser Arbeit über das Werk des Malers Lucien Cyril Kapp vorgegangen, um, mit Gadamer und Mannheim zu sprechen, zu einem „Wiedererkennen von etwas“ zu gelangen, das „seine Gründe vergessen hat“.
Der Künstler
„My time, my lasting memories began at Decatur, Illinois in 1933. The prairie there is a fertile bleakness – a black earth stratum to infinity – much too bare to sky, yet I am held to it.“ (Lucien C. Kapp 1960)
Lucien Cyril Kapp wird am 25. Juni 1933 in Decatur im Staat Illinois als Sohn von Horace Kapp, einem Makler an der Getreidebörse und Nachfahren deutscher Einwanderer, geboren. Nach dem frühen Tod seiner Mutter Mildred Beggs Kapp wird Lucien bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr von dem Kindermädchen Dolores, einer Afroamerikanerin, betreut. Man kann davon ausgehen, dass dies zu seiner späteren offenen Weltsicht beigetragen hat. Amerika war nach dem Börsencrash von 1929 auf einem wirtschaftlichen Tiefpunkt angelangt, von dem die Familie aber weitgehend verschont blieb. Lucien wächst ohne Geschwister auf Abb. 4: Lucien C. Kapp, Foto, um 1960. und wird in dem in Illinois weit verbreiteten presbyterianischen Glauben erzogen. Der Vater nimmt seinen Sohn auf seinen Reisen mit, auf denen der heranwachsende Junge Eindrücke sammeln kann, die sich Gleichaltrigen sonst nicht bieten. In den Pfadfindern findet er eine erweiterte Familie. Nach einigen Jahren heiratet der Vater wieder.
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Der Künstler
Abb. 5: Scouts Troop 3 im zerstörten Berlin, Foto 1949.
Lucien ist jung genug, um nicht in den 2. Weltkrieg ziehen zu müssen, aber nach dem Krieg ist er alt genug, um 1948 und 1949 an zwei über mehrere Monate ausgedehnte Pfadfinder-Camps in Europa teilnehmen zu können, die er akribisch in Tagebüchern festhält. Die Dauer der beiden Europareisen in viele kriegszerstörte Städte hinterlässt bei den jungen Männern nicht nur SommerErinnerungen, sondern auch tiefe Betroffenheit über die Kriegszerstörungen. An eine künstlerische Ausbildung scheint Lucien damals noch nicht gedacht zu haben, jedenfalls hat er die Besuche und Besichtigungen von Kirchen und Museen nur mit allgemeinem Staunen notiert. Die Zerstörung der Städte hingegen, vor allem in Deutschland, und sogar einige ehemalige Schlachtfelder sieht er mit Bestürzung (Abb. 5). In Heidelberg lernt er eine deutsche Familie kennen, mit deren Sohn er sich anfreundet. Bemerkenswert ist eine Eintragung des damals Sechzehnjährigen, dass Krieg nicht die Zukunft der Menschen sein könne. Der knappe Stil der Tagebücher wird durch die Schilderung seines ersten Flugerlebnisses unterbrochen – der Atlantik wurde mit dem Schiff überquert –, das die Gruppe von Frankfurt über die sowjetische Zone hinweg ins zerstörte Berlin führt. Die Luftbrücke der Amerikaner war erst vor wenigen Wochen beendet worden. Man findet sich plötzlich in einer kleinen Kurzgeschichte wieder, in den von Aufregung und
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Abb. 6: Lucien Kapp, Sceaux, Franc 1948. Troop 3 Encampment with Field Kitchen, 1987, 15 x 28 cm, Gouache.
Spannung erfüllten Beobachtungen eines amerikanischen Jugendlichen inmitten der Zerstörungen und der ärmlichen Verhältnisse Deutschlands. Man kann erahnen, dass der Erlebnishorizont und die Weltbeobachtung des jungen Mannes über Tagebuchnotizen hinausgehen. 1984 hat Lucien Kapp seine Erinnerungen an den Pulk von Pfadfindern, den jungen amerikanischen Männern, die mit ihren Zelten und den Begleitfahrzeugen durch Europa gereist sind, körperhaft dicht in einer Gouache festgehalten (Abb. 6). Die lokalen Zeitungen von Illinois brachten damals Artikel über die fast unüberwindbar steilen Berge in Österreich, aufgrund derer die Scouts des Troop 3 aussteigen und neben den Fahrzeugen zu Fuß die Bergstraße bezwingen mussten. Auch wenn aus den Reise-Tagebüchern kein ausdrückliches Interesse an Kunst herauszulesen ist, außer ein paar Erwerbungen von kleinen Antiquitäten, werden diese Aufenthalte in der Kultur der „alten Welt“, der Heimat seiner Vorfahren, dazu beigetragen haben, dass er nach der Highschool beschließt, ein Studium für Advertising Design an der University of Illinois (U of I) zu beginnen (Abb. 7). Er schließt es 1955 ab und schreibt sich in Folge auch für Malerei ein. Advertising Design hatte sich, trotz seines europäischen Ursprungs, in den USA gewissermaßen als Hauptzweig der angewandten bildenden Kunst etabliert,
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nicht zuletzt, weil es in den USA in den Nachkriegsjahren mehr zu bewerben gab als in Europa. Ob Kapp dabei vielleicht auch durch die presbyterianische Tugend zur „Nützlichkeit“ geleitet wird, muss dahin gestellt bleiben. Seine Familie lässt ihm freie Hand. Doch muss er zunächst seinen Dienst in der US-Navy erfüllen, der ihn für fast zwei Jahre in den Fernen Osten führt. Die Jahre 1956 und 1957 bringen ihn mit der fernöstlichen Kultur und Kunst, vor allem Japans, nicht nur oberflächlich in Berührung. Der junge Grafiker und angehende Maler lernt mit anderen Augen zu sehen und erhält bleibende Eindrücke. Mehrere seiner Werke verweisen später ausdrücklich auf diese Erfahrungen. Zu dieser Zeit beginnt er mit einer großen Sammlung an, teilweise auch japanischen, Druck- und Malpapieren. Zurück in den USA nimmt er sein Malerei-Studium an der University of Illinois wieder auf. Die abstrakte Malerei hatte sich nach dem Krieg von ihren europäischen Vorbildern emanzipiert. An Marc Rothkos großformatigen Leinwänden, an Robert Motherwells Farbfleckenmalerei, an Sam Francis’ kalli-
Abb. 7: Lucien Kapp: Luftfahrt, Designstudien 1953 und 1955, 25 x 15 cm, Mischtechnik.
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Abb. 8: Lee Chesney, Wedding Party, 1959, 15 x 28 cm, Kupferstich und Kaltnadel-Radierung.
grafisch pointierter Flächenbeherrschung, an William Baziotes’ Farblinien, an Clifford Still, Jackson Pollock und Arshile Gorky kam ein angehender Künstler in diesen Jahren nicht vorbei. Lucien Kapps Lehrer sind Lee Chesney, der die Abstraktion mit den Tiefdrucktechniken verband (Abb. 8), und im letzten Studienjahr Lawrence Calcagno, der seinerseits bei Marc Rothko studiert hatte. Spätestens jetzt ist Kapps Weg in den abstrakten Expressionismus endgültig eingeschlagen, wenngleich die strenge Farbfeldmalerei eines Rothko oder eines Calcagno keine direkten Vorbilder werden, sondern eher die lockere Auffassung der Fläche von Lee Chesney oder die lebendige Expression eines Jackson Pollock, eines Sam Francis oder eines Arshile Gorky. Kapp bleibt aber auch der japanischen Kunst verbunden, die er gewissermaßen an der Quelle kennengelernt hatte. 1959 schließt er sein Studium ab. In diesem Jahr bereist der Japaner Shiko Munakata, der für seine spontanen Holzschnittarbeiten und seinen Glauben an die transzendentalen Kräfte im Künstler besonders im Westen Erfolge feiert, die USA und stellt ein Jahr lang im ganzen
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Abb. 9: Lucien Kapp: In the Shadow of Munakata, 1959, 33 x 15 cm, Holzschnitt.
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Abb. 10: Lucien Kapp: Sangamon River, 1959 (3 von 8 Paneelen). Impression aus der Ausstellung Celestial Fallen Light, Decatur 2016.
Land aus, auch an Universitäten. Er belebt Lucien Kapps japanische Erinnerung, beeindruckt den jungen Künstler, der gerade sein Studium abgeschlossen hat, zutiefst und inspiriert ihn zu einem im Sinne Munakatas empfundenen Holzschnitt (Abb. 9).1 Das Abschlusswerk seines Studiums widmet er dem Sangamon River in seiner Heimat, einst Territorium mehrerer indigener Volksstämme (Abb. 10). Lucien C. Kapps lebenslanges Verbleiben in seiner Geburtsstadt – was ihn im Übrigen nicht nur von vielen Künstlern, sondern von der mobilen amerikanischen Lebensweise überhaupt unterscheidet – legt das Fundament nicht nur für seine Arbeit in der Denkmalpflege, die per se nicht von „Durchreisenden“ wahrgenommen werden kann, sondern auch für seine innere Beziehung zu den Indigenen und deren Vertreibung aus ihrem einstigen Gebiet in Illinois, wo dann seine Vorfahren ihre Heimat gefunden hatten. Dies zeigt auch seine heute beachtliche Sammlung von Artefakten der indigenen Kulturen. 1
Ein Jahr später, 1960, stellt Shiko Munakata seine Holzschnitte im Wiener MAK aus. Dazu Griessmaier, Viktor (Hrsg.), Shiko Munakata. Holzschnitte 1903–1957, Ausst.Kat. Wien, Museum für Angewandte Kunst 1960, Wien 1960, 7 ff. Griessmaier meint, dass „der Japaner“ im Gegensatz zu den Menschen in Europa ein Kunstwerk als etwas Gegebenes sehe, während man in Europa die Kunst „wissen“ und in einen Kontext setzen möchte.
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Der Künstler Abb. 11: Lucien Kapp: Wandleuchte, 2013, 54 x 18 x 15 cm, Messing und Glas.
1950 bis 1960 werden seine Werke in der Annual Exhibition of Central Illinois Artists im Decatur Art Center gezeigt. 1960 bis 1963 unterrichtet er selbst an der Millikin University Malerei und Design, gibt die Lehrtätigkeit aber wieder auf, denn er hält „teaching for a performing art“ und das widerspricht seinem eher introvertierten Wesen.2 Er entwirft Logos für verschiedene Organisationen in Decatur und widmet sich als freier Künstler als Erster in seiner Heimatstadt denkmalpflegerischen Aufgaben.
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Mitteilung seiner Frau Brigitta Kapp.
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Abb. 12: Lucien Kapp: 5 Millikin Place, 2019, 15 x 20 cm, Aquarellfarben und Tinte.
Einer studentischen Vereinigung, der BETA THETA PI, schließt Kapp sich nur während seines vierjährigen Bachelor-Studiums an, sonst meidet er Vereine oder Genossenschaften und auch die im angloamerikanischen Raum beliebten gesellschaftlichen „Clubs“.3 Er nimmt jedoch an Ausstellungen teil und erhält Preise für Ölmalerei.4 1970 bis 1973 stellt er bei Olivia Associates in New York aus. Seine Werke befinden sich in verschiedenen privaten Sammlungen in den USA und in Österreich. Durch seine Designausbildung hat Kapp auch die strenge, bestimmten Objekten und Aufträgen „dienende“ Sprache der angewandten Kunst in sich aufgenommen, die eines Frank Lloyd Wright (die ihrerseits auch das japanische Idiom kannte), die des Bauhauses und auch die der Wiener Werkstätte und ihrer schottischen Verwandten. Sie spiegeln sich in seiner eigenen Designtätigkeit, etwa in verschiedenen Entwürfen für Leuchten (Abb. 11). Nicht zuletzt ist seine heimat3 4
BETA THETA PI (ΒΘΠ) ist eine der ältesten Studentenverbindungen in den USA. Sie legt ihren Schwerpunkt, auch international, auf geistige Anstrengungen und gegenseitige Hilfe. Zum Werk Lucien C. Kapps siehe Harold, Margaret, Prize Winning Oil Paintings. And Why they Won the Prize, Nashville, Tenn. 1960.
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liche Region in Illinois eines der Wirkungsgebiete von Frank Lloyd Wright gewesen. In seinem Haus in Decatur finden seine Inspirationen, die er von außerhalb, zum Teil aus seiner zweiten Heimat Österreich, mitbringt, ihren Ausdruck und ihre Realisierung. Das späte „Porträt“ seines Hauses, eines der wenigen fast gegenständlichen Motive, verbindet seine künstlerische Verwandtschaft mit der Strenge eines Frank Lloyd Wright einerseits und der Leichtigkeit eines japanischen Striches andererseits miteinander (Abb. 12). Dass Kapp sein Elternhaus – in dem er mit Unterbrechungen während der ersten Ehejahre sein gesamtes Leben verbringt – so „erkennbar“ wiedergibt, ist vielleicht auch der Tatsache geschuldet, dass ihm bis heute die Erhaltung alter Gebäude oder die Mitarbeit bei der Rekonstruktion und Restaurierung sehr am Herzen liegt. 1966 lernt Lucien Kapp in Decatur die aus dem weststeirischen Wallfahrtsort Maria Lankowitz stammende Studentin Brigitta Schallhammer kennen, die von einem älteren Ehepaar als Begleiterin von deren Reisen durch die USA engagiert worden war. Er heiratet sie 1968 in ihrem Heimatort und tritt zum katholischen Glauben über. Dessen mystisch-ästhetische Komponente berührt seinen künstlerischen Geist mehr als die spröde Umgebung der Presbyterianer seiner Kindheit. 1970 wird die Tochter Sabrina, 1973 der Sohn Florian geboren. Sie bestimmen nun nicht unwesentlich den Alltag des Künstlers. So entwirft er auch eine Wiege für seine Kinder (Abb. 13). Es folgen Jahrzehnte hindurch jeden Sommer, gelegentlich auch um die Weihnachtszeit, mehrwöchige Aufenthalte in Österreich. Was ihn künstlerisch und seelisch inspiriert – die Ausrichtung des Katholizismus zu einem Jenseits hin –, beeinflusst nicht sein alltägliches Handeln. Hier behält die strenge presbyterianische Erziehung die Oberhand, die die familiäre Pflicht gegenüber seiner Gastgeberfamilie, der Familie seiner Frau, über sein persönliches Interesse nach ungestörter künstlerischer Betätigung stellt. Lucien C. Kapp lernt die deutsche Sprache, um sich mit der Familie seiner Frau und deren Freunden, aber auch mit der ortsansässigen Bevölkerung unterhalten zu können. Und er singt im Kirchenchor mit und studiert mit der Organistin, einer pensionierten Englischlehrerin, einige amerikanische Kirchenlieder ein. Mit dem in Maria Lankowitz ansässigen Maler und Bildhauer Anton Hafner verbinden ihn freundschaftliche Gespräche, obwohl die beiden Künstler nicht den gleichen Zugang zur Kunst haben. Die Kultur Österreichs, vor allem der Steiermark, nimmt er in unzähligen kleinen Reisen auf – Museen, Galerien, Schlösser, Kirchen und Burgen. Er wandert nicht mit einem Skizzenblock herum. Ein Fotoapparat und sein Erinnerungsvermögen sind seine ständigen Begleiter. Den
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Abb. 13: L. Kapp: Wiege, 1970.
großen Fundus an Motiven, Skizzen und Fotografien aus seiner „zweiten Heimat“, der Weststeiermark, wird er zum Teil erst Jahre später vollenden oder auch transformieren, als die beiden Kinder des Ehepaares aus dem Haus sind und er sich wieder vermehrt seiner malerischen Tätigkeit widmet. Kapp bereist nicht nur die Steiermark, wo er unter anderem in Graz das Zeughauses besucht und Formen und Gravuren studiert. Sofern es sich mit seiner Familie arrangieren lässt, erkundet er auch andere Gegenden und Städte Österreichs.
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Abb. 14: Lucien Kapp: Crescent Moon over Lankowitz, 1969/2021, 25 x 18 cm, Aquarellfarben, Tinte und Feder.
Die österreichische Welt nimmt Lucien Kapp vor allem durch Fotografien und Skizzen in sein Haus in Decatur mit. In Crescent Moon over Lankowitz von 2021 glaubt man das Objektiv seiner Kamera zu erkennen, die ihn über Jahrzehnte begleitet hat (Abb. 14). Eine zarte Bleistiftzahl unter der Signatur ver-
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Abb. 15: Lucien Kapp: Maria Lankowitz, Weißensteiner Window, 1969/2018 38 x 30 cm, Aquarellfarben und Tinte.
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Abb. 16: Lucien Kapp: Maria Lankowitz. Franziskanerkogel, Kirche und Hauptstraße, 1986, 33 x 25 cm, Gouache.
weist auf eine Bildidee von 1969, während die Ausführung und der Verzicht auf eine innerbildliche Eingrenzung stilistisch seiner Spätzeit entspricht, ebenso wie eine zeitgleich entstandene Innenansicht der Grazer Franziskanerkirche
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Abb. 17: Lucien Kapp: Maria Lankowitz, Austria. Noel Latria, 1976, 70 x 50 cm, Aquarellfarben, Tinte und Pastell.
(Abb. 38). Die daraus resultierende zeitliche Schichtung, die sich in vielen seiner Werke in einer doppelten Datierung manifestiert, erschwert das Nachzeichnen einer stilistischen Entwicklung und stellt zugleich eine interpretative Herausfor-
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Abb. 18: Lucien Kapp bei der Ausstellung 2016. Im Hintergrund Votive Blace von 1960 und Big Spoon with Anatomical Detail von 1954.
derung dar. Sehr bedauerlich ist es, dass der Künstler aus Unzufriedenheit nicht wenige seiner Werke selbst zerstört hat.5 Eines seiner Lieblingsmotive findet er in den „Fensterblicken“ an der Westseite jenes Hauses in Maria Lankowitz, von dem man auf den Kirchturm des Franziskanerklosters und den dahinter aufsteigenden Franziskanerkogel, auf den kleineren Turm des alten Schlosses in der Nähe der Kirche und auf die Dachlandschaft um die Hauptstraße blickt (Abb. 16). Abseits der immer wiederkehrenden „Fensterblicke“ hält Kapp auch seelische Empfindungen in Erinnerung an den Wallfahrtsort in hieratisch anmutenden symmetrischen Einzelmotiven wie Noel Latria fest (Abb. 17). Im Katalog der Ausstellung Celestial Fallen Light in der Anne Lloyd Gallery in Decatur von 2016 fügt der Künstler diesem Werk noch folgende Worte hinzu: „Celestial Fallen Light Ablaze Before Our Solus Chant“. Solche tief empfundenen Erinnerungen wird Kapp in seinen späteren Schaffensjahren öfters in bildbedeckenden Einzelmotiven darstellen, etwa 2022 in Solstice Star (Abb. 69).
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Mitteilung seiner Frau Brigitta Kapp.
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Es erscheint wenig sinnvoll, stilistische Vorbilder eines Künstlers eruieren zu wollen, dessen eigenes Werk sieben Jahrzehnte umfasst. Lucien Kapp hat seine eigene Geschichte mit seiner eigenen Handschrift geschrieben. Hingegen macht es durchaus Sinn, die Situation der neuen, expressionistischen und abstrakten Kunst in Amerika, die dem Wirken Lucien C. Kapps vorangegangen ist, in einigen wesentlichen Stationen zu beleuchten. Auch wenn dies hier nur holzschnitthaft erfolgen kann, zeigt ein Rückblick auf diese Jahre des Ringens um eine Kunst jenseits von „Ab-Bildern“ Kapps Werk in seinen Verwurzelungen einerseits und in seiner persönlichen Stilfindung andererseits.
Die Armory Show 1913 Die Situation der amerikanischen Avantgarde in den 1920er und 30er Jahren und das Aufblühen der abstrakten Kunst in den USA haben ihren Ursprung in zwei impulsgebenden Ereignissen zu Beginn des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts: eine Ausstellung moderner Kunst in New York und ein Almanach über moderne Kunst in München. 1913 fand in New York, im Arsenal eines Regiments in der Lexington Street, unter der Schirmherrschaft von Persönlichkeiten wie Gertrude Stein, Alva Vanderbilt Belmont, Joan Whitney Payson, Isabella Stewart Gardner, Claude Monet und Odilon Redon die nachmals berühmt gewordene Armory Show statt, die „International Exhibition of Modern Art“. Die Ausstellung, die später als Geburtsstunde der amerikanischen Moderne bezeichnet werden sollte, präsentierte neben dem damals noch „modernen“ Impressionismus die europäische Avantgarde, insgesamt 1.250 Werke von Courbet und Van Gogh über Cézanne, Matisse bis zu Kandinsky, Duchamp und Picasso. Einer der Organisatoren war der Maler Walter Kuhn, der, wie viele seiner amerikanischen Zeitgenossen, auch als Cartoonist und Illustrator tätig war. 1911 war er einer der Gründer der Association of American Painters and Sculptors. 1912 reiste er nach Europa, um die Vorbereitungen zur internationalen Werkbund-Ausstellung in Köln 1914 zu besuchen und in der Folge mit Künstlern, Museumsfachleuten und Galeristen, wie
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Max Liebermann und Paul Cassirer in Berlin oder Roger Fry in London, Kontakt aufzunehmen. Letzterer war gerade im Begriff, eine neue Künstlergruppe namens Omega nach dem Vorbild der Wiener Werkstätte zu gründen. Das Revolutionäre der auf der Armory Show ausgestellten Werke sollte durch einen stilisierten Pinienbaum auf dem Ausstellungsplakat symbolisiert werden, den Kuhn von der Pine Tree Flag des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges übernahm. Der als Galerist und Fotograf zu dieser Zeit in New York bereits etablierte Alfred Stieglitz, der die Galerie 291 in der Fifth Avenue führte und ein zahlungskräftiges Publikum hatte, hielt sich abseits. Erst auf den Protest hin, dass die Ausstellung zu Abb. 19: Marcel Duchamp: Akt, eine Treppe herwenige amerikanische Künstler zeige, absteigend, 1911, 146 x 89 cm, Öl auf Leinwand. lud man einige weitere wie Joseph Stella oder Edward Hopper ein. Letzterem erlaubte man, ein einziges Bild, Sailing, auszustellen, das tatsächlich verkauft wurde. Die Futuristen hatten eine Teilnahme abgelehnt. Die Ausstellung erregte großes Aufsehen. Das Publikum war gemischt. Da viele Gratiskarten ausgegeben wurden, flanierten auch Menschen durch die riesigen Räume, denen Galerien und Museen eher fremd waren. Sie waren irritiert von der unnatürlichen Farbgebung expressionistischer Bilder oder den „verzerrten“ Körpern von Matisse. Vielfach überliefert ist die Reaktion des früheren Präsidenten Roosevelt, der die Ausstellung besuchte und ausgerufen haben soll: „Das ist doch keine Kunst!“1 Kandinskys Improvisation Nr. 27 soll man als Bild von Schlachtabfällen bezeichnet haben. Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend, heute im Philadelphia Museum of Art (Abb. 19), wurde verspottet als „Explosion einer Dachziegelfabrik“.2 Was spöttisch gemeint war, zeigt zu1 2
So ähnlich erzählt es auch Steven Marks. Ders., How Russia Shaped the Modern World. From Art to Antisemitism, Ballet to Bolshevism, Princeton und Oxford 2003, 267. Brown, Milton, Die Armory Show. Ein Medienereignis, in: Die Kunst der Ausstellung. Eine Dokumentation dreißig exemplarischer Kunstausstellungen dieses Jahrhunderts,
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gleich, was die Besucher irritierte: nicht die Form, sondern die Behauptung des Inhalts. Denn das Bemühen der Künstler, Bewegung durch Vervielfältigung der Konturen darzustellen, war an sich nicht neu, nicht einmal für ein weniger kunstaffines Publikum. Über das „Zusammenpassen“ von Bild und Titel wird noch zu sprechen sein. Doch gerade Duchamp sollte von den künstlerischen Möglichkeiten in den USA so fasziniert sein, dass er sich dort ansiedelte und die „Idee“ als Kern eines Werkes in Amerika etablierte. Dass das Unverständnis des amerikanischen Publikums so oft zitiert wird, mag an der großen Aufmachung der Ausstellung liegen. Denn auch in Europa nannte man die avantgardistischen Künstler oft „entartet und irrsinnig“ und „Jugendverderber“.3 Die Armory Show gilt zwar als Auslöser der amerikanischen Moderne, doch waren in Künstlerkreisen die Fäden zwischen Europa und Amerika längst dicht verwebt. Natürlich hatte sich in Europa (ebenso wie in Russland, China und Japan) die Kunst in einem ungleich längeren Zeitraum entwickelt als in den Vereinigten Staaten, zumal dort in den vorangegangenen Jahrhunderten vor allem verfolgte oder verarmte Siedler eingewandert waren, auch Glücksritter, die in dem neuen gelobten Land vieles suchten, aber nicht gerade eine neue Kunst. Um 1900 herrschte in den USA noch nicht die kulturelle Müdigkeit, die sich in Europa breit gemacht und zugleich den Boden für eine Avantgarde bereitet hatte.
Der Blaue Reiter 1912 1912, ein Jahr vor der Armory Show, hatten Wassily Kandinsky und Franz Marc in Deutschland den Almanach Der Blaue Reiter veröffentlicht, eine Art Programmschrift der in München ansässigen gleichnamigen Künstlergruppe. Vorausgegangen waren eine mühsame Suche nach finanzieller Unterstützung und teils heftige Kontroversen darüber, welche Künstler in die Schrift aufgenommen werden sollten.4 Der Kampfruf der Künstler lautete: Weg mit der
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hrsg. von Bernd Klüser und Katharina Hegewisch, Frankfurt a. M. 1988, 48–49, hier 49. Siehe auch Davidson, Abraham, Die Armory Show und die frühe Moderne in Amerika, in: Amerikanische Kunst im 20. Jahrhundert. Malerei und Plastik, 1913–1993, Ausst.-Kat. Berlin, Martin-Gropius-Bau, London, Royal Academy of Arts 1993, München 1993, 45–54. Hoberg, Annegret und Friedel, Helmut (Hrsg.), Der Blauer Reiter und das Neue Bild. Von der ‚Neuen Künstlervereinigung München‘ zum ‚Blauen Reiter‘. Städtische Galerie im Lenbachhaus. München, London, New York 1999, u.a. 331. Unter welchen Mühen und jahrelangen Vorarbeiten der Almanach entstanden ist, zeigt der Briefwechsel zwischen Kandinsky und Marc, der in ungewöhnlicher Voll-
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Tradition! Nieder mit der „akademischen“ Kunst! Keine „Weiterentwicklung“, sondern ein radikaler Neuanfang! Die möglichst getreue Nachahmung der Wirklichkeit sollte nicht länger der Anspruch an ein Kunstwerk sein, ebenso wenig wie die „Augentäuschung“ der Perspektive. Die Fläche sei eine Fläche, kein Raum.5 Man suchte die „unverbildeten“ Wurzeln vielmehr in der Volkskunst, in der Kunst Afrikas, der Südseeinseln, in den russischen Ikonen und der japanischen Kunst, die man als die „Urformen“ erachtete. Beim ersten Sichten der Abbildungen im Blauen Reiter fällt die große Zahl an Volkskunst auf. Unter den 141 insgesamt eher kleinformatigen Abbildungen finden sich, neben Reproduktionen der beteiligten Künstler und Künstlerinnen, Volkskunst aus verschiedenen Ländern, mittelalterliche Holzschnitte neben Matisse und Kandinsky und die Naive Malerei Rousseaus neben japanischen Tuschezeichnungen.6 Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zerfiel die Gruppe. Kandinsky kehrte zurück nach Russland, einige Künstler meldeten sich als Kriegsfreiwillige, August Macke und Franz Marc fielen. Doch die Ideen und Freundschaften des Blauen Reiters hatten in Europa und Amerika längst Fuß gefasst, die Beziehungen hatten sich gefestigt.7 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der Amerikaner Albert Bloch, der in seiner Münchner Zeit eine symbolistische Phase durchlebte.8 Er war zunächst mit seiner Familie in Deutschland geblieben, doch als sich die soziale Lage immer mehr verschlechterte, verließ er unter Zurücklassung seiner Bilder 1922 Deutschland und kehrte in die USA zurück.9 Ein anderer Künstler und Autor
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ständigkeit erhalten blieb. Die Briefe handeln nicht nur vom Almanach, sondern reflektieren die Situation der Zeit. Als Verehrer der italienischen Futuristen schrieb z. B. Marc 1912 an Kandinsky: „Die Pariser Cubisten sind jetzt meistenteils von den Futuristen angesteckt, aber schlecht, unintelligent und äffisch.“ Wassily Kandinsky – Franz Marc: Briefwechsel. Mit Briefen von und an Gabriele Münter und Maria Marc, hrsg., eingel. und komm. von Klaus Lankheit, München 1983, 198 f. Bekanntlich war dies ja auch schon der Ansatz bei William Morris um die Mitte des 19. Jahrhunderts. In seinen Schriften erteilt Arnold Hauser der Vorstellung, die Kunst eines Volkes sei eine Art Ur-Kunst, mehrmals eine Abfuhr: Prinzipiell sei in der „Volkskunst“ der Künstler immer auch Rezipient und unbekannt. Eine wirklich naive Kunst, v.a. der Malerei, könne es nicht geben, da das Kunstschaffen immer zugleich mit Disposition einher gehe. Siehe ders., Soziologie der Kunst, München 1978, 199 ff. Darüber handelt ausführlich Klaus Lankheits „Kommentar“ in: Der Blaue Reiter, Jubiläumsausg. München 2004, 253–306. Der Blaue Reiter 2004, 92 bzw. 342. Albert Bloch, Maler, Schriftsteller und Übersetzer, geb. 1882 in St. Louis, Miss., ging 1908 mit einem Kunststipendium nach München und schloss sich der Gruppe um
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des Blauen Reiters, der russische Avantgardist David Burljuk, floh 1918 aus Russland und gelangte 1920, nach zweijährigem Aufenthalt in Japan, in die USA.10 Auch im vorrevolutionären Russland war die „avantgardistische“ Kunst ein Phänomen der große Städte, gefördert von reichen Mäzenen und von aufgeschlossenen Kritikern und Galeristen. Zwar hatte es viele russische Künstler nach Paris, München oder Berlin gezogen, gleichwohl gab es in Russland ein breites Interesse für eine Avantgarde, die ihr „Vorbild“ Abb. 20: Natalja Gontscharowa: Gelber und grüner Wald, nicht in Europa suchte, sondern 1913, 102 x 86 cm, Öl auf Leinwand. sich selbst als Neuerer verstand.11 Im Jahr 1913 sorgte in Russland ein Gemälde für Aufregung: Kasimir Malewitschs Schwarzes Quadrat, das als Bühnenbild für die einmalige Aufführung der futuristischen Oper Sieg über die Sonne entstand. Malewitsch deklarierte es zum Beginn der „gegenstandslosen Malerei“ des Suprematismus.12 Er würde später die religiöse Aura des von ihm als Ur-Ikone bezeichneten Werks betonen, indem er es in Ausstellungen in die Raumecke hängte, wie ein Kruzifix.
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den Blauen Reiter an. Die Münchner Bilder wurden später von seiner Witwe auf dem Kunstmarkt verkauft. Der Katalog „Avantgarde Osteuropa“ einer Ausstellung der Deutschen Gesellschaft für Bildende Kunst (Kunstverein Berlin) von 1967 bietet als Anhang eine umfangreiche vergleichende Zeittafel von 1900 bis 1932 zwischen „Politische und andere Ereignisse“, „Künstler in Osteuropa“ und „Künstler in Westeuropa“. D. Burljuk wird darin nicht erwähnt, wohl aber Natalja Gontscharowa. Einzelne Autoren werden in diesem Katalog nicht genannt. 2016/17 widmete das MoMA der russischen Avantgarde die Ausstellung A Revolutionary Impulse. Die damalige offene russische Kunstszene ist nicht nur einigen Mäzenen zu verdanken, sondern ab 1917 auch dem aufgeschlossenen, gebildeten Kulturpolitiker Anatoli Lunatscharski, einem Freund Lenins.
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Natalja Gontscharowa, die ab 1912 zum Blauen Reiter gehörte,13 galt schon früh als Vermittlerin zwischen den Zeiten und den Welten, da sie sich sowohl den russischen Ikonen widmete wie auch dem russischen Landleben und teils figurativ, teils symbolistisch, teils abstrakt arbeitete (Abb. 20). Sie betrachtete die russischen und die westeuropäischen Künstler als gleichwertig. Die italienischen Futuristen als Gruppierung lehnte sie ab, obwohl sie selbst mehrere als futuristisch zu qualifizierende Werke schuf. In seinem Aufsatz über die „Wilden“ Russlands erwähnt David Burljuk Natalja Gontscharowa als eine jener „glücklicherweise“ in Russland existierenden Vertreterinnen der „neuen Prinzipien des Schönen“.14 Eine symbolistische Bleistiftzeichnung Gontscharowas von 1911 mit dem Titel Weinlese nimmt Kandinsky in den Blauen Reiter auf. Mit Michail Larionow lebt sie ab 1915 zunächst mehrere Jahre in der Schweiz und in Paris und schließlich ab 1922 für fast zwanzig Jahre in den USA. Dort ist sie auch in die Ausbildung junger Künstler eingebunden. Zu Beginn dieser Arbeit über Lucien C. Kapp habe ich eine kritische Stellungname Gontscharowas zu Kunsttheorien zitiert. Doch in den nachgelassenen Schriften Gontscharowas finden sich Aussagen, dass ein (Kunst-)Werk keineswegs für immer mit dem Künstler und mit dessen Seele verbunden bleibe, sondern dauerhafter und beständiger sei als dieser und einen eigenen künstlerischen Wert darstelle.15 Dem liegt der gleiche Gedanke zugrunde wie Mannheims Theorem, dass ein Kunstwerk „seine Gründe vergessen“ habe.
Nach dem Krieg In den 1920er Jahren, nach dem Ersten Weltkrieg, veränderte sich das Gewebe der ost-westlichen Kunstbeziehungen. München verlor für die Künstler seinen Reiz, stattdessen war Berlin nun das Ziel. 1922 fand dort in der Galerie van Diemen die Erste Russische Kunstausstellung statt. Nicht wenige Künstler wanderten 13
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Natalja Gontscharowa, geb. 1881 in der russischen Provinz, gest. 1962 in Paris, Kunststudium in Moskau. Sie ist liiert mit dem Maler Michail Larionow, der vorübergehend zum russischen Heer eingezogen wird. Nach dem Krieg geht das Paar nach Paris, 1922 in die USA. Nach erfolgreichen Jahren geraten sie in Vergessenheit und reisen 1940 gänzlich verarmt nach England, wo sie erneut Anerkennung finden und ihre Werke von großen Galerien angekauft werden. 1955 heiraten sie. Burljuk, David, Die Wilden Russlands, in: Der Blaue Reiter, 47 f. Gontscharowa, Natalija, Brief an den Herausgeber [1912] bzw. Brief an Boris Anrep [1914], in: Amazonen der Avantgarde, hrsg. von John E Bowlt und Matthew Drutt, New York 1999, 312–317.
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aus Europa und Russland nach Amerika aus und förderten so die Entwicklung der expressionistischen und der abstrakten Kunst in den USA. Darunter waren Künstler und Künstlerinnen wie Naum Gabo, Alexander Drewin, David Burljuk, einer der Mitautoren des Almanachs Der Blaue Reiter, Alexander Archipenko, Natalja Gontscharowa oder Michail Larionow. Die beiden Letzteren stellten 1922 in der New Yorker Klingore Gallery aus. Paris lud drei Jahre später zur Internationalen Art déco-Ausstellung ein, allerdings ohne Beteiligung von Künstlern aus Deutschland, dem Land der „Kriegstreiber“. Die Wiener Werkstätte hingegen hatte dort einen großen Auftritt, ebenso wie die junge Sowjetunion mit ihrem „Arbeiterclub“. Schließlich wurde 1929 auf Initiative und mit finanzieller Unterstützung dreier einflussreicher Kunstmäzeninnen, Lilli P. Bliss, Mary Quinn Sullivan und Abby Aldrich Rockefeller, in New York das Museum of Modern Art, MoMA, gegründet. Der 1902 geborene Kunsthistoriker und Gründungsdirektor Alfred Barr hatte bei mehreren Aufenthalten in Europa unter anderem auch Kontakte zu den Künstlern des Bauhauses geknüpft, von denen dann in den 1930er Jahren einige in die USA emigrierten und dort den Bauhaus-Unterricht bekannt machten.16 Dies war nicht zuletzt der Schließung des Bauhauses in Dessau 1933 durch die NSDAP geschuldet. Als Lucien Cyril Kapp 1933 geboren wurde, befand sich die amerikanische Wirtschaft in der Großen Depression. Franklin D. Roosevelt rief 1935 eine Behörde zur Arbeitsbeschaffung für Arbeiter und Handwerker, die Works Progress Administration, WPA, ins Leben, deren Unterabteilung Federal One auch für Künstler Sorge trug. Jackson Pollock war einer dieser „künstlerischen Arbeiter“ des Staates, ebenso wie Arshile Gorky, Marc Rothko, Lawrence Calcagno oder Joseph Stella. Man erwartete und erhielt eine „Kunst für jedermann“, die in öffentlichen Gebäuden angebracht oder von Gemeinden gesammelt wurde. Diese bisweilen als „Staatskunst“ abgetanen Fördermaßnahmen halfen jedoch vielen nachmals berühmten Künstlern, ihren Alltag bestreiten zu können und keinem anderweitigen Broterwerb nachgehen zu müssen. In Deutschland übernahmenen 1933 die Nationalsozialisten die Macht. Im Anschluss wurden Künstlervereinigungen zentral organisiert und auf eine „deutsche Kunst“, erzeugt von „deutschen“ Künstlern, eingeschworen, worauf eine Welle der Vertreibung, Flucht oder freiwilligen Emigration von Künstlern einsetzte. Im Zuge der „Wiederherstellung des Deutschen Berufsbeamtentums“ 16
Mitten im Zweiten Weltkrieg, 1943, wurde Barr aus undurchsichtigen Gründen als Direktor entlassen und arbeitete fortan als Wissenschaftler und Berater.
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musste auch einer der damals bedeutendsten Kunsthistoriker, Erwin Panofsky, in die USA emigrieren und publizierte fortan in englischer Sprache. Seine Schriften über die Renaissance und die ikonologische Forschung hat er viel später weitgehend selbst ins Deutsche übersetzt.17 Auch in der jungen Sowjetunion wurden die Künstler zentral organisiert. Die repressive Politik unter Stalin verdrängte spätestens ab Mitte der 1920er Jahre die Abstraktion aus dem sowjetischen Kunstschaffen und förderte eine „Arbeiterkunst“, die als Sozialistischer Realismus die Kunst des Ostblocks dominierte. Malewitsch war einer der Künstler, deren Werke früh verboten wurden.18 In Italien forderte zur gleichen Zeit Mussolini, der nach der Versöhnung mit dem Vatikan auf die Unterstützung der Kirche rechnen konnte, die Künstler auf, sich von den „verkrampften und künstlichen Pariser Kreisen“ abzuwenden und sich einer „gesunden Kunst des eigenen Volkes“ zuzuwenden. 19 In Italien, Deutschland und Mexiko erblühte zudem eine patriotische Wandmalerei. Doch auch in den USA pflegten die „Muralisten“ wie Thomas Hart Benton eine monumentale realistische Wandmalerei, die sich später im abstrakten Expressionismus als Mural Art in riesigen Leinwänden neu manifestierte. Ein berühmtes Beispiel wird 1943 Pollocks 247 mal 605 cm großes Gemälde Mural werden, das er für Peggy Guggenheim an einem Tag geschaffen hat. Der Kunst der russischen und europäischen Avantgarde war in den USA in den 1920er Jahren ein neues, genuin amerikanisches Motiv an die Seite getreten: Was in Europa durch den Krieg zerstört war oder in dieser Form noch nicht existierte, abgesehen von den Ansätzen und Themen bei den Futuristen, fand seinen künstlerischen Niederschlag in Bildern von Hochhäusern, Brücken, Fabriken und Maschinen in bildbeherrschender Größe. Es entstanden Kompositionen von konstruktivistischer Strenge, menschenleer und ohne Einbindung in eine umgebende „Natur“, großartig und beklemmend zugleich, wie Joseph Stellas futuristisch-kristalline Variationen der Brooklyn Bridge. Die Künstler betitelten ihre Großstadt-Motive manchmal selbst als American Landscape, so etwa ein Bild Stellas von 1929, heute im Walker Art Center in Minneapolis, mit Hoch17 18
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Panofsky, Kunstgeschichte, 378–406. Im Kunstforum Wien fand 2001 eine umfangreiche Ausstellung der Werke Malewitschs statt, die von einem ausführlichen, reich ausgestatteten Katalog mit wissenschaftlichen Beiträgen begleitet wurde. Siehe Ingried Brugger und Joseph Kiblitsky (Hrsg.), Kasimir Malewitsch, Ausst.-Kat. Wien, Kunstforum 2001, Bad Breisig 2001. Zitiert bei Laura Safret, Im Zeichen der neuen Zeit. Das Ausstellungswesen in Italien, in: Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956, Ausst-Kat. Wien, Künstlerhaus 1994, Baden o. J. [1994], Bd. 2, 692 f.
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häusern in Glas und Stahl, auf dem nur zwei kleine Köpfe am unteren Bildrand menschliches Leben andeuten. Eine andere Vertreterin dieses American-WorldStils, des „Präzisionismus“, war Georgia O’Keefe, die in Europa eher durch ihre geometrisch durchkomponierten Blumenbilder bekannt wurde. Seit der Mitte der 1920er Jahre hatte ausgehend von Frankreich mit André Breton als zentralem Protagonisten auch der Surrealismus in den USA Fuß gefasst. Die Gruppe um Breton verband ihren tiefenpsychologischen Zugang zur Kunst mit einem energischen Protestverhalten gegenüber den Institutionen.20 1938 arbeitete Breton in Mexiko mit Leo Trotzki und Diego Rivera zusammen. Für die USA seien hier Marcel Duchamp oder Man Ray erwähnt, aber auch Arshile Gorky, der zugleich als einer der Wegbereiter des Abstrakten Expressionismus gilt. Dies ist bemerkenswert, denn Surrealisten und Abstrakte Expressionisten hatten unterschiedliche Denkansätze. Als Paris 1941 von den Deutschen besetzt wurde, flüchteten André Breton, Max Ernst und André Masson mit Hilfe von Peggy Guggenheim nach New York und lebten dort im Kreis der surrealistischen Künstler bis 1946. 1933 ist auch das Gründungsjahr des Black Mountains College in North Carolina, einer wirtschaftlich autarken, nonkonformistischen, von Künstlern verschiedener Genres locker organisierten Kunstschule, deren Lehrer und Studierende zwar oft wechselten, aber miteinander in Beziehung blieben. Josef und Anni Albers, die aus Deutschland emigriert waren, führten dort die Prinzipien des Bauhauses weiter. Auch John Cage, Cy Twombly oder Robert Rauschenberg hatten am BMC ihre Wurzeln.21 Und während sich 1936 in New York die Vereinigung der American Abstract Artists zusammenschloss, bereitete man in Deutschland die Ausstellung „Entartete Kunst“ vor, die 1937 in München in den Hofgartenarkaden eröffnet wurde und dann bis 1941 als Wanderausstellung durch zwölf deutsche Städte zog.22 Nach der Besetzung von Paris wurden im Mai 1943 von den Deutschen viele als „entartet“ diffamierte Kunstwerke öffentlich zerschnitten und verbrannt.23 20 21
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Der Begriff „surrealistisch“ wird in dieser Arbeit über Lucien C. Kapp nicht so eng gefasst, wie das die Surrealisten in ihrem Eigenverständnis forderten. Zur künstlerischen Beziehung und späteren Zusammenarbeit von Twombly und Rauschenberg und der Rolle, die Josef und Anni Albers für Rauschenberg spielten, siehe aktuell Anne-Grit Becker: Cy Twombly und Robert Rauschenberg. Bilder im Prozess, Bonn 2020, u. a. 26 ff. Zur Situation der Kunst im Nationalsozialismus in der Steiermark: Herbert Lipsky, Kunst einer dunklen Zeit. Die bildende Kunst in der Steiermark zur Zeit des Nationalsozialismus, Graz 2010. Hildegard Bremer, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Hamburg 1963, u. a. 153 f.
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Wassily Kandinsky und sein Werk waren in den Vereinigten Staaten seit der Armory Show von 1913 zunächst nur in Kunstkreisen ein Begriff. Gleichwohl
hatte er sogar Angebote erhalten, in die USA zu ziehen. Seine Komposition Nr. 27, die in der Armory Show zu sehen war und sich heute im Metropolitan Museum befindet, ist bemerkenswert lieblos, als sei sie ihm „gerade gut genug“ für eine Massenausstellung in einem Armeegebäude der USA gewesen. Im gleichen Jahr stellte er in Berlin beim Ersten Deutschen Herbstsalon in der Galerie Der Sturm aus, was ihm zweifellos wichtiger war. Erst nach 1930, als Solomon Guggenheim ihn in Europa „entdeckte“, wurde er prägend für den amerikanischen Expressionismus. Kandinsky war 1922 als Meister an das Bauhaus in Weimar berufen worden, das von Anfang an international und politisch links orientiert war und sollte dort einer der bedeutendsten Lehrer werden, vor allem was seine Farbentheorie betraf.24 Die Künstlerinnen und Sammlerinnen Katherine Dreier und Baroness Hilla Rebay setzten sich maßgebend für die Förderung des europäischen, bald auch des amerikanischen Expressionismus ein, vertreten durch Arshile Gorky oder Jackson Pollock oder durch die Farbfeldmalerei von Marc Rothko, William Baziotes oder Lawrence Calcagno. Viele der abstrakten Expressionisten ordneten sich selbst als politisch links ein und wurden von der Öffentlichkeit auch so wahrgenommen. Das ihnen aufgrund dessen anfänglich entgegengebrachte Misstrauen verwandelte sich ins Gegenteil, als in der Sowjetunion die nicht-realistisch arbeitenden Künstler zu Feinden des Volkes erklärt wurden. In den späten 1950er Jahren, als Lucien C. Kapp sich entschied, einen künstlerischen Weg einzuschlagen und sich schließlich der abstrakten Malerei zuwandte, wurde deren politisch-weltanschauliche Implikation bereits nicht mehr diskutiert. In den USA hatte sich die abstrakte Kunst während des Zweiten Weltkrieges endgültig von Europa emanzipiert.25
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1917 war Kandinsky in Moskau ein wichtiger Mitarbeiter von Anatoli Lunatscharski, dem sowjetischen Volkskommissar für Bildung. Steven Marks meint, dass Kandinsky von den Kommunisten geschickt worden sei: „The Bolshevic Government sent him to Berlin, as it did other cultural figures, on a mission to establish sympathy for the USSR among German artists.” Ders., How Russia shaped the Modern World, 233. Zu den vielfältigen Verbindungen der abstrakten Künstler untereinander, vor allem durch Galerien, Museen, Ausstellungen und Künstlervereinigungen, siehe Barbara Hess, Abstrakter Expressionismus, Köln 2022.
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Die Suche nach der „Ur-Kunst“ Auch die amerikanischen Künstler hatten sich um 1930, wie Jahrzehnte zuvor die europäischen, auf die Suche nach den Wurzeln ihrer Kunst begeben. Da sie nicht in einer kollektiven Vergangenheit gefunden werden konnte – lag diese doch zumeist in Europa –, wandte man sich der Kunst der indigenen Bevölkerung zu, der „indianischen Volkskunst“. Die Kunst der „altamerikanischen Völker“ Mittel- und Südamerikas, etwa Martiniques oder Tahitis, hatte bereits das besondere Interesse europäischer Künstler erregt, vor allem der Fauves und der Kubisten, die sich auch mit peruanischer und mexikanischer Kunst befassten. Ebenso wie die Kunst der europäischen Avantgarde kannte die indigene Kunst weder Perspektive noch individuelles Bemühen um Nachahmung der Wirklichkeit. Die Fläche wurde als Fläche behandelt, das Objekt war die Grenze, ohne Horizont. In dieser Kunst, vor allem in den Materialien Holz, Keramik und Textil, manifestierte sich jene abstrakte Schönheit, die auch im Almanach Der Blaue Reiter beschrieben wurde. Insofern schienen die amerikanischen Künstler in der Kunst der frühen Kulturen Nordamerikas eine Parallele zu dem Ursprung europäischer oder afrikanischer Kunst gefunden zu haben respektive zu den europäischen Anfängen der Eroberung der Bildfläche.26 Doch die indigenen Völker Nordamerikas waren nicht die Vorfahren der Immigranten.27 Ihre Kunst, sofern die europäischen Eroberer sie überhaupt zur Kenntnis nahmen, bildete weder den religiösen noch den kulturellen Boden für die spätere amerikanische Kunst. Über drei Jahrhunderte wurden die indigenen Volksgruppen Nordamerikas durch die immer weiter nach Westen vordringenden europäischen Immigranten von ihrem Land vertrieben und ermordet. Die riesigen Büffelherden, eine ihrer Lebensgrundlagen, wurden von den Kolonisatoren fast ausgerottet. Verschiedene Verträge, die man im 18. und 19. Jahrhundert schloss und die der indigenen Bevölkerung abgegrenzte, unfruchtbare Ge26
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Greenberg erklärte viel später, abermals in der Nachfolge Wölfflins, die Flächigkeit in der Malerei zu einem typischen Phänomen der Moderne. Die Flächigkeit oder das Optische im Gegensatz zum Haptischen hatte 1901 Alois Riegl als charakteristisch für die spätrömische Epoche (Grabsteine, Triumphbogen etc.) bezeichnet. Welche Bezeichnung die indigene Bevölkerung Nordamerikas selbst bevorzugt, hängt von den Umständen ab: In Belangen, Berichten und Diskussionen innerhalb der USA möchten die meisten Stämme direkt mit ihrem Stammesnamen bezeichnet werden, nicht zuletzt, weil ihre Interessen nicht immer gleich gelagert sind. Im internationalen Diskurs, sei es politisch oder wissenschaftlich, akzeptieren die „Native Americans“ die Generalbezeichnung „Indians“ oder „American Indians“.
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biete, sogenannte Reservate, zuwiesen, wurden oft schon nach wenigen Jahren gebrochen. Schließlich entdeckte und engagierte man Anfang des 20. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den damals in Europa populären „Völkerschauen“ einzelne Gruppen, verbrachte sie nach Europa und stellte sie als „Wilde“ in der großen Völkerschau in Carl Hagenbecks Tierpark in Hamburg in einem nachgebauten „Reservat“ aus. Dort hatten sie Postkutschenüberfälle und Skalpierungen von Weißen nachzustellen. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem viele indianische Soldaten in der USArmy teilgenommen hatten, wuchs das Bewusstsein der indigenen Bevölkerung über das ihnen von den europäischen „Weißen“ zugefügte Unrecht. Ein langer Kampf um die Anerkennung ihrer Rechte begann. Obwohl im Laufe des 20. Jahrhunderts, auch durch die wissenschaftliche Forschung, die Kenntnisse über die frühen Kulturen Nordamerikas und die Geschichte der amerikanischen Kolonialisierung zu einer differenzierten Sichtweise beigetragen haben, hat sich das vor allem durch Hollywood-Filme geprägte Bild des grausamen und die Siedler bedrohenden „Indianers“ lange gehalten.28 Was in den 1920er Jahren Eingang in die Bildkulturen fand, hatte zunächst eher folkloristischen Charakter, wie etwa die Totems, die als Totem Art auch heute noch populär sind. Es waren ursprünglich Erinnerungspfähle für Familien der indigenen Gruppen, vor allem in den nördlichen Gebieten der USA, oft in der Form eines Adlers oder einer Eule, mit kurzen ausgestreckten Flügeln, bisweilen auch Armstümpfen, ausgestattet. Da die Totems zuweilen in Dreiergruppen aufgestellt wurden, drängen sich dem entsprechend geschulten Betrachter Assoziationen mit dem Golgatha der christlichen Bildtradition auf. Ursprünglich wurde ein Totem im Rahmen einer Zeremonie oder eines Rituals errichtet. Verschiedentlich behielten die indigenen Völker diese Tradition auch in den Reservaten bei. Doch mit der Ausrottung der autochthonen Bevölkerung verlor sich dieser Brauch und wurde erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, mit dem aufkeimenden Selbstbewusstsein, wiederbelebt. Einige der in den 1940er Jahren tätigen amerikanischen Künstler, die „Mythmakers“, versuchten, sich in das Innenleben der „Native Americans“ hineinzudenken, um sich auch von der europäischen Kultur abzusetzen. Zu diesen gehörte auch Jackson Pollock, der in dieser Zeit indianische Totems und mythische Motive schuf. 28
Der amerikanische Anthropologe Clark Wissler erforschte schon vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1940er Jahre die indigenen Völker Nordamerikas und veröffentlichte 1917 sein prägendes Werk The American Indians.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpften sich die indigenen Völker nach und nach ihre Rechte und schließlich gegen Ende des 20. Jahrhunderts die Gleichberechtigung mit der eingewanderten Mehrheitsgesellschaft. 2004 wurden, ausgehend vom Smithsonian Institute, in mehreren Städten Museen der American Indians gegründet. Die indigenen Volksstämme begannen, sich gegen die Darstellung indianischer Objekte oder die Vereinnahmung historischer indianischer Persönlichkeiten als Maskottchen („mascots“) von Schulen oder Universitäten zu verwahren. Institutionen und Studierende betrachteten es als ehrenvolle Geste. Die Ureinwohner sahen es anders. Sie empfanden es nicht als Ehre und als Nobilitierung, sondern als Missbrauch und erreichten schließlich 2004 sogar ein Verbot. Im Last Chief bezieht sich Lucien Kapp – meiner Interpretation nach – auf dieses Verbot (Abb. 49). Auch das Spare Totem, ein Spätwerk Kapps, steht in Abb. 21: Lucien Kapp: Spare Totem for a einer Reihe von Werken, die auf die Millennial Tribe, 2016, 51 x 15 x 15 cm, Mahatiefgehende innere Verbindung des goni und Birke. Künstlers zur indigenen Bevölkerung deuten, weit über die „Mythmakers“ der 1940er Jahre hinausgehend (Abb. 21). Man kann auch sagen: um das von den „Mythmakers“ verlassene künstlerische Terrain zu hüten und weiter zu pflegen.
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Trotz der häufigen doppelten Datierung lassen sich im Werk von Lucien Kapp doch klare Entwicklungslinien aufzeigen, weshalb es umso bedauerlicher ist, dass der Künstler immer wieder Arbeiten, mit denen er nicht zufrieden war, vernichtete.1 1959, bald nach Beendigung seines Studiums an der Millikin University, entstanden – neben anderen Werken, vor allem Werbegrafik – die Radierungen Macon County Lines und Numazu Lantern Dust sowie Rain Slate on Millikin Place (Abb. 22, 23, 24). Die Werke sind noch der Tradition der Allover-Malerei und der Auffassung der Farbfleckenmalerei der vorhergehenden Generation verhaftet: Nur der Bildrand bestimmt Anfang und Ende des Motivs, das prinzipiell weitergedacht werden kann. Dabei geht der Blick des Künstlers nicht über die Nähe hinaus. Das Motiv wird durch den Titel eingegrenzt. In dieser Frühzeit entstehen auch Sanjusangendo – Ten Hundred Suns und Votiv Blace (Abb. 25, 26). Kapp gibt jedoch die Unterwerfung unter eine vorgegebene Fläche bald auf. In Safran Turn von 1960 wird deutlich, dass der Künstler die Farbflächenmalerei und die Ausbreitung der All-over-Malerei verlässt und zu einem Zentrum tendiert (Abb. 27). Auch Sanjusangendo weist bereits in die stilistische Zukunft des Künstlers, in eine Malerei des Übereinander und Nacheinander, die nichts zu tun hat mit einer perspektivischen Darstellung (Abb. 25). Seit der Entdeckung der Perspektive in der Frührenaissance ist man daran gewöhnt, eine konstruierte Augentäuschung als „richtig“ zu empfinden. Doch, indem der Betrachter ein Unten und Oben der Flecken, Striche und Bögen, ein Übereinander, unterscheiden kann, tritt bereits eine zugrunde liegende Dreidimensionalität zutage. „Pale Paper from its Prism Chamber born in a Myriad Flame“, schreibt Kapp unter das Bild Votive Blace. Die zeichnerische Linie, der Strich und der Bogen werden beherrschende Elemente seines Schaffens. Immer wieder überlagert er später Werke, die in seinem Besitz verblieben sind, durch grafische Elemente: manchmal das Motiv pointierend, wie etwa Subic Bay (Abb. 29), manchmal übertönend, wie Solstice Star over Lankowitz (Abb. 69). 1
Auch der 2010 verstorbene Vertreter des Abstrakten Expressionismus, Cy Twombly, war dafür bekannt, dass er Arbeiten, die in seinem Besitz verblieben waren, Jahre später veränderte oder ergänzte.
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Abb. 22: Lucien Kapp: Macon County Lines, 1959, 29 x 22 cm, Kupferstich und KaltnadelRadierung.
Abb. 23: Lucien Kapp: Numazu Lantern Dust, 1959, 37 x 32 cm, Kupferstich und Kaltnadel-Radierung.
Abb. 24: L. Kapp: Rain Slate on Millikin Place, 1960, 130 x 120 cm, Öl auf Leinwand.
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Abb. 25: Lucien Kapp: Tokyo, Sanjusangendo – Ten Hundred Suns, 1959, 84 x 60 cm, Gouache, Ink, Bronze Powder.
Abb. 26: Lucien Kapp: Votiv Blace, 1960, 250 x 350 cm, Öl auf Pressspanplatte.
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Abb. 27: Lucien Kapp: Safran Turn, 1960, 138 x 130 cm, Öl auf Leinwand.
In den 1960er Jahren wendet sich Kapp der Kreisform zu, und zwar auf ungewöhnliche Weise: Aus einer großformatigen Leinwand sucht er kompositionelle Motive heraus, die sich in eine Kreisform fügen oder vielmehr sich dem Kreis unterordnen. Es ist bemerkenswert, dass die Kreisform, der Tondo, in der Malerei eher eine Ausnahme ist und auch von den Künstlern der Renaissance verhältnismäßig selten verwendet wurde. Selbst in der Florentiner Malerei dieser Epoche blieb der Tondo eine Ausnahme, auch wenn sich unmittelbar Assoziationen an Michelangelos Tondo Doni oder Raffaels Madonna della Sedia aufdrängen. Die Beispiele Ravens Wreath #3 und Subic Bay zeigen zwei Möglichkeiten, einen Kreis zu beherrschen: der konzentrische Ansatz oder die Gerichtetheit,
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Abb. 28: Lucien Kapp: Ravens Wreath #3, 1961, Dm. 107 cm, Öl auf Pressspanplatte.
Abb. 29: Lucien Kapp: Subic Bay, 1969/2018, Dm. 107 cm, Öl auf Pressspanplatte.
hier in das Vertikale. Auch Rundbilder, die im Besitz des Künstlers verbleiben, ergänzt Kapp unter Umständen Jahrzehnte später. Ein Beispiel ist das 1968 entstandene Gemälde der Subic-Bucht auf den Philippinen: Subic Bay/Carola Victoria, dem Kapp den Beinamen „Crescent Orb“ gibt.2 Der Künstler hat seine 2
Die Subic-Bucht war von 1898 bis 1992 eine Militärbasis der US-Navy und wurde
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vertikale Gerichtetheit durch die späteren grafischen Überlagerungen noch verstärkt.
Grenzüberschreitungen In den Werken aus seiner mittleren Schaffensperiode, die er erst später fertigstellt oder farblich ergänzt, hat Lucien Kapp die Anklänge der All-over-Malerei hinter sich gelassen. Diese war den Grenzen des Materials unterworfen. Kapp setzt sich durch innerbildliche Rahmungen seine Grenzen nun selbst. Nur so kann er sie aber auch überschreiten. Die Grenzen gehören fortan zur Aussage seines Themas, seines Motivs. Ob es seine Erinnerungen an die Weststeiermark sind, wie die Blauen Weihnachten (Abb. 30), seine Erinnerung an die archäologische Stätte der Mississippi-Kultur in Cahokia (Abb. 31) oder an die Landgänge während seiner Navy-Zeit, wie in Kowloon (Abb. 32), der Rahmen wird nicht gesetzt, um Überschreitungen zu vermeiden, sondern um diese zuzulassen – wie ein Zaun, der überklettert werden kann. Dabei überschneiden und verdichten sich in diesen kraftvollen Arbeiten die einzelnen Motivelemente. Die Bögen begrenzen kleine, in sich schraffierte, farbige Teilchen und augenartige Kreise zu dynamischen Gebilden, in denen Kapp der Indian Ink und der Metallic Ink die entscheidenden Bestimmungsmomente überträgt, wobei die Metallic Ink oft flächenfüllend, die Indian Ink hingegen oft nur wie ein dicker Strich aufgetragen wird. Das Motiv des Werkes Brigitta, Mr. Williams and Cosmic Mare (Abb. 34) geht auf das Jahr zurück, als Lucien Kapp seine nachmalige Frau Brigitta kennenlernte und erinnert an eine Reitepisode, die der Künstler in einer Fotografie und in einer Skizze festhielt.3 Die doppelte Fortbewegungsart mit Pferd und Auto scheint er in zwei Kreisen andeuten zu wollen, links neben dem oval-weißen Teil, den man als Pferdekopf liest, befindet sich eine Art Lenkrad und rechts über dem Körper von Mr. Williams ein Autoreifen. In der Mitte, das Blatt vertikal beherrschend, sieht man den Körper einer lächelnden Frau, die Arme und Hände locker vor dem Körper geschlossen. Diese Arbeit eignet sich besonders, um auf die von Inhalt und Motiv fast gänzlich unabhängige Betonung der Mitte
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dann zur Freihandelszone. Heute ist das Gebiet für die soziologische Fragestellung von Interesse, inwieweit die lange Anwesenheit der Amerikaner die Kultur- und Organisationsformen vor Ort beeinflusst hat. Die Erläuterungen zum Motiv von Quasimodo’s Lament und zur reitenden Brigitta mit dem alten Mr. Williams verdanke ich Brigitta Kapp.
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Abb. 30: Lucien. Kapp: Maria Lankowitz. Blaue Weihnachten, 1969/2018, 25 x 15 cm, Gouache und Tinte.
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Abb. 31: Lucien Kapp: Cahokia. Mississippian Moment, 1969/2018, 25 x 15 cm, Gouache und Tinte.
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Abb. 32: Lucien Kapp: China. Shore Leave in Kowloon, 1968/2018, 12 x 20 cm, Aquarellfarben und Indian Ink.
Abb. 33: Lucien Kapp: Hi-Ho. Silver away. The Thundering Hoof Beats, 1968/2020, 15 x 25 cm, Aquarellfarben und Indian Ink.
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Abb. 34: Lucien Kapp: Grand Lake, Colorado 1967. Brigitta, Mr. Williams and Cosmic Mare, 1968/2019, 20 x 28 cm, Aquarellfarben und Metallic Ink.
durch kleine, farblich oder formal hervortretende Details in den Werken von Lucien C. Kapp hinzuweisen. Es entsteht damit ein zentripetaler Grundcharakter der Komposition, selbst wenn das Motiv „aus dem Bild galoppiert“, wie in Thundering Hoof Beats (Abb. 33), zu rotieren scheint, wie in Angelic Marathon (Abb. 35) oder in dem Wirbel (A Swirl) des alten Schlosses von Maria Lankowitz nach unzählbaren Blicken aus den Westfenstern des Hauses (Abb. 36). Es bleibt festzuhalten, dass Kapp die schwingenden Konturen der Objekte nicht einsetzt, um Bewegung darzustellen, sondern im Gegenteil: Er setzt Objekte in Bewegung, ein Kirchenfenster, sogar ein ganzes Schloss, denen Bewegung gar nicht eignet. „I rejoice in any and all work that brings communion with a greater will“, sagt Kapp. Wie in eine gotische Nische eingebettet erscheint eine Komposition, die der Künstler „Pieta“ nennt (Abb. 37). Auf den ersten Blick nimmt man die gewohnte Ikonografie wahr: Der Körper des toten Sohnes liegt seltsam steif quer über dem Schoß seiner Mutter Maria, deren Figuren aus ineinander verschlungenen, mit schwarzer Tusche gehöhten Bögen und Kreisen gestaltet sind, die vielfältig geschwungene, grafisch ergänzte Farbflecken umschließen. Die Gesichter bleiben angedeutet. Doch die so entstandene formale Beziehung der bei-
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Abb. 35: Lucien Kapp: Decatur. St. Patrick’s Church, Angelic Marathon, 2015, 19 x 19 cm, Aquarellfarben, Feder und Indian Ink.
Abb. 36: Lucien Kapp: Maria Lankowitz, The Schloss – A Swirl, 2015, 15 x 23 cm, Aquarellfarben, Feder und Tusche.
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Abb. 37: Lucien Kapp: Austria, Vienna Stephansdom. Pilgrims Pieta, 2018, 25 x 20 cm, Aquarellfarben, Tusche und Indian Ink.
den Körper verbildlicht nicht nur die Szene nach der Kreuzabnahme, sondern bildet zugleich mit dem Körper Marias als Stamm und dem des Gekreuzigten als Balken ein Kruzifix. In den roten Flecken am unteren Bildrand vermeint man Blut aus der dunkelfarbigen Szene sickern zu sehen.
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Abb. 38: Lucien Kapp: Graz. Franziskanerkirche, Gothic Cruciform Split, 1968/2015, 22 x 15 cm, Aquarellfarben und Metallic Ink.
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Abb. 39: Lucien Kapp: Blackland Rising, 2012, 45 x 60 cm, Mischtechnik.
Bei einem seiner vielen Besuche in Graz hat den Künstler besonders die Kirche des Franziskanerklosters angezogen, das gotische Pendant der barocken Wallfahrtskirche von Maria Lankowitz, erzählt seine Frau. 2015 hat er die fotografische Erinnerung des Innenraumes von 1968 sehr verdichtet auf ein Blatt gebracht (Abb. 38). Wiederholt kehrt der Künstler zu seinen grafischen Ursprüngen zurück. Dabei entwickelt er eine eigene grafische Technik durch die Verbindung von Kupferstich, Kaltnadel-Radierung und Holzschnitt. Er geht in drei beziehungsweise vier Phasen der Bildwerdung vor: Die Grundfläche wird durch einen Mischdruck von Kupferstich und Radierung gebildet. In den 1990er Jahren entwarf Kapp verschiedene farbige Einzelmotive, zum Teil nach indianischen Vorbildern, die er auswählt und in Holzschnitte überträgt. Diese werden dann auf das Motiv der Grundfläche gedruckt, was einen schwebenden Eindruck vermittelt (Abb. 39). Auch im Tamaroa Trace hat er diese Technik angewendet (Abb. 50). Immer wieder kehren die Gedanken des Künstlers an eine „Communion with a greater will“ zurück – so auch in der Arbeit Divine Direction von 2020 (Abb. 40). Zunächst nimmt ein blauer Streifenwirbel rechts im Bild die Auf-
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Abb. 40: Lucien Kapp: Divine Direction, 2020, Innenmaße 30 x 44 cm, Mischtechnik.
merksamkeit gefangen und dann sogleich links ein goldgelber Stern. Der Wirbel rechts scheint von blauen Luftströmen in Kurven und Kreisen überlagert. Auf der erdig-braunen Grundfläche, in sich unruhig bald heller, bald dunkler in Streifen und Flecken, hat Kapp dem mächtigen Wirbel der rechten Seite in der linken oberen Bildecke ein fernes Echo gesetzt. Die einzelnen schwebenden, pfeilartigen Motive lenken den Blick auf den goldhellen, vierzackigen Stern. So wird das scheinbare Übergewicht der rechten Bildseite durch die Gerichtetheit zum Stern hin aufgelöst. Das Bild lässt durch die verschiedenen Ebenen des Druckes keinen Zweifel daran, dass es ein Darunter und ein Darüber gibt, ein Vorher und ein Nachher, eine „divine direction“. Kreise, Bögen, Mehrschichtigkeit und die Andeutung eines Zentrums bleiben bestimmend bis in das Alterswerk des Künstlers hinein. Nur die Eingrenzung der Motive durch eine innere Rahmung verliert sich in späteren Jahren, wo der Künstler schließlich energisch die ganze Fläche fordert.
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„Each painting in the exhibit can be related to a specific life experience. The titles used are verbal reflecting such happenings and complement the abstract nature of the work.“ (Lucien C. Kapp 2016)
Im Gegensatz zu vielen Künstlern und Künstlerinnen der Avantgarde, vor allem der abstrakten Kunst, ließ Lucien Kapp keines seiner Werke „ohne Titel“. Manche Titel erscheinen als einfacher Hinweis, manche skurril, manche lesen sich ironisch, andere als Paradoxon. Bemerkenswert oft ist ein Ort genannt, nicht nur bei seinen Erinnerungen an Österreich. Lucien Kapp selbst erläutert im Katalog zur Ausstellung Celestial Fallen Light. Six Decades of Work by Lucien Kapp von 2016, dass jedes Bild und jeder Titel einen inneren Bezug zu seinem Leben haben. Den größten gestalterischen Freiraum bieten grundsätzlich solche Bildtitel, die auf ein Naturphänomen, Regen, Blitz, Sonne, Sturm oder Nebel, hinweisen. Ein Beispiel ist eines der frühen gänzlich abstrakten Bilder Kandinskys von 1912, dem er neben der Bezeichnung „Improvisation“ den Titel „Sintflut“ beifügte. Ein anderes stammt von Lawrence Calcagno, einem der Lehrer Lucien Kapps, der seine als horizontale Farbstreifen angelegten Werke in Serie „Ferner Horizont“ nannte. Generell stellt jeder Werktitel den Betrachter, die Betrachterin vor die Frage, ob es eine Übereinstimmung zwischen der Bezeichnung und dem Bild gibt. Ob eine Madonna mit Kind, eine Frau mit Hut, ein blauer Reiter, ein schwarzes Quadrat oder ein Akt, eine Treppe herabsteigend – jeder Titel stellt eine Behauptung auf. Bisweilen wird ein gedankliches Ringen um Erkennen in Gang gesetzt oder ein spontanes, unter Umständen sogar empörtes Verneinen, wie bei Motiven, die von vornherein mit einer bestimmten Vorstellung von einem Objekt unserer Umgebung verknüpft sind, etwa von Pferden.
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Der Bildtitel – Vom Hinweis zum Paradoxon Abb. 41: Franz Marc: Blaues Pferd, 1911, 112 x 84,5 cm, Öl auf Leinwand.
Pferde etwa haben Gestalten und Farben. Auf dem Bild von Franz Marc ist das Pferd jedoch blau, auf einem anderen vielleicht rot oder gelb.4 Ein blaues Pferd? Das gibt es doch nicht! Oder: eine Frau sieht aus wie eine Frau, schön oder weniger schön, bekleidet oder weniger bekleidet – eckig ist sie aber jedenfalls nicht. Das Ansinnen der Avantgarde-Künstler, etwas Bekanntes „unnatürlich“ darzustellen und damit die Wahrnehmung des Publikums zu verwirren, war eines der Kriterien der nationalsozialistischen Abwertung eines Werks als „entartete“ Kunst. Doch auch die „richtige“ Bezeichnung konnte (und kann) Irritation und Ärger hervorrufen, wenn der Betrachter die Transformation in Kunst nicht erkennen kann, wie etwa in dem Schwarzen Quadrat Malewitschs. Das führt zurück zur Irritation des New Yorker Publikums gegenüber Marcel Duchamps Akt, eine Treppe herabsteigend (Abb. 19). Der spöttische Titel, den man diesem Bild gab, „Explosion einer Dachziegelfabrik“, ist eigentlich voll Ironie und Bedeutung. Man kann vermuten: Wenn Duchamps sein Werk ebenso benannt hätte, so hätte man vielleicht davorgestanden und gesagt: „Aber eigentlich schaut das aus wie ein Akt, eine Treppe herabschreitend“. Denn die Nobilitierung eines 4
Die Farbe Blau steht nach der Farbentheorie von Franz Marc und Wassily Kandinsky für das „Geistige“ und „Wesenhafte“ in der Kunst. Es geht somit um das Wesen Pferd – und kein bestimmtes in einer bestimmten Farbe.
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Motivs oder eines Objektes geht in diesem Fall von uns, den Betrachtern, den „Rezipienten“, aus. Es ist unsere Entscheidung, so wie wir über ein Werk mit dem Titel „Mutter und Kind“, das eine beliebige moderne Frau, ihr Kind im Schoß wiegend, zeigt, sagen: „wie die Madonna mit dem Jesusknaben“, während wir einen solchen vom Künstler selbst gesetzten Titel kritisch hinterfragen würden.5 1924 formulierte André Breton seine Vorstellung von einem surrealistischen Kunstwerk folgendermaßen: Das stärkste Bild, muss ich gestehen, ist für mich das, das von einem höchsten Grad der Willkür gezeichnet ist; für das man am längsten braucht, um es in die Alltagssprache zu übersetzen, sei es, dass es einen besonders hohen Grad an offenkundiger Widersprüchlichkeit aufweist, sei es, dass einer seiner Ausdrücke merkwürdig verborgen bleibt, sei es, dass es sensationell zu sein verspricht und sich dennoch leicht auflösen lässt (dass es plötzlich den Schenkel seines Zirkels zusammenklappt), sei es, dass es eine ungenügend formale Rechtfertigung in sich selbst findet, sei es dass es etwas Halluzinatorisches in sich trägt, sei es, dass es ohne weiteres dem Abstrakten die Maske des Konkreten verleiht oder, umgekehrt, dass es die Verneinung irgendeiner grundlegenden physischen Eigenschaft in sich begreift, sei es, dass es Gelächter auslöst.6
Dies war auch der Grundgedanke von Roger Allard im Blauen Reiter: je weiter die Wege des Künstlers und des Rezipienten, umso tiefer ist der Eindruck. Doch die Titelgebung durch den Künstler ist streng genommen ein relativ junges Phänomen und etabliert sich erst im 19. Jahrhundert. Dies hatte mehrere Gründe und einer davon war kurioserweise der „Napoleonische Kunstraub“ in den eroberten europäischen Ländern. Auf diesem Beutezug wurden Kunstwerke aus Museen, Kirchen, Klöstern und Schlössern konfisziert, die dann vor allem in Paris zusammengezogen, aber auch in andere französische Städte verbracht wurden. Als man nach der endgültigen Verbannung Napoleons daranging, die Kunstwerke ihren früheren Besitzern zurückzugeben, gestaltete sich das ohne Werktitel oder sonstige Angaben oft schwierig. Die Notwendigkeit einer listenfähigen Benennung wurde offenbar. Auch auf der Ebene der damals neuen Wissenschaft Kunstgeschichte begann man, Sammlungskataloge zu erstellen, die als erste Angabe den Titel auswiesen. 5 6
Diese Einstellung gilt zumindest heutzutage. Dürer stellte die Heilige Familie, wie Menschen aus seiner Nachbarschaft, in „moderner“ Nürnberger Tracht seiner Zeit dar. Breton, André, Erstes Manifest des Surrealismus [1924], in: ders., Die Manifeste des Surrealismus. 9. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1996, 36.
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Ein weiterer Grund, ein Kunstwerk mit einem Titel zu versehen, war die Veränderung der Künstlerausbildung. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Akademien und Kunstschulen gegenüber der alten Meister-Schüler-Beziehung und zugleich der zufällige Käufer gegenüber dem Auftraggeber durchgesetzt. Letzterer wusste, was oder wen ein Werk darstellen sollte. Ein zufälliger Käufer hingegen erwartet einen Titel des zur Schau gestellten und zum Kauf angebotenen Bildes. Die Tatsache, dass in früheren Zeiten viele Werke ohne Titel blieben, sei es durch Erbe oder Schenkungen oder durch Eroberungen und Raubzüge, veranlasste um 1900 die Entstehung eines neuen Zweiges der Wissenschaft Kunstgeschichte: der Ikonologie. Der Begriff wurde erst in den 1920er Jahren von Erwin Panofsky erläutert und etabliert, nachdem Forscher und Sammler wie Aby Warburg, Fritz Saxl oder Edgar Wind sich auf inhaltliche und formale Spurensuche begeben hatten, um, sei es in der Antike oder in der Epoche des Künstlers, die Ursprungsformen, Ursprungstitel oder Ursprungsbedeutungen zu entdecken, eben „die Gründe der Bilder“, die die Bilder selbst vergessen hatten, um mit Mannheim zu sprechen.7 Ein berühmtes Beispiel für die ikonologischen Forschungen Panofskys ist sein Nachweis, dass es sich bei dem nachträglich als „Salome“ betitelten Bild von Francesco Maffei von ca. 1650 ikonografisch um eine Judith-Darstellung handelt, was in Bezug auf die Deutung des Bildes einen großen Unterschied darstellt. Durch eine Vermischung der Bildmotive wurde aber jahrhundertelang die Wahrnehmung der Rezipienten und der Kunstwissenschaft gewissermaßen getäuscht. Zur Zeit der Entstehung der künstlerischen Avantgarde in Ost und West war es schon üblich, dass die Künstler selbst ihr Werk betitelten. Kandinsky etwa beschreibt in Über das Geistige in der Kunst, welche Formationen er „Komposition“ und welche er „Improvisation“ nennt. Auch die Bezeichnung „Ohne Titel“ ist die erste Koordinate und legt eben eine Weigerung fest. Ironische oder komische Werktitel waren bei den Vertretern des Expressionismus, Kubismus, Rayonnismus, Konstruktivismus oder Suprematismus eher selten. Zu ernst war ihnen ihre neue Kunst. Manchmal gab es natürlich eine witzige Pointe respektive ein witziges Motiv, etwa bei Iwan Puni, einem Schüler Malewitschs, aber das war eher die Ausnahme. 7
Erwin Panofsky ist 1933 in die USA emigriert, hat dort u. a. an der Princeton University gelehrt und seine wissenschaftlichen Arbeiten seitdem in Englisch geschrieben. Sein grundlegender Aufsatz über die Ikonologie entstand 1939. Später hat er viele seiner Arbeiten selbst ins Deutsche übersetzt. Panofsky: Ikonographie und Ikonologie. Eine Einführung in die Kunst der Renaissance, in: ders., Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln 1978 [Engl. Erstausg. 1955], 36–67.
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Abb. 42: Lucien Kapp: Decatur, Illinois. Dreamland Lake from Space, 2022, 60 x 45 cm, Auarellfarben, Feder und Tinte.
Mit der Titelgebung durch den Künstler wird der Titel jedoch von einer Angabe in Kunstsammlungen und in der Wissenschaft zugleich zu einem integralen Bestandteil des Werks. Dass die Künstler Darstellungen von Straßenschluchten und Wolkenkratzern „American Landscape“ nannten, hatte einen
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Abb. 43: Lucien Kapp: No Snow in Tampa, 1969/2021, 55 x 45 cm, Aquarellfarben, Tinte und Pastell.
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paradoxen Zug, der im Rezipienten einen Denkprozess auslöst, das Geschaute zu hinterfragen und mit einem Gemeinten zu ergänzen. Diese Poetik – um mit Eco zu sprechen –, den (optischen) Rezeptionsprozess durch eine (semantische) Behauptung des Titels teils zu unterstreichen oder zu leiten, teils als abstrakte Antithesen zum abstrakten Werk zu konterkarieren, war neu. In den Dreamland Lake, „vom Weltraum aus betrachtet“, fühlt sich der Betrachter, die Betrachterin ohne Mühe ein (Abb. 42). Vielleicht ist es der Lake Decatur, vielleicht irgendein anderer. Wir können es uns aussuchen. Nur mit Mühe können wir uns allerdings vorstellen, was der Künstler mit seiner Erzählung, dass es in Tampa nicht schneit (Abb. 43), aussagen möchte. Wir dürfen davon ausgehen, dass er sich einen „surrealistischen Scherz“ erlaubt und es uns überlässt, figurative Assoziationen zu bilden oder nicht. Nicht das Bild selbst ist surrealistisch – wie etwa bei Salvador Dalí oder René Magritte – zumal es nichts „Gegenständliches“ zeigt, sondern es wird erst surreal durch eine paradoxe Aussage des Künstlers. Da das Bild seine innere Poetik bereits entfaltet hat, jene teils bewusste, teils unbewusste Ordnung durch den Künstler, erhält es mit dem Titel gleichsam eine sekundäre Poetik, den Rückbezug auf eine Wirklichkeit, in die sich der Rezipient, die Rezipientin zunächst hineindenken muss. Die scheinbar gegenstandslose Abstraktion wird solcherart durch den Titel zu einer surrealistischen Abstraktion.8 Ein Rätsel gibt auf den ersten Blick der Titel der Gouache Quasimodos Lament auf: ein dicht belegtes Blatt, wie vermustert in kleinen Kreisen und großen Bögen – Quasimodo, der sagenhafte, unglückliche Glöckner der Kathedrale Notre Dame in Paris aus Victor Hugos gleichnamigem Roman (Abb. 44). Das Jahr der Fertigstellung, 2019, scheint dabei wesentlich zu sein. Denn viele Millionen geschockter Menschen auf der ganzen Welt sahen am 15. April 2019 auf den Bildschirmen zu, wie diese Kirche brannte. Die Fensterrose auf dem Werk von Kapp, die „aus der Bahn geraten“ ist, zeigt dabei nicht wirklich Notre Dame. Doch geht es dem Künstler hierbei offenbar nicht um eine Reportage oder die Darstellung einer Zerstörung, sondern um die Trauer um verlorenes Kulturgut, um Unwiederbringliches, das einer Unachtsamkeit zum Opfer gefallen ist. Abermals tritt die Affinität des Künstlers zum Kreis, auch in tragischen Motiven, deutlich hervor. Die Trauer von Quasimodo ist nach innen gerichtet. Sie schlägt nicht um sich in Splittern, Kanten, Brüchen und Flammen. 8
Ich habe schon im Kapitel über die Jahre nach dem Krieg erwähnt, dass ich den Begriff „surrealistisch“ nicht im strengen, das Vernunftdenken ausschließenden Sinn der Gruppe der Surrealisten verwende, sondern dem allgemeinen Verständnis von „surreal“ mehr Platz einräume.
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Abb. 44: Lucien Kapp: Paris, Notre Dame, Quasimodos Lament, 1969/2019, 33 x 25 cm, Aquarellfarben, Tusche und Metallic Ink.
Verstörend wirkt ein dunkles Blatt, entstanden erst 2022, gänzlich bedeckt mit roten, blauen und grauen, ungerichteten Bögen, Ovalen und Kreisen, und dazwischen kaum sichtbar, ein paar Gesichter (Abb. 45). Ein helles, mittig in der oberen Hälfte, ein paar angedeutete Ovale verstreut auf der Fläche. Johanna
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Abb. 45: Lucien Kapp: France, Jean d’Arc Bypasses Rouen, 2022, 30 x 22 cm, Gouache und Tinte.
auf dem Scheiterhaufen? Aber der Titel sagt etwas anderes: Johanna von Orleans scheint ihre Todesstadt zu meiden, zu umgehen. Bleibt sie am Leben? Der Künstler lässt unserer Fantasie freien Lauf.
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Abb. 46: Lucien Kapp: Kiki de Montparnasse Makes a Selfie with Moise Kisling, 2022, 75 x 55 cm, Aquarellfarben, Tinte und Pastell.
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Abb. 47: Lucien Kapp: Saint George and Homer Simpson Provoke a Gum Chewing Dragon, 2015, 75 x 50 cm, Öl auf Leinwand.
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Eine ähnlich paradoxe, wenngleich weniger dramatische Szene findet man im Bemühen der Kiki de Montparnasse, in den 1920er und 1930er Jahren das Lieblingsmodell von Moise Kisling. Hier versucht sie, sich mit dem 1953 Verstorbenen in die Cloud zu stellen … Offenbar ist es ihr gelungen. Lucien Kapp hat sie jedenfalls 2022 dort gefunden. Auf einen sehr, sehr langen Weg schickt uns Kapp mit dem heiligen Georg, Homer Simpson und einem Drachen. Ein lebhaftes Geschlinge von Bögen und Kreisen im hellen unteren, „vorderen“ Bereich, das sich nach oben hin, im „hinteren“ Bereich verdunkelt und beruhigt. Die Autorin dieser Arbeit hat sich bei der Dechiffrierung im Wald verirrt …
Die Potawatomi, die Illini und die Tamaroa
Drei Werke, deren Titel auf das Schicksal der Indigenen Nordamerikas verweisen, sollen im Folgenden näher betrachtet werden vor dem Hintergrund der Sympathie des Künstlers für die indigene Bevölkerung und der Frage, ob hier eine Geschichte erzählt wird. Den Potawatomi Moon, Aquarellfarben und Tuschfeder, hat Lucien Kapp 1968 angelegt und 2019 ergänzt. Hier steht der Bildtitel zweifellos als Wegweiser, nicht als Pointe. Auf einem sandig-gelben, vom Künstler durch Striche definierten Rechteck sind am linken und rechten Bildrand zwei Figuren auszumachen, die miteinander in Verbindung zu stehen scheinen. Zwischen ihnen am Boden befindet sich ein längliches weißes Feld, in der Mitte desselben ein kleiner rötlicher Fleck. Hinterfangen wird das Motiv von einem Rahmen, der ein Bild im Bild erzeugt: im oberen Teil unter blauem Himmel eine Hügellandschaft, im unteren Teil ein weißes Feld mit einer tiefroten, versinkenden Scheibe. Zwei weitere Kreise, gelb und blau, sind den beiden Figuren zugeordnet, die blaue rechts über die vom Künstler gezogene Bildgrenze hinausragend, die gelbe hingegen drängt sich in die kahle linke Ecke. Ein flaggenartiges Gebilde durchbricht energisch den rechten Rand. Die rechte Figur zieht nicht nur durch ihre Größe den Blick des Betrachters auf sich, sondern vor allem durch ein stark gemustertes, sich massig um den Körper bauschendes und schlingendes Gewand, undefiniert in seinen Grenzen und solcherart die rechte Bildseite beherrschend, den nur angedeuteten Kopf hoch erhoben. Die Person scheint gestenreich zu sprechen. Die Figur links im Bild ist kleiner, schmächtiger, in einer Art Sitzhaltung nach vorn gebeugt, als würde sie den Blick zu Boden richten. Die Ausstattung der rechten Figur lässt an die Soldaten der europäischen Eroberer mit „prächtigen“ Uniformen denken, „mächtig groß“ als neue Herren, Gebieter und Richter. Darauf könnte auch die rechts über den Bildrand ragende Fahne hindeuten. Sieger und Besiegter? Befehlender und Gehorchender? Es spielt sich ein Geschehen ab, um ein undefiniertes Etwas im Vordergrund, von dem kleine Formen und Flecken über den Rand hinabrinnen und aus dem Bild herauszufallen scheinen.
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Abb. 48: Lucien Kapp: Glidden Lodge, Valmy, Wisconsin 1968: Potawatomi Moon, 1968/2019, 15x 25 cm, Aquarellfarben, Feder und Tusche.
Tatsächlich kam es 1968, zur Entstehungszeit des Bildes, in den USA zu einer der späten „Wiedergutmachungen“ gegenüber der indigenen Bevölkerung. Die Potawatomi lebten am oberen Mississippi River in Wisconsin, ihre Gebiete reichten bis nach Illinois. Als jüngste der drei ursprünglichen Gemeinschaften, die mit ihren verwandten Volksgruppen, den Menominee oder den Illini, jährlich zu Beratungen, den „Councils of the Three Fires“, zusammentrafen, hatten sie die Aufgabe, das Feuer zu bewahren, damit es nicht erlosch. Manchmal wurden die Treffen auch „Potawatomi Indians“ genannt. Um 1800 wurden die Potawatomi, nach mehreren Vertragsbrüchen der europäischen Eroberer, endgültig aus ihrem Gebiet vertrieben. Den in einem Reservat in Wisconsin lebenden Menominee wurde 1950 von der amerikanischen Regierung das Landrecht, trotz eines Vertrages, aufgekündigt und sie sollten das Land verlassen. Doch die Menominee klagten dagegen und erhielten 1968 vor dem Obersten Gerichtshof der USA Recht. Man könnte also die linke Figur als Vertreter der Menominee deuten, zu seinen Füßen der Vertrag mit der Regierung am Rande des verglühenden Feuers. Soll der naturalistische obere Teil des Innenbildes, der Himmel, die Hügel, an die ferne Vergangenheit der Potawatomi und Menominee erinnern, als sie noch ihre bewaldete Heimat um die Großen Seen bewohnten?
Die Potawatomi, die Illini und die Tamaroa
Abb. 49: Lucien Kapp: The Last Chief Illiniwek, 1966/2019, 38,1 x 30,4 cm, Gouache und Tinte.
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Ein anderes Werk, dem Kapp einen auf die indigene Bevölkerung verweisenden Titel gab, ist die Gouache The Last Chief Illiniwek (Abb. 49). Als „Chief“ bezeichneten die Amerikaner die Häuptlinge der indigenen Volksstämme. Den „Chief“ der Illini, der Indigenen von Illinois, hatte sich die Universität von Illinois als „Maskottchen“, als Talisman der Universität, gewählt. Den Begriff „Chief“ verwendete man an der Universität von Illinois aber auch für jene Studenten, die, mit der Kleidung eines Illini angetan, zum jährlichen Erinnerungsfest des „Mascots“ der Universität in den Hof der Universität einritten. Wie oben erwähnt, wurde dieser Brauch 1998 verboten. Lucien Kapp legte das Blatt um 1969 an. In jenen Jahren gab es erneut Proteste gegen die Versuche, die Reservate der indigenen Gruppen weiter einzuengen oder ihnen parzelliert zum Verkauf anzubieten und damit die Reservate rechtlich aufzulösen. Kreise und Bögen sowie eine mächtige innerbildliche Eingrenzung bestimmen das Bild. Es affiziert den Betrachter zunächst in seiner vertikal orientierten, fast symmetrischen Anlage mit mehreren einander schneidenden Kreisen. Die dominierende Farbe ist ein gedämpftes dunkles Rot, durchsetzt mit Grün- und Ockertönen. In der oberen Hälfte zeigt sich schemenhaft ein Gesicht ohne individuelle Züge, leicht nach links geneigt, die Augen ins Leere gerichtet. Durch die verschränkten Kreise hindurch scheinen nackte Beine bis zu einem Bogen am unteren Bildrand hinabzureichen. Der Körper vollendet sich nach oben hin zu beiden Seiten des Kopfes in hochragende, wie an einem Querbalken hängende Arme. Die angedeuteten Rippenbogen auf der linken Körperseite der Figur, das winzige blaue Quadrat in der Bildmitte und ein kurzer blauer, geschwungener Bogen darunter bekräftigen gleichsam als Nabel und Schamtuch die Assoziation mit dem Kreuzigungsmotiv. Bemerkenswert ist der mächtige, ziegelartig in den Umraum der Figur eindringende Rand. Besteht am formalen Grundmotiv der Kreuzigung wenig Zweifel, so irritiert die Beengung desselben, das der üblichen Ikonografie einer Kreuzigung Christi nicht entspricht. Jesus stirbt als Einsamer auf der Höhe von Golgatha, enthoben dem irdischen Geschehen. Auch frühere Darstellungen lassen dem Gekreuzigten einen solchen Freiraum. Hier wird die Figur jedoch von allen Seiten bedrängt, der Gedanke an die Reservate der Indigenen liegt nicht fern. Federartig ausgebildete Formen, die aus einem Kreisbogen über dem Kopf der Figur erwachsen, ragen strahlenartig in den oberen Bildrand. Ein gekreuzigter indianischer Ureinwohner? Es bleibt dem Betrachter überlassen. Die 2019 entstandene Arbeit Tamaroa Trace ist mehrschichtig auf Kupferstich und Radierung aufgebaut, jene weiter oben beschriebene Technik, die Kapp in
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Abb. 50: Lucien Kapp: Tamaroa Trace, 2019, 78 x 56 cm, Kupferstich, Kaltnadel-Radierung und Holzschnitt.
seinen späteren Jahren entwickelt hat (Abb. 50). Von der rechten Blattseite her scheint sich eine diagonale, spitzengemusterte dunkle Masse in unregelmäßigen Konturen über die helle linke Seite zu schieben. Diese weist nur einzelne verstreute, dünne Linien und Flecken auf. Darüber sind als indianisch zu verste-
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Abb. 51: Lucien Kapp: Domestic Manticore Joins Icecapades, 2015, 45 x 35 cm, Gouache und Tinte.
hende kreisartige Motive aufgedruckt, sich von rechts nach links verkleinernd. Zwei einzelne Motive des „Vogelmannes“ finden sich im linken oberen Viertel. Aufgrund des Titels bringt man die mächtige rechte und die ausgedünnte linke Bildhälfte in einen inhaltlichen Zusammenhang. Auch die Tamaroa waren
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ein indigener Volksstamm im südlichen Illinois, den Cahokia benachbart. Vom 17. Jahrhundert an wurden auch sie immer wieder von ihrem Land vertrieben, obwohl sie den Siedlern als „friendly“ galten. Ihre Spur, ihr „trace“, so scheint es, verliert sich im Westen …1 In den Bereich der skurrilen Bildtitel kann man Kapps Manticore einordnen (Abb. 51). Eine scheinbar gegenstandslose Abstraktion, bestehend aus um eine Achse wirbelnde, zum Rand hin sich enger einrollende Kurven und Bögen, wird durch die Titelgebung zu einem rätselhaften Motiv. Der unsinnige Titel bekommt einen Sinn, bezieht man die Affinität des Künstlers zur indigenen Bevölkerung Nordamerikas ein, denn als Mantikor, ein aus dem Persischen stammender Begriff für fabelhafte Mischwesen, hatten die ersten europäischen Einwanderer eine vielzahnige, schreckliche Tiergestalt der indigenen Kultur bezeichnet. Hier führt er einen Tanz in der Eisrevue auf. Bild und Titel domestizieren den Mantikor in eine sorglose amerikanische Welt schöner Illusionen. Es handelt sich um einen der vielen Bildtitel, mit denen Kapp die Betrachter in die vergangene, vertriebene oder sagenhafte Welt der nordamerikanischen Urbevölkerung führt. Vielleicht aber auch nur in das Jahr 1941, wo sich im Film Ice-Capades eine illegale Einwandererin in New York vor der Einwanderungsbehörde in einer Eisrevue versteckte ...
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Verbunden mit dem Namen „Tamaroa“ ist auch eine andere Geschichte: Die amerikanische Küstenwache, die US-Coast Guard, pflegte ihre Schiffe auf die Namen indigener Volksgruppen zu taufen. So gab es ein Schiff „Tamaroa“, das dann im Zweiten Weltkrieg sozusagen „eingezogen“ wurde und als Kriegsschiff diente. Danach wurde es wieder zum Küstenschiff und war bei vielen Rettungsaktion von Schiffen und Menschenleben im Einsatz. 2017 wurde es schließlich versenkt (und nicht verschrottet).
Abb. 52: Lucien Kapp: Aunt Nona and her Country Friends, 2022, 50 x 40 cm, Aquarellfarben, Tinte und Pastell.
Satz-Malerei
Nicht nur über eine Gans am Bauernhof erzählt Lucien Kapp Geschichten aus seiner eigenen Jugend (Abb. 52). Auch in Gedichten („Poems“), die er für seine Enkel schrieb, finden sich oft seltsame Tiere und sie lassen erahnen, wie sich bei ihm die Titel seiner Werke formen (könnten):
Poems for Sabryn from Grampie, Lankowitz, Summer 2008 That summer Lucien and Sabryn walked through Stuebing, the outdoor museum near Graz, and observed that a flock of sheep was grazing undisturbed while it started to rain. It prompted Lucien to come up with a limerick about rain sheep – thus started a whole „flock“ of poems about all kinds of animals. All poems are dedicated to Sabryn.1 The rain sheep stand on foreign land astride unchartered water. Their mottled fleece absorbing dew raw nature’s woolen blotter. The ant, the ant, it can’t say can’t and hefts astounding loads. By caravan it travers land, then rests in dirt abodes. Pink piggies are from heaven sent and have a lust for mud. They chew the most on last week’s toast or rancid gourmet crud. But when a child an oink oink loves its visage is quite other they blink kind eyes, they snout a grunt more soothing than a brother. While little girls admire them so, a porker is uplifted in pink attire with corkscrew tail – a sow that god has gifted. 1
Übermittelt von Brigitta Kapp.
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Satz-Malerei
Kaulquappen meet by mid-day heat on ponds of dark dilection. Their needs are met neath sunken ponds most rotted to perfection. Without elbows one can suppose their squiggles aren’t like fishes. A frog impends – its toes extend – fulfilling summer wishes. (Kaulquappe is the German word for tadpole) Unke-Unke-Unk Unkes are cousins to the Unks I’ve found, but their lips can’t form that Keh keh sound. Unkes can hum nocturnal Lieder, but an unk is a machismo breeder. So the Unk never solos from its Lilly pad, while the unks chats like thunder – I find that sad! (Unke is the German word for toad, fig. a croaker) The chicken boat can stay afloat while sitting on our table. Its critter crew is Sabryn’s zoo and sails whenever able. The alpine cow can say „bow wow“ as good as any doggie. An evil witch did do a switch while conjuring a froggy. In Steirer hat with butter fat this bovine preens quite spiffy. On breakfast bread yoghurt is spread the cow’s status is iffy. (The Steirer hat is a traditional Styrian hat) An Armadillo hugs his pillow while wrapped in armor plate. To fall asleep he dines quite cheap and often stays out late. Lil shrimp, lil shrimp Deep ocean’s imp beneath the foam you glide where just for now you take a bow and give sardines a ride.
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A kangaroo with much ado ’bout shopping in the outback went out her door at half past four with curlers, phone and knapsack. At mart she filled a grocer’s cart with twigs on figgy snack. As baby roo cooed „woo de woo“ most nothing was alack, Life‘s such a hop, sweet lolly pop, in Mommy’s tummy pack. Roo played croquet thus passed a day within his cushy pent pouch and only when he put on spurs did Moma utter „ouch“. Well past curfew they jogged anew o’er miles of blimey dunes Perchance to greet, although discreet, some crocs who spit out prunes. A wombat’s flight enfolds the night while dingos bay in tune above and far a pale blue star absorbs an emu song, its lullaby to bind in sleep the bog’s marsupial throng. A balloon ’s a buffoon, an aerial cartoon it soars, hovers and flitters. Where kids abound, sharp objects are found, the balloon gets rubbery jitters. Graf Zeppelin, Graf Zeppelin you’ve got quite a case of gas You ply the cloud in silver shroud and trust your girth will pass. Thy sausage skin is stretched there in by helium and ether I’d rather stand amidst quick sand than tarry long beneath her. The Aardvark is allowed to park in spaces warm and sunny. There is no fee, it’s gratis – free because its name is funny. The name alone emits a tone both lovable and hairy. It laughs a lot dispensing snot upon its estuary. If looks alone could fortune own t’would be quite fat and sassy, but svelt and shy of modest eye it shuns all mirrors glassy. Just now I swear I saw a cow with sandals on its feet. T’was mowing grass and sassafras while drinking lattes neat. There is a stall if I recall wherein a band was jamming. Its leading steer in moos most clear gave ear drums quite a slamming.
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Poems for Lilly and Oliver by Lucien Kapp (aka Grampie) 2020 Animals I have known or think I did The Labradoodle A labradoodle ain’t no poodle – its pedigree’s a kit and caboodle of fine genetic facts. This blend of hound and Frenchy sound explains the way it acts. It seems aware of what we think and follows our command „Go sit”, „now speak“, „shed near a hair“ – oh canine simply grand. Man’s best friend lies at our feet and licks your salty hand Blessed Doodle – a labra noodle unique in any land. The Gnat A gnat is fine for froggy food and very little others. It has extended family – at least a million brothers. Upon a slice of cantaloupe it does a pirouette, A buzz without much etiquette it leaves it quite „unett“ Your face and nearly all of you ’tis what it doth prefer Oh drat – oh gnat you’re now a splat And just what you deserve. The Stork A stork squats like the Duke of York upon old chimney pots Its nest is wove of sticks, of cloves, some half chewed tater tots. Transporting newborns is its due – a service right on cue. Proud moms and dads salute this bird with bundles just for you. The Pilot Whale The pilot whale avoids a gale by diving in deep waters. It navigates tectonic plates while flipping coastal otters. A dab of krill, a sea sick pill is all this mammal craves Do say hello, shout „there she blows“ – Leviathan of the waves. The Turkey Turkeys are such trotting birds – they sport a jaunty wattle. In winter’s field they seldom yield cavorting at full throttle. Thanksgiving day upon a tray they fill us up a „lottle“. The Garter Snake The garter snake is keen to bake a smokey creme brûlée.
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A cup of flour, a whiskey sour, a day at mostly play. Expecting guests it cannot rest – perfection they deserve. When Mickey Mouse walks in the house, voilà instant hors d’oeuvres! The Toad On dirt clod road the humble toad is under way to tea. He’s of a sort complete with warts that cause young girls to flee. Yet just beneath his rumpled cloak there dwells an artist ego. He hops, he croaks while telling jokes and only then will he go. The Porcupine Porcupines don’t grow on vines – they come from sundry sources. Less quills and frills out on the hills they could be micro horses. The Mole The garden mole surveys its hole to seek the right direction. It tunnels hither going yon’ exploring to perfection. O’er many hills, assorted rills, it punctuates your lawn. By then it’s time to say „enough“ – foul digger be ye gone! The Squid A timid squid has little ID, in foam all safely hid. At home it loves to quote a poem of deeds done all „pro quid“. Two tentacles, eight arms completely tucked in tight With inky residue on call for use in case of fright. The Koala Koalas are so cuddly cute, dark dimples stride their snoot. These eucalyptus connoisseurs hang loose without a hoot. Marsupial they are classified, in trees they’re prone to hide. Down under loved by Aussie types they give a nation pride. The Raccoon Most all raccoons prefer a spoon to stoke their fussy palates By garbage pail while quaffing ale and munching pungent shallots. They scrub their food with gratitude – fine scraps shared with their pack Masked critters at a midnight snack – as darkness comes they’re back.
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The Manatee A manatee avoids the sea for weedy river beds Its body is so „lumpy esque“ – its tail could be its head. A pool of weeds supports its need for chomping and nutrition. These calories add to its bulk with nary no attrition. In time of evolution the sea cow has a place And in the hearts of devotees this loving lump its space. The Blue Whale Your bulk’s enorm, the depths your dorm – oh bluest of the whales! Blow us a kiss of amber gris and tell us salty tales. All oceans know your blubbery call – all fishes flee your fluke. An awesome sensation – a gem of creation – a big thing beyond rebuke. The Giraffe Your average giraffe stands neck and a half above its tallest neighbors. On tippy toes it goes the rows of bushy leafy sabers The tallest trees come to its knees- it scans the distant vista. If danger lurks its instinct works – it flees hasta la vista! The Horse A horse is much of civilization and mirrors the rise of every nation. In ancient times and tomorrow’s news it labors with only the aid of iron shoes. A mystical presence, an everyday friend, a trusty companion at least to the end. Some pull a milk cart – wild mustangs can play – the horse stands beside us ennobling our day. The Lioness A mighty roar or just a snore across the wide savanna. The queen of beasts is not the least – in fact they call her Hanna. Her king meanwhile is into style where preening is the passion. His paws licked clean – impressing teens – machismo is in fashion. But in his den his queen says – when – and – how – and who’s the great cat. A larger mane won’t win the game – she reigns supreme at that.
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Als Lucien Kapp 1960, noch in den Jahren der All-over-Malerei und der Fleckenmalerei, seine Lehrtätigkeit an der Millikin University begann, trat in den Großstädten, vor allem an der Ostküste, die Pop-Art auf den Plan. Sie wandte sich den „Wirklichkeiten“ und den alltäglichen Dingen zu und überlagerte die abstrakte Malerei, zumindest, was die Aufmerksamkeit der Berichterstattung betraf. Fast ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Edward Hopper in einem gegenüber dem abstrakten Expressionismus eines Kandinsky antagonistisch anmutenden Realismus ein erstarrtes, vereinsamtes Amerika dargestellt, mit Menschen ohne Individualität, die in Alltagssituationen verharren. Nun zeigen die Künstler der Pop-Art den Alltag der Menschen ritualisiert, die Dinge als käufliche Fetische, die Markenware und die serielle Erzeugung als neue Beherrscher der Welt. Allen voran demonstrierte Andy Warhol, wie Quantität zu Qualität wird. Die Vervielfachung von Suppendosen und die Vervielfachung einer Marilyn sind eins. Nur die Hülle zählt. Der schematische Mensch ist dabei nur ein Objekt unter vielen, gleichsam eingebettet in die Käuflichkeit der Welt. Die optischen Fragmente verweisen auf das Ganze des „American Way of Life“. Von der Coca-Cola-Flasche über Waschbecken und Flaggen bis zur Marken-Wurst – alles ist austauschbar, ist Verpackung, nicht Inhalt. Die Pop-Art fordert ebenso das Denkerische des Rezipienten, der Rezipientin heraus wie die abstrakte Kunst. Doch während die abstrakte Kunst auch ohne Deutung und Erklärung die visuelle Wahrnehmung zufriedenstellen konnte, als reines Gebilde, lässt sich nun etwa eine Lithografie wie Campaign von James Rosenquist 1965 von der zugehörigen Erläuterung nicht trennen. Drei Kleenex Schachteln auf einem geblümten Tischtuch werden von einer zarten Frauenhand vom oberen Bildrand mit Salz bestreut, nur schwach erkennbar darunter ein Teil eines Anzugs mit Krawatte. Allein, wer in die spezielle Symbolik eingeweiht ist, weiß, dass es sich bei dem Bild um ein Anti-Kriegs-Bild gegen den Vietnam-Krieg handelt. Der abstrakte Expressionismus forderte nichts von sich aus, die Pop-Art hingegen wollte hinterfragt werden und die moderne Welt erklären. Sie schloss die Nicht-Verstehenden, die Ratlosen, aus. Wie die Pop-Art-Künstler nahm auch Kapp gelegentlich in heiter-ironisierenden Motiven ohne sozialkritische Attitude auf den „American Way of Life“
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Bezug, gewissermaßen als Kontrapunkt zu den Themen und Motiven über die indigene Bevölkerung Nordamerikas in seinem Werk. Seine Herangehensweise ist dabei unterschiedlich: Während Letztere oft eine Geschichte erzählen, die Anfang und Ende hat (zumindest in den Gedanken des Interpreten), verdichten sich alle Dinge im „American Way of Life“, so dass keine Erzählung erkennbar, sondern vielmehr eine Lebensweise transportiert wird, ein „Eindruck“ vorherrscht. Es entstehen Arbeiten in Aquarell, Tinte und Stift, deren pointierte Bildtitel die Konsumationslust Amerikas aus dem Blick der Fülle und Variabilität, nicht aus dem der hüllenhaften Gleichheit der Dinge ausdrücken. Dazu gehört etwa das Blatt Helen of Troy Checks Out Kroger, angelegt 1968, ergänzt 2020 (Abb. 53). Die Grundkomposition ist ein diagonales Kreuz. Vielerlei Dinge quellen im Vordergrund von rechts oben nach links unten, undefinierbar im Einzelnen. Sie drängen nach vorne zum Betrachter hin, ein Kunterbunt aus Kreisen, Bögen und Gegenbögen. Dazwischen fügen sich geschwungene Dreiecke und farbige Flecken, hier vielleicht ein Buch, dort vielleicht ein Apfel. Der vom Künstler definierte Rahmen fasst die Überfülle nicht und wird durchbrochen. Die wirbelnde Szenerie ist von einer Glasfassade hinterfangen, mit dem in den USA bekannten Schriftzug „Kroger“ einer großen Kaufhauskette. Der Blick verharrt am rechten Rand bei dem großen, seltsam geformten Einkaufswagen von annähernd zylindrischer Form – bis man das Zitat entdeckt, eine Paraphrase der 1929 entstandenen American Landscape von Joseph Stella. Zwischen diesen Bögen, Kreisen und geometrischen Formelementen entwickeln sich drei heitere Gesichter, in Bildmitte wohl die „Schöne Helena“ des amerikanischen Lebensalltags.2 So gehört hier zum „American Way of Life“ und zur „American Landscape“ auch noch die mythologische Schönheit der Käuferin. Wie in Kapps anderen Arbeiten tritt die Figur nicht als Individuum hervor, sondern steht gleichsam stellvertretend für die durch die Fülle der Waren beglückte Konsumentin. Der Blick auf die massenhafte Konsumation, die dem amerikanischen „Way of Life“ zugrunde liegt, mag sich mit der Pop-Art treffen, doch findet sich bei Kapp eher Ironie als Entlarvung. Eine sozialkritische Attitüde oder jede Art von vordergründiger Provokation wird man bei Lucien Kapp vergeblich suchen. Hände und Beine bleiben skizzenartig angedeutet, durch Bögen, Striche, Farbfelder und Muster überlagert. Die Personen sind eingebettet in eine Umwelt, eins mit ihr, oder aber in ihr gefangen und nicht bildhaft separiert. Wie 2
1956 war in Anlehnung an die Operette La belle Hélène von Jaques Offenbach der heitere amerikanische Film Helen of Troy entstanden.
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Abb. 53: Lucien Kapp: Helen of Troy Checks Out Kroger, 1968/2020, 25 x 20 cm, Aquarellfarben und Tinte.
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das etwa bei Edward Hopper oder bei Matisse der Fall war, um nur zwei in dieser Arbeit erwähnte Künstler zu nennen oder – um in der Zeit Kapps zu bleiben – eben in der Pop-Art. High Tea at Tom’s with the Michelin Man nennt Kapp ein locker und heiter anmutendes Werk in Mischtechnik (Abb. 54). Bei einem High Tea handelt es sich um eine englische Tradition, eine im Unterschied zu dem Afternoon Tea in den frühen Abendstunden stattfindende, üppigere Mahlzeit, zuweilen mit einer besonderen Einladung verknüpft. Einen Michelin-Mann erwartet man dabei eher nicht. Zumal, wie der Titel signalisiert, in „Tom’s“, einem in Amerika „Bar“ genannten Grilllokal, eher kein High Tea stattfindet.3 Aber der Künstler, der Titel, behauptet es. Man kann auch darüber nachsinnen, warum er die Arbeit als Trompe l’œil gestaltet, wie man an dem Nagel sehen kann, der das Blatt an die Wand oder vielmehr die Zeichnung an das Blatt heftet … Den „American Way of Life“ darzustellen, scheint ein weiteres Bild, das motivisch dichte Blatt Cahokia Sungiver von 2022 (Abb. 55), das in eine untere gelbliche und in eine obere blaue Hälfte geteilt ist, in der Mitte wie eingebettet ein trapezförmiges grünes Kompartiment. Das Werk lässt zunächst an ein Puzzle denken. Man ist hier versucht – jedenfalls die Autorin – der rätselhaften Komposition eine Bedeutung zu geben. Wieder führt uns der Künstler nach Cahokia im St. Clair County in Illinois, in das Kerngebiet der präkolumbischen Mississippi-Kultur, die sich in früheren Jahrhunderten weit in den Osten erstreckte. Glaubte man in dem Mississippian Moment (Abb. 32) auf den Grund des Flusses zu tauchen, so sucht man im Cahokia Sungiver zunächst einen Standpunkt. Die Augen werden zum mittleren Trapez geführt, das die Komposition beherrscht. Mit dem Namen Cahokia sind die Mounds verbunden, etwa 120 große, flache und heute grasbedeckte Erdpyramiden, die der Gegend ihre Prägung verleihen. Archäologische Grabungen im 20. Jahrhundert haben Überreste einer riesigen, offenbar geplanten Stadtanlage freigelegt, die von etwa 700 bis 1200 ihre Blütezeit hatte, dann aus unbekannten Gründen verlassen wurde und verfiel. In ihrer Grundausrichtung repräsentierte sie im Norden den Vater Himmel und im Süden die Mutter Welt, dazwischen lag in der Mitte der größte Erdwall mit mächtigen Holzgebäuden. Riesige Holzkreise, „Woodhenges“, zeigten den Jahresgang der Sonne an. Auf den Ebenen der höchsten Mounds lebte wahrscheinlich die sozial privilegierte Bevölkerungsschicht. Einige dienten zudem 3
Die Informationen über die Besuche der Familie bei „Tom’s“ habe ich von Brigitta Kapp erhalten.
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Abb. 54: Lucien Kapp: Decatur. High Tea at Tom’s with the Michelin Man, 1969/2021, 20 x 20 cm, Feder, Indian Ink und Kreide.
als Begräbnisstätten oder als Massengräber für Menschenopfer. 1982 wurde das Gebiet zum Weltkulturerbe ernannt. Bei Ausgrabungen unter einem der Hügel fand man ein männliches Skelett, das auf einen großen, in Form eines Falken ausgelegten Muscheluntergrund gebettet war. Einen solchen „Vogelmann“ findet man häufig in indigenen Bildkulturen. Das Motiv tritt auch im Œuvre von Lucien Kapp wiederholt auf. Hier hat er zwei solcher Figuren an der Diagonale der unteren Hälfte des Blattes, nennen wir es „Mutter Erde“, platziert.
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Abb. 55: Lucien Kapp: Illinois, Cahokia Sungiver, 2022, 70 x 48 cm, Aquarellfarben und Tinte.
„The American Way of Life“
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Der zweite Teil des Titels, „Sungiver“, ähnelt dem Namen der Lebensmittelkette Sungiven, die nach eigenem Bekunden sonnengereifte, hochqualitative, ohne besondere Zusätze hergestellte Lebensmittel, vor allem Früchte, vertreibt und auch in Cahokia eine Filiale unterhält.4 In der unteren „irdischen“, wohlgeordneten Hälfte des Blattes findet sich ganz offensichtlich das, was die Sungiven-Geschäfte im Überfluss bieten, gekennzeichnet mehrmals durch das Logo der Sonne mit grünen, spitzen Blättern. Die Personen und Gesichter verschwinden in der Dichte des Angebotes. Die obere, blaue Hälfte des Blattes erhält dadurch eine zweite Bedeutung. Der „Himmel“ scheint auch auf den Herkunftsort der Sungiven-Idee hinzuweisen, die „Xiamen Sungiven Import Asia Supermarket Chain“ – gekennzeichnet im Kreis rechts oben. So spiegelt das Werk den „American Way of Life“ offenbar in mehrfacher Weise: Einerseits verweist es in die präkolumbischen Epoche von Cahokia in eine Zeit vor der europäischen Einwanderung, in der es noch keine USA gab und andererseits verweist es in eine der großen Importquellen der modernen USA, „Made in China“.
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Dieses Resultat ergibt jedenfalls eine Internet-Suche nach „Cahokia Sungiver“. Die moderne Dechiffrierung einer möglichen Ikonografie lässt dem Rezipienten, der Rezipientin die Wahl.
Abb. 56: Lucien Kapp: Chorraum der Johanneskapelle, Fotografie 1970.
Die Pürgg-Transformation
Im Jahr 1970, während eines Aufenthalts in der Steiermark, besuchte Lucien Kapp die Johanneskapelle im obersteirischen Bergdorf Pürgg, deren romanischbyzantinisierenden Fresken aus dem 12. Jahrhundert in der Fachwelt bekannt sind (Abb. 56). Der Triumphbogen zum Chorraum trägt stilisierte arabische Schriftzeichen, unter denen man auch den Gottesnamen Allah zu erkennen meint. Links und rechts von dem lichtdurchstrahlten Fenster der Apsis befinden sich Fresken der beiden Figuren Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist, davor über der Mensa ein romanischer Kruzifixus. Auf der Fotografie steht links im Vordergrund eine in einen Umhang gehüllte und scheinbar in die Betrachtung des Altars versunkene Besucherin. Sie – Kapps Frau Brigitta – erscheint gleichsam wie eine Repoussoir-Figur, die eine Blickachse zum Kreuz hin erzeugt. Die Transformation des fotografischen Motivs ist vierzig Jahre nach dem Besuch des Künstlers in Pürgg nicht „von heute auf morgen“ vor sich gegangen. Das Werk, Öl auf Leinwand, ist in den Gedanken des Künstlers im Verlaufe von vielen Monaten in einem siebenfachen Wandel entstanden. 2022, nachdem der Künstler krankheitsbedingt über zwei Jahre nicht in seinem Atelier arbeiten konnte, vollendet er schließlich das Werk, das aus der Betrachtung einer kleinen Fotografie hervorgegangen ist, und gibt ihm den Namen: Visitation. Dem fertigen Bild gehen sechs Vorstadien in teilweise längeren Abständen voraus, unter der Endfassung verborgen und nur mehr auf den Fotografien erhalten, die seine Frau Brigitta spontan angefertigt hat, ohne im Voraus zu wissen, wann das Bild aus der Sicht des Künstlers „fertig“ sein würde. Daher entsprechen diese Fotos auch nicht den drucktechnischen Erfordernissen, lassen aber doch die Verwandlung der Komposition nachverfolgen.1 Von den verborgenen Stadien sind besonders drei hervorzuheben. Im 1. Vorstadium bringt Kapp zunächst das Motiv von der kleinen Fotografie auf eine Leinwand von 81 mal 61 cm Größe. Die raumgebenden Gurtbögen der Kapelle 1
Der Amerikanische Fotograf James Wilkerson hat die Fotos, die Brigitta Kapp von den Vorstadien gemacht hat, in ein kleines Video gebracht und auf YouTube gestellt: https://youtu.be/MIZgoN6eQ8Q.
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Abb. 57: Lucien Kapp: 3. Vorstadium der Entstehung von Visitation.
verwandeln sich bereits in ineinander schwingende Kurven, die über den drei heiligen Personen schweben, und wollen so die Tiefe nicht mehr unterstützen. Nur die Frauenfigur verbleibt noch in einer eigenen Ebene am unteren Bildrand. Im 2. Vorstadium übermalt Kapp die Fläche. Die Szene verdüstert sich. Die Konturen verschwinden und werden durch helle und dunkle Pinselbahnen
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Abb. 58: Lucien Kapp: 5. Vorstadium der Entstehung von Visitation.
ersetzt, in denen nur mehr die heiligen Figuren erkennbar bleiben. Die weibliche Figur im Vordergrund zerfließt. Noch zeichnet sich am rechten Bildrand eine räumliche Andeutung ab.
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Im 3. Zustand hebt Kapp die antithetischen Vor-Bilder in einem lichtdurchströmten Wirbel auf. Nur eine Andeutung des Kreuzigungsmotivs mit den beiden seitlichen Heiligen dringt noch durch sowie eine dunkle Gestalt im Vordergrund. Noch scheint sie außerhalb des Geschehens in der linken Bildfläche zu stehen, doch hat sich die Kreuzesgruppe bereits leicht nach rechts verschoben. Damit deutet sich auch eine inhaltliche Verschiebung des Motivs an. Im 4. Vorstadium zeichnet sich die neue geometrische Ordnung ab. Nun gibt es zwei mittlere Bildflächen in einer neuen, grafisch betonten Unterteilung. Die Frauenfigur ist keine Betrachterin, keine Repoussoir-Figur mehr, sondern bildet zusammen mit dem Kruzifix die Bildmitte. Ein Blau tritt hinzu und erweckt die Szene zu neuem Leben. Durch ein blasses Rot in angedeuteter Konturierung tritt die Frauenfigur aus dem Schatten hervor. Im 5. Zustand wird die Vierteilung manifest, die Figuren der beiden Heiligen verschwinden, die blauen Bögen im oberen Bilddrittel, gewissermaßen im Himmelsbereich, gehen in Gold auf. Ein Grün belebt die neue Komposition. Über dem Kruzifix ist ein großer Kreis entstanden, den man als Heiligenschein liest. Im 6. Zustand muss dann das Grün wieder einem Blau weichen. Die bisher nur verschwommen wahrzunehmenden seitlichen Bildflächen erhalten eine geometrische Befestigung. Die Christusfigur und die Frauenfigur erfahren durch wenige rote Striche und durch einen sparsam eingesetzten weißen Indian-InkMalstift ihre körperliche Ausformung und die eigentliche motivische Zusammengehörigkeit. Damit ist der finale Zustand erreicht, die Visitation. Kapp fügt nun dem Titel hinzu: „Brigitta in Romanesque Piety“. Er zeigt in ikonenhafter Flächigkeit und Nähe den Gekreuzigten und eine seitlich unter dem Kreuz sitzende oder knieende Frauenfigur (Abb. 59). Es gibt nur mehr diese beiden Figuren, den Gekreuzigten und die Frau, die keine Besucherin mehr ist, sondern Teil des Geschehens. Die wirkliche Tiefe des Chorraumes ist dem unwirklichen Goldhimmel gewichen, die Sonnenstrahlen des Fensters erweitern und vereinigen sich zum bildbeherrschenden Heiligenschein. Hier findet eine bemerkenswerte Umkehr der sonst bevorzugten Vorgangsweise des Künstlers statt, nämlich einem Motiv oder Thema Mehrschichtigkeit zu verleihen. Ein neues Grün setzt eine neue Konturierung der Figuren, gleichzeitig legt Kapp kräftige Pinselstriche über die Geraden der geometrischen Teilung, was eine Reduzierung der strengen Unterteilung bewirkt. Die irdische Zone und die heilige Zone erscheinen so miteinander verbunden. Die drei senkrechten Zonen haben damit jeweils ihre eigene Betonung erhalten: das Irdische, das Heilige, das Himmlische.
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Abb. 59: Lucien Kapp: Pürgg, Johanneskapelle, Visitation, Finaler Zustand, 2022, 81 x 61 cm, Öl auf Leinwand, Indian Ink und Metallic Ink.
Die Erlebnissituation von 1969 hat sich damit durch die Enträumlichung des fotografischen Vorbildes und durch eine Verschiebung des symmetrischen Altarraums, begleitet durch Verschiebungen der Farben, in eine zeitlose Zustandssituation verwandelt, wie eine Ikone. Schritt für Schritt erschafft Kapp hier keine Verdichtung der Welt, sondern eine Verdichtung von Diesseits und Jenseits, von Einst und Jetzt, von Individualität und Allumfassung.
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Earthen Hues Als Lucien Kapp nach seiner Krankheit 2020/2021 wieder genesen ist, entstehen einige Blätter in gedämpften „earthen“ (übersetzbar mit „erdigen“) Farben. Es hat den Anschein – hier überschreite ich die Grenzen zur Befindlichkeit des Künstlers –, dass er sich erst in seine heitere Gelassenheit zurückkämpfen muss. Die Motive stehen in sich gefestigt da, ohne in einen wie immer gearteten Hinter- oder Untergrund eingebettet zu sein, aber doch „auf dem Boden“. Stattdessen verlagert Kapp die Welt in die Figuren hinein, wo sie ein reiches Binnenleben entfalten. Kreis und Bogen bestimmen weiterhin den Duktus. Dem Betrachter, der Betrachterin bleibt es überlassen, sofern man über die Freude an der Form hinausgehen möchte, eine Dechiffrierung anzudenken (Abb. 60, 61, 62).
Awash Nicht erst in der Zeit seiner Rekonvaleszenz, als er noch nicht in seinem Atelier mit dem „großen Pinsel“ arbeiten konnte, sondern schon in den Jahren, als er gesundheitsbedingt seine Österreich-Reisen aufgeben musste, seit etwa 2015, entstanden verdichtete Arbeiten, deren Motive das gesamte Blatt ausfüllen, dabei aber nicht „unbegrenzt“ bleiben, sondern zum Teil eine starke Rahmenbetonung erfahren. So ein Blatt, das “bis an die Grenzen geht“, stellt die Erinnerung des Künstlers an die flüchtigen Erlebnisse in der Zeit seiner Highschool dar. Die bunt verstreute, kaum definierte Motivfülle ist von kräftigen gelben Bögen überlagert, vereinzelt wie Bruchstücke von Ereignissen (Abb. 63). Die Form des Blattrandes, ausgeführt in Pastellkreide, liest sich wie ein zur Seite geschobener Vorhang, hinter dem die Erinnerungen schlummern. „Awash“ – das ist der Begriff, der diese neue, platzfordernde Herangehensweise des Künstlers genau trifft. Wo er sich früher selbst durch Rahmung innerhalb des Blattes Grenzen gesetzt hat, drängt er jetzt an die Ufer und überschwemmt den
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Abb. 60: Lucien Kapp: Tante Dot’s Blue Haven, 2021, 18 x 14 cm, Aquarellfarben und Tinte.
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Abb. 61: Lucien Kapp: Chief Blackhawk with Souvenir Katchina, 2021, 19 x 12 cm, Aquarellfarben und Tinte.
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Abb. 62: Lucien Kapp: Under a Parrot Cloud, 2021, 20 x 15 cm, Aquarellfarben und Tinte.
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Abb. 63: Lucien Kapp: Awash in Pink Carnations, Brash Green Stars and Rivulets of Dark Red Lipstick. Remembering High School Years, 2022, 40 x 53 cm, Aquarellfarben, Tinte, Pastell.
Strand-Rand. „Awash“ meint nicht das Gleiche wie All-over, die Un-Grenze, die Kapp schon in den 1960er Jahren überwunden hat. Ohne die surreale Abstraktion zu verlassen, erzählt er seine eigene Geschichte wie in Awash in Pink Carnations oder er macht Unmögliches möglich für Jean d’Arc und Kiki von Montparnasse. Immer öfter findet sich eine neue Auffassung der Fläche, eine energische Inanspruchnahme des Blattes mit Motiven („motifs“), wie streifig separiert in Rudolph Dumps Santa for UPS (Abb. 64) oder in einen Untergrund eingebettet wie Gummie Bear’s Golden Smooch (Abb. 65). Auch „Gummie Bear’s Smooch“ oder „Rudolphs Abwurf im Schneegewirbel“ schicken den Betrachter, die Betrachterin in die gleiche Spannung zwischen Wort und Bild, die in den Arbeiten Kapps seit seinen frühen Schaffensjahren auftritt. Auch Werke, die Kapp schon in den 1960er Jahren angelegt hat, wie die Späher in einem kleinen Restaurant namens „The Garden“, erweitert Kapp nun. Der Künstler hat das Bild anlässlich des Todes eines Freundes, mit dem er sich öfters in diesem Restaurant getroffen hat, noch einmal überarbeitet. Jetzt fina-
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Abb. 64: Lucien Kapp: Rudolph Dumps Santa for UPS, 2021, 43 x 52 cm, Aquarellfarben, Tinte, Pastell.
lisiert er es im Modus des Awash (Abb. 66).2 Bildrand und Motivrand fallen hierin zusammen. Eine stilistisch und inhaltlich besondere Stellung nimmt eine Gouache von 2015 ein (Abb. 67). In breiten Pinselstrichen aufgetragene Bögen und Kurven in hellen, gedämpften Farben, die sich den goldenen Streifen anschmiegen, bedecken das ganze Blatt, mit der Betonung in der unteren Hälfte. Die Bögen erscheinen auf halber Höhe wie gebrochen und setzen sich dann in leichter Verschiebung weiter nach oben fort. Nur die Bögen in der senkrechten Mitte erfahren keinen Bruch, sondern entwickeln sich aus zwei skizzierten Köpfen zum Motiv einer Mutter mit Kind, das man sogleich formelhaft als Madonna mit dem Jesusknaben wahrnimmt, obwohl kein anderes Detail darauf hinweist. Am rechten Bildrand auf der Höhe des goldfarbigen Bogens, den man als Knie der Madonna liest, befindet sich ein dritter offenbar der Madonna mit dem Kind zugewandter Kopf, in dem man der üblichen Ikonografie folgend aufgrund seiner Position den Johannesknaben 2
„The Garden“ ist ein Restaurant in Decatur.
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Abb. 65: Lucien Kapp: Gummie Bear’s Golden Smooth, 2021, 53 x 42 cm, Aquarellfarben, Tinte, Pastell.
erkennt, des kindlichen Johannes des Täufers. Von dort wandert der Blick zu einem schwarz-grünen Büschel von Bögen am linken unteren Bildrand, das sich zusammen mit einem zarten weißen Kreis und einigen kurzen, hellen Bögen zu einem gebeugten Engel formt. Schließlich zeigt sich am oberen Bildrand, wie über der Szene schwebend, noch ein heller Kopf in weiten, hellen Bögen, die man als ausgebreitete Arme deutet. Ein Detail in der rechten oberen Bildecke zeigt uns eine kleine Wirklichkeit: ein Vöglein vor dem blauen Himmel. In Bö-
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Abb. 66: Lucien Kapp: Geezers at The Garden, 1968/2020, 15 x 15 cm, Aquarellfarben, und Tinte.
gen und Kurven hat sich so scheinbar ein Motiv entwickelt, das die Künstler der Renaissance im Auftrag ihrer gläubigen Auftraggeber immer wieder neu gestaltet haben und das wir, die Rezipienten, sogleich zu erkennen vermeinen: die Madonna mit dem Jesuskind – ein Andachtsbild ohne Erzählung, eine Salutatio. Doch Kapp nennt das Bild „Pietà“, das Trauermotiv nach der Kreuzabnahme Christi, das in der Renaissance weniger geschätzt wurde als zuvor von den bußfreudigen Gläubigen in der Zeit der Gotik. Es war in Frankreich und Deutschland beliebter und weiter verbreitet als in Italien. Die berühmte Pietà Michelangelos im Petersdom gehört zu den Ausnahmen. Die beiden Figuren in der Mitte der Komposition, die Mutter und ihr toter Sohn, bilden die Pietà, die Minuten nach der Kreuzabnahme. Die Figur am rechten Bildrand wird dadurch vom heiligen Johannes dem Täufer zu Johannes, dem Evangelisten, dem Lieblingsapos-
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Abb. 67: Lucien Kapp: Pietà in Prairie Gold, 2015, 60 x 45 cm, Aquarellfarben, Metallic Ink und Tinte.
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Abb. 68: Lucien Kapp: Kathmandu-Mandu-Mandu, 2016, 91,4 x 78,4 cm, Öl auf Pressspanplatte.
tel Jesu, dessen Obhut er vor seinem Tod seine Mutter Maria anvertraute – eine Erzählung aus der Bibel, eine Memoria. Im ersten Fall, in einer Salutatio, gibt es kein Vorher und Nachher. Im zweiten Fall, in der Memoria, ereignet sich zuvor die Kreuzigung und danach findet die Grablegung Christi statt. 3 3
Über die unterschiedlichen Wege der Andachtsbilder einerseits und der erzählenden
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Abb. 69: Lucien Kapp: Solstice Star over Lankowitz, 2022, 80 x 60 cm, Öl auf Leinwand und Metallic Ink.
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Als einen heiteren Sommertag könnte man Kathmandu-Mandu-Mandu (Abb. 68) lesen – wären da nicht die haptischen dunkelroten Spuren, die sich über das Blatt breiten, und das Entstehungsjahr 2016. Das Bild hat ein Zentrum, aber keinen Rand, kein abgeschlossenes Motiv, die Flecken und dunklen Spuren könnten sich in alle Richtungen fortsetzen. Im Jahr zuvor, 2015, hatte in Nepal das große „Himalaya-Erdbeben“, mit dem Epizentrum in Kathmandu, stattgefunden, bei dem die Erde über Wochen hinweg immer wieder bebte und das Tausende von Toten und eine zerstörte Stadt hinterließ. „Zerstörung, wohin das Auge blickt“, so könnte man die Ausdehnung der Flecken, von einem weißen Zentrum ausgehend, beschreiben. Wenn man es nicht vorzieht, an einen heiteren Sommertag zu denken. Um 2022 bringt Kapp noch einmal einen „Fensterblick“ flächenfüllend auf die Leinwand. Obwohl das Motiv das gleiche ist oder zu sein scheint wie jenes von 1986, stehen hinter den beiden vermeintlich gleichen Motiven ganz unterschiedliche gedankliche Zugangsweisen. Im Franziskanerkogel von 1986 ist es der spontane Blick des Hier und Jetzt, der Blick aus dem Fenster auf eine Landschaft, die immer gleich bleibt (und sich doch dem Blick des Künstlers stets ein wenig anders darbietet). 2022 hingegen drängen sich Gedanken, Erlebnisse und Erinnerungen des Künstlers hinein, und er ordnet sie, wie andere Erlebniserinnerungen seiner späten Schaffensperiode, in Bildsegmente, die Dauerhaftigkeit und Vergänglichkeit miteinander verbinden. Die Version von 2022 entstand bereits anlässlich der Ausstellung 2016, wurde vom Künstler dann aber als unvollendet empfunden und noch einmal überarbeitet.
Zen oder nicht Einen scheinbar eindeutigen Titel setzt Kapp unter sein Werk There are no Mistakes in Zen von 2016 (Abb. 70). Zen – eine perfekte Religion? Wer ein wenig über den Zen-Buddhismus gehört hat, weiß, dass im Zen nichts weniger gefordert wird als Fehlerlosigkeit oder das Streben danach. Vielmehr ist es genau umgekehrt: Im Zen wird das Erreichen einer festen Ordnung und auch das Streben nach „Wahrheit“ angezweifelt. Auf Fragen erhält man oft eine scheinbar sinnlose oder paradoxe Antwort. Es gibt keine Eindeutigkeit, keine Gewissheit. Ikonografie (Narratio) andererseits habe ich gehandelt in: Aulinger, Barbara, Zwischen Salutatio und Memoria. Eine Spurensuche zur Sacra Conversazione, in: Festschrift für Götz Pochat. Zum 65. Geburtstag, hrsg. von Johann Konrad Eberlein, Wien und Berlin 2007, 89–110.
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Abb. 70: Lucien Kapp: There are no Mistakes in Zen, 2016, 80 x 55 cm, Öl auf Leinwand.
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Im Zen-Buddhismus gibt es keine eigene Kunstphilosophie, steht er dem zielgerichteten Handeln, also im Sinne Ecos einer „Poetik“, doch ablehnend gegenüber. In der bildenden Kunst findet er am ehesten im Tachismus seinen Ausdruck. Umberto Eco, der sich 1959 in einer Abhandlung über Zen in der Kunst äußert, sieht den Zen-Buddhismus weniger in der bildenden Kunst als vielmehr in der Musik wirken und beschäftigt sich dabei besonders mit John Cage.4 In Bezug auf die Malerei betont Eco: „[Zen] wertet auch den Raum als Entität für sich, nicht bloß als Gefäß für die Dinge, die in ihm sind, sondern als deren Matrix […]“.5 In der Ästhetik (Äußerlichkeit) des Lebens sieht sich das Zen als unvollendeter Kreis und lehnt die Symmetrie ab, weil diese doch eine gerichtete Ordnung verlangt. Wohingegen das Zen auf ein ungerichtetes Wachsen zielt – obwohl der semantische Gehalt von „zielen“ hier als Paradoxon erscheint. Als solches ist auch der Bildtitel von Kapp zu verstehen. Das Bild scheint auf den ersten Blick von Ordnung und Symmetrie durchdrungen – und ist es nicht, wenn man genauer hinschaut. „There’s no symmetry in Zen“ könnte der Titel also lauten. Doch diese Behauptung wäre ein bestimmtes Urteil, das im Zen eben abgelehnt wird. Bildlicher Inhalt und sprachlicher Titel schließen sich also gegenseitig aus. In den späten 1950er Jahren hielt der Zen-Buddhismus Einzug in den USA, vor allem an der Westküste. Man sah in der antiintellektualistischen Haltung dieser Religion eine Befreiung von den Regeln der Gesellschaft, vom „American Way of Life“. Es bildeten sich zwei Richtungen heraus, die sich sehr unterschiedlich äußerten: einerseits das sogenannte Beat-Zen vor allem der jungen Generation, die sich anstatt des Planens in der Spontanität und Zügellosigkeit wiederfand und die im Zen eine Befreiung auch von moralischen Regeln sah; andererseits das sogenannte Square-Zen, das durch Meditation auf geistige Innerlichkeit zielte, auf Selbstdisziplinierung, indem man lernte, das Wollen auszuschalten. Lucien Kapp, der im eher spröden presbyterianischen Glauben erzogen wurde und später zum eher prächtigen katholischen Glauben übertrat, ist trotz seiner künstlerischen Affinität zur asiatischen Kunst vom Zen entfernt (ich zögere hier, das übliche Adjektiv „weit“ einzufügen). Im Gegenteil zeigt sich in seiner stilistischen Entwicklung doch eine frühe Abkehr vom Zufall, von der Flecken- und Farbflächenmalerei, die man bei manchen Künstlern in die Nähe 4 5
Eco, Umberto, Zen und der Westen [1959], in: Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 1990, 212–236. In einer Präambel sagt Eco, dass er diesen „alten“ Aufsatz nur zögerlich in sein Buch Das offene Kunstwerk aufnehme. Eco, Zen, 220.
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des Zen-Buddhismus bringen könnte. Er ist seit den späten 1960er Jahren den gegenteiligen Weg etwa eines Marc Rothko oder eines Clifford Still gegangen. Kapp tendiert zur Bestimmtheit durch die Linie. Er hat einen völlig eigenen Weg beschritten, der die Dichte der erlebten Welt nicht auflösen will, wie etwa der Tachismus und er reduziert sie auch nicht auf multiplizierte Ausschnitte der Wirklichkeit, wie die Pop-Art. Vielmehr strebt er nach einer abstrakten Bestimmtheit. Er stellt eine untrennbare Beziehung zwischen Bild und Titel her, die manchmal die neue Form einer „paradoxen Abstraktion“ erzeugt und den Rezipienten damit auffordert, zwei Bilder übereinanderzulegen – das abstrakte Kunstwerk einerseits und den realistischen Titel andererseits – und dann selbst zu entscheiden, ob sie deckungsgleich sind oder nicht.
Literaturverzeichnis
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Bildnachweis
Gemeinfrei: Abb. 3: Wassily Kandinsky: Reiter, 1912, Schwarz-Weiß-Abbildung im Blauen Reiter, S. 35. Abb. 19: Marcel Duchamp: Akt, eine Treppe herabsteigend, 1912, 146 x 89 cm Öl auf Leinwand (Philadelphia Museum of Art). Quelle: Mediathek des Institutes für Kunstgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Abb. 41: Franz Marc: Blaues Pferd, 1911, 112 x 84,5 cm, Öl Auf Leinwand (Städtische Galerie im Lenbachhaus München). Quelle: Mediathek des Institutes für Kunstgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Abb. 20: Natalia Gontscharowa: Gelber und grüner Wald 1913, 102 x 85 cm, Öl auf Leinwand (Staatsgalerie Stuttgart). Quelle: Mediathek des Institutes für Kunstgeschichte der Karl-Franzens-Universität Graz. Copyright: Abb. 8: Lee Chesney: Weddingparty, 1960, 35 x 42 cm, Kupferstich, Privatbesitz. Alle weiteren im Buch verwendeten Abbildungen und Fotos von Lucien Kapp sind entweder im Besitz von Lucien C. Kapp oder in Privatbesitz in den USA und in Österreich. Für die in Privatbesitz befindlichen Abbildungen 2, 6, 8, 10, 15, 16, 25, 26, 29, 30, 36 und 64 haben die Besitzer freundlicherweise die Erlaubnis zum Abdruck erteilt. Für alle anderen Abbildungen von Lucien C. Kapp und für die Fotografien liegt das Copyright beim Künstler.