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German Pages 628 Year 2015
Heribert Tommek Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur
Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur
Herausgegeben von Norbert Bachleitner, Christian Begemann, Walter Erhart und Gangolf Hübinger
Band 140
Heribert Tommek
Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur
Studien zur Geschichte des literarischen Feldes in Deutschland von 1960 bis 2000
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-035270-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-035908-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038672-1 ISSN 0174-4410 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Einleitung 1 1 Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer 1 Geschichtsschreibung 2 Die Vermittlung von Gesellschaft und Literatur im Konzept eines 11 relativ autonomen Feldes 3 Die für die Entwicklung des Feldes der Gegenwartsliteratur relevanten 15 sozialen Transformationen 4 Methodische Grundlagen einer feldanalytischen 27 Literaturgeschichte 38 5 Zu den folgenden Studien
Erster Teil. Transformationen des literarischen Feldes seit den sechziger Jahren I. Strukturtransformationen 45 1 Pluralisierung – Ökonomisierung und Medialisierung – 45 Globalisierung 2 Die Veränderung der literarischen Öffentlichkeit: Sektorale Pluralisierung und das umkämpfte Regulativ einer repräsentativen 66 Kultur 3 Das »Aufplatzen des Wissens« und das veränderte Mandat der 77 Schriftsteller als Intellektuelle II. Historische Entwicklungslinien 83 83 1 Das literarische Feld in der Bundesrepublik 83 1.1 Der Modernisierungsschub vom ›Wendejahr 1959‹ bis ›1968‹ Fallstudie 1: Strukturelle (Un-)Zugehörigkeit. Die Konkurrenz der Autorpositionen von Hans Magnus Enzensberger und Peter 102 Weiss 122 1.2 Die neuen Tendenzen (›1968‹ bis 1989/90) 141 2 Das literarische Feld in der DDR 2.1 Konstituierungsphasen eines nationalliterarischen Raums in der 142 SBZ/DDR (1945–1965) 2.2 Die Ausprägung eines kulturellen Raums zweiter Ordnung und die 154 Emanzipation des literarischen Feldes (1965–1976) Fallstudie 2: Kampf um ästhetische Eigenständigkeit und Trennung der Räume. Die Konkurrenz der Autorpositionen von Peter Hacks und 168 Heiner Müller
VI 2.3 2.4
Inhalt
Trianguläre Beziehungen (1976–1989/90) 199 Das Erbe der DDR-Literatur im gesamtdeutschen literarischen Feld 208 (»Post-DDR-Literatur«)
III. Zwischenresümee
212
Zweiter Teil. Das Feld der Gegenwartsliteratur seit den neunziger Jahren I. Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich 217 1 Die gemischte Struktur und die Entwicklung des 218 Mittelbereichs 1.1 Ästhetische Unterhaltungsliteratur 229 1.2 Historische Entwicklungslinien 232 2 Literarische Umstellungsstrategien 244 2.1 Brückenschläge vom autonomen Subfeld in den Mittelbereich: Die Strategie des flexiblen »Eigensinns« 244 2.2 Brückenschläge vom Subfeld der Massenproduktion in den Mittelbereich: Skandalisierung, Ereignisinszenierung und global zirkulierende Formate 248 2.3 Im Inneren des Mittelbereichs: Das Ringen um Präsenz und Relevanz 252 3 Besetzungen im flexibel ökonomisierten Mittelbereich der neunziger Jahre 256 3.1 Die neuen Popliteraten 257 3.2 Das literarische »Fräuleinwunder« 276 3.3 Disperser Realismus 283 3.4 Exkurs: Vom »Theater der Präsenz« zum »Drama des Prekären«: Transformationen des Theaterfeldes in den neunziger Jahren 298 II. Der Nobilitierungssektor 317 1 Struktur und Entwicklung des Nobilitierungssektors 317 1.1 Der Nobilitierungssektor und seine Rechtfertigungsordnungen 317 1.2 Der deutsche Staat und seine Dichter: Eine historische Skizze 327 2 Autorpositionen im Nobilitierungssektor 330 2.1 Die (kunst-)religiöse Behauptung der Ästheten-Position 330 2.1.1 Botho Strauß’ Wiederherstellung der sakralen Kunstsphäre aus dem Geist der Zeitdiagnose 331
Inhalt
2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 2.3.1 2.3.2 2.4 2.4.1
2.4.2
VII
Peter Handkes L’art pour l’art-Position in der Niemandsbucht 345 (1994) Die naturwissenschaftlich und -geschichtlich gestützte Behauptung 355 der Ästheten-Position Durs Grünbeins Schädelbasislektion (1991) und die Entwicklung einer 358 ›neuro-romantischen Poetik‹ Raoul Schrotts Tropen (1998) und die Entwicklung einer Ästhetik des 363 ›postmodernen Erhabenen‹ W. G. Sebalds »Naturgeschichte der Zerstörung« und die 370 Neubesetzung der literarischen Gedächtnisposition Die ökonomisch gestützte ästhetische Position im 382 Mittelbereich Vom Wandel der symbolischen Zentralstellung (Walser, Grass, 385 Schulze) 397 Daniel Kehlmanns ›Spitzenposition‹ 410 Die bürgerlich gestützte ästhetische Position der Notabeln Auf dem Weg zur bildungsbürgerlich-klassischen Kunst: Durs Grünbeins Nach den Satiren (1999), Antike Dispositionen (2005) und 414 Porzellan (2005) 425 Uwe Tellkamp und sein Roman Der Turm (2007)
431 III. Der Avantgardekanal 1 Die Entwicklung der Avantgarde: Von der vertikalen Ausrichtung in 431 die horizontale 431 1.1 Zur Veränderung des Avantgarde-Begriffs 1.2 Die Infragestellung der Avantgarde als Reproduktionsprinzip der 434 feldspezifischen Geschichte 2 Die Entwicklung des lyrischen Subfeldes 442 Fallstudie 3: Zwischen Nischenexistenz und symbolischem Aufstieg: Die Konkurrenz der Autorpositionen von Thomas Kling und Durs Grünbein 453 3 Das Raunen im Avantgardekanal 486 3.1 Thomas Kling 487 3.2 Reinhard Jirgl 503 3.3 Elfriede Jelinek 525 Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur: Resümee Abbildungsverzeichnis
583
562
VIII
Inhalt
Literaturverzeichnis 585 585 Primärliteratur 589 Sekundärliteratur Personenregister
617
Einleitung 1 Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer Geschichtsschreibung Jeder Geschichtsschreibung der Gegenwartsliteratur stellt sich in einem besonderen Maße das Problem ihrer Gegenstandsbestimmung und Periodisierung. ›Gegenwartsliteratur‹ kann heute nicht mehr ›Literatur nach 1945‹ bedeuten. Es bedarf daher ihrer begrifflichen und geschichtlichen Neubestimmung in Abgrenzung zur Nachkriegsliteratur. Die begrifflichen Bestimmungen der Gegenwartsliteratur sind bislang unscharf und orientieren sich vor allem am Begriff der »Gegenwart« und der »Gegenwärtigkeit«. Das Metzler-Literaturlexikon bestimmt »Gegenwartsliteratur« als einen »relationale[n] Begriff, der eine Teilmenge des Gesamtbereichs ›Belletristik‹ bezeichnet. Seine Bestimmung ist abhängig davon, was der Betrachter als seine Gegenwart erfährt und wie er ›Gegenwart‹ definiert«. Drei Varianten der Begriffsverwendung werden genannt: 1. im Buchhandel als »Neuerscheinungen der letzten Jahre«, 2. rezeptions- und produktionsbezogen als »Werke noch lebender oder jüngst verstorbener Autoren« und als »Katalog von Neuerscheinungen innerhalb der Lebensspanne eines gegenwärtigen Publikums«, 3. literaturwissenschaftlich als »jüngste Periode der Lit.[eratur]produktion«.1 An diese weite und relationale Bestimmung schließt Michael Braun in seiner Einführung zur Gegenwartsliteratur an: Als zentrale Kriterien nennt er »Wandelbarkeit, Zeitgenossenschaft, Zukunftsorientierung«. Die »Literatur der Gegenwart« sei zugleich »Literatur über die Gegenwart«.2 Oliver Jahraus radikalisiert die Fokussierung auf die Gegenwart. Er versteht »Gegenwartsliteratur« als »das Gegenteil von Literaturgeschichte« und plädiert dafür, sie über ihre »Gegenwärtigkeit« zu definieren: »Gegenwartsliteratur ist für mich solche Literatur, die man gegenwärtig erfahren kann. Das hängt mit der Präsenz und der Performanz der Autorin/des Autors zusammen«. Jahraus entkoppelt den Begriff der Gegenwartsliteratur von einer historischen Bestimmung und betont ihre »präsentische Qualität als ästhetische Qualität«. Gegenwartsliteratur erhalte dadurch einen »epiphanischen Charakter«.3
Die Schwerpunktsetzung auf »Gegenwart« und »Gegenwärtigkeit« rückt den Begriff der Gegenwartsliteratur in die Nähe der Ereignisgeschichte und trennt ihn von einer Strukturgeschichte. Diese Einordnung korrespondiert mit dem
1 Dieter Burdorf u. a. (Hg.): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. 3Stuttgart 2007, S. 267. 2 Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 14 u. S. 15. 3 Oliver Jahraus: Die Gegenwartsliteratur als Gegenstand der Literaturwissenschaft und die Gegenwärtigkeit der Literatur. Vortrag auf der Tagung des Literaturbeirats des Goethe-Instituts in München am 14. 1. 2010; www.medienobservationen.lmu.de/artikel/allgemein/allgemein_ pdf/jahraus_gegenwartsliteratur.pdf (abgerufen am 15. 12. 2012), S. 6.
2
Einleitung
›Ereignischarakter‹ der Literatur als Marktgeschehen. Der ihm entsprechende ästhetische Begriff ist der des ›epiphanischen‹ und ›performativen‹ Charakters der Gegenwartsliteratur (Jahraus). Damit wird aber die Frage nach der historischen Genese und ihren strukturellen Mustern sekundär. Eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Gegenwartsliteratur kann sich indes nicht auf die Selbstevidenz des Präsentischen als charismatische Erscheinungsform beziehen, wie sie eher typisch für die Literaturkritik ist. Der Frage, welche historische und begrifflich-methodische Distanz sie zu ihrem Gegenstand einnimmt, kann sie nicht ausweichen. So stellt sich vor allem die Frage nach dem zeitlichen Einsetzen des Gegenstandes und nach seiner Überführung in eine ›Gegenwart‹, die zum Zeitpunkt der Niederschrift immer schon wieder vergangen ist. Für die zeitliche Einordnung der Gegenwartsliteratur war lange die Zäsur von 1945 maßgeblich, die dann – vor allem aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive – von dem Einschnitt ›1968‹ abgelöst wurde. Mangels übergeordneter Konzepte setzte sich dann die Periodisierung nach Jahrzehnten durch. Schließlich übernahm die Literaturgeschichtsschreibung bereitwillig die politische Zäsur von ›1989/90‹.
Das Ungenügen der bisherigen Geschichtsschreibung der Gegenwartsliteratur Die Sozialgeschichte der Literatur löste die ideengeschichtlich ausgerichtete Literaturgeschichtsschreibung ab, indem sie versuchte, ästhetische und gesellschaftliche Entwicklungen in einem direkten Zusammenhang zu sehen.4 Die Versuche zu einer Sozialgeschichte der Literatur setzten in den 1970 er Jahren im Zuge der Reformgermanistik ein. Sie löste die Ideengeschichte ab und verstand Literatur fortan als einen sozialen Bedingungszusammenhang. Damit wird das Fenster zum Feld der Untersuchungen weit geöffnet; was lockt, ist nicht nur ›empirische Validierung‹, sondern gleichzeitig Modellbildung, resultierend aus Fallstudien. Ihre Hauptannonce heißt ›Funktionsgeschichte‹. Sie markiert die Synthese von Einzeluntersuchung und Verlaufsrekonstruktion, weil sie beides in einen Zusammenhang einzuschließen versucht und weil sie im Gelingen der Untersuchung sowohl Möglichkeit als auch Fruchtbarkeit des Ansatzes unter Beweis zu stellen vermag. Sozialgeschichte als Funktionsgeschichte war so Prozeßgeschichte wie Relektüre (109).
4 Vgl. Jürgen Fohrmann: Das Versprechen der Sozialgeschichte (der Literatur). In: Martin Huber, Gerhard Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. Konzepte einer Literaturwissenschaft zwischen Historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie. Tübingen 2000, S. 105–112; Nachweise hieraus im Folgenden direkt im Fließtext.
Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer Geschichtsschreibung
3
Die westdeutsche Sozialgeschichtsschreibung eines Hans-Ulrich Wehler, Jürgen Kocka und anderer verstand sich weniger in der Nachfolge der materialistischen Theorie von Karl Marx als in der Traditionslinie der verstehenden Soziologie Max Webers (vgl. 107). Nicht Ableitung, sondern Beziehung war die maßgebliche Kategorie (vgl. 111).5 Das Soziale wurde von übergeordneten Klassenantagonismen gelöst und als symbolische Beziehung oder Kommunikation deutbar. »›Sozialgeschichte‹ heißt in diesem Sinne also nichts anderes als die Markierung einer Relation als Text und Kontext« (110). Diese Öffnung des Begriffs des Sozialen und seine Loslösung von geschichtsphilosophischen Entwicklungen machten die Vor-, aber auch die Nachteile der Sozialgeschichte aus (vgl. 108). Durch den erweiterten Begriff des Sozialen als Kommunikationsbeziehung wurde der Literaturbegriff und damit das Untersuchungsfeld weit geöffnet. In der Folge drohte aber eine »unvermeidliche Addition in den großen Buchkonzepten einer Sozialgeschichte der Literatur […]. Die Unmöglichkeit einer ›Synthese‹ war die Kehrseite des großen Argumentationsspielraums« (110). Durch die endgültige Ablösung des Paradigmas der Ableitung durch das der Beziehung Anfang der achtziger Jahre wurden Kontext und Text zu prinzipiell gleichwertigen Kategorien. Damit untergrub sich aber die Sozialgeschichte der Literatur zunehmend selbst. Andere Theoriemodelle, wie vor allem die Diskurstheorie Michel Foucaults und die Systemtheorie Niklas Luhmanns, wurden dominant.6 Von hier aus war auch der Weg in die Kulturwissenschaften der neunziger Jahre und in die ›Vertextung von Kultur‹ geebnet (vgl. 111). Das Versprechen der Sozialgeschichte der Literatur, den Zusammenhang zwischen Ästhetischem und Sozialem zu rekonstruieren, hatte sich zu Theoriemodellen gewandelt, die auf die Rekonstruktion vielfältiger funktionaler Differenzierungen ausgerichtet waren (vgl. 111 f.).
Prominenter Ausdruck des sozialgeschichtlichen Ansatzes ist Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur in zwölf Bänden (München 1980 ff.). Insbesondere am letzten, von Klaus Briegleb und Sigrid Weigel herausgegebenen zwölften Band zur »Gegenwartsliteratur seit 1968« lässt sich die Wandlung von einem einheitlichen Konzept der Ableitung hin zur Rekonstruktion vielfältiger funktionaler Differenzierungen ablesen.7 Im Zentrum von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur steht die Frage nach der Vermittlung von Literatur und Gesellschaft. Band 10 zur »Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967« stellt im Wesentlichen die Literatur und die »Literaturverhältnisse in
5 Vgl. Klaus Scherpe: ›Beziehung‹ und nicht ›Ableitung‹. Methodische Überlegungen zu einer Literaturgeschichte im sozialen Zusammenhang. In: Thomas Cramer (Hg.): Literatur und Sprache im historischen Prozeß. Bd. 1. Tübingen 1983, S. 77–90. 6 Zu der in dieser Zeit entstandenen systemtheoretisch ausgerichteten Münchner Forschergruppe »Sozialgeschichte der deutschen Literatur 1770–1900« vgl. Renate von Heydebrand, Dieter Pfau, Jörg Schönert (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf. Tübingen 1988. 7 Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 12: Gegenwartsliteratur seit 1968. Hg. v. Klaus Briegleb u. Sigrid Weigel. München, Wien 1992; Nachweise im Folgenden direkt im Fließtext.
4
Einleitung
der Nachkriegs-Restauration« dar.8 Band 12 setzt mit »1968« ein und endet 1989/90. Diese Zäsur wird von den Herausgebern Briegleb und Weigel damit begründet, dass die »Gegenwartsliteratur« nicht länger mit der »Literatur nach 45« identisch sei. Vielmehr sei sie in eine »Nachkriegsliteratur« und in eine neue, zum Teil sich von der Nachkriegskultur offensiv abgrenzende Literatur zu unterteilen. Der Beginn der »68 er Ära« falle literaturhistorisch mit dem Ende der »Gruppe 47« als Institution des literarischen Lebens zusammen (vgl. 9). Den Beginn der neuen literarischen Periode ab 1968 sehen die Herausgeber durch das Bewusstsein eines radikalen Neuanfangs und durch eine umfassende Gesellschaftskritik im Zeichen der »Antiautorität« gekennzeichnet. Allerdings weist Briegleb auf die Illusion eines »Nullpunkt«-Bewusstseins hin, da sich die Leitperspektive einer umfassenden Veränderbarkeit der Gesellschaft, wie sie unter dem Schlagwort der »Kulturrevolution« zum Ausdruck kam, letztlich – mit ihren Vorstellungen von der Machbarkeit und Veränderbarkeit der Subjekte und ›Verkehrsformen‹, mit ihren Paradigmen der ›Fortschrittlichkeit‹ und ihren Praktiken der Ideologiekritik, ›Entlarvung‹ und ›Herstellung von Öffentlichkeit‹ – als »Wiederbelebung eines Mythos der Aufklärung« verstehen lasse (vgl. 11 f.). Zum besseren Verständnis der literarischen Entwicklung bezieht sich Briegleb auf ein anderes Verständnis von ›Nullpunkt‹, das sich an Roland Barthes’ Am Nullpunkt der Literatur ([1953] 1959) orientiert: Mit Barthes versteht er darunter eine spezifische Situation am Ende der Moderne: eine Auflösung des Autor-Subjekts und Programmatiken politischer oder revolutionärer Schreibweisen, die dann mit den Stichwörtern einer »Posthistoire« und »Postmoderne« verbunden werden (vgl. 12 f.). So richten sich leitende Konzepte und Fragestellungen des zwölften Bandes an einer »Dezentrierung des Subjektbegriffs« und an der »Außerkraftsetzung normativer Begrifflichkeit und hierarchisierender Geschichts- und Gesellschaftsmodelle« aus (13). Ergänzt wird die Suche nach neuen Ordnungsprinzipen der literarischen Evolution durch das Konzept der Alterität.9 Weigel entwirft dieses Konzept in Auseinandersetzung mit einer zunehmenden kulturellen ›Vielstimmigkeit‹ und mit literarischen Migrationsbewegungen. Das Konzept literarischer Alterität wurde in der Folge nicht nur für das Verstehen einer literarischen Pluralisierung, sondern allgemein für die Untersuchung der (alltags-)kulturellen Auffächerung der Lebensstile, der kulturellen Transfers sowie der zunehmenden Fremderfahrung im Prozess kultureller Subjektwerdung produktiv erweitert. Insgesamt bleibt aber das im Horizont einer postmodernen Perspektive angestrebte offene Gliederungsprinzip einer »Darstellung von Kontinuitäten und Brüchen« (14 f.) vage und die verschiedenen Ergebnisse des Bandes additiv.
8 Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 10: Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967. Hg. v. Ludwig Fischer. München, Wien 1986, hier: S. 96 ff. Schon hier wird ein Transformationsprozess der gesellschaftlichen Stellung bürgerlicher Literatur festgestellt. Diese konnte aber weiterhin, kulturpolitisch gefördert, eine nationale Repräsentationsfunktion ausüben. Es dauerte bis in die siebziger und achtziger Jahre, bis die soziale Randlage der Literatur von den Autoren selbst bewusst wahrgenommen wurde: »Nur wenige Schriftsteller aber waren bereit sich einzugestehen, daß ihre politisch-gesellschaftliche Marginalisierung in dialektischer Weise der Selbstdefinition als außenstehende, vereinzelte ›Nonkonformisten‹ dem Anspruch auf eine Sonderstellung in der Sphäre künstlerischer Autonomie entsprach« (ebd., S. 94 f.). 9 Vgl. Sigrid Weigel: Literatur der Fremde – Literatur in der Fremde. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 12, S. 182–229.
Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer Geschichtsschreibung
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Das »Versprechen der Sozialgeschichte der Literatur« (Fohrmann), ästhetische und gesellschaftliche Entwicklungen über das Konzept der literarischen Kommunikation zu vermitteln, wurde nicht eingelöst. Die Kategorie des Sozialen wurde zugunsten der Ausdifferenzierung des Funktionellen der Literatur und des fließenden Übergangs zwischen Text und Kontext aufgelöst. Die neuen, poststrukturalistischen Theorien, die gegenüber ideengeschichtlichen Ansätzen das »Schwergewicht auf Differenz, Heterogenität, Diskontinuität und Dispersion« legten,10 gingen vom grundsätzlichen »Widerstreit von Ästhetik und Geschichte«, von Literatur und Literaturgeschichte, aus.11 Sie erklärten die Literaturgeschichte zur ›Unmöglichkeit‹. Dadurch überließen sie sie unspezifischen kulturwissenschaftlichen wie auch konventionellen, ›theoriefreien‹ Ansätzen. Einen Versuch, der These vom ›Ende der Geschichte‹ einer dogmatischen Posthistoire die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Literaturgeschichte als Wissenschaft entgegenzustellen, stellt Uwe Japps Konzept der Literaturgeschichte als »Beziehungssinn« dar.12 Der auf Nietzsche zurückgehende Begriff des »Beziehungssinnes« richtet sich gegen jedes Substanz- und Wahrheitsdenken und gegen jede Vorstellung einer Kontinuität und Progressivität (vgl. 18). Der Sinn für »Beziehungen« ist ein Sinn für das »diskursive[ ] Prinzip der Sinnkonstitution, das wir als relationale Reflexion bezeichnen« (12). »In dieser diskursiven Wechselrede bilden sich die Wahrheitsfiguren, die die Frage nach der Wahrheitsfähigkeit der Literatur zu beantworten vorgeben, die aber in Wirklichkeit nur die Geschichte des Imaginären erörtern« (ebd.). Die Geschichte der mit den Regeln der Logik, der Ethik und Ästhetik verbundenen »Wahrheitsfiguren« verläuft für Japp parallel zur Literaturgeschichte (vgl. 11). Somit zielt die Literaturgeschichte als »Beziehungssinn« auf eine Meta-Geschichte, auf eine »Geschichte der Literaturgeschichte«, die von einem »paradigmatischen Wandel der Ganzheits-Vorstellungen« geprägt ist. Gemeint ist damit der »Übergang von der Chronik zur substantialistischen Literaturgeschichte und der Übergang von dieser zum Diskurs der Beziehungsgeschichte« (15). Die neue Literaturgeschichte richtet sich also auf die Analyse diskursiver Übergänge selbst (vgl. 17). Damit situiert sich Japps Konzept eines »Beziehungssinns« zwischen Foucaults historischer Diskursanalyse und poststrukturalistischen Konzepten einer unendlichen, die Grenzen zwischen Text und Kontext auflösenden Bewegung der Übergänge. Dabei bleibt allerdings das Prinzip der Beziehung abstrakt.13 Sie verwischt die Grenze zwischen Literatur und Literaturge-
10 Harro Müller: Einige Argumente für eine subjektdezentrierte Literaturgeschichtsschreibung. In: Wilhelm Vosskamp, Eberhard Lämmert: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Tübingen 1986, S. 24–34, hier S. 28. 11 Vgl. Marja Rauch, Achim Geisenhanslüke: Einleitung. In: M. R., A. G. (Hg.): Texte zur Theorie und Didaktik der Literaturgeschichte. Stuttgart 2012, S. 9–24, bes. S. 9–13 u. S. 14 f. 12 Vgl. Uwe Japp: Beziehungssinn. Ein Konzept der Literaturgeschichte. Frankfurt a. M. 1980; Nachweise im Folgenden direkt im Fließtext. 13 Vgl. das der Arbeit als Motto vorangestellte Zitat von Robert Musil: »Aber immer nur die ›Beziehung‹ – gewissermaßen in abstracto« (ebd., S. 9).
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Einleitung
schichte und wird zu einem »unendliche[n] Unternehmen«: »Die Einsicht in den Beziehungssinn der Geschichte öffnet den Raum des Erzählbaren. Die solchermaßen historisierte Literaturgeschichte ist eine plurale Geschichte, eine Geschichte, die stets neu erzählt werden kann« (239).
Seit dem ›Ende‹ der Sozialgeschichte der Literatur in den achtziger Jahren haben sich zum einen kulturwissenschaftliche Ansätze durchgesetzt, die kein spezifisches Interesse mehr an einer Literaturgeschichte, sondern ›Mikrohistorien‹ und »Konzepte für eine Literaturwissenschaft zwischen historischer Anthropologie, Kulturgeschichte und Medientheorie« verfolgen;14 zum anderen Literaturgeschichten, die auf übergeordnete Theoriemodelle verzichten und mehr beschreibend und aufzählend als analytisch verfahren. Das Unzureichende dieser konventionellen Literaturgeschichten besteht in ihrem kumulativen, ›narrativen‹ Charakter, der unterschwellig von einem unkritischen »Chronik«Begriff ausgeht. Übergeordnete Theorien und (Syn-)Thesen werden in den einschlägigen Literaturgeschichten von Wilfried Barner, Ralf Schnell und Wolfgang Emmerich mit dem Verweis auf das ›Ende der Ideologien‹ und die ›Pluralisierung der Literatur‹ weitgehend vermieden. An ihre Stelle rücken Einteilungen nach Dezennien und unspezifische Modelle literarischer Evolution.15 Nach dem Ende der Sozialgeschichte der Literatur ist ein dominantes Modell literarischer Evolution seit »68« die Figur des geschichtlichen ›Pendelausschlags‹: So gelten in den meisten deutschen Literaturgeschichten die siebziger Jahre als Dekade des Rückzugs in die Innerlichkeit (»Neue Subjektivität«), nachdem das ›Pendel‹ vorher in Richtung einer Politisierung der Literatur Ende der sechziger Jahre ausgeschlagen war. Wilfried Barners Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart charakterisiert das literarische Leben der siebziger Jahre in der BRD als »Jahrzehnt der Ungleichzeitigkeiten und der lang gezogenen ›Tendenzwende‹«, während es in der DDR als »Jahrzehnt sozialistischer Stagnation« gilt (583, 691). Das Hauptkennzeichen eines »Rückzugs in Innerlichkeit« (West) und einer erstmaligen »Entdeckung der Subjektivität« (Ost), das sich im Westen als »unübersichtlicher Überfluss« und im Osten als »Stillstand«, »Ernüchterung« und »Subjektivierung« zeige, bildet die Ausgangslage für die achtziger Jahre, die Barner unter dem Titel einer »Durchlässigkeit der Systeme« fasst. In der aktualisierten Neuauflage von 2006 kann Barner für die 1990 er Jahre keine einheitliche Tendenz mehr erkennen. Vielmehr stellt er vielfältige Entwicklungen und partielle Überlagerungen fest.16
14 Vgl. Huber, Lauer (Hg.): Nach der Sozialgeschichte. 15 Wilfried Barner: Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart. München 2006; Ralf Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945. Stuttgart, Weimar 2003; Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Leipzig 1996; Nachweise hieraus im Folgenden direkt im Fließtext. 16 Vgl. den Abschnitt unter dem Titel: »Drei Literaturen?« (Barner: Geschichte der deutschen Literatur, S. 925 ff.).
Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer Geschichtsschreibung
7
Wie in anderen Literaturgeschichten – so auch in der von Schnell oder Emmerich (s. u.) –, wird in Barners Darstellung von einer Annäherung der beiden deutschen Literaturen ausgegangen, die mit den Begriffen einer grenzüberschreitenden »Post-« oder »Spätmoderne« der achtziger Jahre erklärt wird: Der Grundgedanke ist dabei stets, dass sich mit dem Auflösungsprozess der politischen Blocksysteme und ihrer Ideologien auch die Literaturen ideologisch befreiten, die ästhetischen Kanones zersplitterten (vgl. 814, 898) und auf dieser Grundlage einer Pluralisierung der literarischen Formen, Inhalte und Autorenkonzepte die Annäherung zwischen den zwei Literaturgebieten erfolgte. Entsprechend trennt auch die zweite Auflage von Ralf Schnells Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945 in ihrer Überarbeitung von 2003 nicht mehr die west- und ostdeutsche Literaturentwicklung, sondern stellt sie zusammen nach folgender Periodisierung dar: »Erosionen (1961–1976/77)«, »Im Zeichen der Postmoderne (1978–1989)« und schließlich »1989 und die Folgen«, hier mit den Unterkapiteln: »Intellektuellenproblematik«, »Deutsche Debatten«, »Tendenzen der neunziger Jahre« (mit der Unterscheidung: »Prosa der Moderne – nach der Post-Moderne«). Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden vor allem die Darstellungen der ›historisch abgeschlossenen‹ DDR-Literatur kritisch korrigiert. Auch Wolfgang Emmerich überarbeitete 1996 seine Kleine Literaturgeschichte der DDR. Zunächst geht er in der neuen Fassung nochmals und intensiver auf die Frage nach Einheit und Unterschiedlichkeit der Literaturen in Ostund Westdeutschland ein. Er betont den Prozess der Angleichung seit spätestens den siebziger Jahren, die er mit dem von Habermas entlehnten Wort einer »nachholenden Modernisierung« charakterisiert (521). Die DDR-Literatur habe zunehmend eine spezifische DDR-Thematik transzendiert, indem sie grundlegende anthropologische Probleme wie z. B. das Verhältnis von Selbstbestimmung und kollektivem Anspruch, von Anpassung und Widerstand, von Ideal und Wirklichkeit mittels einer »Schreibweise des ›offenen Realismus‹« thematisiert habe (ebd.). Schließlich betont Emmerich die Bedeutung des »Verlust[s] einer privilegierten Autorfunktion« der führenden kritischen, aber »staatsloyalen« Schriftsteller als »Fürsprecher und Gewissen der realsozialistischen Nation« (16, 523). Mit dem Ende der DDR und dem zunehmenden Bewusstsein für den Autoritätsverlust der Dichter geht in der literaturgeschichtlichen Darstellung Emmerichs auch eine Umgewichtung der analytischen Perspektive einher: von einer eher widerspiegelungstheoretisch und sozialgeschichtlich orientierten Darstellung hin zu einer Perspektive, die die Literatur als autonomen Gegenstand begreift. Auch hier zeigt sich die Tendenz einer erneuten, allerdings nun die andere Seite des ›Pendelschlags‹ betonenden Oppositionsbildung zwischen ›Politisierung‹ und ›Ästhetisierung‹ der Literatur. Schließlich münden auch Emmerichs Überlegungen in den Befund einer nicht mehr zu systematisierenden Pluralität: Die heutige literarische Situation sei dadurch charakterisiert, dass sich kein kulturelles oder literarisches Modell absolut setzen und man nicht einmal mehr von einer eindeutigen Hierarchie der verschiedenen literarischen Konzepte sprechen könne. Dabei betont er die produktive Vielfalt und Koexistenz der Schreibweisen, der literarischen Regionen, der gesellschaftlichen Funktionen und Autorgenerationen: »Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur existiert in einer Vielzahl zueinander offener Szenen. Eine davon wird noch für längere Zeit die sich verändernde regionale ostdeutsche Szene auf den Spuren der einstigen DDR-Literatur sein« (525).
Die einschlägigen Literaturgeschichten betonen zwar die Vielfalt und Koexistenz der Schreibverfahren. Sie verbleiben aber beim Versuch der chronologischen Sammlung und thematischen Ordnung und bei einer vielfältigen Ver-
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Einleitung
wendung des Epochenbegriffs einer »Postmoderne«. Offenkundig gibt es in den Literaturgeschichten seit den siebziger Jahren (seit »68«), spätestens jedoch seit den achtziger und neunziger Jahren keinen Konsens mehr über tragfähige Ordnungskonzepte. Die politischen Ereignisse in Deutschland von 1989/ 90 stellten die bislang verwendeten Ordnungsmuster eines ›Stillstands der Geschichte‹, einer ›Pluralität‹ und ›Unübersichtlichkeit‹ zeitweilig in Frage – unklar bleibt aber in allen Darstellungen, inwiefern die deutsche Wiedervereinigung für die literarische Entwicklung strukturell signifikant war. Auch die zahlreichen Sammelbände zur Gegenwartsliteratur seit 1990 sind weitgehend bilanzierenden Charakters. Der Fall der Berliner Mauer wird gerne symbolisch als Initiation von »Entgrenzungen« 17 gedeutet, die im Bereich der Literatur den Eindruck einer schon die achtziger Jahre prägenden »neuen Unübersichtlichkeit« (Habermas) verstärkte. Es gibt mittlerweile zahlreiche Sammelbände mit Studien zur deutschen Gegenwartsliteratur seit der ›Wende‹, die das Nebeneinander verschiedener Stile, Formen und Tendenzen bilanzierend zu erfassen versuchen.18 Die Bestandsaufnahmen19 und Ordnungsversuche sind dabei oft historisch und thematisch orientiert – etwa: ›Schreiben nach der Wende‹ 20 oder ›der neue Familienroman‹ 21 – oder sie folgen Kategorien, die im Zuge des Aufstiegs der Kulturwissenschaften in den neunziger Jahren dominant wurden, wie zum Beispiel: (kulturelles) ›Gedächt-
17 Vgl. exemplarisch Elke Brüns: Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung. Paderborn 2006. 18 Vgl. Meike Herrmann: Die Historisierung hat begonnen. Die Gegenwartsliteratur seit 1990 als Gegenstand der Lektüre und Forschung. In: Zeitschrift für Germanistik, N. F. XVI, H. 1 (2006), S. 109–118. 19 Von den zahlreichen Bänden seien exemplarisch genannt: Hans-Jörg Knobloch, Helmut Koopmann (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Tübingen 1997; Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur. Die neunziger Jahre. Opladen, Wiesbaden 1998; Matthias Harder (Hg.): Bestandsaufnahmen. Deutschsprachige Literatur der neunziger Jahre aus interkultureller Sicht. Würzburg 2001; Clemens Kammler, Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven. 2 Bde. Heidelberg 2004; Corina Caduff, Ulrike Vedder (Hg.): Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur. München 2005. 20 Vgl. Gerhard Fischer, David Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende. Ein Jahrzehnt deutscher Literatur 1989–1999. Tübingen 2001; Holger Helbig (Hg.): Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR. Berlin 2007. 21 Vgl. z. B. Ariane Eichenberg: Familie – Ich – Nation. Narrative Analysen zeitgenössischer Generationenromane. Göttingen 2009; Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.): Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext. München 2010; Markus Neuschäfer: Das bedingte Selbst. Familie, Identität und Geschichte im zeitgenössischen Generationenroman. Berlin 2013.
Gegenwartsliteratur und das Problem ihrer Geschichtsschreibung
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nis und Identität‹,22 ›Generationen und Geschichte‹,23 ›Körper- und Raumkonzepte‹,24 ›Transit- und Fremderfahrungen‹,25 ›Medien und Intermedialität‹ 26 oder ›Globalisierung‹ 27 etc. Das vermeintliche ›Ende des ideologischen Zeitalters‹ scheint die Entfaltung einer synchronen Pluralität nochmals verstärkt und beschleunigt zu haben. In den Augen ihrer Befürworter hat sie die ästhetische Autonomie der literarischen Werke gestärkt. Dagegen beklagen andere die neue Vielfalt der Gegenwartsliteratur als ästhetische Beliebigkeit, Mittelmäßigkeit oder als ökonomisierte Überproduktion.
Die meisten Bilanzierungsversuche und Literaturgeschichten folgen Kategorien einer Künstlerkritik (Boltanski/Chiapello, s. u.). Diese stehen in einem noch kaum geklärten Verhältnis zu einer insbesondere seit den neunziger Jahren erstarkten Sozialkritik in der Gesellschaft, welche die Sozialwissenschaften im Zusammenhang mit der »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit«, mit Prekariat, Abstieg und Ausgrenzung, deutlich beobachten.28 Während die Sozialwissenschaften die Entstehung und Verfestigung neuer sozialer Ungleichheiten über kulturelles Kapital (Bourdieu) und neuartige Übersetzungsprozesse zwischen Ökonomie und Kultur auf einer vertikalen Achse der Machthierarchien verzeichnen, situieren die Kultur- und Geisteswissenschaften ihre Gegenstände weiterhin tendenziell im Bereich der horizontalen, synchron geltenden Pluralität kultureller und ästhetischer Differenzen. Zu diesen Spannungen hinsichtlich der raumstrukturellen Einordnung kommen unterschiedliche Bestimmungen des zeitlichen Wandels: Konzepten eines ereignishaften Umbruchs (»68«, »die Wende 89/90«), einer ›Nullstunden‹-Setzung oder eines neuen ›Zeitalters‹,
22 Vgl. z. B. Silke Arnold-de Simine (Hg.): Memory Traces. 1989 and the Question of German cultural Identity. Oxford, Bern, Berlin u. a. 2005; Fabrizio Cambi (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung. Würzburg 2008; Carsten Gansel, Pawel Zimniak (Hg.): Das »Prinzip Erinnerung« in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989. Göttingen 2010. 23 Vgl. z. B. Joachim Garbe: Deutsche Geschichte in deutschen Geschichten der neunziger Jahre. Würzburg 2002; Friederike Eigler: Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende. Berlin 2005. 24 Vgl. z. B. Brüns: Literaturgeschichte der Entgrenzung, S. 245–262 (Kap. VI: »Autorschaft im Umbruch: Leiche, Körper, Nation«). 25 Vgl. z. B. Andrea Bartl (Hg.): Transitträume. Beiträge zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Augsburg 2009. 26 Vgl. z. B. Volker Wehdeking: Generationenwechsel: Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur. Berlin 2007; Lothar Blum (Hg.): Kopf-Kino – Gegenwartsliteratur und Medien. Trier 2005. 27 Vgl. z. B. Wilhelm Amann, Georg Mein, Rolf Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur. Konstellationen – Konzepte – Perspektiven. Heidelberg 2010. 28 Vgl. Robert Castel: Die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit. In: R. C., Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 2009, S. 21–34.
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die sich auf Schulzes »Erlebnisgesellschaft« 29 oder Becks »Risikogesellschaft« und auf sein Leitkonzept einer »Zweiten« oder »Reflexiven Moderne« 30 berufen können, stehen Ansätze gegenüber, die von langfristigen Transformationen ausgehen, gleichsam von einer longue durée. Letztere orientieren sich an Konstanten und langfristigen Wandlungen von strukturellen Konstellationen.31 Für Fernand Braudel beinhaltet die Methode der longue durée ein klares Bewusstsein von der Vielzahl sozialer Zeitabläufe. Sie arbeitet mit dem dialektischen Verhältnis von Momentaufnahme und langem Zeitablauf, von Ereignis- und Strukturgeschichte. Der Begriff der Struktur »dominiert die Probleme der langen Zeitabläufe. Unter Struktur verstehen die Beobachter des Sozialen ein Ordnungsgefüge, einen Zusammenhang, hinreichend feste Beziehungen zwischen Realität und sozialen Kollektivkräften« (55). Struktur wird als Gefüge verstanden, das sich nur allmählich, in längeren Zeitabläufen, verändert. Wenn man seine Beobachtungen ausschließlich in der engen Gegenwart anstellt, wird die Aufmerksamkeit auf das gelenkt, was sich schnell bewegt, was zu Recht oder Unrecht glänzt, sich gerade geändert hat oder Lärm macht oder sich mühelos erkennen läßt. Eine Unmenge von Ereignishaftem, ebenso langweilig wie das der Geschichtswissenschaft, lauert auf den eiligen Beobachter […]. Das Soziale ist [aber] dazu ein viel zu schlaues Wild. (63) Die Strukturgeschichte ist eine Geschichte des sozialen Unbewußten. Die »unbewußte Geschichte spielt sich jenseits dieser Ereignisblitze und ihres Aufleuchtens ab« (66). Schließlich schlägt Braudel ein wechselseitiges Verfahren zur Vermittlung zwischen Ereignis- und Strukturgeschichte vor, »wenn die Sanduhr nach beiden Seiten umgedreht würde – vom Ereignis zur Struktur, dann von den Strukturen und Modellen zum Ereignis« (80).
Das von Braudel bestimmte Verhältnis von Struktur- und Ereignis-Geschichte lässt sich auf die Entwicklung der Literaturgeschichten übertragen: Nach dem Ende der Sozialgeschichte der Literatur in den achtziger Jahren wurden grosso modo Ereignisgeschichten seit »1989/90« geschrieben. Dabei wurde weitgehend von Versuchen einer theoretisch fundierten Strukturgeschichte abgesehen. Die Betonung der literarischen Ereignisse beruht auf dem Grundsatz einer gleichberechtigten und synchronen Pluralität ästhetischer Formen und Positio-
29 Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1992. 30 Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986; U. B.: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt a. M. 1993; U. B.: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie (Edition Zweite Moderne). Frankfurt a. M. 2002. 31 Fernand Braudel: Geschichte und Sozialwissenschaften. Die longue durée. In: Marc Bloch, F. B., Lucien Febvre: Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zu einer systematischen Aneignung historischer Prozesse. Hg. v. Claudia Honegger. Frankfurt a. M. 1977, S. 47–85; Nachweise hieraus im Folgenden direkt im Fließtext.
Die Vermittlung von Gesellschaft und Literatur
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nen in horizontaler Ausdifferenzierung, kurz: auf einer Dominanz der Künstlerkritik in den Literatur- und Kulturwissenschaften. Dagegen wird die Sozialkritik, d. h. die Kritik der vertikalen Machtverhältnisse, weitgehend ausgeklammert und den Sozialwissenschaften überlassen. Das Ungenügen der bisherigen Versuche einer Geschichte der Gegenwartsliteratur besteht also in der fehlenden theoretischen und methodischen Vermittlung von Struktur und Ereignis. Diese Vermittlung macht sich aber die literarische Feldanalyse zur Aufgabe.
2 Die Vermittlung von Gesellschaft und Literatur im Konzept eines relativ autonomen Feldes Entgegen der Vorstellung eines parallel zur politischen Geschichte »1989/90« einsetzenden ›Nullpunktes‹ oder ›Startschusses‹, der eine neue Epoche der deutschen Gegenwartsliteratur eröffnet habe, und entgegen einer Überbetonung des Begriffs der »Gegenwart«, gehen die folgenden Studien vom Ansatz einer – im Kontext der Gegenwartsliteratur freilich stark verkürzten – longue durée aus: von einem langen Weg in die Gegenwartsliteratur seit den »langen sechziger Jahren«.32 Die Langzeitperspektive ist auf die strukturelle Modernisierung der Gesellschaft und auf den Wertewandel gerichtet: zum einen auf den Übergang zu einer »postindustriellen« oder »postmodernen« Gesellschaft, der bereits Ende der fünfziger Jahre einsetzte und bis in die erste Hälfte der Siebziger reichte;33 zum anderen auf den in den sechziger Jahren einsetzenden »langen Abschied von der Nachkriegsliteratur« (Jochen Vogt) und ihrem Wandel zu einer neuen Formation der Gegenwartsliteratur. Nach dem Versuch einer Sozialgeschichte der Literatur stellt sich die Frage nach der Vermittlung von Gesellschaft und Literatur, Struktur und Ereignis und von Machtverhältnissen und ästhetischen Formen neu. Pierre Bourdieus Soziologie im Allgemeinen und sein Konzept eines relativ autonomen literarischen Feldes im Besonderen34 bieten zur Beantwortung dieser Frage und damit zur Reformulierung des Ansatzes einer Sozialgeschichte der Literatur ein differenziertes Instrumentarium. Denn Bourdieu spricht in seinen Studien niemals von
32 Vgl. Christina von Hodenberg, Detlef Siegfried: Reform und Revolte. 1968 und die langen sechziger Jahre in der Geschichte der Bundesrepublik. In: Ch.v.H., D. S. (Hg.): Wo »1968« liegt. Reform und Revolte in der Geschichte der Bundesrepublik. Göttingen 2006, S. 7–14. 33 Vgl. ebd., S. 8 u. S. 10. 34 Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Frankfurt a. M. 1999; vgl. hierzu Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis. Darmstadt 1995.
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›der Gesellschaft‹ als solcher, sondern er untersucht stets Teilbereiche, so genannte Felder, die, einem magnetischen Kräftefeld gleich, auf die darin agierenden Akteure nach jeweils spezifischen praktischen und stets umkämpften ›Spielregeln‹ einen sozialen Effekt ausüben, und sie in ihrer spezifischen Praxis, häufiger unbewusst als bewusst, ›ausrichten‹. Zugleich wendet sich das Konzept der Feldanalyse gegen jede Form eines transzendentalen Subjekts der Geschichte. Vielmehr betont es die Ausbildung einer innerliterarischen Logik und Dynamik als relativ autonomen Prozess. Mit dem Grundsatz einer relativen Autonomie stellt Bourdieu die Spezifik des Objekts gegenüber allen vereinfachenden Ansätzen, wie etwa dem der Ableitungs- und Widerspiegelungstheorie, sicher. Zugleich steht der Grundsatz der relativen Autonomie dafür, dass dem Gegenstand – entgegen subjektivistischen Ansätzen – eine Objektivität zugeschrieben wird, worunter die dem Subjekt nicht verfügbaren sozialen Verhältnisse und Abstände verstanden werden. In kritischer Weiterentwicklung des Strukturalismus besteht ein Kerngedanke Bourdieus darin, das Konzept des Feldes als ein System objektiver, sozialer Relationen zu verstehen: Autoren definieren sich und werden definiert durch Beziehungen zu anderen Feldakteuren und Werken, d. h. durch einen unabschließbaren Prozess der Abstimmung, durch eine Reihe von Aktionen und Reaktionen, von Chiffrierungen (Formalisierungen), Dechiffrierungen und neuen Umschriften. Beim literarischen Feld handelt es sich also um ein eigenes Universum sozialer Beziehungen mit einer eigenen Logik der Praxisformen und ihrer geschichtlichen Entwicklung. Eine der Rahmenbedingungen ihrer Ausprägung ist nach Bourdieu durch die Umkehrung der ökonomischen Logik (»ökonomische Ökonomie«) gekennzeichnet.35 Für seine Studien zum literarischen Feld ging er – in Homologie zum Feld der kulturellen Lebensstile, die er in den Feinen Unterschieden 36 – vom Sozialraum und seinen beiden entgegengesetzten Polen des kulturellen Kapitals einerseits und des ökonomischen Kapitals andererseits aus.37 Das strukturelle Gefüge des literarischen Feldes wird so auf der Grundlage eines räumlichen Koordinatensystems bestimmbar: einerseits auf der horizontalen Achse zwischen den entgegengesetzten Polen der Kapitalsorten (kulturell – ökonomisch). Dadurch lassen sich zwei Subfelder in der Horizontalen unterscheiden: das Subfeld der eingeschränkten Produktion und das Subfeld der Massen- oder Großproduktion. Zum anderen gibt die vertikale Achse der Macht und der Herrschaftsverhältnisse das »Volumen« des (kulturell-ökonomisch gemischten) literarischen Kapitals an, verstanden als relatives Gewicht literarischer Legitimität und Autorität, die ihm zuerkannt wird.
35 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, 1. Teil, 3. Kap.: »Der Markt der symbolischen Güter«, Unterkapitel: »Zwei ökonomische Logiken«, S. 228–235. 36 Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a. M. 1982. 37 Vgl. dazu grundlegend Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen 1983, S. 183–198.
Die Vermittlung von Gesellschaft und Literatur
Abb. 1: Das Feld der kulturellen Produktion nach Pierre Bourdieu38
38 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 203 (Schema).
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Die Autonomie des literarischen Feldes ist nicht umstands- und zeitlos gegeben, sondern ihr relativer Grad ist stets Resultat von Auseinandersetzungen in der Zeit um die legitime Definition des ›Literarischen‹. Damit ist dem Modell des literarischen Feldes das Konzept einer Literaturgeschichte grundlegend eingeschrieben. Der Prozess dieser Auseinandersetzungen bestimmt die feldspezifische Geschichte in zweierlei Formen des Sozialen, die in einem Verhältnis zueinander stehen: im Feld als Struktur gewordene Geschichte und im Habitus als Körper gewordene Geschichte.39 Für den Wandel des Feldes spielen einerseits positionelle Oppositionen (Etablierte versus Debütanten, orthodoxe ›Priester‹ versus häretische ›Propheten‹), andererseits der Abstand zwischen den objektiven Strukturen des Feldes und den inkorporierten Strukturen, dem Habitus der Akteure, eine zentrale Rolle. Die feldspezifische Geschichte verläuft weder linear-progressiv noch homogen. Sie ist relativ-autonom, d. h. sie entsteht nicht aus der Ableitung, sondern aus homologen Beziehungsverhältnissen zu anderen gesellschaftlichen Prozessen. Der Grad der Autonomie und der Einfluss der außerliterarischen, dominanten Felder (›Kontexte‹) – wie vor allem des sozialen Raums, des politischen und ökonomischen Feldes und des Feldes der Macht 40 – sind am Übersetzungs- oder Brechungseffekt zu messen, den seine spezifische Logik externen Einflüssen oder Anforderungen zufügt, und an der Umformung, um nicht zu sagen: Verklärung, der es religiöse oder politische Vorstellungen und den Druck der weltlichen Kräfte unterzieht […].41
Die mit dem Konzept eines relativ autonomen literarischen Feldes verbundene spezifische Umstrukturierung und Transfiguration externer Zwänge und Kräfte42 als Vermittlungsform zwischen ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹, ›Ästhetik‹ und ›Poli-
39 Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Raum und »Klassen«. Zwei Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1985, S. 69. 40 Zur Stellung des literarischen Feldes im Feld der Macht vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 341–353. 41 Ebd., S. 349. 42 »Die Künstler erfahren ihre Beziehung zum ›Bürger‹ wahrhaft nur über ihre Beziehung zur ›bürgerlichen Kunst‹ oder, allgemeiner gesagt, zu den Akteuren oder Institutionen, die, wie der ›bürgerliche Künstler‹, innerhalb des Feldes selbst die ›bürgerlichen‹ Zwänge ausdrücken oder verkörpern. Kurz, externe Einflüsse wirken sich stets nur über die spezifischen Kräfte und Formen des Feldes aus, das heißt nachdem sie in einer Weise umstrukturiert wurden, die um so tiefer greift, je autonomer das Feld ist, je fähiger es ist, seine spezifische Logik zur Geltung zu bringen, die wiederum nichts anderes ist als seine gesamte, in Institutionen und Mechanismen objektivierte Geschichte« (ebd., S. 366 f.).
Relevante soziale Transformationen
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tik‹, ›literarischer‹ und ›gesellschaftlicher Zeit‹ lässt sich auf drei verschiedenen Ebenen bestimmen:43 1. auf einer Ebene der materiellen und institutionellen Bedingungen der Produktion und Zirkulation literarischer Güter. Sie ist davon abhängig, in welchen Beziehungen das literarische Feld zu den politischen, religiösen und ökonomischen Mächten steht und welche Autonomie ihnen zugestanden wird. Hieraus leitet sich die jeweils herrschende Definition der sozialen Rolle des Schriftstellers, des beruflichen Ethos und der literarischen Institutionen ab; 2. auf der Ebene der Formgebung: Die Formgebung des literarischen Werkes, d. h. das Literarisierungsverfahren, ist nach Bourdieu Produkt des Aufeinandertreffens von Dispositionen (Habitus) einerseits und dem Raum der konstitutiven strukturellen Möglichkeiten des Feldes in einer bestimmten soziohistorischen Situation andererseits; 3. manifestieren sich die relativ autonomen Effekte des Feldes in den Bedingungen der Rezeption der Werke, insbesondere in der Existenz eines kritischen ästhetischen Urteils in relativer Autonomie zum moralischen, politischen, sozialen Urteil über ästhetische Werke (ästhetische Lektüre versus ›profane‹ Lektüre). Das Konzept eines relativ autonomen literarischen Feldes umfasst demnach eine Analyse sowohl der Literatur, verstanden als gesellschaftliche Institution, als auch der literarischen Schreibpraxis, d. h. der Produktionsästhetik und Poetiken, und schließlich noch der Lektüre, der Rezeptionsästhetik, in einer spezifischen Zeitentwicklung. Die feldanalytisch ausgerichtete Literaturgeschichte generiert sich also aus den feldspezifischen Kämpfen um die legitime Definition des Literarischen. Zugleich steht sie in einem Verhältnis zu allgemeinen sozialen Transformationen in Form von Umstrukturierungen und ästhetischen Transfigurationen.
3 Die für die Entwicklung des Feldes der Gegenwartsliteratur 44 relevanten sozialen Transformationen Auf der Grundlage dieses Konzeptes eines relativ autonomen Feldes stellen die folgenden Studien den Versuch dar, zum einen den Fokus auf die Strukturen 43 Vgl. zum Folgenden Gisèle Sapiro: L’autonomie de la littérature en question. In: Jean-Pierre Martin (Hg.): Bourdieu et la littérature. Suivi d’un entretien avec Pierre Bourdieu, S. 45–61, hier S. 46 f. 44 Vgl. zum Folgenden Heribert Tommek, Klaus-Michael Bogdal: Einleitung. In: H. T., K. M. B. (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart. Sozialstruktur – MedienÖkonomien – Autorpositionen. Heidelberg 2012, S. 7–23, hier S. 7–11.
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des literarischen Feldes, zum anderen auf deren Transformationen in der Zeit zu richten. Die für die Veränderung des literarischen Feldes in Deutschland relevanten allgemeinen sozialen Transformationen lassen sich auf folgende Punkte bringen: 1. In den sechziger und siebziger Jahren fand in den westlichen Gesellschaften auf der Grundlage einer umfassenden antiautoritären Bewegung eine Bildungsexpansion statt, die im Kern für eine wachsende und strukturverändernde Bedeutung des kulturellen Kapitals steht. Sie hatte die Pluralisierung der kulturellen Stile und ihre scheinbare Entkoppelung von der sozialen Klassenlage zur Folge. Die Lebensstile sind jedoch bei genauerer Analyse nicht individuell ›wählbar‹, sondern im Weberschen Sinne als tiefer verwurzelte ständische Muster der Lebensführung zu verstehen.45 Von besonderem Interesse ist daher das Verhältnis zwischen horizontaler Ausdifferenzierung (der Bereich der Arbeitsteilung und der Vervielfältigung von Kultur- und Lebensstilformen) und Aufrechterhaltung vertikaler Hierarchisierungen (die stratifikatorischen Machtverhältnisse, die symbolischen Schranken und Repräsentationsverhältnisse). 2. Der zweite zentrale Bereich gesellschaftlicher Veränderungen betrifft die Ökonomisierung (die Logiken der Märkte) und die Medialisierung (die Vermittlungstechniken und -formate) der kulturellen Produktion und ihrer Diskurse. Ökonomisierung und Medialisierung scheinen ihre Autonomie zu bedrohen. Jedoch zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass sie nicht länger absolute Gegensätze darstellen, sondern in zunehmenden Wechselverhältnissen und Überschneidungen auftreten, wie Studien zum neuen Geist des Kapitalismus zeigen.46 Es ist also nicht einseitig von einer ›Ökonomisierung aller Bereiche‹ auszugehen, sondern auch umgekehrt von einer kulturellen Logik der Ökonomie, die nach ihrer Medialität, d. h. nach ihren kultur-technischen Vermittlungsformen befragt werden muss. 3. Die Ökonomisierung aller Lebensbereiche und die kulturelle Logik dieser Ökonomie47 sind eng verknüpft mit der gesteigerten Dynamik einer wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung. Die neuen Zirkulationsbedingungen der materiellen und symbolischen Güter wie vor allem der Wissens- und Kulturformen sind ohne Rückgriff auf die soziale Logik der Inter-
45 Vgl. Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester, Michael Vester: »Die feinen Unterschiede«. In: Gerhard Fröhlich, Boike Rehbein (Hg.): Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2009, S. 289–312, hier S. 307. 46 Vgl. Luc Boltanski, Ève Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz 2006. 47 Vgl. Fredric Jameson: Postmodernism or the Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991.
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nationalisierung nicht zu erfassen. Dabei wird häufig der national bestimmten »ersten Moderne« eine »internationale« oder »kosmopolitische« »zweite Moderne« (Beck) entgegengesetzt.48 Entgegen den dominanten Konzepten, die das ›Internationale‹ oder ›Kosmopolitische‹ dem ›Nationalen‹ gegenüberstellen, ist die Globalisierung aus der Sicht einer feldanalytischen Soziologie durch ein Wechselverhältnis geprägt, denn der Raum internationaler Herrschaftsbeziehungen macht sich an Akteuren, Institutionen und Diskursen fest, deren Produktions- und Zirkulationsbedingungen auch national situiert sind. Aus dieser Perspektive rücken die Universalisierungsstrategien der personellen und institutionellen Akteure, die ›Herstellung des Universalen‹ und die nationalen Bedingungen ihrer Möglichkeit und Durchsetzung, in den Fokus der Untersuchung. 4. Mit der neuen Dynamik und Qualität der Verflechtung ökonomischer und kultureller Produktionssphären, nationaler und internationaler Zirkulationen und Universalisierungsstrategien, hängt die zunehmende Vermischung der Produkte und Öffentlichkeitsformen einer ›Hoch-‹ und einer ›Populärkultur‹ zusammen. Diese Vermischung gilt als allgemeines Charakteristikum der Postmoderne oder des kulturellen Spätkapitalismus. Sie betrifft die Neuausrichtung der Diskurse, Wissensordnungen und Muster des Unbewussten im sozialen Raum, im kulturellen Feld und in den konkreten Berufsfeldern der symbolischen Produktion. Die Hybridisierung der symbolischen Formen erhält jedoch dadurch einen ›Standpunkt‹ in Relation und Differenz zu anderen und ist nicht voraussetzungslos ›gegeben‹, wie dies manche Theorien der postmodernen und der postkolonialen Kultur nahelegen. Zu 1.) In den Sozial- wie auch Kulturwissenschaften ist die Bedeutung »kulturellen Kapitals« für die gesellschaftliche Entwicklung der letzten fünfzig Jahre hervorgehoben worden. Die Sozialstruktur mit ihren verschiedenen Milieus und Mentalitäten richtet sich demzufolge zunehmend nach Bildungserwerb, Eigenverantwortung und kulturellen Kompetenzen aus.49 Entsprechend individualisierten und pluralisierten sich die alltagskulturellen Lebensstile wie auch die (sub-)kulturelle Produktion und Rezeption in den verschiedenen Milieus in
48 Vgl. Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter, Kap. 2 (»Kritik des nationalen Blicks«). Beck hält hier Bourdieus Feldmodell vor, dass es zu frankreichspezifisch und allgemeiner, dass seine Soziologie einem »methodologischen Nationalismus« verpflichtet sei. 49 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede; Michael Vester u. a.: Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Frankfurt a. M. 2001; Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester: Soziale Milieus und Wandel der Sozialstruktur. Die gesellschaftlichen Herausforderungen und die Strategien der sozialen Gruppen. Wiesbaden 2006.
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Westdeutschland ab den 1960 er Jahren und mit Verzögerung und bestimmten Eigenheiten ebenfalls in Ostdeutschland.50 Die starken lebensweltlichen Veränderungen und der Strukturwandel des sozialen Raums zwischen 1960 und 1980 wurden als »horizontale Differenzierung der postindustriellen Wissensgesellschaft« beschrieben (74–77). Gemeint ist damit »die enorme Zunahme der arbeitsteiligen Spezialisierung und damit des Bildungskapitals der qualifizierten Facharbeit und der neuen Technologien« (74). Dieser radikale und dynamische Bedeutungszuwachs der technologischen und medialen Bereiche und der ihr zugehörigen »Kompetenzen«, der mit Bildungsreformen, dem Wandel von Alltagskulturen und mit einer wachsenden Bedeutung von Lebensstilen einhergeht, hat das kulturelle Kapital nicht nur bei den akademischen Eliten, sondern quasi auf allen vertikalen Stufen der Arbeitswelt vermehrt, wodurch grundsätzlich die Bedeutung von Eigenverantwortung, Selbst- und Mitbestimmung im Beruf gestiegen ist. Die Differenzierung und Mobilität der Milieus erfolgten hauptsächlich auf der horizontalen Achse der Arbeitsteilung, die – was die Mentalitäten angeht – Vester et al. in Weiterentwicklung des Modells des sozialen Raums und kultureller Stile, das Bourdieu in den Feinen Unterschieden entwickelt hat, zwischen den Polen »Eigenverantwortung« und »Autorität« einordnen. Die »Öffnung des sozialen Raums als Erfahrung« (204–206) mit ihren erweiterten Lebensmöglichkeiten in den sechziger Jahren und die »Kompetenzrevolution« in den siebziger Jahren spiegeln sich vor allem in Bewegungen auf der gesellschaftlichen Horizontalen in Richtung von mehr »Eigenverantwortung« wider und weniger in der Vertikalen der sozialen Herrschaft. Allerdings betonen Vester et al. auch, dass die auf kulturellem Kapital basierende Intelligenz »nach wie vor dem ökonomischen Kapital untergeordnet« sei und die sozialen Spannungen zwischen »Kapital« (Produktionsverhältnisse in der Vertikalen) und »Arbeit« (Arbeitskräfte und Arbeitsteilung in der Horizontalen) wüchsen (76). Die »Individualisierung« der gesellschaftlichen Kohäsionen wird also nicht als völlige Neuschaffung, sondern – mit Bourdieu51 – als Umstellung (»reconversion«), als relativer Umbau der Mentalitäten und Milieus verstanden (78). Denn die mit dem Strukturwandel, mit der verstärkten Dependenz zwischen Titel und besetzte Stelle korrespondierenden Umstellungen der Dispositionen dienen vor allem dem Erhalt der sozialen Stellung. Bourdieu hatte diese neue Beziehung zwischen »Titel und Stelle« als eine »Dialektik von Entwertung und Aufholjagd« beschrieben.52 Vester et al. stellen jedoch in kleineren Milieus auch eine Ausnahme jener vertikalen Aufsteiger fest, die den Zusammenhang mit dem Herkunftsmilieu ihrer Vergangenheit aufgaben und in andere Milieukulturen überwechselten (80).53 Hierbei handelt es sich vor allem um das hedonistische Milieu der jugendkulturellen Abgrenzung (vgl. 521 f.), jenes Milieu, in dem symbolisch distinktive Lebensstile eine besondere Rolle spielen.
Die Transformation des sozialen Raums stellt im Kern eine Modernisierung, eine Auffächerung der traditionellen Stammmilieus hin zum Pol »Qualifikation« und »Eigenverantwortung« dar. In der empirisch-historischen Zusammenschau der Entwicklungen der letzten vierzig bis fünfzig Jahre wird immer deutlicher, wie
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Vgl. Vester u. a.: Soziale Milieus; Nachweise im Folgenden im Fließtext. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 227 ff. u. S. 711 f. Ebd., S. 227. Vgl. ebd., S. 529.
Relevante soziale Transformationen
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wesentlich die horizontalen Klassenverschiebungen, d. h. die Fraktionierungen der Klassen in den Milieus zwischen den Polen »Autorität« und »Eigenverantwortung« und generell die Modernisierungskonflikte in der Horizontalen, sind. Die Theorien einer individualisierten und reflexiven Postmoderne haben vor allem diese Auffächerung der Milieus im Blick, wobei sie oft die fraktionellen Auseinandersetzungen zwischen den Polen »Autorität« und »Eigenverantwortung« nicht als Konflikte darstellen. Für sie strukturiert sich nunmehr die Gesellschaft ›jenseits von Klasse und Schicht‹ nach individuellen »Risiken« 54 und »Erlebnissen« 55 flexibel-dynamisch. Die allgemeine Pluralisierung und Flexibilisierung der kulturellen Stile hat scheinbar die Entkoppelung von Milieus und sozialer Klassenlage zur Folge. Die Lebensstile sind aber bei genauerer Analyse nicht individuell ›wählbar‹, sondern im Sinne Max Webers als tiefer verwurzelte ständische Muster der Lebensführung zu verstehen.56 In einer Langzeitperspektive zeigen sich im sozialen Raum die Persistenz vertikaler Ordnungen und das im Habitus angelegte Streben nach sozialem Aufstieg oder die Sicherung des sozialen Standes und der Distinktion. Statt von einer ›Auflösung der Klassengesellschaft‹ zu sprechen, ist vielmehr von einer Modernisierung und Auffächerung der Stammmilieus auszugehen, die in langen, ständisch und konfessionell geprägten Traditionen stehen und nach wie vor von zwei vertikalen Trennlinien, der oberen Trennlinie der Distinktion und der unteren Trennlinie der bürgerlichen Respektabilität, geprägt sind (vgl. Abb. 2).57 Im Unterschied zu den dominant auf Künstlerkritik und Selbstreflexion ausgerichteten postmodernen und poststrukturalistischen Darstellungen gehen daher die folgenden Studien von einem dialektischen Verhältnis zwischen horizontaler Ausdifferenzierung (der Bereich der Arbeitsteilung und der ausdifferenzierten Kultur- und Lebensstilformen) und vertikaler Hierarchisierung (die Machtverhältnisse, die sozialen, kulturellen und symbolischen Schranken und Repräsentationsverhältnisse) aus.58
54 Vgl. Beck: Risikogesellschaft. 55 Vgl. Schulze: Erlebnisgesellschaft. 56 Vgl. Bremer, Lange-Vester, Vester: »Die feinen Unterschiede«, S. 307. 57 Vgl. Michael Vester: Die selektive Bildungsexpansion. Die ständische Regulierung der Bildungschancen in Deutschland. In: Peter A. Berger, Heike Kahlert (Hg.): Institutionalisierte Ungleichheiten. Wie das Bildungswesen Chancen blockiert. Weinheim, München 2005, S. 39–70. 58 Einer ähnlichen Fragestellung geht Jürgen Link in Anlehnung an Foucault nach. Siehe J. L.: Kulturwissenschaftliche Orientierung und Interdiskurstheorie der Literatur zwischen ›horizontaler‹ Achse des Wissens und ›vertikaler‹ Achse der Macht. Mit einem Blick auf Wilhelm Hauff. In: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken: über den strategischen Gebrauch von Medien. Bielefeld 2004, S. 65–84; J. L.: Dispositiv und Interdiskurs. Mit Überlegungen zum ›Dreieck‹ Foucault – Bourdieu – Luhmann. In: Clemens Kammler, Rolf Parr (Hg.): Foucault in den Kulturwissenschaften: eine Bestandsaufnahme. Heidelberg 2007, S. 219–238.
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Abb. 2: Die fünf Traditionslinien der sozialen Milieus (2003) und die ständische Stufung der Bildungswege59
59 Michael Vester: Zwischen Marx und Weber: praxeologische Klassenanalyse mit Bourdieu. In: Anna Brake, Helmut Bremer, Andrea Lange-Vester (Hg.): Empirisch Arbeiten mit Bourdieu. Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen. Weinheim u. a. 2013, S. 130–195, hier S. 177. Gegenüber der Abbildung in Vester u. a.: Soziale Milieus, S. 49, stellt diese weiterentwickelte Milieu-Karte den neueren Forschungsstand dar.
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Zu 2.) Die Ökonomisierung und Medialisierung der kulturellen Produktion scheinen die Autonomie von Kunst und Kultur zu bedrohen. Jedoch haben Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer Arbeit zum neuen Geist des Kapitalismus gezeigt, dass sie in einer projektförmigen Netzwerklogik in zunehmenden Wechselverhältnissen stehen: Die Transformation des Kapitalismus seit den sechziger und – in einer neuen, ›projektorientierten‹ Art und Weise – seit den neunziger Jahren unterliegen nicht nur einer ökonomischen, sondern auch einer kulturellen Logik. Konkret meinen Boltanski und Chiapello damit eine Integration der Künstlerkritik in den Geist des Kapitalismus und die Abkopplung der Sozialkritik aus dem Bereich der Kultur, wie sie auch in Theorien der Postmoderne zum Ausdruck kommen.60 Mit Blick auf die wachsende Ökonomisierung der kulturellen Produktion hat Bourdieu von »Trojanischen Pferden« gesprochen61, von der zunehmenden Vermischung der Produkte und Öffentlichkeitsformen der ›Hoch-‹ und der ›Populärkultur‹, wie sie für die Postmoderne oder für den kulturellen Kapitalismus charakteristisch ist. Der Begriff einer kulturellen Produktion, die nicht im Gegensatz zur Ökonomie steht, sondern sich durchaus und in neuer Art und Weise mit den Kräften der Ökonomisierung synthetisiert, lässt sich auf der Grundlage des von Boltanski und Chiapello analysierten »neuen Geistes des Kapitalismus« verstehen: Nach dem ersten ›Geist‹ des familiengestützten und dem zweiten des unternehmensgestützten Kapitalismus zeichnet sich der in etwa seit »1968« entstehende neue Geist des Kapitalismus durch die Integration dessen ab, was Boltanski und Chiapello als »Künstlerkritik« am Kapitalismus bezeichnen. Deren Forderung nach Aufhebung der Entfremdung, nach Emanzipation und Authentizität kam die transformierte Form des Kapitalismus durch verstärkte Angebote kultureller Differenzen nach, wodurch die Künstlerkritik ›entschärft‹ wurde. Die Künstlerkritik ist gegenwärtig gelähmt durch das, was man je nach Standpunkt entweder ihren Erfolg oder ihr Scheitern nennen kann. Sie ist erfolgreich gewesen, weil sie seit den späten 60 er Jahren die Ideale einer breiten Öffentlichkeit verkörpert, während sie bis in die 50 er Jahre noch auf Minderheiten und Avantgarden beschränkt gewesen war. Diese Art Kritik besitzt heute eine Basis, sie hat ihre Fürsprecher und ist in der Medienlandschaft stark vertreten. Gescheitert ist sie in dem Sinne, als die Emanzipation der Begierde [...] nicht den Anfang vom Ende des Kapitalismus eingeleitet hat. […] Dadurch, dass die Künstlerkritik die Konventionen der alten, familien-kapitalistischen Welt aus den Angeln hebt und die erstarrte Industrieordnung – bürokratische Hierarchien, standardisierte Produktion – überwindet, bietet sie dem Kapitalismus die Möglichkeit, sich auf neue Kontrollformen zu stützen und neue, individualisiertere und ›authentischere‹ Güter in die Warenwelt zu inkorporieren. (506) Die Angebote kultureller Differenzen stellen nicht mehr Güter jenseits des Marktes dar, sondern gehören stattdessen zum Zentrum des neuen kapitalistischen Geistes, der sich auf die
60 Vgl. Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, bes. S. 540–544; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 61 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533; vgl. dazu auch unten: Zweiter Teil, II. 2.3.
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»projektbasierte« und im Geist des Managements »vernetzte Polis« gründet (vgl. 147–210). Der sich in den neunziger Jahren zur dominanten Ideologie des Kapitalismus entwickelnde Diskurs des New Management kommt in der Managerliteratur zum Ausdruck.62 Die Verfasser verstehen sie als Reaktion und Antwort auf die Künstlerkritik, auf die ›Entzauberungskritik‹ der sechziger Jahre. So seien viele Eigenschaften, die im Zuge dieses neuen Geistes erfolgversprechend sind, direkt der Ideenwelt der »68er« entliehen: Autonomie, Spontaneität, Mobilität, Disponibilität, Kreativität, Mehrfachkompetenz, die Fähigkeit, Netzwerke zu bilden, die Offenheit gegenüber Anderem und Neuem, die visionäre Gabe, das Gespür für Unterschiede, die Neigung zum Informellen etc. (vgl. 142–144). Diese Eigenschaften beschreiben die Leitkompetenzen innerhalb einer den Fordismus ablösenden Netzwerkökonomie.
Mit der Durchsetzung der einen Form kapitalismusinterner Kritik, der Kulturoder Künstlerkritik, geht die Ausgrenzung und Unterdrückung der anderen einher, der Sozialkritik mit ihrer Anprangerung der Ausbeutungsverhältnisse in einer Klassengesellschaft und ihren Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit und Sicherheit.63 Mit der Annäherung an die Alltagskultur überließ die Kunst die soziale und politische Kritik zunehmend der professionalisierten Politik. Diese Abspaltung, der Aufstieg und die Integration der Kultur- und Künstlerkritik einerseits und der Abstieg und die Ausgrenzung der Sozialkritik aus dem Kunstbereich andererseits, stellen – so die These – eine Rahmenbedingung für das Hand-in-Hand-Gehen der ›Kulturalisierung‹ (als Ausdruck der Durchsetzung der Künstlerkritik) mit der Ökonomisierung der Kunst und damit auch für die Transformation des literarischen Feldes seit »1968« dar. Zu 3.) Die Internationalisierung oder Globalisierung der kulturellen Produktion und Rezeption kann als Zirkulation kultureller Güter verstanden und als solche objektiviert werden.64 Aus einer feldanalytischen Sicht stellt sich dabei die Frage nach den sozialen Bedingungen, die den transnationalen Austausch fördern oder hemmen. Ins Zentrum des Interesses rücken damit die his-
62 Eine kritische Reflexion des Ansatzes, den »neuen Geist des Kapitalismus« aus einer Analyse von Managerliteratur abzuleiten, unternimmt Gabriele Wagner in ihrem Aufsatz: Vom Verstummen der Sozialkritik. In: G. W., Philipp Hessinger (Hg.): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Paradoxien und Ambivalenzen der Netzwerkökonomie. Wiesbaden 2008, S. 311–338. 63 »[D]er neue Geist des Kapitalismus [geht] auf Abstand zum Sozialkapitalismus unter staatlicher Planung und Kontrolle, der als veraltet, beengt und beengend betrachtet wird, und stützt sich vielmehr auf die Künstlerkritik (Autonomie und Kreativität). […] Der neue Geist wendet sich ab von den Sozialforderungen, die in der ersten Hälfte der 70 er Jahre noch dominant gewesen waren. Er öffnet sich gegenüber einer Kritik, die die Mechanisierung der Welt (postindustrielle versus industrielle Gesellschaft) und die Zerstörung von Lebensformen denunziert, die der Ausschöpfung der eigentlich menschlichen Potenziale und insbesondere der Kreativität förderlich sind« (Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 257). 64 Vgl. Pierre Bourdieu: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées. In: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 14 (1990), S. 1–10.
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torische Entwicklung eines ›Raums des Transnationalen‹ sowie die personalen und institutionellen Akteure, die bei der Entwicklung dieses Raums durch bewusste oder unbewusste Nationalismen, die sich in dominanten kulturellen Deutungsmustern tradieren,65 eine zentrale Rolle spielen. Yves Dezalay hat in seinem Aufsatz »Les courtiers de l’international. Héritiers cosmopolites, mercenaires de l’impérialisme et missionnaires de l’universel« 66 die relative Abwesenheit der Soziologie innerhalb der Globalisierungsdiskurse beklagt, die vor allem in Begriffen und nach Maßstäben der Ökonomie, des Rechts oder der Politikwissenschaften geführt würden. Entgegen dieser dominanten Diskurse, die das Internationale dem Nationalen gegenüberstellen, zeigt er, dass sich der neue Raum internationaler Macht und Herrschaftsbeziehungen vor allem aus nationalen Eliten und ihren Interessen zusammensetzt. Daraus schließt er, dass die ›Prädispositionen für das Internationale‹ im Erbe dominanter kosmopolitischer Familienlinien lägen und daher die Internationalisierung untrennbar mit der Reproduktion der sozialen Hierarchien in den nationalen Räumen verbunden sei. Das Nationale und das Internationale seien somit nicht als Opposition in der Logik der Debatten über die Globalisierung zu verstehen, sondern als integrale Bestandteile der Strategien zur Reproduktion sozialer Eliten.67
Die Strategien 68 privilegierter Akteure, die aus Konflikten in den nationalen Feldern resultieren, stützen sich auf den Anspruch, universale Werte zu definieren, sie gar zu repräsentieren und von ihrer internationalen Zirkulation zu profitieren. Die Internationalisierung der nationalen Kämpfe ist daher mit einem symbolischen Einsatz verknüpft, das heißt, mit einem Kampf um Legitimität und Definitionsmacht. Der Markt des symbolischen Import-Exports, die Konstruktion internationaler Netzwerke, erfordert eine Übersetzung spezifisch nationaler Interessen in allgemeine, ›universale‹ Werte. Daher trägt die Internationalisierung der nationalen Auseinandersetzungen dazu bei, eine Dynamik der Universalisierung in Gang zu setzen.69 Diese ›Universalisierungsarbeit‹ hängt weitgehend von der Fähigkeit und Macht ab, symbolische Ressourcen des nationalen Raumes, insbesondere des Staates, für seine Interessen zu mobilisieren.
65 Vgl. hierzu Pascale Casanova (Hg.): Des littératures combatives. L’internationale des nationalismes littéraires. Avec un inédit de Fredric Jameson. Paris 2011. 66 In: Actes de la recherche en sciences sociales 151–152 (2002), S. 5–35. 67 Vgl. ebd., S. 6 f. 68 Hier und im Folgenden werden unter »Strategien« mit Bourdieu »die mehr oder minder ›automatischen‹ Strategien des praktischen Sinns (und nicht die Entwürfe oder Erwägungen eines Bewußtseins)« innerhalb einer ›Spiel‹-Theorie des Sozialen verstanden (Pierre Bourdieu: Von den Regeln zu den Strategien. In: P. B.: Rede und Antwort. Frankfurt a. M. 1992, S. 79–98, hier S. 83). 69 Vgl. Dezalay: Les courtiers de l’international, S. 25.
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Anstatt also von einem gegebenen globalen Markt auszugehen, gilt es, die Perspektive zu verlagern und die politischen, wirtschaftlichen und symbolischen Ressourcen wie auch die hierarchischen Positionen im nationalen Raum in den Blick zu nehmen, die es den privilegierten Akteuren erlauben, das ›Universelle‹ für sich zu beanspruchen und auf dieser Grundlage symbolischer Repräsentanz Positionen im internationalen Raum einzunehmen.70 Für eine feldanalytische Komparatistik ist daher die internationale Zirkulation kultureller Werke und Werte nicht einfach ›gegeben‹, sondern unter historischen und sozialen Machtbedingungen ›gemacht‹. Sie stellt ein komplexes und konfliktreiches Wechselverhältnis zwischen nationalen Öffnungen und Schließungen gegenüber dem Trans- oder Internationalen dar. Dazu gilt es, die jeweiligen Umstrukturierungen oder Übersetzungen der kulturellen Formen bei der Zirkulation kultureller Muster zwischen ›Ausgangs-‹ und ›Eingangskontexten‹ zu untersuchen. Bourdieu hat zu Recht daran erinnert, dass international zirkulierende Ideen ihren Ausgangskontext ablegen und nach der Logik des Eingangskontextes rezipiert werden.71 In dieser Perspektive zielt der feldanalytische komparatistische Ansatz zur Bestimmung von Internationalisierungsprozessen auf die Analyse des Wechselverhältnisses zwischen der Herstellung des Transnationalen, der Universalisierung und internationalen Zirkulation von Werken (als Waren wie auch als Ideen) einerseits und ihren jeweiligen nationalen Bedingungen andererseits. Übertragen auf die Analyse des literarischen Feldes bedeutet dies, die jeweilige ungleiche und hierarchische Verteilung der symbolischen, hier: literarischen Ressourcen in Rechnung zu stellen, um die Logik der Auseinandersetzungen um das Internationale und allgemein um die Universalisierung von Literarisierungsstrategien zu verstehen.72 Zu 4.) Für Konzepte der Postmoderne oder des kulturellen Kapitalismus ist die Öffnung der Ordnungen und Normen, ihre Flexibilisierung, Vermischung oder Überlagerung von Hoch- und Populärkultur charakteristisch.73 Die Amalgamierung und Hybridisierung heterogener Logiken und Diskurse, Wissensordnungen und auch Ordnungen des Körpers, der Affekte und des Unbewussten durchziehen den gesamten sozialen Raum. Der eigentliche Motor der Flexibilisierung scheint aber im ökonomischen Feld zu liegen, wenngleich die diskursive Herstellung des Ideologems des flexiblen Menschen 74 insbesondere
70 Vgl. ebd., S. 26. 71 Bourdieu: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées. 72 Siehe dazu unten: Erster Teil, I. 1.; Fallstudie 1; Zweiter Teil, II. 2.3.; u. III. 3.3. 73 Vgl. Jameson: Postmodernism, S. 1 u. passim. 74 Vgl. Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus [engl.: The Corrosion of Character]. Berlin 1998.
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in den konkreten Berufsfeldern der symbolischen Produktion wie der Kreativbranche, den Medienberufen, dem Journalismus und nicht zuletzt auch der Literaturkritik stattfindet. Die allgemeine Öffnung von Normen, Ordnungen und Diskursen macht sich im Feld der kulturellen Produktion seit den sechziger und siebziger Jahren besonders stark bemerkbar. Entgegen einer postmodernen Überinterpretation der Flexibilisierung hat man es mit Übergangsformen symbolischer und diskursiver Ordnungen im sozialen Raum wie auch im literarischen Feld zu tun: von relativ autonomen kulturellen oder ästhetischen Ordnungen über soziale Distinktionsfunktionen bis hin zu den depersonalisierten Normen eines statistischen Mittelwerts und den diskursiven Ordnungen eines flexiblen Normalismus.75 Flexible Normalisierungen dominieren zunehmend festgefügte normative Ordnungen, jedoch sind der Umgang mit Risiken und flexiblen Ordnungen, ihre symbolische Gültigkeit und soziale Notwendigkeit nicht nur nach statistischen Mittelwerten und anonymen gaußsche Glockenkurven, sondern vor allem nach der jeweiligen Stellung im sozialen Raum verteilt. Damit verbunden ist die Entstehung neuer flexibilisierter Praxisfelder und Akteure mit ihren Diskursen und Subjektformen. Auch die diskursiven Praxisformen sind in der Vertikalen und Horizontalen des sozialen Raums verteilt und durch Standes-, das heißt: soziale und symbolische Schranken der Teilhabe bedingt. Anstatt von einer für alle gleichermaßen geltenden Flexibilisierung und Hybridisierung der Ordnungen auszugehen, lässt sich in feldanalytischer Perspektive der jeweilige Grad ihrer Geltung, ihrer Durchsetzungsmacht, in der Vertikalen der Herrschaftsachse bestimmen. Analog zur Internationalisierung werden so historische und positionelle Bedingungen, d. h. Abstufungen und Umstrukturierungen der Flexibilisierung, sicht- und analysierbar.76 Mit der allgemeinen Flexibilisierung der Ordnungen und Identitäten in der Postmoderne scheint die Auflösung des traditionellen Gegensatzes zwischen bürgerlich-elitärer ›Hochkultur‹ und enttraditionalisierter ›Populär- und Spaßkultur‹ einherzugehen. Angesichts des Verhältnisses von Hoch- und Populärkultur stellt sich die Frage nach der Veränderung einer »repräsentativen Kultur« in den letzten Jahrzehnten.77 So gilt in der Kultursoziologie eine Kultur dann als repräsentativ, wenn sie
75 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen 1996. 76 Siehe dazu bes. unten: Zweiter Teil, I. 2.3.–3.3. 77 Vgl. zum Folgenden Udo Göttlich, Clemens Albrecht, Winfried Gebhardt: Einleitung: Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Zum Verhältnis von Cultural Studies und Kultursoziologie. In: U. G., C. A., W. G. (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies. Köln 2002, S. 7–15.
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Ideen, Bedeutungen und Werte erzeugt, die kraft faktischer Anerkennung wirksam werden. Sie umfaßt dann jene Überzeugungen, Verständnisse, Weltbilder, Ideen und Ideologien, die das soziale Handeln beeinflussen, weil sie entweder aktiv geteilt oder passiv respektiert werden.78 In dieser Bestimmung einer »repräsentativen Kultur« überschneidet sich eine ›verstehende Soziologie‹ in der Nachfolge Max Webers, Alfred Schütz’ und Georg Simmels, der es um den »sinnhaften Aufbau der sozialen Welt« geht,79 und eine ›Soziologie der sozialen Tatsachen‹ in der Nachfolge Émile Durkheims, die nach der faktischen, das einzelne Subjekt und seine Bedeutungszuschreibung transzendierenden sozialen Geltung fragt. So gibt es eine ›Massenkultur‹ im starken Sinne nur solange, wie Hochkultur die repräsentative, faktisch anerkannte Kultur in der bürgerlichen Gesellschaft darstellt. In dem Grad, in dem sich die Geltung letzterer auflöst, verändert sich auch der Status ersterer und umgekehrt. So lassen sich die in der Analyse populärer Kultur entdeckten Wandlungsprozesse der ›Verszenung‹ und ›Eventisierung‹ in ähnlicher Weise auch auf den Feldern der noch existierenden bürgerlichen Hochkultur beobachten. In der auratischen Verklärung von Intensität, Präsenz und ›location‹ und in der Apotheose der technischen Perfektion näherten sich ›bürgerliche Hochkultur‹ und ›populäre (Massen-)Kultur‹ zunehmend an.80 Offenbar hat man es in der ›spät-‹ oder ›nachbürgerlichen‹ Massen- und Mediendemokratie mit einer Formation ›populärer Kultur‹ zu tun, die ein neues Paradigma der Repräsentativität als Form kultureller Autorität verlangt.81
Die Bedingungen der sozialen Geltung flexibilisierter Ordnungen lassen sich feldanalytisch vor allem anhand des Wandels von Öffentlichkeits- und genauer: von Legitimations- und Rechtfertigungsformen aufzeigen. Es wird noch deutlicher darzulegen sein, dass auch die Hybridisierung ›hoher‹ und ›populärer Kulturformen‹ reformuliert werden muss als ein dialektisches Wechsel- und Konfliktverhältnis zwischen einerseits einer sich seit den sechziger Jahren ausbreitenden Sphäre »potentieller« und »segmentarischer Legitimität« der Populärkultur in der Horizontalen, und andererseits der traditionellen Sphäre bürgerlicher Hochkultur mit »Anspruch auf universale Geltung« in der Vertikalen (Bourdieu).82
78 Friedrich H. Tenbruck: Repräsentative Kultur. In: Hans Haverkamp (Hg.): Sozialstruktur und Kultur. Frankfurt a. M. 1990, S. 20–53, hier S. 29. 79 Vgl. Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Frankfurt a. M. 1993. 80 Vgl. Winfried Gebhard: Die Verszenung der Gesellschaft und die Eventisierung der Kultur. Kulturanalyse jenseits traditioneller Kulturwissenschaften und Cultural Studies. In: Göttlich, Albrecht, W. G. (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur, S. 287–305. 81 Vgl. Kaspar Masse: Jenseits der Massenkultur. Ein Vorschlag, populäre Kultur als repräsentative Kultur zu lesen. In: Göttlich, Gebhardt, Albrecht (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur, S. 79–104. 82 Siehe dazu unten: Erster Teil, I. 2.
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4 Methodische Grundlagen einer feldanalytischen Literaturgeschichte Bislang kann festgehalten werden: Die Transformationen der Sozialraumstrukturen, die Prozesse der Ökonomisierung, der Internationalisierung und der Hybridisierung von bürgerlicher ›Hochkultur‹ und ›Populärkultur‹ verlaufen nicht einseitig, sondern in dialektischen, konfliktuellen Bewegungen, die sich als Erweiterung und Flexibilisierung unter Beibehaltung grundlegender Mechanismen symbolischer Macht und ›ständischer‹ Ordnungen charakterisieren lassen. Das Verhältnis zwischen ›horizontaler Pluralisierung‹ der Arbeits- und Wissensformen und ›vertikaler Stratifizierung‹ sozialer Machtverteilung zeigt sich in besonderer Weise in dem das Feld der literarischen Produktion prägenden Wechselspiel zwischen Zeigen und Verschleiern der sozialen Welt insbesondere an seinem autonomen ästhetischen Pol:83 Die Autoren und ihre Positionsnahmen in der Gegenwartsliteratur zeigen und verschleiern, verdrängen und verneinen (im Sinne Freuds) hier zugleich die skizzierten sozialstrukturellen Transformationen, die sie mit Marginalisierung bedrohen. Auf der Grundlage dieser These versuchen die vorliegenden Studien, die diskursiven Autorfunktionen (im Sinne Foucaults) und die relationalen Autorpositionen und -positionsnahmen (im Sinne Bourdieus) symptomatisch (im Sinne Althussers) zu lesen, um die Umstellungsstrategien 84 der Akteure, die Aufrechterhaltung ihrer Subjekt- und Autorpositionen sowie ihrer sozialen Stellungen angesichts der strukturellen Transformationen der sozialen Räume im Allgemeinen und des literarischen Feldes im Besonderen zu verstehen.
Althussers Ansatz einer symptomalen Lektüre Die folgenden Studien zu einer feldanalytischen Literaturgeschichte gehen von einem dialektischen Verhältnis zwischen feldstrukturellen Transformationen einerseits und den genannten Umstellungsstrategien der Akteure andererseits aus. Das Verhältnis von Feld und Habitus, das oft durch eine zeitliche und logische Verschiebung oder Verdichtung geprägt ist und damit dem häufig an
83 »Was ist denn tatsächlich dieser Diskurs, der von der (sozialen oder psychologischen) Welt spricht, aber in einer Weise, als würde er nicht von ihr sprechen; der von dieser Welt nur sprechen kann, wenn er so spricht, als spräche er nicht darüber, das heißt in einer Form, die für den Autor wie den Leser eine Verneinung (dt. im Original) – im Freudschen Sinn – dessen vollzieht, was er zum Ausdruck bringt?« (Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 20); vgl. auch Louis Pinto: Pierre Bourdieu et la théorie du monde social. Paris 2002, S. 117 f. 84 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 210–276.
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die Feldtheorie gerichteten Determinismusvorwurf entgegensteht, ist anschließbar an Louis Althussers Ansatz einer symptomalen Lektüre.85 Diese wendet sich gegen eine hermeneutische Lektüre, die die im Text ›verborgene‹, ›eigentliche‹ Wahrheit herausliest. Stattdessen geht sie davon aus, dass für die legitime Kodierung und Dekodierung des Textes das jeweilige diskursive Feld die Regeln über seine Struktur selbst vorgibt.86 Den von den diskursiven Strukturen vorgeprägten Raum möglicher und legitimer Diskurse bezeichnet Althusser als ideologische »Problematik« 87: Verstanden als ein geregeltes System differentieller Abstände und Verweisungen in einem gegebenen ›Raum des Möglichen‹ stellt sie die herrschende diskursive Ordnung her und reproduziert sie. In dieser auf die »Problematik« gerichteten Lektüre zeigt sich das diskursive Feld »in den Objekten und Problemen, die es bestimmt«.88 ›Sichtbar‹ wird hier als Wirkung allein, was die von Diskursstrukturen generierte und geordnete »Problematik« zulässt. Die ›symptomale Lektüre‹ zielt daher auf die Erkenntnis des in der »Problematik« Abwesenden, das allein über seine Wirkungen sichtbar wird. Mit dem Begriff des »Symptoms« ist der Bezug zu Freuds Theorie des Unbewussten gegeben, wie Bogdal herausstellt. Im Rahmen der Neurosenlehre89 ist das »Symptom« nicht einfach Zeichen einer Verdrängung, sondern Ausdruck einer spezifischen Bearbeitung oder Umstrukturierung, d. h. der ›Wiederkehr des Verdrängten‹« durch Verschiebung und Verdichtung. »Insofern ist das Symptom nicht nur ein Teil der (sichtbaren) Ich-Struktur, sondern Element einer ›anderen‹ Ordnung: des Unbewussten. […] Nur derjenige vermag im Abwesenden, im Mangel oder in den Symptomen das ›Andere‹ zu erkennen, der mit der vorgegebenen Problematik bricht«.90
85 Vgl. zum Folgenden Klaus-Michael Bogdal: Symptomale Lektüre und historische Funktionsanalyse (Louis Althusser). In: K.-M. B. (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Göttingen 32005, S. 84–107. 86 »Die Struktur ist ihren Wirkungen immanent, sie ist eine ihren Wirkungen immanente Ursache im Sinne Spinozas; ihre ganze Existenz besteht in ihren Wirkungen und außerhalb ihrer Wirkungen ist sie als spezifische Verbindung ihrer Elemente ein Nichts« (Louis Althusser, Étienne Balibar: Das Kapital lesen, Bd. 1. Reinbek b. Hamburg 1972, S. 254). 87 »Die Wissenschaft überhaupt kann jedes Problem nur auf dem Terrain und vor dem Horizont einer bestimmten theoretischen Struktur – ihrer sogenannten Problematik – stellen; diese bildet die absolute Bedingung einer bestimmten Möglichkeit und folglich die absolute Bestimmung der Formen, unter denen ein Problem in einem bestimmten Stadium der Wissenschaft gestellt wird« (ebd., S. 28). 88 Ebd. 89 Vgl. Sigmund Freud: Die Verdrängung. In: S. F.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud. Bd. 10 (Werke aus den Jahren 1913–1917). London 1946, S. 256 f. 90 Bogdal: Symptomale Lektüre, S. 44 f.
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Althusser ging es um einen epistemologischen Bruch und um die ›Aufdeckung‹ symptomaler Abwesenheiten. Allerdings ließ er die Fragen nach den Regeln, die das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem bestimmen, und nach der gesellschaftlichen Macht, die dieser Struktur eingeschrieben ist, offen.91 Trotzdem ist mit Alhussers ›symptomaler Lektüre‹ ein wichtiger Ansatz zur Vermittlung von Ereignissen (Symptomen) und Struktur gegeben. Sie ist anschlussfähig an Bourdieus Konzept der Umstellungsstrategien und an seine Anwendung des Freudschen Konzepts der Verneinung zur Analyse ästhetischer Formgebungsverfahren.92 Schließlich besteht eine direkte Verbindung zum Diskursbegriff, den Foucault in seiner Archäologie des Wissens (1969) entwickelt hatte, und konkret zum Begriff der »Autorfunktion«, die dieser als historisches Produkt einer diskursiven Ordnung beschreibt.
Foucaults Begriff der Autorfunktion Auch Foucault ging es um das Wechselverhältnis zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit, zwischen dem, was innerhalb einer diskursiven Formation sagbar und dem, was nicht sagbar ist. Sein Ansatz zielt darauf, das Augenmerk auf den durch das Verschwinden des Autors leer gelassenen Raum zu richten, der Verteilung der Lücken und Bruchstellen nachzugehen und die durch dieses Verschwinden frei gewordenen Stellen und Funktionen auszuloten.93
In dieser Perspektive zeigt sich das Unsichtbare des substanziellen Autor-Prinzips als diskursive Autorfunktion: [D]er Autor ist keine unendliche Quelle von Bedeutungen, die das Werk erfüllten, der Autor geht dem Werk nicht voraus. Es ist ein bestimmtes funktionelles Prinzip, durch das man in unserer Kultur begrenzt, ausschließt, auswählt, selegiert: kurz, das Prinzip, durch
91 Vgl. ebd., S. 45. 92 »Mit der ›Verneinung‹ meint Bourdieu die literarische Verkörperung und damit auch Verschleierung der Tiefenstrukturen, die so sinnlich fassbar werden. Die Arbeit an der Form ermögliche eine partielle Anamnese der verdrängten Tiefenstrukturen. Durch die intensive Arbeit an der Form werde der Schriftsteller – unwillkürlich – zum Medium von verdeckten sozialen und psychologischen Strukturen der Wirklichkeit. Das Konzept gemahnt auch an die psychoanalytische Vorstellung des Verhältnisses von Manifestem und Latentem« (Joseph Jurt: Pierre Bourdieu [1930–2002]. In: Matías Martínez [Hg.]: Klassiker der modernen Literaturtheorie: von Sigmund Freud bis Judith Butler. München 2010, S. 301–321, hier S. 306). 93 Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: M. F.: Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald. Frankfurt a. M. 2003, S. 234–270, hier S. 242.
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das man der freien Zirkulation, der freien Manipulation, der freien Komposition, Dekomposition und Rekomposition der Fiktion Fesseln anlegt.94
So können seit spätestens dem 18. Jahrhundert »›literarische‹ Diskurse nur noch dann rezipiert werden, wenn sie mit der Autor-Funktion ausgestattet sind. [...] Literarische Anonymität ist uns unerträglich«.95 Ebenso wird mit dem Begriff des »Individuums« der des »geistigen Eigentums« rechtlich verbürgt. »Autorfunktionen« im Sinne Foucaults sind daher diskursive Ordnungsverfahren, die innerhalb des Zusammenspiels verschiedener überindividueller Diskurse die Einheit des Autors als konstantes Wertniveau, als theoretische Kohärenz, als stilistische wie auch historische Einheit konstruieren. Nach der jeweiligen, historisch und kulturell spezifischen Ausprägung der Autorfunktionen fragt die historische Diskursanalyse.96 Durch den Begriff der »Autorfunktion« als Klassifikationsverfahren wird der substanzielle Autor-Begriff aufgelöst, wie Foucault in Die Ordnung des Diskurses präzisiert: Es wäre sicherlich absurd, die Existenz des schreibenden und erfindenden Individuums zu leugnen. Aber ich denke, daß – zumindest seit einer bestimmten Epoche – das Individuum, das sich daranmacht, einen Text zu schreiben, aus dem vielleicht ein Werk wird, die Funktion des Autors in Anspruch nimmt. Was es schreibt und was es nicht schreibt, was es entwirft, und sei es nur eine flüchtige Skizze, was es an banalen Äußerungen fallen läßt – dieses ganze differenzierte Spiel ist von der Autor-Funktion vorgeschrieben, die es von seiner Epoche übernimmt oder die es seinerseits modifiziert. Und wenn es das traditionelle Bild, das man sich vom Autor macht, umstößt, so schafft es eine neue AutorPosition, von der aus es in allem, was es je sagt, seinem Werk ein neues, noch verschwommenes Profil verleiht.97
Foucault versteht hier offenbar unter »Autor-Position« die (anonyme) Positionierung eines Verfassers hinsichtlich des von ihm vertretenen Autor-Bildes bzw. seines poetologischen Verständnisses in einem diskursiven Feld. Die in den Texten zum Ausdruck kommenden »Autor-Positionen« sind nicht frei
94 Ebd., S. 259 f., Anm. 15. 95 Ebd., S. 247. 96 »Vielleicht ist es an der Zeit, Diskurse nicht mehr nach ihrem Ausdruckswert oder nach formalen Transformationen zu untersuchen, sondern in ihren Existenzmodalitäten: in der Art und Weise ihrer Zirkulation, ihrer Bewertung, ihrer Zuschreibung, ihrer Aneignung variieren die Diskurse mit jeder Kultur und verändern sich in jeder Kultur; die Art, in der sie sich über die sozialen Verhältnisse äußern, lässt sich meiner Meinung nach direkter im Spiel der AutorFunktion und in ihren Veränderungen entziffern als in den Themen und Begriffen, die sie ins Werk setzen« (ebd., S. 258); vgl. dazu Klaus-Michael Bogdal: Historische Diskursanalyse der Literatur. Heidelberg 22007. 97 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 2007, S. 21 f.
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wählbar, sondern von den jeweils herrschenden Diskursregeln vorgezeichnet. Wie aus dem Zitat hervorgeht, scheint Foucault zwischen »Autorfunktion« und »Autor-Position« zu unterscheiden: Letztere scheint sich von ersterer zu emanzipieren und eine neue »Position« der diskursiven Sicht- oder Sagbarkeit zu begründen. Die Subjektposition des Autors als singulärer ›Schöpfer‹ eines ganzheitlichen Werkes, als ›Einziger mit seinem Eigentum‹ (in Anlehnung an eine Formel Max Stirners), entstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Genieästhetik und ihrer »Idee der Originalität, Singularität und Autonomie«.98 Bogdal hat die Etappen der Paradigmatisierungen von Autor und Werk, von Autonomie und Repräsentanz, systematisiert: »1. Abgrenzung der Autorposition in einer unübersichtlichen Situation (Singularisierung); 2. Bewegung zum Rande des Sozialgefüges bis zur Ausgrenzung (Marginalisierung); 3. vertikale Gegenbewegung zur Rangerhöhung (Nobilitierung)«.99
Angesichts der Entwicklung einer wachsenden »Diskrepanz zwischen emphatischem Selbstbild und sozialer Realität« 100 stellt sich für die folgenden Studien die grundlegende Frage, welche Subjekt- oder Autorpositionen im Feld der Gegenwartsliteratur eingenommen werden können.
Bourdieus Begriff der Autorposition Analog zu »Titel und Stelle«,101 die als sozial eingeschriebene Ansprüche (»Titel«) und tatsächlich eingenommene Position (»Stelle«) in einem relationalen Verhältnis zueinander stehen, unterscheidet Bourdieu Positionierungen oder Positionsnahmen (frz. »prise de position«) und Positionen.102 Unter »Autorposi98 Vgl. Klaus-Michael Bogdal: Autorfunktion im literarischen Diskurs. In: K.-M. B.: Historische Diskursanalyse, S. 135–152, hier S. 139. 99 Ebd., S. 140. 100 Ebd., S. 143. 101 Vgl. Pierre Bourdieu, Luc Boltanski u. a.: Titel und Stelle: Über die Reproduktion sozialer Macht. Frankfurt a. M. 1981. 102 »Alle Positionen hängen in ihrer Existenz selbst und in dem, was sie über ihre Inhaber verhängen, von ihrer aktuellen und potentiellen Situation innerhalb der Struktur des Feldes, das heißt innerhalb der Struktur der Verteilung der Kapital- (oder Macht-)sorten ab, deren Besitz über die Erlangung spezifischer, innerhalb des Feldes umstrittener Profite (wie literarisches Prestige) entscheidet. Den unterschiedlichen Positionen (die sich innerhalb eines so wenig institutionalisierten Feldes wie des literarischen oder künstlerischen nur über die Eigenschaften der Inhaber erfassen lassen) entsprechen homologe Positionierungen: literarische oder künstlerische Werke selbstverständlich, aber auch politische Handlungen und Reden, Manifeste oder polemische Schriften usw. – was dazu zwingt, die Alternative zwischen der immanenten Lektüre von Werken und ihrer Erklärung durch die gesellschaftlichen Voraussetzungen ihrer Produktion und Konsumtion zurückzuweisen« (Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 365 f.).
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tion« wird mit Bourdieu die dem Subjekt nicht verfügbare Stellung im Feld verstanden, die sich über die Koordinaten von Kapitalstruktur (kulturelles – ökonomisches Kapital) in der Horizontalen und Kapitalumfang in der Vertikalen im oben ausgeführten Sinne bestimmen lässt. Davon unterschieden, aber in der Regel homolog verteilt, sind die »Positionsnahmen«. Sie setzen sich zusammen aus sowohl bewussten als auch unbewussten Stellungnahmen. »Positionsnahmen« zeigen sich insbesondere in der Arbeit an der literarischen Form. Die Position des Autors und seine Positionsnahme entsprechen einander in der Regel, müssen es aber nicht. Erst durch die Unterscheidung dieser komplementären Begriffe lassen sich Umstellungsstrategien, d. h. die zeitliche und logische Synchronie oder Anachronie von Habitus- und Feldstrukturen und damit die Evolutionsdynamik des Feldes analytisch erfassen.
Zusammenführungen Das Symptom im Sinne Althussers bezeichnet das sichtbare ›Andere‹ eines nur durch seine Wirkungen wahrnehmbaren Unbewussten. Das sich in diesem Symptom-Konzept ausdrückende dialektische Verhältnis zwischen sichtbarer, anwesender und legitimer Problematik einerseits und unsichtbarer, abwesender und von den Regeln des Diskursfeldes verdrängter Problematik andererseits lässt sich feldanalytisch an das komplementäre Verhältnis von Positionsnahmen – in Form von diskursiv-inhaltlichen oder formal-stilistischen Aussagen – und objektiven, d. h. struktur-relationalen Positionen im Feld anschließen. Die Positionsnahmen verweisen als ›Effekte‹ der Positionen auf das habituell inkorporierte Soziale als Unbewusstes, auf die herrschenden Ordnungen des Diskurses und die Zwänge der Feldstrukturen. Im Unterschied zur Autorfunktion im Sinne Foucaults, die aus der anonymen Macht der Diskurse resultiert, hängt nach Bourdieus Feldkonzept Inhalt und Form des Diskurses wesentlich von der jeweiligen sozialen Stellung oder Position des Sprechers ab.103 Diese unterschiedlichen Ansätze einer Analyse anonymer diskursiver Formationen und der des positionsbedingten Gebrauchs eines Diskurses können sich aber produktiv ergänzen. Wie der symptomalen Lektüre und der historischen Diskursanalyse geht es auch den folgenden Studien zu einer feldanalytischen Geschichte der Gegen-
103 Vgl. Pierre Bourdieu: Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tauschs. Wien 1990, S. 75; vgl. Hannelore Bublitz: »Pierre Bourdieu«. In: Clemens Kammler, Rolf Parr, Ulrich Johannes Schneider (Hg.): Foucault Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2008, S. 210–213.
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wartsliteratur um das »Vorhandensein der Struktur in ihren Wirkungen«.104 Es wird nicht von einem festen Subjekt-Begriff des Autors und seiner Spiegelung im Werk, sondern von Wirkungen der Autorfunktionen bzw. -positionen ausgegangen. Entsprechend werden historische Ereignisse, Positionsnahmen – insbesondere in den Formen der Werke – und Auseinandersetzungen als funktionale Wirkungen von strukturellen Beziehungen innerhalb des literarischen Feldes verstanden. Mit dieser Vermittlung von Ereignis (Positionsnahme) und Struktur (Feld der relationalen Positionen) stellt sich zugleich die Frage nach der Konstitution des Subjekts, das hier als eine im Feld situierte Autorposition verstanden wird. Um die Subjektpositionen innerhalb eines immer schon vorgegebenen Möglichkeitsraumes der Praxis besetzen zu können, müssen sich nach Althusser in der Nachfolge Lacans die Individuen zu ihren realen Existenzbedingungen spiegelbildlich verhalten, indem sie das ›Andere‹ der Praxis als ihr ›Eigenes‹ wiedererkennen und damit die Realität verkennen. Auch Bourdieu spricht vom Feld als einem spezifischen Glaubenssystem: Das Feld produziert seine eigene doxa, sein eigenes ›Ordnungs-‹ und ›Glaubenssystem‹, und alle Akteure, die sich ernsthaft am feldspezifischen Spiel beteiligen, sind über die feldstrukturelle Prägung ihrer Wahrnehmungsund Denkschemata (Habitus) so konditioniert, dass sie die ›Einsätze‹, um die es in den internen Auseinandersetzungen geht, die ›Problematik‹ im Sinne Althussers, in ihrem System der Differenzen wiedererkennen, anerkennen und – in ihrer Arbitrarität, die für jeden, der außerhalb des Feldes steht, leichter ersichtlich ist – verkennen.105 Wo die Individuen bei Althusser durch die Anrufung 106 einer Ideologie im Sinne einer legitimen Problematik ihre autonome Handlungsfähigkeit zu erlangen glauben, werden sie in Wirklichkeit Träger objektiver, struktureller Prozesse und Diskurse. Wie nach der Freudschen Psychoanalyse immer schon »ES« ist, wo »ICH« sein möchte, ist die ›Problematik‹ des Feldes die dem Subjekt vorausgehende strukturierende Struktur.
Im Anschluss an die symptomale Lektüre nach Althusser und die historische Diskursanalyse nach Foucault geht es den folgenden feldanalytischen Studien um eine Analyse der Bedingungen dessen, was die Formation der Gegenwartsliteratur nach der Nachkriegsliteratur in einem dialektischen Zusammenspiel zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Anwesenden und Abwesenden innerhalb einer ›Problematik‹ generiert. Letztere verweist auf ein
104 Althusser, Balibar: Das Kapital lesen, Bd. 2, S. 254. 105 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 295–299 (»Literarische doxa und Widerstand gegen Objektivierung«), S. 360–365 (»Die illusio und das Kunstwerk als Fetisch«) u. S. 515–519 (»Illusion und illusio«). 106 Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate (Skizzen für eine Untersuchung), in: L. A.: Marxismus und Ideologie. Probleme der Marx-Interpretation. Berlin 1973, S. 111–172; vgl. Benjamin Scharmacher: Wie Menschen Subjekte werden. Einführung in Althussers Theorie der Anrufung. Marburg 2004.
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Feld von Strukturen, das bestimmte Probleme zulässt und sichtbar macht, während es dagegen andere ausschließt und in die Unsichtbarkeit verschiebt. Auch Bourdieu spricht von einem »Raum des Möglichen« oder von einer »Problematik«, die sichtbar wird, »wenn der spezifischen Logik dieses Feldes als Raum aktueller und potentieller Positionen und Positionierungen [...] Rechnung getragen wird«.107 Die ›Problematik‹ der historischen Entwicklung der Gegenwartsliteratur umfasst sowohl kultur- und literaturpolitische als auch und vor allem ästhetische Positionsnahmen: literarische Werke, Stile und Formen. Diese werden als symptomatische ›Wirkungen‹ oder ›Antworten‹ gelesen, die auf eine unsichtbare ›Problematik‹ des Feldes, d. h. auf seine strukturellen Transformationen, verweisen. Angesichts der skizzierten Veränderungen durch Pluralisierung und Marginalisierung dreht sich die ›Problematik‹ des Feldes der Gegenwartsliteratur um die Behauptung wie auch Transfigurierungen der singulären Autorposition des ›Einzelnen und seines Eigentums‹. Diese Behauptungs- und Umstellungsstrategien zeigen sich insbesondere in den Poetiken und Schreibweisen.
Soziologie der symbolischen Formen: Das literarische Feld als relationale Situierung von Poetiken Das Autonomiepostulat des literarischen Feldes begründet die doxa einer Interesselosigkeit in der Nachfolge von Kants Bestimmung des ästhetischen Urteils als interesseloses Wohlgefallen und in Abgrenzung von der ›ökonomischen‹ Ökonomie.108 Aus ihr folgt, dass gerade am ästhetischen Pol des Feldes die Verschleierung oder Verneinung des Sprechens von der sozialen Welt am stärksten über die Arbeit an der Form erfolgt. Das künstlerische oder literarische Schaffen ist nicht ›interesselos‹, sondern ein adressierter Akt. Dieser umfasst eine indirekte Adressierung, die sich – neben Wahl des Verlags, der Präsentation des Werkes etc. – in der Ausrichtung an Fragestellungen, Themen und vor allem in der Art der Formgebung zeigt. Die indirekte soziale Ausrichtung kann man an allen Faktoren ablesen, die zur Schaffung eines öffentlichen Bildes des Werkes und Autors, einer differentiellen, d. h. erkennbaren Position oder hörbaren Stimme im Raum der anderen legitimen Möglichkeiten beitragen. Die spezifische Geschichte des literarischen Feldes besteht aus internen Kämpfen um die Definitionsmacht legitimer Literaturformen. Sinn-Beziehungen sind für Bourdieu im Anschluss an Marx und Weber Machtbeziehungen.109
107 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 367. 108 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 342 ff. 109 Vgl. Jurt: Pierre Bourdieu, S. 316.
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Eine anerkannte Position im literarischen Feld zu besetzen bedeutet eine spezifisch literarische Antwort auf eine ganze Reihe etwa ästhetischer, formaler, oder ethischer Fragen, die sich dem Akteur, der ernsthaft das literarische Spiel spielen will, mehr noch unbewusst als bewusst aufdrängen.110 So hat Flaubert in den Augen Bourdieus eine spezifisch literarische Antwort auf eine Reihe von Fragen gegeben, die dann ihrerseits maßgebliche Folgen für die Autonomisierung des literarischen Feldes hatte. Denn das literarische Verfahren Flauberts schuf im Lichte der Sozioanalyse Bourdieus eine neue, legitime literarische Position, nämlich die des L’art pour l’art als Verneinung des Sozialen. Die Herausforderung der Flaubert-Analyse bestand darin, die sozialen Bedingungen für diese rein literarische Position freizulegen. Bei diesem Unterfangen ist der soziologische Blick mit dem Blick des Schriftstellers wie auch des Literaturwissenschaftlers durchaus kompatibel, geht es doch letztlich darum, dem Standpunkt des Autors eine explizitere Form zu geben, d. h. ihn zu objektivieren. Eine so gefasste Literatursoziologie situiert sich also nicht außerhalb, sondern im Werk selbst.
Das »Werk« wird als Resultat einer spezifischen Strategie verstanden. Bourdieu versteht unter »Strategie« den Habitus als ein generatives Prinzip eines objektiven Sinns ohne direkte subjektive Absicht. Die Strategie ist Ausdruck einer mehr unbewussten als bewussten Regulierung und Formgebung durch objektive Kräfte oder Strukturen.111 Die ›Schöpfung‹ des ›einzigartigen Autors‹ und seines geistigen Eigentums, des Werks, wird so übersetzbar als geregelte und regelmäßige Improvisation, die sich auch mit der Kategorie der Wahrscheinlichkeit beschreiben lässt. Mit dem Begriff der geregelten, kategorialen (im Sinne Kants) Improvisation ist schließlich auch der Kern des Habitus-Konzepts benannt, der in Anlehnung an Chomsky als generative Grammatik einer Praxisform begriffen werden kann. Im Fokus der literarischen Werke zeigt sich diese insbesondere in den Relationen der im Feld situierten Poetiken. Der interne Status des Feldes ist durch die Verinnerlichung der herrschenden Kräfte und
110 Vgl. zum Folgenden Heribert Tommek: Am Rande des Soziologisierbaren? Bourdieus Literatursoziologie – ihre Bedeutung für die Feld- und symbolische Herrschaftsanalyse. In: Richard Faber, Frithjof Hager (Hg.): Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? Kultur- und Religionssoziologie heute. Würzburg 2008, S. 90–107. 111 »Das ›Feld‹ ist nicht real, aber das Verhalten, das Wahrnehmen und Fühlen, Denken und Handeln der Menschen geschieht so, als ob sie seinen ›Kräften‹ gehorchten« (Stephan Egger, Andreas Pfeuffer und Franz Schultheis: Vom Habitus zum Feld. Religion, Soziologie und die Spuren Max Webers bei Pierre Bourdieu. In: Pierre Bourdieu: Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens. Hg. v. S. Egger, A. Pfeuffer, F. Schultheis. Konstanz 2000, S. 131–176, hier S. 167); zur Formulierung »als ob« vgl. den Abschnitt zum »Einverständnis« in: Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 5 1980, S. 456 (»Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie«, Abschnitt VI.).
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Regeln bei den Beteiligten geprägt, also durch das jeweilige kulturell Unbewusste oder Vorbewusste im Habitus. Natürlich kann jeder Dichter von sich behaupten, dass er völlig außerhalb von äußeren Zwängen stehe, dass er ein ›freier Schriftsteller‹ sei, und es gibt ja spätestens seit Rousseau die Autorposition des genialischen Sonderlings, desjenigen, der sich außerhalb der Gesellschaft oder auch: außerhalb der Gelehrtenrepublik, d. h. der Gemeinschaft der professionellen Autoren stellt oder gestellt wird.112 Allerdings gibt es eine Hauptquelle, aus denen sich die ›Zwänge‹ oder heteronomen Einwirkungen speisen – Kräfte, die auf jeden ›einzigartigen Schöpfer‹ wirken, nämlich die implizite oder explizite und sich historisch wandelnde Hierarchisierung der Werke und der Genres, d. h. also die Hierarchisierung der Formgebung. Hierin lässt sich eine Haupteigenschaft des literarischen Feldes hinsichtlich seiner Autonomisierung sehen: Es herrscht ein bewusst-unbewusster Wettstreit um die legitime Form, aus dem das jeweilige Feld der möglichen, d. h. legitimen Werke entsteht. Jeder Akteur situiert sich daher auch je nach Art und Weise seiner Anerkennung herrschender (Klassifikations-)Formen und ihrer Entwicklung in der Geschichte. Die Entwicklung der legitimen Klassifikationsformen ist nichts anderes als die literarische Tradition, die auf jeden Akteur einwirkt, wenn er in das Feld eintritt. Diese Situierungslogik zeigt sich am deutlichsten im häretischen Akt, der nicht ohne Kenntnis dessen, was abgelegt, überwunden oder erneuert werden soll, erfolgen kann.
Die Untersuchung des Systems spezifischer, literarischer Positionsnahmen beinhaltet die Analyse eines Werkes im Verhältnis zu anderen Werken, schließlich die Analyse der mit dem Werk verbundenen Feldposition, wodurch auch die unterschwellig negierten Positionen deutlich werden. Es handelt sich um eine sowohl formal als auch inhaltlich situierte Positionsnahme. Über das Werk wird – bewusst oder unbewusst – ein Status oder zumindest ein Selbstbild beansprucht. Auch dieser Anspruch ist nicht willkürlich dem Willen des Autors unterworfen, sondern stellt vielmehr nach Bourdieu eine Wahlverwandtschaft dar. Das heißt, es gibt eine Korrespondenz zwischen den literarischen Dispositionen und einer bestimmten ›Region‹ im Feld der jeweils möglichen symbolischen Positionsnahmen, in denen sie situiert sind. Wenn dieser und jener Position diese und jene Positionierung entspricht, dann nicht automatisch, sondern vermittels der beiden Systeme von Differenzen und der differentiellen Abstände und relevanten Gegensätze, in die sie sich einfügen (wie wir sehen werden, verhalten sich die unterschiedlichen Gattungen, Stile, Formen, Macharten usw. zueinander wie die entsprechenden Autoren). Jede (thematische, stilistische usw.) Positionierung definiert sich (objektiv und manchmal auch absichtlich) durch ihren Bezug auf das Universum der Positionierungen und ihren Bezug auf die dort als Raum des Möglichen indizierte oder suggerierte Problematik; sie erhält ihren distinktiven Wert von ihrer negativen
112 Vgl. Heribert Tommek: À sa place. Essai de comparaison: les trajectoires de J.-J. Rousseau et de J. M. R. Lenz. In: Jérôme Meizoz (Hg.): La circulation internationale des littératures. Lausanne 2006, S. 37–59.
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Beziehung zu gleichzeitig bestehenden Positionierungen, auf die sie objektiv bezogen ist und die sie durch Begrenzung bestimmen. Daraus folgt zum Beispiel, daß Sinn und Wert einer ansonsten gleichbleibenden Positionierung (eine bestimmte Kunstgattung, ein bestimmtes Werk usw.) sich bei einer Veränderung des Universums der untereinander austauschbaren Optionen, die den Produzenten und Konsumenten gleichzeitig angeboten werden, automatisch mit ändern.113
Die Positionierungen (Positionsnahmen) lassen sich nicht unmittelbar aus den Positionen ableiten, sondern erst aus der relationalen Homologie.114 Ferner lassen sich die Positionsnahmen nicht direkt aus dem Habitus, verstanden als ›generative Grammatik‹ der Dispositionen, ableiten, denn die Realisierung von Dispositionen in Form von Stellungnahmen oder literarischen Werken steht in Abhängigkeit vom objektiven Bezugssystem des Raums der möglichen Positionen.115 So lässt sich der hier verfolgte methodische Ansatz einer feldanalytischen Literaturgeschichte zusammenfassen: Die relationale Analyse der Positionsnahmen und ihrer Abstände zueinander macht einen historisch bestimmten Raum möglicher, d. h. legitimer Positionen sichtbar. Dieser Raum verändert sich in einer bestimmten, literarischen Zeit der literarischen Abfolgen, Synchronismen und Anachronismen. Die sich wandelnden Verhältnisse der möglichen (Subjekt-, Autor- und Werk-)Positionen ergeben die historische Struktur des Feldes. Die jeweilige literarische Entwicklung eines Autors und seiner Werke ist daher innerhalb der Strukturentwicklung des Feldes situiert, in dem sich – je nach Autonomiegrad – äußere Einflüsse in Form von Umstrukturierungen und Transfigurationen zeigen. Der eigentliche Gegenstand der Wissenschaft vom Kunstwerk ist daher die Beziehung zwischen zwei Strukturen: der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionen innerhalb des Produktionsfeldes (und den sie einnehmenden Produzenten) und der Struktur der objektiven Beziehungen zwischen den Positionierungen im Raum der Werke. [...] Der Wandel in den Werken liegt im Feld der Kulturproduktion begründet, genauer genommen in den Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren und Institutionen, deren Strategien von dem Interesse abhängen, das sie in Abhängigkeit von ihrer Position innerhalb der Verteilung des spezifischen Kapitals (ob institutionalisiert oder nicht) an der Bewahrung oder Veränderung der Struktur dieser Verteilung, also an der Verewigung oder am Umsturz der geltenden Konventionen entwickeln [...]. Wie groß aber auch immer die Autonomie des Feldes sein mag: Die Erfolgsaussichten von Bewahrungs- wie Umsturzstrategien hängen auf der anderen Seite teilweise immer auch von der Verstärkung ab,
113 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 368. 114 Also nicht: ›Positionierung A′ erfolgt aufgrund Position A‹, sondern ›Positionsnahme A′ verhält sich zu Positionsnahme B′ wie Position A zu Position B‹. 115 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 421.
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die das eine oder das andere Lager bei externen Kräften finden kann (in neuen Kundenkreisen zum Beispiel).116
5 Zu den folgenden Studien Im Unterschied zu rein ereignisgeschichtlich orientierten Bestimmungsversuchen der Gegenwartsliteratur und ihrer Festlegung auf eine »Gegenwärtigkeit«, die in ihrer Vielfältigkeit auf keinen einheitlichen Nenner mehr zu bringen sei, versuchen die folgenden Studien eine feldanalytische Strukturgeschichte der Gegenwartsliteratur seit den sechziger Jahren bis um 2000 herauszuarbeiten. Sie verstehen sich als Weiterentwicklung des Ansatzes einer Sozialgeschichte der Literatur mittels Bourdieus Begriff des literarischen Feldes. Maßgebliche Kennzeichen des kulturellen Wandels in (Ost- und West-)Deutschland sollen im Fokus der Transformationen des literarischen Feldes aufzeigt werden. Dabei richtet sich ein besonderes Augenmerk auf die Vermittlung zwischen ›horizontaler Pluralisierung‹ und ›vertikaler Stratifizierung‹ der Autorpositionen im verdichteten Ausdruck von Schreibverfahren und ästhetischen Formen. Der für die Studien gewählte Analyserahmen ist vornehmlich der nationale. Wenn vom »deutschen« und nicht vom »deutschsprachigen« literarischen Feld die Rede ist, ist damit die Perspektive auf ein national geprägtes Bezugssystem gerichtet. Freilich, durch die dominante Rückbindung an Sprachräume, bietet es sich an, von einem »deutschsprachigen literarischen Feld« auszugehen. Der in den letzten Jahrzehnten immer beliebter gewordene Begriff der »deutschsprachigen Literatur« verstellt indessen Fragen, die sich auf nationale Bedingungsverhältnisse richten. Die Verhältnisse der literarischen Produktion und Distribution in Deutschland zum politischen Feld oder zum Feld der Verlage sind anders gelagert als z. B. die in Österreich.117 Da das Feld keine substan-
116 Ebd., S. 369 f. 117 Ich schließe mich hier der Argumentation von Verena Holler an: »Ein Vergleich der einzelnen, ein literarisches Feld konstituierenden Instanzen im österreichischen und deutschen Literaturbetrieb lässt die Konturen zweier differenter Felder kenntlich werden, so dass eine Vereinheitlichung in ein einziges deutschsprachiges Feld kaum gerechtfertigt erscheint. Zu erwähnen wären hier neben nationalen literarischen Institutionen wie Literaturzeitschriften, Theaterund Verlagslandschaft vor allem auch Konsekrationsinstanzen wie Germanistik, Literaturkritik oder Literaturpreisjurys, deren spezifische Struktur und Funktionsmechanismen selbst in den die Akteure des Feldes beschäftigenden literarästhetischen und politischen Diskursen bzw. in den landesüblichen Kanones Spuren hinterlassen. Auch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gestaltet sich in den beiden Feldern durchaus unterschiedlich« (V. H.: Positionen ─ Positionierungen ─ Zuschreibungen. Zu Robert Menasses literarischer Laufbahn im österreichi-
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zielle, sondern eine relationale Kategorie ist, können Autoren mehrere und unterschiedliche Positionen besetzen. Die Zuordnung zu einem nationalen, transnationalen oder internationalen Feld hängt zunächst von der Ausgangssprache, dann auch von der Übersetzung und schließlich von der Rezeption ab, deren Ein- und Ausschlusslogik wie im Feld der Produktion weniger voluntaristischer als struktureller Art ist. Wichtige Indikatoren für die Einnahme einer Position in einem literarischen Bezugssystem sind also neben der Zugehörigkeit zu einem Sprachraum auch die Zugehörigkeit zu einem literarischen Referenzraum. Dazu gehören die Veröffentlichung in einem jeweiligen (deutschen, österreichischen etc.) Verlag und das Erreichen einer im weiteren Sinne verstandenen Sichtbarkeit und Anerkennung (durch Literaturkritiken, Preise, Aufnahme in Anthologien etc.). Die mehrfache und jeweils unterschiedliche Zugehörigkeit zu nationalen, transnationalen (z. B. »deutschsprachiges Feld«) und internationalen Feldern lässt sich anhand von Schriftstellern in der DDR oder auch österreichischen Autoren aufzeigen.118 Die zeitliche Reichweite der Studien zur Genese der die Nachkriegsliteratur ablösenden Gegenwartsliteratur umfasst die Modernisierungsentwicklung seit den »langen sechziger Jahren«. Ein Schwerpunkt wird auf die neunziger Jahre gelegt, weil hier die Ausprägung der neuen Formation vollends sichtbar wird und eine neue Qualität der Legitimierung erreicht (stellenweise reichen die Studien bis in die Nullerjahre). Mit Blick auf die Gegenwartsliteratur wird damit eine Langzeit-Perspektive eingenommen, die der These einer Zäsur durch das politische Ereignis der Wende und Wiedervereinigung in 1989/90 entgegensteht. Diesen Ansatz hat erstmals Bogdal mit dem Hinweis auf die grundlegende Strukturveränderung in den sechziger Jahren verfolgt.119 Seine These einer ›milieu-förmigen‹ Gegenwartsliteratur, die sich nicht mehr über eine gesamtgesellschaftliche Repräsentanz definieren kann, bildet einen zentralen Ausgangspunkt für die folgenden Studien.120 Bourdieu verstand seinen Ansatz einer Feldanalyse als »strukturale[s] Verfahren der Objektivierung durch Einbettung in ein System«.121 Um der Gefahr des Objektivismus zu entgehen, versuchte er zugleich von der Untersuchung
schen und deutschen Feld. In: Joch, Mix, Wolf [Hg.]: Mediale Erregungen?, S. 169–187, hier S. 169). 118 Siehe dazu unten: Erster Teil, II. 2.3.; u. Zweiter Teil, III. 3.3. Auffälligerweise erlangen Schweizer Gegenwartsautoren im deutschen literarischen Feld seit den neunziger Jahren kaum dominante »Referenzpositionen«. 119 Klaus-Michael Bogdal: Klimawechsel. Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur. In: Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur, S. 9–31. 120 Siehe dazu unten: Erster Teil, I. 1. 121 Jurt: Pierre Bourdieu, S. 318.
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der Situation konkreter Akteure auszugehen.122 Das Verhältnis von ›Ereignis‹ und ›Struktur‹ wird in der vorliegenden Arbeit als Verhältnis der Entwicklungen von Autor- bzw. Werkpositionen und von Feldstrukturen im Rahmen einer Theorie ›mittlerer Reichweite‹ verstanden.123 Die folgenden Studien setzen sich aus Mikro- (Werk-, Autorpositions-) und Makro- (Feldstruktur-)Analysen zusammen. Beide Analyseebenen sind in Bourdieus Konzept des Habitus als generative Grammatik, die sich im literarischen Feld besonders in der Formgebung, in den Poetiken und Literarisierungsverfahren zeigt, vermittelt. Bourdieus »Wissenschaft von den Werken« 124 nimmt in dieser Perspektive die Gestalt einer ›Landkarte‹ ›kartografierter‹, in soziale und historische Relationen gebrachter Poetiken und Stile an. Deren Entwicklung auf einem literarischen Markt ist von »besondere[n] Vorkehrungen zur Verdrängung der mit ihnen konkurrierenden Werke« geprägt, wie schon Walter Benjamin mit Blick auf Baudelaire bemerkte.125 Mit der Vermessung des Marktes der Stile und Poetiken werden symptomatische ›Kristallisationen‹ sichtbar. So zeigen sich poetologische Konflikte und Konkurrenzsituationen als Symptome von Strukturtransformationen des Feldes, verstanden als ein Markt oder Raum, in dem um die legitime Definition des Literarischen konkurriert wird. Die Poetiken werden nicht nur als bewusste Positionsnahmen, sondern vor allem auch als Indikatoren der im Sinne Bourdieus habitualisierten Umstellungsstrategien angesichts der struk-
122 Vgl. ebd. 123 Es geht um »empirienah formulierte, im Prinzip falsifizierbare Regelmäßigkeiten nichttrivialen Charakters, die gleichwohl nicht mit dem deterministischen Anspruch historischer ›Gesetze‹« auftreten (Jürgen Osterhammel: Gesellschaftsgeschichte und Historische Soziologie. In: J. O., Dieter Langewiesche, Paul Nolte [Hg.]: Wege der Gesellschaftsgeschichte. Göttingen 2006, S. 81–102, hier S. 87). Osterhammel hat die Theorien der Historischen Soziologie »mittlerer Reichweite« zwischen geschichtsphilosophischer Großtheorie und theoriegeladenen, sich einzelnen gesellschaftlichen Bereichen widmenden Ansätzen des cultural turn charakterisiert. 124 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, Zweiter Teil. 125 »Baudelaires Verhalten auf dem literarischen Markt: Baudelaire war – durch seine tiefe Erfahrung von der Natur der Ware – befähigt oder genötigt, den Markt als objektive Instanz anzuerkennen [...]. Baudelaire hat vielleicht als erster die Vorstellung von einer marktgerechten Originalität gehabt, die eben dadurch damals origineller war als jede andere (créer un ponctif). Diese création schloß eine gewisse Intoleranz ein. Baudelaire wollte für seine Gedichte Platz schaffen und mußte zu diesem Zweck andere verdrängen. Er entwertete gewisse poetische Freiheiten der Romantiker durch seine klassische Handhabung des Alexandriners und die klassizistische Poetik durch die ihm eignen Bruchstellen und Ausfallserscheinungen im klassischen Vers selbst. Kurz, seine Gedichte enthielten besondere Vorkehrungen zur Verdrängung der mit ihnen konkurrierenden« (Walter Benjamin: Zentralpark. In: W. B.: Gesammelte Schriften. Bd. I.2. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1991, S. 664 f.).
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turellen Transformationen des Feldes verstanden. Aus den Auseinandersetzungen um die Regeln der legitimen Formgebung kann das Charakteristische der Transformationen des literarischen Feldes bestimmt werden. Aus der relationalen Situierung der Poetiken soll so eine neue, feldanalytische Sozialgeschichte der Gegenwartsliteratur aufgezeigt werden. Keine Literaturgeschichte kann den Anspruch auf ›Vollständigkeit‹ und ›Endgültigkeit‹ beanspruchen, so auch nicht die folgenden Studien. Vielmehr versuchen sie, den langen Wandlungsprozessen von der Nachkriegs- zur Gegenwartsliteratur anhand eines Wechsels von Fallstudien und strukturellen Darstellungen aufzuzeigen. Eine solcherart verfasste Geschichte der Gegenwartsliteratur kann nicht mehr als Geschichte eines individuellen Autors geschrieben werden. Sie muss daher eine Form der kollektiv verfassten Literaturgeschichte sein,126 die versucht, verschiedene, bereits vorliegende Studien über das Konzept des literarischen Feldes in einen Zusammenhang zu bringen. Dabei richtet sich das Interesse auf die Transformationen von Feldstrukturen im konfliktuellen Verhältnis zu den inkorporierten Habitusformen der Autoren, die sich in der Behauptung ihrer Autorpositionen und konkret in ihren Schreibweisen niederschlagen. Von dieser Ausrichtung leitet sich auch die Auswahl der Untersuchungsgegenstände und des Text-Korpus her. Sie orientiert sich an der Analyse der Strukturen und Sektoren des Feldes. Die Studien gliedern sich nach zwei Hauptteilen: Im ersten Teil geht es zum einen um die strukturellen Transformationen des literarischen Feldes, um seine Pluralisierung, Medialisierung, Ökonomisierung, Globalisierung. Die Veränderung der literarischen Öffentlichkeit wird im Wechselverhältnis zwischen sektoraler Pluralisierung und dem Regulativ einer repräsentativen Öffentlichkeit mit universalem Anspruch untersucht. Anschließend werden die Auswirkungen des »Aufplatzens des Wissens« in einer ›postindustriellen Wissensgesellschaft‹ (Daniel Bell) auf das literarische Feld beschrieben, d. h. die Entstehung einer neuen symbolanalytischen Intelligenz und die Veränderung des Mandats der Schriftsteller als Intellektuelle. Zum anderen werden die historischen Entwicklungslinien im literarischen Feld der BRD und der DDR zunächst gesondert und schließlich der Prozess ihrer Annäherung und Überschneidung noch vor der politischen Vereinigung nachgezeichnet. Im zweiten, zentralen Teil der Arbeit geht es dann um die synchrone und diachrone Bestimmung des literarischen Feldes der Gegenwartsliteratur seit den neunziger Jahren anhand verschiedener Sektoranalysen: Untersucht werden 1. der ökonomisierte Mittelbereich, 2. der obere, nobilitierte Bereich und schließlich 3. der Avantgardekanal.
126 Vgl. Japp: Beziehungssinn, S. 236.
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Die beiden Hauptteile werden durch Detailstudien ergänzt, die symptomatische Konkurrenz- und Konflikt-Situationen als ereignishafte ›Kristallisationen‹ im Strukturwandel aufzeigen. Im Einzelnen geht es um Konkurrenzen und Konflikte zwischen den Autorpositionen von Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger (Fallstudie 1), Peter Hacks und Heiner Müller (Fallstudie 2) und schließlich von Thomas Kling und Durs Grünbein (Fallstudie 3). In diesen Reibungsverhältnissen manifestieren sich punktuelle Konflikte um die legitime Definition der Gegenwartsliteratur. Es wird sich erweisen, dass die Auseinandersetzungen um ›Gegenwärtigkeit‹ im Kern Kämpfe um das ästhetische Überdauern von Autorpositionen sind. Aus ihnen generiert sich die Geschichte der Gegenwartsliteratur.
Erster Teil. Transformationen des literarischen Feldes seit den sechziger Jahren
I. Strukturtransformationen 1 Pluralisierung – Ökonomisierung und Medialisierung – Globalisierung
Pluralisierung Die in der Einleitung skizzierte Modernisierung des Sozialraums in den sechziger Jahren durch die Expansion von kulturellem Kapital führte auch im Bereich der Literatur zu mehr ›Eigenverantwortung‹, zur Kritik traditioneller Autoritätsverhältnisse, zu Forderungen nach einer Annäherung von ›Leben und Kunst‹, zum Abbau symbolischer Hierarchien der ›Hochkultur‹ und zur Infragestellung eines einheitlichen, linear progressiven Kunstbegriffs. Die Annäherung an die Alltagskultur ist besonders der ersten popliterarischen Bewegung in Deutschland rund um Rolf Dieter Brinkmann ein zentrales Anliegen. Das Streben hin zu einer Pluralisierung literarischer Ausdrucksformen in horizontalen und synchron geltenden Wertordnungen kommt exemplarisch in Brinkmanns popkultureller Maxime von 1969 zum Ausdruck: »Kunst schreitet nicht fort – sie erweitert sich«.1 Eine alltagskulturelle Erweiterung vollzog sich darüber hinaus durch die zunehmende Medialisierung des literarischen Feldes, mit der der traditionelle Universalanspruch und die damit verbundene privilegierte Stellung des Schriftstellers grundsätzlich in Frage gestellt wurden. So entstanden zugleich neue Wissens- und Symbolordnungen innerhalb neuer Öffentlichkeitsformen mit kurzlebigen Begeisterungs- und Enttäuschungszyklen. Die Auffächerung der kulturellen Lebensstile schlägt sich in einer horizontalen Vielfalt literarischer Produktions- und Rezeptionsweisen nieder. Literatur wird – so die zentrale These von Bogdal – seit den sechziger und siebziger Jahren zunehmend »milieuförmig« geschrieben und rezipiert.2 Daraus ergeben sich neue Zwänge und Anforderungen für die Schriftsteller: Ihr Schreiben richtet sich nach bestimmten Symbolisierungen, ästhetischen Standards und Diskursen entsprechend ihrem gesellschaftlich verteilten, ›milieuförmigen‹ literarischen Wissen, Geschmack und Lebensstil aus. Rein innerliterarische, der autonomen Logik des Feldes und seiner internen Traditionen geschuldete Innovationen oder Konfrontationen verlieren in einer solcherart geöffneten li-
1 Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. In: R. D. B., Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 381–399, hier S. 387–389 u. S. 394– 399. 2 Vgl. Bogdal: Klimawechsel.
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Strukturtransformationen
terarischen Kommunikationssituation allmählich an Gewicht. Sie verschwinden jedoch nicht vollkommen, sondern treten in Wechselwirkung mit anderen Ökonomien.
Ökonomisierung und Medialisierung Die Pluralisierung literarischer Milieus seit den sechziger Jahren, die das Ende eines Grundkonsenses über Wesen und Funktion des Literarischen in der Nachkriegsliteratur markiert, ist mit den Begriffen einer ›Subjektivierung‹, ›Selbstverwirklichung‹ und ›pluralistischen Koexistenz‹ nur unzureichend charakterisiert. Denn die Forderungen der Künstlerkritik nach ›Emanzipation‹, ›Authentizität‹ und eben ›Selbstverwirklichung‹ wurden von einer ökonomischen Logik strukturell integriert.3 So antwortete der ökonomische Geist des ›postindustriellen Zeitalters‹ auf den Wunsch nach Differenzierung und Individualisierung der kulturellen Produktion und Konsumtion mit einer Ökonomisierung und Medialisierung kultureller Güter, die Werte transportieren, die bisher eher außerhalb der Marktsphäre standen, wie etwa ›Individualismus‹, ›Authentizität‹ oder ›Kreativität‹. Die Ökonomisierung und Medialisierung kultureller Differenz zeigt sich im Fokus des literarischen Feldes in der wachsenden, strukturell begründeten Schwierigkeit, ein ›Werk‹ mit ›Universalanspruch‹ hervorzubringen, das langfristig an einen für Identität und Kontinuität stehenden ›großen‹ Autornamen geknüpft ist. Strukturell wahrscheinlicher ist dagegen eine zunehmend medial vermittelte, kurzzeitige ›Inthronisation‹ von ›Star-Autoren‹ und ihren Büchern als ›neue Ereignisse‹ mit gewandelten Funktionen: Die immer schnellere, iterative Abfolge des symbolisch-kulturellen Neuen entspricht dem ökonomischen Zeitmaß und dem Zwang, ein neues Angebot auf dem Markt zu platzieren.4 Die Vermarktung symbolisch-kultureller Differenz zeigt sich im literarischen Feld in der Vervielfältigung der Subjektivitäts- und Sinngebungsangebote in wechselnden massenmedialen Formen (Taschenbuch, Verfilmung, Hörbuch, Lesetouren etc.). Symptomatisch beobachten lässt sich die Dynamisierung des Marktes der symbolischen Güter im enormen Anstieg der literarischen Neuer-
3 Vgl. Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus; Jameson: Postmodernism; u. die Einleitung oben. 4 Vgl. Jameson: Postmodernism, S. 4 f.: »What has happened is that aesthetic production today has become integrated into commodity production generally: the frantic economic urgency of producing fresh waves of ever more novel-seeming goods (from clothing to airplanes), at ever greater rates of turnover, now assigns an increasingly essential structural function and position to aesthetic innovation and experimentation«.
Pluralisierung – Ökonomisierung und Medialisierung – Globalisierung
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scheinungen, in den immer kürzer werdenden Produktions- und Rezeptionszyklen, in der Erzeugung kurzzeitiger medio-literarischer Aufmerksamkeiten und Auszeichnungen,5 in den dynamisierten Austauschprozessen zwischen ästhetisch-literarischem und ökonomischem Kapital und schließlich im Kampf um die knappe Ressource einer längerfristigen, literarisch anerkannten, distinkten Subjekt- und Autorposition auf dem literarischen Markt. So zieht die Literaturkritikerin Sigrid Löffler ein kritisches Resümee: Festzustellen ist ein immer schnellerer Wechsel literarischer Moden bei stagnierendem Leser-Interesse. Das führt zu einem immer rascheren Verschleiß von Autoren. Einerseits ist zu beobachten: Autoren werden hofiert und gepäppelt, wechseln für Unsummen ihre Verlage, erhalten für die Promotion ihrer Bücher den Großteil des Werbe-Etats ihrer Verlage zugesprochen und bekommen die geballte Aufmerksamkeit der Medien. Aber andererseits werden Autoren auch gröblich vernachlässigt, geraten aus der Diskussion und werden immer schneller vergessen.6
Entsprechende Veränderungen sind auch im Bereich der Distribution und Rezeption zu beobachten: Der deutsche Buchmarkt hat mit den gleichen Struktur-Problemen zu kämpfen, wie sie die Globalisierung überall mit sich bringt: Einerseits Verdrängungswettbewerb, Verlagsfusionierungen und damit Reduktion der Verlagsvielfalt, Einverleibung unabhängiger Verlage in Buch- und Medien-Konglomerate wie Random House, Marktbeschleunigung, Fokussierung auf immer weniger Buchtitel, Dominanz einiger weniger marktbeherrschender Buchhandelsketten. […] Andererseits hat der Nischenmarkt der unabhängigen Kleinverlage an Neugründungen zugenommen und sich diversifiziert und pflegt seine eigenen Vertriebswege. Die 100000 Neuerscheinungen, die alljährlich den Markt überschwemmen, sind zugleich eine gute und eine schlechte Nachricht. Der deutsche Buchmarkt ist nicht mehr sehr aufnahmefähig: Die Leser werden weniger, die Lesezeiten werden kürzer, die Bücher werden mehr […].7
Diese Symptome allein im Rahmen einer symbolisch-kulturellen »Ökonomie der Aufmerksamkeit« 8 zu verstehen, würde allerdings zu kurz greifen. Denn die gesteigerte Ökonomie des kulturellen Marktes weist die Herausbildung von Unsicherheitszonen auf, woraus ersichtlich ist, dass sich die Prekarisierung der
5 Vgl. Markus Joch, York-Gothart Mix, Norbert Christian Wolf (Hg.): Mediale Erregungen? Autonomie und Aufmerksamkeit im Literatur- und Kulturbetrieb der Gegenwart. Tübingen 2009. 6 Sigrid Löffler: Wer bestimmt, was wir lesen? Der globalisierte Buchmarkt und die Bücherflut: Wie literarische Moden gemacht werden und welche Rolle die Literaturkritik dabei spielt. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart, S. 101– 117, hier S. 101 f. 7 Ebd., S. 102. 8 Georg Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf. München, Wien 1998.
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Arbeitswelt in besonderer Weise auch auf die symbolisch-kulturellen Berufe erstreckt.9 Die Ausweitung dieser Unsicherheitszonen übersetzt sich im literarischen Feld in eine zunehmende Überschneidung mit dem journalistischen, massenmedialen Feld und seiner ökonomischen Produktionslogik.10 Sie betrifft vor allem den graduell unterschiedlich, d. h. flexibel ökonomisierten Bereich kultureller Produktion. Hier werden die Auseinandersetzungen um »Kontingenz-Kompetenz«, um Präsenz und Relevanz von Autorpositionen, ausgetragen.11 Da das künstlerische Werk, so auch das literarische, eine Doppelnatur als »Ware« und »Bedeutung« mit einem »symbolischen Wert« hat,12 ist auch seine Produktion und Zirkulation von entgegengesetzten, aber zunehmend ineinandergreifenden Logiken geprägt. Die beiden gegensätzlichen Produktionsweisen in den Subfeldern des literarischen Feldes – dem Subfeld einer eingeschränkten Produktion und demjenigen der Massenproduktion (s. o., Abb. 1) – stehen jedoch nicht für sich, sondern in Wechselwirkung. Sie »erfahren ihre spezifische Ausprägung aus der jeweiligen Relation der Produktionsweisen zum System der Konsekrationsinstanzen«.13 Bis zu seiner Dynamisierung und Pluralisierung ab den sechziger Jahren orientierte sich das Subfeld der eingeschränkten Produktion an der Grenze zwischen Hoch- und Populärkultur, die nach den zwanziger Jahren und nach dem Krieg nun wieder deutlich gezogen wurde, d. h. an der »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universale Anerkennung« und – in deutlicher Abstufung – an der »Sphäre potentieller Legitimation«.14
9 Vgl. Pierre-Michel Menger: Kunst und Brot. Die Metamorphosen des Arbeitnehmers. Konstanz 2006, Franz Schultheis, Kristina Schulz: »Prekär auf hohem Niveau«, »Im Dienste des Guten und Wahren«. In: F. S., K. S. (Hg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung – Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005, S. 375–381; Alexandra Manske: Unsicherheit und kreative Arbeit – Stellungskämpfe von Soloselbständigen in der Kulturwirtschaft. In: Castel, Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, S. 283–295. 10 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 523–535. 11 Manske versteht unter »Kontingenz-Kompetenz« eine habituelle Anpassung an die prekären Bedingungen, die es den ›kreativen Akteuren‹ erlaubt, sich eine bestimmte Handlungsautonomie zu bewahren (vgl. A. M.: Unsicherheit und kreative Arbeit, S. 285); siehe dazu auch unten: Zweiter Teil, I. 12 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 227. 13 Vgl. Pierre Bourdieu: Die Wechselbeziehungen von eingeschränkter Produktion und Großproduktion. In: Christa Bürger, Jochen Schulte-Sasse (Hg.): Zur Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur. Frankfurt a. M. 1982, S. 40–61, hier S. 40. 14 Pierre Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie. In: P. B., Luc Boltanski, Robert Castel u. a. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchweisen der Photographie. Frankfurt a. M. 1983, S. 85–109, hier S. 105–109, bes. S. 107 (Schema); u. P. B.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Frankfurt a. M. 1970, S. 102–115, bes. S. 109 (Schema); vgl. unten: Abb. 3 u. Kap. 2.
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Da es sich hier um Glaubens- und Anerkennungsverhältnisse handelt, entsprechen ihnen – im Rückgriff auf Max Webers Religionssoziologie15 – die Legitimationsinstanzen der Priester (institutionell legitimierte Autorität) und der Propheten (potentiell legitimierte Autorität mit Anspruch auf universale Anerkennung). Hier im Subfeld der eingeschränkten Produktion, unter den Pairs, d. h. den Rezipienten, die selbst reale oder potentielle kulturelle Produzenten sind, wird die Anerkennung und Rechtfertigung16 des Kunstwerkes gemäß der feldinternen Geschichte und ihrer Wertordnungen ausgetragen. Das literarische Feld verzeitlicht sich im Konflikt zwischen »Avantgarde« (»Propheten«) und »arrivierter Avantgarde« (»Priester«). Dagegen unterliegt das Subfeld der Massenproduktion den Legitimationsinstanzen des ökonomischen und massenmedialen Marktes und damit der »Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität (oder Sphäre der segmentarischen Legitimität)«.17 Dies ist die Sphäre der Zauberer im Sinne Max Webers. Es handelt sich um Produzenten diskontinuierlicher ›Heilsbotschaften‹ von Fall zu Fall außerhalb des regelmäßigen ›Kultusbetriebs‹ und der rationalisierten Lehre, wie sie sowohl bei den »Priestern«, die auf Bewahrung aus sind, als auch bei den »Propheten«, die erneuern wollen, vorherrschen.18 Die »Zauberer« sind durch den »Verzicht auf die Ausübung spiritueller Herrschaft« geprägt,19 d. h. sie beteiligen sich nicht am Kampf um die feldinterne doxa. Daher schreiben sie auch keine »Manifeste« oder ähnlich Programmatisches. Als ›freie Kleinunternehmer‹ stehen sie in einer marktförmigen Konkurrenz um symbolisches Kapital und genauer: um symbolische Kontingenz-Kompetenz. Sie richten sich – im Unterschied zu den Akteuren im Subfeld der eingeschränkten Produktion – an eine sozial heterogene Gruppe von ›Laien‹, die es in der sozialen Zeit, d. h.
15 Vgl. Bourdieu: Das religiöse Feld, bes. S. 16 (Schema). 16 Vgl. Luc Boltanski, Laurent Thévenot: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft. Hamburg 2007. 17 Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 109. 18 »Man kann entsprechend der Scheidung von ›Kultus‹ und ›Zauberei‹ als ›Priester‹ diejenigen berufsmäßigen Funktionäre bezeichnen, welche durch Mittel der Verehrung die ›Götter‹ beeinflussen, im Gegensatz zu den Zauberern, welche ›Dämonen‹ durch magische Mittel zwingen. […] Oder man nennt ›Priester‹ die Funktionäre eines regelmäßigen organisierten stetigen Betriebs der Beeinflussung der Götter, gegenüber der individuellen Inanspruchnahme der Zauberer von Fall zu Fall. Der Gegensatz ist durch eine gleitende Skala von Übergängen überbrückt, aber in seinen ›reinen‹ Typen eindeutig, und man kann dann als Merkmal des Priestertums das Vorhandensein irgendwelcher fester Kultstätten, verbunden mit irgendwelchem sachlichen Kultapparat behandeln« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Teil, V, § 2: »Zauberer – Priester«, S. 259). 19 Piere Bourdieu: Genese und Struktur des religiösen Feldes. In: P. B.: Das religiöse Feld, S. 39–110, hier S. 85).
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unmittelbar und von Fall zu Fall, zu erreichen und zu gewinnen gilt.20 Die hier produzierte »Durchschnittskunst« (art moyen) adressiert sich in idealtypischer Form an ein als ›durchschnittlich‹ apostrophiertes Publikum. Die Produktionsbedingungen der »Durchschnittskunst« weisen die von der Massenproduktion beeinflussten Merkmale ihrer technischer Verfahren auf: das schablonenhafte Verwenden von Symbolen, Personen und Handlungsverknüpfungen, die auf Gemeinplätze verweisen.21 Andererseits orientiert sich die »Durchschnittskunst« stets an der legitimierten Hochkultur, um an ihrer Legitimität teilzuhaben. Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass das sich in der Produktions- wie auch Rezeptionsweise äußernde »Streben nach Rentabilität der Investitionen« eine Expansionsdynamik in sich birgt, eine »ständige Erweiterung der sozialen und bildungsmäßigen Zusammensetzung seines Publikums« als Ergebnis der Produktion von Übereinkommen und Kompromissen. Schließlich strebt diese Expansion der Produktion von »Durchschnittskunst« nach einer »Eingliederung in die weltweiten Produktionskreisläufe«.22 Neben dem Gegensatz sind die Wechselbeziehungen zwischen der eingeschränkten und der Massenproduktion, die beide aus der fortschreitenden Arbeitsteilung resultieren, zu betonen: In der parallelen Ausbildung einer L’art pour l’art und in der Ausbildung einer industriellen Kunst im neunzehnten Jahrhundert sieht Bourdieu eine komplementäre Wertschätzung der Technik, die im ersten Fall in den Kult der Form um der Form willen mündet und im zweiten Fall in eine technisch-serielle Reproduktionsweise.23 Einerseits speist sich die eingeschränkte Produktion seit jeher aus »elementarer Literatur«, aus Kollektivsymbolen und Schema-Techniken (Formaten) der Massenproduktion.24 Andererseits greift die »Durchschnittskunst« auf das Repertoire kanonisierter Werke der Vergangenheit zurück: Die in der »Sphäre willkürlicher Legitimation« situierte »Nachahmungskultur« recycelt Produkte und Werte der »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universale Geltung« als »Substitut der legitimen Kultur, das billig oder zu Ausverkaufspreisen die Illusion verschafft, eines legitimen Konsums würdig zu sein, indem es den Schein der Legitimität verbindet mit der Zugänglichkeit, die per definitionem damit unvereinbar ist«.25
20 Vgl. Bourdieu: Wechselbeziehungen, S. 40. 21 Vgl. ebd., S. 46 f. 22 Vgl. ebd., S. 41 f. 23 Vgl. ebd., S. 45. 24 Vgl. Jürgen Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse. München 1983; J. L.: Die Struktur des Symbols in der Sprache des Journalismus. Zum Verhältnis literarischer und pragmatischer Symbole. München 1978. 25 Bourdieu: Wechselbeziehungen, S. 48.
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Die skizzierten Wechselbeziehungen erreichten mit der Ausdifferenzierung und Professionalisierung der literarischen Produktion und Rezeption seit den sechziger Jahren eine neue Intensität und Qualität. Dies führte zu einer Expansion der Zwischen- und Übergangsbereiche. Die Sphären »potentieller« und »segmentarischer Legitimation« und der Einfluss der mit dem Gestus ›außeralltäglicher Heilsbotschaften‹ auftretenden ›Propheten‹ und ›Zauberer‹ expandierten. Dabei verschwammen die Grenzen zur »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« zunehmend. Die Autorität der ›Priester‹ und ihr literarisches Definitionsmonopol verlor an Anerkennung, wie sich erstmals deutlich am wachsenden Einfluss der amerikanischen beat generation, der Popart und der Popliteratur Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre zeigte. Sowohl am kulturellen als auch am ökonomischen Pol des Feldes machte sich die zunehmende selbstreferentielle Bezugnahme auf die eigene Geschichte und Technik bemerkbar. Die kunstautonome wie auch die ökonomisch-technische Reflexivität der (Re-)Produktion bewegten sich aufeinander zu. »Dies erklärt, warum bestimmt Werke der ›Durchschnittskunst‹ jene formalen Merkmale aufweisen können, die sie zum Eintritt in die legitime Kultur prädisponieren« 26 und umgekehrt. Die Intensivierung der Wechselbeziehungen bis hin zu ihrer Verselbständigung führte zur Emanzipation eines eigenen Zwischenbereichs zwischen Hochund Populärkultur, in dem sich eine Unterhaltungsliteratur mit ästhetischen Ambitionen formiert. Dieser Mittelbereich einer ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur oder einer »Durchschnittsliteratur« bildete sich erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in unterschiedlichen Entwicklungsphasen zur Zeit der Weimarer Republik, dann seit den ›langen sechziger‹ und schließlich seit den neunziger Jahren aus.27 Damit einher ging ein Prozess, in dem die Populärkultur der Hochkultur den traditionellen Anspruch auf universale Repräsentation in wachsendem Maße streitig machte und selbst nach einer repräsentativen Bedeutung strebte.28 Die zunehmende Ökonomisierung der Literatur (sowohl im ökonomischen als auch im symbolischen Sinne einer Konkurrenz um Aufmerksamkeit) schlägt sich einerseits in der Ausbildung einer global zirkulierenden, zumeist englischsprachigen kommerziellen world fiction nieder; andererseits in der Ausdehnung des Mittelbereichs der tuttologi,29 wo sich ästhetische, journalistisch-massenmediale und ökonomische Wertordnungen vermischen. Wie noch
26 27 28 29
Ebd., S. 55, Anm. 5. Vgl. hierzu ausführlich: Zweiter Teil, I. Vgl. Göttlich, Albrecht, Gebhardt (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533.
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genauer zu zeigen ist, bedeutet die mit der Expansion der ›Durchschnittskunst‹ (›littérature moyenne‹) verbundene interdiskursive Vermischung oder Kopplung im Kern eine in die Horizontale verlagerte Konkurrenz um Kontingenz-Kompentenz in den Unsicherheitszonen. Hier werden neue Ästhetiken in Form von Kompromissbildungen zwischen den Anforderungen des ökonomisch-medialen und denen des ästhetisch-autonomen Pols des literarischen Feldes gebildet. Zentral ist dabei die flexibel-normalistische Ausbildung von Mittelwerten und ihren kollektivsymbolischen Repräsentationen wie etwa symbolische Kurvenlandschaften.30 Im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich herrscht eine horizontal ausdifferenzierte Vielfalt der Autorpositionen und Interdiskurse. Durch die medial vermittelte Konkurrenz und die horizontale Zirkulationslogik ist der kulturellen Produktion im Mittelbereich eine vorrangige Tendenz zur Intermedialität, zur Übernahme, Vermischung und Neuschöpfung von Formaten eingeschrieben. An die Stelle einer homogenen und langfristig angelegten (Kunstwerk-) Produktion tritt seit den sechziger Jahren verstärkt eine differenzierte Warenpalette mit kürzeren Produktlebenszyklen und schneller Wandelbarkeit. Die beschleunigte Wandelbarkeit der Werke, ihrer Formate und symbolischen ›Aufladung‹ mit Sinn-Gehalten, lässt sich auf den Begriff einer technisch und ökonomisch gesteigerten Medialisierung bringen, verstanden als technisches Netzwerk wie auch als ein intensivierter semiotischer und symbolischer Verkehr. Allgemein gilt es daher, den Begriff des Ökonomischen zu öffnen und von einer Pluralität der Ökonomien auszugehen.31 Diese stehen in einem komplexen Austauschverhältnis zueinander und bilden »Ökonomien des Medialen« 32 aus, die nicht unbedingt von einer Dominanz der ökonomischen, unmittelbar in Geld und Eigentum konvertierbaren Ökonomie geprägt sein muss. Sie
30 Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Link sieht zwar einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des Kapitalismus sowie der Ausbildung einer Postmoderne einerseits und der Entwicklung des Dispositivs eines flexiblen Normalismus andererseits, aber er betont in seinem nur knapp einseitigen (sic!) »Insert: Normalismus und Kapitalismus« »die strukturelle Selbständigkeit normalistischer Dispositive gegenüber kapitalistischen« (ebd., S. 235 f.). Das normalistische Dispositiv führt er insbesondere auf die zunehmende Verdatung und statistische Erfassung zurück. 31 Vgl. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. 32 Vgl. Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse u. a. (Hg.): Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften. Bielefeld 2006. Die Herausgeber plädieren mit Rückgriff auf Bourdieu für einen erweiterten Begriff der »Ökonomie«: für »Ökonomien im Sinne von unterschiedlichen Regelhaftigkeiten der Güterallokation, die je nach gesellschaftlichem Funktionssystem (und vielleicht auch je nach medialen Regelhaftigkeiten) wandelbar sind« (R. A., J.-O. H. u. a.: Ökonomien des Medialen oder: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, haben auch folgendes Vorwort gelesen. In: Ebd., S. 9–26, hier S. 12).
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sind häufig von anderen symbolischen Ökonomien oder Austauschlogiken überlagert, so vor allem von einer »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck). Wenn »Tausch« und »Zirkulation« als Akte der Kommunikation selbst wiederum eine strukturbildende Kraft haben, dann setzen sie die symbolischen und außersymbolischen Prozesse in ein strukturelles Verhältnis.33 Dabei sind die »Ökonomien des Medialen« nicht nur Prozesse der Angleichung und des harmonischen Austauschs, sondern meistens auch (nicht gerade marktliberal organisierte) ›Arenen‹, in denen das Neue in Konflikten, Widersprüchen und wechselseitigen Fremd-Markierungen ›ausgetragen‹ wird.34 Die Entstehung dieser ›Arenen‹ in einer neuen Qualität und Dynamik seit den sechziger Jahren hängt unmittelbar mit dem in der Einleitung skizzierten Neuen Geist des Kapitalismus zusammen, der die ›ökonomische Ökonomie‹ transformierte, indem es zunehmend um einen Markt der immateriellen Waren, ihre Überproduktion und künstliche Verknappung ging.35 Die durch die Verbreitungstechnologien ermöglichten Überkapazitäten der kulturellen Produktion und der ökonomischen Verwertung von ›Botschaften‹ treten aber in einen Konflikt mit deren ›Geist‹. Dies hat Auswirkungen auf die kurzfristig angelegte symbolische Produktion und Rezeption wie auch auf die mittel- und langfristige Beschaffenheit des kulturellen Gedächtnisses. Insgesamt ist einerseits eine im skizzierten Sinne mehrdimensionale Ökonomisierung der Formgebung zu beobachten. Andererseits besteht die ästhetische Formgebung traditionellerweise, wie Bourdieu gezeigt hat, aus einer Verschleierung, Verneinung und Euphemisierung der allgemeinen Zirkulation und Konvertierbarkeit der Kapitalsorten, insbesondere der kulturellen in die ökonomische, indem die ästhetische Form weiterhin die auratische Einzigartigkeit und Zeitlosigkeit des Kunstwerkes und die damit verbundenen symbolischen Werte wie ›Gabe ohne Gegengabe‹ als zentrale Botschaft transportiert.36 Für die strukturellen Transformationen des literarischen Feldes ist nun von besonderem Interesse, wie sich das Verhältnis zwischen der ›ökonomischen‹ und der symbolischen Ökonomie der ästhetischen Formen bzw. Formalisierung im Zeitalter einer dynamisiert zirkulierenden, hybrid-förmigen Konkurrenz um das
33 Vgl. Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien. Frankfurt a. M. 2004, hier S. 7: »Annahme ist [...], dass es eine Art ›innere Ökonomie‹ der Medien und des Symbolischen gibt, die mit der Geldseite verbunden sein mag, mit ihr aber keineswegs zusammenfällt«. 34 Vgl. Adelmann, Hesse u. a.: Ökonomien des Medialen oder: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, S. 17. 35 Vgl. ebd., S. 18. 36 Vgl. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 185.
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distinkte Neue gestaltet: Wie verhält sich die ›anti-ökonomische‹ Ökonomie des Literarischen am autonomen Pol (die ›interesselose Gabe‹ des Werks) angesichts eines sowohl marktwirtschaftlich und medientechnisch als auch symbolisch gesteigerten ›Verkehrs‹ (der interessengeleitete Markt)? Unter »Medialisierung« wird im Folgenden eine für den Tausch und die Zirkulation notwendige Abstraktionsarbeit durch Formgebung, eine strukturierende Musterbildung mit tendenzieller Regelhaftigkeit oder Gesetzmäßigkeit verstanden.37 Formalästhetisch kann man in der Literatur eine ›äußere‹ (Muster und Gesetzmäßigkeiten der Gattung, des Stils, der Erzählperspektive etc.) und eine ›innere‹ Formgebung im Sinne einer ›Gestaltwerdung einer innewohnenden Idee‹, der geistigen Formgebung einer ästhetischen Individuation unterscheiden.38 Hinzu kommt eine neue Dynamik der medientechnischen Formgebung, der Formalisierung durch Wechsel und Verfeinerung der technischen Medien (Taschenbuch, Film, Hörbuch, E-Book etc.).39 Diese verschiedenen Formgebungen bilden distinkte Logiken aus, treten aber als »Ökonomien des Medialen« in einen zunehmend intensivierten Austauschprozess, seitdem die ästhetischen, technischen und marktökonomischen ›Aushandlungen des Neuen‹ auf der horizontalen Achse der Wissensbereiche immer stärker strukturell ineinandergreifen. Das zeigt sich besonders in der seit den sechziger Jahren wachsenden Öffnung der literarischen Formen für Intermedialität. Die intermediale Beziehung kann technischer, ökonomischer wie auch symbolischer Art sein, etwa in der Kopplung legitimer mit potentiell legitimen und illegitimen, sub- und populärkulturellen Kunstformen. Mit der zunehmenden (Inter-)Medialisierung entwickelten sich neue sektorale und flexible Öffentlichkeiten und Legitimitätssphären, die sich jenseits der vom Staat und seinem Bildungsmonopol bestimmten Bereiche situieren. In diesen sektoral ausdifferenzierten Legitimitätssphären vermischen sich symbolisch-kulturelle, medientechnische und ökonomische Prozesse auf eine neue Art und Weise.40 Hinsichtlich der unterschiedlichen Medialisierungsformen des literarischen Feldes ist es nun sinnvoll, zwischen inter- und intramedialen Grenzüberschreitungen zu unterscheiden, wie Degner und Wolf vorschlagen.41 Durch In-
37 Winkler: Diskursökonomie, S. 151 u. S. 160–163. 38 Vgl. ebd., S. 150. 39 Vgl. allgemein zum Einfluss der historischen medientechnischen Bedingungen auf die ›Botschaft‹ Friedrich Kittler: Aufschreibsysteme 1800, 1900. München 1987. 40 Vgl. unten: Zweiter Teil, I. 3.1. 41 Vgl. Uta Degner, Norbert Christian Wolf: Intermedialität und mediale Dominanz. Einleitung. In: U. D., N. Ch. W. (Hg.): Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Bielefeld 2010, S. 7–17.
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termedialität verschwinden nicht die Dominanzverhältnisse, sondern sie werden in einer neuen Art sichtbar: Dominanzverhältnisse beeinflussen einerseits intramedial das Verhältnis der Künstler untereinander; andererseits zeigen sie sich intermedial im Verhältnis einzelner Künste beziehungsweise Medien zueinander. Der Siegeszug der Intermedialität ist aus diesem Blickwinkel eher ein Indiz für eine akzelerierte Konkurrenzdynamik, der sich moderne Künstler kaum entziehen können, als ein Phänomen medialer Gleichwertigkeit.42
Mit diesem Ansatz eines neuen Wettstreits der Künste, der intermedialen Konkurrenz- und Austauschverhältnisse, die von einer internen Konkurrenz innerhalb einer Kunstform zu unterscheiden ist, stellt sich erneut die Frage nach der Hierarchie der Legitimitäten der unterschiedlichen kulturellen Produktions- und Rezeptionsformen. Der gesteigerte ›Verkehr‹ der Formen scheint die Grenze zwischen ›High‹ und ›Low‹ aufgelöst zu haben, wie insbesondere postmoderne Ansätze behaupten, die die Ausdifferenzierung und Wechselbeziehungen in der Horizontalen betonen. Die Hybridisierung, die Aufnahme popkultureller, (ehemals) illegitimer oder kaum anerkannter Kunstformen, kann aber im Gegenteil auch die Funktion einer verschleierten Aufrechterhaltung der Differenz zwischen Hoch- und Populärkultur durch eine doppelte Distinktion ausüben: Wenngleich beispielsweise die Integration typischer Elemente der ›niederen‹ Künste oder gar der Nicht-Künste in die ›hohe‹ Ästhetik auf den ersten Blick zu einer Nivellierung der Grenzen zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu führen scheint und auch die Selbstaussagen der Künstler dies oft propagieren, lässt der unterschiedliche symbolische und ökonomische Erfolg solcher Poetiken erahnen, dass dies nur auf einer Phänomenebene zutrifft. In feldsoziologischer Hinsicht ließe sich vielmehr die Gegenthese vertreten, dass die Populärkultur – beispielsweise im Werk von Peter Handke oder Elfriede Jelinek – auch für die distinktiven Interessen einer Literatur vereinnahmt werden kann, die sich als innovative Konzeption ästhetischer Erfahrung etablieren will. Intermediale Strategien erfüllen dann eine häretische Funktion beim Kampf gegen etablierte Modelle ästhetischer Erfahrung; die Integration von als nichtkünstlerisch klassifizierten Stilformen wäre einer solchen Logik zufolge vor allem bei den ›Propheten‹ eines Feldes anzutreffen und würde sich primär gegen bereits konsekrierte, konventionell gewordene Ästhetiken der etablierten ›Priester‹ wenden.43
In der intramedialen Konkurrenzsituation des autonomen Subfeldes dient also der Rückgriff auf andere Künste oder Medienformen der feldintern-autonomen Distinktion. Dies trifft vor allem auf die klassische avantgardistische Position
42 Ebd., S. 11. 43 Ebd., S. 12.
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zu, die vertikal ausgerichtet ist und sich nicht nur gegen eine ›kunstlose‹ Lebenspraxis, sondern vor allem gegen die etablierten ›Priester‹ und ihre ›Hochliteratur‹ richtet.44 Aber auch im dynamisierten, flexibel ökonomisierten Mittelbereich der ›Durchschnittsliteratur‹ kann eine doppelte Distinktion der entgrenzenden Positionen beobachtet werden. Durch die Anlehnung an die Formen der legitimen, kanonisierten Hochkultur werden einerseits eine ästhetische Ambition und der Abstand zu einer dominant ökonomischen und massenmedialen Unterhaltungsliteratur markiert. Andererseits wird durch die Art des Umgangs mit der Tradition der Hochkultur – zumeist in Form eines Zitats oder einer Ironisierung – die Distanz zur doxa des autonomen Subfeldes aufrechterhalten.45 Die Unterschiede zu den vertikal ausgerichteten, intramedialen literarischen Verfahren der ›Entgrenzung‹ oder Transgression vom Terrain der Hochkultur aus durch Einbezug populärkultureller Elemente, wie z. B. bei Elfriede Jelinek oder Thomas Kling,46 sind graduell und zeigen sich oft erst in der weiteren Perspektive hinsichtlich der langfristigen Anerkennung einer ästhetischen Position. Formaspekte dominieren hier Funktionsaspekte. Dagegen unterliegen intermediale Austauschverhältnisse, die keine kunstautonomen Ambitionen beinhalten, der Konkurrenz mit den Massenmedien und den Anforderungen kurzfristiger, iterativ herzustellender Zeit-, Formalisierungsund Anerkennungsordnungen. Hier dominiert die Funktion über die ästhetische Form. Die Entstehung neuer ›Arenen‹, in denen verschiedene (marktwirtschaftliche, technische, symbolisch-ästhetische) Ökonomien aufeinandertreffen und im Zuge einer gemischten oder kompromissartigen ›Aushandlung des Neuen‹ in einer potenzierten Art und Weise ineinandergreifen oder in Konkurrenz zueinander treten, weist also im Kern auf eine Auseinandersetzung um Existenzund Präsenzformen, um Sichtbarkeit, Anerkennung und Behauptungen (im doppelten Sinne) von Autorpositionen. Diese erfordern eine Analyse der Verflechtungen und Wechselwirkungen der verschiedenen Legitimations- und Rechtfertigungsordnungen sowie ihrer hegemonialen Gewichtung untereinander.47
44 Zur Unterscheidung zwischen einer traditionell vertikal und einer neuen, horizontal ausgerichteten Avantgarde siehe unten: Zweiter Teil, I. 3., den Exkurs (I. 3.4.) u. III. 1. 45 Beispiele für diese doppelte Distinktion einer horizontal ausgerichteten ›Avantgarde‹, die ihren Durchbruch im international erfolgreichen postmodernen Roman erfährt, wären die ironisch mit (hoch-)kulturellen Werten umgehenden Texte von Christian Kracht oder die flexibelnormalistischen literarischen Formgebungsverfahren in den Romanen von Sibylle Berg (s. u.: Zweiter Teil, I. 3.3.). 46 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, III. 3. 47 Siehe hierzu unten: Erster Teil, I. 2.
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Globalisierung Die Entwicklung neuer Dominanz- und Verdrängungsverhältnisse im Zusammenspiel verschiedener Ökonomien, Rechtfertigungs- und Legitimitätssphären steht nicht nur in einem sozialstrukturellen und ökonomisch-medialen, sondern auch in einem internationalen Zusammenhang. Bourdieu hat darauf hingewiesen, dass in Globalisierungstheorien häufig vorschnell von einer für sich bestehenden internationalen Zirkulation von Ideen und Werken ausgegangen und dagegen der strukturelle Einfluss des jeweiligen nationalen Feldes unterschätzt werde. Stattdessen gelte es, den historischen Bedingungskontext, und das heißt auch: die strukturellen nationalen Bedingungen für die ›Fabrikation des Universalen‹ zu rekonstruieren.48 Die Effekte der Internationalisierung auf den Buchmarkt, der von einer hybriden Ökonomie, von einer Zirkulationslogik sowohl materieller als auch symbolischer Werte geprägt ist, lassen sich hinsichtlich der Produktion, Distribution und Rezeption im Wechselverhältnis zwischen nationalen Bedingungen und internationaler Zirkulation exemplarisch untersuchen. Ein für diese Zusammenhänge besonders aufschlussreicher Bereich der Wechselverhältnisse zwischen symbolischem und ökonomischem Kapital ist der Markt der globalen literarischen Übersetzungsströme.49 Eine feldsoziologische Theorie der Übersetzung stellt ein zentrales Instrument zur Analyse des internationalen Transfers von Ideen, Diskursen und literarischen Werken dar. Dabei ist von einer Hierarchie der Sprachen und Sprachräume auszugehen: Zu unterscheiden sind dominante oder zentrale Sprachen, aus denen viel übersetzt wird, die sich aber ihrerseits gegen den ›Import‹ mittels Übersetzungen abschotten, semi-periphere Sprachen und schließlich dominierte oder periphere Sprachräume, aus denen wenig übersetzt wird, die aber selbst offen für Übersetzungen sind.50 Die Teilhabe an den weltweiten Übersetzungsströmen ist durch sprach-
48 Vgl. Bourdieu: Les conditions sociales de la circulation internationale des idées; vgl. dazu Joseph Jurt: Das Konzept des literarischen Feldes und die Internationalisierung der Literatur. In: Horst Turk, Brigitte Schultze, Roberto Simanowski (Hg.): Kulturelle Grenzziehungen im Spiegel der Literaturen. Nationalismus, Regionalismus, Fundamentalismus. Göttingen 1998, S. 84–103. 49 Vgl. zum Folgenden Norbert Bachleitner, Michaela Wolf: Auf dem Weg zu einer Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (2004), H. 2, S. 1–25; vgl. auch Gisèle Sapiro: Literarische Übersetzungen in den USA und in Frankreich im Zeitalter der Globalisierung. Eine vergleichende Studie. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart, S. 139–168. 50 Diese Einteilung wurde zum ersten Mal von Johan Heilbron vorgenommen (J. H.: Translation as a Cultural World System. In: Perspectives: Studies in Translatology 8 [2000], H. 1, S. 9– 26, hier S. 20). Zu den zentralen und dominanten Sprachen zählen mit Abstand Englisch mit einem Anteil von 40–50 Prozent an den weltweiten Übersetzungen (in Europa sogar ca. 50– 70 %), aber auch noch Französisch, Deutsch und Russisch mit jeweils 10–12 % Anteil. Aus
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räumliche und nationale Eigenarten des Übersetzungsfeldes bedingt: So gilt Deutschland seit der Goethezeit – zumindest in Europa – schlechthin als das Land der Übersetzer. Für das 19. Jahrhundert lässt sich belegen, dass der Höhepunkt der Belletristik-Übersetzung um die Mitte des Jahrhunderts erreicht wurde, als jeder zweite neu erschienene Roman aus einer anderen Sprache übersetzt war, insbesondere auch aus dem Englischen.51 Was die letzten fünfzig Jahre betrifft, so dürfte das deutsche Übersetzungsfeld 52 weiterhin der Sprachraum mit der weltweit größten Übersetzungsproduktion in absoluten Zahlen gewesen sein.53 Über Umfang und Genauigkeit des Übersetzens und des dadurch bewirkten Kulturtransfers sowie die Richtung der Übersetzungsströme entscheiden die Position einer bestimmten Kultur, ihrer Sprache und Literatur im internationalen Feld. Wo der kommerzielle Anreiz fehlt, aber der kulturelle Wert hoch ist, greifen oft von Regierungen gestützte Institutionen oder Stiftungen in den Markt durch
diesen vier Sprachen stammten 1980 drei Viertel der Übersetzungen auf dem Weltmarkt. Zu den semi-peripheren Sprachen gehören z. B. Spanisch, Italienisch, Dänisch, Schwedisch, Polnisch und Tschechisch (mit jeweils zwischen 1–3 % Anteil an den Übersetzungen). Schließlich zählen zu den peripheren Sprachen auf dem globalen Übersetzungsmarkt Weltsprachen wie Chinesisch, Japanisch, Arabisch und Portugiesisch (mit jeweils weniger als einem Prozent); vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 12; Sapiro: Literarische Übersetzungen, S. 138 u. S. 145: Tabelle 1 zum Vergleich der 80 er und 90 er Jahre. Auffällig ist, dass sich bis 1990 die Kräfteverhältnisse nur sehr langsam verschieben und in den neunziger Jahren insbesondere die zentrale Stellung des Englischen auf knapp 60 % steigt, während zum Beispiel Übersetzungen aus dem Russischen von 11,5 auf 2,5 % Anteil fallen. 51 Vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 10; u. Markus Kessel: Importartikel Buch: Zwischen Nischengeschäft und ›heißen Titeln‹. In: Heinz Ludwig Arnold, Matthias Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland. München 2009, S. 421–432, hier S. 422 f. Bei den um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also zur Entstehungszeit des Mittelbereichs einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur übersetzten Romanen handelt es sich um Bestseller von Walter Scott, Charles Dickens, James F. Cooper, den beiden Dumas oder George Sand. 52 Zum »deutschen Übersetzungsfeld« müssen auch Österreich und die Schweiz gezählt werden, da sich Übersetzungsfelder nach Sprachen gruppieren (vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 2 f.). 53 Die Zahl der jährlichen Neuerscheinungen wird nur von dem weit weniger übersetzenden Großbritannien übertroffen (vgl. ebd., S. 2). Die Buchproduktion in Deutschland betrug 1960 insgesamt 22524 Titel und 2003 61538 Titel (nur Erstauflagen). Zur Belletristik gehörten davon 4892 (1960) bzw. 9321 (2003) Titel. Von diesen Belletristik-Titeln waren 1960 1357 (= 27,7 %) und 2003 2888 Titel (= 31,0 %) Übersetzungen. Diese Übersetzungen lassen sich wiederum nach Sprachen aufschlüsseln (Zahlen hier aus dem Jahr 2001): aus dem Englischen 48 %, aus dem Französischen 6,5 %, aus dem Italienischen 3 %, Russischen 2,7 %, Spanischen 2,5 %, Schwedischen 2,2 %, Niederländischen 1,5 % und aus dem Norwegischen 1,1 % (vgl. die Statistiktabelle ebd., S. 11). In den 1990 er Jahren stieg der Anteil der Übersetzungen auf fast 45 %, 1995 sank er jedoch wieder auf den alten Mittelwert von knapp einem Drittel. Seitdem zeichnen sich zwei Tendenzen ab: zum einen geht die Übersetzungsproduktion weiterhin zurück (2005: auf 13,8 %), zum anderen findet eine zunehmende Konzentration auf die wichtigsten Ausgangssprachen statt. So stieg der Anteil der Übersetzungen aus dem Englischen bis 2006 auf 65 % (Französisch: rund 10 %, Italienisch, Spanisch, Niederländisch, Schwedisch und Russisch: 1,5–3,3 %; Zahlen nach Kessel: Importartikel Buch, S. 425 f.).
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Förderung von Übersetzungen ein, an deren Verbreitung ein kulturpolitisches Interesse besteht. Die Förderung ist im Allgemeinen umso umfangreicher, je schwächer ein nationaler Markt, d. h. je kleiner das Zielpublikum ist,54 oder je stärker die Kulturpolitik national ausgeprägt ist, wie vergleichende Untersuchungen zwischen den USA und Frankreich von Sapiro gezeigt haben.55 Das Zentrum-Peripherie-Modell, das sich gut dazu eignet, die globale Zirkulation literarischer Werke allgemein darzustellen, muss um die feldspezifische Polarität zwischen »eingeschränkter« und »Großproduktion« erweitert werden, um auftretende Varianten in der ›Mikroökonomie der Übersetzungen‹ zu erfassen. Während die Übersetzungen am Pol der Massenproduktion von der englischen Sprache dominiert sind, entwickelten sich am Pol der ›kleinen‹, autonomen Produktion Widerstandsstrategien: Hier sind Übersetzungen aus einer wachsenden Anzahl von verschiedenen Sprachen zu beobachten, worin sich ein Eintreten für kulturelle Diversität äußert. Diese kulturelle Vielfalt wird in Frankreich bezeichnender Weise vom Staat gefördert, wohingegen sich die Dominanz der Übersetzungen aus dem Englischen am Pol der Massenproduktion vor allem über den ökonomischen Absatz herstellt. Die symbolischen Umstrukturierungen der Internationalisierungsströme in Abhängigkeit von nationalen Bedingungen lassen sich schließlich bis in den Mikrokosmos der sprachlichen Übersetzungsstrategien zurückverfolgen.56
Übersetzungsströme reflektieren hierarchische Verhältnisse auf dem literarischen Weltmarkt. Ihre Verläufe resultieren sowohl aus sprachhierarchischen, ökonomischen wie auch literatursymbolischen Kriterien. Diese stehen wiederum in einer Wechselwirkung zwischen den nationalen – vor allem landessprachlichen – Bedingungen und einer internationalen Zirkulation. Die Übersetzung aus einer peripheren in eine dominante Sprache bedeutet einen mehr oder weniger großen ökonomischen Gewinn für Autor und Verleger, zugleich aber auch einen großen Prestigegewinn für ein Werk. Der Zuwachs an symbolischem Kapital führt in der Regel wiederum zu Übersetzungen in andere, ›kleinere‹ Sprachen. Die Aufnahme in den Kanon der Weltliteratur ist letztlich undenkbar ohne Übersetzung in die wichtigsten Sprachen.57 Andererseits können auch die aufnehmende Sprache bzw. Literatur und die an der Übersetzung beteiligten Akteure einen Gewinn an ökonomischem und/oder symbolischem Ka-
54 Vgl. ebd., S. 5. 55 Vgl. zum Folgenden Gisèle Sapiro: Les contradictions de la globalisation éditoriale. Paris 2009; u. G. S.: Literarische Übersetzungen in den USA und in Frankreich. 56 So gilt grob folgender Zusammenhang: Besitzt das übersetzte Werk eine hohe kulturelle Legitimität und somit symbolisches Kapital, das in die Zielkultur übertragen werden kann, ist eine dem Original gegenüber relativ ›treue‹ Übersetzung wahrscheinlich, die den Leser der Zielkultur mit dem Fremden konfrontiert. Umgekehrt, wenn ein Original oder seine Herkunftskultur wenig Prestige aufzuweisen haben, ist eher eine zielkulturell orientierte Übersetzung wahrscheinlich. Die ›fremde‹ Herkunft des Textes wird dann tendenziell nivelliert (vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 23). 57 Vgl. ebd., S. 12.
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pital erzielen, wenn sich zum Beispiel die Übersetzung später als bahnbrechend für neue Entwicklungen erweist.58 In analoger Weise strukturiert sich auch die nationale und internationale Verlagslandschaft: Das Programm eines Verlags ist zumindest in groben Zügen vorgeprägt von seiner ökonomischen Struktur und die Position im Feld des Verlagswesens gibt den Handlungsspielraum vor.59 Dieser strukturiert sich bipolar nach einem Bestseller- und einem Nischenmarkt, die sich in der Regel nach Großverlagen und Verlagsketten einerseits und kleinen Verlagen andererseits aufteilen. Bei den kleinen Verlagen steht das Profil, d. h. das symbolische Kapital bei den Entscheidungen für eine bestimmte Übersetzung im Vordergrund. Aber nicht nur Kleinverlage, auch Konzernverlage scheinen aufgrund der Tatsache, dass Bücher nicht nur Waren, sondern zugleich symbolische Güter mit einem Sinn-Gehalt sind, darauf bedacht zu sein, ein bestimmtes Image zu pflegen, um die ›Authentizität‹ einer ›Marke‹ zu erhalten. Die Verlagspraxis ist also von Mischkalkulationen zwischen Bestsellern und Nischentiteln entweder innerhalb von Verlagsgruppen oder innerhalb eines einzelnen Verlages geprägt. Beispielsweise gehörte zur Bertelsmann-Verlagsgruppe, die sich generell vor allem an potentiellen, aus dem Englischen übersetzten Bestsellern orientiert, früher der Berlin Verlag (heute gehört er zum Londoner Bloomsbury Verlag, der vor allem durch seine Harry-Potter-Reihe bekannt und reich wurde). Er ist für Neuund Wiederentdeckungen vergessener Autoren bekannt geworden. Und bei Rowohlt ermöglichen exorbitante Erträge mit einem Autor wie Jonathan Franzen eine gewisse Vielfalt des Programms und Titel, die sich nicht kurzfristig rechnen müssen.60
Ähnlich stellt sich in feldanalytischer Perspektive schließlich auch die internationale literarische Produktion und Rezeption im engeren Sinne dar. So betrachtet Pascale Casanova das transnationale literarische Feld, »La République mondiale des lettres«, ebenfalls als Beziehungsraum, in dem ein Konkurrenzkampf um die Legitimation des Literarischen ausgetragen wird.61 Kulturelle Nationalismen sind nach diesem Ansatz allgemein als relationale Konstruktio-
58 Vgl. ebd., S. 3. Dass die Übersetzung einer ›kleinen Literatur‹ ins Deutsche den Zugang zum Weltmarkt ermöglichen kann, zeigt das Beispiel der Neuübersetzung von Imre Kertész’ Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) bei Rowohlt: Dadurch erlangte das Werk erst europaweit und dann auch in den USA breite Aufmerksamkeit. Die Übersetzung ins Deutsche trug damit dazu bei, den Weg zum Nobelpreis für Kertész zu ebnen (vgl. ebd.). 59 Vgl. ebd., S. 14; u. Pierre Bourdieu: Une révolution conservatrice dans l’édition. In: Actes de la recherche en sciences sociales 126/127 (März 1999): Edition, éditeurs (I.), S. 3–26, hier S. 15. 60 Vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 14 f.; vgl. auch Claudia Schalke, Markus Gerlach: Le paysage éditorial allemand. In: Actes de la recherche en sciences sociales 130 (Dez. 1999): Edition, éditeurs (II.), S. 29–47. 61 Pascale Casanova: La République mondiale des lettres. Paris 22008.
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nen in einem inter-nationalen Raum zu bestimmen, der von struktureller Ungleichheit geprägt ist.62 Casanovas Modell geht weder von einer nationalen Literatur noch von einem globalen literarischen Feld der »Weltliteratur« an und für sich aus, sondern von symbolischen Konkurrenzverhältnissen und von reziproken Beziehungen zwischen Herstellung, Zirkulation und Rezeption von Werken mit universaler Bedeutung einerseits und ihren zeitlichen und nationalen Bedingungen im jeweiligen nationalen literarischen Feld andererseits. Dabei folgt die Hierarchisierung im internationalen literarischen Kontext weniger aus der quantitativen Dominanz einer Sprache: Sprachen mit großer Verbreitung (»de ›grande circulation‹«) sind nicht automatisch Sprachen mit hohem kulturellem Prestige (»de ›grande culture‹«). Vielmehr strukturiert sich die Hierarchie im internationalen literarischen Feld nach der akkumulierten ästhetischen Zeit, die sich in spezifische symbolische Ressourcen transformiert.63 Gemeint ist damit das erworbene literarische Kapital als Sonderform des symbolischen. Dieses steht für eine anerkannte Literarisierungskategorie, die eine Sprache oder Literatur in der spezifischen Zeit der feldinternen Geschichte erworben hat.64 Casanovas Erweiterung des Bourdieuschen nationalen Feld-Modells erfolgt über eine Korrelation von Autonomisierung und Internationalisierung. Der autonome Pol entspricht tendenziell dem internationalen Pol eines literarischen Feldes; der heteronome Pol den nationalen (bzw. ökonomischen) Bestimmungen der Literatur. Jedes nationale literarische Feld weist damit zwei antithetische Pole auf, den autonomen, tendenziell kosmopolitisch-internationalen Pol, an dem Literatur als zweckfreie Kunst gilt, und den heteronomen, nationalen Pol, an dem die Literatur politischen, moralischen und ökonomischen Zwecken untergeordnet ist. Der autonome Pol hat sich in der Regel in denjenigen Literaturen durchgesetzt, die bereits einiges spezifisch literarisches Kapital angesammelt haben, also auf eine lange Tradition zurückblicken
62 Schon Marcel Mauss betonte die symbolische und ökonomische Ungleichheit der nationalen Räume: »[E]lles sont inégales en grandeur, en force, en richesse, en civilisation, en âge« (Marcel Mauss: »La Nation«, zit. n. Pascale Casanova: La guerre de l’ancienneté ou il n’y a pas d’identité nationale. In: P. C. [Hg.]: L’internationale des nationalismes littéraires, S. 11–31, hier S. 21). 63 »Sur le terrain de la lutte symbolique, c’est encore le temps qui donne la puissance et le pouvoir: il faut être ancien pour être puissant puisque le capital culturel national est constitué principalement de temps accumulé, transformé en ressources. […] être ancien c’est être doté d’un capital puisque c’est hériter d’un passé collectif« (Casanova: La guerre de l’ancienneté, S. 15). 64 »Cet indice prendrait en compte l'ancienneté, la ›noblesse‹, le nombre de textes littéraires écrits dans cette langue, le nombre de textes reconnus universellement, le nombre de traductions ... Il faudrait ainsi opposer les langues de ›grande culture‹ – c’est-à-dire les langues à forte littérarité – aux langues de ›grande circulation‹« (Casanova: La République mondiale des lettres, S. 42).
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können und eine differenzierte Literatursprache, ein elaboriertes Gattungssystem, universell anerkannte ›Klassiker‹, ein ausgebautes System literarischer Institutionen wie Fachpresse, renommierte Verlage oder Akademien und Bibliotheken, ein spezifisch gebildetes Lesepublikum und auch eine große Zahl von Übersetzungen aufweisen. Der heteronome Pol dominiert dagegen im Feld der ›jungen‹ Literaturen in politisch (noch) nicht gefestigten Ländern. Solche ›kleinen Literaturen‹ 65 tendieren umso stärker zur Autonomisierung, die zugleich für eine ›DeNationalisierung‹ oder Internationalisierung steht. Vorangetrieben wird sie einerseits durch Übersetzungen (weshalb das Übersetzen fremder Literatur in ihre Sprache auch vorrangiges Interesse der Vertreter des autonomen Pols ist),66 andererseits durch Anschluss an international anerkannte Literarisierungsmuster (Poetiken).
Hinsichtlich der literarischen Produktion lässt sich mit Casanova von einer Strukturhomologie sprechen: Die einzelnen nationalen literarischen Felder nehmen in diesem Modell Positionen innerhalb eines internationalen (kosmopolitischen) Feldes ein, das sich ebenfalls nach der Opposition zwischen einem »international-autonomen« und einem »national-heteronomen« Pol ausrichtet.67 Die Positionierung der einzelnen nationalen Felder hängt von der relativen Dominanz eines dieser beiden Pole ab, das heißt von der Struktur des dominant anerkannten literarischen Kapitals im jeweiligen Feld, vom Grad seiner relativen Autonomie, der nicht zuletzt durch das akkumulierte literarische Kapital mit seinem ästhetischen Zeitmaß bedingt ist. Diese strukturelle Opposition lässt sich nach Casanova auch je konkret in den Auseinandersetzungen zwischen Schriftstellern verfolgen, die tendenziell zum »nationalen« oder zum »internationalen« Referenzsystem gehören: Die Autoren, die für eine literarisch-autonome Position eintreten, sind tendenziell diejenigen, die sich am Maßstab eines internationalen literarischen Raumes und seines universalen symbolischen Kapitals orientieren. Das Eintreten für dieses universale literarische Kapital hat in ihren Auseinandersetzungen um die legitime Definition des Literarischen im nationalen Feld die Funktion, die dort herrschenden Normen zu untergraben. Dagegen ist die Position einer national ausgerichteten Literatur in der Regel durch weitgehende Abwesenheit, Abwertung oder gar Diffamierung der Errungenschaften autonom-universaler Umbrüche der Literarisierungskategorien charakterisiert. Ästhetische Internationalisierung geht also aus feldanalytischer Sicht einher mit einem Kampf um Autonomisierung. 68 65 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari: Kafka – Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M. 1976. 66 Vgl. Bachleitner, Wolf: Soziologie der literarischen Übersetzung, S. 3 f. 67 »Il faut donc se représenter l’univers littéraire mondial comme un ensemble formé de la totalité des espaces littéraires nationaux, eux-mêmes bipolarisés et situés différentiellement dans la structure mondiale selon le poids relatif qu’y détiennent le pôle international et le pôle national (et nationaliste)« (Casanova: La République mondiale des lettres, S. 164). 68 Vgl. Joseph Jurt: Die Internationalisierung der Literatur; im Zusammenhang mit der Monographie von Pascale Casanova: La République mondiale des lettres. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 24/25 (2000/2001), S. 148–158, bes. S. 158.
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Die internationale symbolische Konkurrenz setzt einen spezifischen zeitlichen Maßstab voraus. Für diesen spezifischen zeitlichen Maßstab autonomer Errungenschaften oder avantgardistischer ›Zeitenwenden‹ verwendet Casanova das Symbol eines »Greenwich Meridians«:69 eines internationalen Zeitmaßes literarischer Anerkennung. Der literarische ›Meridian‹ zeigt den Stand der relativen Gültigkeit (›Klassiker‹, ›modern‹) und Veralterung (›anachronistisch‹, ›altmodisch‹, ›rückständig‹) einer Literatur an.70 Mit dem Zeitmaß literarischer Anerkennung hängt das Verhältnis von nationalen zu internationalen literarischen Maßstäben zusammen.71 Nach dem Maßstab einer ›universellen, kunstautonomen Zeit‹ lässt sich die Literatur am nationalen Pol als »anachronisme temporel et esthétique« beschreiben.72 Auf der anderen Seite steht der literarische »Greenwich Meridian« einer internationalen Anerkennung im engen Zusammenhang mit den jeweiligen nationalen Literaturgeschichten und ihren ästhetischen Umbrüchen, die die Voraussetzungen für die Herausbildung von ›Universalisierungsstrategien‹ bilden. In Ergänzung dazu hängt der Grad universaler literarischer Bedeutung (›weltliterarisches Prestige‹) von der Dauer ab, wie lange ein nationales literarisches Feld an den Auseinandersetzungen um international relevantes, d. h. anerkanntes autonomes literarisches Kapital teilhat. Daraus folgt umgekehrt, dass der autonome Pol in jedem nationalen litera-
69 Vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 135–156 (Kap.: »Le méridien de Greenwich ou le temps littéraire«): »[L]e ›méridien de Greenwich littéraire‹ permet d’évaluer la distance au centre de tous ceux qui appartiennent à l’espace littéraire. La distance esthétique se mesure, aussi, en termes temporels: le méridien d’origine institue le présent, c’est à dire, dans l’ordre de la création littéraire, la modernité« (S. 135); »le méridien de Greenwich permet d’évaluer une pratique, de donner une reconnaissance ou, au contraire, de renvoyer à l’anachronisme ou au ›provincialisme‹« (S. 138). 70 »[C]’est la durée de validité de la reconnaissance d’un livre qui détermine son degré de légitimité. Plus la durée de validité de la reconnaissance est longue et plus le degré de légitimité est élevé. Plus le processus de consécration est à cycle court, et plus il tend à se confondre avec celui du monde ordinaire, le temps de rotation et de péremption des livres se confondant avec le temps de péremption des biens de consommation courants« (Pascale Casanova: Le méridien de Greenwich: réflexions sur le temps de la littérature. In: Lionel Ruffel (Hg.): Qu’estce que le contemporain? Nantes 2010, S. 113–145, hier S. 117. 71 Eine der wichtigsten institutionalisierten Legitimierungsinstanzen, die zur Definition dieses internationalen »Greenwich Meridians« beiträgt, ist der Nobelpreis für Literatur. Casanova situiert ihn allerdings in einer Mittelposition zwischen dem autonomen und dem heteronomen Pol des internationalen literarischen Feldes (vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 217–226: »Le prix de l’universel«; vgl. Jurt: Die Internationalisierung der Literatur, S. 157). Die Vergabe insbesondere in den letzten Jahren bestätigt, dass der Nobel-Preis nicht nur (formal-)ästhetische, sondern auch (inhaltlich-)politische Qualitäten der Literatur auszeichnet. 72 Casanova: La République mondiale des lettres, S. 167.
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rischen Feld maßgeblich ist für die Konstitution des internationalen literarischen Raumes, also für seine »Literarisierung« und prozessuale »Entnationalisierung«.73 Gegen dieses Modell literarischer Evolution, das offenbar der Vorstellung einer Progression der Autonomie (Akkumulation literarischen Kapitals) durch avantgardistische Umbrüche folgt, erhebt sich der Einspruch der Theorien einer Postmoderne wie auch der Postcolonial Studies. Erstere stellen dieses an der europäischen Aufklärung orientierte Modell eines emanzipatorischen Fortschritts durch autonom-ästhetische und geistige Evolutionen oder Revolutionen in Frage. Damit ist das Verhältnis zwischen Avantgarde- und Postmodernekonzepten angesprochen.74 Gleiches gilt für den Einwand der Postcolonial Studies, die zwar grundsätzlich die ›Entnationalisierung‹ und Internationalisierung von Literarisierungsstrategien als Fortschritt begreifen, aber doch erhebliche Zweifel am Konzept der ›akkumulierten Zeit‹, in der autonomes literarisches Kapital produziert wird, anmelden. Denn dieses Konzept eines Ortes, wo sich ›ästhetische Zeit‹ verdichtet und literarisch ›Epoche‹ gemacht wird, ist tendenziell eurozentristisch und bei Casanova konkret auf Paris als ›Kapitale des Universellen‹, als zentraler ›Umschlagsort‹ literarischen Kapitals, ausgerichtet.75 Indessen lassen sich direkte Verbindungen zu den Ansätzen der Postcolonial Studies herstellen, wenn das relationale Modell eines national-internationalen literarischen Feldes als komplexes und vielfältiges Geflecht von Peripherie-Zentrum-Relationen gefasst wird.76 So sind literarische Zentren durch den Kampf um und die Verteidigung von Autonomie gegenüber politischen und nationalen Vorgaben geprägt.77 Zu unterscheiden sind politische, ökonomische und literarische Zentren. Letztere bemessen sich nach dem Grad literarischer Autonomie und nach der symbolischen Wirkmacht ihres ›Territoriums‹. Im Zuge der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung haben sich die Verhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie pluralisiert: Neben Paris – die Stadt, die seit dem neunzehnten Jahrhundert für lange Zeit eine unangefochtene literarische ›Welthauptstadt‹ war78 – haben sich andere Zentren wie Barcelona, Lissabon/São Paulo oder Berlin etabliert, die ihren Sprachraum literarisch dominieren. Das internationale literarische Feld ist also polyzentrisch strukturiert und dabei gilt: Internationales literarisches Kapital besitzen diejenigen Literaturen, die ein hohes Ausmaß literarischer Autonomie langfristig, d. h. nach dem Maßstab
73 Vgl. ebd., S. 164. 74 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, III. 1. 75 Vgl. Burkhard Pohls Rezension der Arbeit Casanovas auf: Philologie im Netz 12 (März 2000), S. 93–98 (= http://www.fu-berlin.de/phin/phin12/p12t6.htm; abgerufen am 27. 12. 2012). 76 Vgl. Jurt: Das Konzept des literarischen Feldes, S. 101. 77 Vgl. Jurt: Die Internationalisierung der Literatur, S. 150. Nach Jurt unterscheidet Casanova »zwischen einem subversiven literarischen Nationalismus der jungen Nationen und einem konservativen Nationalismus alter Nationen, der dort ein Phänomen der ›Verspätung‹ darstellt. Die Heteronomie scheint in den ›jungen‹ Nationen zunächst eine Notwendigkeit zu sein, weil die Schriftsteller gleichzeitig die politische und die literarische Unabhängigkeit zum Ausdruck bringen müssen« (ebd., S. 156). 78 Im Anschluss an Überlegungen Paul Valérys (vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 31–38). Das Ansehen von Paris als literarische »Welthauptstadt« trifft vor allem für das 19. Jahrhundert zu und ist spätestens seit den 1960 er Jahren, und konkret seit der Ablösung des existentialistischen Leitparadigmas, kaum mehr aufrecht zu erhalten.
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der ästhetischen Zeit und ihrer ›Epochen‹, erreicht haben. Junge Literaturen gewinnen internationales literarisches Kapital, wenn sie ›Epoche‹ machen.
Dies ist ein Ansatz zur Beschreibung der Internationalisierung des literarischen Feldes auf Seiten des autonomen Pols, der, wenn man so möchte, »Weltliteratur« im klassischen Sinne.79 Vom heteronomen Pol aus gestalten sich dagegen die Einflüsse der Globalisierung entweder in Wechselwirkung mit Tendenzen einer politisch gestützten Nationalisierung oder – vor allem – in Wechselwirkung mit einer ökonomisch gestützten, kommerziellen Internationalisierung.80 Auch Casanova stellt fest, dass sich der internationale literarische Austausch hin zum ›pôle commercial‹ verschiebt. Der internationale Verkehr der Ideen und Werke scheint immer mehr der Ratio der Absatzchancen und Gewinnkalkulationen, dem Prinzip der kurzfristigen Rentabilität statt der Auswahl nach literarischen Qualitätskriterien zu gehorchen und damit die Autonomie des literarischen Feldes zu bedrohen.81 Neben den Nobelpreis treten nationale, kommerziell gestützte Preise wie der Booker Prize, der Prix Goncourt oder der Deutsche Buchpreis, die sich als inter-national vernetzte Konsekrationsinstanzen des Buchmarktes präsentieren.82 Die literarische Globalisierung birgt also einen Konflikt zwischen dominant kunst-autonomen und dominant ökonomisch-heteronomen Strategien der Universalisierung. So nähern sich die Universalisierungsstrategien der literarischen Produzenten am ökonomisch-heteronomen Pol einer Fabrikation des Universellen im Schnittfeld zwischen einer ästhetischen und ökonomischen Logik an. Was Bourdieu als »Verwischen der Grenzen« zwischen dem experimentellen Werk und dem Bestseller durch »Medienproduzenten« (»tuttologi«) beschrieben hat,83 verweist auf einen grundsätzlichen Wandel der autonomen literarischen Produktion und der traditionellen Reproduktionslogik des Feldes:84 von einem künstlerisch-autonomen Internationalismus und Universalismus hin zu einem ästhetisch-kommerziellen Import-Export von ›Halbfabrikaten85 des Uni-
79 Vgl. Claudia Liebrand: »Im Deutschen [...] mag ich den Faust nicht mehr lesen«. Goethes Konzept von Weltliteratur. In: Amann, Mein, Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, S. 17–28. 80 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.3. u. 2.4. 81 Vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 239–249 (»De l'internationalisme littéraire à la mondialisation commerciale?«). 82 Vgl. Zweiter Teil, I. 3.3. 83 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533. 84 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, III. 1. 85 Zum Begriff des »Halbfabrikats«, der zur genaueren Bestimmung der literarisierenden Zirkulation zwischen »elementarer« und »elaborierter« Literatur dient, vgl. Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse.
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versellen‹ für Werke, die im Zuge der Globalisierung weltweit Verbreitung und Beachtung finden.86
2 Die Veränderung der literarischen Öffentlichkeit: Sektorale Pluralisierung und das umkämpfte Regulativ einer repräsentativen Kultur Die Geschichte des literarischen Feldes ist nicht zu trennen vom Prozess der Auseinandersetzungen um die Legitimierung von Literatur. Dieser Prozess ist dialektischer Art: Die relative autonome Literatur rechtfertigt sich qua literarischer Selbstlegitimierung insbesondere reflexiv-formaler Art. Andererseits begründet sie sich über ihre Universalisierbarkeit, die (zumindest in ihren Anfängen) mit einer allgemeinen, politisch-moralischen Öffentlichkeit verbunden ist, wenn man Habermas’ Untersuchung der strukturellen Genese der Öffentlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft folgt. Nach Habermas war die »literarische Öffentlichkeit« zunächst, ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die Sphäre der Gemeinschaft räsonierender Privatleute, die sich durch die allgemeine Idee des Menschseins über Erfahrungen ihrer Subjektivität verständigten.87 Aus ihr erwuchs die politische Öffentlichkeit: Als Privatmann ist der Bürgerliche beides in einem: Eigentümer über Güter und Personen sowie Mensch unter Menschen, bourgeois und homme. Diese Ambivalenz der Privatsphäre zeigt auch noch die Öffentlichkeit; je nachdem nämlich, ob sich die Privatleute im literarischen Räsonnement qua Menschen über Erfahrungen ihrer Subjektivität verständigen; oder ob sich die Privatleute im politischen Räsonnement qua Eigentümer über die Regelung ihrer Privatsphäre verständigen. […] Sobald sich die Privatleute nicht nur qua Menschen über ihre Subjektivität verständigen, sondern qua Eigentümer die öffentliche Gewalt in ihrem gemeinsamen Interesse bestimmen möchten, dient die Humanität der literarischen Öffentlichkeit der Effektivität der politischen zur Vermittlung. Die entfaltete bürgerliche Öffentlichkeit beruht auf der fiktiven Identität der zum Publikum versammelten Privatleute in ihren beiden Rollen als Eigentümer und als Menschen schlechthin. (74) Aus dem publikumsbezogenen literarischen Räsonnement versicherte sich das Bürgertum universalisierbarer und adressierter Formen der Subjektivität und des Menschseins. Sie bilden den Kern einer politisch-emanzipativen, kritischen Öffentlichkeit, die humanistische Werte und das allein von der Vernunft erkannte Naturrecht verhandelt und beansprucht. Der Über-
86 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3. 87 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied, Berlin 1976, S. 74 u. S. 195: »Der bürgerliche Idealtypus sah vor, daß sich aus der wohlbegründeten Intimsphäre der publikumsbezogenen Subjektivität eine literarische Öffentlichkeit herausbildete«; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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gang von der literarischen zur politischen Öffentlichkeit erfolgt über das Prinzip der Publizität. Sie gilt – ausgehend von Kant – als »Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral« (vgl. § 13, 127–143). Diese Vermittlung ist aber von Anfang an problematisch, denn: Die Identifikation des Eigentümers mit der natürlichen Person, dem Menschen schlechthin, setzt nämlich innerhalb des privaten Bereichs eine Trennung voraus zwischen Geschäften einerseits, die die Privatleute je für sich im Interesse der individuellen Reproduktion ihres Lebens verfolgen, und jenem Umgang andrerseits, die die Privatleute als Publikum verbindet. (194) Aus der anfänglichen »[t]endenzielle[n] Verschränkung der öffentlichen Sphäre mit dem privaten Bereich« (§ 16, 172–183) brachen bald die Spannungen zwischen »Politik und Moral«, »Eigentümer und Mensch-Sein« hervor und es folgte die »Polarisierung von Sozial- und Intimsphäre« (§ 17, 184–193). Der manifeste Auflösungsprozess einer bürgerlichen Öffentlichkeitssphäre mit Anspruch auf universelle Geltung der condition humaine setzte dann laut Habermas ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Sie hing u. a. zusammen mit der ›Ankunft des Bürgertums im Feld der Macht, mit der Verselbständigung des Massenmediums der Zeitung und schließlich mit einer zunehmenden Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die sich mit Habermas als Wechsel »[v]om kulturräsonierenden zum kulturkonsumierenden Publikum« resümieren lässt (§ 18, 193–210): Der bürgerliche Idealtypus sah vor, daß sich aus der wohlbegründeten Intimsphäre der publikumsbezogenen Subjektivität eine literarische Öffentlichkeit herausbildete. Diese wird stattdessen heute zu einem Einfallstor für die, über die konsumkulturelle Öffentlichkeit der Massenmedien in den kleinfamilialen Binnenraum eingeschleusten sozialen Kräfte. (195)
Die sich ausprägende Doppelnatur des »Werkes« als sowohl geistiges wie auch materielles Eigentum findet ihr Pendant in der von Anfang an ambivalenten ›kulturräsonierenden‹ Verständigung über bürgerliche Subjektivität (Menschsein) einerseits und Eigentum andererseits. Diese führte mit der Entstehung und Konsolidierung eines relativ autonomen literarischen Feldes in Deutschland ab der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts zu einer Ausdifferenzierung: zu einer Trennung der Räume und Kompetenzen (einerseits der politischen und andererseits der autonom-ästhetischen Anliegen), die das kunstautonome Werk begründet.88 Durch den weiteren Prozess der Autonomisierung der Literatur im neunzehnten Jahrhundert bildete sich – wie in jedem anderen gesellschaftlichen Feld – eine eigene, spezifische Kommunikationslogik und »Öffentlichkeit« aus: die der eingeschränkten Produktion und Rezepti-
88 Vgl. Heribert Tommek: Trennung der Räume und Kompetenzen. Der Glaube an die Gelehrtenrepublik: Klopstock, Goethe, Lenz (1774–1776). In: Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen 2005, S. 89– 108.
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Abb. 3: Bourdieus Modell verschiedener Legitimitätssphären kultureller Güter89
on im Gegensatz zur Massenproduktion und -rezeption, die die beiden Subfelder in Bourdieus Modell des literarischen Feldes bilden (vgl. oben: Abb. 1). Mit der Ausbildung einer spezifischen Öffentlichkeit ist ein zunehmend ausdifferenziertes Wechselspiel zwischen verschiedenen Legitimitätssphären kultureller Güter verbunden: a) die »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« (die letztlich durch den Staat legitimierten Legitimationsinstanzen, woraus der jeweilige Einfluss des Feldes der Macht auf das literarische Feld abzulesen ist: die Einflussnahme durch nationale Preise und Stiftungen, Akademien, Universitäten, Schule etc.), b) eine »Sphäre potentieller Legitimation« (konkurrierende Literaturkritiker, literarische Gruppierungen etc., d. h. die feldinternen Instanzen der beiden Subfelder) und c) die sich vor allem seit den 1960 er Jahren ausprägende, in der Alltagskultur situierte »Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität« der »nicht legitimierten Legitimationsinstanzen« (die segmentale, milieuförmige Legitimität, die hauptsächlich im Sozialraum der Lebensstile und in den massenmedial hergestellten Öffentlichkeiten ohne spezifischen Legitimationsanspruch gilt). Diesen unterschiedlichen Legitimitätssphären hatte Bourdieu seinerzeit verschiedene Kunstformen zugeordnet, je nach symbolischer Wertigkeit, die sich selbstverständlich mit der Zeit verändert haben. Gleichwohl ist die Unterscheidung der verschiedenen Legitimationssphären auch für die weitere Entwicklung von zentraler Bedeutung.
89 Vgl. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 109 (Schema).
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Anhand der Entwicklung der Dominanzverhältnisse innerhalb dieses interagierenden Geflechts von Legitimitätssphären lassen sich die Entwicklung und der Grad der relativen Autonomie des literarischen Feldes nach 1945,90 wie auch der von der Autonomisierung zu unterscheidende Prozess der Professionalisierung nachzeichnen. Die Professionalisierung des literarischen Feldes hängt mit einer Profanisierung der Autorität des Dichters als einem ›einzigartigen Schöpfer‹ zusammen. Ihr zugrunde liegt die Erfahrung und Einsicht, dass die Verteilung der (schöpferischen, charismatischen, auratischen) literarischen Gabe, der Zugang zur literarischen Legitimität, weniger Natur als das historische Produkt von sozialen Konflikten und Ungleichheiten ist. So führte die allgemeine Rehabilitierung des Profanen, Unterlegenen, des Materiellen und Flüchtigen in der Folge des »kritischen Moments 1968«, kurz: die Aufwertung der Sphäre potentieller und willkürlicher Legitimation, zugleich zu einer sozialen Professionalisierung (Gründung des »Verbands deutscher Schriftsteller« 1969, Eingliederung in die Dienstleistungsgewerkschaft IG Druck und Papier, Reform der Sozialversicherung für Autoren etc.). Die Nachkriegsliteratur in Deutschland konnte den historischen Auflösungsprozess einer Literatur als gesellschaftskritische Institution, die es vermag, eine allgemeine Öffentlichkeit über öffentliches Räsonnement herzustellen, nochmals abbremsen. Dies gelang ihr vor dem Hintergrund der kollektiv geteilten traumatischen Erfahrung des Nationalsozialismus, des Krieges und des Holocausts.91 Auf dieser Grundlage hatte die westdeutsche, ›nonkonformistische‹ Nachkriegsliteratur, insbesondere die der Gruppe 47, eine wichtige moralische und kritische Funktion für die Entwicklung des Staates und der Gesellschaft. So gab es in der Nachkriegszeit bis in die sechziger und frühen siebziger Jahre hinein in der BRD ein relativ homogenes Feld, in dessen Bereich Literatur geschrieben, distribuiert und rezipiert wurde.92 Ein Zentrum bildeten dabei die Zeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Zeit und Frankfurter Rundschau, wo so etwas wie eine kulturelle Hegemonie für die Bundesrepublik hergestellt und eine weitgehend funktionierende kritische literarische Öffentlichkeit aufrechterhalten wurde. Kennzeichnend für den Status einer allgemeinen Gültigkeit der Literatur war, dass sie auch in jenen Schichten als gesamtgesellschaftlich repräsentativ galt, in denen sie faktisch im Lebensalltag keine Rolle spielte.93
90 Siehe dazu unten: Erster Teil, II. 91 Vgl. Jochen Vogt: Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur. Ein Kommentar zum letzten westdeutschen Literaturstreit. In: J. V.: »Erinnerung ist unsere Aufgabe«. Über Literatur, Moral und Politik 1945–1990. Opladen 1991, S. 173–187, S. 178. 92 Vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 11. 93 Vgl. ebd.
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Einen Höhe- und Wendepunkt der Herstellung einer kritischen Gesamtöffentlichkeit lässt sich dann in der 68er-Bewegung sehen, in der die Auseinandersetzung mit der faschistischen Geschichte und die Frage nach der Legitimierung der bestehenden Gesellschaftsordnung sowie ihrer autoritätsgebundenen Wahrnehmungs- und Wertungsweisen grundlegend diskutiert wurde. Die grundsätzliche Infragestellung autoritärer Verhältnisse durchzog quasi alle sozialen Bereiche. Hier fand nochmals ein publikums-, d. h. »öffentlichkeitsbezogenes Räsonnement der Privatleute« im Sinne von Habermas statt. Zugleich wurde von Seiten der Studentenbewegung die im kapitalistischen System ›etablierte‹ Literatur (so vor allem die der Gruppe 47) als in das Herrschaftssystem integrierte Form der gesellschaftlichen Kritik abgelehnt und das »Ende der Literatur« proklamiert.94 Die westdeutsche Literatur ab »68« lässt sich daher als Anfang vom Ende der Nachkriegsliteratur verstehen, die seit den fünfziger Jahren den spektakulären wie den alltäglichen Faschismus in der Gesellschaft maßgeblich thematisiert hatte. In dieser Zeit verlor Literatur endgültig das Monopol des moralisierenden Protestes.95 Heinrich Böll, die Gegenfigur zu Konrad Adenauer (in der Opposition: antiautoritär – autoritär), verkörperte in dieser Hinsicht einen der letzten universalen und politisch intervenierenden Intellektuellen in Westdeutschland.96 Die Vorabveröffentlichung des Romans Die verlorene Ehre der Katharina Blum in Fortsetzungen im Spiegel 1974 kann man mit Bogdal als ein letztes diskursives Ereignis einer literarischen, kritischen Gesamtöffentlichkeit in Deutschland betrachten.97 Es lassen sich also bis Mitte der 1970 er Jahre Restformen einer ›kulturräsonierenden‹, publikumsbezogenen literarischen Gesamtöffentlichkeit und eines allgemeinen literarischen Diskurses beobachten. Ab spätestens dieser Zeit veränderten sich die bildungsbürgerlichen Milieus und das Produktions- sowie Rezeptionsverhalten.98 So bedeutet der ›lange Abschied von der Nachkriegsli-
94 Vgl. dazu das berühmte Kursbuch 15 (1968), hier insbesondere die Beiträge von Karl Markus Michel (»Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These«) und Hans Magnus Enzensberger (»Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«); vgl. auch Vogt: Gestörte Beziehung; Gilcher-Holtey: Was kann Literatur und wozu schreiben? Das Ende der Gruppe 47. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), S. 207–232, S. 214 f.; siehe dazu auch unten: Erster Teil, II. 1.2.; u. Zweiter Teil, III. 1.2. 95 Vgl. Vogt: Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur, S. 179. 96 1972 wurde ihm der Nobelpreis verliehen und er wurde vom FDP-Fraktionschef Carl Carstens als Propagandist der Gewalt geschmäht. 1977 wurde er vom gleichnamigen Bundespräsidenten geehrt und von Bild wie auch FAZ als Komplize des Terrors beschimpft (vgl. ebd., S. 177); siehe dazu auch unten: Erster Teil, I. 3. 97 Vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 19. 98 Zwar hat sich »die Zahl der Buchleser seit der flächendeckenden Alphabetisierung durch die Volksschule im 19. Jahrhundert trotz medialer Konkurrenz nicht mehr dramatisch bewegt
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teratur‹ auch die zunehmende Auflösung einer hegemonialen literarischen Öffentlichkeit. An ihre Stelle traten milieuspezifische Öffentlichkeiten, Autoren und Werke, die sich nunmehr über ihre diskursive Position und über ihren alltagskulturellen Lebensstil definieren. Zwar gibt es auch weiterhin eine massenhafte, schichtenübergreifende Akzeptanz bestimmter kultureller Produkte wie Bücher – aus ihr entwickelt sich jedoch nicht mehr ein universalisierbares Kulturverständnis im Sinne der klassischen Öffentlichkeit, aus dem der Leser im Rahmen einer kulturellen (Selbst-)Bildung Konsequenzen zu ziehen hätte:99 literarisches Räsonnement im Sinne von Habermas findet nur noch rudimentär und in sektoralen sozialen Bereichen statt. Wenn ein Autor eine breite Räsonanz erfährt, so liegt dem weniger eine längerfristige, gesamtgesellschaftliche Rezeption als vielmehr ein zeitlich begrenzter Erfolg zugrunde, der in einem bestimmten gesellschaftlichen Teilbereich, mit dem ein jeweiliger Lebensstil korrespondiert, situiert ist und zeitweilig auf andere, angrenzende Milieus übertritt. Man spricht dann von einem »Kultautor« und von Erfolgsbüchern, die mit 30–80.000 Käufern unterhalb der Bestsellerkategorie liegen.100 Auch die Konzentration des Verlagswesens und des Buchhandels hat zum Zerfall eines literarisch-räsonierenden Publikums beigetragen, da sie die autonomen kulturellen Kommunikationsmöglichkeiten zugunsten einer Marktlogik einschränkt, die massenweise privatisierte Individualitätsangebote produziert. So zeigt sich in dieser Perspektive die heutige mediale Öffentlichkeit trotz ihrer Omnipräsenz im Kern selbstbezüglich und ›leer‹, als ein in Formaten vorgeprägtes und in Sparten und Segmenten aneinandergereihtes (Konsum-)Angebot.101 Angesichts dieser Entwicklungen versuchte Bogdal 1998 die gesamtliterarische Situation anhand der Metapher verschiedener »Gänge« der literarischen Kommunikation innerhalb einer »Klimamaschine« im Gegensatz zu einem gesamtgesellschaftlichen, universalistischen Klima zu charakterisieren:102 Den
[...]. In den letzten fünfzig Jahren haben sich jedoch die Bildungsvoraussetzungen deutlich verbessert, ohne sich noch in Präferenzen für die ›Schöne Literatur‹ niederzuschlagen« (ebd., S. 13). Bogdal fragt nach einem Nachweis, »daß in den letzten 25 Jahren ein einziges literarisches Werk in Deutschland auf Grund seiner literarischen Qualität über die sektoralen Milieugrenzen hinaus kommuniziert wurde, mit Foucault also als diskursives Ereignis zu bezeichnen wäre« (Klaus-Michael Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor. Über die Chancen der Gegenwartsliteratur in der Mediengesellschaft., In: Kammler, Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 85–96, S. 87). 99 Vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 12. 100 Vgl. ebd., S. 13; siehe dazu unten: Zweiter Teil, I. 1 u. II. 2.3. 101 Vgl. Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor, S. 88. 102 Siehe Bogdal: Klimawechsel. [Untertitel:] Eine kleine Meteorologie der Gegenwartsliteratur.
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»1. Klimagang« bilde jene literarische Sphäre der weiterhin im Gestus der Universalisierbarkeit schreibenden Autoren (Günter Grass, Martin Walser, Christa Wolf, Volker Braun, Christoph Hein etc.). Diese Autoren verblieben aber letztlich in ihrem universalistischen »Klimagang« und könnten sozialstrukturell gesehen seit den siebziger Jahren nur noch eine eingeschränkte Öffentlichkeit erreichen.103 Es handle sich um die alten und allmählich aussterbenden Vertreter der Nachkriegsliteratur in der BRD und der Literatur eines »utopisch-kritischen Sozialismus« in der DDR,104 also einer kritisch engagierten Literatur im Subfeld der eingeschränkten Produktion ohne gesamtgesellschaftlich gültige literarische Öffentlichkeit.105 Der »zweite Klimagang« weist nach Bogdal das Muster der Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit durch Tabubrüche und ›Enthüllungen‹ auf. »Das Ziel ist hier weder Aufklärung noch Kritik, sondern die Beschämung austauschbarer Einzelner oder Gruppen, die eben nicht als Repräsentanten konkreter sozialer Schichten oder Machteliten wahrgenommen bzw. identifiziert werden«.106 Die Autoren, die sich im »Klimagang 3« bewegen, haben nach Bogdal ein starkes, reflexives Bewusstsein ihrer relativen Autorposition. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass das Milieu, dem sie entstammen, und der Lebensstil, den sie in einer »Ethnographie des Alltags« (Iris Radisch) zur Darstellung bringen, nicht mehr im traditionellen Sinne universalisierbar sind. Die Besonderheit dieses »Gangs« bestehe darin, »daß er potentiell sämtliche Milieus erreicht, jedoch nicht mehr im Sinne der kritisch-aufklärerischen Öffentlichkeit kulturell verbindet. [...] Aus sozialhistorischer Perspektive entsteht in diesem Gang die für die achtziger und neunziger Jahre zeittypische Literatur: ein neuer Realismus in einer neuen Gründerzeit«.107 Während sich eine bildungsbürgerliche literarische Öffentlichkeit wesentlich über Kanones und Gegenkanones, über die Auseinandersetzung um Traditionslinien und ihre Brüche sowie über konkurrierende Wertungskriterien reproduziert, stehen die in diesem »Klimagang« kurzlebiger Positionen und Öffentlichkeiten produzierten und rezipierten Kultur- und Lebensformen nicht mehr für eine langfristige ›Aufbewahrung‹ literarischer Werke.108
Bogdals Bestimmung der verschiedenen »Gänge« oder »Kanäle« literarischer Sphären war ein erster Bilanzierungsversuch, der sich in der Retrospektive und in einer feldanalytischen Perspektive in einer modifizierten Gestalt zeigt: So entspricht »Kanal 1 mit Anspruch auf universale Legitimität« der traditionellen Legitimitätssphäre des oberen Feldsektors mit einem hohen Anteil legitimier-
103 Vgl. auch Vogt, der vom »Einzelkämpfer Grass« und vom »zeitweilige[n] Verstummen von Christa Wolf und Christoph Hein« spricht (Vogt: Langer Abschied, S. 182). 104 Vgl. Vogt: Orientierungsverlust oder neue Offenheit?, S. 142 f. 105 Siehe dazu unten: Erster Teil, II. 2.3. 106 Bogdal: Klimawechsel, S. 20. 107 Ebd., S. 21–23, hier S. 23. Es folgen bei Bogdal vage Beschreibungen eines vierten (Erzeugung von partiellen Genüssen) und fünften (Gewaltinszenierung) diskursiven »Klimagangs« (ebd., S. 24 f.). 108 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, I. 2.3.
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ten symbolischen Kapitals (= Nobilitierungssektor).109 Dieser traditionelle Anspruch auf ›universale Repräsentanz‹ wird jedoch seit den sechziger Jahren von einer neuen, sektoralen Form eines Repräsentationsanspruches in Frage gestellt. Im literarischen Feld entwickelte sich diese neue Form anfänglich – am deutlichsten in Gestalt der ersten Popliteratur-Generation110 – vom avantgardistischen Pol aus: erst in programmatischer, dann in faktischer Symbiose mit dem expandierenden, flexibel ökonomisierten Bereich der Populärkultur. Dieser Bereich mit seinen segmentarischen Legitimitätssphären der »potentiellen« und der »willkürlichen Legitimation« expandierte auf der Grundlage der skizzierten Entwicklung eines projektgestützten Netzwerkkapitalismus (Boltanski, Chiapello). Er entspricht in etwa Bogdals zweitem und drittem »Klimagang«, stellt jedoch in wachsendem Maße einen neuen, mit dem traditionellen Universalanspruch konkurrierenden paradoxalen Universalanspruch: Denn in einem paradoxalen, aber durch die skizzierte Entwicklung des ›neuen Geistes des Kapitalismus‹ erklärbaren Prozess wurden die Sphären potentieller Legitimation und segmentarischer Legitimität dominanter, wodurch sie einen neuen »Universalanspruch« stellen können. Dieser Prozess lässt sich auch als Entwicklung der alltagskulturellen »Postmoderne« begreifen. Die neue Form einer horizontal ausgerichteten, populärkulturellen Repräsentation, zu deren Legitimierung auch die sich in den neunziger Jahren durchsetzenden Kulturwissenschaften beitrugen, steht nicht in einem sich ausschließenden Widerspruch zur klassisch bürgerlichen repräsentativen Kultur, sondern lässt sich als deren Transformation verstehen.111 Friedrich Tenbruck argumentiert in der Traditionslinie einer verstehenden Soziologie, die die gesellschaftskonstituierende Funktion kultureller »Ideen« und »Bedeutungszuschreibungen« betont, und er bestimmt eine »repräsentative Kultur« als »jene grundlegenden ›Ideen‹, die in einer Gesellschaft jeweils als richtig, wahr, gültig angesehen oder so respektiert werden. [...] Erst wo eine repräsentative Kultur für eine gemeinsame Deutung der Wirklichkeit sorgt, kann das soziale Handeln Kraft und Bestand gewinnen« (32). Die Pluralität der Meinungen und Überzeugungen, die Vielfalt der Lebensstile und -verhältnisse, scheint der Idee einer repräsentativen Kultur zu widersprechen. Tenbruck sieht aber in der Postmoderne keinen Verlust der repräsentativen Kultur, sondern einen Gestaltwandel »kultureller Autoritäten«.112 »Pluralis-
109 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 110 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, I. 3.1. 111 Clemens Albrecht: Wie Kultur repräsentativ wird: Die Politik der Cultural Studies. In: Göttlich, Albrecht, Gebhardt (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur, S. 16–32; Udo Göttlich: Wie repräsentativ kann populäre Kultur sein? Die Bedeutung der Cultural Studies für die Populärkulturanalyse. In: Ebd., S. 33–51; Tenbruck: Repräsentative Kultur; Nachweise hieraus im Folgenden im Fließtext. 112 »Die autonome, säkulare, moderne Kultur hat ihre eigene Art der Repräsentativität geschaffen und kann ihre kulturellen Autoritäten so schwer durchschauen wie die vormodernen
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mus« deutet er als ein »Ergebnis der stetigen Ausweitung der Produktion und Distribution von ›Ideen‹« (45) in der modernen Bildungs- und Kulturindustrie, die neue kulturelle Autoritätsund damit auch Repräsentationsformen aufwiesen. Die repräsentativen Vorstellungen werden, statt von angebbaren Urhebern, meist in einem kaum durchschaubaren Netzwerk der kulturellen Arbeit wie anonym produziert, gerinnen kaum zu festen Lehren und Dogmen, erlauben Varianten, sind aber dennoch bindend. Die kulturelle Autorität läßt sich im Zeitalter der Massenmedien und der sozialen Mobilisierung nicht mehr leicht erkennen. Dennoch erzeugt auch die moderne Gesellschaft ihre eigene Art der repräsentativen Kultur, die auf der Arbeit von Intellektuellen beruht. Deshalb benötigt die Soziologie auch heute für die Analyse der Gegenwartsgesellschaft den Gedanken der repräsentativen Kultur. (46)
Nach Tenbrucks These handelt es sich bei den pluralisierten Kulturformen um eine repräsentative Kultur im Sinne einer kulturellen Autorität, die jedoch im Unterschied zur klassischen kulturellen Repräsentanz, die seit der Autonomieästhetik über das souveräne Individuum und sein Werk-Eigentum vermittelt erscheint, tendenziell anonym durch Netzwerkverhältnisse hergestellt wird. Diese unterschiedlichen Formen kultureller Autorität lassen sich auch mit Links Unterscheidung zwischen normativen und (proto- bzw. flexibel-)normalistischen Wertbildungen und -bindungen erfassen.113 Der Ansatz, nicht von einem prinzipiellen Wesensunterschied, sondern von einer Umstrukturierung und von einem graduellen Unterschied der Formen repräsentativer Kultur auszugehen, erlaubt es, die Transformationen seit den sechziger Jahren als Austragung eines Hegemoniekampfes zu verstehen: zwischen einerseits einer ›alten‹, vertikal orientierten und an das souveräne geistige Subjekt gebundenen bürgerlichen Kulturrepräsentation und andererseits einer ›neuen‹, tendenziell anonym in Netzwerken und in horizontalen Austausch- und Konkurrenzbeziehungen produzierten Kultur. Dieser ›Kampf‹ um Formen der Repräsentanz hat sein Pendant in der Auseinandersetzung der Fraktion der ›alten‹, ehemals hegemonialen ›humanistischen‹ Intelligenz und einer neuen, zunehmend dominanten Fraktion von »Symbolanalytikern« (Robert Reich).114 Die These von der wachsenden »Milieuförmigkeit« der Literatur (Bogdal) bedeutet also nicht die komplette Auflösung des Subfeldes der eingeschränkten, autonomen literarischen Produktion (»Hochliteratur«), sondern dessen Transformation angesichts der Expansion des flexibel ökonomisierten und meKulturen. So ist schon der Ausdruck ›Pluralismus‹ vordergründig, weil er den unbestreitbaren Tatsachen eine Bedeutung beizugeben pflegt. Er suggeriert nämlich, daß die beobachtete Vielheit der Meinungen und Überzeugungen die Selbständigkeit der individuellen Auffassungen und damit das Fehlen jeder kulturellen Autorität und repräsentativen Kultur belegt« (ebd., S. 43). 113 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus. 114 Siehe dazu unten: Erster Teil, I. 3.
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dialisierten Bereichs, seiner Literarisierungsverfahren und seiner Legitimitätssphären, die eine neue Form repräsentativer Gültigkeit beanspruchen (können). Homolog zum Wandlungsprozess des sozialen Raums lässt sich dieser Transformationsprozess als dialektisches Zusammenspiel zweier Bewegungen verstehen: einerseits der horizontalen Modernisierung der Produktivkräfte, die einen neuen, materiell und medial netzwerkgestützten, anonymen Repräsentationsanspruch stellen, und andererseits der Gegenbewegung der Aufrechterhaltung vertikaler Ordnungen und Distinktionen in den oberen Bereichen des Feldes. Diese behauptet (im doppelten Sinne) den traditionellen Autonomieund Universalanspruch der literarischen Öffentlichkeit qua ›Menschsein‹ des ›Einzelnen und seines Eigentums‹, des Autors und seines Werks. Statt von einem radikalen Auflösungsprozess der Grenze zwischen E- und U-Kultur gehen die folgenden Studien also von einem dialektischen Wandlungsprozess der verschiedenen Produktions-, Rezeptions- und Konsekrationsebenen sowie ihres von Konkurrenz geprägten Verhältnisses untereinander aus. Dies betrifft insbesondere – mit dem ›langen Abschied von der Nachkriegsliteratur‹, der einen Abschied von einer weitgehend konkurrenzlosen literarischen (Gesamt-)Öffentlichkeit beinhaltet – die legitimierten Legitimationsinstanzen (Universitäten, Akademien, offizielle Preise) sowie die konkurrierenden Legitimationsinstanzen (Kritiker, literarische Gruppen etc.). Aber auch die feldintern-autonome, d. h. selbstreflexive und dominant formalästhetische Legitimation der Literatur hat zweifellos an symbolischer Autorität verloren. Mit der relativen Auflösung einer einheitlichen, hegemonialen literarischen Öffentlichkeit und mit der horizontalen Pluralisierung der Literatur, d. h. mit der »berufsmäßigen Vermehrung der Kulturintelligenz« (Tenbruck), zeigte sich immer deutlicher eine von der Hoch- und Populärkultur umkämpfte Leerstelle: die Leerstelle einer gesamtgesellschaftlich repräsentativen Kultur. Die institutionellen Konsekrationsformen der Hochkultur existieren weiterhin, jedoch lassen sich Verschiebungen feststellen: Eine hegemoniale Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung (= Subfeld der eingeschränkten, relativ autonomen Produktion und Rezeption) besteht zunehmend aus einer ›gegenwartsentleerten‹, historisch gewordenen Form, die etwa von den Kanondebatten stellvertretend flankiert und gleichermaßen als vages Versprechen auf kulturelle Autorität bzw. Repräsentanz präsent gehalten wird. Dieses am Phantom des einzigartigen Schöpfers und seines Eigentums, dem Kunstwerk, festhaltende autonome Subfeld stellt – was die Gegenwartsliteratur angeht – eine begehrte Leerstelle kultureller Repräsentanz dar, die sich symptomatisch etwa in den Literarisierungsstrategien der Ästheten als ›Abwesenheit‹ (Handke) oder als Begehren nach einer ›Ästhetik der Anwesenheit‹ (Strauß) zeigt.115 115 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.1.
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Die Sphäre potentieller Legitimation, die sich aus konkurrierenden Legitimationsinstanzen mit Anspruch auf Legitimität zusammensetzt (z. B. Literaturkritiker) und in Bourdieus Schema im Übergangsbereich zwischen den Subfeldern der eingeschränkten und der ökonomisierten Massenproduktion situiert ist,116 hat ihren Einfluss zunehmend auf die Leerstelle einer gesamtgesellschaftlichen Repräsentation, die zuvor die kunstautonome Produktion für sich allein beanspruchen konnte, ausgeweitet. Die durch den Strukturwandel kultureller Produktion und Rezeption dynamisierte Auseinandersetzung um die Legitimation unterschiedlicher Formen einer repräsentativen Kultur – traditionelle bürgerliche Hochkultur versus pluralisierte Populärkultur und ihre ökonomisierten und medialisierten Öffentlichkeitsformen – ist seit den sechziger Jahren eine zentrale Antriebskraft der Entwicklung des literarischen Feldes. Diese Auseinandersetzung zeigt sich auch im institutionell und medial vermittelten Phantasma der oder Spiegelbegehren (im Sinne Lacans) nach Repräsentanz, das in den neunziger Jahren häufig in einem Begehren nach dem »Wenderoman« oder nach dem gesamtdeutschen »Super-Autor« zum Ausdruck kam.117 Auf die Besetzung dieser Leerstelle zielten neue Strategien zur Herstellung von kultureller Repräsentanz bzw. Autorität: einerseits über Verfahren der Popkultur, andererseits über Verfahren der Nobilitierung und der Distinktion.118 Die folgenden Studien gehen mit Bourdieu, wie bereits erörtert, weiterhin von einem relativ autonomen Subfeld aus, das sich jedoch in Wechselwirkung mit dem skizzierten sozialen und ökonomischen Wandel seit den sechziger Jahren stark transformiert hat. Die Transformationen zeigen sich auch in Form von habituellen Umstellungsstrategien, die auf die wachsenden, vom heteronomen Pol ausgehenden Einflüsse ökonomischer und medialer Art reagieren. So wird sich im zweiten Hauptteil der Untersuchungen noch deutlicher erweisen, dass und wie sich der generative Motor des literarischen Feldes, den in der (Hoch-)Moderne der Avantgarde-Pol darstellte, seit der Postmoderne auf den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich mit seiner spezifischen, horizontal ausgerichteten Reproduktionslogik und -dynamik verlagert hat. Diese Verlagerung hängt nicht nur mit der Expansion und Vermarktung alltagskultureller Lebensstile zusammen, sondern auch mit einer Veränderung der Wissensproduktion und des öffentlichen Mandats der Schriftsteller als Intellektuelle.
116 Zum flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich siehe unten: Zweiter Teil, I. 1. 117 Vgl. Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor. 118 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, I u. II.
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3 Das »Aufplatzen des Wissens« und das veränderte Mandat der Schriftsteller als Intellektuelle
Das »Aufplatzen des Wissens« und die Entstehung einer neuen symbolanalytischen Intelligenz 119 Die Modernisierung der postindustriellen Gesellschaft hin zu einer »Wissens-« (Bell), »Informations-« (Lyotard) oder »Risiko-Gesellschaft« (Beck) führte zur Entstehung neuer kultureller Elemente, Praktiken und Vergesellschaftungsformen. Neue Theorien betonen, dass die Expansion von Expertensystemen nicht nur mehr Wissensergebnisse, sondern die Zunahme wissensbezogener Strukturen und Prozesse selbst bedeute.120 In diesem Sinne spricht Knorr-Cetina von einer »›Ausschüttung‹ von Wissensrelationen in die Gesellschaft«, die neue soziale Beziehungen schaffe.121 Dieses »Aufplatzen des Wissens« 122 als Ursache für neue, objekt-bezogene Sozialisationsformen zeigt sich insbesondere in den Massenmedien, wo Information, Wissen, Unterhaltung und Kultur ohne die Vermittlung durch Experten und Bildungsinstitutionen verbreitet werden. Das »Aufplatzen des Wissens« und seine Durchdringung aller Lebensbereiche machen neuartige Vernetzungen notwendig. An den Knoten- und Verdichtungspunkten entstehen so neue berufliche Akteure, die zwischen disparaten Wissensbeständen und Handlungsbereichen vermitteln (z. B. Literaturagenten, Headhunter, professionelle Netzwerker, Unternehmensberater). Diese neuen, in Netzwerken agierenden Akteure der symbolischen Produktion, deren beruflichen Laufbahnen quer zu den etablierten Funktionssystemen verlaufen (z. B. Wissenschaftler mit Medienpräsenz), sind die neuen, interdiskursiven Übersetzer zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären und Wissensbereichen. Ihr gesellschaftlicher Aufstieg verdankt sich dem institutionellen Umbau der Felder der Kultur- und Wissensproduktion zu Märkten, deren Erfolgsordnungen durch neue symbolische Mechanismen der sozialen Schließung wie Branding, Ranking und Wettbewerbe strukturiert werden.123 119 Folgende Ausführungen nach Cornelia Koppetsch: Symbolanalytiker im Feld der kulturellen Produktion. Zum Wandel der Intelligenzrolle in Gegenwartsgesellschaften. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes, S. 57–76. 120 Vgl. Karin Knorr-Cetina: Sozialität mit Objekten. Soziale Beziehungen in post-traditionalen Wissensgesellschaften. In: Werner Rammert (Hg.): Technik und Sozialtheorie. Frankfurt a. M. 1998, S. 83–120 (engl. Version in: Theory, Culture and Society 14/4 [Nov. 1997], S. 1–30). 121 Ebd., S. 93 122 In der englischen Version ihres Aufsatzes spricht Knorr-Cetina von »dehiscence« (»Aufplatzen«) und »discharge« (Sich-Entladen) von Wissen bzw. Wissensrelationen. 123 Vgl. Koppetsch: Symbolanalytiker, S. 60.
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Die Entstehung und der Aufstieg der neuen, vernetzten symbolischen Vermittlungsakteure in gesellschaftlichen Zwischenbereichen, für die Robert Reich den Begriff der »Symbolanalytiker« 124 geprägt hat, führten zu neuen Fraktionskämpfen innerhalb der akademischen und künstlerischen Berufsfelder: Innerhalb der Felder der Kulturproduktion befinden sich die Kreativen daher in Opposition zu den klassisch-hochkulturellen Kulturproduzenten, d. h. den Künstlern, Literaturkritikern und Philologen im Kontext staatlich geförderter Theater, Opernhäuser, Orchester und Museen, deren Diskurs- und Deutungsmonopol sie erfolgreich angetastet haben. Während letztere ihre kulturellen Deutungsansprüche autoritativ, d. h. auf der Basis eines Diskursmonopols akademischer Bildung und staatlicher Förderung durchsetzen, verstehen sich die Kreativen als Mittler zwischen einer pluralisierten und stark ausdifferenzierten Alltagskultur und der breiten Öffentlichkeit im Medium des Konsums. Dies schließt politische Inhalte durchaus mit ein. Ihre »objektive«, d. h. teils unbewusste, Strategie der Erlangung symbolischer Deutungsmacht zielt auf die Einsetzung der Popkultur als repräsentative Kultur (und die Entmachtung des repräsentativen Anspruchs der bürgerlichen Hochkultur).125
Während die traditionelle, humanistisch-professionelle Intelligenz in der Regel strikt zwischen kultureller und ökonomischer Handlungslogik, zwischen (Hoch-)Kultur und Kommerz unterscheidet (so auch Bourdieus Feldmodell), betrachten die in Netzwerken agierenden »Symbolanalytiker« Ideen, Wissen und Kultur letztlich als ökonomisch-symbolische Ressource. Sie bilden einen neuen Typus des Unternehmertums, der Wissen und Kultur als dynamisches Terrain profitabler Verwertung entdeckt und hohe Renditen und eine direkte Konvertibilität des kulturellen Kapitals anstrebt. Folgerichtig leiten sie ihre geistig-moralische Überlegenheit nicht mehr aus dem Wohl der Gesellschaft als ganzer ab, sondern aus der Marktabhängigkeit der Kultur- und Wissensvermittlung. Diese kulturelle Einbettung in den Markt, die Ökonomisierung und Medialisierung von Wissen und Kultur, ist nicht als einseitige Okkupation aller Lebensbereiche zu verstehen, sondern als wechselseitiges Verhältnis. Vorbereitet wurde dieses wechselseitige Verhältnis durch die skizzierten Prozesse der kulturellen Pluralisierung, die sich unter dem Einfluss der neuen Kommunikationsmedien und sozialen Bewegungen in den siebziger und achtziger Jahren entwickelten. Die Arbeit der »Symbolanalytiker« in Werbewelten, Unternehmensberatung und anderen Wissensindustrien, die auf Werte der Gegenkultur
124 Robert Reich: Die neue Weltwirtschaft. Das Ende der nationalen Ökonomie. Frankfurt a. M., Berlin 1993. »Symbolanalytiker lösen, identifizieren und vermitteln Probleme, indem sie Symbole manipulieren« (ebd., S. 199). 125 Koppetsch: Symbolanalytiker, S. 64.
Das »Aufplatzen des Wissens« und das veränderte Mandat
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(Pluralismus, Selbstverwirklichung, Autonomie, Authentizität und Kreativität) als Reservoir ökonomischer Wertschöpfung zurückgreift, ist allerdings dominant ökonomisch ›eingebettet‹ und von hier aus kann deshalb auch keine fundamentale Kritik mehr an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen erwartet werden. Bei den »Symbolanalytikern«, die als Agenten des Kulturkapitalismus verstanden werden können, handelt es sich keineswegs um eine ›Elite‹ im soziologischen Sinne, sondern um unterschiedliche Gruppen von meist aus der Mittelschicht rekrutierten Experten mit begrenzten Entscheidungs- und Machtbefugnissen.126 Kulturelle Hegemonie oder ›Benennungsmacht‹ kommt nicht mehr allein und selbstverständlich einer herrschenden, bürgerlichen Bildungselite zu, sondern wird in relativ anonymen Konkurrenzen um Deutungsansprüche und Meinungsführerschaft erworben. Der Einfluss der »Symbolanalytiker« zeigt sich ebenso im literarischen Feld. Auch hier kam es zum Aufstieg der ›Kreativen‹ und zur Aufwertung populärkultureller Stilelemente in Gestalt einer wachsenden Bedeutung von vorübergehenden ›Erfolgsautoren‹. Diese stammen häufig aus anderen Medienbereichen wie dem Feuilleton-Journalismus, den Musiksendern, Talkshows oder anderer Kreativbereichen. Sie betätigen sich nur zeitweilig auf dem Gebiet der Belletristik und haben selten den Anspruch, ›ernste Literatur‹ zu schreiben. Vielmehr geht es ihnen um eine tendenziell journalistische Literarisierung von Lebensstilen ihrer Generation, häufig nach dem Format der seriellen Kolumne. Beispiele hierfür sind Benjamin von Stuckrad-Barre (Soloalbum [1998]), Florian Illies (Generation Golf [2000]), Kathrin Passig (die Erzählung Sie befinden sich hier, für die sie 2006 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt), Charlotte Roche (Feuchtgebiete [2008]) oder Helene Hegemann (Axolotl roadkill [2010]).127 »Symbolanalytiker« hegen allerdings nicht nur auf ein Milieu begrenzte, sondern auch gesamtgesellschaftliche Deutungsansprüche. Insgesamt haben die populärkulturellen, markt- und mediengestützten Ansprüche auf Deutungsmacht die traditionellen, humanistisch-universalistischen Intellektuellen recht erfolgreich in Frage gestellt. Dies führte zu einer Veränderung des Intellektuellenmandats wie sich anhand exemplarischer Situationen, in denen Schriftsteller nochmals gesamtgesellschaftlich zu intervenieren versuchten, zeigen lässt.
126 Vgl. ebd., S. 62. Damit entsprechen die »Symbolanalytiker« den »Zauberern« im Sinne Max Webers, die keine hegemoniale geistige Benennungsmacht anstreben (s. hierzu ausführlich unten: Zweiter Teil, I. 3.3.). 127 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 3.1. u. 3.2.
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Strukturtransformationen
Das veränderte Mandat der Schriftsteller als Intellektuelle 128 Traditionellerweise spielen Intellektuelle als Spezialisten des Deutens und Erklärens eine zentrale Rolle in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um symbolische Deutungshoheit. In Bourdieus Bestimmung der Intellektuellen als zweidimensionale Wesen, die über eine spezifische (literarische) Autorität verfügen und auf der Grundlage dieser Autorität sich politisch-universal engagieren, verbinden sich das politische und das literarischen Feld.129 Konfliktuelle Wechselwirkungen zwischen diesen Feldern hat Gilcher-Holtey anhand von exemplarischen Kulminationspunkten untersucht, an denen es um einen Streit über das Mandat des Intellektuellen ging: »1968« (Höhepunkt der APO-Proteste), »1989/90« (Fall der Mauer und Wiedervereinigung) und »1999« (erste Kriegsbeteiligung der BRD im Rahmen der NATO-Intervention in das Kosovo). So engagierte sich Günter Grass nicht nur als »allgemeiner Intellektueller«, indem er zu politischen Stellungsnahmen aufrief, sondern auch als »spezifischer Intellektueller« im Sinne Foucaults. Mit seinem Engagement für einen Autoren(bei)rat im Luchterhand-Verlag 1968 setzte er sich unter Berufung auf die zentrale Leitidee des literarischen Feldes, auf Autonomie, dafür ein, die Produktionsverhältnisse sowie die Arbeitsbedingungen des Schriftstellers zu verändern. Enzensberger forderte dagegen einen neuen Typus des Intellektuellen, der sich nicht über Wertsetzung und Dramatisierung von Leitideen definierte, sondern über direkte Aktionen. Was Enzensberger mit einer kritischen Perspektive auf die »Kulturindustrie« benannte,130 stellt im Sinne Boltanskis und Chiapellos das strukturelle Pendant zur Ausgrenzung der Sozialkritik aus der kulturellen Produktion dar,
128 Folgenden Ausführungen nach Ingrid Gilcher-Holtey: Die »große Rochade«: Schriftsteller als Intellektuelle und die literarische Zeitdiagnose 1968, 1989/90, 1999. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes, S. 77–97; vgl. allgemein zur Entwicklung der Intellektuellen-Rolle in feldanalytischer Perspektive Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller im 20. Jahrhundert. Berlin 2006; u. Joseph Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdieu. Göttingen 2012. 129 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 524. 130 Im Kursbuch Nr. 15 erteilten Enzensberger und Karl-Markus Michel den Dichtern als Gewissen der Nation eine Absage. Für literarische Kunstwerke lasse sich »eine wesentliche gesellschaftliche Funktion nicht angeben« (Hans Magnus Enzensberger: Literatur nach dem Tod der Literatur [1979]. In: H. M. E.: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970. Hg. v. Rainer Barbey. Frankfurt a. M. 2007, S. 302–321, hier S. 311). Enzensbergers Skepsis gegenüber dem subversiven Potential von Literatur beruhte auf der Erkenntnis, dass die bürgerliche Gesellschaft »›Kulturgüter‹ von beliebiger Sperrigkeit zu resorbieren, aufzusaugen, zu schlucken« vermochte (H. M. E.: Gemeinplätze, die Neuste Literatur betreffend. In: Kursbuch 15 [1968], S. 187–197, hier S. 189; vgl. Gilcher-Holtey: Schriftsteller als Intellektuelle, S. 82 f.).
Das »Aufplatzen des Wissens« und das veränderte Mandat
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die Integration der Künstlerkritik in die kapitalistische Produktion.131 GilcherHoltey sieht in Enzensberger den Typus des »revolutionären Intellektuellen«, der im Gegensatz zum »allgemeinen Intellektuellen« nicht versucht, Unrecht unter Berufung auf allgemeine, abstrakte Werte anzuklagen, sondern Werte, Wahrnehmungs- und Klassifikationsschemata aus sozialen Kämpfen abzuleiten und zu verallgemeinern. In einer weiteren Perspektive lässt sich diese Deutung modifizieren. Denn langfristig gesehen war der von Enzensberger verkörperte neue Intellektuellentypus einer ›permanenten Revolution‹ kompatibel mit dem vom ›neuen Geist des Kapitalismus‹ geprägten Habitus des neuen ›flexibilisierten Menschen‹ (Sennett). Mit seiner flexibilisierten Positionsnahme trat Enzensberger mittels der spezifischen ›Mischkalkulation‹ einer sowohl lyrischen, eingeschränkt wirksamen als auch einer essayistischen, breitenwirksamen Stimme in eine relative Nähe und zugleich eine distinktive Distanz zum neuen Typ der »Symbolanalytiker« im journalistisch-massenmedialen Feld.132 Der Typus des »allgemeinen« oder »universellen Intellektuellen« in der Tradition von Zola und Sartre, den noch Böll und Grass verkörpern, wurde von der 68er-Bewegung in Frage gestellt. Neue Typen, der »revolutionär-handelnde« und der »spezifische Intellektuelle« (Foucault) grenzten sich vom klassischen »universellen Intellektuellen« ab.133 Dies zeigte sich drastisch anlässlich der Debatten in der Zeit der Wende und der Wiedervereinigung. 1989/90 unterstützten Christa Wolf und Günter Grass mit ihrer Stimme Minderheitspositionen im politischen Feld und versuchten so nochmals dem klassischen, »allgemeinen Intellektuellen« durch ihr symbolisches Kapital Einflusschancen und Wirkungsmacht zu verleihen. Die Positionskämpfe im politischen Feld verlagerten sich aber auf die Feuilletonseiten und die Literaturkritiker verwandelten sie in eine Debatte des literarischen Feldes, in den so genannten »deutsch-deutschen Literaturstreit«. Ulrich Greiner, Frank Schirrmacher und Karl-Heinz Bohrer nahmen die Kritik des »allgemeinen Intellektuellen« von 1968 auf, um dessen Mandat endgültig zu delegitimieren.134 Literarische Zeitdiagnose und linke Gesellschaftskritik wurden als »Gesinnungsästhetik« diskreditiert. Greiner konstruierte hier einen »Skandal«, der seine Funkti-
131 Vgl. Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 257. 132 Vgl. Markus Joch: Anreger und Aufreger. Wie Hans Magnus Enzensberger überrascht und in welchen Medien. In: Joch, Mix, Wolf (Hg.): Mediale Erregungen, S. 77–108; siehe dazu auch unten: Fallstudie 1. 133 Zur Unterscheidung, Entwicklung und Versuch ihrer Situierung in einem »intellektuellen Feld« siehe Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle, S. 225–228 u. S. 240–244. 134 Vgl. Peitsch, Helmut: »Vereinigungsfolgen«: Strategien zur Delegitimierung von Engagement in Literatur und Literaturwissenschaft der neunziger Jahre. In: Weimarer Beiträge 47 (2001), S. 325–352.
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Strukturtransformationen
on vor dem skizzierten Hintergrund eines allgemeinen Repräsentationsvakuums ausüben konnte. Denn in der allgemein geteilten Empörung, »erlebt sich die ansonsten dauerhaft in Wertgemeinschaften zerfallende Gesellschaft vorübergehend als eine ungeteilte«.135 Die von Medien und ihren Netzwerk-Akteuren inszenierten Skandale (insbesondere um Christa Wolf) lösten die von Intellektuellen initiierten Debatten ab.136 Die grundsätzliche Infragestellung der repräsentativen Stellung und des gesellschaftlichen Mandats des Schriftstellers als engagierter Intellektueller erreichte mit der wachsenden Macht der vernetzten Mediendiskurse in den neunziger Jahren eine neue Qualität. Dies zeigte sich am Misserfolg von Grass’ Sprachkritik an der Einheits- und Abwicklungsrhetorik der politischen sowie feuilletonistischen Leitdiskurse. So richtete sich Schirrmacher 137 allgemein gegen den Schriftsteller als »Sprecher und Repräsentanten der Nation« und KarlHeinz Bohrer erklärte das Ende der Epoche des »deutsche Intellektuellentypus« als »alte Garde der für ›Sinn‹ Zuständigen«.138 Diese Delegitimierung musste schließlich auch Peter Handke 1999 erfahren, als er seine Sprachkritik an der Medienberichterstattung über den Kosovo-Krieg übte. Hier manifestierten sich einmal mehr die Grenzen der individualisierten, von seiner Existenz als ›Mensch‹ und seinem Metier – der Sprache – getragenen ›authentischen‹ politischen Kritik eines ›Homme de Lettres‹.139 Dem ›Einzelnen‹ und seiner ›authentischen‹ Stimme im ›Werk‹ steht die Dominanz der professionalisierten, in den Formaten der Massenmedien zirkulierenden symbolischen Manipulation der »Symbolanalytiker« gegenüber. Diese sind in neuen Wissensrelationen vernetzt und stellen eine neue dominante, anonym produzierte kulturelle Repräsentanz her.
135 Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals. Frankfurt a. M. 2002, S. 64; vgl. Gilcher-Holtey: Schriftsteller als Intellektuelle, S. 87. 136 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 2.2. 137 Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensläufe: Über die Kündigung einiger Mythen des westdeutschen Bewusstseins. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2./3. 10. 1990. 138 Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik am Ausgang ihrer Unmündigkeit. In: Merkur 44 (1990) 10/ 11 (Sonderheft 500), S. 851–865; u. K. H. B.: Kulturschutzgebiet DDR? In: ebd, S. 1015–1018, hier S. 1016. 139 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.1.2.
II. Historische Entwicklungslinien Nach der Skizze wichtiger struktureller Transformationen des literarischen Feldes in Beziehung zum sozialstrukturellen, medienökonomischen und internationalen Wandel gilt es nun, zentrale historische Entwicklungslinien des (deutsch-)deutschen literarischen Feldes nachzuzeichnen. Die Untersuchung der Entwicklung der beiden deutschen literarischen (Teil-)Felder folgt dabei allgemein einem »verflechtungs-« oder »beziehungsgeschichtlichen« Ansatz innerhalb einer »doppelte[n] Zeitgeschichte«, die nach »asymmetrischer Verflechtung in der Abgrenzung« fragt.140 Zunächst ist jedoch eine Darstellung der politisch begründeten Trennung und der Unterschiede bei der Entwicklung der beiden deutschen literarischen Felder sinnvoll, um dann ihre strukturelle Annäherung und Überlagerung lange vor der politischen Vereinigung aufzuzeigen.
1 Das literarische Feld in der Bundesrepublik 1.1 Der Modernisierungsschub vom ›Wendejahr 1959‹ bis ›1968‹ Versucht man Ausgangslage und Entwicklung der deutschen Literatur nach 1945 mit Hilfe von Bourdieus Modell des literarischen Feldes zu rekonstruieren, so zeigt sich die westdeutsche Phase von 1945 bis zum sogenannten ›Wendejahr 1959‹ 141 noch weitgehend vom Pol der »volkstümlich-moralischen« Literatur142 geprägt – dies in einer strukturellen Kontinuität zur Literatur der inneren Emigration, wenn es auch deutliche Abgrenzungsversuche gab. 140 Arnd Bauerkämper, Martin Sabrow, Bernd Stöver: Die doppelte Zeitgeschichte. In: A. B., M. S., B. S. (Hg.): Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945–1990. Bonn 1998, S. 9–16, hier S. 14 f.; vgl. auch Frank Möller, Ulrich Mählert (Hg.): Abgrenzung und Verflechtung. Das geteilte Deutschland in der zeithistorischen Debatte. Berlin 2008; Christoph Kleßmann, Hans Misselwitz, Günter Wichert (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung: der schwierige Umgang mit der doppelten Nachkriegsgeschichte. Berlin 1999; Helmut Peitsch: Warum moralische Fallgeschichten, ästhetische Rettung von Werken und Regionalisierung kein Ersatz für eine Geschichte der Beziehungen zwischen BRD- und DDR-Literatur sind. In: Helbig (Hg.): Weiterschreiben, S. 285–300, hier S. 289. 141 Vgl. Matthias N. Lorenz, Maurizio Pirro (Hg.): Wendejahr 1959? Die literarische Inszenierung von Kontinuitäten und Brüchen in gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten der 1950 er Jahre. Bielefeld 2011. 142 Damit ist der Übergangsbereich vom Subfeld der eingeschränkten Produktion zum Subfeld der Massenproduktion in Bourdieus Modell des literarischen Feldes gemeint, der im französischen Feld fließend übergeht in den Bereich des »vaudeville, Feuilleton, Journalismus«
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Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass die retrospektive Ausrufung eines literarischen ›Wendejahres 1959‹ durch Grass, Enzensberger und in der Folge auch durch die Literaturgeschichtsschreibung auf »forcierte[ ] (Selbst)Stilisierungen« zurückzuführen ist, »die im Grunde genommen an die autochthone Tradition der klassischen Moderne wieder anknüpfen und den Wunsch nach Diskontinuität über großräumige Umwege gleichsam in einer höheren Form der Kontinuität auflösen«.143 Tatsächlich bestimmte den Buchmarkt des Jahres 1959 noch weiterhin »eine erdrückende Übermacht älterer Autoren, von denen viele im Nationalsozialismus publiziert haben«.144
Trotzdem verdichteten sich um ›1959‹ neben den rückwärtsgewandten Positionen Modernisierungstendenzen, die zu den dominanten Erscheinungen im ›langen Jahrzehnt der sechziger Jahre‹ zu zählen sind.
Der Aufstieg der Gruppe 47 und ihres Literaturverständnisses Der Aufstieg der Gruppe 47 und die Profilierung ihres Literaturverständnisses in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre nahmen ihren Ausgang vom Feldsektor des »volkstümlich-moralischen« Pols (s. u., Abb. 4), ablesbar unter anderem an der Abgrenzung von den modernistischen Exilautoren einerseits und der älteren Generation der »inneren Emigration« andererseits. Der Zusammenschluss dieser Autoren der ›jungen Generation‹ und ihr symbolischer Aufstieg weisen auf eine »Durchlässigkeit der Feldgrenzen gegenüber Akteuren mit relativ geringem kulturellen und symbolischen Kapital« in dieser Zeit.145 Der moralisierende (Neo-)Realismus, wie er in der »Kahlschlag-« oder »Trümmerliteratur« zum Ausdruck kam, wurde ästhetisch modernisiert – zwar moderat, aber
(vgl. Abb. 1, Abb. 4 u. Gisèle Sapiro: Das französische literarische Feld: Struktur, Dynamik und Formen der Politisierung. In: Berliner Journal für Soziologie 2 [2004], S. 157–171). Sapiro ordnet diesem Bereich den Typus des »populären Schriftstellers« zu. Es handelt sich um Schriftsteller, »die von ihrer Feder leben müssen, denen es aber nicht gelingt, ein Kapital an symbolischer Anerkennung anzuhäufen. [...] Sie verfügen nicht über die notwendigen kulturellen Ressourcen (seien es ererbte oder auf dem Bildungsweg erworbene), die ihnen den Zugang zu den gelehrten Debatten gewähren oder sie befähigen, auf der Grundlage eigener ästhetischer Kategorien zu diesen in Widerspruch zu treten. Sie reduzieren daher den literaturkritischen Diskurs auf eine politische und soziale Kritik, um sich innerhalb des Feldes behaupten zu können« (ebd., S. 165). 143 Matthias N. Lorenz, Maurizio Pirro: Einleitung. In: M. N. L., M. P.: Wendejahr 1959?, S. 9– 20, hier S. 12. 144 Ebd., Anm. 9, mit Bezug auf Günther Häntzschel: Die deutschsprachige Literatur des Jahres 1959. Ein Überblick. In: treibhaus. Jahrbuch für die Literatur der fünfziger Jahre 5 (2009), S. 47–74. 145 Sabine Cofalla: Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters. Zur Korrespondenz des Leiters der Gruppe 47. Berlin 21998, S. 117.
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Das literarische Feld in der Bundesrepublik
Gesamtvolumen des Notorietätskapitals + ästhetischer Pol
staatlich-großbürgerlich nobilierter Pol
(vor allem Emigrationsliteratur)
(nach NS-Zeit stark diskreditiert)
temporäres Kapital
symbolisches Kapital
Gruppe 47 u. Umfeld
avantgardistischer Pol (tendenziell international: spätestens seit NS-Zeit Verlust seiner strukturbildenden Kraft)
volkstümlich-moralischer Pol (in NS-Zeit: innere Emigration)
Gesamtvolumen des Notorietätskapitals –
Abb. 4: Aufstieg der Gruppe 47 im literarischen Feld bis Mitte der sechziger Jahre146
doch kontinuierlich und nachhaltig im Konnex von Moral und Ästhetik. Die Expansions- und Aufstiegsbewegung der Gruppe 47 rund um Hans Werner Richter war die eines gemäßigt ästhetisch modernisierten Realismus, der über die moralische und erinnerungskritische Funktion zunehmend eine gesamtgesellschaftliche Repräsentanz beanspruchen und eine Deutungshoheit ausüben konnte. Exemplarisch standen hierfür Richters ›realpolitscher‹ Pragmatismus und literarisch Heinrich Bölls und Günter Grass’ Prosa. So stellte die Gruppe wie auch ihr Literatur-Begriff sowohl in literarischer als auch in politischer Hinsicht eine »große Koalition« dar.147 Ihr symbolischer Aufstieg erreichte Mitte der sechziger Jahre einen Höhepunkt in einem oberen, mittleren Feldsektor zwischen antibürgerlich-formalästhetischen und bürgerlich-moralischen Bestimmungen.
146 Die Grundstruktur lehnt sich an das Modell von Sapiro an (Sapiro: Das französische literarische Feld, S. 165). 147 Ebd., S. 119.
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Historische Entwicklungslinien
Wenn Richter seine Gruppe zwischen literarischem Eigenrecht (ästhetischer Form) und moralisch-politischer Funktion positionierte, so geschah das an der Schnittstelle des literarischen Feldes mit dem politischen. Dieser Mittelposition zwischen kulturellem (ästhetischem) und moralischem (politischem) Kapital entsprach die für die Gruppe charakteristische interne »Spannung zwischen den Polen Öffentlichkeit und Privatheit«.148 Mit ihrem Aufstieg ging zugleich die Entstehung eines vernetzten Literaturbetriebs einher, der sich anfänglich noch an einzelnen Personen wie Walter Höllerer festmachen ließ.149 Die Anbindung des literarischen Feldes an sowohl politisch-moralische als auch medien-ökonomische Werte war in dieser Zeit noch von der Verbindung zwischen literarischer und politischer Öffentlichkeit überlagert. Der repräsentativen Mittelstellung entsprach die gruppenkonstitutive Trennung von literarischen und politischen Stellungnahmen – eine Trennung, die das Getrennte zugleich in ein komplementäres Verhältnis setzte. Denn die Institution der Gruppe 47 hatte eine »Doppelfunktion als privates Schriftstellerforum und öffentliche Instanz, als Literaturwerkstatt und intellektuelle Opposition«.150 Mit dieser komplementär-setzenden Trennung von Literatur und Politik, diesem für die deutsche Geschichte charakteristischen Kompromiss zwischen Kultur und politischer Macht, konnte die ›nonkonformistische‹ Literatur der Gruppe 47 eine repräsentative Funktion für das gesamte literarische Feld und darüber hinaus für die allgemeine Öffentlichkeit in der BRD übernehmen. Sich in die Tradition der Aufklärung stellend, übte sie die moralische und erinnerungskritische Funktion eines ›kritischen Gewissens der Nation‹ als konstitutiver Bestandteil der kulturellen Identität der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft aus.151 Die ›nonkonformistische‹ Literatur der Gruppe 47 wurde seit Beginn der 1960 er Jahre zunehmend zum Inbegriff der (west-)deutschen Nationalliteratur. Dies erreichte sie durch ihre doppelte Ausrichtung: Sie praktizierte eine Literatur in Mittelstellung zwischen ästhetischer und moralischer Positionsnahme. Dabei verstand sie den moralischen Protest als einen spezifisch literarischen, so vor allem die literarische Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit und ihrer
148 »Die private Struktur und informelle Funktionsweise der Gruppe 47 war der relativen Autonomie des literarischen Felds angepaßt. Aus diesem Grund konnte sie Identität stiften und zur Festigung der sozialen Rolle ›Schriftsteller‹ in der Bundesrepublik beitragen. Gerade die pointierte Negation eines Vereinsstatus ließ die Gruppe 47 zu der dominanten Autorenassoziation der Bundesrepublik werden« (Cofalla: Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters, S. 118). 149 Vgl. Rolf Parr: Kein universeller, kein spezifischer Intellektueller. Walter Höllerer im Literaturbetrieb der 1950 er und 1960 er Jahre. In: kultuRRevolution 61/62 (Feb. 2012), S. 76–84. 150 Cofalla: Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters, S. 119. 151 Vgl. zum Folgenden Gilcher-Holtey: Was kann Literatur; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
Das literarische Feld in der Bundesrepublik
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Verdrängung in der Gegenwart. Neben den literarisch-moralischen Stellungnahmen standen die explizit politischen in Form von »Aufrufen« und »Erklärungen«, mit denen sich die Gruppe 47 in das politische Geschehen einmischte (z. B. anlässlich der Ungarischen Revolution, der geplanten Atombewaffnung der Bundeswehr, des Algerienkrieges, der Spiegel-Affäre oder des Vietnam-Krieges; vgl. 208). Der politische Einfluss hing, so Erich Fried, von ihrem literarischen Erfolg ab152 – oder auch umgekehrt, wie Schirrmacher und Greiner mit dem Vorwurf der »Gesinnungsästhetik« im so genannten »deutsch-deutschen Literaturstreit« 1990 im Nachhinein behaupteten. Entscheidend für das politische Engagement der Gruppe war die Trennung von Literatur einerseits und Politik andererseits. So unterschied Grass streng zwischen »Schreibenschreiben« und »redenreden«, wie es am Ende seines Tagebuches einer Schnecke (1972) heißt (vgl. 218). Indem die Trennung zwischen literarischen und genuin politischen Stellungnahmen aufrecht erhalten wurde, konnte zugleich ihre Gleichrangigkeit behauptet werden.
Die gesamtgesellschaftliche, ›interne‹ oder »komplementäre Opposition« 153 der Gruppe 47 konsolidierte sich bis ca. 1964/65, bis zur Entstehung einer gesellschaftlichen ›externen‹ Opposition zum Staat, wodurch das literarische Feld in neue, ereignishafte und konfrontative Konstellationen mit dem politischen Feld und allgemein mit dem sozialen Raum trat. Es erfuhr somit eine krisenhafte Infragestellung seines nomos,154 d. h. seiner bislang legitimen Problematik (seiner legitimen Themen, Selbstverständnisse, Definitionen und Konflikte), durch die sich das Feld selbst bestimmt und von anderen Feldern abgrenzt.
Literarische Modernisierungstendenzen Literarisch zeigte sich der Verlauf des symbolischen und institutionellen Aufstiegs der von der Gruppe 47 nachhaltig geprägten Nachkriegsliteratur zwischen Ende der fünfziger und Mitte der sechziger Jahre in den sowohl gruppen-
152 Erich Fried an Hans Werner Richter am 1. Juli 1966, zit. n. ebd., S. 208. 153 Vgl. Cofalla: Der »soziale Sinn« Hans Werner Richters, S. 114–116 (= Kap. 7.7.: »Die Gruppe 47 als komplementäre Opposition«): »Die Gruppe der ›Nonkonformisten‹ um Hans Werner Richter erfüllte die Rolle einer komplementären Opposition. Sie ergänzte das parlamentarische Kontrollinstrumentarium. Indem sie durch publizistische Aktivität und über die Institution ›Literatur‹ zur individuellen und damit schließlich auch nationalen Selbstreflexion beitrug. [...] Sich in der Öffentlichkeit gegenseitig anfeindend, bildeten die Regierung Adenauer und die Gruppe 47 eine strategische Allianz: Arbeitsteilig waren sie für die materielle bzw. ideelle Stabilisierung der Demokratie zuständig. Die dabei auftretenden Reibungen sind nicht als unproduktive Störung einzuschätzen, sondern vielmehr als Rituale wechselseitiger Bestätigung« (ebd., S. 114 f.). 154 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 353–360 (»Der nomos und die Frage der Grenzen«). Bourdieu versteht den Begriff als umkämpftes Prinzip der »legitime[n] Sichtweise des Feldes«, als Absteckung der Grenzen des Geltungsbereiches seiner Gesetze, »als Prinzip der Vision und Division (nomos), welches das künstlerische (usw.) Feld als solches definiert, das heißt als Ort der Kunst als Kunst« (S. 354).
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internen als auch -externen Versuchen eines Neuanschlusses an die Moderne und – vereinzelt, wie z. B. mit dem von Franz Mon, Walter Höllerer und Manfred de la Motte herausgegebenen Sammelband movens (1960) – an die historischen internationalen Avantgarden.155 Zentrale Akteure wie eben Höllerer mit der Zeitschrift Akzente (ab 1953) und den Lyrik-Anthologien transit (1956) oder Junge amerikanische Lyrik (1960), Walter Jens und Helmut Heißenbüttel mit ihren poetologischen Stellungnahmen oder Hans Magnus Enzensberger mit seinem Museum der modernen Poesie (1960) erkannten die Notwendigkeit einer Anknüpfung an die Moderne – schnell aber auch die zeitgenössischen feldstrukturellen Grenzen durch den anhaltenden Einfluss traditioneller Literaturkonzepte. Die Grenzen im Raum des literarisch Möglichen und Legitimen (nomos) versuchten sie durch eine Neubelebung des kunstautonomen bzw. avantgardistischen und international ausgerichteten Pols, der nach 1933 seine strukturbildende Kraft verloren hatte, zu überwinden. In dieser Hinsicht können Höllerer, Enzensberger, Martin Walser, Uwe Johnson, Peter Weiss und andere als interne Modernisierer gelten, die auf den Aufstieg der Gruppe 47 durch die Stärkung des avantgardistischen oder ästhetisch-autonomen Pols wie in einem Kräftefeld maßgeblich einwirkten. Die sich zwar deutlich, aber in den Gattungen in unterschiedlichen Graden ausprägende thematische und formale Modernisierung der Literatur ab dem »Wendejahr 1959« 156 bedeutete eine Öffnung des Raums des legitimerweise literarisch Möglichen. Die Modernisierung des literarischen Kapitals, d. h. der Literarisierungsverfahren, war im Umfeld der Gruppe 47 moderat,157 aber ›aufstiegssicher‹: Die realistische Prosa eines Andersch, Grass, Böll verstand sich in der Tradition der Aufklärung und des Realismus des 19. Jahrhunderts und sah sich in einer kritischen, zur politisch-gesellschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik komplementär verlaufenden Opposition. Sie konnte damit – zusammen mit den gruppeninternen Literaturkritikern, die zur Entstehung eines Literaturbetriebs und einer einheitlichen literarischen Öffentlichkeit beitrugen – bald zum Ausdruck einer ›nonkonformistischen Nationalliteratur‹ werden. Die Prosa Heinrich Bölls zeigt noch am stärksten ihre Herkunft vom »volkstümlich-moralischen« Pol, wie zum Beispiel in Billard um halbzehn oder später in Gruppenbild mit Dame
155 Vgl. hierzu auch unten: Zweiter Teil, III. 1. 156 In der Prosa erschienen 1959 etwa Günter Grass’ Blechtrommel, Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob und Heinrich Bölls Billard um halbzehn, ein Jahr später Martin Walsers Halbzeit und Arno Schmidts Kaff auch Mare Crisium. 157 Vgl. Jörg Drews (Hg.): Vom ›Kahlschlag‹ zu ›movens‹. Über das langsame Auftauchen experimenteller Schreibweisen in der westdeutschen Literatur der fünfziger Jahre. München 1980.
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(1971), wo die plebejisch-moralische Gesellschaftskritik, für die Böll 1972 den Nobelpreis erhielt, eine nur gemäßigt modernisierte Erzählform annimmt. Auch Grass’ Blechtrommel weist zwar selbstreflexive Momente auf, wenn er den Erzähler angesichts der durch den französischen Nouveau Roman konstatierten ›Romankrise‹ reflektieren lässt, was der Roman noch zu leisten im Stande ist. Weitgehend in Paris zur Blütezeit des Nouveau Roman geschrieben, unterläuft der Roman aber diese Reflexionen wiederum durch sein relativ traditionelles Erzählen.158 Der Roman setzte weniger formal als vielmehr inhaltlich-moralisch neue Maßstäbe: Mit dem Rückgriff auf den europäischen Picaro-Roman und der Entwicklung eines ›kleinbürgerlichen‹ Ironie-Stils (im Unterschied zu Thomas Manns ›großbürgerlicher‹, die Souveränität des Helden gegenüber den Verhältnissen bestärkender ironischer Erzählform)159 ermöglicht er eine aufklärerisch-distanzierte und zugleich (täter-)volksinterne Sicht auf die NS- und die jüngste bundesrepublikanische Vergangenheit. Denn in der Blechtrommel wurden die Täter erstmals als einzelne Menschen und nicht wie noch in Anderschs Sansibar oder der letzte Grund (1957) als dunkle, ununterscheidbare Masse dargestellt.160 Mit Grass’ literarisch umgesetzter Sicht eines Kompromisses zwischen Innen und Außen, nonkonformistischer Distanz und Identität, moralischer Verpflichtung und ›Unmündigkeit‹ eines Volkes, konnten sich die kritischen ›kleinen Leute‹ – Oskar Mazerath als Verkörperung der volksnahen, kleinbürgerlichen, ›internen Opposition‹ – identifizieren. Formale Modernisierungen gingen in der Prosa mehr von anderen Autoren aus und sind hier zum Teil auch schon deutlich früher ausgeprägt: so bei Wolfgang Koeppen (Trilogie des Scheiterns: Tauben im Gras [1951], Das Treibhaus [1953], Der Tod in Rom [1954]), Arno Schmidt (Brand’s Haide und Schwarze Spiegel [1951], KAFF auch Mare Crisium [1960]) und Uwe Johnson (Mutmaßungen über Jakob [1959], Das dritte Buch über Achim [1961]). Johnsons Schreiben war schon früh von den Grenzen, aber auch von den Möglichkeiten des zweigeteilten Landes geprägt. Der Entstehungszusammenhang von Mutmaßungen über Jakob lag im literarischen Raum der DDR. Der Roman konnte in der DDR nicht erscheinen und so entschloss sich Johnson 1959 in die BRD zu gehen, wo er für sich als Schriftsteller mehr Chancen sah. Mit den Erzähltechniken der distanzierten Beobachtung, der perspektivischen Brechungen in Gesprächen und inneren Monologen ist der Roman dialogisch (im Sinne Michail Bachtins) strukturiert. Er stellte damit eine formale Ablehnung des Realismus sowjetischer Prägung und des von der Kulturpolitik geforderten eindeutigen und vorbildlichen sozialistischen Standpunkts der Figuren und des Autors dar. Insgesamt stellte die polyphone, multiperspektivische Erzähltechnik in den Mutmaßungen »einen Höhepunkt im langsamen Prozess der Wiederentdeckung und Wiederbelebung modernen Erzählens in der deutschen Literatur nach der Zäsur des Nationalsozialismus dar«.161 Die Modernisierung der literarischen Formgebung zeigte sich am stärksten in der Lyrik: Die Lyrik-Konzeptionen von Gottfried Benn (›das artistische Gedicht‹) und Paul Celan (›das herme-
158 Vgl. Anselm Weyer: »Man kann sich modern geben«. Wie innovativ ist der Bestseller Die Blechtrommel? In: Lorenz, Pirro (Hg.): Wendejahr 1959?, S. 115–130. 159 Vgl. Martin Walser: Selbstbewußtsein und Ironie. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1981. 160 Vgl. Weyer: »Man kann sich modern geben«, S. 126. 161 Viviana Chilese: »…quer über die Gleise.« Zu Uwe Johnsons Mutmassungen [sic] über Jakob. In: Lorenz, Pirro (Hg.): Wendejahr 1959?, S. 131–144, hier S. 140.
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tische Gedicht‹) weisen auf ein – verglichen mit der Prosa der Gruppe 47 – weiter entwickeltes Modernisierungsverständnis ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahren hin, das schließlich auch mit dem Büchner-Preis legitimiert wurde (1960 für Celan, 1964 für Bachmann).162 Durch den frühen Tod von Celan (1970) endete dieser ästhetische Innovationsstrang in der Lyrik vorzeitig, bevor ihn eine neue Lyrikgeneration in den neunziger Jahren wieder aufnahm.163 Parallel reüssierte die gemäßigt modernisierte Lyrik des ›zornigen jungen Mannes‹ Enzensberger (Büchner-Preis 1963), der einerseits das ›große politische Gedicht‹ in der Nachfolge Brechts, andererseits die Großstadt- und Bewusstseinspoesie und ihr Prinzip der verschachtelten Montage in der Nachfolge Benns weiterführte. Aus dieser Zwischenstellung zwischen einem politisch-moralischen und einem ästhetisch-autonomen Engagement heraus entwickelte Enzensberger eine Poesie, die sich erneut als für die Gruppe 47 charakteristische Kompromissbildung zwischen ästhetischer Modernisierung und kritisch-realistischem Wirklichkeitsbezug erweist. Diese wandelte sich ab Mitte der siebziger Jahre bei Enzensberger in die Doppelstrategie einer etablierten und zugleich flexiblen Autorposition, die für die Transformation des literarischen Feldes eine symptomatische Bedeutung hat (s. u., Fallstudie 1).
Radikalere Modernisierungen, wie etwa die surrealistischen Erweiterungen der Wahrnehmung oder die Abschaffung eines einheitlichen Erzählerprinzips und Objekts der Darstellung nach dem Vorbild des französischen Nouveau Roman, tauchten im Umfeld der Gruppe 47 nur gelegentlich (etwa in den frühen, von Kafka beeinflussten Erzählungen Martin Walsers), dafür aber bei exilierten Autoren auf, die nur verspätet in das Feld eintreten konnten, wie etwa Peter Weiss mit seinem Der Schatten des Körpers des Kutschers (geschrieben 1952, gedruckt erst 1960!). Radikalere avantgardistische Literarisierungsverfahren fanden dauerhaft keinen strukturell gestützten Platz im literarischen Feld. Sie verblieben in einer peripheren Außenseiterstellung oder ›verliefen sich‹. Autorpositionen wie die Celans oder der Vertreter der Konkreten Poesie sahen sich – programmatisch gewollt oder nicht – in eine ›hermetische‹ oder avantgardistische Nische gedrängt und hatten in dieser Zeit nur eine Chance auf Sichtbarkeit und Anerkennung ihrer Position, wenn sie sich symbolisch auf einen etablierten, externen Avantgardepol stützen konnten, wie etwa auf die Vertreter des Nouveau Roman in Paris oder auf den »Wiener Kreis« in Österreich. Von hier führten Linien zurück zur Konkreten Poesie eines Helmut Heißenbüttel oder Eugen Gomringer, die in avantgardistischen Nischen verblieben, aber auch zur sprachexperimentellen Literatur eines Thomas Bernhard, Peter Handke und später einer Elfriede Jelinek, die es schafften, in dem vertikal ausgerichteten
162 Zur Kritik der ambivalenten Modernisierung bei Bachmann vgl. Friedhelm Kröll: Anverwandlung der ›klassischen Moderne‹. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 10, S. 255–257. 163 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, III. 2.1.
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Avantgardekanal, der strukturell die Verbindung zu den legitimierten Positionen bildet, aufzusteigen.164
Kanalisierung der Avantgarde Die Öffnung des literarischen Feldes Ende der fünfziger Jahre durch die Aneignung historischer und zeitgenössischer internationaler Avantgarden und die damit verbundene Modernisierung der literarischen Formen erfuhr schon bald einen ›Richtungswechsel‹ und eine ›Kanalisierung‹. Hierin spiegelt sich eine Restrukturierung des Feldes wider, wie die zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die legitimen Literaturformen, d. h. um den Grad ihrer Modernisierung, erkennen lassen. Symptomatisch dafür ist Enzensbergers Aufsatz »Aporien der Avantgarde« von 1962, der die sprachformale Konkrete Dichtung, die amerikanischen Einflüsse der Beat-Generation rund um Brinkmann wie auch jede Form eines politisierten, leninistischen Avantgardebegriffs, der im Namen einer Partei die Literatur instrumentalisieren könnte, wie dies in der DDR zu beobachten war, diskreditierte und damit die Modernisierung zu lenken versuchte.165 Kaum jemand sah so früh und deutlich wie Enzensberger – der sich mit dieser Weitsicht in die Nachfolge Brechts, Benjamins und Adornos stellte – die neuen heteronomen Einflüsse auf die Literatur, welche sich für die kulturelle Produktion anbahnten: die Ökonomisierung durch den expandierenden Kulturkapitalismus und die Politisierung durch den sich vertiefenden OstWest-Konflikt 166 bzw. durch den sich anbahnenden Nord-Süd-Konflikt, schließlich die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Literatur und für die gesellschaftliche Stellung des Schriftstellers als Intellektuellen.167 Enzensbergers eigene Stellung war zur Zeit des »Avantgarde«Aufsatzes (1962) bereits stark aufstrebend und er zählte spätestens im nächsten Jahr mit der Verleihung des Georg-Büchner-Preises zu den dominanten Akteuren im literarischen Feld. Im »Avantgarde«-Aufsatz zeigt sich deutlich sein Anspruch auf Definitionsmacht anlässlich der Frage, welche Richtung die Modernisierung der Literatur im westdeutschen Feld nehmen sollte. Enzensberger plädierte im Kern für eine Modernisierung über den Anschluss an die klassische und internationale Moderne. Er machte sich dafür stark, dass die Modernisierung der Literatur vor drei Entwicklungstendenzen ›geschützt‹ werde: 1. vor einer zu starken formalbzw. sprachabstrakten Literatur, 2. vor einer zu stark alltagskulturell geprägten Literatur, die nicht mehr politisch widerständig, sondern affirmativ auf die expandierende »BewußtseinsIndustrie« reagierte, 3. schließlich sollte die Literatur vor einem parteipolitischen (leninistischen) Avantgarde-Begriff bewahrt werden, der die Literatur instrumentalisiert, wie es in der
164 Siehe hierzu ausführlicher: Zweiter Teil, III. 165 Vgl. hierzu ausführlich: Zweiter Teil, III. 1. 166 Vgl. Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie (1962) u. Einzelheiten II. Poesie und Politik (1984). 167 Zum Konflikt zwischen Erster und Dritter Welt vgl. Kursbuch 2 (1965); zum ›Tod der Literatur‹ vgl. Kursbuch 15 (1968).
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DDR angesichts des hier eingeschlagenen »Bitterfelder Weges«, des Mauerbaus und des kulturpolitischen Programms zur Schaffung einer sozialistischen Nationalliteratur zu befürchten war. Diese Tendenz meinte Enzensberger unter anderem in Peter Weiss’ sozialistischem ›Bekenntnis‹ (10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, 1965) zu erkennen.168
Enzensbergers Positionsnahme steht symptomatisch für eine strukturelle Weichenstellung, die Auswirkungen auf die allgemeine Entwicklung des literarischen Feldes in der BRD hatte: Der Avantgardepol mit seinen sich Anfang der sechziger Jahre andeutenden drei möglichen Ausprägungen (politisch-revolutionär, abstrakt formalästhetisch wie auch popkulturell-affirmativ) wurde von Enzensberger symbolisch abgestuft, marginalisiert und schließlich umgeformt in einen ›Modernisierungspol‹, der sich an der internationalen klassischen Moderne mit indirekter politischer Funktion orientierte.169 Mit dieser Umformung im Geiste eines Kompromisses zwischen ästhetischer Form und politisch-moralischer Funktion, in dem sich der Grundkonsens der Gruppe 47 zeigt, konnten sowohl Enzensberger als international orientierter ›Modernisierer‹ der deutschen Literatur wie auch insgesamt die Gruppe 47 im nationalen Feld aufsteigen (1963 erhielt Enzensberger den Büchner-Preis, 1965 Grass). Dagegen nahmen die von Enzensberger eher ästhetisch-intellektuell, von Grass eher moralisch-politisch in die Schranken gewiesenen Tendenzen am Avantgardepol in der Folge verschiedene Entwicklungspfade: Die politisch-revolutionäre Literatur transformierte sich in eine aktionistische und dokumentarische Neudefinition der Literatur (vor allem durch die »Gruppe 61«), von der dann Enzensberger zunehmend selbst – bei genauerem Hinsehen allerdings auch wieder ästhetisch ›eigensinnig‹ gewendet – ein Verfechter wurde (Kursbuch ab 1965, Das Verhör von Habana [1970], Der kurze Sommer der Anarchie [1972]).170 Die abstrakt-formalästhetische Ausrichtung der Konkreten Poesie verblieb in ihrem Nischendasein. Als sprachreflexiv-semiotische Form konnte sie aber im Austausch mit der alltags- und popkulturellen Erweiterung den Realismus der Gruppe 47 als einzige literarisch herausfordern – namentlich in Person Peter Handkes mit seinem Auftritt in Princeton 1966 (s. u.). Auch die popkulturelle Avantgarde rund um Brinkmann verblieb – sieht man von der »Kölner Schule« rund um Dieter Wellershoff ab, die sich mit dem allgemein vorherrschenden Realismus und später mit der dokumentarischen Literatur verband – lange Zeit in einer Nische, bis sie sich in den achtziger und neunziger Jahren über die Kopplung mit Pop- und Technomusik erfolgreich weiterentwickelte in Form der
168 Vgl. dazu unten: Fallstudie 1. 169 Vgl. etwa Enzensbergers Plädoyer in dem Essay »Der Fall Pablo Neruda« ([1955] 1962). In: Einzelheiten II, S. 92–112. 170 Siehe dazu unten: II. 1.2., Abschnitt: Neue Tendenzen 1: dokumentarische ›Anti-Literatur‹.
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zweiten, sogenannten »Suhrkamp-Popliteratur« eines Rainald Götz, Andreas Neumeister oder Thomas Meinecke. Parallel und komplementär zur ›nischenavantgardistischen‹ Popliteratur verlagerte sich das alltagskulturelle ›Innovationspotential‹ spätestens in den siebziger Jahren horizontal in den expandierenden flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich mit seinen neuen Subjektentwürfen in Form der »Neuen Subjektivität« (s. u.). Dessen Relevanz hatte Enzensberger über seine in Verlängerung der Kritischen Theorie entworfenen Studien zu den neuen Medien und zur »Bewusstseinsindustrie« bereits um 1960 erkannt und damals noch – in der Nachfolge von Brechts Radio-Theorie – in ein emanzipatives Sender-Empfänger-Verhältnis umzudeuten versucht.171 Die Einflüsse der alltagskulturellen und konsumökonomischen Modernisierung auf das literarische Feld, die Expansion seines Mittelbereichs zwischen dem Subfeld der eingeschränkten und dem der massenhaften Produktion, zeichneten sich in aller Deutlichkeit erst in den siebziger Jahren ab. Zuvor beförderten der sich verschärfende Ost-West-Konflikt und die innenpolitischen Entwicklungen – die Bildung einer Großen Koalition 1966 und die Entstehung einer »außerparlamentarischen Opposition« – die Politisierung des literarischen Feldes, wodurch zeit- und teilweise die ästhetischen Werte aufgehoben und durch politisch-aktionistische Kriterien ersetzt wurden.
Politisierung, Prekarisierung und neue Verzeitlichungslogiken Spätestens die Formierung und Mobilisierung einer »außerparlamentarischen Opposition« (1965–1968) und das Auftreten neuer Anforderungen und Umbrüche im sozialen Raum und im politischen Feld stellten die repräsentative gesellschaftliche Funktion der Literatur der Gruppe 47 als ›interne Opposition‹ grundlegend in Frage.172 Die sich intensivierende Wechselwirkung zwischen dem literarischen und dem politischen Feld beschleunigte den Zerfall der Gruppe und den Anachronismus ihrer literarischen und gesellschaftlichen Zentralstellung. Die Protestbewegung forderte ihren Anspruch heraus, eine außerparlamentarische kritische Opposition zu sein und damit eine »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« (Bourdieu) bzw. eine »literarische Sphäre der Gemeinschaft räsonierender Privatleute« (Habermas) in der Tradition der Aufklärung zu bilden, mit der die – komplementäre, aber
171 Vgl. die Aufsätze in Einzelheiten I und vor allem die spätere systematische Ausarbeitung in Baukasten zu einer Theorie der Medien. 172 Vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur.
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davon getrennte – politische Öffentlichkeit beeinflusst werden könnte.173 In der Folge polarisierte sich die Gruppe entlang politischer und literarischer Konfliktlinien, was zu einer wegweisenden Restrukturierung des literarischen Feldes führte, genauer: zur Einsetzung verschiedener Verzeitlichungslogiken und zur räumlichen Ausdifferenzierung (Pluralisierung) des Feldes. Es war also zunächst weniger ein autonom innerliterarischer Prozess als vielmehr die »Soziohistorie der kurzen Zeit« 174 der politischen Ereignisse, die die Restrukturierung des literarischen Feldes Mitte der sechziger Jahre initiierte. Sie führte zur Vervielfältigung erst politischer, dann auch literarischer Stellungnahmen und schließlich zur Pluralisierung literarischer Positionen, die legitimerweise besetzt werden konnten. Unter dem Aspekt der Verzeitlichung ist sowohl in Frankreich als auch in der BRD ab Mitte der sechziger Jahre ein wiederholtes Aufeinandertreffen des literarischen Feldes mit seiner spezifischen Geschichte, d. h. mit seiner langfristigen Logik einerseits und der Ereignisse des politischen Feldes mit ihrer Logik der kurzen, sozialen Zeit andererseits zu beobachten. Im Unterschied zu einer umfassenden politischen Heteronomisierung des literarischen Feldes unter totalitären Regimen ging es »1968« um eine »Reproblematisierung der Revolution, ausgehend von einer Künstler- bzw. Kunstsymbolik«, um »zwei Spiel-Räume, die ansonsten völlig voneinander getrennt existieren« und nun »einander auf ganz außergewöhnliche Weise begegnen: das literarische Feld und der politische Raum«.175 Die Auseinandersetzung um das »Revolutionäre« verweist symptomatisch auf eine Prekarisierung der Akteure der symbolischen Produktion im Allgemeinen und der literarischen im Besonderen. Sie steht für eine doppelte Unsicherheit, eine objektive und eine subjektive: Verursacht wurde die Prekarisierung zum einen durch die sich anbahnende Professionalisierung des politischen Feldes, das zur Zeit des angespannten Kalten Krieges den Intellektuellen und Künstlern immer seltener auf Augenhöhe begegnete, d. h. die ›interne Opposition‹ und basisdemokratische Prinzipien immer weniger anerkannte;176 zum an173 Vgl. oben: I. 2. 174 Boris Gobille: Literarisches Feld und politische Krise. Mobilisierung französischer Schriftsteller im Mai 68 und Verzeitlichungslogiken des Feldes. In: Berliner Journal für Soziologie 14 (2004), S. 173–185, hier S. 174. 175 Ebd., S. 176. 176 Symptomatisch für die Professionalisierung der Politiker und für deren Unverständnis gegenüber einer demokratischen Öffentlichkeit und dem Recht auf Kritik ist Bundeskanzler Ludwig Erhards berühmt gewordene Beschimpfung Rolf Hochhuths als »Pinscher« (9. 6. 1965): »Ich habe keine Lust, mich mit Herrn Hochhuth zu unterhalten über Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ich meine, das ist alles dummes Zeug. Die sprechen von Dingen, von denen sie von Tuten und Blasen keine Ahnung haben [sic!]. Sie begeben sich auf die Ebene eines kleinen
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deren und vor allem aber durch das Erstarken einer Kulturindustrie, die ebenfalls des traditionellen, autonomen Künstlers und Intellektuellen und seines geistigen Schöpfertums kaum mehr ernsthaft bedurfte. Die ›Dichter-Priester‹ und ihre Berufung zur ›regelmäßigen Beeinflussung der Götter‹ (Weber) und zur Herstellung universaler, repräsentativer Bedeutung sahen sich mit einem realen Statusverlust konfrontiert. Angesichts der soziokulturellen Ausdifferenzierung und Professionalisierung der Berufe wurden sie sich zunehmend ihrer realen politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeiten bewusst. Zur objektiven Prekarisierung ihrer gesellschaftlichen Stellung kam so die subjektive Unsicherheit, die einherging mit der Entzauberung und dem Verlust der Aura des Dichterberufs sowie des Kunstwerkes, den schon Walter Benjamin für die Moderne im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit erkannt hatte.177 So hatte die krisenhafte Konfrontation des literarischen Feldes mit den Einflüssen seiner politischen und kulturindustriellen Rahmenbedingungen auch eine Beschleunigung der Professionalisierung des Schriftstellerberufs zur Folge, die sich subjektiv im Bewusstsein, ein nach Zeilen bezahlter ›Wortproduzent‹ zu sein, und institutionell in der Gründung eines Schriftstellerverbandes und dessen Eingliederung in die Gewerkschaft »IG Druck und Papier« (1973) niederschlug. Für die Autoren im eingeschränkten, sich autonom verstehenden Subfeld stellte sich immer drängender die Sinnfrage für die Literatur. Diese beantworteten viele zunächst explizit politisch, andere dann literarisch mit einer ›AntiKunst‹, die sich aus historisch-materialistischer Sicht als »Spiegelbild des von der gesellschaftlichen Praxis abgeriegelten bürgerlichen Schriftstellers« zeigt.178 In feldanalytischer Sicht prägte sich hier eine Künstlerkritik aus, die die gesellschaftliche ›Abriegelung‹ und Sinnkrise der Schriftsteller kurzfristig zu überwinden und die Synthese von Literatur und ökonomisch-medialer Logik langfristig herzustellen vermochte. In krisenhaften Begegnungen mit externen Einwirkungen werden die Schriftsteller des autonomen Subfeldes allgemein zu einer symbolisch-literarischen Rekonstruktionsarbeit der sozialen Welt gedrängt. In diesen Phasen kommt es zu einer abrupten Entobjektivierung der vor der Krise im Feld vorherrschenden Legitimitätshierarchien, d. h. zu einer
Parteifunktionärs und wollen doch mit dem hohen Grad eines Dichters ernst genommen werden. Nein, so haben wir nicht gewettet. Da hört der Dichter auf, da fängt der ganz kleine Pinscher an« (zit. n. Helmut Peitsch: Nachkriegsliteratur 1945–1989. Göttingen 2009, S. 252). 177 Siehe Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. In: W. B.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a. M. 1977. 178 Kurt Batt: Revolte intern. Betrachtungen zur Literatur in der Bundesrepublik Deutschland. München 1975, S. 18.
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Reproblematisierung des literarischen ›nomos‹, der für alle beteiligten Akteure sinn- und identitätsstiftenden, legitimen Problematik (doxa) und Grenzziehungen des Geltungsbereichs der Regeln des literarischen ›Spiels‹. Dabei verzeitlichen die Ent- und Relegitimierungsprozesse das Feld in einer für gewöhnliche Zeiten undenkbaren Geschwindigkeit. In der strukturell notwendig und zeitlich drängend gewordenen Deutungsarbeit sind die Stellungnahmen der Akteure »das komplexe Produkt einerseits dispositioneller und positioneller, über eine lange Zeit bei relativer Trägheit des Feldes eingeschriebener Logiken wie andererseits extrem fluider Situationslogiken«.179 In der symbolischen ›Deutungsarbeit‹ der fragwürdig gewordenen Ordnung treten also kurzfristige Neuorientierungen in Beziehung zum feldgeschichtlich angesammelten Vorrat an »präformierten Bedeutungen« 180 des Literarischen. Der Einbruch kurzer Verzeitlichungslogiken und ihre Außerkraftsetzung der Intelligibilität als oberstes Legitimationsprinzip der im Feld geltenden Ordnung übersetzte sich auch in die Ausprägung neuer literarischer Verfahren der Beschleunigung, der horizontalen Verknüpfung und neuer ästhetischer Kurzformen wie etwa der »Snapshot«-Gedichte Brinkmanns, der rhythmisiert-wiederholenden, versatzstückhaften Sprechstücke Handkes oder der sub- und ›ethnopoetische‹ Prosa Hubert Fichtes.181 Die »Soziohistorie der kurzen Zeit« mündete schließlich in eine Reintegration der ereignishaften Verhandlung des Revolutionären in die langfristige Verzeitlichungslogik des Feldes.182 Die durch die Reintegration erfolgte Restrukturierung des literarischen Feldes lässt sich dann für die neunziger Jahre anhand der Dynamisierung und Expansion des ökonomisierten Mittelbereichs, der Ausdifferenzierung des nobilitierten Sektors und der Entwicklung des Avantgardekanals weiter verfolgen.183
179 Gobille: Literarisches Feld und politische Krise, S. 176. 180 Ebd., S. 175, mit Bezug auf Michel Dobry: Sociologie des crises politiques: la dynamique des mobilisations multisectorielles. Paris 1986, S. 202. 181 Vgl. dazu unten den Abschnitt: Die geschrumpfte Tradition und die Verlagerung der Innovationslogik in die Horizontale. 182 »Eine solche Soziohistorie der kurzen Zeit ermöglicht es zu zeigen, wie sich in einer kritischen Konjunktur von kurzer Dauer das Feld – ein strukturierter und gewöhnlich (relativ) stabiler Raum in Bezug auf Positionen und Legitimitäten – abrupt verzeitlicht und unter der Einwirkung der teilweise autonomen Dynamik und Bedeutung der Ereignisse neu konfiguriert. Ebenso ermöglicht sie es auch ans Licht zu bringen, wie sich das literarische Feld umgekehrt im Ereignis behauptet, und zwar dadurch, dass Akteure mit ihrem Habitus – unter dem Risiko der Allodoxie – vorlieb nehmen, um eine inintelligible Situation in den Griff zu bekommen « (Gobille: Literarisches Feld und politische Krise, S. 175, mit Bezug auf Dobry: Sociologie des crises politiques, S. 240 ff.). 183 Siehe dazu unten die Studien im Zweiten Teil.
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Politisch-literarische Reproblematisierungen des autonomen Subfeldes Die von der Studentenbewegung ausgelösten revolutionären Reproblematisierungen der literarischen Feld-Ordnung haben weitaus weniger auf das Subfeld der Massenproduktion als auf das Subfeld der eingeschränkten Produktion und hier insbesondere auf die Formationen der neuen Avantgarde-Tendenzen eingewirkt. Der Verlust des ›Sinns‹, das wachsende Bewusstsein für den Anachronismus des herrschenden literarischen nomos und seiner doxa, wird in der Regel als erstes im Umfeld der Avantgarde wahrgenommen. Traditionellerweise – zumindest seit den Anfängen der dadaistischen und surrealistischen Bewegung – entstehen hier die neuen ›Formeln‹ symbolischer Leitideen in der Verbindung einer ästhetischen Radikalität mit einer politischen.184 So wurden der Aufstieg und die dominante Stellung der Gruppe 47 als erstes durch »›Avantgardeproduzenten‹« in Frage gestellt, »welche als überkommen angesehene Standpunkte zu überholen und die Geschichte des Feldes hinter sich zu lassen erstreben«.185 Einer der ersten, der das politische Engagement der ›nonkonformistischen‹ Literatur grundsätzlich und mit Autorität in Frage stellte konnte, war der gruppeninterne Kritiker Enzensberger, der selbst – wie skizziert – bestrebt war, die Avantgarde zu kanalisieren und in eine gemäßigte Modernisierung umzuleiten. Er erkannte deutlich die literarische Kompromissstellung der Gruppe 47 in Homologie zur Oppositionsstellung der SPD im politischen Feld, die sich in dieser Zeit auch in einer direkten Partei-Unterstützung durch Schriftsteller wie Grass, Walser und Richter ausdrückte. Diese interne Opposition war aber in Enzensbergers Augen spätestens mit der Bildung des neuen ›Machtkartells‹ der Großen Koalition (1966–1969) zum Scheitern verurteilt.186 So erfasste die Krise der Linken und die Bildung einer »Neuen Linken« auch die politische Orientierung der Schriftsteller. Politisch gesehen lassen sich Grass und Walser der »Alten Linken« zuordnen, während Enzensberger zum Wortführer der sich formierenden »Neuen Linken« wurde.187 Grass sah es als seine Pflicht an, den ersten aussichtsreichen Versuch einer Demokratie in Deutschland gegen einen Links- und Rechtsradikalismus zu verteidigen. Der außerparlamentarischen Mobilisierung gegen die Notstandsgesetze setzte er einen Aufruf zur Gründung eines politischen Arbeitskreises zur Bildung einer innerparlamentarischen Opposition entgegen (vgl.
184 Vgl. Gobille: Literarisches Feld und politische Krise, S. 177, mit Bezug auf Niilo Kauppi: Tel Quel: la constitution sociale d’une avant-garde. Helsinki 1990. 185 Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 209 mit Bezug auf Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 384 f. 186 Vgl. Hans Magnus Enzensberger: Klare Entscheidungen und trübe Aussichten [1967]. In: Joachim Schickel (Hg.): Über Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1970, S. 225–232. 187 Vgl. hierzu Gilcher-Holtey: Was kann Literatur; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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219). Seit 1961 schrieb Grass Reden für Willi Brandt. Der Ruhm der Blechtrommel verlieh seinem Engagement für die SPD Gewicht. Wie Höllerer war er in das Netzwerk der Eliten Berlins eingebunden, Enzensberger zunehmend in das Netzwerk der Gegeneliten. Grass blieb als ›gelernter Sozialdemokrat‹ aufgrund dieser Bindungen bei der ›Alten Linken‹, dagegen wandte sich Enzensberger, der weniger in Berlin eingebunden war, aber insbesondere über das 1965 gegründete Kursbuch internationale Kontakte zu links-oppositionellen Kreisen in Europa knüpfen konnte, der Neuen Linken zu (vgl. 220).
Hinter den unterschiedlichen politischen Positionsnahmen zu Tagesereignissen innerhalb der Gruppe 47 standen oft noch vergleichbare literarische Positionen, worin sich die strukturelle Trägheit, die relative Autonomie des literarischen Feldes zeigt. Jedoch bewirkten die Einflüsse politischer Ereignisse und Stellungnahmen mittelfristig auch eine Umstrukturierung des Raums der legitimen literarischen Positionen. So nahmen Enzensberger und Grass Anfang der sechziger Jahre noch vergleichbare aufstrebende Positionen im Mittelbereich ein.188 Dabei war Grass’ Autorposition, die hauptsächlich in der Prosa zum Ausdruck kam, eher nach dem nationalen Pol mit politisch-moralischer Bestimmung ausgerichtet, während sich der Lyriker Enzensberger eher nach dem internationalen, ästhetischen Pol orientierte. Letzterer wandelte seine Ausrichtung in dieser Zeit von einer klassischen Moderne zu einer ästhetischen Postmoderne (s. u., Fallstudie 1). Für Grass gab es eine Welt außerhalb der Sprache und diese Welt war mit den Mitteln der Sprache darzustellen. Sein literarisches Bestreben zielte darauf, »die Wirklichkeit einer ganzen Epoche, mit ihren Widersprüchen und Absurditäten in ihrer kleinbürgerlichen Enge und mit ihrem überdimensionalen Verbrechen, in literarischer Form darzustellen«.189 Er suchte »nach stilistischen Möglichkeiten, um von meinem Beruf als Schriftsteller her die Vergangenheit lebendig zu erhalten, damit sie nicht historisch abgelegt« werde.190 Literatur hatte für ihn die Aufgabe, das Verbrechen »ans Tageslicht« bringen.191 Schließlich gab es bei ihm auch eine
188 »Zweifellos gehörten beide Autoren dem ›dominierenden Pol‹ innerhalb des literarischen Feldes an. [...] Die Positionen von Grass und Enzensberger im literarischen Feld waren nah, ihre Stellungnahmen dennoch unterschiedlich. Beide verfügten über hohes symbolisches Kapital, beide waren, um nur ein Beispiel zu nennen, mit dem höchsten Literaturpreis der Bundesrepublik, dem Büchner-Preis der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, ausgezeichnet (Enzensberger im Jahr 1963, Grass in 1965). Beide konnten, ohne auf Nebenverdienste angewiesen zu sein, vom Schreiben leben« (ebd., S. 220). 189 Günter Grass über seine Danziger Trilogie. In: G. G.: Essays und Reden I: 1955–1969. Werkausgabe, Bd. 14. Hg. v. Volker Neuhaus u. Daniela Hermes. Göttingen 2007, S. 357; zit. n. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 217. 190 Günter Grass: Ein Reduzieren der Sprache auf Dinglichkeit hin [1965]. In: G. G.: Gespräche, Werkausgabe, Bd. 14, hg. v. Klaus Stallbaum. Darmstadt, Neuwied 1987, S. 7–15, hier S. 13 f.; zit. n. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 217. 191 Günter Grass: Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt a. M. 1990, S. 29.
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Entsprechung zwischen aufklärerischem Anliegen und literarischer Form: die des surreal-pikaresken europäischen Romans in der Blechtrommel, die »den Zweifel« literarisch durch eine Erzählperspektive betreibt, die dem Leser eine ironische Distanz ermöglicht.192
»Tod« und Überleben der Literatur mit traditionellem Universalanspruch Die Auseinandersetzungen über die Frage, welche Funktion Literatur in Zeiten einer zunehmenden Politisierung und Prekarisierung hat, ließ die latenten gruppeninternen und innerliterarischen Spannungen manifest werden. Diese wurden zunehmend öffentlich ausgetragen, so beim Treffen der Gruppe 47 in Princeton 1966, wo nicht nur Peter Handke seinen legendären Auftritt hatte, sondern – in dessen medialem Schatten – die offen politisierten, mit der amerikanischen, studentischen Anti-Vietnam-Kriegsbewegung solidarischen Autoren wie Reinhard Lettau und Peter Weiss symbolisch ausgeschlossen wurden (s. u., Fallstudie 1). Hier zeigte sich nochmals der Versuch, die für die repräsentative Mittelposition der Gruppe 47 konstitutive ›komplementär oppositionelle‹ Trennung von Literatur und Politik aufrecht zu erhalten, die im Falle von Weiss mit der (insbesondere von Grass betriebenen) politischen Diskreditierung auch die literarische nach sich zog. Auf der anderen Seite folgte beim Treffen in der Pulvermühle 1967 die Absetzung der Gruppe 47 vom Amt der stellvertretenden, ›nonkonformistischen‹ Kritik symbolisch durch die Schmähung als »Dichter«. Die Studenten skandierten das, was längst strukturell vorgezeichnet war: die grundlegende Infragestellung einer im kapitalistischen und nationalstaatlichen System angekommenen, ›etablierten‹ Literatur als eine unzureichende Form gesellschaftlicher Kritik. Die Kritik Enzensbergers an der Gruppe 47, sie unterliege einer sowohl literarischen als auch politischen Selbsttäuschung, riss die für sie konstitutive Trennung zwischen Literatur und Politik letztlich ein. Sie gipfelte in der berühmten Aussage im 15. Kursbuch von 1968: »Wer Literatur als Kunst« mache, sei »damit nicht widerlegt«, könne aber »auch nicht mehr gerechtfertigt werden«.193 Es folgte die Proklamation des sogenannten »Endes der Literatur«,194 die im Kern Enzensbergers Skepsis gegenüber dem subversiven, gesellschaftskritischen oder utopischen Potenzial von Literatur artikulierte.195
192 Vgl. Grass: Essays und Reden I, S. 358; zit. n. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 218. 193 Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 195. 194 Vgl. dazu das Kursbuch 15 (1968), insbesondere die Beiträge von Karl Markus Michel (»Ein Kranz für die Literatur. Fünf Variationen über eine These«, S. 169–186) und Enzensberger (»Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend«, S. 187–197); vgl. dazu auch Vogt: Gestörte Beziehung. 195 Vgl. Enzensberger: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend, S. 193.
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Die Ausrufung des »Endes« oder »Todes« der Literatur steht feldanalytisch für die zeitgenössische Tendenz, den Autonomiestatus der Literatur, d. h. die ›Leitwährung‹ eines autonomen literarischen Kapitals in Frage zu stellen. Durch die direkte Konfrontation mit der Dynamik im politischen Raum wurde versucht, die langfristig, die gesamte Feldgeschichte hindurch akkumulierte ›Leitwährung‹ des literarischen Kapitals in einen direkten politisch-engagierten Wert zu konvertieren. Es ging also um die Einsetzung eines kurzzeitig angelegten, ›politisch-kulturrevolutionäres Kapitals‹, das nach der Vorstellung der Neuen Linken im Gegensatz zur DDR nicht parteizentralistisch-staatlich, sondern aktionistisch-partisanenhaft vom kollektiven Subjekt auszugehen hatte.196 Andere Schriftsteller der ›Alten Linken‹, wie Martin Walser, wandten sich im Kontext der Demobilisierung der »Außerparlamentarischen Opposition« (APO) kurzfristig der DKP zu. Im Unterschied zu Enzensberger, Rolf Schneider und anderen gab er in den Jahren 1965–1969 seine Schreib-Praxis nicht auf, sondern schrieb vielmehr an seiner Anselm-Kristlein-Trilogie (1960– 73). Komplementär zum Konflikt zwischen Enzensberger und dem vermeintlich marxistischdoktrinären Weiss, der sich im Kern um die Alternative zwischen einer bekenntnishaften Positionierung und einer »großen Weigerung« (Marcuse), d. h. um eine ›eigensinnige‹, flexibilisierte Autorposition drehte (s. u., Fallstudie 1), distanzierte sich Walser Ende der sechziger Jahre von der »subjektiven Wurzel«, von der Bestimmung der Literatur als ›individuelle Erfahrung‹ in den von Handke vertretenden Positionsnahmen. Für ihn drückte dagegen Literatur kollektive Erfahrungen aus.197 Er definierte Schreiben als ein Handeln und trat für eine dokumentarische Literatur der Arbeitswelt, für ein »kollektives Schreiben« von Arbeitern198 und für eine Veränderung des Autor-Leser-Verhältnisses ein. Damit gab Walser – wie auch Enzensberger – zeitweilig die Trennung von Literatur und Politik auf, wobei sich seine literarische Praxis nicht änderte. So konnte sie nach der Krisenzeit wieder in den oberen Sektor einer Literatur der ›langen Zeit‹ mit traditionellem Universalanspruch münden. Entsprechend näherten sich Grass und Walser nach der Auflösung der APO wieder an. Literarisch konvergierten ihre Positionen wieder zunehmend in der Weiterführung des (national-)repräsentativen Universalanspruches der Literatur der Gruppe 47 – allerdings unter den Bedingungen einer wachsenden medialen Konkurrenz der Öffentlichkeit, die die Beziehung von ›Werk‹ und ›Autor‹, d. h. die Spannungen zwischen Selbst- und Fremdzuschreibungen der Literatur und der Autorpositionen, veränderte.199
196 Folgendes nach Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 216–223. 197 »Also die Kunst hat keine subjektive Wurzel. Erfahrungen machen alle; erleiden alle« (Martin Walser: Wie und wovon handelt Literatur [1973]. In: M. W.: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte. Frankfurt a. M. 1997, S. 394–411, hier S. 406; vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 222). 198 Vgl. Martin Walser: Berichte aus der Klassengesellschaft (Vorwort zu Erika Runge: Bottroper Protokolle [1968]). In: Ansichten, Einsichten, S. 277–280; M. W.: Wie und wovon handelt Literatur, ebd., S. 408; vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 222. 199 Vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 223; zur weiteren Entwicklung der Laufbahnen von Grass und Walser siehe unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1.
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Böll,200 Grass, Walser und andere konnten nach der ereignishaften Politisierung, d. h. nach der dynamischen Verzeitlichung der Feldordnung und nach der Wiedereinsetzung des langfristigen nomos, in unterschiedlicher Weise die »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« erfolgreich besetzen und verteidigen. Dieser Legitimationsbereich verschränkte sich mit der zivilisationskritisch ausgerichteten literarischen Öffentlichkeit ›zweiter Ordnung‹ in der DDR.201 Nach dem Intermezzo der ›Kulturrevolution 1968‹ hatte sich allerdings die universale Legitimitätssphäre in einen Sektor transformiert, der fortan lediglich den Anspruch auf universelle Anerkennung stellen konnte. Dieser Anspruch wurde im Übergang zu den siebziger und achtziger Jahren mit wachsendem Erfolg in Frage gestellt, indem eben jene neue, ›zweite‹ Öffentlichkeit als dynamische populärkulturelle de facto-Repräsentanz expandierte. Dies gibt Anlass, nochmals auf Enzensbergers ›Todeserklärung‹ für die Literatur von 1968 zurückzukommen: »Wer Literatur als Kunst macht, ist damit nicht widerlegt, er kann aber auch nicht mehr gerechtfertigt werden«, hatte Enzensberger geschrieben. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich hier eine Ambivalenz: Einerseits sprach Enzensberger nur Büchern wie Günter Wallraffs sozialkritischen Reportagen, den politischen Reisebeschreibungen über Vietnam oder Ulrike Meinhofs Kolumnen in der Zeitschrift Konkret eine triftige soziale Funktion zu. Indem er nur ein solches politisiertes, operatives Schreiben als ›Praxis‹ anerkannte, schützte er andererseits auch indirekt die ›hohe Literatur‹ als poetisches, autonomes Reservat.202 Denn wenn nur die ›politisch alphabetisierende‹ schriftstellerische ›Praxis‹ eine gesellschaftliche Funktionhat und die Literatur als Kunst dagegen ›funktionslos‹ ist, wird deren Geltungsbereich indirekt zum autonomen erklärt. In der berühmten ›Todeserklärung‹ Enzensbergers verbarg sich also eine versteckte Bekräftigung der Zweiteilung zwischen einer kunstautonomen und einer direkt gesellschaftsrelevanten, operativen Literatur – selbstverständlich mit der grundlegenden Umwertung der Rechtfertigungsordnung, die sich aber tendenziell wieder umkehren ließ. Denn dieses zwar zeitweilig nicht gerechtfertigte, aber grundsätzlich auch nicht zu widerlegende Reservat der autonomen Literatur ›überlebte‹: sowohl bei den Schrift-
200 Böll zog sich von der (Selbst-)Vermarktung der Gruppe 47 in den sechziger Jahren zunehmend zurück. Er verfolgte dagegen die Internationalisierung seines politischen Engagements und in seinen Werken widmete er sich aktuellen Themen. Die Verlorene Ehre der Katharina Blum (1974) kann mit Bogdal als letztes literarisches Ereignis mit einer gesamtgesellschaftlichen Relevanz verstanden werden (vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 19). 201 Siehe hierzu unten: Erster Teil, II. 2.2. 202 Vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 250.
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stellern der ›Alten Linken‹ in einer Sphäre mit traditionellem Anspruch auf universale Geltung203 als auch bei den Autoren der Neuen Linken, die den ›langen Weg‹ der Gegenwartsliteratur durch die Politisierung, Ökonomisierung und Medialisierung antraten und verschiedene neue Formen eines Universalanspruches ausprägten.
Fallstudie 1: Strukturelle (Un-)Zugehörigkeit. Die Konkurrenz der Autorpositionen von Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss Die Autorpositionen von Hans Magnus Enzensberger und Peter Weiss gerieten Mitte der sechziger Jahre strukturell in eine Konkurrenz zueinander. Im Folgenden soll anhand der Kursbuch-Kontroverse gezeigt werden, dass es dabei um die gesellschaftliche Stellung des Autors als Intellektueller und um die sowohl politische wie auch literarische Internationalisierung ging. Sie hatte außerdem für die Feldentwicklung eine symptomatische Bedeutung, da die eine Position (von Enzensberger) vom Strukturwandel getragen und die andere (von Weiss) zu einer feldstrukturell ›unzugehörigen‹ Position wurde.204
Die Kursbuch-Kontroverse Die zweite Ausgabe des Kursbuches vom August 1965 widmete sich der Diskussion über den Unabhängigkeitskampf der Länder der »Dritten Welt« und machte diesen erstmals einem größeren Publikum zugänglich,205 was später als »Anfang einer neuen Linken in der Bundesrepublik« gedeutet wurde.206 Darin findet sich zugleich der Auslöser einer unerwarteten Kontroverse zwischen Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger: unerwartet, konnte man doch beiden Autoren bis zu diesem Zeitpunkt eine vergleichbare Position innerhalb beziehungsweise am Rande der Gruppe 47 als ›junge Rebellen‹ und ›kritische Modernisierer‹ zuordnen.
203 Vgl. unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1. 204 Vgl. zum Folgenden Heribert Tommek: Literarisches Kapital und die Aufteilung der Welt. Ein symptomatischer Konflikt zwischen Peter Weiss und Hans Magnus Enzensberger. In: Amann, Mein, Parr (Hg.): Globalisierung und Gegenwartsliteratur, S. 41–70. 205 Neben Enzensbergers Aufsatz »Europäische Peripherie« enthielt das Kursbuch 2 u. a. Beiträge von Frantz Fanon (»Von der Gewalt«), Carlos Fuentes (»Rede an die Bürger der USA«) und Fidel Castro (»Rede vor den Vereinten Nationen«); vgl. dazu auch Rüdiger Sareika: Die Dritte Welt in der westdeutschen Literatur der sechziger Jahre. Frankfurt a. M. 1973, S. 66–71. 206 Peter Hamm: Opposition – Am Beispiel H. M. Enzensberger. In: Schickel (Hg.): Über Hans Magnus Enzensberger, S. 252–262, hier S. 254 f.
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In dem Essay »Europäische Peripherie« nimmt Enzensberger eine Neuvermessung der Antagonismen der politischen Welt vor: Die Probleme Europas rückten an die Peripherie, während die eigentlichen Konflikte der Welt in den Ländern der »Dritten Welt« ausgetragen würden. Mit dieser Neuvermessung des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie hänge die Auflösung des Antagonismus zwischen Kapitalismus und Kommunismus und die Verabschiedung der Idee vom internationalen Klassenkampf zusammen. Ein gemeinsames Klassenbewusstsein der Bewohner der ›armen‹ und der ›reichen‹ Länder sei eine Illusion.207 Stattdessen seien die neuen Konfliktlinien der Welt von einem unüberbrückbaren Graben zwischen den ›reichen‹ und den ›armen‹ Ländern geprägt. Damit war Enzensberger einer der ersten, der in der deutschsprachigen Öffentlichkeit die These einer Verschiebung vom Ost-West- zum Nord-Süd-Konflikt vertrat.208 In der neuen politischen Vermessung der Welt stehen »[j]enseits der Demarkationslinie also Kolonien, Ex-Kolonien, koloniale Überreste und Enklaven; diesseits die Metropolen«.209
Auf Enzensbergers essayistisch und zugleich apodiktisch formulierte Neueinteilung der Welt in ein »Wir« (die Reichen) und ein »Die« (die Armen) und auf die grundsätzliche Infragestellung einer internationalen Solidarität hatte Weiss mit einer heftigen Kritik reagiert. Veröffentlicht wurde sie zusammen mit Enzensbergers Replik in der 6. Ausgabe des Kursbuches von 1966, die den Vietnam-Krieg und den Kolonialismus als Themenschwerpunkte hatte. Enzensbergers strikte geopolitische Trennung zwischen einer (südlichen) armen und einer (nördlichen) reichen Welt als neue »Achse der Weltpolitik« ist für Weiss eine imaginäre, oder genauer: eine von den Reichen gemachte, die ihren Interessen diene. Die reale Trennungslinie verlaufe stattdessen weiterhin zwischen den Klassen und den »verschiedenartigen Auffassungen von der gesellschaftlichen Ordnung«.210 Denn trotz Hochkonjunktur der westlichen Länder blieben doch »die gröbsten Klassenunterschiede weiterbestehen« 211 und diese soziale Realität der Ausbeutung bei »uns« stehe für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Solidarität mit den Unterdrückten in den Entwicklungsländern. Nicht nur die Klassenunterschiede, auch der Wohlstand in den westlichen kapitalistischen Ländern zeugten von einem direkten Zusammenhang mit den Ausgebeuteten der Welt. Zum Beleg machte Weiss konkrete Angaben über die Verflechtung der Wirtschaft in den Entwicklungsländern mit westdeutschen Industrien und
207 Enzensberger: »Europäische Peripherie«. In: Kursbuch 2 (1965), S. 170. Auch Weiss stellte später fest, dass die Arbeiter in den westlichen Ländern sich nicht mit den Ausgebeuteten der Länder der »Dritten Welt« solidarisieren, sondern »damit beschäftigt sind, die Normen der Bürgerlichkeit zu übernehmen« (Peter Weiss: »Vietnam!« [1966]. In: P. W.: Rapporte 2. Frankfurt a. M. 1971, S. 51–62, hier S. 62). 208 Ausgangspunkt ist für Enzensberger die Annahme einer Konvergenz, nach der zwischen der Sowjetunion, den USA und Europa größere Übereinstimmung herrsche als zwischen den hochentwickelten sozialistischen Ländern wie China (= »2. Welt«) und den ehemaligen Kolonien der »Dritten Welt« (vgl. Sareika: Die Dritte Welt, S. 68 f.). 209 Enzensberger: »Europäische Peripherie«, S. 162. 210 Peter Weiss: »Enzensbergers Illusionen«. In: Kursbuch 6 (1966), S. 165–170, hier S. 167. 211 Ebd.
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Banken.212 Daraus folgte für ihn, dass westliche Intellektuelle wie Enzensberger über diese Verflechtungen besser aufklären und im »sozialen Kampf« Stellung beziehen sollten.213
Es fiel nun Enzensberger nicht schwer, Weiss’ global angelegte Solidaritätserklärung und Aufforderung zur Stellungnahme in seiner Replik zu parieren, mehr noch: sie als doktrinär und sozialromantisch zu diskreditieren. Da Peter Weiss und andere mich auffordern, Farbe zu bekennen, so erwidere ich: Die diversen Seelen in ihrer und in meiner Brust sind weltpolitisch nicht von Interesse. Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idealist. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.214
Diese stakkatoartigen Abschlusssätze seiner Replik, die mit den rhetorischen Mitteln der confessio, argumentatio und dubitatio arbeiten,215 wiesen nicht nur seinen universalistisch und internationalistisch politisierten Kontrahenten in die Schranken, sie wiesen auch in die Zukunft, da sie ein flexibilisiertes Selbstverständnis eines Intellektuellen entwarfen, an dem sich in den siebziger Jahren eine neue kulturelle Linke und in den achtziger und neunziger Jahren darüber hinaus auch liberale und neoliberale Intellektuelle orientieren konnten.216 Die Diskreditierung der Position einer bekenntnishaften Stellungnahme von Weiss war zu diesem Zeitpunkt umso leichter, als sich dieser erst kurz zuvor, im Herbst 1965, mit seinen »10 Arbeitspunkten eines Schriftstellers« deutlich positioniert und angreifbar gemacht hatte, insbesondere mit seinem Bekenntnis: »Die Richtlinien des Sozialismus enthalten für mich die gültige Wahrheit«.217 Hier prallten also erstmals eine normativ-bekenntnishafte und eine flexibel-variable (und -normalistische)218 Autorposition aufeinander. Schließ212 Vgl. ebd., S. 168–170. 213 »Im Grunde ist es das gleiche, was dort hinten bei den Unbemittelten und was hier bei uns, die wir uns einen gewissen Lebensstandard angeeignet haben, geschieht. Wir befinden uns in dem gleichen sozialen Kampf« (ebd., S. 167). 214 Hans Magnus Enzensberger: Peter Weiss und die anderen. In: Ebd., S. 171–186, hier S. 176. 215 Vgl. Walter Hinderer: Ecce poeta rhetor: Vorgreifliche Bemerkungen über H. M. Enzensbergers Poesie und Prosa. In: Reinhold Grimm (Hg.): Hans Magnus Enzensberger. Frankfurt a. M. 1984, S. 189–203, hier S. 202. 216 Siehe hierzu ausführlich die Studie von Markus Joch: Bruderkämpfe. Zum Streit um den intellektuellen Habitus in den Fällen Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger. Heidelberg 2000, bes. S. 384–413 (»Enzensbergers Distinktionsgewinne«). 217 Peter Weiss: »10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt« [1965]. In: P. W.: Rapporte 2, S. 14–23. 218 Jürgen Link stellt Enzensbergers besondere Aufmerksamkeit für die »Normalität« heraus. Dessen anfängliche negative Bewertung habe sich nach dem »Traktat vom Trampeln« (Der
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lich ist der Ort dieser Auseinandersetzung signifikant, denn das Kursbuch, das zwischen 1965 und 1970 zu einem zentralen Organ für die 68er-Bewegung und für das Selbstverständnis der Neuen Linken wurde, trat maßgeblich für die Internationalisierung der literarisch-politischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik ein.219 1968, in einer Zeit, als sich die Positionen von Enzensberger und Weiss wieder annäherten,220 erklärten beide die Kontroverse ›offiziell‹ für erledigt. Während sie aber für Enzensberger nur eine unter vielen gewesen zu sein scheint, beschäftigte sie Weiss langfristig. Für ihn war dieser Konflikt zentral und führte zu Fragen, die die eigene soziale Identität und seine Stellung als Autor und Intellektueller in der Gesellschaft betrafen.221 Noch fünf Jahre nach dem Konflikt, 1970, hielt er in seinem Tagebuch Rekonvaleszenz fest: Die Meinung, daß wir nicht in getrennten Welten leben, sondern in einem einzigen politischen Wirkungsraum, und daß die Hypothese einer »reichen« und einer »armen« Welt nur denen dient, denen an der Erhaltung der Klassenunterschiede gelegen ist, hat sich mir nur bestärkt. Zwar hat sich die ökonomische Kluft zwischen »reichen« und »armen« Nationen vertieft, doch ist die Kluft zwischen Überfluß und Armut in den »reichen« Ländern ebenso angewachsen, wie auch die besitzenden Klassen in den zurückgebliebenen Ländern sich stärkten und das Elend der Hungernden noch größer wurde.222
Die ökonomische und politische Entwicklung in den siebziger und achtziger Jahren, die allmähliche Auflösung des Ost-West-Konflikts, der manifesten Klassenkonflikte und die zunehmende Entfernung der »Ersten« von der »Dritten Welt« schienen Enzensbergers Sicht Recht zu geben. Dagegen hielt Weiss beharrlich bis zu seinem Lebensende am »Prinzip des gegenwärtig kaum sichtbaren Proletarischen Internationalismus« fest.223 Was bedeutete dies aber für die Entwicklung ihrer Autorpositionen im literarischen Feld?
Spiegel, 14. 6. 1976) in eine positive umgekehrt: in eine zunehmende Affirmation des flexiblen Normalismus, insbesondere in Der Untergang der Titanic (1978) und im Titel-Essay des Bandes Mittelmaß und Wahn (1988) (vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 34–49). 219 Vgl. Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68. Berlin 2011. 220 So setzt sich Enzensberger in den »Berliner Gemeinplätzen« für Analysen zu einer »nüchterne[n] Vermittlung zwischen den Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und der politischen Aktion in den Metropolen« ein (in: Kursbuch 11 [1968], S. 151–169, hier S. 160). Allerdings ist auch diese Aussage gegen eine direkte Identifikation mit dem Befreiungskampf in der »Dritten Welt« gerichtet, womit auch Weiss angesprochen ist: »Wer die Erfahrungen der Guerillas ignoriert, ist ein Reaktionär; wer sie unbesehen kopieren möchte, ist ein Illusionist« (ebd.). 221 Vgl. z. B. seine Notizbücher 1971–1980 [= NB 2]. Frankfurt a. M. 1981, S. 709 f. (Eintrag v. 25. 5. 1978) u. S. 740–742 (Eintrag v. 18. 9. 1978). 222 Peter Weiss: Rekonvaleszenz. Frankfurt a. M. 1991, S. 190 f. 223 Ebd., S. 192.
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Weiss und Enzensberger standen für eine interne Opposition zur Gruppe 47 – wobei Weiss im Unterschied zu Enzensberger nicht zum engeren Kreis der Gruppe gehörte, da er letztlich als (jüdischer) ›ortloser Exilschriftsteller‹ galt und von Anfang an eine latente Ausgrenzung erfuhr. In Weiss’ retrospektiver Schilderung seiner ersten Teilnahme an einem Treffen der Gruppe 47 zeichnen sich bereits die Bruchlinien ab, die sich im Verlauf der nächsten Jahre deutlicher ausprägten: 1962 wurde ich zum ersten Mal von Hans Werner Richter eingeladen, an der Tagung der Gruppe 47 teilzunehmen. [...] Ich geriet in eine Versammlung, in der es schwirrte von Rankünen, Eifersüchten, Rivalitäten, Machtkämpfen, Kulturpolitik. Wenn Literatur beurteilt werden sollte, so geschah dies vor allem mit der Absicht, Tendenzen, Richtungsverläufe festzustellen, und dahinter standen Instanzen, die nach Marktwerten suchten. Für mich bedeutete die Einladung eine Anerkennung meiner literarischen Arbeit, ich kam mit großen Erwartungen, eigentlich zum ersten Mal mein künstlerisches Exil verlassend, in den Kreis von Kollegen tretend. Doch ich fand nicht Vertreter eines einheitlichen Interesses, nämlich an der vorbehaltlosen Diskussion unsres Handwerks, sondern eben Gruppenbildungen. Um Grass scharte sich ein Kreis. Andre sammelten sich um Enzensberger, um Walser. Mit Höllerer, der das Manuskript des Kutschers »entdeckt« und an den Suhrkamp Verlag gebracht hatte, mit Alfred Andersch und einigen andern stellte sich eine freundschaftliche Beziehung her, Enzensberger, der sich im Verlag für mich eingesetzt hatte, verhielt sich indessen, hier zwischen seinen Verbündeten, kühl. Ich wurde aufgefordert, aus meinem eben abgeschlossnen Gespräch der drei Gehenden vorzulesen. Enzensberger hatte dieser Text gefallen, ich glaube, er beurteilte ihn positiv. Grass jedoch mochte ihn nicht. Er fand, der Autor verhöhne seine Figuren, mache sich lustig über sie. Er nannte den Text amoralisch, antihumanistisch.224
Die hier geschilderten Spannungen lassen sich symptomatisch als strukturelle Spannungen innerhalb des äußerlich noch relativ homogenen, unterschwellig aber schon recht divergierenden literarischen Kräftefeldes deuten. Offenkundig ist das Herausfallen der experimentell-avantgardistischen Position von Weiss nach dem Maßstab einer moralisch-politischen Bestimmung des dominanten Literaturverständnisses der Gruppe 47, wie es von Grass rigide vertreten wurde.225 224 NB 2, S. 730. 225 Hinter dieser moralisch-politischen Oppositionsstellung als ›Gewissen der Nation‹ stand eine positionelle Konkurrenz zwischen Grass und Weiss um grundsätzlich verschiedene literarische Konzepte. Längerfristig gesehen drehte sich die Konkurrenz um die Frage nach der legitimen Darstellung deutscher Geschichte. Weiss’ Ansatz in der Ästhetik des Widerstands ist insofern radikaler als Grass’ Angriff auf das saturierte Wirtschaftswunderland in seiner Danziger Trilogie, als er in der Perspektive eines anderen Deutschland jenseits von West- und Ostintegration schrieb: eines niemals realisierten antifaschistischen Nachkriegsdeutschland, für deren Möglichkeit Leute wie Wehner und Brandt standen (vgl. NB 2, S. 79–81, S. 688 f.; u. Karl-Heinz Götze: Abseits als Zentrum. Die »Ästhetik des Widerstandes« in der deutschen Gegenwartslite-
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Aus Weiss’ Beschreibung des Treffens der Gruppe 47 im Jahre 1962 wird deutlich, dass sich auch Enzensberger tendenziell von Grassʼ moralisch-politisch argumentierender Position abgrenzte, er sich aber undurchsichtiger als Weiss verhielt.226 Ein solch undurchsichtiges, strategisches Verhalten wird Weiss in einer späteren Tagebuch-Notiz als charakteristische Eigenschaft Enzensbergers reflektieren.227 Sie lässt sich als eine habituelle Disposition eines spezifischen sense for one’s place deuten,228 die mit der strukturellen Entwicklung des literarischen Feldes konvergierte und der normativ-bekenntnishaften proletarischen oder kommunistischen Ausrichtung von Weiss entgegenstand. Denn diese lässt sich noch vor ihrer konkreten politischen Bestimmung (die Sozialkritik der internationalen kapitalistischen Ausbeutung) als Grundüberzeugung verstehen, die von einem politischen Wirkungsraum ausgeht. Damit stellt sich für Weiss die Frage nach einer gesellschaftlichen ›Lagebestimmung‹, nach Ausgrenzung, Verstummen und Vereinzelung einerseits und Teilhabe, Kommunikation, Gemeinsamkeiten und Solidarität andererseits.229 In den divergierenden Positionen von Weiss und Enzensberger steckte bereits der Ansatz zur Abspaltung der Sozialkritik von der Künstlerkritik. Schließlich ging es in dem symptomatischen Konflikt um die Definitionshoheit und ›Besetzung‹ der politischen und ästhetischen Internationalisierung im literarischen Feld. Sowohl Enzensberger als auch Weiss traten Anfang der sechziger Jahre für eine Modernisierung des westdeutschen literarischen Feldes in Form seiner Internationalisierung ein.230 In dieser Hinsicht bestand eine große strukturelle
ratur. In: K.-H. G., Klaus R. Scherpe [Hg.]: Die Ästhetik des Widerstands lesen. Über Peter Weiss. Argument-Sonderband 75. Berlin 1981, S. 95–111, hier: S. 97 f.). 226 Vgl. NB 2, S. 731. 227 »Er ist ein Fechter, und sieht manchmal wie ein geängstigter kleiner Junge aus. Ich wollte ja nur immer wissen: wo stehst du. Aber grade das verachtete er ja, er verabscheute diese Bindungen, diese Lagebestimmungen, nach denen ich verlangte« (NB 2, S. 709; Eintrag v. 27. 5. 1978). »Immer dieses ungute Gefühl: man weiß nie, wo man ihn hat, aber das ist eben seine Stärke, daß niemand ihn kennt, er hält mir ja auch vor, daß ich mich allzu leicht zu erkennen gäbe« (ebd., S. 741; Eintrag v. 18. 9. 1978). 228 Vgl. Ludwig Fischer: Der fliegende Robert. Zu Hans Magnus Enzensbergers Ambitionen und Kapriolen. In: Christine Künzel, Jörg Schönert (Hg.): Autorinszenierungen. Autorschaft und literarisches Werk im Kontext der Medien. Würzburg 2007, S. 145–175, hier S. 166–168 (»Herstellung des Habitus«). 229 Vgl. auch folgenden Notizbuch-Eintrag von Weiss: »Kommunist zu sein, bedeutete für mich zunächst, jeden Gegenstand kritisch zu untersuchen u dann seine Lage u Bedeutung innerhalb größerer Zusammenhänge zu bestimmen. Nichts als gegeben anzusehen –« (NB 2, S. 173). 230 Vgl. für Enzensberger etwa Fischer: Der fliegende Robert, S. 160–166 (»Internationalisierung der Anerkennungsstrategie«).
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Lücke in der Nachkriegsliteratur. Alfred Anderschs Einführung seines jungen Rundfunkredakteurs als deutsches Pendant zu den englischen »angry young men« 231 und Enzensbergers frühe Rezensionen zu Werken der internationalen modernen Literatur232 verweisen darauf, dass die Anerkennungsstrategien von Anfang an auf Internationalisierung ausgerichtet waren.233 Schließlich gab Enzensberger 1960 das Museum der modernen Poesie heraus, eine Anthologie, in der er Gedichte von Autoren der klassischen europäischen Moderne aus mehr als zwanzig Ländern versammelte. In seinem Vorwort rechtfertigt er die Einrichtung dieses von ihm zusammengestellten »Museums« mit dem Hinweis auf die Geschichtlichkeit der modernen Poesie. Dabei versteht er sein Museum als handwerkliches »Atelier«, denn erst durch die Dialektik von »Destruktion und Rückgriff« lasse sich die historisch gewordene moderne Poesie als Mittel nutzen, um durch eine »Negation der Negation« eine ›neo-moderne‹ Dichtung zu schaffen.234 Den im Museum vertretenen Dichtern einer klassischen Moderne zwischen 1910 und 1945 schreibt er das Verdienst zu, eine »Weltsprache der modernen Poesie« geschaffen und »dem Begriff der Weltliteratur zu einer Leuchtkraft verholfen« zu haben.235 Ausschlaggebend sei die Freilegung des Besonderen durch die Überwindung der Grenzen der nationalen Literaturen.236 Gleichwohl räumt Enzensberger ein, dass »die zeitliche und räumliche Entfaltung der poetischen Welt-
231 Alfred Andersch: »I (in Worten: ein) zorniger junger Mann«. In: Frankfurter Hefte (Feb. 1958), S. 143–145 (auch in Grimm: Hans Magnus Enzensberger, S. 59–63). 232 Vgl. z. B. den Essay »Der Fall Pablo Neruda«, der den ästhetisch-modernistischen Dichter lobt, aber den politisch engagierten Neruda ablehnt (1955; wiederabgedruckt in Einzelheiten II, S. 92–112). 233 Vgl. Fischer: Der fliegende Robert, S. 155 f.; vgl. dazu auch Henning Marmulla: Hans Magnus Enzensberger et la question allemande. In: Joseph Jurt (Hg.): Champ littéraire et nation. Actes d’une rencontre du réseau ESSE. Pour un espace des sciences sociales européen à l’Université Albert Ludwig de Fribourg. Freiburg i. Br. 2007, S. 101–110. Marmulla sieht die Strategien der »dé-nationalisation sur trois niveaux de temps [...]: le travail du passé, voire de mémoire [vgl. den Essay »Über die Schwierigkeit, ein Inländer zu sein«; H. T.], la problématique d’une catastrophe nucléaire [vgl. »Reflexionen vor einem Glaskasten«; H. T.] et la redéfinition de la perception du monde social contemporain [vgl. »Europäische Peripherie«; H. T.]« (ebd., S. 102–105; die Essays finden sich in: Hans Magnus Enzensberger: Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik. Frankfurt a. M. 1967). 234 »Die Moderne Poesie, wie sie in diesem Buch erscheint, ist selbst ein Beispiel jener Wirkung, die es sich als ein Museum wünscht: [...] Die Weltliteratur war ihr Museum; sie hat es gekannt und genutzt. [...] Es hieß Revolte – aber es hieß auch intensives Studium der Meister, Annahme der Herausforderung, die von ihren Werken ausging, Resorption der Vergangenheit im Vorgang des Schreibens« (Museum der modernen Poesie, eingerichtet v. Hans Magnus Enzensberger [1960]. Frankfurt a. M. 1980, 2. Bde., hier Bd. 2, S. 768). 235 Ebd., S. 773. 236 »Die lingua franca, die durch dieses Buch belegt werden soll, hat ihre Größe gerade darin, daß sie sich dem Ausdruck des Besonderen nicht verschließt; daß sie vielmehr das Besondere aus der Bindung an die nationalen Literaturen befreit« (ebd.).
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sprache [...] mit der Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte überhaupt Schritt hält. Ihre Zentren sind mit den Zentren der technischen Zivilisation identisch«.237 Hier tauchen bereits die westlichen »Metropolen« auf, die Enzensberger in der Kursbuch-Kontroverse von der kolonialisierten Welt scharf trennen wird. Die lingua franca ist also nicht die Sprache der Welt, sondern die Sprache der Metropolen der westlichen klassischen Moderne. Diese Sprache ist durch die historischen Brüche wie Faschismus und Krieg tief erschüttert worden, jedoch nicht gänzlich verloren. Die Vorbereitung einer ›neo-modernen‹ Poesie, auf die hier Enzensberger als Herausgeber abzielt, zeigt sich insofern in Kontinuität zur klassischen modernen Dichtung, als ihnen beiden – mit Adorno – eine implizite Widerständigkeit in der ästhetischen Form der ›reinen Sprache‹ zugeschrieben wird, wodurch eine explizit engagierte Literatur abgelehnt werden kann.238 Schließlich zeigt sich die Weiterführung des Literaturkonzepts der klassischen Moderne darin, dass das Museum in seiner kompositorischen Anordnung subjektiv angelegt ist und keinen Anspruch auf ein objektives Zeitdokument erhebt.239 Die präsentierte Vermittlung einer literarischen Weltsprache folgt einem subjektiven und zugleich seine Subjektivität verneinenden Spiel, so dass sich »eine Gliederung in zehn Kapitel [ergab], zu denen [sich] die Texte gleichsam von selbst zusammenzuschließen schienen«.240
In dem von Adorno geprägten Begriff einer modernen, negativen Ästhetik, die dem direkten politischen Engagement entgegengesetzt und allein in der ästhetischen Formsprache widerständig ist, und im Konzept einer sich von selbst herstellenden literarischen »Weltsprache«241 zeigt sich Enzensbergers Eintreten für eine die klassische Moderne fortführende, avancierte Poesie. Die Position einer avancierten Poesie grenzt sich hier von einer avantgardistisch-experimentellen Position ab.242 In dem Aufsatz »Die Aporien der Avantgarde« von 1962 hat Enzensberger dann die Delegitimierung der Avantgarden-Position systematisiert. Die Diskreditierung der experimentellen Avantgardetendenzen stellte eine Positionsnahme innerhalb der Auseinandersetzungen um die Modernisierung und Internationalisierung des deutschen literarischen Feldes in
237 Ebd., S. 775. 238 »Daß das Gedicht keine Ware ist, dieser Satz ist keineswegs eine idealistische Phrase. Von Anfang an war die moderne Poesie darauf aus, es dem Gesetz des Marktes zu entziehen. Das Gedicht ist die Antiware schlechthin: Das war und ist der gesellschaftliche Sinn aller Theorien der poésie pure. Mit dieser Forderung verteidigt sie Dichtung überhaupt und behält recht gegen jedes allzu eilfertige Engagement, das sie ideologisch zu Markte tragen möchte« (ebd., S. 776 f.); vgl. auch »Poesie und Politik« (1962). In: H. M. E.: Einzelheiten II, S. 113–137. 239 Vgl. Museum der Poesie, S. 780. Die Dichter werden von Enzensberger – darin Pinthus’ Menschheitsdämmerung als Symphonie jüngster Dichtung von 1919 ähnlich – nach Motiven geordnet, verflochten, gleichsam ›komponiert‹. 240 Ebd., S. 782. 241 Zu beiden Konzepten ging Enzensberger im Nachwort späterer Neuausgaben auf Abstand (vgl. ebd., S. 785–787). 242 Siehe Enzensberger: Museum der modernen Poesie, S. 784; vgl. Fischer: Der fliegende Robert, S. 165; u. unten: Zweiter Teil, III. I.2.
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den sechziger Jahren dar. Dabei hatte Enzensberger als einer der ersten die Bedeutung der ›Bewusstseinsindustrie‹ für den kunstautonomen Bereich erkannt. Langfristig gesehen diente seine Grenzziehung gegenüber den neueren literarischen Tendenzen dem Avancieren der eigenen, ›eigensinnig‹-flexiblen Autorposition, die einzunehmen er im Begriff stand. Diese konvergierte zunehmend mit der Entwicklung des kulturellen Kapitalismus, wobei sie durch eine Doppelstrategie auf eine reflexive Durchdringung mit Aufmerksamkeitsgewinnen in der Essayistik und zugleich eine ästhetische Abgrenzung vom ökonomisierten Mittelbereich in der Lyrik achtete.243 Enzensbergers Abgrenzung von konkurrierenden Avantgardepositionen deuten auf den Versuch einer Umwertung oder Vereindeutigung des Avantgardepols hin zu einem Modernisierungspol einer avancierten Poesie innerhalb der Auseinandersetzung um den Anschluss an die internationalen Modernisierungen der ästhetischen Zeit. Damit einher ging der Anspruch auf eine legitime Erbfolge der klassisch-modernen Lyrik der deutschen, von Brecht und Benn repräsentierten Großstadtlyrik und der europäischen Metropolenliteratur in Form des Großgedichts eines Whitman, Pound und Eliot – abzulesen an der Art und Weise der Herausgabe des Museums der modernen Poesie (1960) und an seinem Nachwort. Das Bestreben, den Modernisierungspol im literarischen Feld der BRD als legitimes Erbe einer internationalen avanciert-modernen Poesie zu besetzen, war schließlich erfolgreich: 1963 erhielt Enzensberger als jüngster Preisträger den Büchner-Preis, wodurch er einen deutlichen symbolischen Aufstieg in Richtung einer ›arrivierten Avantgarde‹ erfuhr. In der Folge festigte er seine Lyrik einer ›klassischen Moderne zu Lebzeiten‹, die durch seine pointierte Essayistik zum Zeitgeschehen – insbesondere zur Bewusstseinsindustrie, d. h. zur Entwicklung des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs – iterativ den Anspruch bekräftigte, auf der Höhe der Zeit zu sein. Wie hielt sich aber Enzensberger am Pol einer ›avanciert-modernen‹ Literatur? Über einen Sinn für die Problematik des feldstrukturellen Alterns verfügend, erklärte er die internationale arrivierte Avantgarde der Moderne einerseits zum »Museum«, andererseits deutete er dieses um in ein »Atelier«. In diesem Zugleich von Rückgriff und Umdeutung zeigt sich Enzensbergers praktischer Sinn für die Reproduktionslogik des literarischen Feldes. Diese ist vom Wechselspiel zwischen »Orthodoxie« und »Häresie«, von der »Negation der Negation« und dem künstlerischen Altern durch die erfolgreiche Durchsetzung einer Differenz bestimmt.244 Mit dem Rückgriff auf die arrivierte Avantgarde
243 Vgl. hierzu Joch: Medien der Flexibilität, bes. S. 255 f. 244 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 235–259 (»Zwei Modi des Alterns«, »Epoche machen«, »Die Logik des Wandels«).
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der klassischen internationalen Moderne, die für ein langfristig akkumuliertes literarisches Kapital steht, und mit seiner permanent-beweglichen, ›häretischen Bewegung‹ entging Enzensberger dem feldstrukturellen ›Altern der Häresie‹ (s. u.). Hierin liegt eine Erklärung für seine sich erstmals Mitte der sechziger und dann insbesondere seit Mitte der siebziger Jahre ausprägende ambivalente Autorposition der ›permanenten Häresie‹,245 die sich im oberen Bereich der arrivierten Avantgarde im Austausch mit dem flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich durchsetzte. Geprägt vom praktischen Sinn für die permanente Gefährdung des Bildungsaufsteigers, reagierte Enzensberger mit einer Internationalisierung, die eine permanente Überbietungsbewegung in sich trägt. Dem von Bourdieu mit der feldspezifischen Reproduktionslogik erklärten Altern des arrivierten literarischen Kapitals (hier: der legitimierten Literatur der internationalen Moderne) begegnete er mit einer Flexibilisierung des Habitus und einer konsequenten Abwehr jeder Forderung nach normativ-verbindlicher Stellungnahme, mit der ihn Weiss im Kursbuch-Konflikt konfrontierte. Der Abgrenzung der westlichen Metropolen von den »Kolonien, Ex-Kolonien, koloniale[n] Überreste[n]« entsprach so die feldstrukturell begründete Abwehr einer festen, bekenntnishaften Positionsbestimmung und zugleich die Einnahme einer Position der ›riskanten Setzungen‹. Diese flexibel-normalistische Position der ›riskanten Setzungen‹ verfuhr gleichwohl apodiktisch, wodurch sich ein für Enzensberger charakteristischer ›Überrumpelungseffekt‹ einstellte.246 In ihm äußerte sich der (verneinte) Anspruch auf eine avancierte Definitionsgewalt sowohl im essayistisch-journalistischen wie auch im lyrischen Subfeld. Enzensbergers »Einnahme eines ›unmöglichen Ortes‹, an dem gültige Orthodoxie und unablässige Häresie in eins fallen«,247 und seinen mit dieser Position korrespondierenden ambivalenten habituellen Dispositionen entsprach nicht nur ein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland, sondern auch seine poetische Verfahrensweise, die sich mit der Wendung »Das Werden im Vergehen oder Das untergehende Vaterland« charakterisieren lässt.248 Damit ist eine der negativen Dialektik Adornos verpflichtete, wesentlich metonymisch (im Sinne Jakobsons und Lacans) verfahrende Lyrik gemeint, die auf eine Polyva-
245 Vgl. Joch: Bruderkämpfe, S. 410; u. Fischer: Der fliegende Robert, S. 173. 246 Vgl. Fischer: Der fliegende Robert, S. 163, Anm. 51. 247 Fischer: Der fliegende Robert, S. 175. 248 Rainer Nägele: Das Werden im Vergehen oder Das untergehende Vaterland: Zu Enzensbergers Poetik und poetischer Verfahrensweise. In: Grimm: Hans Magnus Enzensberger, S. 204–231; vgl. z. B. den Beginn von »Landessprache«: »Was habe ich hier verloren / in diesem Land«.
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lenz von sprachlichen und intellektuellen Bindungsmöglichkeiten, auf die unendliche Sprachbewegung einer ›Signifikatenflucht‹ zielt. Differenz und Distanz artikulierend, führt die poetische Sprache die Leere der Repräsentanz vor, wie etwa im Langgedicht »Schaum« des Gedichtbandes Landessprache von 1960.249 Dabei wird aber an referentiellen Verweisen auf die konkrete Lebenswelt festgehalten. Das metonymische Prinzip ›sprengt‹ zwar in der rhetorischen Sprachbewegung die Metapher, zugleich gründet sich aber Enzensbergers Lyrik konstitutiv auf einen Metapherngebrauch.250 So ist die metonymische Entgrenzung der Sprache rückgebunden an Metaphern und an ihre Funktion der repräsentativen Referenz.251 Die referentielle Rückbindung an die konkrete, politische Lebenswelt erinnert an Brechts Großstadtlyrik, jedoch liegt ein wichtiger Unterschied darin, dass Enzensbergers Lyrik die Tendenz zeigt, »nicht so sehr Erwartungen zu brechen als Erwartetes, Idiomatisches zu wiederholen«.252 Was schließlich die
249 Fischer erkennt in den Gedichten wie »Schaum« oder »Gewimmer und Firmament« den Versuch Enzensbergers, an die Langgedichte der internationalen klassischen Moderne etwa eines Whitman oder Pound anzuschließen. Nach dem Urteil Fischers scheitert aber dieses Bestreben aufgrund eines fehlenden ›langen Atems‹ der inneren Spannung (vgl. Fischer: Der fliegende Robert, S. 165). 250 Vgl. Nägele: Das Werden im Vergehen, S. 211. 251 »Schaum« fungiert im gleichnamigen Gedicht als unterschiedlich akzentuierter Bildspender, der sich auf verschiedene Bildempfänger der gesellschaftlichen Wirklichkeit (Westdeutschlands) in der Nachkriegszeit prädikativ bezieht. Insgesamt lässt er sich als metaphorischer Ausdruck für den allgemeinen Verblendungs- und Herrschaftszusammenhang im Sinne Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung verstehen (vgl. die erste Zeile: »Ich bin geblendet geboren, Schaum in den Augen«). Der Religionsphilosoph Klaus Heinrich griff auf die Schaum-Metapher Enzensbergers in seinem Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen zurück (1964). Wie für Enzensberger war für Heinrich »Schaum« noch eine nivellierende und negativ besetzte Metapher, die die deutsche Nachkriegsgesellschaft charakterisierte. Die Umwertung des »Nicht-Greifbaren« in eine affirmative Haltung der »Beweglichkeit« lässt sich in den folgenden Jahrzehnten bei Enzensberger selbst (z. B. in Zickzack [1997]), aber auch bei Peter Sloterdijk beobachten, der seinen dritten Sphären-Band (2004) sogar unter den Titel des »Schaums« als Metapher für eine affirmierte individualisierte Welt der »Beweglichkeit« stellte. 252 Nägele: Das Werden im Vergehen, S. 228. Fischer behauptet darüber hinaus, dass es Enzensbergers Lyrik an Rhythmus fehle im Sinne Brechts als ›gestischem Spannungsreichtum‹, der im Kontrast zur metrischen Durchformung entstehe. In Enzensbergers »Tendenz zu einem geschickt arrangierten ›Parlando‹ ohne deutliche innere Spannung (die Brecht als die Essenz von Rhythmisierung ansah)«, sieht Fischer eine »vorreflexive Verbindung« zu einem habituellen Problem bei Enzensberger, nämlich der »Negation des Körperlichen«. Diese Tendenz zur ›Entkörperlichung‹, wie sie in der Figur des »fliegenden Robert« sinnbildlich zum Ausdruck komme, erklärt Fischer mit Enzensbergers ›unmöglicher‹ Ortsbestimmung im Feld zwischen »gültige[r] Orthodoxie und unablässige[r] Häresie« (Fischer: Der fliegende Robert, S. 173–175). In der vorliegenden Studie wird dieser ›unmögliche Ort‹ der Autorposition Enzensbergers dage-
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Subjektposition angeht, so lässt sie sich mit einer Verszeile aus dem Gedicht »Landessprache« als »abwesend bin ich hier« umschreiben: Das Ich konstituiert sich in den Gedichten Enzensbergers als topologische und als herrschaftliche Kategorie. Es zeigt sich als Instanz einer kategorischen Ein- und Ausschließung,253 als Macht der rhetorischen Kontrolle, die sich im metonymischen Mäandern als eine ›unkontrollierte‹ produziert und inszeniert. Enzensbergers lyrisches Werk kann angesichts der metonymisch entgrenzenden, metaphorisch aber an Referenten der realen Welt rückgebundenen Verfahrensweise, die die erwarteten Konjunktionen nicht bricht, sondern in der Wiederholung als brüchige darstellt und schließlich auf eine negative, sich aber über das souveräne Arrangement konstituierende Subjektposition rekurriert, als avancierter Brückenkopf zwischen einer klassisch-modernen und einer postmodernen Literatur der Künstlerkritik gedeutet werden. Hier wird Rimbauds »Je est un autre« als strukturgestützte ›Position der Positionslosigkeit‹ allgemein möglich. So lässt sich der Aufstieg Enzensbergers und seiner Autorposition zusammenfassend als struktur-, sprach- und subjektgestützte, als eine territorialisierte Deterritorialisierung deuten.254 Diese positionsreflexive ›Entgrenzung‹ des deutschen literarischen Feldes wurde zunehmend institutionell integriert und legitimiert. Enzensbergers erfolgreicher Entgrenzung und Internationalisierung im Zeichen einer flexibilisierten und dennoch territorialisierten Autorposition steht die Entwicklung der Autorposition von Peter Weiss entgegen. Auch seine Laufbahn war in den 1960 er Jahren von einem symbolischen Aufstieg geprägt, jedoch in anderer Weise.255 Der Eintritt ins deutsche literarische Feld gelang erst 1960 mit dem von Walter Höllerer an den Suhrkamp Verlag vermittelten »Mikroroman« Der Schatten des Körpers des Kutschers (bereits 1952 geschrieben), der von den sprachexperimentellen Einflüssen des französischen Surrealismus und Nouveau Roman geprägt war. Dessen Beschreibungsästhetik wurde wegweisend für Autoren wie Johnson oder Handke, die jeweils auf ihre Weise den Bereich des literarisch Möglichen erweiterten. Grass bremste dann den avantgardistisch-experimentierenden späten Aufsteiger Weiss mit seiner moralisch-
gen als eine im Zuge der Ökonomisierung des literarischen Feldes und der Durchsetzung des ›neuen Geistes des Kapitalismus‹ möglich und sogar dominant gewordenen Position der Künstlerkritik gedeutet, der im politischen Raum die Entstehung einer Neuen Linken entspricht. 253 Vgl. Nägele: Das Werden im Vergehen, S. 218 f. 254 Vgl. zur Dialektik von Territorialisierung, Deterritorialisierung und Reterritorialisierung innerhalb der Entwicklung des Kapitalismus Gilles Deleuze, Félix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie. Frankfurt a. M. 1972, S. 332–337. 255 Vgl. zum Folgenden Heribert Tommek: Peter Weiss im literarischen Feld der sechziger Jahre. In: Achim Geisenhanslüke, Michael Hehl (Hg.): Poetik im technischen Zeitalter. Walter Höllerer und die Entstehung des modernen Literaturbetriebs. Bielefeld 2013, S. 123–151.
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politisch argumentierenden Ablehnung des Gesprächs der drei Gehenden (1963) aus. Dagegen hatte Enzensberger gerade diesen und den Kutscher-Text geschätzt, während er den späteren politisch-engagierten Werken von Weiss mit Ablehnung begegnete.256 Weiss’ Studien zum avantgardistischen Film, die schon Ende der vierziger Jahre in Paris und Stockholm entstanden waren,257 kann man als Pendant zu Enzensbergers Anthologie des Museums der modernen Poesie sehen. Während aber dieser die Avantgarde zum »Museum« und zum subjektiv arrangierten »Baukasten« für eine neue avancierte Poesie erklärte, hielt Weiss am Prinzip der französischen und internationalen ästhetischpolitischen Avantgarde des Surrealismus fest und forderte ihre Weiterentwicklung.258 Allerdings musste er schon in seinem Pariser Journal von 1963/64 ihr Scheitern im Kulturbetrieb feststellen.259 Abschied von den Eltern (1961) und Fluchtpunkt (1962) sind Reflexionen über die eigene Entwicklung und problematische Stellung, über die biografische und künstlerische Unzugehörigkeit. Beide Texte stehen für eine Suche nach einer neuen Sprache und Identität und beinhalten Ansätze einer politisierten Hinwendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit dem Marat/SadeStück (1964) gelang Weiss schließlich der internationale Durchbruch. Bis Ende April 1964 wurde es an über dreißig Theatern in zweiundzwanzig Ländern inszeniert. Weiss galt damit international als ein führender Dramatiker der Gegenwart, der als erster ›deutscher‹ Autor seit Brecht wieder einen weltweiten
256 Vgl. NB 2, S. 740 f. (Eintrag v. 18. 9. 1978). 257 Peter Weiss: Avantgarde Film [1959]. Frankfurt a. M. 1995. 258 »Damals, zu Anfang und Mitte der Zwanzigerjahre, war die Kunst angriffslustig. Der Maler, die Filmpoeten waren Revolteure. Sie glaubten an eine Veränderung der Gesellschaftsordnung. Und sie haben doch die politischen Schiebereien und den Krieg nicht abwehren können. [...] Diese avantgardistischen Arbeiten aus dem Film, der Malerei, der Literatur, haben die Katastrophe überlebt. Sie bilden keinen Abschluß, sondern stehen immer noch an einem Anfang. Sie lassen sich weiterentwickeln, fortsetzen. Je konformistischer die äußere Ordnung wird, desto lebendiger wird diese respektlose, aufwieglerische Kunst. Wir brauchen wieder gewaltsame künstlerische Handlungen – in unserem satten, zufriedenen Schlafzustand!« (P. W.: Avantgarde Film. In: Rapporte, S. 16 f.; erstmals auf Deutsch in: Akzente 2 [1963]). 259 Über eine Ausstellung surrealistischer Werke notiert Weiss: »Diese Werke, die das Gewohnte niederreißen wollten, die den Blick öffnen wollten zu einem ungebundenen Lebenszustand, die die Fragwürdigkeit, den Wahn der äußeren Normen spiegelten, stellten sich konserviert in gepflegten Räumen dar [...]. Die Ordnung, die sie angegriffen, die sie lächerlich gemacht und in ihrer Verlogenheit gezeigt hatten, hatte sie wohlwollend aufgenommen, die Manifestationen der Revolteure hatten nichts anderes erreicht, als hier in den Schatzkammern ihrer Feinde zu Würden zu kommen« (»Aus dem Pariser Journal«. In: P. W.: Rapporte, S. 83– 112, hier S. 83).
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Erfolg erlangen konnte.260 In dem Stück werden die beiden Prinzipien einer bourgeoisen Ästhetisierung und einer proletarischen Politisierung in den Figuren Sade und Marat gegenübergestellt. Susan Sontag wertete das Stück begeistert, aber einseitig zugunsten der Position de Sades und der verschachtelten Konstruktion, wodurch dem Stück eine international beachtete Rolle bei der Ausprägung eines postmodernen oder ›postdramatischen‹ Theaters zugeschrieben wurde.261 Dieser Zuordnung steht das ›oratorische‹ Dokumentartheater Die Ermittlung entgegen, das am 19. 10. pl1965 an fünfzehn Theatern in Ost- und Westdeutschland zugleich uraufgeführt wurde. Zu dieser Zeit, also zur Zeit der Kursbuch-Kontroverse mit Enzensberger, war Weiss auf den Höhepunkt seiner öffentlichen Präsenz. Mit dieser ging die öffentliche Selbstverortung in den »10 Arbeitspunkte[n] eines Autors in der geteilten Welt« einher. Das Dokument einer sozialistischen Positionierung in einer geteilten Welt stellte einen Wendepunkt sowohl in der Selbstbestimmung als auch in der Außenwahrnehmung von Weiss dar: Sie disqualifizierte ihn in der Folge für eine literarische Auszeichnung in der Bundesrepublik.262 Der Aufsatz »Europäische Peripherie« und die »10 Arbeitspunkte« lassen sich als Symptom einer Konkurrenz um die Definition einer modernisierten und internationalisierten Intellektuellen-Rolle oder auch als Auseinandersetzung zwischen der Sozialkritik und der Künstlerkritik um die politische und literarische Internationalisierung deuten. Im Falle der Konkurrenz der Autorpositionen von Weiss und Enzensberger erweist sich die Auseinandersetzung als Opposition zwischen einem politischen Engagement des Schriftstellers, der sich innerhalb eines weltweiten Wirkzusammenhangs positioniert (Ost-West-Konflikt), und der flexiblen Bestimmung eines ästhetischen und intellektuellen ›Eigensinns‹, der die neuen symbolischen Trennungslinien der Welt zu ziehen weiß, seinen Sinn für die Pluralisierung erweist und sich selbst auf Seiten der – als struktureller Ort verstandenen – westlichen
260 Vgl. Rainer Gerlach, Matthias Richter: »Irgendwie bin ich mittendrin«. Peter Weiss im Gespräch. In: R. G., M. R. (Hg.): Peter Weiss im Gespräch. Frankfurt a. M. 1986, S. 9–20, hier S. 16. 261 Susan Sontag: Marat/Sade/Artaud. In: S. S.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a. M. 82006, S. 201–212. Sontag betont die Nähe des Stücks zu Artauds »Theater der Grausamkeit«: »In Brooks Inszenierung erweist sich der Irrsinn als die beherrschende und sinnlichste Form des Theatralischen« (ebd., S. 202). 262 Vgl. Notizbuch 21: »der Büchnerpreis kam für mich nicht mehr infrage nachdem ich die 10 Arbeitspunkte veröffentlicht hatte« (Peter Weiss: Die Notizbücher. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v. Jürgen Schutte, Digitale Bibliothek, S. 97; vgl. auch den Eintrag v. 25. 6. 1973, NB 2, S. 221).
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Metropolen und ihrem Erbe der klassischen Moderne als gesellschaftskritischer, aber ›freischwebender‹ Intellektueller situiert.263 Wenn Enzensbergers Internationalisierungsstrategie der Künstlerkritik für eine territorialisierte Deterritorialisierung stand, für eine ›land-‹ und ›strukturgestützte‹ Entgrenzung, stellten Weiss’ Laufbahn und Position einer internationalen Sozialkritik einen Reterritorialisierungsversuch eines Entterritorialisierten dar. Damit ist zunächst Weiss’ biografisch-existentielle Unzugehörigkeit als exilierter Künstler jüdischer Herkunft gemeint.264 Diese Unzugehörigkeit kann aber umgedeutet werden in eine strukturelle der Autorposition im literarischen Feld, die nach einer Reterritorialisierung, nach einer gerechtfertigten Existenz strebte. Diese nach Möglichkeiten einer legitimierten Teilhabe strebende Reterritorialisierung lässt sich wiederum – mit Blick auf Weiss’ »Dante-Projekt«, das in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre entstand – als Bestreben deuten, den Ort für die in der Geschichte unterdrückten, zum Verstummen und Vergessen gebrachten Stimmen und Überzeugungen sprachlich-literarisch wiederherzustellen. Im Unterschied zur Sprache Enzensbergers, die metonymisch verfährt, aber an die referentielle Metapher und an das sich rhetorisch indirekt konstituierende Subjekt rückbindet, ist Weiss’ Sprache von einem realen Identitätsverlust geprägt. Der Schatten des Körpers des Kutschers, Abschied von den Eltern und Fluchtpunkt sind von den Mühen einer Wiederaneignung der zerstörten oder ›verschütteten‹ deutschen Sprache gekennzeichnet. Sie ist vom Ausschluss, von der symbolischen Gewalt einer grundlegenden Unzugehörigkeit geprägt.265 Wie eine Studie von Nils Göbel gezeigt hat, lassen sich in Weiss’ sprachlicher Suchbewegung zwei Konzepte unterscheiden: zunächst das der Identität durch Sprache, das in den frühen Werken vorherrscht, dann das spätestens mit dem »Laokoon«-Aufsatz und dem ErmittlungStück von 1965 dominant werdende Konzept der Sprache als Instrument, das die Wörter »als topographische Werkzeuge« benutzt, um Unrecht politisch zu lokalisieren und beim Namen
263 Vgl. Joch: Bruderkämpfe, S. 411. 264 Vgl. Jochen Vogt: Nur das Opfer kann die Täter verstehen. Über Zugehörigkeitsprobleme bei Peter Weiss. In: J. V.: »Erinnerung ist unsere Aufgabe«, S. 56–70. 265 Vgl. Nils Göbel: »Wir können keine Form erfinden, die nicht in uns vorhanden ist«. Gattungsfragen. Intertextualität und Sprachkritik in ›Abschied von den Eltern‹ und ›Fluchtpunkt‹ von Peter Weiss. Marburg 2007, S. 86 f., der die Parallele zu Kafka zieht und einen Brief an Brod vom Juni 1921 zur Veranschaulichung der Ausweglosigkeit der schreibenden Minderheit in Prag zitiert: »Sie lebten zwischen drei Unmöglichkeiten [...]: der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, der Unmöglichkeit, anders zu schreiben« (ebd.).
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zu nennen.266 Dieses Konzept der Sprache als Instrument eines Deterritorialisierten zur Situierung von Herrschaft, Ausbeutung und Unrecht strebt nach einer politischen und kulturellen Einbindung, nach einer – in der Bestimmung von Deleuze und Guattari – referentiellen Sprache, nach einer »Sprache des Sinns und der Kultur, die eine kulturelle Reterritorialisierung betreibt«.267 Weiss’ ›Rückeroberung‹ und Erweiterung des besetzten Sprachraums zielt auf eine politisch-kulturelle Referenz, die allerdings durch Distanz, durch die Gegenwart von Unzugehörigkeit, geprägt ist. Die distanzierte Reterritorialisierung der Sprache vermeidet WieVergleiche und strebt stattdessen zur größtmöglichen Intensität einer Denotation.268 Von hier aus gelangt Weiss zur literarischen Sprache seiner politischen Dokumentarliteratur.
Während Enzensbergers Sprache vom territorialisierten Zustand ausging und nach einer metonymisch-rhetorischen Entgrenzung strebte – und damit auf einen eigentlich ›unmöglichen‹, nämlich flexibilisierten Ort im Feld der arrivierten Avantgarde zielte –, ging Weiss’ Sprachbewegung vom Ortlosen aus. Sie suchte nach der Wieder- oder Neuherstellung einer Denotation des von den Herrschenden, ihren Diskursen und Praktiken Ausgeschlossenen. Das Bestreben, den geschichtlich abgedrängten und zum Verstummen gebrachten Stimmen der Erniedrigten und Opfer sowohl des Nationalsozialismus (Die Ermittlung [1965]) als auch des kapitalistischen Imperialismus (Stücke zum Befreiungskampf der »Dritten Welt«: Gesang vom lusitanischen Popanz [1967], Viet Nam-Diskurs [1968]) zu ihrem (Stimm-)Recht zu verhelfen, war ein Eintreten gegen die dominante ›Vermessung‹ der kapitalistischen Welt und für die Teilhabe der Ausgeschlossenen. Diese Anliegen bündelten sich in dem (unabgeschlossenen) »Dante-Projekt«. Es sah einen dreifachen Blick auf die Wirklichkeit vor.269 Ins Zentrum
266 Vgl. P. Weiss: »Laokoon oder Über die Grenzen der Sprache« (in: Rapporte, S. 170–187): »Die Wörter waren Formeln in einem Übereinkommen, an dem er teilnahm. Es verband ihn nichts mit diesen Wörtern als der Wunsch, sie als topographische Werkzeuge zu benutzen. Die Wörter hatten für ihn keine Geschichte. Die Wörter waren mit keinen Empfindungen beladen. Sie waren nur Wegzeichen. Es konnten Lagebestimmungen mit ihnen vorgenommen werden. Er befand sich mit ihnen in einer äußerst kargen ausgebrannten Gegend« (S. 183). 267 Zit. n. Göbel: »Wir können keine Form erfinden«, S. 87, Anm. 305. 268 »Dinge genau so zu beschreiben, wie sie sind. Das Gewöhnliche, Alltägliche, Abgegriffene. Ihnen keine andere Bedeutung zumessen als die ihnen eigene. Nichts Überhöhtes, nichts Fremdes, Überraschendes« (P. W.: Notizbücher 1960–1971. Frankfurt a. M. 1982 [NB 1], S. 42); »niemals Vergleiche wie: es sieht aus wie . . . sondern nur wiedergeben, wie es ist und was es ist, für sich selbst« (ebd., S. 98). 269 Das Inferno »zeigt die Welt in der Perspektive perennierender Herrschaft der Mächtigen [...]. Das Paradiso zeigt die Welt in der Perspektive perennierenden Leidens und verwirft damit alle theologischen, bürgerlichen oder marxistischen Vertröstungen auf eine Zukunft, wo die Erniedrigten und Gemarterten nachträglich eine Wiedergutmachung erhalten. [...] Das Purgatorio wiederum zeigt die Welt jenseits der beiden Perspektiven perennierender Sinnlosigkeit: im Focus der Gegenwart als Alternative. Dieser Blick ist ganz auf das Jetzt des Handelnden
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rückte dabei das Inferno als Ort der permanenten Zweifel und Schwierigkeiten, eine Entscheidung zu treffen. Dieser existentiell unmögliche Ort lässt sich auf die Autorposition von Peter Weiss übertragen. Feldanalytisch kann dieser Ort der Gegenwart von Unzugehörigkeit übersetzt werden als eine strukturell allmählich nicht mehr mögliche, das heißt, innerhalb des geltenden nomos gerechtfertigte und anerkannte Position. Weiss’ Schreiben ist im Kontext der feldstrukturellen Ausgrenzung oder Entwertung seiner Autorposition zu sehen: Es ging ihm um die Legitimität einer internationalen, politisch und ästhetisch engagierten, kulturrevolutionären avantgardistischen Position, die Sozial- und Künstlerkritik vereinte. Diese Position sah er vor allem im politischen Surrealismus historisch realisiert, wie auch gescheitert. Im Fluchtpunkt-Roman wird die Weiterentwicklung dieser internationalen, politisch-ästhetischen AvantgardePosition verhandelt. Am Ende steht die Vision von Paris als ›Stadt der universalen Werte‹. Hier ist der Ort, wo die Exterritorialisierten über eine internationale Kommunikation an der Welt teilhaben: Und die Sprache, die sich jetzt einstellte, war die Sprache, die ich am Anfang meines Lebens gelernt hatte, die natürliche Sprache, die mein Werkzeug war, die nur noch mir selbst gehörte, und mit dem Land, in dem ich aufgewachsen war, nichts mehr zu tun hatte. [...] An diesem Abend, im Frühjahr 1947, auf dem Seinedamm in Paris, im Alter von dreißig Jahren, sah ich, daß ich teilhaben konnte an einem Austausch von Gedanken, der ringsum stattfand, an kein Land gebunden.270
So lautet die Vision einer Teilhabe. Ihr stand jedoch die tatsächliche Entwicklung sowohl der politischen als auch der literarischen Einteilung der Welt (nomos) entgegen. Dies sollte sich schon bald, nämlich 1966 beim legendären Treffen der Gruppe 47 in Princeton zeigen. Das Treffen ist in der Literaturgeschichtsschreibung vor allem mit Peter Handkes Auftritt und Vorwurf einer »Beschreibungsimpotenz« verbunden. Es gilt als symbolischer Einschnitt, der den latenten, ästhetischen und gesellschaftlichen Alterungsprozess im Selbstverständnis der Gruppe 47 sichtbar werden ließ. Doch diese literaturgeschichtliche Einordnung verdeckt ihrerseits einen Vorgang, der symptomatisch für die symbolische Gewalt der Transformation des bundesdeutschen literarischen Feldes ist, nämlich die Ausgrenzung der internationalistisch engagierten Posi-
gerichtet, aber er bietet kein eindeutiges Bild. Suche, Aufbegehren, Zweifel und Kampf gegen eine Welt von Korruption, Anpassung, Verdummung kennzeichnen diesen Ort« (Burkhardt Lindner: Anästhesie. Die dantesche »Ästhetik des Widerstands« und die »Ermittlung«. In: Jürgen Garbers [Hg.]: Ästhetik, Revolte, Widerstand: zum literarischen Werk von Peter Weiss. Lüneburg 1990, S. 111–128, hier S. 119). 270 Peter Weiss: Fluchtpunkt [1962]. Frankfurt a. M. 1965, S. 196 f.
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tion von Weiss, der sich öffentlich während eines studentischen Teach-In gegen die Vietnam-Politik der USA gewandt hatte und dafür scharf kritisiert wurde: Es hieß, dass wir als »deutsche Schriftsteller« nicht das Recht hätten, uns in amerikanische Angelegenheiten einzumischen. Ich sagte, dass ich nicht als Deutscher, auch nicht als Schwede, sondern als Antiimperialist zu der Veranstaltung gehen würde […]. Auch Kritik an Deutschland, sagte ich, hielte ich nicht zurück, weil ich in Schweden ansässig sei. Und dann kam es: du kannst dich über Deutschland nie äußern, du bist draußen gewesen, in der Sicherheit der Emigration, wir waren drinnen, wir haben am Krieg teilgenommen – Dies war es, was ich immer wieder gespürt hatte, wenn ich in Deutschland war, und was oft im Ungewissen blieb: dieser einmal vollzogne, definitiv gewordne Bruch –271
Richter und Grass maßregelten Weiss und disqualifizierten sein Verhalten als ›unmögliche‹ Position eines deutschen Schriftstellers, zumal im Lichte der ›Weltöffentlichkeit‹ in Amerika. Was Enzensberger angeht, so ist unklar, inwieweit er sich an dem Teach-In gegen die amerikanische Intervention in Vietnam beteiligt hatte272 und ob er Weiss explizit in dieser Sache verteidigte. Jedenfalls gibt es von ihm keine Stellungnahme, die mit Weiss’ »I come out of my Hiding place« 273 vergleichbar wäre. Diese ›bekenntnishafte‹ Stellungnahme war für ihn habituell ›unmöglich‹. Die mit seinem flexiblen Habitus korrespondierende Position im bundesdeutschen literarischen Feld zwischen ›gültiger Orthodoxie‹ und ›permanenter Häresie‹ betraf die Ausgrenzung, die Weiss erfuhr, nur peripher, da er – trotz der skizzierten Entgrenzungsbewegungen – diesseits der Demarkationslinie im Feld der ›arrivierten Häretiker‹ der westlichen Metropolen verblieb.274 Nach der Kursbuch-Kontroverse wiederholte sich also in Princeton die für die Entwicklung der bundesdeutschen Nachkriegsliteratur symptomatische Ausgrenzung einer Autorposition, die für einen sowohl ästhetischen als auch politischen Internationalismus stand. Der Zusammenhang zwischen »diesem
271 NB 2, S. 734. 272 Vgl. NB 1, S. 491 (Eintrag v. 24. 4. 1966): »Viet-Nam Sit-In in Princeton (während des Gruppe 47-Treffens) / Neben mir nimmt nur Lettau teil. / Richter u. Grass raten scharf ab«. Zeitgenössische Zeitungsberichte nennen dagegen auch Enzensberger als Teilnehmer. Vermutlich gab es mehrere Teach- oder Sit-Ins. 273 Diese programmatische Rede las Weiss auf dem Teach-In vor (gedruckt in: Volker Canaris [Hg.]: Über Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1970, S. 9–14). 274 Dem widerspricht nicht, dass er zu dieser Zeit in Tjøme (Norwegen) lebte oder später nach Kuba reiste – der Ort seiner Autorposition wird hier nicht geografisch, sondern feldstrukturell verstanden.
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einmal vollzognen, definitiv gewordnen Bruch« und Enzensbergers Aufteilung der Welt in ein »Wir« der westlichen Metropolen und ein »Die« in der »Dritten Welt« liegt in funktionshomologen Distinktionen. Sie dienen zur Bestimmung legitimer Autoren- und Intellektuellenpositionen im Kontext der skizzierten Modernisierung des Feldes. Erst die APO und die Politisierung der Literatur, die insbesondere auch Enzensberger mit dem programmatischen KursbuchAufsatz »Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend« (1968) forcierte, machten die Position des international-engagierten, ›totalen‹ Intellektuellen, für den Sartre exemplarisch stand,275 in der BRD zeitweilig möglich und ließen Enzensbergers und Weiss’ Positionsnahmen wieder enger zusammenrücken. Allerdings sind auch hier feine und entscheidende Unterschiede zu beobachten: Während Enzensberger im Kursbuch die Indienstnahme der Literatur für die ›politische Alphabetisierung‹ Deutschlands vertreten konnte, war auch 1968 Weiss’ Position eines politischen und ästhetischen Internationalismus nicht umstandslos anerkannt, da sie sich gegen eine einfache Politisierung der Kunst wandte.276 Es können also thesenartig zwei entgegengesetzte Ausrichtungen unterschieden werden: Während Weiss’ Autorposition grundsätzlich auf einen engagierten ästhetisch-politischen Internationalismus ausgerichtet war und sich in der deutsch-deutschen Debatte mit einer internationalistischen Zielsetzung zu Wort meldete, war Enzensbergers ästhetisch-politischer Internationalismus, der sich im Kern als literarischer Kosmopolitismus erwies, national gestützt, das heißt, kompatibel mit einer strukturell legitimierten Position im nationalen literarischen Feld. So besetzte er als Herausgeber des Kursbuches mit wachsendem Erfolg die paradoxale Position einer national rückgebundenen internationalen Kommunikation. Mit ihr ging eine Neudefinition der Rolle des Intellektuellen im Sinne seiner Flexibilisierung einher. Die Strategie der ›riskanten Setzung‹, die jede Partei(-nahme) ablehnte und mit der sich Enzensberger von
275 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 333–339 (»Anhang: Der totale Intellektuelle und die Illusion der Allmacht des Denkens«). 276 Dies zeigt sich an Weiss’ Konflikt mit der APO anlässlich einer Diskussion der Aufführung seines Viet Nam-Diskurses an der Berliner Schaubühne (vgl. Martin Rector: Zur Kritik der einfachen Politisierung. Die »Ästhetik des Widerstands« als Nach-68-Roman. In: Michael Hofmann [Hg.]: Literatur, Ästhetik, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. St. Ingbert 1992, S. 99– 114); vgl. Weiss’ Notizbuch-Eintrag v. 23. 11. 1968: »Verzettelung, Teilnahme am Theaterprojekt einer SDS-Gruppe. Ungeheure Mengen von Texten werden zusammengetragen, vorgelesen, diskutiert. Alle diese politischen Erörterungen, Lageberichte, Rapporte von sozialistischen Tätigkeiten haben entfernt etwas zu tun mit dem, was mir als dokumentarisches Theater vorschwebt. Dramatische Strukturen fehlen. Kann aber solche Einwände nicht vorbringen. ›Das ist alter Kram‹. Merke immer wieder: ich komm von ganz wo anders her« (NB 1, S. 607).
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den zeitgenössischen Avantgarden wie auch von Weiss abgrenzte, orientierte sich symbolisch an einem Guerilla- oder Anarchistenideal der ›permanenten Revolution‹, für die später in Der kurze Sommer der Anarchie (1972) die Person Durrutis stand. Zugleich erwies sich die Strategie der ›permanent revolutionären‹, ›riskanten‹ Setzung in den folgenden Jahren als kompatibel mit den Anforderungen der »Risikogesellschaft« (Beck) und des »neuen Geistes des Kapitalismus« (Boltanski, Chiapello) an den »flexiblen Menschen« (Sennett). Die von Enzensberger eingenommene Position im Feld der arrivierten Avantgarde zwischen »Häresie« und »Orthodoxie«, zwischen »Internationalisierung« und »nationaler Rückbindung«, bezeichnet im literarischen Feld eigentlich einen strukturell ›unmöglichen‹ Ort. Dieser ist jedoch durch die politischen, ökonomischen und kulturellen Transformationen des Kulturkapitalismus bzw. der ästhetischen Postmoderne strukturell möglich geworden. Die strukturelle Expansion eines flexibel ökonomisierten und medialisierten Raums kultureller Produktion bildet die Grundlage für den Aufstieg Enzensbergers und seines so wirkmächtigen Habitus eines »Eigensinns«.277 Mit der flexiblen, strukturell eingebundenen Subjektposition war das literarische Kapital von Enzensberger langfristig gesehen demjenigen von Peter Weiss überlegen. Dessen Subjekt- und Autorposition, d. h. sein literarisches und intellektuelles Kapital, hätte ›Gültigkeit‹ an einem im ästhetischen und politischen Sinne avantgardistischen Pol im internationalen literarischen Feld, wie er noch am ehesten von einer – bezeichnender Weise in der deutschsprachigen Literatur kaum vertretenen – politischen postkolonialen Literatur repräsentiert wäre.278 Da dieses Feld aber insbesondere in den achtziger Jahren von einer westlichen, internationalisierten Künstlerkritik (»ästhetische Postmoderne«) bestimmt war, die die Sozialkritik aus dem Feld der legitimen kulturellen Produktion verdrängt und sie dem professionalisierten Feld der Politik überlassen hatte, und selbst wiederum zunehmend im neuen Management-Geist des Kapitalismus reüssierte, entwickelte sich für Weiss der Kampf um Teilhabe zu einer das weitere Leben und Werk beherrschenden Kraftanstrengung. Die Ästhetik des Widerstands kann in dieser Hinsicht verstanden werden als Versuch eines Widerstands gegen die Entwertung seiner Subjekt- und Autorposition und seines literarischen Kapitals. So wurde der für Weiss maßgebliche ›totale Intellektuelle‹ Sartre, der für die existentielle Rechtfertigung des Intellektuellen stand, strukturell unmöglich bzw. seine Rolle wurde ›vergesellschaftlicht‹,
277 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 2.1. 278 Vgl. z. B. Michael Hofmann: Peter Weiss’ »Ästhetik des Widerstands« in interkultureller Perspektive. In: Peter Weiss Jahrbuch 15 (2006), S. 43–67; vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 3.3.; u. II. 2.3.
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wie es Enzensberger treffend zum Ausdruck brachte.279 Nachfolgende Autoren wie Uwe Timm oder Friedrich Christian Delius versuchten diese ›Sartre-BöllLinie‹ eines politisch engagierten literarischen Universalismus noch auf ihre Weise weiterzuführen.280 Sie stellen aber in wachsendem Maße nur noch vereinzelte Positionen dar, die sich zudem mit den Wertordnungen eines flexiblen Normalismus überschneiden.281
1.2 Die neuen Tendenzen (›1968‹ bis 1989/90) Die Entstehung der Neuen Linken, die Verdrängung der Sozialkritik und die Durchsetzung der Künstlerkritik Nicht zuletzt mit der Herausgabe des Kursbuchs wurde Enzensberger ab 1965 ein maßgeblicher Protagonist der sich in dieser Zeit herausbildenden Neuen Linken. Den Schnittpunkt zwischen dem politischen Raum und dem literarischen Feld, den Hans Werner Richter mit seiner Gruppe 47 noch nach alter Manier der Kompromissbildung gerecht zu werden meinte, besetzte das Kursbuch in einer neuen Art und Weise, denn es zielte auf die Veränderung von Wahrnehmungskriterien in beiden Feldern zugleich.282 Mit der Neuen Linken eröffnete sich für Intellektuelle, Kulturschaffende und Schriftsteller ein neues Sinnpotential, das ihnen einen symbolischen Ersatz für die schwindende repräsentative Stellung und Bedeutung ihrer Deutungsarbeit bot. Mit der politischen Krise konnten künstlerische Schemata in den politischen Raum getragen werden, wodurch sich den Künstlern wiederum neue Sinn- und Legitimationshorizonte öffneten. Ausgehend von der Kritischen Theorie und ihren Analysen zur Kulturindustrie – und genauer: von der negativen Dialektik Adornos’ und seiner Bestimmung einer in sich widerständigen Kunst, die bereits einen Bruch mit der gesellschaftlichen Entfremdung aufweist
279 »Wir haben Böll verloren. Aber dafür haben wir Amnesty und Greenpeace« (»Das empfindliche Ungeheuer. Eine Wahlkampf-Unterhaltung aus dem Jahre 1987 mit Hellmuth Karasek«. In: H. M. E.: Mittelmaß und Wahn [1988], S. 227–244, hier S. 239). 280 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1. 281 Teilweise und unter gewandelten Rahmenbedingungen zeigte sich die Wiederkehr der ästhetisch vermittelten Sozialkritik ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre im ›neuen politischen Theater‹ bei Schlingensief, Pollesch, Perceval, Ostermeier etc. (s. u.: Zweiter Teil, I, Exkurs: Vom »Theater der Präsenz« zum »Drama des Prekären«). 282 Vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 211; Hans Burkhard Schlichting: Das Ungenügen der poetischen Strategien: Literatur im ›Kursbuch‹ 1968–1976. In: W. Martin Lüdke (Hg.): Literatur und Studentenbewegung. Eine Zwischenbilanz. Opladen 1977, S. 33–63; u. ausführlich Marmulla: Enzensbergers Kursbuch.
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und sich der Konsumierbarkeit und breiten gesellschaftlichen Kommunikation verweigert –,283 wurde dieses ästhetisch fundierte »Anti« von Herbert Marcuse auf eine entsublimierte Alltagskultur ausgeweitet: Aus dem kunstimmanenten, sublimen Widerstand der autonomen Kunst bei Adorno wurde bei ihm die Leben und Kunst gleichsetzende, performative ›Antikunst‹ Ausdruck der »Großen Weigerung«.284 Diese Öffnung des Kunstwerkes hin zur Praxis lässt sich zusammenfassend als Genese einer Künstlerkritik (im Sinne von Boltanski und Chiapello) verstehen, welche eine der wichtigsten Folgen der kulturrevolutionären Bewegung in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre war. Die Künstlerkritik und ihre Forderung nach Emanzipation, Authentizität und Selbstbestimmung waren im Feld der kulturellen Produktion eine Reaktion auf die sich aufdrängende Sinnfrage im Zusammenhang mit der sich abzeichnenden neuen Entzauberung, Marginalisierung und Prekarisierung der gesellschaftlichen Stellung der Intellektuellen und Künstler. Die Neudeutung der Sinnfrage in der Künstlerkritik konnte – insbesondere in den Aktionen der Studenten und Intellektuellen von 1967 und 1968, die zwischen ästhetischem Selbstausdruck und politischer Revolte pendelten – einen symbolischen Ersatz für die anachronistisch gewordene traditionelle, aufklärerisch-humanistisch verstandene repräsentative Stellung der Intellektuellen und Künstler in der Gesellschaft bieten.285 Entsprechend löste die Künstler- oder Kulturkritik die existentialistische Kunstauffassung der Nachkriegsliteratur ab.286 Diese Ablösung steht feldstrukturell für eine Verlagerung der Reproduktions- bzw. Innovationslogik von der Vertikalen (= feldinterner Konflikt zwischen ›Orthodoxie‹ und ›Häre-
283 »Was wir jedoch mit Lyrik meinen, ehe wir den Begriff sei’s historisch erweitern, sei’s kritisch gegen die individualistische Sphäre wenden, hat, je ›reiner‹ es sich gibt, das Moment des Bruches in sich. Das Ich, das in Lyrik laut wird, ist eines, das sich als dem Kollektiv, der Objektivität entgegengesetztes bestimmt und ausdrückt; mit der Natur, auf die sein Ausdruck sich bezieht, ist es nicht unvermittelt eins« (Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft. In: Th. W. A.: Noten zur Literatur. Frankfurt a. M. 42012 [Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 11], S. 49–68, hier S. 53. 284 Vgl. Herbert Marcuse: Versuch über die Befreiung. Frankfurt a. M. [1969] 2008, insb. S. 74– 76; u. Batt: Revolte intern, S. 19–24. 285 Vgl. Batt: Revolte intern, S. 21; u. Gobille: »Die Verbreitung der Künstlerkritik und des Künstler-Imaginären ist einer der bemerkenswertesten Aspekte des Mai 68. Sie ermöglicht potenziell eine Symbiose zwischen den Schriftstellern und den revolutionären Projekten der studentischen Aktionskomitees. Der Mai 68 stellt somit ein Ereignis dar, das für die Schriftsteller Sinn macht und sie dort zum Handeln bringt, wo das Ereignis ihnen eine neue symbolische Matrix anbietet, dank derer sie versuchen werden, einen ganzen Komplex von Unsicherheiten, die in den 1960 er Jahren auf sie einwirkten, zu steuern, neu zu denken und zu verändern« (Gobille: Literarisches Feld und politische Krise, S. 177). 286 Vgl. Batt: Revolte intern, S. 19.
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sie‹, ›Priestern‹ und ›Propheten‹) in die Horizontale (= Austausch mit der Populärkultur und deren kurzfristigen Verzeitlichungslogiken, Verwandlung der Künstler zu ethnokulturellen ›Zauberern‹ des Alltags). 287 Die aus dem gewandelten Geist des Kapitalismus und der Krise der repräsentativen Stellung der Hochkultur entstandene Künstler- oder Kulturkritik definierte im Selbstverständnis der Schriftsteller ihre neue Zentralstellung. Wenn die bislang herrschende, existentialistisch-moralische Kunstauffassung auch die Anlage zu einer literarisch vermittelten Sozialkritik des engagierten Intellektuellen beinhaltete, wie sie in Frankreich vor allem die Person und das Werk Sartres und in Deutschland noch am längsten Heinrich Böll repräsentierte, so wurde diese Sozialkritik nach »68« von der dominanter werdenden Künstlerkritik verdrängt.288 Zunächst war die Künstlerkritik jedoch noch stark im Politischen verwurzelt. Sie ging mit einer Sozialkritik einher und sah zwei Idealtypen eines revolutionären Imaginären vor: zum einen den revolutionären Idealtypus der APO und der politischen extremen Linken und zum anderen den der Künstlerrevolte, die in der Traditionslinie des Dadaismus und des Surrealismus den Bruch mit der ›eindimensionalen‹ Kommunikation vollzog: Das Wort verweigert sich der vereinheitlichenden vernünftigen Herrschaft des Satzes. Es sprengt die im voraus festgelegte Struktur der Bedeutung und bezeichnet, indem es ein »absolutes« Objekt wird, ein unerträgliches, sich selbst zunichte machendes Universum – ein Diskontinuum.289
Das von Marcuse angestrebte revolutionäre Imaginäre verband in der Gleichsetzung von Kunst und Leben noch Sozial- und Künstlerkritik. In dem angeführten Zitat aus Der eindimensionale Mensch von 1964 zeichnete sich aber bereits die Tendenz zum ›Kunst-Imaginären‹ ab, die durch das Diskontinuum des künstlerischen Wortes die Sozialkritik des sich bekennenden ›existentialistischen Wortes‹ zurücktreten ließ. Die Verdrängung der Sozialkritik aus dem Bereich der Kunst zeigte sich symptomatisch verschoben in der zweiten Ausgabe des Kursbuchs 1965, in der
287 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, III. 1. 288 »Nach dem Tode von Sartre 1980 hat man das Ende der Tradition des intellektuellen Engagements prognostiziert. […] [Jean-François Lyotard] unterstrich, dass die Figur des ›Intellektuellen‹ an die Vorstellung eines universellen Subjekts gebunden sei, und dass es mit dem Ende dieser Idee für den klassischen Intellektuellen in einer dezentrierten postmodernen Gesellschaft keinen Platz mehr gebe« (Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle, S. 228 f.). 289 Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft [1968]. München 31988, S. 88; vgl. Batt: Revolte intern, S. 21.
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Enzensberger mit Weiss in einen Konflikt um die neue Definition und ›Besetzung‹ der politischen und – unausgesprochen – der literarisch-intellektuellen Internationalisierung in Deutschland gerieten.290 Der für die Entwicklung des literarischen Feldes verdeckte, aber relevante Kern dieser über den KursbuchKonflikt hinausgehenden Auseinandersetzung betraf die Frage nach der intellektuellen Verpflichtung zur Stellungnahme im Sinne einer ethisch-moralischen Überzeugung und eines politisch engagierten Eintretens für sie. Die ethische und politisch engagierte Stellungnahme, das ›verbindliche Wort‹ in Weiterführung der bislang dominanten existentialistisch-transzendentalen Sinngebung des Feldes, lehnte Enzensberger – und mit ihm die sich ausprägende performative Linie der Neuen Linken – im Namen des ›diskontinuierlichen Wortes‹ vehement ab. Gegenüber einer zur Normativität neigenden Linken in Person von Peter Weiss bildete Enzensberger eine flexible Autorposition der ›kurzen Zeit‹ in Austausch und zugleich Distanzierung zu dem durch Ökonomisierung und Medialisierung expandierenden Mittelbereich aus. Sie wurde charakteristisch für die folgenden Transformationslinien des literarischen Feldes. Zuvor aber grenzte sich Enzensberger mit seinem Eintreten für eine in Handlung überführte, sich politisch-revolutionär begründende Literatur auch innerhalb der Neuen Linken gegenüber den subjektivistischen Tendenzen ab, für die Peter Handke exemplarisch stand.291 Wie Enzensberger lässt sich auch Handke in dieser Zeit politisch der Neuen Linken zuordnen. Beide Akteure repräsentieren die zwei Dimensionen der Transformationsstrategie der neuen Bewegung: Die 1968 er Bewegung war einerseits auf eine Ausweitung von Partizipationschancen ausgerichtet und setzte auf den Abbau von Herrschaft und Hierarchien durch Mit- und Selbstbestimmung (das war tendenziell Enzensbergers Position). Andererseits war sie eine Bewegung, die auf die Herbeiführung eines Wandels durch Veränderung der Bewusstseins- und Bedürfnisstrukturen zielte (tendenziell Handkes Position). Während Enzensberger nicht mehr an das Prinzip der Surrealisten und ihrer Forderung nach einer Revolutionierung sprachästhetischer Strukturen glauben konnte und stattdessen auf eine Veränderung der Schreiber-LeserRelation im Horizont einer ›politischen Alphabetisierung Deutschlands‹ zielte, ging Handke weiterhin von der Prämisse aus, dass Literatur über die Sprache Veränderungen bewirken kann, zumindest beim Leser und beim Autor selbst. Enzensberger schrieb der Literatur keine wesentliche gesellschaftliche Funktion mehr zu. 1968 näherte er sich dem Standpunkt der Selbstaufhebung des individuellen Autors und seiner Literatur im kollektiven Handeln an. Er »repräsentierte den Intellektuellen auf der Suche nach einer neuen Gesellschaftsanalyse, neuen Ausdrucksformen gesellschaftlicher Kritik und einem neuen ›revolutionären Subjekt‹. Er hörte auf, Gedichte zu schreiben, gab das Stipendium einer amerikanischen Universität zurück und brach auf nach Kuba«.292 Dagegen bestand Handkes Vision darin, eine neue Selbsterfah-
290 Siehe dazu oben: Fallstudie 1. 291 Folgendes nach Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 214–216. 292 Ebd., S. 216.
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rung des Autors und des Lesers einzuleiten. Während Enzensberger sich intellektuell an den Guerilla-Kämpfern in Südostasien, Afrika und Lateinamerika orientierte, war Handkes Interesse auf das im Schreiben zu entdeckende Ich gerichtet. Beide Orientierungen beinhalteten schon zwei Kernformen des ästhetischen Subjekts, die sich in der Folge im relativ autonomen Subfeld in Reaktion auf die Expansion des populärkulturellen Repräsentationsanspruchs des Mittelbereichs ausprägten: die des ›Eigensinnigen‹ und die des gesellschaftlichen Außenseiters.293
Die geschrumpfte Tradition und die Verlagerung der Innovationslogik in die Horizontale Die neuen Verzeitlichungsformen, die aus dem Konflikt zwischen der die Struktur abbildenden longue durée des Feldes und der kurzen Zeit der Ereignisketten in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre resultierten, übersetzten sich literarisch in neue Formgebungsverfahren, die unter der Bestimmung der Zeit als »geschrumpfte Tradition« charakterisiert werden können.294 Wenn die Literatur der Gruppe 47 für eine repräsentative und ethisch-moralisch verpflichtende Erinnerungsarbeit stand, dabei jedoch an der Trennung von Politik und Literatur festhielt, so trat mit der neuen Schriftstellergeneration ein kürzeres Geschichtsbewusstsein auf, wodurch der zeitliche Abstand zwischen literarischer Produktion und maßgeblicher Tradition tendenziell schrumpfte.295 Die relativ autonome, vertikal ausgerichtete Reproduktions- und Innovationslogik des Feldes, die nach Bourdieu aus dem Konflikt zwischen einer arrivierten und einer neuen, ›häretischen‹ Avantgardegeneration und damit aus dem zeitlichen Abstand künstlerischen Alterns resultiert,296 verlagerte sich nach »1968« in die Horizontale, d. h. in die Auseinandersetzung mit dem flexi-
293 Vgl. unten: Zweiter Teil, I. 2.1. u. II. 2.1.2. 294 Vgl. zum Folgenden Batt: Revolte intern, S. 24–28 (»Die geschrumpfte Tradition«); vgl. in allgemeiner, kulturkonservativer Hinsicht Hermann Lübbe: Gegenwartsschrumpfung. Traditionsgeltungsschwund und avantgardistische Autorität. In: Ralph Kray, K. Ludwig Pfeiffer, Thomas Studer (Hg.): Autorität. Spektren harter Kommunikation. Opladen 1992, S. 78–91. 295 »Die sich immer schneller vollziehenden Umschwünge im literarischen Leben lassen ein Werk von heute schon morgen als veraltet erscheinen, so daß von der Herausbildung eines Epochen-, ja auch nur Phasenstils nicht mehr die Rede sein kann« (Batt: Revolte intern, S. 25). 296 »Die Avantgarde ist zu jedem Zeitpunkt durch eine künstlerische Generation (verstanden als Abstand zwischen zwei künstlerischen Produktionsweisen) von der kanonisierten Avantgarde getrennt, die ihrerseits durch eine weitere künstlerische Generation von der zum Zeitpunkt ihres Eintretens in das Feld bereits kanonisierten Avantgarde getrennt ist. Daraus folgt, daß sich im Raum des künstlerischen Feldes wie im sozialen Raum die Abstände zwischen den Stilen oder den Lebensstilen nie besser als in Zeitbegriffen messen lassen« (Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 256 f.).
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bel ökonomisierten und medialisierten, alltagskulturellen Mittelbereich.297 Die traditionelle Arbeit an einem Werk wurde abgelöst vom schnellen Takt der »Neuerscheinungen«, von einem vermehrten Interesse an ›kleinen‹ Wirklichkeitssegmenten,298 schließlich von einer Aufmerksamkeit für den Schriftsteller als (medial vermittelte) Person mit einem bestimmten Lebensstil. Mit dem kohärenten Werk (Œuvre bzw. Opus) wurde auch die Ausbildung eines distinguierten Stils als Ausdruck einer Hochkultur abgelehnt, deutlich abzulesen zum Beispiel am programmatischen Vorwort von Rolf Dieter Brinkmann zu seinem Gedichtband Die Piloten (1968): »Die Toten bewundern die Toten! Gibt es etwas, das gespenstischer wäre als dieser deutsche Kulturbetrieb mit dem fortwährenden Ruf nach Stil etc.?« 299 Zum Ersatzstil der ›kurzen Zeit‹ wurde ein ›Anti-Stil‹, worin sich Versatzstücke einer ihrerseits länger andauernden Wirkung der klassischen Avantgardebewegungen Dada und Surrealismus zeigten, wie sie etwa von der Wiener Gruppe in dominant kunstautonomer, d. h. vertikaler Distinktionsabsicht fortgeführt wurden. Daneben entstand aber auch ein Markt für den dominant subkulturellen, horizontal in die verschiedenen Lebensmilieus zielenden Anti-Stil, der in verschiedene Sparten und Praktiken zerfiel: etwa in Happening, sprachartistische Reflexion oder popkulturellen Nonsens.300 Der programmatische Aufruf Leslie Fiedlers in »Cross the border – Close the gap!« (1968), den Graben zwischen ›Hoher Literatur‹ und Massenliteratur, zwischen dem Subfeld der eingeschränkten und dem der Massenproduktion zu füllen, stützte sich auf die Forderung nach einer modernen Mythologie durch Adaption von Schlagertexten, Western-, Porno- und Science-Fiction-Mustern.301 So konnte populärkulturelle und triviale Literatur gebrochen, verzerrt, 297 Vgl. dazu Anna Boschetti: L’explication du changement. In: Jean-Pierre Martin (Hg.): Bourdieu et la littérature. Suivi d’un entretien avec Pierre Bourdieu. Nantes 2010, S. 93–111, bes. S. 103–105. 298 Bereits 1965 trat Dieter Wellershoff für einen »neuen Realismus« ein. Neue Autoren wie Rolf Dieter Brinkmann und Günter Herburger, »die scheinbar absichtslos und minutiös ein kleines Wirklichkeitssegment beschrieben«, standen in einem deutliche Gegensatz zu den Werken von etablierten Autoren wie Alfred Andersch, Walter Jens, Hans Erich Nossack oder Wolfgang Koeppen, »die mehr oder minder existentielle Parabeln, jedenfalls aber Repräsentanz beanspruchende Geschehnisabläufe erzählt hatten. In diesen Romanen wie auch in den grotesken Retrospektiven von Günter Grass wurde ein wenn auch brüchiges Weltbild aufgefaltet: ein metaphysisch grundierter, elegischer Antifaschismus, der sich zuweilen als ›Antitotalitarismus‹ verkleidete« (Batt: Revolte intern, S. 24 f.). 299 Rolf Dieter Brinkmann: Die Piloten. Köln 1968, S. 7. 300 Vgl. Batt: Revolte intern, S. 26. 301 Vgl. Leslie Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 57–74.
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zitathaft oder aufklärerisch umfunktioniert werden, in Form von Versatzstücken und ›Rhythmisierungen‹ in den Bereich der Hochliteratur ›eindringen‹ und sich mit ihr vermischen. Damit einher ging die allgemeine Expansion und ›Infiltration‹ der gesamten Gesellschaft mit populärkulturellen Elementen. Umgekehrt konnte die Aufnahme populär- und trivialkulturellen Materials und entsprechender Muster auch dem ›zweifachen‹ Bruch in der vertikalen Konfliktstellung innerhalb des eingeschränkten literarischen Subfeldes dienen:302 als Abgrenzung von der Massenproduktion und zugleich als ›häretischer‹ Angriff auf die herrschende Hochliteratur. Dies zeigte sich zum Beispiel deutlich bei Handke und mit Abstrichen auch bei Brinkmann oder Fichte, die antraten, mit Hilfe der Populärkultur die interne Ordnung des autonomen Feldes auf den Kopf zu stellen. Neben dem verstärkten Integrations- und Hybridisierungsprozess populärkultureller Materialien, Formen und Techniken, den insbesondere die Popliteratur verfolgte, entwickelte sich auch ein Widerstand gegen die Affirmation der kulturindustriellen Oberflächenästhetik durch die Betonung der ›Sache selbst‹ und sozialkritischer Komponenten in einer neuen Sachlichkeit der Dokumentarliteratur bei gleichzeitiger Ablehnung der ›literarischen Literatur‹ (s. u.). Sowohl die Tendenzen einer neuen popliterarischen Mythologie der Gegenwart als auch die dokumentarische, neusachliche Erfassung der Gegenwart stellten Angriffe auf das in der Nachfolge des existenzialistischen Grundparadigmas stehende realistisch-moralische Erzählen dar, wie es in der Beschreibungsliteratur der Gruppe 47 vorherrschend war. Beide ›Anti‹-Tendenzen zielten auf ein neues ›Nullpunkt‹-Verständnis,303 nach dem sich das Autorprinzip als einheitliche, souveräne Instanz, der Gegenstand als geschlossenes Kunstwerk und der Leser als ein dem Werk nachgeordneter Sinnrezipient auflösen. In den sich verbindenden Strängen einer neusachlich-dokumentarischen und einer modern-mythologischen, fantastischen Literatur wurde der reale Autor vor die Alternative gestellt, »entweder die Wirklichkeit in ihren nicht miteinander korrespondierenden Teilen, in ihrer zerfallenen Verdinglichung zu akzeptieren oder als Bohemien oder Hippie aus der Gesellschaft heraustreten – entweder Dokument oder Märchen«.304 Als weiterer, komplementärer Strang einer gesellschaftlichen Außenseiterposition kam die sprachreflexive Literatur hinzu, die von der Verdinglichung der Sprache ausging und in der Konkreten Poesie eines Franz Mon oder Ernst 302 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 127 f.; u. Degner, Wolf: Intermedialität und mediale Dominanz, S. 12 f. 303 Vgl. Roland Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit [1954]. Frankfurt a. M. 2006. 304 Batt: Revolte intern, S. 36.
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Jandl die inhaltlich beliebig gewordene Collage formalästhetisch absolut setzte. Alle Tendenzen – die dokumentarische, die popkulturelle und die sprachreflexive Literatur – hielten dem existenziell-parabelhaften Erzählen der Nachkriegsliteratur ein literarisches Zeigen von Vorgefundenem in der Tradition der objets trouvés entgegen. Ihnen gemeinsam war die Auflösung einer moralischtranszendenten literarischen Subjektivität, die wertend und urteilend in das dargestellte Geschehen eingreift.305 Schließlich führten alle Tendenzen in eine Auseinandersetzung mit einem literarisch-selbstbezüglichen Protest,306 der seinen vielleicht intensivsten Ausdruck in den Werken Thomas Bernhards der achtziger Jahre erreichte). Die Abschaffung der Trias von Autor, Werk und nachgeordneter Leserinstanz führte in den siebziger Jahren zunächst zu einer Kollektivierung (Dokumentarliteratur) und Anonymisierung (sprachreflexive, popkulturelle und postmoderne Literatur), dann zu einer neuen Wertschätzung des Autors als gesellschaftsimmanentem Außenseiter (Neue Subjektivität). Alle Phasen waren begleitet von einer Prekarisierung, in der die neue Verzeitlichung des literarischen Feldes das Prinzip der marktökonomischen Neuerung beförderte und zur Ablösung des langfristig angelegten Werks (Œuvre) durch kurztaktige Neuerscheinungen führte. Die Prekarisierung der symbolischen Produktion durch neue Verzeitlichungsformen stand wiederum in Wechselwirkung mit der Professionalisierung des Schriftstellers als Wort-Produzent. Diese war zunächst ein emphatisches, vertikal-subversiv ausgerichtetes Avantgardekonzept (etwa in den Sprachcollagen der Konkreten Poesie), dann eine soziale Tatsache und die strukturelle Grundlage der horizontal-arbeitsteiligen Reproduktion des Feldes der Gegenwartsliteratur: Finanzielle und symbolische ›Entlohnung‹ erfolgte hier nicht mehr für die kontinuierliche Entwicklung eines ›Werks‹ und ›Stils‹ im klassischen Sinne, sondern nach der diskontinuierlichen Marktlogik von Neuerscheinungen, stilistischen und symbolischen Auffälligkeiten, d. h. nach ›Etappensiegen‹ in der permanenten Konkurrenz um den legitimen stilistischen Umgang mit Kontingenzen. Die horizontal verlagerte künstlerische oder ästhetische Zeit, ihr spezifisches Altern, bemaß sich seitdem verstärkt nach kurzfristigen Begeisterungs- und Enttäuschungszyklen.
Neue Tendenzen 1: Dokumentarische ›Anti-Literatur‹ In der ersten Ausgabe des Kursbuchs von 1965 hieß es programmatisch: Unser literarisches Bewußtsein ist begrenzt; es ignoriert weite Zonen der zivilisatorischen Realität. Wo die literarische Vermittlung versagt, wird das Kursbuch den unvermittelten 305 Vgl. ebd., S. 37. 306 Vgl. ebd., S. 38.
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Niederschlag der Realien zu fassen suchen: in Protokollen, Gutachten, Reportagen, Aktenstücken, polemischen und unpolemischen Gesprächen.307
Als Reaktion auf die Sinnfrage der Literatur, auf das Ungenügen ihrer Realitätserfassung in der ›kurzen‹, sozialen Zeit der Gegenwart, auf eine mangelhafte, von Politik und Wirtschaft beherrschte Öffentlichkeit und schließlich ganz konkret auf den staatlich gestützten Versuch einer zentralen gesellschaftlichen Positionierung der Arbeiterliteratur in der DDR durch den 1959 eingeschlagenen »Bitterfelder Weg«,308 entwickelte sich in der Bundesrepublik eine dokumentarische Literatur. Die dokumentarische Literatur hatte zunächst einen »›gesamtdeutschen‹ Charakter« 309 und war auf die unmittelbare Gegenwart gerichtet. Damit versicherte sich die Literatur ihrer gesellschaftlichen Präsenz und Relevanz. Wellershoff sah in der Wendung zum Dokumentarismus eine neue, »die jüngste Phase der deutschen Gegenwartsliteratur«, die auf »eine mögliche Identität von Kunst und Leben« ziele.310 Er und die sich um ihn gruppierende »Kölner Schule« repräsentierten eine Avantgardebewegung, die auf die horizontale, realistisch-popliterarische Erfassung der Alltagswelt und ihrer Dinge in Momentaufnahmen (›Epiphanien des Alltags‹) zielte.311 Erika Runges Bottroper Protokolle (1968) verstanden einige als konsequente Umsetzung von Enzensbergers ›Todeserklärung‹ der Literatur und andere grenzten sie kategorisch von einer Literatur als Kunst ab. Die Erfassung der Realität, die Verbindung von Literatur und ›Leben‹ oder ›Aktion‹, war hier wie auch in der Literatur der Dortmunder Gruppe 61 rund um Max von der Grün und Günter Wallraff dominant von einem sozialen Interesse, vor allem an der Arbeitswelt, geprägt. Die Sozial-, Arbeits- und Industriereportagen aktualisierten und politisierten den seit der NS-Zeit diskreditierten oder in volkstümlicher Heimatliteratur erstarrten »volkstümlich-moralischen« Pol des eingeschränkten literarischen Subfeldes im Übergangsbereich zum Feld der literarischen Großproduktion und des Journalismus.312 Angesichts der neuen dokumentarischen Literatur wurde schließlich diskutiert, ob diese überhaupt noch zur Kunst gehöre. Baumgart unterschied zwei 307 Kursbuch 1 (1965), S. 2; zit. n. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 246. 308 Peitsch betont, dass sich die »Gruppe 61« als Reaktion auf den »Bitterfelder Weg« in der DDR bildete. So kritisierte Max von der Grün deren »zentrale Erfassung« durch die SED (»Echo der Zeit«, 1. 3. 1964; vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 245); siehe dazu auch unten: 2.1. 309 Ebd., S. 246, mit Bezug auf Reinhard Lettau (Hg.): Die Gruppe 47. Bericht Kritik Polemik. Ein Handbuch. Neuwied, Berlin 1967, S. 501. 310 Dieter Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs. Frankfurt a. M. 1976, S. 9 f. u. S. 21; zit. n. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 246. 311 Siehe zur popliterarischen Weiterentwicklung weiter unten: Zweiter Teil, I. 3.1. 312 Vgl. oben: Abb. 1 u. 4.
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Varianten, die der Unterscheidung zwischen »Kunst« und »Nicht-Kunst« bzw. »Autonomie« und »Heteronomie« Rechnung tragen: Die dokumentierende Literatur lege den Schwerpunkt darauf, dass die Wirklichkeit, die ›Realien‹, unmittelbar selbst zur Sprache komme. Dagegen gehe es in der Dokumentarliteratur um das Arrangement ›zitierten Bewusstseins‹.313 Während bei ersteren das soziale Interesse vorherrschte, verfolgte die Dokumentarliteratur ihr politisches Interesse über die künstlerische Form, wie sich am Beispiel von Peter Weiss zeigen lässt. Weiss’ Bestimmung des »dokumentarischen Theaters« geht von der »Dokumentation eines Stoffes« aus, von der »Berichterstattung« nicht-fiktionalen, authentischen Materials. Dieses Material gibt es jedoch »in der Form bearbeitet« wieder.314 In der sechsten und siebten »Notiz« betont Weiss die künstlerische Bearbeitung und die ästhetische Form des dokumentarischen Theaters: [E]s muß zum Kunstprodukt werden, wenn es Berechtigung haben will. […] Denn ein dokumentarisches Theater, das in erster Hand politisches Forum sein will, und auf künstlerische Leistung verzichtet, stellt sich selbst in Frage. In einem solchen Fall wäre die praktische politische Handlung in der Außenwelt effektiver. Erst wenn es durch seine sondierende, kontrollierende, kritisierende Tätigkeit erfahrenen Wirklichkeitsstoff zum künstlerischen Mittel umfunktioniert hat, kann es volle Gültigkeit in der Auseinandersetzung mit der Realität gewinnen.315 Durch die Betonung der ästhetischen Komposition des politischen Materials grenzt Weiss seine Konzeption des dokumentarischen Theaters einerseits von einer direkten politischen Agitationskunst und andererseits von einer politisierten performativen Happening-Kunst ab.316 Mit seiner Ausrichtung auf eine ästhetische Komposition, die das politische Material verstehend durchdringt und auf dieser Grundlage des Verstehens Partei ergreift (vgl. 10. Notiz), steht Weiss’ dokumentarisches Theater in der Tradition des Brechtschen Lehrstücks und des politischen experimentellen Theaters Piscators (vgl. 1. Notiz). Damit situiert es sich 1968 zwischen der einfachen Politisierung, wie sie die APO forderte, und der indirekten Politisierung durch die Performanz der Neuen Linken.317 Die Ermittlung (1965) ist ein Beispiel für eine Dokumentarliteratur der Zitatmontage.318 Entstanden im Zusammenhang mit Weiss’ Beobachtung des Auschwitz-Prozesses 1964 in
313 Vgl. Reinhard Baumgart: Die verdrängte Phantasie. 20 Essays über Kunst und Gesellschaft. Darmstadt, Neuwied 1973, S. 113 f. u. S. 127; vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 249. 314 Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater [März 1968]. In: P. W.: Rapporte 2, S. 91–104, hier »Notiz I«, S. 91 f. 315 Ebd., S. 96. 316 »Was bei der offenen Improvisation, beim politisch gefärbten Happening, zur diffusen Spannung, zur emotionalen Anteilnahme und zur Illusion eines Engagements am Zeitgeschehen führt, wird im dokumentarischen Theater aufmerksam, bewußt und reflektierend behandelt« (8. Notiz, ebd., S. 97). 317 Vgl. Rector: Zur Kritik der einfachen Politisierung. 318 Vgl. Klaus Harro Hilzinger: Montage des Zitats. Zur Struktur der Dokumentarstücke von Peter Weiss. In: Rainer Gerlach (Hg.): Peter Weiss. Frankfurt a. M. 1984, S. 268–281.
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Frankfurt, verwendet sie Zitate aus den Prozess-Protokollen. Schon die Titelangabe »Oratorium in elf Gesängen« weist den künstlerischen Kompositionscharakter, die Arbeit an der Form, aus. Weiss wollte hier an sein umfassendes Projekt eines »Welttheaters«, einer umgekehrten, vollkommen in eine diesseitige Lesart umgewandelten Divina Commedia anschließen: Das »Inferno« sollte die Schuld der Angeklagten beinhalten, das »Purgatorio« die Frage nach der Mitschuld der Unschuldigen und nach dem Widerstand von Einzelnen stellen, und das »Paradiso« die Unschuld der Opfer darstellen.319 Die Ermittlung war ursprünglich als »Paradiso«-Teil gedacht, wurde dann aber selbständig veröffentlicht. Sie ist keine direkte Darstellung von Auschwitz, sondern eine Darstellung eines Prozesses über Auschwitz, in dem der gesellschaftliche Umgang mit den Tätern und Opfern in der Gegenwart zum Ausdruck kommt. Die »Berichterstattung« als Aufgabe des dokumentarischen Theaters320 ist hier eine sprachliche ›Lagebestimmung‹, eine sprachliche Anordnung des Materials, die die Topografie des Tatortes, des Leidensweges der Häftlinge durch das Lager (»Gesang von der Rampe«, »Gesang vom Lager«), einzelne Folterstätten und Todesarten bis hin zum »Gesang von den Feueröfen« dokumentarisch nachzeichnet. Dabei ist jeder Gesang dreifach anhebend und perspektiviert. Als zentrales Strukturierungsmittel dient die Gegenüberstellung der Perspektive der Täter und der der Opfer: Während erstere die »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt), die Kontinuität und Erklärbarkeit ihrer Perspektive zum Ausdruck bringt, sind die Stimmen der Opfer von der ›Monstrosität des erfahrenen Bösen‹, von der Diskontinuität und Sinnlosigkeit ihrer Perspektive geprägt. Die Ermittlung ist damit eine ästhetische Darstellung zentraler gesellschaftlicher Grundwidersprüche zwischen Macht und Ohnmacht, Profit und Menschlichkeit, Botschaft der Opfer und Ignoranz der Täter.321
Neue Tendenzen 2: Sprachästhetische ›Anti-Literatur‹ – die Entwicklung der Autorposition Peter Handkes Das Auftreten der dominant ästhetischen ›neuen Tendenzen‹ war feldintern wirkungsvoller als die zeitweilige Aufhebung der Trennung von Literatur und Politik und die damit verbundene Konvertierung des langfristig und feldspezifisch akkumulierten literarischen Kapitals in ein dynamisch-politisiertes Kapital, das sich für die Ökonomien des sozialen Raums öffnete. Sie läuteten ebenfalls die Phase der Pluralisierung von Autorpositionen und der Entwicklung neuer Verzeitlichungsformen ein. Für diese ästhetisch motivierten neuen Lite-
319 Vgl. Peter Weiss: Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia [1965]. In: P. W.: Rapporte, S. 125–141, hier S. 137–139. 320 Vgl. Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, 1. Notiz. 321 »Die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe und das Ausmaß der Brutalität stehen dem permanenten Leugnen bzw. Relativieren der Verbrechen gegenüber. Die Verbindung zwischen nüchtern, deskriptiv vorgetragenen Gräueln und der im gesamten Text kommunikativen Abwehr konstituiert den zentralen Gegensatz zwischen dem Schrei nach Gerechtigkeit und der unfassbaren Verantwortungslosigkeit der Täter« (Benedikt Descourvières: Annäherung an das Unsagbare. Skizzen einer symptomatischen Lektürepraxis von Peter Weiss’ »Die Ermittlung«. In: Peter Weiss Jahrbuch 11 [2002], S. 85–104, hier S. 94).
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rarisierungsstrategien, die sich in ihren Anfängen auf Marcuses Kunstverständnis eines Schwebezustandes zwischen Kunst und Praxis berufen konnten und schließlich in einen ›Weg nach innen‹ mündeten, ist Handkes Positionsentwicklung exemplarisch. Die Entwicklung seiner ästhetischen Position im literarischen Feld ist symptomatisch für den Verlauf einer feldinternen Revolte ab der zweiten Hälfte der sechziger bis zu den siebziger und achtziger Jahren: von der Auflösung der dominanten Mittelstellung der ›nonkonformistischen Literatur‹ der Gruppe 47 über die Annäherung der Literatur als ›Anti-Kunst‹ an das ›Leben‹, d. h. an die medialisierte und ökonomisierte Alltagskultur, bis hin zur Reästhetisierung der Literatur im relativ autonomen Subfeld und der damit verbundenen Nobilitierung des ästhetischen Subjekts als gesellschaftlichen Außenseiter. Diese Entwicklungen erweisen sich bei näherer Hinsicht als Transfigurationen der sprachavantgardistischen Tendenz, als feldstrukturell mächtiges Nachwirken eines restrukturierten Dadaismus und Surrealismus über die ›Allianz‹ mit den expandierenden Kräften der Alltagskultur. Aus dieser einerseits intermedial-horizontal, andererseits intramedial-vertikal ausgerichteten ›Allianz‹ mit der Populärkultur entstanden neue, unterschiedliche Tendenzen, die später unter der Epochenbezeichnung einer »Neuen Subjektivität« in die Literaturgeschichten eingingen. Neben der Restrukturierung des literarischen Feldes in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre durch den Einfluss der ›kurzen Zeit‹, der vom politischgesellschaftlichen Raum ausging, gab es auch maßgebliche innerliterarische und ästhetische Konflikte, die exemplarisch mit der Person Peter Handkes und seinem spektakulären Auftritt in Princeton 1966 sichtbar wurden. Dieser Auftritt war ein Mediencoup, aber sein an die Gruppe 47 gerichteter Vorwurf der »Beschreibungsimpotenz« war auch ein genuin literarischer Angriff, der eine grundsätzliche Reflexion über die Rolle der Literatur einforderte. Handke wandte sich gegen die herrschende Literatur einer neuen Sachlichkeit mit versteckt moralischer Funktion. Seine Attacke gegen den moralisierenden Realismus der Gruppe 47 ging von der Ebene des Individuums, der Sprache und der Ästhetik aus. Handke kam aus der sprachexperimentellen, avantgardistischen Grazer Literaturszene im Umfeld der Zeitschrift manuskripte, die sich in der Tradition der Sprachkritik Hugo von Hofmannsthals und der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins sah. Seine poetologischen Positionsnahmen zwischen 1966 und 1968322 wandten sich explizit gegen einen engagierten Literatur-
322 Vgl. Peter Handke: Zur Tagung der Gruppe 47 in USA [1966]. In: P. H.: Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms [1972]. Frankfurt a. M. 31975, S. 29–34; Die Literatur ist romantisch [1966]. In: Ebd., S. 35–50; Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms [1967]. In: Ebd., S. 19–28; Wenn ich schreibe. In: Akzente 13 (1968), S. 467: »Ich selbst bin nicht engagiert, wenn ich schreibe. Ich interessiere mich für die sogenannte Wirklichkeit nicht, wenn ich schreibe. Sie stört mich.
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begriff im Sinne Sartres und gegen einen ›manierierten Realismus‹, den er in der Literatur der Gruppe 47 am Werk sah.323 Handke zielte dagegen – kunstautonom, als bekennender »Bewohner des Elfenbeinturms« 324 – auf eine Literatur ohne fiktive Geschichte und auf das Primat der Sprache als ästhetisches Erkenntnismedium. Über die Zerschlagung von Sprach-, Denkund Narrationsschablonen sollte eine authentische (Ich-)Wahrnehmung entstehen. Da Handke die Sprachschablonen als sprachliche Entfremdung des Individuums verstand, verfolgte seine Literatur (vor allem seine Sprechstücke Publikumsbeschimpfung [1966] und Kaspar [1967]) in der Nachfolge Oswald Wieners auch eine indirekt gesellschaftskritische Ausrichtung. Über die Grazer Literaturszene lehnte sich seine interne Sprachrevolte an die Traditionen der Dadaisten und Surrealisten an. Dem Protestgeschehen – etwa im Pariser Mai 68 – blieb er aber fern. Er bevorzugte angeblich das Herumfahren mit der Pariser Metro in der Tradition des ästhetizistischen Stadt-Flaneurs. Einerseits hatte Handke Sympathien für die Performance der Kommune I, andererseits lehnte er kategorisch jede dominant politische Vereinnahmung, wie etwa die »totgeborenen Sätze« der Gruppe »Kultur und Revolution« innerhalb des SDS, ab.325
Vom ersten Auftritt in Princeton 1966 bis Mitte der siebziger Jahre prägten sich in Handkes Laufbahn drei Positionen aus,326 denen in den achtziger Jahren eine vierte folgte, in der sich eine Wahlverwandtschaft zum klassischen Goethe abzeichnet. Die erste Positionsnahme Handkes, die zu einer legitimen Position im literarischen Feld wurde, war die einer häretischen Formverletzung. Die Formverletzung der Regeln der Gruppe 47 durch den medial inszenierten Auftritt in Princeton einerseits und der bis dahin gültigen literarischen Darstellung der Welt durch die Ablehnung der Literatur als Engagement (im Sinne Sartres) und der Entwicklung einer ›Anti-Kunst‹ andererseits (Die Hornissen, Publikumsbeschimpfung [beide 1966]) gehorchte an und für sich noch dem internen, vertikalen, d. h. ›ikonoklastischen‹ Reproduktionsmodus des kunstautonomen Subfeldes, wie er über die historischen Avantgarden und ihrem Anspruch, durch formalästhetische Neuerungen die etablierte Literatur in die Vergangenheit zu entlassen, institutionalisiert wurde. Die legitime oder genauer: die potentiell legitimierbare Formverletzung stellt den Regelfall in der vertikal ausgerichte-
Wenn ich schreibe, interessiere ich mich nur für die Sprache [...]. Ich schreibe nur von mir selber«. 323 »Es interessiert mich als Autor übrigens gar nicht, die Wirklichkeit zu zeigen oder zu bewältigen, sondern es geht mir darum, meine Wirklichkeit zu zeigen (wenn auch nicht zu bewältigen)« (ebd., S. 26). 324 »Eine normative Literaturauffassung freilich bezeichnet mit einem schönen Ausdruck jene, die sich weigern, noch Geschichten zu erzählen, die nach neuen Methoden der Weltdarstellung suchen und diese an der Welt ausprobieren, als ›Bewohner des Elfenbeinturms‹, als ›Formalisten‹, als ›Ästheten‹. So will ich mich gern als Bewohner des Elfenbeinturmes bezeichnen lassen« (ebd., S. 26). 325 Vgl. Gilcher-Holtey: Was kann Literatur, S. 213. 326 Vgl. zu den folgenden Ausführungen: Batt, Revolte intern, S. 208–227 (»Leben im Zitat. Notizen zu Peter Handke«).
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ten Reproduktionsordnung des kunstautonomen Subfeldes dar. Die bürgerliche Gesellschaft im Allgemeinen und das literarische Feld im Besonderen sieht dem Schriftsteller die Formverletzungen nicht nur nach, »sondern verlangt sie ihm geradezu ab, da sich über sie eine vom Leben getrennte Literatur wenigstens scheinbar zu regenerieren vermag«.327 Die in den historischen Avantgarden angelegte politische Revolte gegen die herrschende Ordnung ›verkürzte‹ sich ästhetisch-literarisch: Handkes »interne Revolte« (Batt) unterschied sich von den Forderungen der Studentenbewegung fundamental darin, dass sie nicht die Abschaffung der Kunst, sondern deren methodische Umkehrung, die Abschaffung des Engagements in der Kunst, verfolgte.328 Damit bewegte sich seine ästhetisch-literarisch fundierte feldinterne Revolte langfristig im Rahmen der autonomen Gesetzgebung des Feldes (vgl. seine Selbstsituierung im »Elfenbeinturm«). Handkes zeittypische ›Verdächtigung des Fiktionalen‹ in seiner sprachreflexiven Literatur, insbesondere in seinem Anti-Theaterstück der Publikumsbeschimpfung (1966), setzte am Zeichencharakter oder an der ›Grammatik‹ der institutionalisierten Kunst an. Die sprachformale, semiotische Konzeption der Literatur, das Arrangement erstarrter Sprachmuster in Sequenzen und Bilderfolgen, sah weitgehend von inhaltlichen Problemen ab. Wie auch in der Konkreten Poesie zeigte sich bei Handke die Literatur als simulierte, als ›zweite Natur‹. Dem beharrlichen Kampf gegen die konventionalisierten ›Bedeutungen‹ (der Theaterhandlung, der Bühnensubjekte, der sprachlichen Objekte und ihrer Wahrheit etc.) entsprach die Umfunktionierung der Literatur zu sprachlichen Medien und Bedeutungsträgern, wie sie medientheoretisch in dieser Zeit auch von McLuhan und Fiedler gefordert wurde.329 Was Handke interessierte, war nicht die Außenwelt, sondern die konstruktivistische Herrschaft der Sprache. Dass die Macht über die Menschen für Handke im Wesentlichen sprachlich verfasst war, zeigte sich am deutlichsten in seinem »Sprechstück« Kaspar (1967).330
Aus der abwesenden Transzendenz der maschinenhaft wahrgenommenen Sprache entstand mit der zunehmenden Verlagerung in die Prosa eine zweite ästhetische Positionsnahme Handkes: das erzählerisch automatisierte Parlando, das ›kalt-distanzierte Erzählen‹ einer biografischen Katastrophe, wie es etwa in Wunschloses Unglück (1972) zum Ausdruck kommt. Die »Erinnerungsund Formuliermaschine« 331 verselbständigte sich, formte sich ihre eigenen, unendlich selbstgenerierenden Sprachwirklichkeiten und setzte sich, ähnlich
327 Ebd., S. 210. 328 Vgl. ebd. 329 Herbert Marshall McLuhan: The Medium is the Message: An Inventory of Effects (1967); Leslie A. Fiedler: Cross the border – Close the gap! (1968). 330 Vgl. Batt: Revolte intern, S. 216 f. 331 Peter Handke: Wunschloses Unglück [1972]. Frankfurt a. M. 2001, S. 12.
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wie in der Literatur Thomas Bernhards, in ihrer Selbstreferenz autonom. Auch sie wurde zu einer legitimen (ästhetisch-postmodernen) Position im autonomen Subfeld. Dabei schlug sie ›Brücken‹ zum Subfeld der Großproduktion, denn sie griff mit ihrem Absehen von inhaltlichen Bestimmungen und mit ihren formalen Reihungen bewusst auf analoge Produktionsprinzipien des Boulevardautors zurück, der nicht Figuren, sondern sprachlich verfasste Rollen produziert oder ›montiert‹.332 Die dritte Wendung in der Entwicklung der Autorposition Handkes entstand vor dem Hintergrund der skizzierten verselbständigten und ›verdinglichten‹ sprachlichen Gestik. Die mit der ›Anti-Literatur‹ in vertikal-subversiver Stoßrichtung angestrebte Aufhebung der Grenzen zwischen ›hoher‹ und ›trivialer‹ Kunst führte zu einer Suche nach neuen Mythen, wie sie Fiedler eingefordert und Barthes in der Zeichenstruktur der Alltagskultur aufgezeigt hatte.333 Bei Handke entwickelte sich aus der Betrachtung der Zeichen und aus der Abwesenheit der Bedeutung ein Streben nach einer modernen Form des Märchens, wo die Suche nach einer »Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt« (so der Titel einer Gedichtsammlung von 1969) einsetzte. Gesucht wurde nach einer distanzierten, dem Ich-Erzähler als sensibilisiertes ›Null-Medium‹ Kontur gebenden Welt, die sich aus sprachmagischen Wörtern zusammensetzte. So führten das künstliche Leben, das Leben im Zitat und der Subjektverlust zu einem neuen Erzählen einer (negativen) Subjekt-Werdung.334 Schließlich führte Handkes weitere literarische Entwicklung zu einer neuen Form eines vom Subjekt als Außenseiter ausgehenden und nach Objektivität und Autonomie strebenden Kunstwerkes, das über das Moment der ›ästhetischen Notwendigkeit‹ Ähnlichkeiten mit Goethes Entwicklung einer klassischen Kunstkonzeption aufweist.335 So vollzog der Autor mit seinen Romanen Der kurze Brief zum langen Abschied, Wunschloses Unglück und der theoretischen Selbstverortung Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms um 1972 eine weitere, vierte »Wende zur Sondierung des Authentischen in und durch Spra-
332 Vgl. Batt: Revolte intern, S. 219 f. 333 Roland Barthes: Mythen des Alltags [1957]. Frankfurt a. M. 1964. 334 »Das rein literarische, artistische Interesse an einem Stoff – ›Ich beschäftige mich literarisch, wie auch sonst, veräußerlicht und versachlicht zu einer Erinnerungs- und Formulierungsmaschine‹ – schlägt unvermutet, wenn auch psychologisch folgerichtig in ein heftiges Herauskehren des eigenen Subjekts um [...]. Hatte er zuvor die Welt nur in ihrer extrem verdinglichten Form als Zeichensystem wahrgenommen, so öffnet sich nun das Zitat einen Spaltbreit für Wünsche und Träume und gibt den Blick auf Regungen eines begehrenden, trauernden, hoffenden und auf Veränderung sinnenden Ichs frei« (Batt: Revolte intern, S. 226 f.). 335 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.1.2.
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che auf der Basis des ›neuen Sehens‹«.336 Das von Handke angestrebte ›neue Sehen‹ im Dienst einer Auratisierung der Dinge konnte sich auf Goethes ›gegenständlich-morphologisches Denken‹ berufen. Es zielte auf eine in der Literatur umgesetzte Evokation von ›Epiphanien des Alltags‹, schließlich auf ein ›Erzählen in Analogien‹.337 Komplementär zur Entwicklung einer ästhetischen L’art pour l’art-Position grenzte sich Handke schon früh in den siebziger Jahren bewusst von der sich im medialisierten und ökonomisierten Mittelbereich ausprägenden Literatur der Neuen Subjektivität ab, wie Norbert Christian Wolf ausgeführt hat: Die in der weiteren Entwicklung seines Werks noch intensivierte und ausdrücklich reflektierte positive Aneignung ›klassischer‹ Erzählmuster war ein seinerzeit höchst innovatives Medium ästhetischer Distinktion und künstlerischer Selbstdefinition im literarischen Feld. Handke vermochte sich dadurch in den siebziger Jahren gleichermaßen abzugrenzen von der politisierenden Literatur à la Enzensberger wie auch von der »Neuen Subjektivität« à la Peter Schneider und Karin Struck, der er zu seinem Leidwesen immer wieder vorschnell zugerechnet wurde [...]. Durch seine Denunziation einer ›servilen‹ Abhängigkeit der Dichtung »von den schon bekannten psychologischen, soziologischen und vor allem poetischen Definitionen des Menschen« 338 sowie durch seine gegenläufige Berufung auf eine »freie, reine oder autonome Literatur« 339 bewahrte er in höherem Maß als die meisten seiner Schriftstellerkollegen künstlerische Autonomie gegenüber den Imperativen der Tagespolitik und den intellektuellen Moden, gegenüber den Verlockungen des literarischen und journalistischen Massenmarkts.340
Es lässt sich zusammenfassen: Der Weg in den Nobilitierungssektor der arrivierten kunstautonomen Positionen führte Handke ab den siebziger Jahren über einen unterschiedliche Gestalten annehmenden Umgang mit populärkulturellen Elementen, d. h. über ›Brückenschläge‹ zum seinerseits expandierenden Bereich der ›Bewusstseinsindustrie‹.341 Das veräußerlichte und versachlichte Schreiben einer ›Erinnerungs- und Formulierungsmaschine‹ und der
336 Anke Bosse: »Auf ihrer höchsten Stufe wird die Kunst ganz äußerlich sein«. Goethe bei Handke. In: Bernhard Beutler, A. B. (Hg.): Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa. Köln, Wien, Weimar 2000, S. 381–397, hier S. 381. 337 Vgl. ebd., S., 387 f., S. 391 u. S. 394. 338 Peter Handke: Karin Struck: »Die Mutter«. In: P. H.: Das Ende des Flanierens [1980]. Frankfurt a. M. 21982, S. 49–55, hier S. 55. 339 Peter Handke: Die Tyrannei der Systeme. In: Die Zeit, 2.1.76, S. 25. 340 Norbert Christian Wolf: Der »Meister des sachlichen Sagens« und sein Schüler. Zu Handkes Auseinandersetzung mit Goethe in der Filmerzählung Falsche Bewegung. In: Klaus Amann, Fabian Hafner, Karl Wagner (Hg.): Peter Handke. Poesie der Ränder. Mit einer Rede Handkes. Wien, Köln, Weimar 2006, S. 181–199, hier S. 197–199. 341 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 2.2.
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Rückgriff auf populärkulturelle Muster dienten Handke spätestens seit den siebziger Jahren zur intramedialen, kunstautonom-vertikal ausgerichteten Positionierung innerhalb des Subfeldes der eingeschränkten literarischen Produktion.342 Die sich bei Handke ausbildende sprachreflexive, negativ-ästhetische Konstitution einer subjektiven, aber nach objektiver, ästhetisch begründeter Wesensschau strebenden Weltwahrnehmung bildete sich in Wechselwirkung mit und zugleich in Abgrenzung zu den Strategien einer neuen subjektiven Authentizität und kulturellen Differenz in dem von Konzepten der Subjektkonstitution besonders geprägten Mittelbereich aus. So grenzte sich Handkes Autorposition einerseits von der Neuen Subjektivität und von den Formen der politisierten Literatur ab; andererseits bewegte sie sich im Avantgardekanal, in positioneller Nähe zu Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek oder zu den kunstautonomeren Formen der Popliteratur wie etwa bei Rainald Goetz, dessen medienwirksame ›Stirnschnitt‹-Performance beim Ingeborg-BachmannWettbewerb 1983 in direkter Nachfolge von Handkes Auftritt in Princeton gesehen wurde.343 Handkes langfristige literarische Kanonisierung ist dabei weniger auf einen geschickten Umgang mit den Massenmedien als auf die Anerkennung der genuin ästhetischen Qualität seiner literarischen Werke zurückzuführen.344 Entsprechend sind seine Werke keine Best-, sondern Longseller.345 Den skizzierten Wendepunkten entspricht feldanalytisch der vertikale Aufstieg vom avantgardistischen Pol in Richtung einer klassischen Literatur-Konzeption am Pol der »arrivierten Avantgarde«. Handkes literarischer Aufstieg gelang über eine sprachästhetisch basierte Subjektkonstitution, die – u. a. im intramedialen Rückgriff auf das popkulturelle Genre des Roadmovies – Goethes Entwicklungsroman beerbte und über die subjektive Beschreibung der ›Innenseiten der Außenseiten‹ der Dinge führte. Die nicht mehr entelechische, sondern wieder-holende Reise einer ästhetischen Erziehung durch die sprachlich verfassten Zwischenräume der Welt 346 führte nicht zur glückenden Integration des Individuums in die Gesellschaft, sondern zur ästhetischen Selbstbegründung einer Außenseiterposition: Diese versichert sich ihrer selbst in einer
342 Vgl. hierzu auch Norbert Christian Wolf: High and Low: Mediale Dominanzbildungen bei Peter Handke. In: Degner, Wolf (Hg.): Der neue Wettstreit der Künste, S. 77–97. 343 Vgl. Norbert Christian Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit. Am Beispiel der medialen Erregungen um Peter Handke, mit einem Seitenblick auf Marcel Reich-Ranicki. In: Joch, Mix, Wolf (Hg.): Mediale Erregungen, S. 45–63, hier S. 52. 344 Vgl. Wolf: High and Low, S. 81. 345 Vgl. Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit, S. 50 u. S. 60. Ähnliches gilt für die Verkaufszahlen der Werke von Thomas Bernhard. 346 Vgl. Die Wiederholung (1986), Die Abwesenheit (1987); vgl. auch Peter Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen. Gespräch mit Herbert Gamper. Zürich 1987.
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ästhetisch wahrgenommenen Welt als innere Notwendigkeit des Dargestellten und der Darstellung selbst.347
Neue Tendenzen 3: Neue Subjektivität und unterschiedliche Formen der Subjektkonstitution Die Neue Subjektivität kennzeichnet als Epochenbegriff im engeren Sinne die Literatur des sich in den siebziger und achtziger Jahren nach Milieus und alltagskulturellen Stilen ausdifferenzierenden literarischen Feldes. Genauer betrachtet kennzeichnet sie vor allem die Expansion eines flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereiches zwischen dem relativ autonomen Subfeld, wo tendenziell die Longseller entstehen, und dem Subfeld der literarischen Massenproduktion mit seinen Bestsellern.348 In den Erfolgsbüchern der Neuen Subjektivität ist damit bereits angelegt, was sich in den neunziger Jahren als neue Formation der Gegenwartsliteratur vollends ausprägte: eine ästhetisch ambivalente Unterhaltungsliteratur zwischen Kunstautonomie und Alltagskultur, zwischen ästhetischer ›Offenbarung‹ und unterhaltsamer ›Leere‹.349 Die ›neue Subjektivität‹ bot die Möglichkeit der inneren Selbsterkenntnis, d. h. der Subjektkonstitution im Medium der Literatur. Diese führte aber nicht mehr – wie paradigmatisch in Augustinus’ Confessiones – aus der sozialen Zeit heraus in eine religiöse oder ästhetische Zeit, sondern sie führte in die soziale Zeit, d. h. in einen beschleunigten Zeittakt einer iterativ sich selbst verständigenden Subjektivität. Während die Selbsterkenntnis beim ›klassischen‹ Handke auf eine ästhetische Wahrnehmung einer ›objektverlorenen‹ Selbstüberprüfung zielte, zeigte sich die ›neue Subjektivität‹ im medienökonomisierten Mittelbereich als permanente Selbstüberprüfung und -korrektur: als eine auf das
347 Anhand der zusammen mit Wim Wenders realisierten Filmerzählung Falsche Bewegung (1975) zeigt Wolf, dass »das ästhetische Bewußtsein von Handkes Wilhelm von Beginn an dort [ist], wo Goethes Wilhelm erst am Ende seiner Lehrjahre anlangt. Im Medium von Wilhelms ästhetischen Reflexionen erprobt Handke gleichsam spielerisch die produktive Anverwandlung ›klassischer‹ ästhetischer Prinzipien, die er wenige Jahre später in seiner Erzählung Die linkshändige Frau (1976) fortsetzen und in Die Lehre der Sainte-Victoire (1980) zu einem Höhepunkt führen wird« (Wolf: »Meister des sachlichen Sagens«, S. 195, mit Bezug auf Bosse: Goethe bei Handke). 348 Im literarischen Mittelbereich entstanden die Erfolgsbücher sogenannter ›Kultautoren‹ mit 30–80.000 Käufern zwischen dem schmalen Markt für potentielle Kultur-Produzenten und der auf passiven Konsum ausgerichteten Bestsellerkategorie (vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 13); siehe dazu ausführlich: Zweiter Teil, I. 1. 349 Siehe hierzu ausführlich: Zweiter Teil, I. 1–2.
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schwankende Gefühl gestützte Introspektion eines für Abweichungen vom Durchschnitt zunehmend sensibilisierten und dadurch zwischen Verunsicherung und Rückversicherung oszillierenden Subjekts. Paradigmatisches Vorbild war hier das zerrissene, charismatische Dichtergenie, wie es Büchners LenzErzählung präfigurierte und Peter Schneider aktualisierte (Lenz [1973]). Das zerrissene und sich über das Leiden am ›Riss, der durch die Welt ging‹, konstituierende singuläre Individuum war die Folie, auf der die iterative Selbstvergewisserung des modernen Subjekts stattfand. Die ›prophetische‹ Botschaft des individualcharismatischen ›Genies‹ zielte nicht mehr auf eine kunstautonome ›Lehre‹, sondern sie stand im Dienste alltagskultureller, temporärer magischer ›Epiphanien‹, die der Selbstverständigung dienten. Die ›neue Subjektivität‹ im Rhythmus und in der Form der ›kurzen‹ Zeit (Autobiografie, Tagebuch, Brief) war die einer romantisch-zerrissenen Subjektkonstitution, die sich über die Kopplung mit alltagskulturellen Stilen und flexiblen Normalismen – etwa über das Kollektivsymbol der ›nicht-normalen Fahrt‹ in Bernward Vespers Die Reise (1977)350 – literarisch immer wieder aufs Neue herzustellen genötigt sah, da sie nicht auf ›organische Notwendigkeit‹, sondern auf eine anonym generierte Diskontinuität und flexible Normalität gründete.351 Davon zu unterscheiden sind Autorpositionen, die im relativ autonomen Subfeld der literarischen Produktion über den Umgang mit einer flexibilisierten Alltagskultur vertikal im literarischen Ansehen aufstiegen. Den Stimmen des Subjekts, die sich immer wieder aufs Neue adjustierten und je nach alltagskulturellem Milieu und lebensstilistischer ›Sparte‹ überprüften und korrigierten, stand das Konzept der langfristigen Ausprägung eines klassische Stils gegenüber, wie es Handke ab Mitte der siebziger Jahre mittels einer ästhetischen Objektivierung des Selbst im Kunstwerk verfolgte.352 Auch Enzensberger stieg über die kritische und zugleich souveräne Auseinandersetzung mit dem medialisierten, populärkulturellen Mittelbereich in den nobilitierten Sektor auf. Er schrieb als Lyriker für ein relativ kleines und zugleich als Essayist für ein relativ großes Publikum. Sein Aufstieg gelang – wie dargestellt – zunächst über den Rückgriff auf die klassische internationale Moderne, dann über eine politische und literarische Internationalisierung, deren normativ-bekenntnishafte Form er vehement ablehnte, schließlich im Zeichen der sich selbst organisierenden APO bzw. anarchischen »Partisanen« bis
350 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus, S. 118–125. 351 Vgl. zu den flexibel-normalistischen Literarisierungsverfahren im Mittelbereich der neunziger Jahre unten: Zweiter Teil, I. 3. 352 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.1.2.
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hin zur »Desillusionierung« etwa Mitte der siebziger Jahre.353 Die subjektivistischen Autorbilder eines »jungen rebellischen Mannes«, »kosmopolitischen Dandys« und »internationalen, anarchisch-revolutionären Intellektuellen« gingen schließlich im neuen Leitbild des »Eigensinns« auf.354 Die historischen Entwicklungslinien der Transformationen des literarischen Feldes in der BRD lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Die politischen Ereignisse und die Expansion der Ästhetik der Kulturindustrie stellten an das Subfeld der autonomen literarischen Produktion in wachsendem Maße die Sinnfrage, woraufhin es zu verschiedenen Reproblematisierungen seines Gültigkeitsbereichs (nomos) kam. In Wechselwirkung mit und in Abgrenzung von der Populärkultur bildete sich ein restrukturierter oberer Bereich der ›arrivierten‹ Avantgarde heraus, in dem sich der alte (Grass, später auch Walser) und der neue, durch die populärkulturelle Flexibilität ›hindurchgegangene‹ (Enzensberger, Handke) ›Anspruch auf universelle Geltung‹ formierten und beide zunehmend in einen Konflikt zueinander traten. Grass und Walser, die sich politisch der Alten Linken zuordnen lassen, behielten den kritischkomplementär zum Staat erhobenen Universalanspruch der Literatur bei (Grass eher staatskritisch, die Kulturnation anstrebend, Walser eher komplementär zum Staat im Streben nach der Stellung eines Nationaldichters).355 Die Vertreter des Sektors mit einem ›neuen Anspruch auf universelle Geltung‹ sind durch die Flexibilisierung der kulturellen Produktion ›hindurchgegangen‹. Sie verdankten ihren Aufstieg einem reflexiven und souveränen ›Brückenschlag‹ zum ökonomisierten, horizontal ausdifferenzierten Mittelbereich, den sie allerdings zur intramedialen Abgrenzung in der Vertikalen umfunktionierten. Die Verzweigung des durch die Flexibilisierung führenden Pfads arrivierender ästhetischer Subjektpositionen lässt sich – wie skizziert – bis auf die Anfänge der dualen Transformationstendenzen der Neuen Linken zurückverfolgen, die sowohl auf eine subjektkonzentrierte Emanzipation als auch auf eine antiautoritäre Vergemeinschaftung zielte.
2 Das literarische Feld in der DDR Das für die westdeutsche Literaturgeschichte gängige Deutungsmuster einer Pendelbewegung von einer Politisierung der Literatur um 1968 hin zu einer
353 Spätestens mit Der Untergang der Titanic. Eine Komödie (1978) ist bei Enzensberger die Orientierung an einer politischen Utopie aufgegeben. 354 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, I. 2.1. 355 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1.
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Rückkehr zu den ästhetischen Werten findet sich auch im Umgang mit der DDR-Literatur wieder. War die Forschung bis zur Wende von Ansätzen bestimmt, die vom Primat politischer Bestimmungen ausgingen, so folgten danach Bestrebungen, die ästhetische Qualität der Literatur in den Vordergrund zu rücken. Entsprechend überarbeitete Emmerich seine Kleine Literaturgeschichte der DDR 356 und Heukenkamp plädierte für ihre »Regionalisierung«, wodurch der Begriff einer »DDR-Literatur«, der an ein besonderes politisches System gebunden ist, tendenziell aufgegeben wird.357 So erstrebenswert es ist, der Literatur ästhetisch und beziehungsgeschichtlich gerecht zu werden,358 ein gänzliches Absehen von ihrer Einbindung in einen historisch situierten machtpolitischen Raum ist wiederum eine Überinterpretation, die das Pendel nun einseitig Richtung ›individueller ästhetischer Schreibweise‹ und ›Regionalisierung‹ ausschlagen lässt.359 Angesichts der Ausprägung eines von der Kulturpolitik maßgeblich bestimmten nationalliterarischen Raumes in der DDR soll daher zunächst von einem vom literarischen Feld in der BRD getrennten literarischen Raum in der DDR ausgegangen werden. Anschließend gilt es, die zunehmenden literaturspezifischen Überschneidungen und Konvergenzen beider innerhalb einer Beziehungsgeschichte noch vor der politischen Wiedervereinigung zu skizzieren.
2.1 Konstituierungsphasen eines nationalliterarischen Raums in der SBZ/DDR (1945–1965)
Die Aneignung und Verteilung des ›Kulturerbes‹ im literarischen Raum Die Konstitution des literarischen Raumes in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gründete auf der Leitidee einer Aneignung, Weiterführung und Erneue-
356 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, z. B. S. 18; u. die Einleitung oben. 357 Vgl. Ursula Heukenkamp: Ortsgebundenheit. Die DDR-Literatur als Variante des Regionalismus in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Weimarer Beiträge 42 (1996), H. 1, S. 30–51; vgl. auch Claudia Albert: »Zwei getrennte Literaturgebiete«? Neuere Forschungen zu ›DDR‹und ›Nachwende‹-Literatur. In: IASL 34 (2009), H. 1, S. 184–223, bes. S. 213–215 (»Eine deutschsprachige Regionalliteratur [unter anderen]?«). 358 Innovativ ist Claudia Alberts Hinweis auf die Vergleichbarkeit der Literatur der DDR und Österreichs hinsichtlich ihrer subalternen Stellung innerhalb der kulturellen Beziehung zur BRD (vgl. Albert: »Zwei getrennte Literaturgebiete«?, S. 215–223: »Triangulationen und ›Blicke von außen‹: BRD – DDR – Österreich«). 359 Zur Kritik vgl. schon den Aufsatz von Peitsch: Warum moralische Fallgeschichten, ästhetische Rettung von Werken und Regionalisierung kein Ersatz für eine Geschichte der Beziehungen zwischen BRD- und DDR-Literatur sind.
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rung des ›aufklärerisch-humanistischen‹ kulturellen Erbes.360 In Fortsetzung des Geistes der »Volksfront«, des antifaschistischen »Internationalen Schriftstellerkongresses zur Verteidigung der Kultur« (Paris 1935, 1937) und des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« (gegr. Juli 1945) setzte sich der literarische Raum in der SBZ und der frühen DDR aus ›progressiven‹ bürgerlichen und kommunistischen Schriftstellern zusammen, die aus dem westlichen (USA) oder östlichen Exil (Moskau) zurückgekehrt waren. Diese Fraktionen konstituierten im Wesentlichen den legitimierten oberen Bereich des unter den politischen Grundbestimmungen des ›Antifaschismus‹ und der ›sozialistischen Demokratisierung‹ stehenden literarischen Raumes in der SBZ und frühen DDR (s. u., Abb. 5). Er war anfänglich von der Utopie einer überstaatlichen Kulturnation geprägt, die verschiedene Positionen im Geiste der humanistischen Erneuerung Deutschlands vereinte. Gesetzt war damit eine politisch-moralische Grundlage des literarischen Kapitals, die – mit Entstehung und Festigung des sozialistischen Staats – unantastbar wurde. Der Erwerb literarischer Anerkennung im Staatssozialismus hing unmittelbar mit politischen Bestimmungen und der Verteilung politischen Kapitals im Feld der Macht zusammen.361 Dieses staatliche Abhängigkeitsverhältnis zeigte sich konkret in der ästhetischen Vorgabe des sozialistischen Realismus, mit der der Staat eine bürokratische Vereinheitlichung und Steuerung von Literatur und Kunst verfolgte. Hinzu kam die erzieherische Funktionsvorgabe für die Literatur, das Typenhafte, Positive und Zukunftsweisende in Übereinstimmung mit den politischen Leitsätzen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) zur Darstellung zu bringen. Diese Vorgaben lassen sich feldanalytisch als Dominantsetzung des politisch-moralischen, staatsideologischen Kapitals innerhalb des nationalliterarischen Raumes und als dessen direkte Einschließung in bzw. Unterordnung unter das von der SED dominierte Feld der Macht übersetzen. Da der Literatur vom Feld der Macht kein oder nur ein begrenztes ästhetisches Eigenrecht zugestanden wurde, ist es zunächst zutreffend, nicht von einem literarischen Feld, sondern von einem nationalliterarischen Raum zu sprechen. Ein literarisches Feld definiert sich nach Bourdieu durch ein Mindestmaß an Autonomie, d. h. durch die Ausprägung eines gesellschaftlichen Teilbereichs (nomos), wo selbstbestimmte, hier: literarische ›Spiel-‹ und ›Glaubensregeln‹
360 Vgl. Karl Robert Mandelkow: Die literarische und kulturpolitische Bedeutung des Erbes. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hg.): Die Literatur der DDR. München, Wien 1983, S. 78–119 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 11); Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, S. 74–77. 361 Vgl. Pierre Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip im Staatssozialismus. In: P. B.: Die Intellektuellen und die Macht. Hg. v. Irene Dölling. Hamburg 1991, S. 33–39.
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(doxa) als Maßstab seiner Abgrenzung von anderen Feldern wie auch als Reproduktionskriterium gelten. Dagegen ist von einem »Raum« zu sprechen, wenn die (Re-)Produktion des nomos sowie die durch diese Logik definierten Akteure (ein eigener Berufsstand, ein eigener [Spezial-]Diskurs, ein eigenes Berufsethos etc.) über keine autonomen Legitimationsinstanzen verfügen. Die Trennlinie zwischen Raum und Feld, relativer Fremd- und relativer Selbstbestimmung, zeichnete sich in der DDR in formalästhetischer Hinsicht deutlich im restriktiven Umgang mit der literarischen Moderne ab (s. u.). Gleichwohl lassen sich auch im literarischen Raum der DDR in der ersten Phase der Institutionalisierung des kulturellen Erbes tendenziell zwei Pole unterscheiden: einerseits der auf relative Autonomie verweisende Pol des kulturellen Kapitals, vertreten durch die Tradition der ›progressiv-aufklärerischen‹ bürgerlichen Intellektuellen und durch die aus dem westlichen Exil zurückgekehrten Schriftsteller, wie Heinrich und Thomas Mann, Oskar Maria Graf, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Arnold Zweig etc.; andererseits der heteronome Pol des politischen Kapitals, vertreten vor allem durch eine »werktätige Intelligenz« (Bredel),362 d. h. KPD-nahe Intellektuelle und Literaten vor allem aus dem Moskauer Exil wie Willi Bredel, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Alexander Abusch, aber auch Johannes R. Becher, der – vom Expressionismus geprägt und verstärkt Aufgaben eines Funktionärs übernehmend – eine Doppelposition sowohl auf Seiten der kulturellen Autonomie als auch der Kulturpolitik einnahm.363
Die staatliche Vereinnahmung des literarischen Raumes und die kurzzeitige interne Stärkung seines kulturellen Pols (1948–1951) Literatur in der SBZ bzw. DDR sollte von staatlicher Seite dazu beitragen, die nationale Identität als Land des Antifaschismus und des sozialistischen Humanismus durch eine positive Beispielfunktion zu begründen. Diese nationale Identität war in eine moralisch-pädagogische Kategorie eingebettet, in die Ideologie eines ›besseren Deutschland‹, das zunächst als Verteidigung der Idee
362 Vgl. hierzu Gregor Ohlerich: Sozialistische Denkwelten. Modell eines literarischen Feldes der SBZ / DDR. 1945 bis 1953. Heidelberg 2005, S. 171–176. 363 Vgl. ebd., S. 164–167. »Sein Handeln ist stets im jeweiligen Kontext zu sehen, entweder agierte er als Literat, dann war er eher zum autonomen Pol zu zählen, oder als Kulturpolitiker, dann gehörte er eher dem heteronomen Pol, eigentlich sogar dem politischen Feld an« (ebd., S. 166).
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einer deutschen Kulturnation verstanden wurde. Dadurch erklärt sich das pathetisch proklamierte gesamtdeutsche Beerben der klassisch-kanonischen Nationalliteratur durch Kommunisten wie Becher.364 An die Idee eines ›besseren Deutschland‹ als Kulturnation knüpften dann später in den Debatten der Wendezeit die Vertreter der »Legitimitätssphäre mit universalem Anspruch« wie vor allem Christa Wolf und Günter Grass auf ihre Weise erneut an.365 Mit dem kulturpolitischen Übergangsjahr 1948366 und spätestens mit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 verlor die Utopie des ›Kulturbundes‹, die angestrebte Einheit einer Kulturnation Deutschland, ihre Grundlage. Der Einfluss des kunstautonomen Pols im literarischen Raum nahm mit der gesellschaftlichen Legitimationsgrundlage ab.367 Damit ging eine Homogenisierung der Positionen von Seiten des Staates durch seine Kulturpolitik einher. Der gesamte obere Bereich des literarischen Raums, das heißt: der Bereich vom parteipolitisch legitimierten Pol der »Notabeln«-Autorposition, der nach der NS-Zeit in Westdeutschland weitgehend diskreditiert war, bis zum geschwächten oder nur in Form der Aneignung des kulturellen »Erbes« wirksamen ästhetisch-kulturellen Pol, der sich in der westdeutschen Entwicklung erst allmählich im Zuge einer Modernisierung neu ausbildete, wurde in der DDR zunehmend nach der Idee einer Nationalliteratur ›besetzt‹ (s. u., Abb. 5). Diese von Seiten des neu gegründeten sozialistischen Staats beanspruchte Nationalliteratur setzte sich aus dem ›bürgerlich-humanistischen Erbe‹ sowie einer »halbierten Einbürgerung der Exilliteratur« zusammen, denn das Erbe der Autoren der internationalen klassischen Moderne (Joyce, Proust, Kafka, Beckett etc., aber
364 »Goethes Geist schwebt über ganz Deutschland. Und in ganz Deutschland soll er durch Euch, junge Menschen, endlich verwirklicht werden. Geist werde Macht! Durchdrungen, beseelt von Goethes Geist, kann deutsches Wesen genesen. Genesen an diesem Geist, kann deutsches Wesen wieder mit sich eins werden, auch in seinem politischen und staatlichen Gefüge« (Johannes R. Becher: Der Befreier. Rede, gehalten am 28. August 1949 im Nationaltheater Weimar zur zweihundertsten Wiederkehr des Geburtstages von Johann Wolfgang Goethe. Weimar 1949, S. 53). 365 Siehe dazu unten: Erster Teil, II. 2.3. 366 »Das Jahr 1948 markiert mit seinen wichtigen kulturpolitischen Richtungsentscheidungen eine Veränderung im Feld, die im Zusammenhang mit der Konsolidierung des politischen Herrschaftsapparates sowie einer sozialistischen Wirtschaftsordnung (Enteignung und Bodenreform) und Gesellschaftsordnung (Volkseigentum) zu sehen ist. Daher kann hier von einem Periodenwechsel gesprochen werden« (Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 198). In literarischer Hinsicht sieht Ohlerich das Jahr 1948 »als Übergang vom kritischen zum sozialistischen Realismus« (ebd.). 367 Vgl. ebd., S. 167–169.
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auch Broch, Musil, Roth, Jahn, Klaus Mann, Walter Benjamin etc.) blieb aufgrund des ›Dekadenzvorwurfes‹ programmatisch ausgegrenzt.368 Die staatlich dirigierte Homogenisierung des oberen Sektors des literarischen Raums im Zeichen des Antifaschismus und der ›sozialistischen Demokratisierung‹ stellte auch eine eindimensionale Kontinuität zur linksbürgerlichen und sozialistischen Literatur der Weimarer Republik und des Exils her. Die Anknüpfung an die ›proletarisch-revolutionäre‹ Literatur der Jahre bis 1933 seitens eines Willi Bredel, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Bruno Apitz, mit der der politisch-avantgardistische und der »volkstümlich-moralische« Pol an Einfluss hätten gewinnen können, fehlte oder wurde staatlicherseits eingeschränkt und kontrolliert, weil sie nicht der Kulturerbe-Politik ›von oben‹ entsprach, wie sie insbesondere Johannes R. Becher verfolgte.369 Mit der Rückkehr der West-Emigranten wie Bertolt Brecht, Ernst Bloch, Anna Seghers und Stefan Hermlin setzte aber ab 1948 auch eine kurzzeitige Phase ein (bis 1951), in der sich – nach Ohlerich – im Rahmen des sozialistischen Grundkonsenses die literarischen Stimmen vervielfältigten und ein ästhetischer oder tendenziell ›häretischer Pol‹ herausbilden konnte.370 Während die Vertreter des heteronomen Pols ihre ästhetischen Konzepte direkt nach der Kulturpolitik der SED ausrichteten (eine parteiliche, dem Aufbau der neuen Gesellschaft verpflichtete Literatur, die sich am sowjetischen Realismus-Konzept nach Andrei Shdanow orientierte), definierten sich die neuen Positionen am kulturellen Pol im Rahmen des politisch-utopischen Grundkonsenses über das Primat künstlerisch-ästhetischer Kriterien. Aber auch dieser neue Ästhetikbegriff wurde politisch aufgefasst, die Schriftstellerinnen und Schriftsteller teilten das im literarischen Feld gültige Konzept einer eingreifenden
368 Vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte, S. 77–83 (»Die halbierte Einbürgerung der Exilliteratur«). 369 Vgl. ebd., S. 79 f., S. 96–98 (zum Agitproptheater Friedrich Wolfs), S. 105 f. (zur politischen Lyrik Erich Weinerts) u. S. 140 (zur Prosa von Hans Marchwitza und von Hans Lorbeer). »Eine 1946 gegründete ›Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Schriftsteller‹, die explizit an die Traditionen des BPRS [Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller; H. T.] anknüpfen wollte, hatten denn auch keine Zukunft. Mit der Gründung des Schriftstellerverbandes hörte sie auf zu bestehen« (S. 80). 370 »Die Pluralisierung ästhetischer Meinungen durch die anwachsende Präsenz der Westemigranten führte zu regen Diskussionen um die konkrete Ausgestaltung eines ›sozialistischen Realismus‹. Dabei bildeten sich erneut zwei gegensätzliche inhaltliche Positionen heraus, die sich grob an den Personengruppen des westlichen (inklusive des US-amerikanischen) bzw. des östlichen (sowjetischen) Exils festmachen lassen« (Ohlerich: Sozialistische Denkwelten, S. 204).
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Der literarische Raum in der SBZ/DDR (bis 1951) Gesamtvolumen des Notorietätskapitals + tendenziell staatlich nobilierter Pol
tendenziell ästhetischer Pol (bürgerlich-humanistisches Erbe, Literatur der Westexilanten)
staatlich nobilierter Sektor des „Kulturerbes“ Th. Mann, H. Mann, B. Brecht, A. Seghers, L. Feuchtwanger, A. Zweig, J. R. Becher, F. Wolf, E. Weinert, W. Bredel etc.
temporäres Kapital
symbolisches Kapital
volkstümlich-moralischer Pol
avantgardistischer Pol (antibürgerliche und formalästhetisch revolutionäre Literatur; nur in Ansätzen bis Formalismusplenum)
(kommunistische Literatur der Ostexilanten)
Gesamtvolumen des Notorietätskapitals –
(proletarisch-revolutionäre Literatur; durch Kulturpolitik weitgehend abgedrängt)
Abb. 5: Der literarische Raum in der SBZ/DDR (bis 1951)
Literatur.371 […] Kulturpolitisch sahen sie sich auf der Linie der SED, d. h. sie forderten, ganz im Geiste der werktätigen Intelligenz, keine künstliche Grenzziehung zwischen Kultur und Politik. Trotzdem gerieten sie immer wieder in Konflikt mit der Parteiführung, da sie stets den emanzipatorischen Charakter, das utopische Potenzial von Literatur zu stärken suchten. […] Ihr Ausgangspunkt war und blieb dabei stets die konkrete soziale Gegenwart, in der sie die kommenden Möglichkeiten bereits angelegt sahen.372
Der kulturelle Pol innerhalb des literarischen Raums der DDR war durch die West-Exilanten wie Bertolt Brecht oder Anna Seghers, die eigenständige Realismus-Konzepte verfolgten, vertreten, aber auch durch Personen wie den aus der inneren Emigration stammenden, nicht-marxistischen Peter Huchel, der mit seiner Zeitschrift Sinn und Form für eine »Ästhetik der Vieldeutigkeit« 373 ein-
371 Da die Literatur in der SBZ bzw. DDR insgesamt unter dem Primat des politischen Kapitals stand, d. h. innerhalb oder genauer: in Abhängigkeit des politischen Feldes institutionalisiert war, ist die Bestimmung als »Raum« (und nicht, wie hier bei Ohlerich, als »Feld«, das eine relative Emanzipation von staatlichen Abhängigkeiten und direkten Bestimmungen voraussetzt) analytisch zutreffender. Ohlerich spricht selbst von einer »strukturelle[n] Komplizenschaft zwischen dem literarischen und dem politischen Feld«, bei der »das Primat des Ideologischen« erhalten bleibe (ebd., S. 217). 372 Ebd., S. 205. 373 Ebd., S. 229–241.
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trat. Durch das sogenannte »Formalismusplenum« von 1951 verlor dann der kulturelle Pol wieder an Bedeutung.
Der antimoderne Affekt Neben der im Namen des »Kulturerbes« staatlich hergestellten Einheit, die die ganze Bandbreite zwischen ästhetisch-humanistischen und sozialistisch-parteipolitischen Positionen umfasste, prägte auch – ähnlich wie in Westdeutschland – die Anknüpfung an die »Heimatliteratur« und Literatur der »inneren Emigration« bis zu den ausgehenden fünfziger Jahren die Entwicklung des literarischen Raums.374 Die Regionalisierung, die später in den von staatlicher Seite initiierten »Bitterfelder Weg« überging (s. u.), korrelierte mit einer anti- oder vormodernen Haltung des Traditionalismus und Provinzialismus, die von einer generellen Absage an die Phase avantgardistischer Experimente, des Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit der Weimarer Zeit geprägt war und sich im »Formalismusplenum« von 1951 manifestierte.375 Der Verlauf der Existentialismus- und Realismus-Debatte führte zur Verhinderung des Anschlusses an die historischen Avantgarden, nicht nur der westlich-modernistischen, sondern auch der proletarisch-revolutionären. Das »Formalismusplenum« knüpfte an traditionelle Denkfiguren deutscher Zivilisationskritik an: Das Dekadenzverdikt war gegen die westliche Zivilisation gerichtet und berief sich auf die Dichotomie von »Kultur« und »Zivilisation« sowie auf Ressentiments gegen eine liberale Gesellschaft als Ort der Verflachung, der Vermassung und der Kommerzialisierung. Den Höhepunkt der restriktiven Reaktion von Seiten des Staates stellte dann das sogenannte »Kahlschlag«-Plenum von 1965 dar. Die schwerwiegenden Restriktionen lassen sich damit erklären, dass sich die staatlichen Funktionäre nicht die Meinungsführung nehmen lassen wollten und um jeden Preis die Ausbildung einer zweiten Öffentlichkeit neben der von der Partei beherrschten zu verhindern suchten.376 Die autoritäre Ablehnung des Modernismus, d. h. einer auf kunstautonome Reproduktion abzielenden Kunst, kennzeichnete vor allem die Entwicklung von der Konstituierung bis zur Konsolidierung des nationalliterarischen Raums in den sechziger Jahren.377 Der Affekt gegen die Moderne gründe-
374 Vgl. Heukenkamp: Ortsgebundenheit, S. 34: »Hier soll für einen regionalen Zuschnitt des Begriffs der DDR-Literatur plädiert werden. Damit liegt der Akzent auf der örtlichen Bestimmtheit von DDR-Literatur, die relativ eindeutig ist; gleichzeitig wird die Verbindung mit dem Regionalismus der Nachkriegsjahre herausgestellt«. Heukenkamp präzisiert: »Erst 1950 setzte ein durchgreifender Wandel ein, der die moralisch-politische Instrumentalisierung von Literatur zum Ziele hatte und zeitweise auch behauptete« (S. 35). 375 Vgl. ebd., S. 37; u. ausführlich bei Günter Erbe: Die verfemte Moderne. Die Auseinandersetzung mit dem »Modernismus« in Kulturpolitik, Literaturwissenschaft und Literatur in der DDR. Opladen 1993. 376 Vgl. Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945– 2000. Leipzig 32002, S. 239 u. S. 241. 377 Vgl. zum Folgenden Erbe: Die verfemte Moderne, S. 208 f.
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te auf deren vermeintlich elitärem und kollektivfeindlichem Charakter, auf deren ›nihilistisches‹ und ›solipsistisches‹ Welt- und Menschenbild, das nicht für einen geschichtlich-sozialen Fortschritt, sondern für einen Zerfall stehe. Der Vorwurf lautete, dass der moderne Formalismus alte Inhalte der bürgerlichen Klassenherrschaft in neuen Formen konserviere. Mit der Ablehnung von Modernismus und Formalismus wandte man sich auch gegen einen ›Kosmopolitismus‹ und setzte sich für die Aneignung nationaler Traditionen ein.378 Schriftsteller und Künstler hatten weltanschauliche Orientierung im Sinne der SED und moralisch-vorbildliche Werte zu vermitteln. Diese Vorgaben der nationalen Kulturpolitik Walter Ulbrichts, die die Kunst auf das positive Beispiel verpflichtete, stand jedem Begriff einer unabhängigen, kritischen Kunst entgegen, und damit konnten sich in der Folge immer weniger Schriftsteller arrangieren.
Zur antimodernen Abgrenzung und nationalen Begründung kam die Aufspaltung des gesamtdeutschen literarischen Feldes durch die Ausprägung verschiedener literarischer Öffentlichkeiten: Während sich im Westen ein relationales Gefüge kultureller Legitimitätssphären ausprägte, führte in der DDR der fünfziger Jahre die Angleichung differenter Ausdrucksformen, die Ablehnung experimenteller Formen und das Primat des sozialistisch-vorbildhaften Inhalts zu einer zunehmenden Nivellierung der kulturellen Legitimitätssphären.379 Bogdal hat die Strukturentwicklung der DDR-Literatur in den fünfziger Jahren untersucht und auch er spricht von einem (diskursiven) »Raum« in dieser Zeit und nicht von einem literarischen »Feld«. Der Kern der Problematik, der in der Frage besteht, inwiefern die DDR-Literatur ein eigenes literarisches Feld darstellte oder nicht,380 kann bestimmt werden, indem man auf Bourdieus Unterscheidung der Legitimitätssphären kultureller Güter und Praktiken zurückgreift:381 Mit Blick auf die Ebenen der Institutionen, der Diskurse und des Selbstbildes der neuen Autoren in der DDR der fünfziger Jahre skizziert Bogdal einen Prozess der Vereinheitlichung und Fremdbestimmung der von Bourdieu unterschiedenen Legitimationsinstanzen
378 Diese Frontlinie bestätigt Casanovas Modell eines internationalen, formalästhetischkunstautonom begründeten Feldes und dessen nationalen, moralisch-politisch begründeten Antipol (s. o.: I. 1). 379 Vgl. zum Folgenden Klaus-Michael Bogdal: Alles nach Plan, alles im Griff. Der diskursive Raum der DDR-Literatur in den Fünfziger [sic] Jahren. In: Mein, Rieger-Ladich (Hg.): Soziale Räume und kulturelle Praktiken. S. 123–148; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 380 Vgl. Ute Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR. Bedingungen und Formen literarischer Produktion in der DDR. Würzburg 2005. Die Herausgeberin betont, dass von Bourdieus Autonomie-Begriff ausgegangen wird, weil der Begriff »weder einen überhistorischen Wert noch einen gesicherten Zustand darstellt«. Daher biete das Konzept des Feldes »die Möglichkeit, die gängige Frage nach der Autonomie vs. Heteronomie der DDR-Literatur, die etwa als Beweis ihrer Modernität vs. Vor-Modernität genommen wird, als Frage nach dem historisch konkreten Prozess der relativen Autonomisierung, seiner Formen und Bedingungen, seiner Spielregeln und Spielpartner neu zu formulieren« (S. 5 f.). Unterlaufen wird dieser Ansatz allerdings von der fehlenden theoretischen Kohärenz der Beiträge. 381 Siehe dazu oben: I. 2. u. Abb. 3.
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durch die ideologischen Vorgaben der Parteidoktrin. Diese zielte darauf, die Differenzen zwischen den Sphären und damit auch ihre Funktionsteilung in der Gesellschaft aufzuheben (vgl. 126). Jedoch sind die Anfänge des kulturellen Raums in der DDR widersprüchlicher Art. Es konkurrierten nach Bogdal in der SBZ mehrere Modelle: die Rückkehr zum pluralen System der Moderne vor 1933, der Umbau der vom Nationalsozialismus geschaffenen Strukturen oder die Übernahme des sowjetischen Konzepts (vgl. 125). Von Bedeutung sind dabei insbesondere die sozialstrukturellen, diskursiven und mentalen Kontinuitäten in der Gründungsphase der DDR, die die Entwicklung des kulturellen Raumes maßgeblich mitbestimmten und sich auf drei Traditionslinien zurückführen lassen: die des bürgerlichen Humanismus der Aufklärung und Klassik, die der nationalen Befreiungsbewegungen von 1813 und die der Vormärzideale von 1848. Mit diesen diskursiven ›Erbe‹-Referenzen sollten das Bildungsbürgertum, Nationale und Liberale erreicht werden (vgl. 128). Schließlich spiegelte der »hegemoniale Literaturbegriff der ersten beiden Jahrzehnte, ein Konglomerat aus der kleinbürgerlich-proletarischen Alltagsästhetik der Aufsteigerschicht in Partei und Verwaltung und der bildungsbürgerlichen Antimoderne der integrierten alten Eliten«, die »ästhetischen Bedürfnisse der beiden wichtigsten Leserschichten dieser Phase affirmativ wider« (136). Damit ist eine von unterschwelligen Kontinuitäten geprägte Wandlung oder Homogenisierung des kulturellen und literarischen Raumes erfasst, der nur anfänglich und vereinzelt (z. B. mit Brecht und Weill) noch den Anschluss an die ausdifferenzierte literarische Moderne hielt und sich durch eine von der Parteidoktrin vorgegebene Entdifferenzierung von ihr abkoppelte. Zeigen lässt sich diese Entwicklung pointiert an der Diskreditierung und Bekämpfung des Formalismus und des Kosmopolitismus einerseits (vgl. 140 f.), der Wendung hin zu ästhetisch konventionellen und traditionalistischen Richtungen und Werken, die eine ›literarische Ersatzbürgerlichkeit‹ schufen,382 andererseits, schließlich an der politischen Durchsetzung der ästhetischen Einheitsbestimmung eines nationalen sozialistischen Realismus. Zusammengefasst erfolgt nach Bogdal das Ende der Aufbauund der Beginn der Übergangsphase des literarischen Raums hin zu einem »institutionell zwingenden System« (Foucault) 1.) durch eine strikte und immer enger werdende Markierung seiner Grenzen, 2.) durch die gleichzeitige Intervention der politischen Macht, 3.) durch die Verhinderung der internen Ausdifferenzierung durch Homogenisierung der Legitimitätssphären und Etablierung einer politisch bestimmten ästhetischen Wertehierarchie, 4.) durch die Festlegung der Autorpositionen, die Bürokratisierung (im Sinne Max Webers) der Schreibprozesse und schließlich 5.) durch rigide Ausschlussprozeduren und die Durchsetzung der Definitionshoheit sowie deren juristischer Verankerung.383
Der (scheiternde) Versuch einer Annäherung an den Sozialraum der Gegenwart: Der »Bitterfelder Weg« ab 1959 Die parteipolitische Bestimmung und bürokratische Kontrolle der Literatur zeigte sich auch in der staatlich gelenkten ›Übernahme‹ der spätestens mit der Gründung des Schriftstellerverbandes 1950 abgedrängten proletarisch-revolutionären Literatur. In dem von oben bestimmten literarischen Raum drohte sich die sozialistische Literatur, die als ›nationale‹ proklamiert wurde, von den Bin-
382 Vgl. dazu unten: Erster Teil, II. 2.4.; u. Zweiter Teil, II. 2.4. 383 Vgl. Bogdal: Alles nach Plan, S. 133.
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dekräften ›unten‹, vom ›Volk‹, zu entfernen. Mit dem von Ulbricht initiierten »Bitterfelder Weg« (1959) setzte man daher zu einem neuen Versuch an, das Konzept der Nationalliteratur und den Sozialraum der Gegenwart in eine politisch kontrollierte Übereinstimmung zu bringen. Einerseits sollte ein Wiedererstarken der Arbeiterkultur- und Agitprop-Bewegung aus der Zeit der Weimarer Republik, d. h. das Aufkommen ›anarchischer‹, volkstümlicher Autorpositionen, verhindert werden.384 Dagegen zielte das Programm des »Bitterfelder Weges« darauf, das Bildungsbürgertum und die neue Intelligenz proletarisch ›auszurichten‹ und über die Literatur das von Anfang an mangelnde oder abnehmende sozialistische Bewusstsein in der Bevölkerung zu stärken. Die Regionalisierung der Literatur der Nachkriegszeit und ihre vormoderne Prägung transformierten sich in eine sozialistische Programmatik der »Produktionsliteratur«. Als Ausdruck »sozialistischer Nationalkultur« 385 wurde die Orts- und Identitätsgebundenheit der Literatur nationalisiert und der Realismus des Inhalts festgeschrieben. Mit der neuen Darstellung der Arbeitswelt entstand ein sozialistischer Milieurealismus, der zum erstmaligen Ausdruck einer eigenständigen, nationalen »DDR-Literatur« führte. Die »Produktions-« und »Ankunftsliteratur«, die auch Auswirkungen auf die Entwicklung einer dokumentarischen Literatur im bundesdeutschen literarischen Feld hatte,386 stellte also in struktureller Hinsicht einen Versuch dar, den staatlichen Raum und seine offizielle Öffentlichkeit mit dem »arbeiterlichen«387 Sozialraum über das Medium der Literatur zu einer repräsentativen und damit legitimierten Deckung zu bringen. Ausdruck hierfür war insbesondere die »Ankunftsliteratur«, für die vor allem die Romane Ankunft im Alltag von Brigitte Reimann und Der geteilte Himmel von Christa Wolf (beide 1961) stehen. In der »Ankunftsliteratur« geht es um die alltägliche Bewährung in der gesellschaftlichen Arbeitswelt, ums Realistisch-Werden gegenüber zu hohen, idealistischen Erwartungen an den Sozialismus. Die ›Ankunft im Alltag‹ gelingt über sozialistische Bewusstwerdung, so auch in Christa Wolfs Roman Der geteilte Himmel. Im Unterschied zu Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob, wo die Erzählerinstanz vervielfältigt, die Handlung in Sequenzen zerteilt und der Leser zur aktiven Beteiligung an den »Mutmaßungen« aufgerufen ist, sind Form und Rezeption des geteilten Himmels am inneren Bewusstseinsprozess
384 Vgl. Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 179; u. oben: Abb. 4. 385 Die Losung von 1959 lautete bekanntlich: »Greif zur Feder, Kumpel! Die sozialistische Nationalliteratur braucht Dich!« 386 Siehe dazu oben: II. 1.2. 387 Zum Begriff des »arbeiterlichen«, d. h. relativ homogenen Gesellschaftsraums in der DDR vgl. Wolfgang Engler: Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Berlin 1999.
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der Protagonistin, der als Genesungsprozess dargestellt wird, gebunden. Prolog und Epilog rahmen diesen Prozess, der von einer Unruhe hin zu Ruhe und Vertrauen in den Aufbau der neuen Menschengesellschaft führt. Erzählt wird die Krise und deren Bewältigung also vom ›guten Ende‹ her mittels des Verfahrens der erinnernden Reflexion. Ritas Unfall wird so zum Wendepunkt ihrer Entwicklung hin zur bewussten Entscheidung für den Verbleib und für die Mitarbeit an der Verbesserung der sozialistischen Gesellschaft. Der »Bitterfelder Weg« war daher nicht nur konkreter Ausgangspunkt für Wolf mit ihren Erfahrungen im Waggonbau-Kombinat in der Nähe von Halle. Im Roman ist auch das Programm einer repräsentativen Angleichung des offiziellen Raums und des alltäglichen, durch Arbeit geprägten Sozialraums, eines kollektiven Gesellschafts- und eines individuellen Lebensprojekts, realisiert. Gleichwohl zeichnen sich mit der variablen internen Fokalisierung, mit den Techniken des inneren Monologs, der erlebten Rede und mit den zeitlichen Überblendungen deutliche Kennzeichen eines subjektivierten Erzählens ab, das dann in Nachdenken über Christa T. (1968) zu Wolfs charakteristischem Erzählprinzip wurde. Zu den Ansätzen eines subjektivierten Erzählens kommt in Der geteilte Himmel die Figur Manfreds hinzu, dessen Streben nach Individualismus und Selbstverwirklichung und schließlich der Flucht in den Westen zwar im Roman verurteilt wird, dessen Charakter aber komplexer und interessanter als Rita gezeichnet ist. Damit sind in Inhalt und Form des Romans bereits die Bruchlinien zwischen dem offiziellen Raum und dem sich loslösenden inoffiziellen, ›zweiten‹ Raum als eine über das Subjekt verbürgte Wirklichkeit und Wahrheit angezeigt (s. u.). Nach Ulbrichts Kunstverständnis sollten die literarischen Figuren gegen Skeptizismus und Pessimismus auf das positive Beispiel ausgerichtet sein und zur Identifikation mit dem ›neuen sozialistischen Menschen‹ ›zwingen‹.388 Der Versuch, eine zugleich lokal in Gegenwart und Arbeitsalltag eingebundene wie auch repräsentative nationale Literatur zu schaffen, die die Legitimationskrise des staatlich-bürokratisch kontrollierten literarischen Raums hätte beenden können, scheiterte jedoch. Denn die Darstellung der Alltagsrealität der Arbeitswelt führte bei den Schriftstellern zu abweichenden, ›rebellischen‹ Einsichten in die realen gesellschaftlichen Widersprüche.389 Der Begriff der »DDR-Literatur«, der Anfang der sechziger Jahre im Zuge der Anerkennung der endgültigen Trennung der beiden deutschen Staaten geprägt wurde, entstand also gerade in einer Zeit, als die Krise des ›Paktes‹ zwischen Staat und literarischer Intelli-
388 Vgl. Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 176 f. 389 Vgl. ebd., S. 180.
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genz schon eingesetzt hatte.390 Der Versuch der Erneuerung dieses ›Paktes‹ lässt sich auf die Kulturpolitik der sechziger Jahre zurückführen, die spätestens mit der »Zweiten Bitterfelder Konferenz« (April 1964) und im Zuge des »Neuen Ökonomisches Systems der Planung und Leitung« (NÖSPL) die Trennung der Intelligenz vom Arbeitervolk anstrebte und ersterer mehr Vollmachten zur Leitung und Verwaltung des kulturellen Erbes gewährte. Andererseits drängte die Kulturpolitik die traditionellen und neuen Bildungsbürger in die Nischen, wo man ihnen aber dennoch die Pflege des klassischen kulturellen Erbes zugestand,391 wie sich am Beispiel von Peter Hacks sehen lässt (s. u.). Retrospektiv zeigt sich hier der Anknüpfungspunkt für eine neue ›bildungsbürgerliche‹ Linie in der Gegenwartsliteratur, die nach der Wende als Erbe einiger ostdeutscher Autoren der Generation der ›Hineingeborenen‹ wie Grünbein und Tellkamp in das gesamtdeutsche literarische Feld eingebracht wurde.392 Die Trennung des ostdeutschen literarischen Raumes vom westdeutschen literarischen Feld in den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre lässt sich nun zusammenfassen: Sie vollzog sich auf der Grundlage einer Angleichung der literarischen Legitimitätssphären und Institutionen, einer Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins als weltanschauliche Alternative des sozialistischen Aufbaus, der darauf folgenden Angleichung und Vereinheitlichung der Schreibweisen durch Realismusnorm und ideologische Verbindlichkeit sowie schließlich aufgrund der faktischen Trennung seit dem Mauerbau 1961. Die Bekräftigung der Verbindung zwischen Staat und literarischer Intelligenz im Geiste eines erst durch die Mauer scheinbar möglich gewordenen Aufbaus eines sozialistischen Staates wurde mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED 1965, auf dem scharfe Kritik an Künstlern, Filmemachern und Schriftstellern geübt wurde,393 und spätestens mit der militärischen Beendigung des Prager Frühlings 1968 hinfällig. So führte »[der] systematische Umbau des literarischen Raumes [...] in eine schwere Krise, die seit den sechziger Jahren eine langsame Rückorientierung auf das differenzierte Literatursystem der Moderne erzwang«.394 Angesprochen ist damit die Entstehung eines ›zweiten‹ kulturellen Raums, in dem sich die Literatur der Reformsozialisten emanzipierte. Diese
390 Vgl. Ursula Heukenkamp: Eine Geschichte oder viele Geschichten der deutschen Literatur seit 1945? Gründe und Gegengründe. In: Zeitschrift für Germanistik, NF. 5 (1995), H. 1, S. 22– 37, hier S. 22; u. U. H.: Ortsgebundenheit, S. 31. 391 Vgl. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. 1996, S. 394 f., Anm. 33. 392 Siehe unten: Zweiter Teil, II. 2.4. 393 Unter anderem an Biermann, Bräuning, Braun, Heym, Kunert, Hacks und Müller; zu den letzten beiden siehe unten die Fallstudie 2. 394 Bogdal: Alles nach Plan, S. 145.
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trug zur Ausbildung einer ›zweiten‹, nicht-offiziellen Öffentlichkeit und eines relativ eigenständigen literarischen Feldes bei.
2.2 Die Ausprägung eines kulturellen Raums zweiter Ordnung und die Emanzipation des literarischen Feldes (1965–1976) Der »Bitterfelder Weg« war der kulturpolitische Versuch, über die Literatur ›von Staats wegen‹ ein sozialistisches Bewusstsein zu schaffen, das heißt feldanalytisch: eine ideologische und legitimatorische Kongruenz bzw. ein Repräsentationsverhältnis zwischen dem Feld der Macht (dem Herrschaftsapparat) und dem Sozialraum einer ›arbeiterlichen‹ Bevölkerung herzustellen. Indem der »Bitterfelder Weg« dazu beitrug, dass Kunst und Kultur nicht nur von staatlicher Seite, sondern auch für die Bevölkerung selbst zu einer wichtigen Kommunikationsform in der Auseinandersetzung mit der Alltagsgegenwart wurde, leitete er eine von der Kulturpolitik unbeabsichtigte emanzipative Entwicklung innerhalb des literarischen Raumes der DDR ein. Denn mit der Frage nach der Repräsentation der sozialistischen Wirklichkeit entwickelte sich im Medium der Literatur eine Debatte über den ›wahren Sozialismus‹. Das Bekenntnis zur DDR und zur kulturellen Separation als Ausdruck der nationalisierten und einheitsparteilich dirigierten Literatur erfuhr mit dem »Kahlschlag-Plenum« von 1965 und spätestens mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 deutliche Risse. Schriftsteller und Intellektueller distanzierten sich zunehmend vom autoritären und vormundschaftlichen Staat, von der Sozialistischen Einheitspartei, ihrer ›Einheitssemantik‹ und ihrem alleinigen Herrschaftsanspruch. Die ›aristokratischen‹ Eliten verloren den Bezug zur sozialen Wirklichkeit und ihre legitimatorischen Reden vom fortdauernden »antifaschistischen Kampf«, vom »sozialistischen Fortschritt« und vom »Frieden« wurden zu aufgesetzten Parolen, die im Alltagsleben kaum noch ernst genommen wurden. Das etablierte Herrschaftssystem ließ allerdings keine Korrektur zu und in der Folge entwickelte sich aus der Sinnentleerung und Erstarrung der Rechtfertigung des Herrschaftssystems eine Art »Strukturfeudalismus«.395
Die Anfänge der Autonomisierungstendenzen innerhalb des literarischen Raums in Richtung eines literarischen Feldes entwickelten sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Referenz: des Einverständnisses oder der Distanznahme zum offiziellen Raum, seinen ›strukturfeudalistischen‹ Rahmenbedingungen und zu der ihn konstituierenden Behauptung eines repräsentativen Führungsverhältnisses zwischen Parteispitze und sozialem Raum. In der Forschung wurde dieser Prozess der Infragestellung des Stellvertreteranspru-
395 Vgl. Peter Alheit: Zivile Kultur. Verlust und Wiederaneignung der Moderne. Frankfurt a. M., New York 1994, S. 251.
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ches, der Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen dem Feld der Macht und dem sozialen Raum sowie der realen Emanzipation der alltagskulturellen Lebenswelten als Entstehung eines koexistierenden und komplementären »sozialen Raumes ›zweiter Ordnung‹« (Alheit) gedeutet.396 Der soziale Raum ›sowjetischen‹ oder ›staatssozialistischen‹ Typs lässt sich mit einer Modifizierung des sozialen Raummodells Bourdieus erfassen: Statt des Gegensatzes von »kulturellem« und »ökonomischem« Kapital, der das soziale Kräftefeld gesellschaftlicher Positionierungen in westlichen, kapitalistischen Gesellschaften prägt, herrscht hier die Opposition zwischen einem (tendenziell subversiven) »kulturellen« und einem »(partei-)politischen« Kapital vor.397 Das Modell eines ›anderen sozialen Raums‹ hat Alheit durch die Unterscheidung zweier verschachtelter Ordnungen modifiziert (s. u., Abb. 6): Der Raum »erster Ordnung« der DDR war durch »strukturfeudalistische« Rahmenbedingungen geprägt. Das Feld der Macht besetzte ein innerer Machtapparat mit »quasi-feudalen« Funktionen in relativer Unabhängigkeit von den Strukturen des konkreten sozialen Raums. Er setzte sich aus symbolischen Schlüsselpersonen der Parteispitze und der antifaschistischen »Arbeiteraristokratie« zusammen und wurde durch einen mächtigen Repressionsapparat (MfS) gestützt. Dieser Partei- und Staatsapparat war für die Reproduktion und Regulierung des sozialen Raums (= vertikale Achse) zuständig. Er schränkte die Dynamik im konkreten sozialen Raum durch »strukturfeudale« Muster der sozialen Zuteilung und Platzierung ein. Er regelte die Pseudo-Planwirtschaft, die Allokation der Arbeitskräfte, die Organisation eines pseudo-meritokratischen Bildungs- und Qualifikationswesens, die sozialpolitische Überversorgung, die Organisation künstlicher Öffentlichkeiten und die Produktion von in seinem Sinne politisierten Künsten und Medien. Trotz dieses »strukturfeudalen Korsetts« war eine gezügelte Dynamik des sozialen Raums ›unterhalb‹ der offiziell beglaubigten Realität möglich. Alheit verortet diese Dynamik in einem »sozialen Raum ›zweiter Ordnung‹«, der als ›private‹ Welt ausgeprägter Beziehungsstrukturen »gerade nicht das schlechthin ›Andere‹ nominal-sozialistischer Realität, sondern ihrerseits nur ein Komplement der Gesamtgesellschaft darstellte«.398In diesem sozialen Raum zweiter Ordnung, der sich im Modell in der Horizontalen nach dem Gegensatz zwischen einem nonkonformen »kulturellen Kapital« einerseits und einem konformen »politischen Kapital« andererseits und in der Vertikalen nach dem Gesamtvolumen der jeweiligen Kapitalsorten, d. h. nach dem relativen sozialen Einfluss aufspannt, entwickelten sich insbesondere in den siebziger und achtziger Jahren heteronome Teilöffentlichkeiten – so der protestantischen Kirche und der kritischen wissenschaftlichen und kulturellen Eliten – wie auch alltagskulturelle Gegenmilieus. Hier wurden die diskursiven Auseinandersetzungen gegen die Einheitssemantik des Staates geführt. Dies geschah nicht zuletzt in der Literatur, die als Sprachrohr des realen sozialen Raums angesehen wurde und damit die Funktion einer gesamtgesellschaftlichen Ersatzöffentlichkeit übernehmen konnte.
396 Vgl. zum Folgenden Alheit: Zivile Kultur, S. 248–255 (»›Strukturfeudalistische‹ Rahmenbedingungen« u. »Ein sozialer Raum ›zweiter Ordnung‹«). 397 Vgl. Bourdieu: Politisches Kapital als Differenzierungsprinzip. 398 Alheit: Zivile Kultur, S. 253. »[A]uch die Beziehungen in jenem ›sozialen Raum zweiter Ordnung‹ waren an den Zugangsbedingungen zu bestimmten Kapitalsorten, besonders natürlich zum ›politischen Kapital‹, orientiert« (ebd.).
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Abb. 6: Der soziale Raum ›zweiter Ordnung‹ der DDR 399
Aus dem sozialistischen Milieurealismus der Produktionsliteratur entwickelte sich eine Vervielfältigung literarischer Positionen, die ihrerseits dialogischer wurden. Die auf Dialogisierung ausgerichtete Literatur trug zur Ausprägung
399 Ebd., S. 250.
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einer ›zweiten‹, literarischen Öffentlichkeit bei, die sich von der ersten, offiziellen Öffentlichkeit absetzte. Damit lassen sich im literarischen Raum der DDR – phasenverschoben – mit der westdeutschen Entwicklung vergleichbare Prozesse der Emanzipation in den sechziger und siebziger Jahren feststellen. Bei den Modernisierungsabläufen gilt es aber zu unterscheiden: Während sich im Westen die Literatur allmählich von gesamtgesellschaftlichen Funktionen verabschiedete (exemplarisch mit dem Niedergang der symbolischen Zentralstellung der Gruppe 47), emanzipierte sich die Literatur in der DDR von staatlich vorgegebenen Funktionen. Dabei entwickelte sich das literarische Feld in der DDR als ›subinstitutionelle‹ Existenzform ›unterhalb‹ der offiziell definierten Realität; es war also zugleich in das offizielle »strukturfeudalistische Korsett« eingespannt. Mit der Ausprägung eines kulturellen Raums ›zweiter‹ Ordnung konnten sich innerhalb des nationalliterarischen Raumes der DDR Ansätze eines relativ eigengesetzlichen literarischen Feldes entwickeln. Genauer gesagt wurde der offizielle, politisch-ideologisch dominierte erste literarische Raum in wachsendem Maße symbolisch überlagert vom literarischen Feld, das neben seinen Charakteristika der Emanzipation und Ausdifferenzierung überdies die Funktion einer kritischen Ersatzöffentlichkeit für den Sozialraum übernahm und darin seine organisierende Einheit und gesamtgesellschaftliche Legitimierung fand. Die symbolische Überlagerung von nationalliterarischem Raum, der den Grundkonsens mit dem Feld der Macht wahrte, und einem zunehmend selbst bestimmten literarischen Feld ist feldanalytisch als Doppelung des Bezugsund Wertesystems zu verstehen. Für diesen emanzipativen Prozess war innerliterarisch der Einfluss der (westlichen) Moderne maßgeblich. Er führte zur Formierung einer literarischen Zivilisationskritik, die auf die reichhaltigen Traditionsbestände der Weimarer Republik, der Romantik bis hin zur Antike zurückgreifen konnte. Die Modernisierung der Literatur im Rückgriff auf diese Traditionsbestände diente dem Anspruch auf Selbstbestimmung. Mit ihm entstanden in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre eine von der westlichen Moderne geprägte Zivilisationsskepsis und -kritik, die mit dem Verlust eines sicheren, einheitlichen Weltbildes, Sinnkrisen und einem wachsenden Geschichtspessimismus einhergingen. Mit dem thematischen und formalen Einzug der Moderne in die literarische Produktion rückten die Perspektive des Subjekts und die Problematik des an seiner Um- und Mitwelt leidenden Individuums ins Zentrum.400 Diese insbesondere die Literatur der siebziger und achtziger Jahre
400 Vgl. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 210 f.
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prägende Zivilisationskritik401 war Ausdruck dafür, dass die in Abgrenzung vom ›ersten‹, offiziellen Raum sich modernisierende Literatur nach und nach die Deutungshoheit über den konkreten Sozialraum und seine Alltagsgegenwart gewann. Über die Zivilisationskritik wurde die in der DDR entstandene Literatur mit dem literarischen Feld in der BRD kompatibel, d. h. sie wurde hier zu einer legitimen Referenz. Ab etwa Mitte der sechziger Jahre wurden verstärkt Elemente der westlichen Moderne in die Literatur aufgenommen. Vorkämpfer für die Vermittlung der Moderne waren die Vertreter des kulturellen Pols in der Gründungsphase des literarischen Raums wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler, Peter Huchel als Chefredakteur der Zeitschrift »Sinn und Form«, Günter Kunert oder Stephan Hermlin, der – jüdisch-bildungsbürgerlich sozialisiert – sich insbesondere als Lyriker von Anfang an in der Tradition der Moderne sah.402 Als ›Inbegriff des Modernismus‹ galt in der DDR Franz Kafka. In seinen Werken geht es um die Entfremdung des modernen Subjekts in der kapitalistischen Gesellschaft im Verhältnis zur Arbeit und zum bürokratischen Staat, deren Existenz man unter sozialistischen Verhältnisse bislang vehement bestritten hatte. Hieran schlossen sich die Debatten um »Formalismus«, »Dekadenz«, »Ich-Zerfall« etc. an. Die erste Kafka-Konferenz 1963 im tschechischen Liblice war ein wichtiger Schritt in der Auseinandersetzung um die Legitimierung der literarischen Moderne.403 Sie zeigte, dass die Intellektuellen immer weniger Verständnis für das offizielle »Dekadenz«-Verdikt aufbrachten. Im Kern ging es bei den Kafka-Debatten um die Anerkennung und positive Umdeutung der Einsicht, dass sich auch nach der ›Machtübernahme des Proletariats‹ das Problem der Entfremdung des Individuums in einer sozialistischen Gesellschaft stellte.404
Im Streit um Kafka in der DDR zeigt sich eine Konvergenz der kulturellen Modernisierung in Ost- und Westdeutschland, die sich auch als eine »Konkurrenz um Demokratisierung« begreifen lässt.405 Anfang der siebziger Jahre war dann
401 Wolfgang Emmerich kennzeichnet mit dem Begriff der »Zivilisationskritik« die gesamte Literaturepoche von 1971–1989 (vgl. Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR, Kap. 6, S. 239 ff.). 402 Vgl. Gregor Ohlerich: Stephan Hermlins Verhältnis zur Arbeiterklasse: Zwischen Bürgertum und Sozialismus. Eine literatursoziologische Untersuchung auf der Grundlage von Pierre Bourdieus Theorie des sozialen Raumes. Berlin 2000. 403 Vgl. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 88–110 (»Franz Kafka als Inbegriff des Modernismus [I]«) und die beziehungsgeschichtliche Darstellung bei Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 219–243 (Kap.: »Modernisierung und Moderne«). 404 »Diese Erkenntnis belebt in der revolutionären Bewegung den Kafkaschen Sinn der Negativität und den Willen, der Subjektivität ihren ganzen Platz einzuräumen« (Klaus Jarmatz [Hg.]: Kritik in der Zeit. Halle, Leipzig 1970, S. 535; zit. n. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 232). 405 Hier ging es »um den Beitrag von Literatur zu einer Demokratisierung der sozialistischen Gesellschaft unter den Bedingungen der Entspannung, als im Westen Demokratisierung zu einem umstrittenen Kernbegriff der im Wettbewerb mit dem Osten zu leistenden Modernisierung wurde« (Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 220).
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deutlich ein »Nachlassen des Affekts gegen die Moderne« 406 und damit auch das Ende der strikten Abgrenzung vom Westen zu vernehmen, wodurch Konvergenzen und Interferenzen immer offener zutage traten. Trotzdem sahen sich Autoren in der DDR, die für die literarische Modernisierung eintraten und zugleich an der sozialistischen Utopie festhielten, oftmals weiterhin gezwungen, sich von gleichzeitigen Entwicklungen und Erscheinungen im literarischen Feld der BRD abzugrenzen.407 In der deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte, die sich aus Abgrenzungen und Konvergenzen zusammensetzt, wurden in der Literatur der späten sechziger im Übergang zu den siebziger Jahren die Gemeinsamkeiten der Modernisierungsproblematik immer sichtbarer. Die Konvergenz der Entwicklungen basierte auf einer sowohl wirtschaftlichen (Technologisierung, Rationalisierung der industriellen Produktion, wachsender Konsum) als auch politischen (Demokratisierung) und kulturellen Konkurrenz um Modernisierung, vor allem in der Bildungsexpansion und Alltagskultur.408 Wie im literarischen Feld in der BRD stellte sich im ›zweiten‹ literarischen Raum bzw. Feld in der DDR die Frage nach der Verbindung von Literatur und (Alltags-)Leben, hier jedoch noch zentraler mit Fokus auf die Arbeitswelt. Der Versuch einer Neugestaltung des Verhältnisses von Arbeitern und Führungskräften stellte das 1963 eingeführte »Neue Ökonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft« dar. Unterhalb des »staatsfeudalistischen Korsetts« (Alheit) trug es der auch in der DDR gewachsenen Bedeutung des Erwerbs von kulturellem Kapital Rechnung. Mit der Ausbildungsoffensive, der Verfolgung neuer Organisationsmodelle eines ›demokratischen Zentralismus‹ (nach dem Modell der Kybernetik) und mit ehrgeizigen technologischen Zielen erreichten die modernistischen Überlegenheitsillusionen der DDR in den sechziger Jahren ihren Höhepunkt.409 Sie konvergierten mit vielen Modernisie-
406 Vgl. Erbe: Die verfemte Moderne, S. 111 ff. (Kap. II: »Das Nachlassen des Affekts gegen die Moderne in der Kulturpolitik und die Emanzipation der Literatur in der DDR [1971–1989]«). 407 So versuchte Werner Bräunig seinen Roman Rummelplatz (Veröffentlichung eines Auszug 1965, danach verboten) von westlicher »Dekadenz«, wie vermeintlich in Gisela Elsners Roman Die Riesenzwerge (1964), abzugrenzen (vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 220). 408 »Beide deutsche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme sind leistungsorientiert, auf Wachstum und Modernisierung gerichtet und werden durch die steigende Bedeutung von Wissenschaft, Forschung, Bildung und Ausbildung charakterisiert« (»Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1971«, S. 34; zit. n. Jürgen Scharfschwerdt: Werther in der DDR. Bürgerliches Erbe zwischen Sozialistischer Kulturpolitik und gesellschaftlicher Realität. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 22 [1978], S. 235–276, hier Anm. 72; vgl. auch Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 221). 409 Vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 230; u. differenziert bei Dietrich Mühlberg: Von der Arbeitsgesellschaft in die Konsum-, Freizeit- und Erlebnisgesellschaft. Kulturgeschichtliche
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rungstendenzen in der BRD. Die Emanzipation und Modernisierung in der Horizontalen des Sozialraums unter Beibehaltung des »staatsfeudalistischen Korsetts« in der Vertikalen kann feldanalytisch als Versuch der Neulegitimierung der Herrschaftsordnung und der Herstellung von Konvergenz zwischen dem ›ersten‹, offiziellen Raum und dem sich ausdifferenzierenden ›zweiten‹, alltagskulturellen Sozialraum verstanden werden. Entsprechend ließ auch die offizielle Vorgabe des sozialistischen Realismus in wachsendem Maße Verfahren klassisch-moderner Literatur zu. Dadurch wurden das Typische und die vorbildliche Perspektive durch die Kategorie des ›Menschenbildes‹ ersetzt.410 Am Ende der Ulbricht-Ära war der utopische Charakter des SozialismusBegriffs der SED eingebüßt. Angesichts neuer sozialer Unterschiede und Konflikte im Alltag war das Ziel einer ›sozialistischen Menschengemeinschaft‹ in der Realität nicht mehr sichtbar. Entsprechend wurde der Begriff eines »real existierenden Sozialismus« geprägt. Die wachsende Distanz zwischen dem Staat und dem sich verstärkt über »(alltags-)kulturelles Kapital« bestimmenden sozialen Raum setzte sich auch nach dem Machtwechsel und der Konsolidierung der Regierung Erich Honeckers in den siebziger Jahren fort, nun im Zeichen einer ›Ankunft im real existierenden Sozialismus‹, einer gesellschaftspolitischen Stagnation bei zugleich gesteigertem ökonomischen Konsum und Bildungserwerb. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich die Zivilisationskritik der »Reformsozialisten«. Der Kampf um die Öffentlichkeit zwischen dem ›ersten‹, stagnierenden Machtraum und dem ›zweiten‹, sich ausdifferenzierenden sozialen Raum erreichte dann seinen Höhepunkt mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 (s. u.). Auch die in einem langen Prozess errungene eigenständige literarische Öffentlichkeit in der DDR, die in ihrer Kontraststellung zum offiziell kontrollierten Raum länger als im Westen eine gesamtgesellschaftliche Funktion ausüben konnte, wies eine wachsende Pluralisierung und Subjektivierung der Literaturformen auf. Diese Pluralisierung fand im Gegensatz zur milieuförmigen Ausdifferenzierung im Westen weiterhin ihre ›transzendentale Einheit‹ in der Kontraststellung der ›zweiten‹, gesellschaftlichen Öffentlichkeit zum ›ersten‹, parteipolitisch bestimmten staatlichen Raum und in der Idee eines ›Reformsozialismus mit menschlichem Antlitz‹. Im Unterschied zur westdeutschen Entwicklung beharrte die Literatur in der DDR über das Festhalten an der so-
Überlegungen zum Bedürfniswandel in beiden deutschen Gesellschaften. In: Kleßmann, Misselwitz, Wichert (Hg.): Deutsche Vergangenheiten – eine gemeinsame Herausforderung, S. 176–205. 410 Vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 233; u. Erbe: Die verfemte Moderne, Kap. 2 (»Rehabilitierung von Moderne und Avantgarde in den Literaturwissenschaften«, S. 122–146).
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zialistischen Utopie auch länger auf der Sozialkritik. Hierbei unterlag sie einer doppelten Bestimmung: einerseits der ›Ortsgebundenheit‹ an den ostdeutschen sozialen Raum und seine Arbeitswelt, andererseits einer Universalisierbarkeit, die die DDR-spezifischen Kontexte transzendierte.
Die neuen Literaturtendenzen Anfang der sechziger Jahre Anfang der sechziger Jahren trat eine neue Autorengeneration auf den Plan, deren Werke den Nerv der Zeit trafen und eine breite Resonanz beim Publikum fanden, während die Nachfrage nach den Werken der älteren Kriegs-, Exil- und Aufbau-Generation merklich zurückging.411 Die Literatur der neuen Autorgeneration412 ging weniger vom positiven, vorbildhaften Helden als vielmehr von den gesellschaftlichen Widersprüchen aus und mit diesen entstand eine neue literarische Kommunikation und allgemein eine neue dialogische ästhetische Qualität. Die Pluralisierung der literarischen Stimmen erfolgte innerhalb eines übergeordneten Rahmens. Dieser umfasste einen Kampf um Öffentlichkeit als diskursiven Ausdruck der Auseinandersetzung um eine repräsentative Darstellung des sozialen Raums einerseits und seines transzendentalen Pendants, des ›wahren‹ Sozialismus, andererseits. Emanzipation und Pluralisierung der literarischen Stimmen lassen sich in den verschiedenen Gattungen exemplarisch nachzeichnen: in der Lyrik in der »Sächsischen Dichterschule« am Leipziger »Literaturinstitut Johannes R. Becher«, in der Prosa besonders deutlich in der Ausbildung einer ›subjektiven Authentizität‹ bei Christa Wolf und schließlich im Drama, in einer für die gesamte Entwicklung des literarischen Feldes symptomatischen Auseinandersetzung zwischen Peter Hacks und Heiner Müller, der im Folgenden eine eigene Studie gewidmet ist (s. u., Fallstudie 2).
Das Literaturinstitut Johannes R. Becher und die neue ›Lyrikwelle‹ 413 Die Dominanz des ›strukturfeudalistischen‹ Machtfeldes und die kulturpolitische Inanspruchnahme der Literatur zeigten sich exemplarisch in der Grün411 Vgl. zum Folgenden Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 186–195. 412 Zu dieser neuen Autorengeneration gehörten im Bereich der Lyrik die sogenannte zweite Generation rund um die »Sächsische Dichterschule« (Volker Braun, Sarah Kirsch, Wulf Kirsten, Karl Mickel u. a.), im Bereich des Dramas Heiner Müller mit Die Umsiedlerin (1956/1961, 1964) und Peter Hacks mit Die Sorgen und die Macht (1959–1961), in der Prosa Christa Wolf mit Der geteilte Himmel und Erwin Strittmatter mit Ole Bienkopp (beide 1963) oder Erik Neutsch mit Spur der Steine (1964). 413 Vgl. zum Folgenden Leon Hempel: Die agonale Dynamik des lyrischen Terrains. Herausbildung und Grenzen des literarischen Feldes der DDR. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 13–29, hier S. 14; Jürgen Deppe: Literaturinstitut Johannes R. Becher. In: Heinz Ludwig
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dung des Literaturinstituts 1955 in Leipzig nach dem Vorbild des Moskauer Literaturinstituts »Maxim Gorki«.414 Sein erster Direktor, Alfred Kurella, leitete das Institut eher partei- und ideologietreu. Er musste schnell feststellen, dass sich die renommierten Autoren zunächst vom Institut fernhielten und die Autoren aus der zweiten Reihe überwogen.415 Mit der Bitterfelder Konferenz im April 1959 erweiterten sich die Aufgaben des Literaturinstituts. Im Zuge der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Wirklichkeit wurde es zu einem Ort, von dem aus das Loyalitätsverhältnis zwischen Schriftstellern und Politik in Bewegung geriet.416 Denn von hier aus entwickelte sich eine ›Lyrikwelle‹ der zweiten, zwischen 1930 und 1945 geborenen Generation von DDR-Schriftstellern, die sich biografisch, thematisch und poetologisch von der Kriegsgeneration (Brecht, Becher, Huchel, Bobrowski etc.) abgrenzten und deren schriftstellerische Anfänge innerhalb der kulturellen Institutionen der DDR lagen. Eine besondere Rolle bei der Ausbildung der »Sächsischen Dichterschule« spielte Georg Maurers Lyrikseminar als ein erster gesonderter Ort innerhalb des offiziellen Raums. Maurers Unbehagen an der Programmatik und Praxis der offiziellen Staatsdichtung entfaltete sich im Zusammenhang mit seinem Bemühen um eine zeitgemäße sozialistische Dichtung und Poetik. So bildeten seine Seminare innerhalb des Instituts eine Art ›Mittlerinstanz‹ zwischen dem Machtraum und dem Bereich der Kunst.417 Sie verband den seitens der Politik formulierten Auftrag
Arnold (Hg.): Literatur in der DDR. Rückblicke. München 1991, S. 63–71; Erbe: Die verfemte Moderne, S. 146–154; u. allgemein Gerrit-Jan Berendse: Die »Sächsische Dichterschule«. Lyrik in der DDR der sechziger und siebziger Jahre. Frankfurt a. M. u. a. 1990. 414 1958 erhielt das Literaturinstitut einen Hochschulstatus, 1959 wurde ihm der Name des damaligen Kulturministers, Johannes R. Becher, verliehen (vgl. Deppe: Literaturinstitut Johannes R. Becher, S. 64). Ulbricht wies auf dem IV. Parteitag nur kurz auf die Gründung des Instituts hin, formulierte aber die der Literatur allgemein zugedachten Aufgaben: »In der Literatur brauchen wir neue volkstümliche Werke, die noch mehr als bisher den Kampf um die Wandlung der neuen Menschen in unserer Arbeiterklasse, der werktätigen Bauernschaft und der Intelligenz darstellen, das heißt, die zu gestalten verstehen, unter welchen oftmals harten Widersprüchen, Klassenkämpfen und menschlichen Konflikten unser Aufbau einen Sieg erringt« (zit. n. ebd., S. 65). Auch der erste Direktor des Instituts, Alfred Kurella, gab intern das Ziel aus, »die Beschlüsse der Partei mit den Mitteln der Literatur den Massen nahezubringen« (zit. n. ebd., S. 66). 415 Vgl. ebd., S. 65. 416 Vgl. Hempel: Agonale Dynamik, S. 19 f. 417 Vgl. ebd., S. 20, mit Bezug auf Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 88 f., wo die französischen Salons im 19. Jahrhundert als »regelrechte Mittlerinstanzen zwischen den Feldern« charakterisiert werden: »Die Inhaber der politischen Macht wollen ihre Sicht den Künstlern aufzwingen und sich deren Konsekrations- und Legitimationsmacht, die diese insbesondere über das innehaben, was Sainte-Beuve die ›literarische Presse‹ nennt, zu eigen machen; die Schriftsteller und Künstler wiederum, die als Bittsteller und Fürsprecher, zuweilen sogar als regelrechte pressure group auftreten, sind darauf aus, eine mittelbare Kontrolle über die verschiedenen vom Staat verteilten materiellen und symbolischen Gratifikationen zu gewinnen«.
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an die Dichtung mit einem poetischen Selbstanspruch. Maurers Seminare waren »Erziehungsanstalt und Salon, also ein in den Raum des Privaten verlegter bürgerlicher Ort von Öffentlichkeit zugleich«.418 Neben klassischen Werken wurde hier auch die in den fünfziger Jahre noch verfemte Lyrik der Moderne rezipiert: Baudelaire, Rimbaud sowie die Dichtung des Expressionismus. Sie wurde motivisch mit Gegenwartstendenzen verknüpft, um einen adäquaten Begriff einer zeitgenössischen sozialistischen Dichtung zu finden.419 Durch die Vermittlung des Zugangs zu diesen Traditionen der literarischen Moderne im gesonderten Rahmen seines Seminars schuf Maurer erste Voraussetzungen für eine Autonomisierung, die indes am ›Rahmenprojekt‹ des Sozialismus festhielt. So konnten der Umgang mit den literarischen Traditionen und die schöpferische Auseinandersetzung mit der Gegenwart im Zeichen eines neu akzentuierten marxistischen Arbeitsbegriffes als zentrale poetologische Kategorie verbunden werden. Einige Jahre vor der dokumentarischen Literatur in der BRD, die ebenfalls auf die wachsende Unvereinbarkeit des literarischen und des politischen Feldes reagierte (s. o.), galt hier Dichtung als Arbeit an der Wirklichkeit, die Genauigkeit verlangt.420 Die Genauigkeit verlangende ›Arbeit an der Wirklichkeit‹ als poetologisches Programm der Schnittstelle zwischen dem politischen und dem literarischen Raum zeigt sich sowohl in Volker Brauns emphatischem, Begriff der »Arbeit«, der sein ganzes Werk durchzieht, als auch in Sarah Kirschs genau beobachtender Naturlyrik (z. B. in dem Gedichtband Landaufenthalt, 1969). In Kirschs Lyrik werden in abrupten Sprüngen Heterogenes – Natürliches und Gesellschaftliches – zusammenführt.421 Die Forderung nach dem genauen Blick auf die Wirklichkeit begründete eine Auseinandersetzung um die konkrete Form einer sozialistischen Literatur. Sie beförderte bei Volker Braun das Selbstverständnis, ein selbstbewusstes Korrektiv der Politik sein zu können (vgl. das Gedicht »Anspruch« in seinem Gedichtband Provokation für mich von 1965). Die junge Autorengeneration, von der wichtige Impulse zur Ausbildung eines ›zweiten‹ kulturellen Raums bzw. eines sich emanzipierenden literarischen Feldes ausgingen, blieb zwar in das ›strukturfeudalistische Korsett‹ eingespannt und daher politisch ohnmächtig, sie hatte aber ein gewachsenes Selbstbewusstsein, das sich sowohl gegen den kapitalistischen Westen kehrte als auch gegenüber der Nomenklatur der Partei behauptete.422 Was sich dabei immer deutlicher abzeichnete, war ein ›Riss‹ im ›ersten‹, offiziellen literarischen Raum und ein »Streit
418 Hempel: Agonale Dynamik, S. 21. 419 Vgl. Maurers Essay »Welt in der Lyrik« von 1967, der ein lyrisches Panorama im Sinne einer wechselseitigen Durchdringung von »Welt« (Realismus) und »Ich« (subjektives Empfinden) entwirft (in: Georg Maurer: Essay 1. Halle 1968, S. 35–172). Am Ende des Essays betont Maurer in einer symptomatischen Katachrese die Vielfältigkeit des Ausdrucks auf der Grundlage des »sozialistischen Realismus«: »Der sozialistische Realismus ist keine äußere, festgelegte Form wie ein genormter Kochtopf mit passendem Deckel, sondern eine Kunstwelt, die den Sozialismus zum Nährboden hat, den sie mit Millionen Wurzeln ergreifen muß« (ebd., S. 172). In dem Bildbruch zwischen »Kochtopf« und »Nährboden« kommen die grundlegenden Spannungen im literarischen Raum zum Ausdruck. 420 Vgl. Hempel: Agonale Dynamik, S. 24. 421 Vgl. zum Beispiel das Eröffnungsgedicht: »Der Wels ein Fisch der am Grund lebt / Hat einen gewölbten Rücken der Kopf ist stumpf / Der Bauch flach er paßt sich dem Sand an / Der von den Wellen des Wassers gewalzt ist / Von dieser Gestalt wähn ich mein Flugzeug / Das hoch über der Erde steht […]« (Sarah Kirsch: Sämtliche Gedichte. München 22005, S. 9). 422 Vgl. Hempel: Agonale Dynamik, S. 25.
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der Dichter« 423 um die Deutungshoheit bei der Bestimmung sozialistischer Dichtung, wie ihn Braun in einer kurzen Notiz von 1966 andeutet: Darin unterscheidet er einerseits zwischen »Panegyrikern« eines affirmativen Heldengesangs und »Engagierten« einer mit Wirklichkeit durchdrungenen Lyrik. Andererseits erinnert er daran, dass es nur eine Wirklichkeit gebe (die allerdings schon als Krise kodiert wird) und er appelliert an beide Parteien, sich der ›gemeinsamen Sache‹ zu besinnen. 1968 wird dann unter dem Titel »Die Goethepächter« schon sehr deutlich der Bruch zwischen den Vertretern des ›ersten‹, nationalliterarischen Raums und einem sich emanzipierenden »Wir« markiert.424
Die Dynamik im ›zweiten‹ literarischen Raum in der DDR, die sich als erstes auf das lyrische Subfeld der 1960 er Jahre auswirkte, war von einer Spannung aus Rivalität und Loyalität geprägt. Unter dem Zeichen eines ›besseren‹ Sozialismus konnte sich die Wertbildung eines selbstbestimmten literarischen Kapitals entfalten. Anthologien wie etwa »In diesem besseren Land. Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945« (1966) stellten erste selbstbewusste Versuche dar, das ›eigene‹ literarische Feld der DDR zu sondieren.425 Als Reaktion auf den 1965 endgültig gescheiterten Versuch, die DDR moralisch und kulturell im Sinne der sozialistischen Einheitspolitik zu verankern, die politische Berechtigung des Landes durch verstärkte ökonomische Rationalität zu erweisen und die Kunst in die nationale Pflicht zu nehmen, zog sich die Literatur auf sich selbst zurück und emanzipierte sich dadurch. Mit dem genauen Blick auf die Wirklichkeit trat in der Literatur auch die Auseinandersetzung mit dem Sinn des Lebens und dem Wert des Menschen in den Vordergrund. In der Prosa steht für diese Tendenz vor allem Christa Wolfs Konzept einer »subjektiven Authentizität«, das sie erstmals in Nachdenken über Christa T. (1968) umzusetzen versuchte – eine literarische Reflexion, die Wolf auch in Reaktion auf das »Kahlschlag-Plenum« geschrieben hatte. Nach 1965 entwickelte Christa Wolf ihr Konzept einer »subjektiven Authentizität«. Der Essay »Lesen und Schreiben« von 1968 stellt eine poetisch-poetologische Grundreflexion über die Neubegründung von Schreiben und Autorschaft auf der Grundlage einer neuen Wahrnehmung
423 Volker Braun: Streit der Dichter. In: V. B.: Texte in zeitlicher Folge. Bd. 1. Halle, Leipzig 1989, S. 235 f. 424 »Sie haben aus Goethes Werk einen Werkhof gemacht für die schwer erziehbare Nation. […] Während wir, auf den Wiesen der öffentlichen Landschaft, mit ihm unsre Späße treiben. Sie sind neue Aristokraten; wir sind seine alten Freunde« (Volker Braun: Die Goethepächter. In: Texte in zeitlicher Folge, Bd. 2. Halle, Leipzig 1990, S. 248). 425 In diesem besseren Land. Gedichte der Deutschen Demokratischen Republik seit 1945, ausgewählt, zusammengestellt und mit einem Vorwort versehen v. Adolf Endler u. Karl Mickel. Halle 1966; vgl. Hempel: Die agonale Dynamik, S. 25.
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des ›Mensch-Seins‹ dar.426 Der Devise des sozialistischen Realismus eines direkten Abbildungsverhältnisses zwischen Wirklichkeit und Literatur wird das subjektive »Bewußtsein des Autors« als organisierende Instanz entgegengehalten.427 Zur »gemeinsame[n] Wurzel« essayistischen und prosaischen Schreibens wird Wolf die »Erfahrung mit dem ›Leben‹ – also der unvermittelten Realität einer bestimmten Zeit und einer bestimmten Gesellschaft –, mit mir selbst, mit dem Schreiben – das ein wichtiger Teil meines Lebens ist –, mit anderer Literatur und Kunst«.428 Das Bestreben, Literatur und objektive, gesellschaftliche Wirklichkeit über die »Erfahrung mit dem ›Leben‹« zu vermitteln, führt zum neuen poetischen Maßstab einer »subjektiven Authentizität«. An Anna Seghers anschließend, versteht Wolf Erzählen als Form der Überwindung der einfachen Wirklichkeit. Der Erzähler bzw. Prosaautor sei fortan gezwungen, das strenge Nacheinander von Leben, »Überwinden« und Schreiben aufzugeben und um der inneren Authentizität willen, die er anstrebt, den Denk- und Lebensprozeß, in dem er steht, fast ungemildert (Form mildert aber immer, das ist ja eine ihrer Funktionen) im Arbeitsprozeß mit zur Sprache zu bringen, künstliche Kategorien fallenzulassen, Hohlformen, in die sich das noch rohe Material, durch den Autor fast schon unbewußt gelenkt, in erschreckender Zwangsläufigkeit ergießt.429 In ihrem Plädoyer für das prozesshafte und dialogische, von subjektiver Erfahrung getragene und mit »erschreckender Zwangsläufigkeit« Form annehmende Werk zeichnet sich bereits der Rückgriff auf die Romantik und Moderne ab. Das subjektive, offene Konzept wird dem geschlossenen Werk entgegengesetzt, das mit seinem Objekt- und Warencharakter noch deutlich westlich-kapitalistisch markiert wird,430 aber unterschwellig gleichermaßen auf die geschlossene Werk-Konzeption des sozialistischen Realismus zielt. Stattdessen kommt es Wolf in ihrer Umdeutung einer sozial engagierten Literatur »auf die Hervorbringung neuer Strukturen menschlicher Beziehungen in unserer Zeit« an.431 Dabei geht Wolfs Poetik der »subjektiven
426 »Das Bedürfnis, auf eine neue Art zu schreiben, folgt, wenn auch mit Abstand, einer neuen Art, in der Welt zu sein« (Christa Wolf: Die Dimension des Autors. Essays und Aufsätze, Reden und Gespräche 1959–1985, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1990, Bd. 2, S. 463–503, hier S. 463). 427 »Literatur und Wirklichkeit stehen sich nicht gegenüber wie Spiegel und das, was gespiegelt wird. Sie sind ineinander verschmolzen im Bewußtsein des Autors. Der Autor nämlich ist ein wichtiger Mensch« (ebd., S. 496). 428 Vgl. »Subjektive Authentizität. Gespräch mit Hans Kaufmann«. In: Ebd., S. 773–805, hier S. 774. 429 Ebd., S. 778. 430 Wolfs Ethos der Redlichkeit wendet sich gegen »die fatale Möglichkeit des Autors eben, sich hinter seinem ›Material‹, seinem ›Thema‹, ›Stoff‹, ›Werk‹ zu verschanzen; ein Objekt aus ihm – dem Werk – zu machen, mit dem er nach Belieben umspringen kann (wodurch er auch mit seinen Lesern als mit Objekten umspringt); in das soundso viele Arbeitsstunden eingegangen sind, das technisch reproduzierbar und dann als Ware verkäuflich wird. (Diesen Warencharakter geistiger Arbeit wird eine entwickeltere sozialistische Gesellschaft in Frage stellen müssen)« (ebd., S. 779 f.). 431 »Dies ist durchaus ›eingreifende‹ Schreibweise, nicht ›subjektivistische‹. Allerdings setzt sie ein hohes Maß an Subjektivität voraus, ein Subjekt, das bereit ist, sich seinem Stoff rückhaltlos […] zu stellen, das Spannungsverhältnis auf sich zu nehmen, das dann unvermeidlich wird, auf die Verwandlungen neugierig zu sein, die Stoff und Autor dann erfahren. Man sieht eine andere Realität als zuvor« (ebd., S. 780).
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Authentizität«, die zur Emanzipation einer vom Subjekt getragenen literarischen Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit beitrug – bzw. zur Annäherung der Literatur an neue Repräsentationsformen des sozialen Raums über subjektiv authentische ›Alltags-‹ und ›Lebenserfahrung‹ –, anfänglich aus der Debatte um den sozialistischen Realismus hervor.432 Erzählerisch erstmals konsequent umgesetzt ist die Poetik der »subjektiven Authentizität« in dem Roman Nachdenken über Christa T. (geschrieben 1967, erschienen 1968). Er beinhaltet keinen Stoff und keine Handlung im üblichen Sinne, sondern ein zwischen Form und Inhalt oszillierendes »Nachdenken«, ein subjektives ›Zu-sich-selbst-Kommen‹.433 In der Forderung nach der authentischen Gestaltung eines Menschen im »Jetzt« 434 steckt eine Annäherung der Literatur an eine in der Gegenwart verankerte Wirklichkeit und zugleich ein Streben nach künstlerischer Eigengesetzlichkeit und Wahrheit. Es geht Wolf um eine Reflexion über die spezifische historische Form von Individualität in den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR zwischen »Tatsachenmensch« und »innerem Menschen«. In der Ich-Problematik und Erzählform der dialogischen Bewusstseinsdarstellung findet sich zudem der Widerspruch zur Widerspiegelungsästhetik. So stellt das ›Nachdenken über Christa T.‹ eine andere Form der Arbeit dar, als das Programm des »Bitterfelder Weges« vorgesehen hatte: eine literarisierte »Gedächtnisarbeit« im Sinne Freuds.435 Das Erkennen des bislang vom Bewusstsein Unterdrückten durch die Erzählerin richtet sich auf einen nicht verwirklichten Teil ihrer selbst in der Kindheit, der im spontanen Trompetenruf symbolisiert ist.436 Das ›Zu-sich-selbst-Kommen‹, das den Roman und die neue Poetik maßgeblich konstituiert, lässt sich als Realisierung aller im Menschen angelegten Möglichkeiten, als die gegen Verdinglichung und Selbstentfremdung gerichtete Utopie der Arbeit am Selbst des ›ganzen Menschen‹ übersetzen.
Die literarisch gestaltete Wechselwirkung zwischen Gedächtnisarbeit und Wirklichkeitswahrnehmung im Zeichen einer neuen Subjektkonstitution erweist sich feldanalytisch als eine signifikante Übergangs- oder Kompromissstellung der Autorposition von Wolf, die auf ihre Herkunft und zugleich auf die
432 »Die Suche nach einer Methode, dieser Realität schreibend gerecht zu werden, möchte ich vorläufig ›subjektive Authentizität‹ nennen – und ich kann nur hoffen, deutlich gemacht zu haben, daß sie die Existenz der objektiven Realität nicht nur nicht bestreitet, sondern gerade eine Bemühung darstellt, sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen« (ebd., S. 780 f.). 433 Vgl. das vorangestellte Becher-Zitat: »Was ist das: Dieses Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen«. Dem ›Zu-sich-selbst-Kommen‹ steht das ›spurlose Verschwinden‹ der Person und der Erinnerung an sie entgegen (Christa Wolf: Nachdenken über Christa T. Halle 1968, S. 6, vgl. auch S. 43). 434 Der Roman endet mit den Worten: »Christa T. wird zurückbleiben. // Einmal wird man wissen wollen, wer sie war, wen man da vergißt. Wird sie sehen wollen, das verstände sie wohl. Wird sich fragen, ob denn da wirklich jene andere Gestalt noch gewesen ist, auf der die Trauer hartnäckig besteht. Wird sie, also, hervorzubringen haben, einmal. Daß die Zweifel verstummen und man sie sieht. // Wann, wenn nicht jetzt?« (ebd., S. 235). 435 Vgl. Bernhard Greiner: »Sentimentaler Stoff und fantastische Form«: Zur Erneuerung frühromantischer Tradition im Roman der DDR (Christa Wolf, Fritz Rudolf Fries, Johannes Bobrowski). In: Jos Hoogeveen, Gerd Labroisse (Hg.): DDR-Roman und Literaturgesellschaft. Amsterdam 1981, S. 249–328, hier S. 264. 436 Vgl. Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 14 f.
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Emanzipation vom »Bitterfelder Weg« verweist. Damit einher geht Wolfs Bekenntnis zur neuen Gesellschaft und zum ›neuen Menschen‹ – und zudem ihre Wendung gegen die offizielle Weltanschauung eines ›real existierenden Sozialismus‹.437 Die Annäherung an den ›zweiten‹ sozialen Raum und die mit ihr verbundene Emanzipation und Selbstbegründung des ›zweiten‹ literarischen Raums bzw. Feldes erfolgte wesentlich über drei Facetten und ihre Begriffe: den »Menschen«, die Überwindung der gesellschaftlichen »Entfremdung« und die »Zivilisationskritik«. So entstanden Referenzpunkte, die auch im westdeutschen literarischen Feld galten und allgemein mit der um »1968« aufgekommenen Kulturkritik am politischen und gesellschaftlichen System korrespondierten. Die Annäherung der Literatur an das ›Leben‹ wurde auch von anderen Autoren verfolgt wie zum Beispiel von Stephan Hermlin, der die Revolution als ununterbrochene Selbstkritik der Gesellschaft verstand,438 von Volker Braun, dessen Werk im Zeichen der Zivilisationskritik, der gesellschaftlichen Partizipation des ›ganzen Menschen‹ in einer ›lebendigen‹, nicht entfremdeten Arbeit stand und die ›Produktivkraft‹ der dialektisch mit der Gesellschaft verbundenen literarischen Subjektivität betonte,439 oder von Franz Fühmann, der in den siebziger Jahren für das mythische und romantische Element in der Literatur440 und Anfang der achtziger Jahre für die Friedensbewegung und die literarische Erkundung des ›wahren Menschen‹ eintrat.441 Die Kompromissstellung Wolfs und anderer ›reformsozialistischer‹ Autoren zwischen dem ›ersten‹ und dem ›zweiten‹ literarischen Raum zeigt sich symp-
437 »Im Rahmen einer Vorstellung und Praxis, die den Sozialismus als in sich abgeschlossene Gesellschaftsformation betrachten und behandeln, hat das Kritikwürdige, auf das nicht nur der Schriftsteller, aber auch er, unvermeidlich bei der Beobachtung und Bewältigung unseres Lebens stößt, keinen historischen Stellenwert, sondern kann nur als rein zufällig, abnorm, untypisch angesehen werden. Oder es wächst – als spontane Reaktion darauf – die Versuchung, jeden Stein des Anstoßes als ›Gegenbeweis‹ zu dem zu betrachten, was die Gesellschaft ihrer Definition nach ist. So oder so wird die Dialektik der gegenwärtigen Entwicklung verfehlt. Ideal und Wirklichkeit erstarren dann leicht zu einer ewigen Antinomie, die emotional, moralisch und ästhetisch aufgeladen wird« (Wolf: »Subjektive Authentizität«, S. 788). 438 Vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 234. 439 Vgl. Wilfried Grauert: Ästhetische Modernisierung bei Volker Braun. Studien zu Texten aus den achtziger Jahren. Würzburg 1995. 440 Franz Fühmann: Das mythische Element in der Literatur [1974/75]. In: F. F.: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock 1983, S. 82–140; F. F.: Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Rede in der Akademie der Künste der DDR [1976]. In: Ebd., S. 216–238. 441 »Wenn die Menschheit überleben will, muß sie beginnen, sich als Menschheit zu konstituieren, was zuerst einmal heißt, sich als Menschheit zu verstehn« (Franz Fühmann: »Rede bei der Berliner Begegnung zur Friedensförderung 1981«. In: Ebd., S. 510–513, hier S. 511.
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tomatisch in ihrer sowohl systemimmanenten als auch aus dem System hinausweisenden Zivilisationskritik. Mit dieser Kritik bildeten sich Ansätze eines relativ autonomen literarischen Feldes in der DDR aus. Es unterlag zwar weiterhin den Restriktionen des ›strukturfeudalistischen Korsetts‹, insbesondere durch Zensurmaßnahmen, Kontrolle des Verlagswesens und durch die offizielle Legalisierung des sozialen Status des Schriftstellers.442 Aber seine Ausbildung neben dem ›ersten‹, offiziellen literarischen Raum, dem es als inoffizielle Kommunikationsform über den sozialen Raum nach und nach symbolisch den Rang ablief, konnte das staatliche ›Korsett‹ nicht mehr verhindern. Die Ausbildung eines doppelten Bezugsystems in der Konkurrenz um Öffentlichkeit und das heißt vor allem: um die legitime Darstellung des ›Lebens‹, der Lebens- und Arbeitsformen der ›Menschen‹ im sozialen und kulturellen Raum, führte so zu einer legitimatorischen Überlegenheit der ›inoffiziellen‹, aber ›subjektiv authentischen‹ Literatur gegenüber einer Literatur der staatlich legitimierten Weltanschauung.
Fallstudie 2: Kampf um ästhetische Eigenständigkeit und Trennung der Räume. Die Konkurrenz der Autorpositionen von Peter Hacks und Heiner Müller Der Prozess der literarischen Emanzipation vom ›strukturfeudalen Korsett‹ und der Ausbildung eines zweiten, eigenständigen Bezugssystems lässt sich im Fokus des Dramas besonders deutlich zeigen und hier exemplarisch im Abrücken Heiner Müllers und Peter Hacks’ vom Produktionsstück. In ihren eigenen Produktionsstücken versuchten sie die Probleme des sozialistischen Arbeitsalltags in Abweichung von den Vorgaben des »sozialistischen Realismus« mit einem eigenen ästhetischen Anspruch darzustellen. Im Unterschied zu den »Ankunftsromanen« von Brigitte Reimann oder Christa Wolf gerieten sie – Müller mit Die Korrektur (1957–59) und vor allem mit Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961), Hacks mit Die Sorgen und die Macht (1959–62) und Moritz Tassow (1961) – in einen direkten Konflikt mit den kulturpolitischen Vorgaben der SED. Müller wurde zur »Selbstkritik« gedrängt und – wie alle an der Aufführung von Die Umsiedlerin Beteiligten – hart gemaßregelt.443 Trotz dieser 442 Vgl. York-Gothart Mix: DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära (1971–1989). Teil I. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur (IASL) 23/2 (1998), S. 156–198. 443 Vgl. Matthias Braun: Drama um eine Komödie. Das Ensemble von SED und Staatssicherheit, FDJ und Ministerium für Kultur gegen Heiner Müllers »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« im Oktober 1961. Berlin 1995; Horst Turk: Philologische Grenzgänge. Zum
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Konflikte und des Vorwurfs mangelnder positiver Darstellungen und parteilicher Gesinnung war das Verhältnis von Hacks und Müller zur DDR insgesamt loyal. Hacks war als junger, überzeugter Sozialist 1955 aus der BRD in die DDR übergesiedelt. Er löste sich schneller als andere von den Autoritäten der DDR-Literatur, insbesondere von den Exilautoren, und machte sich daran, das sozialistische Drama weiterzuentwickeln. Hacks reagierte Anfang der sechziger Jahre auf die Kritik der Kulturfunktionäre und Zensoren und ›korrigierte‹ – wie Müller – seine Stücke. Auch wenn er in der Ulbricht-Ära nicht von Absetzungen und Verboten verschont blieb, dachte er nie an eine Ausreise und blieb dem sozialistischen Staat gegenüber, namentlich in Person Walter Ulbrichts, stets loyal. Dessen Einführung des »Neuen ökonomischen Systems« und die damit verbundene Herrschaftsaufteilung (technische Leitung – Arbeiter) begrüßte Hacks. Dagegen wertete er Honeckers Machtantritt und dessen Politik des ›real existierenden Sozialismus‹ bereits als Niedergang des sozialistischen, hierarchisch geordneten Staates, an dessen Spitze eine starke Führungspersönlichkeit zu stehen habe.444 Nach Wende und Wiedervereinigung war er schließlich in tiefer Trauer um den untergegangenen DDR-Staat, der das Fundament für sein Schaffen bildete. Seine Gegenwartsstücke waren durch die inhaltlichen Anspielungen auf das Mitwissen des DDR-Publikums angewiesen. So lag Hacks’ literaturgeschichtliche Bedeutung vor allem in der Entwicklung des DDRTheaters.445 Auch Müller war ein überzeugter Marxist, aber im Unterschied zu Hacks blieb er auf grundsätzlicher Distanz gegenüber dem staatlichen Machtsystem.446 Dem sozialistischen Grundsatz war er verbunden, doch seine Umsiedlerin stellte aufgrund einer im Verhältnis zu Hacks’ Stücken entschieden radikaleren, ästhetischen und politischen Abweichung von der Parteilinie ein größeres Ärgernis dar. Auch Müllers Autorposition war vom sozialistischen Staat abhängig, jedoch in Form von antagonistischen, nicht zu versöhnenden Widersprüchen. Er sah das ›Leerlaufen‹ des tragischen Verhältnisses zwischen der Menschengesellschaft und dem totalitären Staat im Zusammenhang mit universalen, ›katastrophalen‹ Zivilisationsprozessen, die für ihn mit den mythischen Erobererfiguren Odysseus und Jason begannen. Schon lange vor dem Ende der DDR war für Müller die ›leerlaufende‹ Tragödie des Projektes einer ›humanistischen‹ Menschengesellschaft zentral. Die Stagnation der ›revolutionären Weltge-
Cultural Turn in der Literatur. Würzburg 2003. S. 255–262 (Kap. IV.3: »Geteilte Geschichten. Peter Hacks oder Heiner Müller? Ein Lehrstück sozialistischer Loyalität«), hier S. 258; u. HansChristian Stillmark: Hacks und Müller – ein folgenloser Streit. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2000, S. 424–436, hier S. 424 f. Dass der Streit zwischen Hacks’ Komödien- und Müllers Tragödienkonzeption nicht folgenlos, sondern im Gegenteil für die strukturelle Trennung der literarischen Räume in der DDR symptomatisch war, versucht die vorliegende Studie im Folgenden aufzuzeigen. 444 Vgl. André Müller sen.: Gespräche mit Hacks 1963–2003. Berlin 2008, S. 66 (Eintrag v. 11.– 16. 10. 1971). 445 Vgl. Ursula Heukenkamp: »Eine Sache, die der Weltgeist vorgesehen hat, auf die kann man sich dann auch verlassen«. Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur. Zum 80. Geburtstag. In: Zeitschrift für Germanistik (2008), H. 3, S. 625–633, hier S. 626. 446 Bereits in der Umsiedlerin heißt es: »Der Zweck von unserm Staat ist, daß er aufhört« (Heiner Müller: Werke, Bd. 3 [Die Stücke 1]. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt a. M. 2000, S. 277).
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schichte‹ bestätigte sich für ihn nach der Wiedervereinigung vollends. Mit dem Untergang des sozialistischen Staates verlor seine dramatische Produktion auch ihre antagonistische Grundlage.
Hacks’ und Müllers Versuche Anfang der sechziger Jahre, die Probleme der sozialistischen Gegenwart in einer ästhetisch eigenständigen Art und Weise darzustellen, erfuhren die von der Kulturpolitik gezogenen Grenzen. In der Folge gaben sie das Zeitstück des sozialistischen Realismus auf und strebten nach anderen Möglichkeiten, Formen ästhetischer Autonomie zu entwickeln. Der Kampf um ästhetische Selbstbestimmung führte zunächst zu einer von Hacks angestrebten Allianz, dann zu einer vermehrt offen ausgetragenen Konkurrenz zwischen den beiden Autoren. In die spezifische Logik des literarischen Feldes bzw. Subfeldes der Dramen-Produktion übersetzt, zeigte sich die Konkurrenz der Autorpositionen in unterschiedlichen Entwürfen einer Brecht-Nachfolge. Bei der Frage nach der legitimen Aneignung und Weiterführung des BrechtErbes ging es zum einen um die Bestimmung des Verhältnisses des literarischen Raumes zum Staat und seinen politischen Vorgaben, zum anderen um eine Konkurrenz um die (Neu-)Besetzung des ästhetischen Pols. Einerseits ging es Müller und Hacks gemeinsam um die Stärkung des kunstautonomen Flügels des literarischen Raums und damit um eine Emanzipation vom ›strukturfeudalistischen Korsett‹. Andererseits traten sie in dieser Frage rasch in eine feldinterne ästhetische Konkurrenz, die in Müllers neuer Tragödien- und in Hacks’ neuer Komödienkonzeption zum Ausdruck kam und schließlich zur grundsätzlichen Unvereinbarkeit ihrer Positionen führte. An der Entwicklung der Unvereinbarkeit ihrer Autorpositionen lässt sich symptomatisch die Loslösung eines ›zweiten‹ literarischen Bezugsystems bzw. Feldes vom ersten literarischen Raum ablesen, wie im Folgenden ausgeführt werden soll. Anfänglich herrschte – zumindest für Hacks – das Interesse an einem gemeinsamen Eintreten für einen größeren ästhetischen Freiraum innerhalb des staatlichen ›Korsetts‹ vor. Zur Zeit der massiven Angriffe auf Die Umsiedlerin verteidigte Hacks als einziger Müller, da er eine symbolische Allianz mit ihm anstrebte. Er hatte erkannt, über welches stilistische Potential die Texte Müllers verfügten. Wenn er in dem Essay Über den Vers in Müllers UmsiedlerinFragment (1961) den Dichter-Kollegen für seinen Blankvers lobte, so versuchte er ihn in sein zu dieser Zeit bereits entworfenes ästhetisches Programm einer post-revolutionären »sozialistischen Klassik« einzuspannen.447
447 Peter Hacks: Über den Vers in Müllers Umsiedlerin-Fragment. In: P. H.: Das Poetische. Ansätze zu einer postrevolutionären Dramaturgie. Hamburg 2001, S. 37–42; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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An Hacks’ Ausführungen ist zunächst auffällig, dass er aus Müllers Umsiedlerin Stellen zitiert, die Tabus des öffentlichen Diskurses brechen (Parteikritik, Sexualmoral, Unvereinbarkeit von privatem und öffentlichem Leben) und die offiziellen Vorgaben der Partei entlarven. Die Argumentation ist aber weniger inhaltlich als formalästhetisch ausgerichtet. Insgesamt sieht Hacks in Müllers Blankvers eine ästhetische Steigerung des Realismus, die von literarturgeschichtlicher Bedeutung sei. So machten die »Abweichungen vom Metrum«, d. h. die »Betonung« und der »Rhythmus«, die »formale Schönheit« der Sprache im Stück aus (37). Diese Feststellung nimmt er zum Anlass, »den möglichen Grad rhythmischer Freiheit« im Verhältnis zwischen allgemeinem »Metrum« und besonderem »Rhythmus» zu bestimmen: Jede Abweichung vom Schema ist erlaubt, solange das Schema im Ohr des Hörers nicht verlorengeht. Da die Schönheit des Verses im Widerspruch zwischen Metrum und Rhythmus liegt, darf das Metrum den Rhythmus nicht verschlingen, aber auch der Rhythmus das Metrum nicht. Das Aufgeben der Eigenständigkeit des Rhythmus gehört zum idealistischen Klassizismus; das Aufgeben des ordnenden Metrums zum gesetzesfeindlichen Positivismus (39 f.). Übersetzt man »Metrum« als (politisch vorgegebene) Grundordnung und »Rhythmus« als individuelle Abweichung, lässt sich in den Ausführungen zum Versmaß ein Bestimmungsversuch des Verhältnisses zwischen dem Feld der Macht und einem relativ autonomen Kunstbereich, für den Hacks eintritt, herauslesen: Es geht um einen ästhetischen Freiraum für den ›Rhythmus‹ innerhalb der vorgegebenen Ordnung des politischen Raums, des ›Metrums‹. Denn diese eigengesetzliche Abweichung als Ursprung zukünftiger Größe und Schönheit der Kunst dürfe nicht so weit gehen, dass das ›Metrum‹, die Übereinstimmung mit der politisch-staatlich vorgegebenen Grundordnung des Sozialismus, aufgesprengt wird. Hier deutet sich bereits in der Bestimmung des »dialektischen Jambus« (41) die Kompromissbildung, die immanente Trennung der Räume und Zuständigkeiten, unter Wahrung der Anerkennung der herrschenden Herrschaftsordnung an, für die Hacks im Zusammenhang mit seinem Programm einer »sozialistischen Klassik« eintritt.
Hacks’ Lob des Metrums in Müllers Umsiedlerin-Stück diente dem programmatischen Eintreten für eine formalästhetische Steigerung des sozialistischen Realismus hin zu einer sozialistischen Klassik448 unter Wahrung der ideologischen doxa, des ›Metrums‹. Die neue, »sozialistische Klassik«, um die es hier stellvertretend geht, positioniert sich zwischen einem »idealistischen«, für Hacks restaurativen »Klassizismus« und einem »Positivismus«, der auf das naturalistische ›Tendenzstück‹ und damit auf den heteronomen Pol in der literarischen Produktion verweist. Auch Müller wollte formalästhetisch über den ›Tendenznaturalismus‹ hinausgehen, aber Hacks’ Versuch einer Allianzbildung im Kampf um einen ästhetischen Freiraum scheiterte, da Müller in der Folge in einen Dissens zum parteipolitisch-ideologischen ›Metrum‹ trat. Im Unterschied zu Hacks verließ er den antifaschistisch-humanistischen Grundkonsens mit
448 Diese formalästhetische Steigerung im »wohltönende[n] Vers« wird bereits in einer Fußnote zum »utopischen Jambus« angekündigt (vgl. ebd., S. 41).
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dem Feld der Macht, indem er in seinen Dramen die Frage nach dem ›Metrum‹, nach den Grundbestimmungen der realen sozialistischen Gesellschaft in einer ästhetisch neuen Art und Weise stellte. Der Kern des Dissenses bestand darin, dass Müllers Theaterstücke – im Unterschied zu denen von Hacks – im Inneren der sozialistischen Gesellschaft weniger eine progressive Vermittlung der Widersprüche (Komödie) als vielmehr die ›ewige Wiederkehr‹ antagonistischer Macht- und Gewaltverhältnisse (Tragödie) zum Ausdruck brachten, wie noch auszuführen sein wird. In der Auseinandersetzung um die Brecht-Nachfolge zeigte sich die Konkurrenz der Autorpositionen von Hacks und Müller um die Besetzung des ästhetischen Pols. Sie verschärfte sich im Zuge einer intensivierten Mythos- und Antikerezeption ab der zweiten Hälfte der sechziger Jahre. Beide wollten Brecht hinter sich lassen im Rahmen eines neuen, über die einfache Wirklichkeitsnachahmung hinausgehenden Realismus-Konzeptes und dabei spielte die Rezeption Shakespeares eine zentrale Rolle. Wenn Hacks erklärte: »Die Geschichte des realistischen Theaterstücks in Deutschland ist die Geschichte der Aneignung Shakespeares«,449 so klingt hier sein Ausgangspunkt, die Neubestimmung des sozialistischen Realismus, an. Wenn aber Müller behauptete, dass nur mit Shakespeare über Brecht hinausgegangen werden könne, kündigte er den Glauben an die positive und eindeutige Parabel 450 und damit im Kern auch die Loyalität zur progressiv-humanistischen Ideologie des sozialistischen Staates auf. Bei der folgenden Auseinandersetzung ging es um den Ort des relativ autonomen Pols der literarischen Produktion: Hacks sah ihn innerhalb des literarischen Raums ›erster‹ Ordnung, Müller innerhalb eines sich emanzipierenden literarischen Feldes ›zweiter‹ Ordnung, das sich in Differenz zum herrschenden Machtsystem konstituierte.
Die Antike- und Mythos-Rezeption: Trennung der Räume und Zuständigkeiten Aus der Unzufriedenheit mit der vorgegebenen dogmatischen Ästhetik des »sozialistischen Realismus« entstand eine neue Phase der Antike- und Mythosre-
449 Hacks: Das Poetische (»Über den Vers in Müllers Umsiedlerin-Fragment«), S. 37. 450 »Shakespeare war für mich auch ein Gegengift gegen Brecht, gegen die Vereinfachung bei Brecht, gegen die Simplifizierung, die Gefahr, an der die meisten kaputtgegangen sind, die in der Nähe von Brecht gearbeitet haben. […] Shakespeare ist nicht einfach und nicht kalkuliert. Das ist eine ungeheuer komplexe organische Struktur, keine Montage« (H. M.: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erweiterte Neuausgabe mit einem Dossier von Dokumenten des Ministeriums für Staatssicherheit der ehemaligen DDR. Köln 5 2003, S. 265 f.).
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zeption, die die folgenreichste Entwicklung innerhalb der ›Erbeaneignung‹ nach 1945 darstellte. Die Aneignung der deutschen Klassik, die stets im Mittelpunkt der kulturpolitischen Bemühungen um das Erbe stand, vermochte nicht annähernd eine vergleichbare Wirkung auszuüben. Die neue, eigenständige Antikerezeption lässt sich als ästhetische Auseinandersetzung mit dem Realismus deuten.451 Sie verhalf dem DDR-Theater zu einer internationalen Anerkennung und war sowohl für die allgemeine kulturelle Entwicklung als auch theatergeschichtlich von zentraler Bedeutung, denn sie war der erste größere Ausbruch aus einer dogmatischen Ästhetik. Die antinaturalistische Grundposition, die Hacks und Müller über das antike Vorbild entwickelten, bestimmte auch in den folgenden Jahren ihre Auffassung vom kulturellen Erbe und von ihrer eigenen literarischen Arbeit.452 Durch die Antikerezeption gewannen die sich anfänglich am sozialistischen Realismus orientierenden Werke an ästhetische Qualität, d. h. Literarizität. Es war diese neue Arbeit am antiken Erbe, die zum Katalysator der Ausbildung eines zweiten Raumes bzw. relativ autonomen literarischen Feldes wurde.
Peter Hacks’ Entwicklung vom Produktionsstück über die Komödie zur sozialistischen Klassik Mit dem Übergang von seinem ersten zum zweiten Zeitstück, von Die Sorgen und die Macht (1959–62) zu Moritz Tassow (1961), wechselte Hacks auch die Gattung: vom Produktionsstück zur Komödie. Das Komische war für Hacks zunächst noch ganz in der Nachfolge Brechts das ›Gesellschaftlich-Komische‹, d. h. vom sozialistischen Standpunkt aus gesehen waren dies die anachronistischen bürgerlich-kapitalistischen Restformen in einer sozialistischen Gesellschaft, die das Komische der Satire verlacht.453
451 Mittenzwei versteht die Entwicklung der Antikerezeption im DDR-Theater als eigenständige Binnenkritik innerhalb der Auseinandersetzung um den Realismus. Diese habe zu einer Abwendung von einem ›Tendenznaturalismus‹ hin zu einem ›ästhetisch gesteigerten‹ Realismus geführt, der sich weder naturalistisch noch psychologisch-modernistisch noch abstraktabsurd verstanden habe (vgl. Werner Mittenzwei: Die Antikerezeption des DDR-Theaters. Zu den Antikestücken von Peter Hacks und Heiner Müller. In: W. M.: Kampf der Richtungen. Strömungen und Tendenzen der internationalen Dramatik. Leipzig 1978, S. 524–556, hier S. 546). »Im Unterschied zu jener Abkehr vom Realismus, wie sie seit Mitte der fünfziger Jahre in der internationalen Literatur zu beobachten war, vollzog sich die ästhetische Auseinandersetzung hier innerhalb des Realismus« (vgl. ebd., S. 529). 452 »Überwunden wurde sowohl die aktualisierende Antikerezeption wie die des abstrakten Humanismus« (ebd., S. 545). 453 Vgl. Peter Christian Giese: Das »Gesellschaftlich-Komische«. Zu Komik und Komödie am Beispiel der Stücke und Bearbeitungen Brechts. Stuttgart 1974.
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Brechts Bestimmung des Komischen geht auf Marx zurück, für den ehemals tragische Konflikte durch die geschichtliche Wiederkehr komisch werden, wodurch sie zugleich historisch verabschiedet werden können.454 Hacks übernimmt Marx’ geschichtsphilosophische Gedankenfigur für seine Komödien-Konzeption. Diese geht von der Realität und der »dramatischen Ergiebigkeit ihrer Bestandteile«,455 d. h. von einer ernsthaften Relevanz des Komischen aus. In der Erkenntnis des Komischen anachronistischer Verhaltensweisen kommt eine realitäts- und gegenwartsimmanente Utopie zur Darstellung. Im Unterschied zur Tragödie, die »unüberwindbare, da ernste Widersprüche« beinhaltet, und zur alten, volkstümlichen Komödie, die von überwindbaren, aber unernsten Gegensätzen handelt, strebt Hacks’ »realistisches Theaterstück« bzw. seine neue Komödie eine Synthese von Tragödie und Komödie in der Darstellung ernster, aber überwindbarer Widersprüche an.456
Mit der Abwendung vom Zeitstück und seiner direkten Gegenwartsdarstellung setzte Hacks’ Streben nach einem ästhetisch gesteigerten Realismus ein. Dieser sollte über die Entwicklung einer die gesellschaftlichen Widersprüche dialektisch versöhnenden Komödie zu einer ›post-revolutionären‹, »sozialistischen Klassik« führen. Deren Poetik hatte er bereits 1961 in dem Versuch über das Theaterstück von morgen entworfen.457 Hacks’ poetologischer Entwurf einer »sozialistischen Klassik« bedient sich einer essayistischliterarischen Form. Der Text beginnt mit einer humorvollen und partiell selbstironischen prognostischen Reflexion und geht über in einen fiktiven Dialog mit einem Theaterkritiker, der nach Art der Mäeutik zur Bewusstwerdung des Wesens und der Kennzeichen einer neuen, sozialistischen Klassik beiträgt. Die zukunftszugewandte Kunst zeichne sich durch ein »Streben nach Größe« aus (18). Ausgehend von der Idee der menschlichen Perfektibilität und gesellschaftlichen Progression »arbeiten die neuen deutschen Stückeschreiber an der Auffindung
454 »Die Geschichte ist gründlich und macht viele Phasen durch, wenn sie eine alte Gestalt zu Grabe trägt. Die letzte Phase einer weltgeschichtlichen Gestalt ist ihre Komödie. Die Götter Griechenlands, die schon einmal tragisch zu Tode verwundet waren im gefesselten Prometheus des Äschylus, mußten noch einmal komisch sterben in den Gesprächen Lucians. Warum dieser Gang der Geschichte? Damit die Menschheit heiter von ihrer Vergangenheit scheide. Diese heitere geschichtliche Bestimmung vindizieren wir den politischen Mächten Deutschlands« (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. In: Karl Marx – Friedrich Engels Werke. Hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 1. Berlin 1976, S. 378–391, hier S. 382). 455 Peter Hacks: Unruhe angesichts eines Kunstwerks (»Philoktet« von Heiner Müller). In: P. H.: Das Poetische, S. 92 f., hier S. 92. 456 »Welches Genre handelt über überwindbare ernste Widersprüche? Das realistische Theaterstück […]. Jetzt wird das Komische ernst und das Ernste komisch. Im realistischen Theaterstück liegt eine Identität von Komik und Tragik vor« (Peter Hacks: Das realistische Theaterstück. In: NDL 10 [1957], S. 90–104; zit. n. Andrea Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks. Vom Produktionsstück zur Klassizität. Marburg 1986, S. 73). 457 Peter Hacks: Versuch über das Theaterstück von morgen [1960]. In: P. H.: Das Poetische, S. 17–34; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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großer Stoffe und an den artistischen Mitteln großer Darstellung« (ebd.). Zur Gewinnung des Poetischen von einem sozialistischen Standpunkt aus griffen sie auf andere und längere Traditionsbestände »als die wenigen Jahrzehnte bürgerlicher Dekadenz« zurück (19).458 Die »Darstellung des Großen« solle aus der Darstellung des Kleinen in seinen gesellschaftlichen, widersprüchlichen Zusammenhängen gewonnen werden. Dabei strebe die Kunst nach »Perfektion« (ebd.), d. h. sie stelle die dargestellte Welt »in große Zusammenhänge« (ebd.). Im Drama erziele sie diese Steigerung durch ästhetische Mittel und die Wahl ihres Gegenstandes, d. h. »[g]roße Handlungen, große Charaktere«: »Der große Charakter ist produktiv, unbedingt, eigenwillig: er bedarf der Macht« (20). Diese an Shakespeares Geschichtsdrama orientierte Konzeption strebe nach einer ›staatsmännischen‹, politischen Lösung der Widersprüche.459 In einer post-revolutionären, sozialistischen Gesellschaft seien »[d]ie großen sozialen Probleme […] vorbei oder im Begriffe, vorbei zu sein« (21). Angestrebt werde die »Aufhebung der revolutionären Tradition in der klassischen. […] Erst der Sozialismus ist die fortdauernde Synthese von Revolution und Stabilität« (31). Damit kann die Bildung als Steigerung des Menschen und seiner Möglichkeiten in den Mittelpunkt des Dramas der sozialistischen Klassik rücken: Seit dem wissenschaftlichen Sozialismus, seit der bewußten Praxis des Proletariats, gibt es ein freies menschliches Handeln, das, auf Einsicht in die Notwendigkeit beruhend, keine Illusion ist. Ein echtes Subjekt-Objekt-Verhältnis wurde hergestellt und zugleich erkennbar. Der Stückeschreiber von heute […] gibt, ohne den objektiven Faktor zu vernachlässigen, dem subjektiven Faktor seine auslösende und bestimmende Rolle, er gibt ihm Einfluß und Initiative. Diese Theorie ist die ästhetische Entsprechung zur führenden Rolle der kommunistischen Parteien (23; Herv. H. T.).
Auf der Grundlage der Anerkennung der »führenden Rolle der kommunistischen Parteien« (ebd.) strebte Hacks’ Konzeption einer »sozialistischen Klassik« nach einer poetischen Steigerung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses zur ästhetischen ›Freiheit der Einsicht in die Notwendigkeit‹. Für diesen Transzendierungsprozess steht der Kunst die »äußerste Flexibilität der artistischen Behandlung«, der »äußerste Kontrastreichtum des Stils«, zur Verfügung (24). Angestrebt wird also eine realistische Kunst, die durch ästhetische ›Größe‹ angereichert ist, in der sich das soziale Allgemeine zeige.460 Ihre ästhetischen Darstellungsmittel sind »Artistik, Glanz, Phantasie« (ebd.). Diese Bestimmungen verweisen nicht auf eine subjektivierende ›Romantisierung‹ der Kunst, wie sie einige Jahre später und in Spannung zu Hacks’ Klassik-Konzeption von
458 »Auf einem hohen ideologischen Stand, haben sie die Gipfel Aischylos, Aristophanes, Shakespeare, Lope, Goethe und Büchner vor Augen und halten nicht die Hügel Ibsen und Hauptmann für das eigentliche Gebirge« (ebd., S. 19). 459 »Das Charakterdrama muß allemal politisches Drama sein und das politische Drama Charakterdrama; so und nicht anders hat es seine Ordnung« (ebd., S. 20). 460 »Realistische Kunst zeigt das Allgemeine im Besonderen. Das Allgemeine ist das Soziale, das sind die gesellschaftlichen Gebilde, Beziehungen, Widersprüche und Trends« (Hacks: Das realistische Theaterstück; zit. n. Jäger: Hacks als Dramatiker, S. 72).
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Fühmann, Wolf, Kirsch und anderen entwickelt wurde (s. u.), sondern auf die geschlossene Form, den hohen Stil und den Symbol-Charakter des klassischen Kunstwerks: ein Erbe, das sich die ›neue Kunst der Arbeiterklasse in post-revolutionären Zeiten‹ aneignen sollte. In dieser optimistisch-affirmativen Darstellung der DDR als Gesellschaft, in der die antagonistischen Widersprüche grundsätzlich aufhebbar seien, sollte das Proletariat Volk und herrschende Klasse zugleich sein.461 Hacks sah die Kunst »in der Periode des Übergangs von der revolutionären Tradition auf die klassische Tradition« (30). Er bestimmte das neue Theaterstück einer sozialistischen Klassik von morgen in Abgrenzung einerseits zum aristotelischen klassizistischen Stück, das restaurativ-idealistisch sei, und andererseits zum naturalistischen, dem dogmatisch sozialistischen Realismus verpflichteten »Tendenzstück«. »Grob getrennt: die Fabel sei ganz heutig, die Behandlung ganz morgig« (29), so lautete seine Formel zur Stärkung des ästhetischen Pols innerhalb des offiziellen, nationalliterarischen Raums. Damit vollzog er eine interne Trennung der Räume und Zuständigkeiten unter Anerkennung der parteipolitischen, sozialistischen Führung. Der Versöhnung und organischen Einheit antagonistischer Widersprüche im klassischen Kunstwerk unter Anerkennung einer ›höheren‹ Führungsmacht entspricht die politische Herrschaftsform des Absolutismus. So sah Hacks im Absolutismus Elizabeths die politisch-gesellschaftliche Grundlage für die Realisierung der hohen Kunst Shakespeares: Er [der Absolutismus Elizabeths; H. T.] entsprach den ökonomischen und den nationalen Interessen aller. Die elisabethanische Gesellschaft enthielt ihre antagonistischen Widersprüche, wie alle bisherigen Gesellschaften, aber dieselben kämpften nicht; sie bildete […] [e]ine Einheit von antagonistischen Widersprüchen im Zustand der Ruhe. (26)
Aus diesem Zitat erklärt sich, warum Müller Hacks später als »Monarchist[en]« bezeichnet hat.462 Analog zum politischen Absolutismus, auf dessen Grundlage einer Herrschaftsordnung der »Einheit« und der »Ruhe« sich laut Hacks das klassische Kunstwerk entwickeln konnte, beanspruchte seine Konzeption einer
461 »Es ist also die die Widersprüche aufhebende Klasse. Die Synthese zwischen Volksstil und hohem Stil war bislang utopisch; auf dem Boden des proletarischen Bewußtseins ist ihre Konkretion möglich. Das proletarische Volksstück ist das realistische Theaterstück« (Hacks: Das realistische Theaterstück. zit. n. ebd., S. 74). 462 »Hacks ist Monarchist« (H. M.: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt a. M. 1986, S. 23); vgl. auch Felix Bartels: »Miteinandersichabfinden«. Zur strukturellen Ähnlichkeit von Absolutismus und Sozialismus bei Peter Hacks. In: junge Welt, 21./22. 6. 2008, S. 10 f.
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neuen, sozialistischen Klassik, das gescheiterte Programm des »Bitterfelder Weges« einer »Nationalkultur« auf einer höheren Stufe zu vollenden. Das sozialistisch-klassische Kunstwerk sollte in seiner ästhetisch gesteigerten Form die Lösung der in der Realität ungelösten Konflikte antizipieren. Zur ästhetischen Darstellung kommen sollte die evolutionäre Aufhebung der Widersprüche in ein Positives, die Hebung des alltäglichen Kleinen auf die Epoche machende Größe einer ›niveauvollen‹, ›schönen‹ und ›wahren‹, klassischen Nationalliteratur.463 Wenn Hacks vier Jahre später über die »Unruhe angesichts eines Kunstwerkes« (1965) schrieb – gemeint war Müllers Philoktet –, so ist hier die spätere Distanzierung von Müllers unversöhnlichem ›Theater der Macht‹ bereits angedeutet.464 Der entscheidende Unterschied zwischen der »Ruhe« der Komödie einer sozialistischen Klassik und der »Unruhe« der unversöhnlichen Tragödie Müllers lag in dem Fluchtpunkt einer Aufhebung gesellschaftlicher Konflikte als »ästhetische Entsprechung zur führenden Rolle der kommunistischen Parteien« (23). Soweit die Theorie. In der Praxis begann Hacks Entwicklung einer »sozialistischen Klassik« bei Aristophanes und führte zu Goethe. Der maßgebliche Eintritt in den Theater- und Literaturraum der DDR stellte seine AristophanesAdaption Der Friede (1962) dar. Diese markierte allgemein den Beginn einer neuen Antikerezeption in der DDR und war Hacks’ erster Versuch einer literarischen Umsetzung seines poetologischen Konzepts.465 Die Adaption von Aristophanes’ Komödie Der Frieden bot für Hacks eine ideale Möglichkeit, das Programm einer sozialistischen Klassik umzusetzen. Gegenstand der Komödie ist der Frieden, der die Völker der Griechen von ihrem ewigen Krieg mit den Spartanern befreit und die humanistische Gesellschaftsordnung und Menschengemeinschaft wiederherstellt. Der Flug des Protagonisten Trygaios auf einem Mistkäfer zu Zeus versinnbildlicht in komisch-satirischer Weise die Erhebung aus den kleinen, ›stinkenden‹ Verhältnissen in die Sphären des Menschlich-Allgemeinen: »Aber geh, sag allen Menschen von mir, / Daß Kanäle, Pfützen und Senkgruben sie / Gut vermauern. Denn unbedeckelter Mist / Gefährdet und stört meinen herrlichen Flug« (12). Der Mistkäfer als parodistische Umkehrung des Himmelspferdes Pegasus wird in
463 »Das Volkstümliche wird sich decken mit dem Niveauvollen. Das Nationale mit dem Globalen. Das Schöne wird nicht mehr die Form der Lüge sein, sondern des Wahren« (Hacks: Das Poetische [»Versuch über das Theaterstück von morgen«], S. 32). 464 Mit deutlicher Anspielung auf Müllers Dramen heißt es: Das klassische Stück »stellt Widersprüche dar, das einzige Thema der Kunst. Aber da seine gesellschaftliche Wirklichkeit auf sicheren Fundamenten ruht, dämonisiert es nicht die Widersprüche zu tragischen Ur-Phänomenen; sie erscheinen als lebendige Konflikte, nicht als Weltuntergänge« (ebd., S. 27). 465 Folgende Nachweise im Fließtext nach Peter Hacks: Zwei Bearbeitungen. ›Der Frieden‹ nach Aristophanes, ›Die Kindermörderin‹, ein Lust- und Trauerspiel nach Heinrich Leopold Wagner. Frankfurt a. M. 1963.
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seinem Himmelsflug zu Zeus mit dem gefüttert, »was ich selbst schon einmal verzehrt habe« (14), also mit dem verdauten Stoff der eigenen Realität. Die gemeinsame Anstrengung der Völker Griechenlands, die Friedensgöttin Eirene zusammen mit ihren allegorischen Begleiterinnen »Herbstfleiss« (Arbeit) und »Lenzwonne« (eudämonistische Lebensfreude) aus ihrem Brunnen-Gefängnis zu befreien, versinnbildlicht die Überwindung der sozialen Unterschiede und den Appell an die gemeinsame Sache von ›Leitung‹ und ›Arbeiter‹ (vgl. 33). Die Göttin des Friedens wird von den Bauern aus dem Verlies der Götter befreit und auf die Erde zurückgebracht. Die Bewegung der Utopie soll also umgekehrt und realistisch werden. Ihr Ziel äußert sich in der »Parabase«, die eine selbstreflexive, programmatische Bedeutung hat: Er hingegen [der Dichter des vorliegenden Stücks im Unterschied zu den anderen Komödiendichtern; H. T.], von Kram und Problemgerümpel / Frei die Szene fegend, schuf Platz für Kunst und errichtet groß ihr Gebäude / Aus beherzten Vergleichen, bösen Ideen und Späßen voll ernster Bedeutung. / Nicht arme Spießer hat auf der Lanze er stecken, nicht tratschende Weiber, / Sondern, des Spottes ein Herkules, wagt er sich an die Mächtigsten oben, / […] Sah er sie sitzen, griff er sie an, in dem ewigen Streit der Kunst gegen die Großen, / Den immer der Künstler verlor, den stets die Kunst noch gewann (40 f.). Die »Großen«, die den Frieden gefährden und die Trygaios im zweiten Akt nochmals abwehren muss, sind allerdings nicht die sozialistischen Führer, sondern Relikte kapitalistischer Mächte in der Gesellschaft, denen der Friede ihr Geschäft verdirbt: »Helmschmied« und »Waffenkrämer« oder der »Knabe«, der nur Kriegslieder kennt und erst noch das neue Lied des sozialistischen Friedens lernen muss (vgl. 53 u. 67).
Die Antikerezeption war für Hacks das Mittel, von Brecht loszukommen und ein neues sozialistisches Theater aufzubauen.466 Bei seiner Abwendung vom Produktions- oder Zeitstück und der dem heteronomen, politischen Pol verpflichteten ›tendenznaturalistischen‹ Darstellung von Gegenwartsproblemen einerseits und seiner Hinwendung zur Steigerung des ›Poetischen‹ andererseits dienten Hacks Aristophanes’ Komödien als Modell. Denn hier sah er sowohl die Darstellung konkreter sozialer Konflikte als auch deren poetische Steigerung realisiert, wonach sich auch das zeitgenössische Publikum sehne: Die Kompliziertheit der politischen Auseinandersetzung hat das Niveau der geistigen Auseinandersetzung in den letzten fünf Jahren erhöht; hiermit zusammen hängt die Neuentdeckung der Eigengesetzlichkeit der Kunst. Das Publikum, des platten Tendenznaturalismus überdrüssig, bezieht von Aristophanes, wonach es sehnsüchtig verlangt: die Identität von Kampf und Poesie.467
Dieser ›poetische Kampf‹ hatte sich für Hacks in einer ›post-revolutionären‹, sozialistischen Gesellschaft von der Kritik des bürgerlichen Kapitalismus – wie
466 Vgl. Mittenzwei: Antikerezeption, S. 530. 467 Peter Hacks: Über Kortners »Sendung der Lysistrata«. In: P. H.: Das Poetische, S. 50–58, hier S. 50.
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sie noch bei Brecht vorherrschte – auf die Gewinnung des Poetischen in einer sozialistischen Klassik verlagert. Hacks’ Bestreben, nach dem Vorbild der aristophanischen Komödie den Realismus über das Poetische zu steigern, konnte auf Hegels Kommentar über das Ernste, Politische der Komik bei Aristophanes zurückgreifen.468 Bei Aristophanes lernte Hacks, dass und wie das sozial Alltägliche zu einer gewissen Abstraktionshöhe, zum geschichtsphilosophischen ›Menschlichen‹, gebracht wird, um aus der Darstellung sozialer Widersprüche eine poetische Qualität zu gewinnen, die jene Widersprüche wiederum in der Idee einer sozialistisch-humanistischen Menschengemeinschaft versöhnt.469 Die Versöhnung der sozialen Konflikte im Fest, mit der die Komödien des Aristophanes enden, beschreibt den gleichsam alchemistischen Steigerungsprozess vom Produktionsstück zum ›post-revolutionären‹ Werk der sozialistischen Klassik. In diesem poetischen Prozess werden die alltäglichen, konkreten gesellschaftlichen Probleme zu allgemein-menschlichen Haltungen umgewandelt. Entsprechend wurde fortan für Hacks’ Idee des Dramatischen die ›Emanzipation des Menschen‹ zentral; das Politische zeigte sich ihm vor allem in großen menschlichen Entscheidungssituationen.470 Mit der Entfernung von der Gegenwart und den Alltagsproblemen wurde das soziologisch Typische durch das Charakterlich-Menschliche ersetzt.471 Die Transzendierung des Realismus hin zu einer Klassizität des Werkes strebte Hacks zum einen über die Steigerung des Komödien-Gegenstands an: als Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten hin zu einer umfassenden, starken Persönlichkeit im Sinne des Humanismus; zum anderen über eine Poetisierung der Sprache hin zur Vers- und Kunstsprache, wie er sie schon in Müllers Umsiedlerin als vorbildlich ansah. Schließlich verfolgte er eine gesteigerte Komik über den literaturautonomen, ästhetischen Verweis, d. h. über die Entwicklung einer Literaturkomö-
468 »Aristophanes macht sich nicht nur über den δημος, den Euripides lustig; sondern bei dem Spott über den δημος liegt tiefer politischer Ernst zugrunde« (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. In: G. W. F. H.: Werke in 20 Bänden mit Registerband. Bd. 18. Frankfurt a. M. 1986, S. 482 f.). 469 »Aristophanes gelang es, seine komisch-satirischen Provokationen zu objektivieren. [...] Die Aristophanische Komödie stand im Dienste der Gesellschaft, sie diente dazu, die Übel zu bekämpfen, die im Widerspruch zu dieser Gesellschaft standen. […] Hacks sah in einer solchen dramaturgischen Lösung ein Modell für die sozialistische Komödie. [...] Gezeigt werden sollte eine Gesellschaft, die selbst ihre härtesten Widersprüche zu überschauen vermag und deshalb auch in der Lage ist, ihren Streit hart und unbeschönigt auszutragen und dennoch heiter und fröhlich zu beschließen« (Mittenzwei: Antikerezeption, S. 535). 470 Vgl. ebd., S. 533 u. S. 536. 471 Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 76.
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die für ein literarisch gebildetes Publikum, das die intertextuellen Anspielungen zu erkennen vermag.472 In der Darstellung des Verwirklichungsprozesses universaler Qualitäten des Menschen auf der Grundlage des sozialistischen Gesellschaftssystems zeigte sich Hacks’ sozialistischer Idealismus. An die Stelle von Gegenwartsproblemen traten die ›großen Inhalte‹. Die Personen im Stück waren zumeist ihrer gesellschaftlichen Prägungen entledigt und wurden zu charakterologischen Typen, die mit ihrer ›richtigen‹ Einstellung für die Möglichkeit der Harmonisierung der gesellschaftlichen Widersprüche bürgten.473 Im Verhältnis zum offiziellen Raum erweist sich dieser sozialistische Idealismus als affirmative Position. Hacks’ Unterscheidung von antagonistischen und nicht-antagonistischen Widersprüchen diente der Legitimation politischer Herrschaft. Das Ideal der Aufhebung gesellschaftlicher Widersprüche in einer ›post-revolutionären‹ Gesellschaft basierte auf der Anerkennung des ›absolutistischen‹ politischen Gewaltmonopols.474 Analog zum Souverän in der politischen Welt sollte das klassische Kunstwerk die gesellschaftlichen, nicht-antagonistischen Widersprüche versöhnen, wodurch ihm eine legitimatorische Funktion zukam. Innerhalb des ›ersten‹, offiziellen, nationalliterarischen Raumes strebte Hacks jedoch – wie skizziert – nach einem Freiraum und Privileg für die ästhetische Steigerung, d. h. nach der Stärkung des ästhetischen Pols. Sein Streben nach einer Transzendierung oder Poetisierung des Realismus hin zu einem geschlossenen Kunstwerk beinhaltete ein ›Abkommen‹ mit dem staatlichen Machtbereich über eine ›friedliche Koexistenz‹ und Arbeitsteilung. Hacks’ Poetik der sozialistischen Klassik basierte auf dem symbolischen Pakt einer internen Trennung der Räume und Zuständigkeiten auf Grundlage der Anerkennung der ›feudalaristokratischen‹ Führungsrolle der Partei, die als ›Souverän‹ die Herrschaftsprinzipien des Ausgleichs, der Einheit und der Ruhe garantieren sollte. Die Idealisierung der führenden Einheitspartei als Bedingung der Möglichkeit einer post-revolutionären, sozialistischen Klassik fiel aber in den siebziger Jahren auch Hacks zunehmend schwer. So rückte an die Stelle des absolutistischen Monarchen nun die souveräne geistige Persönlichkeit: Goethe.475
472 So zum Beispiel in seinem Amphitryon-Stück (1967, UA 1968). Das auf Kleist zurückgehende Stück sieht weitgehend von jeder aktualisierenden Anspielung auf die sozialistische Gesellschaft ab und überlässt sich ganz dem ästhetisch-erotischen Witz. 473 Vgl. Jäger: Der Dramatiker Peter Hacks, S. 75 f. 474 Vgl. ebd., S. 81. 475 Hacks kommentierte im Zusammenhang mit dem Machtwechsel von Ulbricht auf Honecker 1971: »Wenn die Revolution nicht mehr drin ist, geht in der Kunst nur noch Goethe« (Müller sen.: Gespräche mit Hacks, S. 66; vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 627).
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In seinem auch im Westen sehr erfolgreichen Stück Ein Gespräch im Hause Stein über den abwesenden Herrn von Goethe (1974, UA 1976) wird entsprechend die reale Abwesenheit der alles vereinenden Führungspersönlichkeit über die Wirkmacht ihrer idealen, souveränen Präsenz kompensiert. Hacks’ ästhetisch-poetologisches Arrangement mit dem Machtbereich, dem ›strukturfeudalistischen Korsett‹, zielte auf das Paradox einer machtinternen Autonomisierung der Kunst, auf die Entwicklung und Besetzung einer ästhetisch-klassischen Position im ›ersten‹, nationalliterarischen Raum. Diese konvergierte mit einer Kulturpolitik in der DDR, die ab den sechziger Jahren die Pflege des klassischen Erbes dem Bildungsbürgertum in Nischen überließ.476
Heiner Müllers Entwicklung: Vom Produktionsstück über die ›leerlaufende‹ Tragödie zum postdramatischen Theater Mit seinen Produktionsstücken Der Lohndrücker (1956), Die Korrektur (1957/58), Die Umsiedlerin (1961) und Der Bau (1963/64) wollte Heiner Müller in der Nachfolge Brechts die nicht aufzuhebenden Widersprüche innerhalb der sozialistischen Gesellschaft und die Kosten des gesellschaftlichen Fortschritts in einem neuen ästhetischen, dramatischen Ausdruck zur Darstellung bringen. Sein Leitthema war das Schicksal des Menschen als Brücke zwischen »Eiszeit und Kommune«.477 Damit wandte er sich wie kaum ein anderer Schriftsteller in der DDR gegen den Fortschrittsoptimismus der fünfziger und frühen sechziger Jahre. Nach den staatlichen Repressionen, die er in der Folge des UmsiedlerinStücks erfahren musste, wandte sich Müller wie Hacks vom Gegenwartsstück ab und einer neuen Antike- und Mythosrezeption zu. Dabei interessierte ihn jedoch nicht die Komödie, sondern die attische Tragödie. Auch ihm ging es darum, die sozialistische Gegenwart ›kunstfähig‹ zu machen, jedoch spielte der Mythos für ihn eine diametral entgegengesetzte Rolle im Vergleich zu der bei Hacks. Im Mythos fand er nicht die Anlagen für eine zukünftige gesellschaftliche Utopie, sondern – im Gegenteil – bereits die Grundlagen für die Katastrophen der Zivilisationsgeschichte. Das Brechtsche Lehrstück, das die Widersprüche benannte, aber nicht auflöste, blieb für ihn dabei der Ausgangspunkt. Er strebte nach dessen Radikalisierung und suchte nach einem Modell, die Vorgänge der sozialistischen Umgestaltung mit ihren unerbittlichen tragischen
476 Sowohl die traditionell bildungsbürgerliche als auch die klassische Haltung – konkret auch Hacks’ Klassik-Konzept – erfuhren später im gesamtdeutschen literarischen Feld eine Renaissance (s. u., Zweiter Teil, II. 2.4.). 477 Der Bau. In: Müller: Werke, Bd. 3 (»Die Stücke 1«), S. 393.
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Entscheidungssituationen, die zu keiner Versöhnung und ›Lehre‹ mehr führten, in einer neuen Dramenform darzustellen. Die attische Tragödie lehrte Müller, bis zu welchem Grad eine Kollision zugespitzt werden mußte, um das Wirklichkeitsmaterial der sozialistischen Gesellschaftsumwälzung kunstfähig im Sinne der großen Weltdramatik zu machen. Seine Vorliebe für die Unerbittlichkeit der russischen Revolutionsdichtung verband er mit der tragischen Wucht der attischen Tragödie. Ihre gnadenlose Zwangsläufigkeit funktionierte Müller auf den unausweichlichen Schritt gesellschaftlicher Entwicklung um. Nicht das antike Schicksal, sondern das eherne Gesetz der Geschichte bestimmte fortan seine dramatische Diktion.478
Im Zuge dieser Ausrichtung entindividualisierte und entheroisierte Müller seine Figuren radikal. Sie figurierten fortan antagonistische Gewaltverhältnisse und geschichtsphilosophisch sich wiederholende Widersprüche im Zivilisationsprozess, der sowohl archaische, kapitalistisch-faschistische wie auch sozialistische Entwicklungsstufen umfasst. Zwischen 1958 und 1964, zur Zeit der Umsiedlerin und ihrem Verbot, schrieb Müller an seinem Philoktet-Stück, das erst 1965 in der Zeitschrift »Sinn und Form« veröffentlicht wurde. Vorlage für die Auseinandersetzung mit dem »Philoktet«-Stoff war Sophokles’ Tragödie, in bewusster Umgehung der Bearbeitung von Lessing, dessen dramatische Darstellung von Philoktets Schmerz im Kontext seiner Mitleidspoetik des bürgerlichen Trauerspiels stand. Der Mythos interessierte Müller allgemein als Übergang von der archaischen zur historischen Zeit, vom ›Naturzustand‹ zur ›Politik‹ der Menschen. Sein Interesse galt der Genese der Zivilisation als Herrschafts- und Klassengeschichte. Die Fabel des Philoktet-Stücks steht in einem deutlichen Kontrast zu den Produktionsstücken. Sie handelt von dem einstigen Kriegshelden Philoktet, der auf einer Insel ausgesetzt wurde, da er mit seiner stinkenden Wunde am Bein für die griechische Flotte auf dem Weg nach Troja nutzlos und für den Fortschritt hinderlich geworden ist. Der fast schon zum Tier gewordene Grieche wird nun von seinen Landsleuten – repräsentiert vom Anführer Odysseus – wieder gebraucht, um den Trojanischen Krieg eine für die Griechen günstige Wendung zu geben. Philoktet steht daraufhin in einem unlösbaren Konflikt zwischen der trotzigen Verweigerung gegenüber dem Kollektiv, das ihn aussetzte, und dem Streben, wieder ein heroischer Held zu werden. Gegenüber der Vorlage von Sophokles trägt Müllers Philoktet Züge eines ›angeketteten Prometheus‹, des Revolutionärs im Dienste des Menschengeschlechts, der für seine Freveltaten von den Göttern bzw. von der wiederhergestellten alten Machtordnung, der er selbst einst angehörte, bestraft wird (vgl. Müllers Prometheus-Stück [1967/68]). Die wichtigste Veränderung, die Müller im Vergleich zur antiken Vorlage vornahm, ist die Ersetzung des Deus ex machina, der göttlichen Lösung des tragischen Konflikts durch Herakles, der Philoktet zum Einverständnis um des höheren Zieles willen zwingt. Die durch göttlichen Eingriff bewirkte Einsicht (Anagnorisis) des trotzigen Individuums in die höhere Notwendigkeit ersetzt Müller durch die Instrumentalisierung der Leiche Philoktets durch den politischen Heerführer Odysseus. Odysseus, der Opfer der Kriegspflicht
478 Mittenzwei: Antikerezeption, S. 537 f.
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im Zivilisationsprozess der Griechen wurde,479 ist zum »politischen Tier« geworden.480 Als Politiker vertritt er zwar die Staatsräson und als Krieger und Eroberer treibt er den Zivilisationsprozess voran. Der instrumentellen Vernunft als Prinzip der staatlichen Ordnung und zudem der heroischen Subjektkonstitution steht aber die Gewaltausübung gegen das Subjekt als geistiges und körperliches Individuum gegenüber. Odysseus hat bereits verinnerlicht, was bei Philoktet noch Gegenstand einer ›offenen Wunde‹ ist: der Ausschluss des Anderen seiner Selbst als Opfer der Differenz zum Machtverbund der Gesellschaft, auf dem sich sowohl das heroische Individuum als auch die Staatsordnung gründet. Den schon bei Sophokles angelegten antagonistischen Widerspruch zwischen der Tötung des Individuellen und Menschlichen einerseits und der Subjekt- und Staatskonstitution im Übergang vom ›Naturzustand‹ zur politischen Geschichte andererseits radikalisiert Müller als Übergang von der Unersetzlichkeit des lebenden Helden Philoktet zur Verwertung seines toten Körpers, um den Zivilisationskrieg in Troja zu gewinnen. Die Integration Odysseus’ in die Staatsmaschine und in den Zivilisationsprozess, die mit einer Gewaltanwendung gegen sich selbst einhergeht, erfolgt aus der Einsicht, dass es erst diese ›zugerichtete‹ Zivilisations- und Staatsform ist, die eine individuelle (heroische) Identität konstituiert. Die ›stinkende‹, sich nicht schließende Wunde Philoktets steht für diesen Gewaltzusammenhang im Inneren der Zivilisationsgeschichte. Müllers Philoktet zeigt in dramatisch und sprachlich verdichteter Form einen nicht auflösbaren Widerspruch. Die ›Tragödie‹ der Zivilisation kann nicht mehr durch ein Opfer gesühnt und gelöst werden, weil die Bedingung der Möglichkeit des tragischen Konflikts – die Kollision zwischen dem Prinzip des heroischen, nach Freiheit strebenden Individuums und dem Prinzip der höheren Notwendigkeit des Gewaltzusammenhangs unterlaufen wird (dies ist im Stück von Beginn an durch den farceartigen Prolog markiert). Denn die Zivilisationsgeschichte konstituiert das moderne Individuum erst in einem gegen sich selbst Gewalt anwendenden (Disziplinierungs-)Prozess, wie Philoktet schließlich einsehen muss: Lauf, Einbein, in den Schlamm, der alles heilt Die alte Wunde mit der neuen Kränkung Den Stinkenden mit dem Gestank der Schlacht.481
Die nicht verheilende, immer wieder neu aufbrechende ›Wunde‹ des in der Zivilisationsgeschichte eingeschlossenen Gewaltzusammenhangs prägte für Müller auch das ›humanistische‹ Projekt einer sozialistischen Gesellschaft. Mit seiner »kritische[n] Widerspiegelung der Unversöhntheit der Welt des realen
479 Dies ist in der Zwangsrekrutierung des Bauern zum seefahrenden Krieger, vom vermeintlichen Narren zum listigen Politiker zugespitzt: »In diesem Handel bist du nicht der erste / Der was er nicht will tut. Wir tatens vor dir. / […] / Mich selber vorher fingen so die Fürsten / In ihren Krieg: als ich den Narren spielte / Salz streuend in die Furchen, hinterm Pflug / […] / Rissen sie von den Brüsten meines Weibs / Den Sohn und warfen den mir vor den Pflug / Kaum hielt ich das Gespann […] / So war ich überführt heilen Verstandes / Und hatte keinen Weg mehr aus der Pflicht« (Müller: Werke 3, S. 296 f.). 480 Heiner Müller: Brief an den Regisseur der bulgarischen Erstaufführung von Philoktet am Dramatischen Theater Sofia. In: H. M.: Material. Texte und Kommentare. Hg. v. Frank Hörnigk. Leipzig 1989, S. 62–70, hier S. 67. 481 Müller: Werke 3, S. 312.
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Sozialismus« 482 verließ er die ideologische Grundlage des ›Humanismus‹. Indem er den unlösbaren Antagonismus und die Kollisionen betonte, verabschiedete er den Fortschrittsoptimismus und jede Form einer gesellschaftlichen Utopie, die Hacks dagegen in der sozialistischen Wirklichkeit bereits eingeschrieben, durch die staatliche Führung gewährleistet und durch die Kunst einer sozialistischen Klassik poetisch entfaltet sah. Müller kündigte mit seinem ›Antihumanismus‹ den sich progressiv verstehenden, sozialistisch-humanistischen Grundkonsens mit dem Staat und damit auch mit dem ›ersten‹, nationalliterarischen Raum auf. Mit seinem Austritt – d. h. mit der Nicht-Anerkennung der doxa dieses ›ersten‹ Raumes, seinem neuartigen Rückgriff auf das Material des Mythos und der antiken Tragödie sowie mit seiner Orientierung an einer radikalisierten Zivilisationskritik – situierte sich Müllers Autorposition in einem anderen Bezugsystem, in dem oben skizzierten Sinne eines emanizipierten kulturellen Raums ›zweiter‹ Ordnung. Das relativ autonome literarische Bezugssystem, das sich hier allmählich entfaltete, war durch ein Literaturverständnis in Oppositionsstellung zum realen Machtapparat geprägt. Während der ›erste‹ Raum auf der Kontiguität und ›Machbarkeit‹ von Geschichte auf Grundlage der sozialistischen Fortschrittsidee basierte, war das über die existenzielle Zivilisationskritik nach und nach eigenständige literarische Feld primär durch die tragische Kollision von Idee und Geschichte geprägt. Die symbolische Vermittlungsfunktion der Literatur, die der Staat – insbesondere nach dem Scheitern des »Bitterfelder Weges« – nicht mehr direkt durchsetzen konnte, erfolgte in Hacks Komödien-Konzeption auf der Grundlage einer ›Trennung der Räume und Zuständigkeiten‹, auf einer Kompromiss- und Komplementärstellung, wie sie in gewisser Weise auch für die Weimarer Klassik charakteristisch ist:483 eine systeminterne Trennung von politischen Staatsangelegenheiten und ästhetischen Kulturangelegenheiten, wobei der Politik das Herrschaftsprivileg zukam und der Kultur die relativ autonome ›Pflege‹ des kulturellen Erbes unter der Bedingung, sich nicht direkt in die Politik einzumischen und ihre Rahmenbedingungen anzuerkennen. Dagegen stand die Entwicklung der Brecht-Nachfolge bei Müller für die Zuspitzung des didaktischen Lehrstücks: für die Absetzung einer moralischen Lehre unter Beibehaltung der Dialektik der Machtbeziehungen, die die Unvereinbarkeit von Staat und menschlicher Gesellschaft auch im Sozialismus aufzeigen. Literatur definiert
482 Erbe: Die verfemte Moderne, S. 210. 483 Vgl. Tommek: Trennung der Räume und Kompetenzen; vgl. zu Hacks auch Günther Nickel: Kunst versus Politik. Peter Hacks’ Lektüre von Goethes »Tasso«. In: Kai Köhler (Hg.): Staats-Kunst. Der Dramatiker Peter Hacks. Erste wissenschaftliche Tagung der Peter-HacksGesellschaft. Berlin 2009, S. 11–25.
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sich hier in Opposition zum Feld der Macht. Hacks und Müller unternahmen also unterschiedliche Versuche, aus der vormundschaftlichen Ästhetik auszubrechen, wobei beide an der sozialistischen Idee festhielten. Aus einer positionellen Allianz wurden allerdings Antipoden in einem sich ausdifferenzierenden literarischen Raum. Während Müllers Stücke in den sechziger Jahren noch keine mit Hacks vergleichbare Beachtung und Anerkennung erfuhren, traten sie in den siebziger Jahren in den Vordergrund.484 Der Aufstieg Müllers begann mit der Anstellung als Dramaturg und Hausautor am Berliner Ensemble 1970 und der Uraufführung von Zement 1972. Unterstützt wurde er von einer internationalen Rezeption, insbesondere einer kommunistischen in Frankreich (erste MüllerInszenierung: Philoktet, 1970) und einer Neuen Linken in der USA (ab 1975).485 Während Hacks nach einer klassischen, im nationalliterarischen Raum situierten souveränen Position strebte, orientierte sich Müller an internationalen Modernisierungstendenzen und machte sich zu deren Wortführer. So gehörte er zu den ersten Schriftstellern, die Ende der siebziger und Anfang der achtziger Jahre Foucaults Machtanalytik und dessen These vom Ende der repräsentativen Rolle des bürgerlichen Intellektuellen rezipierten.486 Diese ›postmarxistische‹ Orientierung an postmoderner Kulturkritik beförderte wiederum die internationale Wahrnehmung Müllers durch eine Linke, die nach Möglichkeiten einer Modernisierung Brechts und einer marxistischen Literaturkritik suchte. In »Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York« (1979) gibt sich Müller bereits als ›Orakel der Postmoderne‹.487 Er fasst den 484 Vgl. Judith R. Scheid: Einleitung: Kulturpolitische Tendenzen im DDR-Drama. Rezeptionsprobleme von Heiner Müller und Peter Hacks. In: J. R. S. (Hg.): Zum Drama in der DDR: Heiner Müller und Peter Hacks. Stuttgart 1981, S. 5–12, hier S. 5 u. S. 10. 485 Vgl. den Artikel »Internationale Rezeption«, speziell: »Frankreich« (Irène Bonnaud) und »Nordamerika« (Carl Weber). In: Patrick Primavesi, Hans-Thies Lehmann (Hg.): Heiner Müller Handbuch – Leben, Werk, Wirkung. Stuttgart 2003, S. 367–370, hier S. 368, u. S. 385–388, hier S. 385. 486 Vgl. »Und vieles / Wie auf den Schultern eine / Last von Scheitern ist / Zu behalten … (Hölderlin)«. In: Müller: Material, S. 90–93, hier S. 91; »Mich interessiert der Fall Althusser …«. Gesprächsprotokoll [1981]. In: Ebd., S. 25–29, hier S. 27: »Wenn ich versuche herauszufinden, warum Althussers Texte mich immer weniger interessieren als die von Foucault oder Baudrillard, dann deswegen, weil die Texte von Althusser für mich kaum einen Materialwert hatten. […] Foucaults These vom Ende des bürgerlichen Intellektuellen [Michel Foucault: Der sogenannte Linksintellektuelle. In: Alternative 119, Berlin 1978]. – Ich fand den Text sehr einleuchtend. Das ist ein wichtiger Aspekt auch für den Fall Althusser: da der Intellektuelle kein Repräsentant mehr sein kann, kann er nur noch Symptom sein oder sich als Symptom zur Verfügung stellen – und als Dokument«. 487 Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Ebd., S. 21–24. Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Dichter in postmodernen Zeiten in zwei symbolisch miteinander verschmelzenden Figuren: »Orpheus, der unter den Pflügen singt, Dädalos im Flug durch die labyrinthischen Därme des Minotauros« (24). Müller sieht mit dem freien Markt im Westen »die Illusion von der Autonomie der Kunst, eine Voraussetzung des Modernismus«, fallen. Andererseits sei auch im Osten unter der Planwirtschaft die Kunst in der sozialen Funktion untergegangen (21). Entsprechend sieht er in der Postmoderne keine Fortentwicklung der Kunst, sondern nur noch ihre »Verbreiterung auf Kosten des Niveaus« (22).488 Müllers zivilisationskritische Visionen, die sich epigrammatisch verdichten, sehen die Ausbeutung und Zerstörung des Menschen in einer kolonialen ›Katastrophengeschichte‹: »Ich kann die Frage des Postmodernismus aus der Politik nicht heraushalten. Periodisierung ist Kolonialpolitik, solange Geschichte nicht Universalgeschichte [ist], was Chancengleichheit zur Voraussetzung hat, sondern Herrschaft von Eliten durch Geld oder Macht« (ebd.). Reste einer Hoffnung auf einen Neubeginn sieht er im »Schrecken« vor der kolonialistischen Zerstörung der Natur, aus dem einmal eine neue postkoloniale Literatur, zu der sich bereits Ansätze in der lateinamerikanischen Literatur fänden, entstehen könnte.489 Schließlich nennt Müller die für ihn zentralen Vorläufer einer internationalen Moderne, an deren Ende in deutlichem Anklang an Foucault der postmoderne, sich ›auslöschende‹ Autor steht: Die großen Texte des Jahrhunderts arbeiten an der Liquidation ihrer Autonomie, Produkt ihrer Unzucht mit dem Privateigentum, an der Enteignung, zuletzt am Verschwinden des Autors. Das Bleibende ist das Flüchtige. Was auf der Flucht ist bleibt. Rimbaud und sein Ausbruch nach Afrika, aus der Literatur in die Wüste. Lautréamont, die anonyme Katastrophe. Kafka, der fürs Feuer schrieb, weil er seine Seele nicht behalten wollte wie Marlowes Faust […]. Artaud, die Sprache der Qual unter der Sonne der Folter, der einzigen, die alle Kontinente dieses Planeten gleichzeitig bescheint. Brecht, der das Neue Tier gesehn hat, das den Menschen ablösen wird. Beckett, ein lebenslanger Versuch, die eigene Stimme zum Schweigen zu bringen. […] Arbeit am Verschwinden des Autors ist Widerstand gegen das Verschwinden des Menschen (23 f.; Herv. H. T.).
Das ›Leerlaufen‹ der geschichtsphilosophischen Tragik im Siegeszug der Zivilisationszeit und das Verschwinden des tragischen Helden wie auch des souveränen Autors waren für Müller fortan die maßgeblichen Themen. Die Vision der Erstarrung des ›weltgeschichtlichen‹ (geschichtsphilosophischen) Verlaufs als Resultat des von Eroberung, Ausbeutung und Beschleunigung geprägten Zivilisationsprozesses bestimmte in der Folge Müllers Entwicklung postdramatischer Stücke wie Hamletmaschine (1977), Der Auftrag (1979) oder Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982). Ihre formalen Kenn-
488 »Im Smog der Medien, der auch in dem Land, aus dem ich komme, den Massen die Sicht auf die wirkliche Lage nimmt, ihr Gedächtnis auslöscht, ihre Fantasie steril macht, geht die Verbreiterung auf Kosten des Niveaus« (ebd., S. 22). 489 »Die guten Texte wachsen immer noch aus finsterm Grund, die bessre Welt wird ohne Blutvergießen nicht zu haben sein, das Duell zwischen Industrie und Zukunft wird nicht mit Gesängen ausgetragen, bei denen man sich niederlassen kann. Seine Musik ist der Schrei des Marsyas, der seinem göttlichen Schinder die Saiten von der Leier sprengt« (ebd., S. 21).
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zeichen waren die Verknappung des dramatischen Konflikts zum Bild und die Entkopplung von Stimmen und Figuren als Ausdruck eines nicht von Identität, sondern von Differenz geprägten Begriffs der Geschichte, des Subjekts und des Autors.
Konfliktlinien Die Entwicklung der Autorposition Heiner Müllers führte peu à peu zur erfolgreichen Besetzung des ästhetischen Pols im ›zweiten‹ literarischen Bezugssystem in der DDR – in produktiver Kopplung mit internationalen, postmodernen Tendenzen und in Opposition zum ersten, nationalliterarischen und zunehmend symbolisch ›entleerten‹ Raum mit seiner offiziellen Vorgabe eines sozialistischen Realismus. Müllers Position musste nicht nur zur Distanzierung, sondern auch zur Bedrohung der ›Souveränität‹ beanspruchenden Autorposition von Hacks führen. So änderte sich das Verhältnis zwischen den beiden Dramatikern »in dem Maße, wie Müller das größere ›symbolische Kapital‹ auf sich vereinigte und – davon schwerlich zu trennen – die eingenommene Position auf eine Weise ausbaute, die Hacks so nicht teilte«.490 Anfang der siebziger Jahre nahm der Konflikt die Form eines »Diadochenkampfes um die Brechtnachfolge« an.491 Hacks’ öffentliche Unterstützung für Müller hörte rasch auf.492 Stattdessen verteidigte der in die Defensive geratene Hacks sein Konzept machtinterner ästhetischer Autonomie gegen jede Form eines ›Nihilismus‹, einer antagonistischen Fragmentarisierung und Modernisierung, als Darstellung der westlichen kapitalistischen ›Entfremdung‹. In einer unter dem Titel »Unruhe angesichts eines Kunstwerkes« erschienenen Kritik zu Müllers Philoktet (geschrieben im April 1966, veröffentlicht Ende 1969) zeichnet sich die Linie der im Theater zu behandelnden »Konfliktlage« bereits ab: Müllers Stück ist besser als das des Sophokles, aber ich meine, daß Sophokles Recht hatte, als er den tragischen Ansatz zur Katastrophe zu treiben sich weigerte; die Konfliktlage verlangt Ausgleich auf der höchsten historischen Ebene. […] Die Opfer der antagonis-
490 Turk: Philologische Grenzgänge, S. 259. 491 Ebd. 492 »Das hörte dann schlagartig auf, als nicht mehr gesagt wurde: ›Müller, nach Hacks der bekannteste …‹, sondern: ›Müller, der neben Hacks …‹. Das war das erste. Dann fiel der Name Hacks ganz weg, und dann war es aus. Seitdem ist da eine Feindschaft. Ganz konkret seit meiner ›Macbeth‹-Bearbeitung« (Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 142; vgl. Turk: Philologische Grenzgänge, S. 259).
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tischen Widersprüche, die schicksalhaft scheiterten, weil sie keinen Ausweg sehen konnten, – wirken sie für uns nicht alle ein bißchen kurzsichtig?493
Hatte Hacks im Blankvers der Umsiedlerin 1961 noch die Möglichkeit einer poetischen Transgression vom realistischen zum klassischen Kunstwerk gesehen, so stellte er nun fest, dass Müllers Eingriffe in Sophokles’ Stück »ungeheuer« seien. Er beendete seine Philoktet-Kritik mit der Suggestivfrage, ob der »›Philoktet‹-Vers in seiner mehr als menschlichen Schönheit« nicht schon »barbarisch« sei.494 Zentral wurde für ihn der Vorwurf einer ›barbarischen Zerstückelung‹ und einer Lust an der ›Entzweiung‹, da diese dem positiven humanistisch-klassischen Vorbild einer Aufhebung der Widersprüche im souveränen Kunstwerk entgegenstanden. In Hacks’ Brief an einen Geschäftsfreund (1971) findet sich zwar noch ein Rest an Wertschätzung, jedoch dominiert die spöttische Kritik und Distanzierung von Müller: Wie sein Stil gekennzeichnet ist durch bruchstückhafte Vereinzelung der Bestandteile und vollkommen schöne Ausformung der Bruchstücke, so erscheint die Welt bei ihm in unauflösbarer Spannung zwischen dem Zufälligen und dem Gesetz. […] Natürlich lassen sich alle diese gegensätzlichen Momente mit Hilfe der materialistischen Dialektik ohne unüberwindliche Schwierigkeiten vermitteln, und natürlich beherrscht Müller die materialistische Dialektik genug, um das, wenn er will, zu können. Aber er will’s nicht. Es gibt kaum eine Haltung, die seinem Wesen so fremd ist wie die vermittelnde. […] Müller, so versuchen wir, ihn zu begreifen, läßt die Dinge in ihrer Entzweiung, und aus der Entzweiung schöpft er die Energien seiner Kunst.495
Müllers ästhetisch umgesetzte Vision einer sich im Namen von Humanismus und Zivilisation wiederholenden ›Barbarei‹ war der von Hacks diametral entgegengesetzt.496 Die Unvereinbarkeit und die unumkehrbare Entzweiung ihrer Autorpositionen wurden dann vollends sichtbar anlässlich der Kontroverse um Müllers Macbeth 1973.497 Hacks beteiligte sich an ihr mit seinem Aufsatz »Über das Revidieren von Klassikern« (1975).498 493 Peter Hacks: Unruhe angesichts eines Kunstwerks (»Philoktet« von Heiner Müller). In: P. H.: Das Poetische, S. 92 f., hier S. 92. 494 Ebd., S. 93. 495 Peter Hacks: Brief an einen Geschäftsfreund [1971]. In: P. H.: Die Maßgaben der Kunst. Düsseldorf 1977, S. 180–184, hier S. 183. 496 Vgl. Stillmark: Hacks und Müller, S. 429. 497 Diese Kontroverse wurde in der Zeitschrift Sinn und Form (H. 1/1973) geführt und von Wolfgang Harich eröffnet. Dass es sich um »eine[ ] der seltenen literarischen Debatten, die öffentlich in der DDR geführt wurden« (Stillmark: Hacks und Müller, S. 430, Anm. 12), handelte, stützt die These einer symptomatischen, grundsätzlichen Bedeutung des Konflikts zwischen Hacks und Müller für die Ausdifferenzierung des literarischen Raumes in der DDR. 498 Peter Hacks: Über das Revidieren von Klassikern. In: P. H.: Die Maßgaben der Kunst, S. 197–213; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Zur »Vollkommenheit eines Kunstwerkes« gehöre es, »daß es nichts an sich hat, was es nicht in sich hat und herzugeben in der Lage ist« (206). Dem dauerhaften »Geist« stehe der kurzlebige »Zeitgeist« entgegen, dem das Revidieren von Klassikern unterliege (203). Der Grund zur Veränderung des klassischen Werkes liege in einem Geist der »Kritik«, in der Befriedigung der »Forderung der Mode« und in einer »Verachtung der Persönlichkeit« (201). All diese polemischen Kritikpunkte von Hacks zielten deutlich auf Heiner Müller, der bei seiner »›Macbeth‹Schändung« nicht beachtet habe, »daß es schwerer ist, den Namen Müller zum Begriff zu machen als den Namen Herostrat« (203). Destruktion ersetze niemals die Größe des aus sich selbst heraus Schaffenden und Klassiker wie Shakespeare dürfe nur derjenige verändern, der mindestens die gleichrangige souveräne Größe besitze (vgl. 212). Es sei eine »Frechheit, mit der heutige Theater sich mit dem Shakespeare auf du und du stellen« (213).
An der Polemik lässt sich ablesen, wie sich bei Hacks die klassische Kunstwerkauffassung, ein Persönlichkeitskult und Ulbrichts Gebot der positiven Vorbildfunktion der Kunst verbinden, um den ›zerstörerischen Zeitgeist‹ auf Distanz zu halten und zu diskreditieren. Dagegen setzte sich Müller mit Hacks und seiner Position einer sozialistischen Klassik kaum mehr auseinander. Sie waren für ihn Ausdruck eines ›märchenhaften‹ Eskapismus.499 Dagegen betonte er mit Blick auf den »alberne[n] Streit um Macbeth« die vom Autorwillen unabhängigen Kollisionen, auf deren Grundlage die Textproduktion erfolge. Polemisch gegen Hacks gewendet schrieb er: Ein Text lebt aus dem Widerspruch von Intention und Material, Autor und Wirklichkeit; jedem Autor passieren Texte, gegen die sich »die Feder sträubt«: wer ihr nachgibt, um der Kollision mit dem Publikum auszuweichen, ist, wie schon Friedrich Schlegel bemerkt hat, ein »Hundsfott«, opfert dem Erfolg die Wirkung, verurteilte seinen Text zum Tod durch Beifall. Theater, so betrieben, wird Mausoleum für Literatur statt Laboratorium sozialer Fantasie, Konservierungsmittel für abgelebte Zustände statt Instrument von Fortschritt.500
Hacks wiederum reagierte auf Müllers ›Poetik der Kollisionen‹, die sich auf Friedrich Schlegel berufen hatte, mit einer Polemik gegen Schlegel, die aber freilich auf Müller zielte.501 In Der Meineiddichter von 1976502 wandte er sich 499 »Für den Hacks war und ist doch das Problem, daß er eigentlich nicht von dieser Welt ist. Die DDR war für ihn immer ein Märchen – er hat sie als eine Märchenwelt erlebt und beschrieben« (Heiner Müller im Gespräch mit Laube. In: H. M.: Gesammelte Irrtümer, S. 24; vgl. Stillmark: Hacks und Müller, S. 433). 500 Heiner Müller: »Ein Brief« (1975), zit. n. Stillmark: Hacks und Müller, S. 433. 501 Vgl. zur Auseinandersetzung zwischen Hacks und Müller im Zusammenhang mit der (Früh-)Romantik auch Rüdiger Bernhard: Heiner Müller und Peter Hacks – Dramaturgie in der Diskussion. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 2 (1979), S. 37–48, bes. S. 42 f.; u. Ronald Weber: Die »allerheutigsten Kriege« – Peter Hacks im literarischen Feld der DDR 1976/77. In: Kai Köhler (Hg.): Salpeter im Haus. Peter Hacks und die Romantik. Berlin 2011, S. 26–52. 502 In: Hacks: Die Maßgaben der Kunst, S. 285–299; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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grundsätzlich gegen die frühromantische Poetik der Fragmente und diffamierte Schlegel als »Erzvater der deutschen Décadence« (289) und als Beispiel einer »reine[n] Schwätzerdialektik« mit »Neigung zu Grenzfällen und äußersten Zipfeln« (288). Das »Gräßliche« werde bei Friedrich Schlegel zum »herrschende[n] Prinzip der modernen Poesie« erklärt (298). Die Polemik endet damit, dass Hacks jedem rät, auf die aus dem Grab herauswachsende Hand Friedrich Schlegels kräftig zu treten und »nicht [zu] dulden, daß er seine widerlichen Leichenfinger mitten in die höchst lebendigen Tätigkeiten unserer Literatur hineinsteckt« (299). Setzt man für »Friedrich Schlegel« und die frühromantische Poetik des Fragments Heiner Müller und sein postdramatisches ›Theater der Kollisionen‹ ein, so zeigt sich in dieser Polemik deutlich der für die Entzweiung des literarischen Raumes symptomatische Bruch, der nochmals kurz zusammengefasst sei: Sowohl Müller als auch Hacks wandten sich anfänglich gegen die kulturpolitischen Vorgaben des sozialistischen Realismus, gegen das ›Tendenzstück‹, das ohne ästhetische Qualitäten eine direkte ideologische und pädagogische Funktion zu erfüllen habe. Dagegen ging es Hacks in seinen Komödien darum, mit ästhetischen Mitteln die gesellschaftlichen Gegensätze dialektisch zu vermitteln und symbolisch zu lösen. Diese Vermittlungsarbeit sollte schließlich die »sozialistische Klassik«, die Hacks als einen poetisch gesteigerten Realismus verstand, zum Abschluss bringen: eine Bewegung, die im Sinne des klassischen, organologischen Kunstwerks die Gegensätze zur Einheit führt. Dessen politische Entsprechung ist der Absolutismus. Während also Hacks Brecht durch eine ästhetische Steigerung des Realismus überwinden wollte503 bis hin zu einer »Literatur der Souveränität«, die »allein fähig [ist], große Widersprüche in den artistischen Griff zu bekommen«,504 führte die Rezeption Shakespeares Müller zu einer grundlegenden »Differenz«, die sein weiteres Werk bestimmte, d. h. zur Problematik des innergesellschaftlichen Krieges als »Clinch zwischen Revolution und Konterrevolution«.505 Im Unterschied zu Hacks’ Weiterentwicklung der Aristophanischen Komödie orientierte sich Müller an der antiken, antagonistischen Tragödie. Deren Gegenstand ist der Übergang von der Archaik in die Geschichte der Klassenkämpfe, zu der Müller auch die Geschichte des Sozialismus zählte. Sie führte nicht mehr zur Auflösung, sondern zur Perpetuierung des antagonistischen, den Menschen zum Verschwinden
503 Dabei folgte er Lukács’ Realismus-Konzept, das lange Zeit die ästhetische Orthodoxie im ›ersten‹ literarischen Raum prägte (vgl. Turk: Philologische Grenzgänge, S. 262). 504 Peter Hacks: Über Langes »Marski«. In: P. H.: Das Poetische, S. 78–91, hier S. 87. 505 Heiner Müller: Shakespeare eine Differenz. In: H. M.: Werke, Bd. 8 (Schriften), S. 334–337, hier S. 335.
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bringenden Konflikts zwischen dem Individuum und der Staatsordnung. Dieser antagonistische Konflikt fordert das ›leerlaufende‹ tragische Opfer, wie etwa Müllers Philoktet zeigte.
Hacks versus Romantik Die Konkurrenz der Autorenpositionen zwischen Hacks und Müller, die als Symptom auf die Ausdifferenzierung des literarischen Raums in der DDR verweist, setzte sich in einer Konfrontation zwischen Hacks und der neuen Romantik-Rezeption in den siebziger Jahren fort.506 Nach der Antike- und Mythosrezeption war die ›neue Romantik‹ eine dominante Tendenz, die den ›zweiten‹ Raum bzw. das neue literarische Feld in der DDR prägte. Durch mehrere, in der Zeitschrift Sinn und Form 1973 publizierte Aufsätze507 wurde eine Debatte ausgelöst, die eine klassikkritische bis -feindliche Ausrichtung hatte. Die anschließende Auseinandersetzung hatte für die strukturelle Wandlung des literarischen Raums in der DDR einen bestimmenden Charakter. Hacks nahm sie als Angriff auf den ›ersten‹, offiziellen sozialistischen Raum und damit auch auf seine Position wahr. Er sah einen grundsätzlichen Kampf, in der sich »eine prosozialistische, an der Klassik orientierte und eine antisozialistische, an der Romantik orientierte Richtung gegenüberstanden«.508 Hacks kämpfte gegen die ›Meinungsbildung der Unvernunft‹, die er in der Goethefeindlichkeit und in der vor allem von Franz Fühmann509 und Christa Wolf 510 angeführten Märchen- und Romantikwelle hereinbrechen sah.511 Die Auseinandersetzung um die Subjektivierung und (Re-)Romantisierung der Literatur wurde außerdem stellvertretend in der Rezeption der neuen Naturlyrik von Sarah Kirsch ausgetragen. Fühmann, der vorher konservative Literaturkonzepte vertreten hatte, stellte sich nun auf die Seite des subjektiven Stils und hielt 1975 eine programmatische Lobrede auf Kirsch.512 Hacks reagier-
506 Vgl. hierzu Köhler (Hg.): Peter Hacks und die Romantik; u. Weber: Die »allerheutigsten Kriege«, S. 24–38. 507 U. a. Werner Mittenzwei: »Brecht und die Probleme der Deutschen Klassik«. In: Sinn und Form 1 (1973), S. 135–168. 508 Müller sen.: Gespräche mit Hacks, S. 148, Anm. 3. 509 Vgl. »Das mythische Element in der Literatur« (Vortrag 1974 in der Akademie der Künste der DDR, schriftliche Fassung 1975), »Ernst Theodor Amadeus Hoffmann« (Rede 1976 in der Akademie der Künste der DDR, schriftliche Fassung 1976 in der Zeitschrift Sinn und Form). In: Franz Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock 1993, S. 82–140 u. S. 216–238. 510 Vgl. bes. Kein Ort, nirgends (1979). 511 Vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 629. 512 »Vademecum für Leser von Zaubersprüchen« (1975). In: Fühmann: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981, S. 146–187.
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te in ambivalenter Weise auf das Lob des neuen Stils: In ›pädagogischer‹ Konkurrenz zu Fühmann schrieb er ein zweideutiges ›Gutachten‹ über die Lyrik der jungen Nachwuchsautorin. Mit dem Selbstbewusstsein männlicher Herrschaft ordnete er den poetischen Stil der ›Novizin‹ formal ein, lobte und tadelte den Stil unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses zwischen notwendiger poetischer Ordnung und persönlicher Freiheit. Deutlich erkennen lässt sich das Bestreben, das poetische Talent Kirschs zu ›vereinnahmen‹ und zu kontrollieren, um den vielfältig zu erwartenden Nachahmern des »Sarah-Sounds« rechtzeitig zu begegnen.513 Tonfall und Argumentation der folgenden Zitate lassen den längst anachronistisch gewordenen Versuch einer präskriptiv-»souveränen« Kritik vom Standpunkt einer »sozialistischen Klassik« deutlich vernehmen: Sarahs Gedichte haben gewiß Form, aber jedes hat seine eigene, die es hervorbringt, die von ihm sich nicht ablösen läßt und die als solche keineswegs schnell einzusehen geht. (270) Zwar verweigert sie jede kenntliche Ordnung; höchst selten bleibt die Hebungszahl der Verse über ein Gedicht hinweg beständig […] ihr Grundsatz scheint, keinen Grundsatz zu haben. Indes scheint er es nur. Denn bei all diesem höchst sorgfältigen Verstecken der formalen Mittel geht Sarah von einem, jambischen oder trochäischen, Ur-Metrum aus, welches sie nach allen Richtungen hin umspielt […]. (271) Sarahs Undeutlichkeit zeigt sich am Offenkundigsten in ihrem Umgang mit der Zeichensetzung. Was sie hier treibt, ist mir nicht nur fremd; ich mißbillige. (279) Es handelt sich nicht nur um die Aufwertung der Umgangssprache zur Hochsprache, des Nachlässigen zum Erlaubten; es geht nicht allein um die Abneigung gegen Nebensätze und die Vorliebe für bis zur unendlichen Melodie sich dehnende Reihungen. Das sprachliche Gefüge ist mehr lose, als daß es bloß additiv wäre. Die Aufzählungsketten nämlich reihen Unverträgliches. Slang stößt an Erhabenes, Banales gegen Gelehrtes, der hochpoetische Gedanke auf den Jedermannsgedanken. (280) Nichts ist im Gleichgewicht oder dem Stand der Ruhe. Schollen und Geschiebe bedrängen einander, und jeder Trümmer des Gerölles hat seine selbständige Bewegungsrichtung, sein grammatikalisches und rhythmisches Eigenleben. So schreibt Sarah, so schreiben andere auch […] aber es ist ein Geplapper aus Wesentlichem. (281) Immerhin, in der ungefähren Sarah-Weise zu singen, bereitet nun keine Schwierigkeiten mehr. Jeder Kutscher vermag es. (283)
Die beflissen klassizistisch-»souveräne« Kritik verrät deutlich die Not, in die sie das Aufeinandertreffen des »hochpoetische[n] Gedanken[s]« und des »Jedermanngedanken[s]« (280) bringt. Angesichts der immer einflussreicheren neuen Subjektivierungstendenzen in der Literatur sah Hacks in dieser Zeit sei-
513 Peter Hacks: »Der Sarah-Sound«. In: P. H.: Die Maßgabe der Kunst, S. 267–284. Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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ne Autorposition stark bedrängt. Die nach Kontrolle strebende ›Begutachtung‹ des »Sarah-Sounds« war eine Vorwärtsverteidigung gegen einen neuen ›Mainstream‹ in der DDR-Literatur, der aus Hacks’ Sicht auf eine ›irrationale‹ Romantik hinauslief. In dem Streit ging es mehr als um die Lyrik Kirschs, nämlich um den ›Sound‹ einer neuen Generation, deren Subjektivierung und Pluralisierung der Stimmen Hacks fürchtete, da sie seiner Position einer »sozialistischen Klassik« diametral entgegenstanden.514 Den Hauptangriff gegen die neue Romantik führte Hacks aber in dem Aufsatz »Der Meineiddichter« (1976). Wie oben ausgeführt, richtete sich dieses Pamphlet in erster Linie gegen Heiner Müller; darüber hinaus aber auch allgemein gegen die neuen Tendenzen in der Literatur. Hacks klagte über die Zerstörung der Form, die die Grundlage des klassischen Kunstwerks ist, und damit über die ›Zersetzung‹ des ›ersten‹ Raums durch das literarische Feld ›zweiter‹ Ordnung in Oppositionsstellung zum Alleinherrschaftsanspruch der politischen Führung. Er misstraute dem Kulturpessimismus, der Rationalismuskritik, dem Feminismus, der Problematisierung der Künstlerexistenz und der Apologie des Mythischen, als deren Protagonistin er insbesondere Christa Wolf mit ihrer Poetik einer »subjektiven Authentizität« ansah. Als der für den ›zweiten‹, sich emanzipierenden literarischen Raum charakteristische Aufschwung der Subjektivität als literarisches Verfahren nicht zuletzt durch die allgemeinen alltagskulturellen Veränderungen im sozialen Raum allgegenwärtig wurde, verteidigte Hacks sein Konzept ›ästhetischer Reinheit‹: Der subjektive Pessimismus verstoße gegen die Regeln der Kunst, »deren Sache es nicht sei, die Kritik der Verhältnisse zu betreiben. Seine Poetik, der er das Epitheton ›postrevolutionär‹ beigegeben hatte, sah nicht vor, dass Kunst die Welt zu verbessern oder zu reformieren habe«.515 Aufgabe und Vermögen der Kunst seien es dagegen, der gesellschaftlichen Utopie eine ästhetische Gestalt zu geben.516 Für Hacks war der Dichter zwar nicht ›Auftragnehmer‹ oder gar Agitator des Staats, jedoch Verteidiger der staatssozialistischen Rahmenbedingungen für ›große Kunst‹ in der DDR. Dies musste ihn in einen unüberbrückbaren Gegensatz zu literarischen Konzepten und einer Weltsicht bringen, wie sie zum Beispiel Christa Wolfs Kein Ort nirgends (1979) prägen. So sah Hacks die DDR und ihre sozialistische Kunst einer »Welle des Irrationalismus« ausgeliefert, wie er spä-
514 Vgl. ebd., S. 262–270 (»Die Orthodoxie im Feld: Georg Lukács«); u. Weber: Die »allerheutigsten Kriege«, S. 37: »Als Ersatz für den Leninschen oben/unten-Code schlug Hacks den Code Realismus/Antirealismus vor, was zur Konsequenz hat, die Romantik als Anti-Literatur abzuwerten«. 515 Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 627. 516 Vgl. ebd.
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ter – 1988 – formulierte.517 Schon seit Anfang der siebziger Jahre kämpfte er als ›Ästhetiker‹ gegen die ›Apokalyptiker‹. An den sich häufenden Spannungen und Konflikten zwischen den Schriftstellern wird ersichtlich, dass sich die literarischen Kämpfe in der DDR immer mehr zu vereinzeln begannen.518 Dies verweist auf eine wachsende Ausdifferenzierung des literarischen Raums im Allgemeinen und des literarischen Feldes ›zweiter Ordnung‹ im Besonderen. Dagegen stand Hacks als Verteidiger der ästhetischen Autonomie und Einheit des klassischen Kunstwerks im literarischen Raum ›erster Ordnung‹ immer stärker auf verlorenem Posten. Dass seine Position isoliert war, wurde insbesondere im Kontext der Biermann-Affäre manifest.
Die Biermann-Affäre 1976 als endgültige Trennung der Räume Der im Zusammenhang mit der Biermann-Affäre entstandene Protest der Künstler und Intellektuellen sollte dazu beitragen, eine unabhängige Öffentlichkeit herzustellen. In der Affäre ging es insgesamt weniger um Biermann, dem viele als ›anarchistischem Bänkelsänger‹ misstrauten, als vielmehr um die Formierung einer künstlerischen Opposition und einer Öffentlichkeit, die die Intellektuellen und Schriftsteller nun ganz für sich beanspruchten. So gehörte für Franz Fühmann »[z]um Begriff des Schriftstellers […] der Begriff der Öffentlichkeit und der ist ebenso wenig teilbar wie der Schriftsteller selbst«.519 Der ab 1971 regierende Erich Honecker mischte sich in Kunstfragen weitaus weniger ein als Walter Ulbricht. Die Zeit, als die Partei versuchte, dem Künstler den Weg direkt vorzugeben, war vorbei.520 Mitte der siebziger Jahre war die nach freiem Zugang zur Öffentlichkeit strebende literarische und künstlerische Opposition durch ihren starken Rückhalt in der Bevölkerung kaum mehr in ihre Grenzen zu verweisen. Heiner Müller brachte die Situation zugespitzt auf den Punkt: »Wir haben hier in der DDR zwei Parteien: die SED und die Schriftsteller«.521 Mittenzwei charakterisiert sie mit Blick auf die Öffentlichkeit: Da in der DDR über die dringlichsten Existenzschwierigkeiten nicht in aller Öffentlichkeit diskutiert werden konnte, wurden die Schriftsteller mit ihren Werken zu Dolmetschern
517 Müller sen.: Gespräche mit Hacks, S. 327; vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 628. 518 Vgl. Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 281. 519 Zit. n. ebd., S. 295. 520 Vgl. ebd., S. 281. 521 Zit. n. ebd., S. 297.
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der Volksmeinung. […] Hierin bestand die eigentliche privilegierte Existenz der Schriftsteller.522
Die Macht der literarischen Opposition resultierte aus ihrer faktischen Stellvertreterrolle, aus ihrer repräsentativen Funktion für den sozialen Raum. Während im literarischen Feld der BRD der Einfluss der Gruppe 47 mit ihrer symbolischen Zentralstellung abnahm und sich die Literatur allgemein von gesamtgesellschaftlichen Funktionen verabschiedete, wurden die Schriftsteller im ›zweiten‹, immer einflussreicher werdenden kulturellen Raum in der DDR zu den eigentlichen ›Volksvertretern‹. So lässt sich in der Biermann-Affäre ein symptomatischer Kulminationspunkt im strukturellen Kampf um Öffentlichkeit zwischen dem ›ersten‹ und dem ›zweiten‹ literarischen Raum erkennen. Mit ihm ging eine Polarisierung der Schriftsteller ein.523 Hacks selbst sprach bereits im Mai 1975 von einer »Spaltung« in zwei große Parteien.524 Der »Kampf zwischen dem Hacks-Clan und der Müller Mafia« 525 weitete sich in der Folge auf den gesamten literarischen bzw. künstlerischen Raum zu einer Frontstellung zwischen der ›Elite der Dissidenten‹ einerseits und den ›Opportunisten‹ auf der anderen Seite aus. Im Erstarken der künstlerischen Opposition sah Hacks die Gefahr der Destabilisierung der DDR als solcher.526 Dabei handelte und urteilte er in dieser primär politischen Situation nach der Logik seiner poetischen Überzeugungen. Sein zentrales Anliegen war auf eine system-, d. h. staatsinterne Autonomie der Kunst gerichtet, auf einen politischen Absolutismus, in dem eine Gewaltenteilung zwischen Kunst und Politik herrschen sollte, so dass sich die Kunst zur ›klassischen Größe‹ erheben könne. Deshalb musste er ein strikter Gegner der Vermischung von literarischen und politischen Auseinandersetzungen sein, wie sie in der Biermann-Affäre zum Ausdruck kam.527 Er polemisierte gegen den von zahlreichen Schriftstellern, auch von seinen direkten literarischen Rivalen Müller, Kirsch und Wolf, unterzeichneten »Offenen Brief« gegen die Biermann-Ausbürgerung. Diese verteidigte er, da die Intervention der künstlerischen Opposition in das Feld der Politik für ihn nicht statthaft war.528 Und von Seiten des Staats erfolgte das letzte spekta-
522 Ebd. 523 Vgl. ebd., S. 304; u. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 625. 524 Vgl. Müller sen.: Gespräche mit Hacks, S. 121. 525 Ebd., S. 79; vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 625. 526 Vgl. Weber: Die »allerheutigsten Kriege«, S. 38. 527 Vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 625. 528 Vgl. Nickel: Kunst versus Politik, S. 21.
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kuläre Vorgehen gegen die emanzipatorische, in die Öffentlichkeit drängende Opposition durch den Ausschluss zahlreicher Schriftsteller aus dem von der Partei kontrollierten offiziellen Raum.529 Die spätestens mit der Ausweisung Biermanns manifest gewordene Frontstellung der Schriftsteller führte zur offenen Auseinandersetzung um das Verhältnis zum Feld der Macht, die für die Ausdifferenzierung des literarischen Raumes in der DDR signifikant war.530 Hacks, der die oppositionelle Stellung zum DDR-Staat nicht einnehmen wollte, war nach der Biermann-Ausweisung isoliert. In der Folge gehörte er nicht mehr zur République des lettres, d. h. zur Gemeinschaft der Kulturschaffenden, die sich unter anderem im ›zweiten‹, oppositionellen literarischen Feld formiert hatte. Sein symbolisches Verdienst wurde von nun an grundsätzlich in Frage gestellt, sein literarisches Ansehen fiel rapide. Seine Stücke wurden nicht mehr gespielt und seine Bücher nicht mehr verlegt. Spätestens seit den achtziger Jahren hatte Hacks, der in den siebziger Jahren ein engagierter Kritiker der Kultur war, es aufgegeben, seine Stimme in der Öffentlichkeit zu erheben. Sein Werk verfiel weit über die Wende hinaus einer Nichtbeachtung oder gar einem Boykott.531 Seine Poetik einer sozialistischen Klassik war vergessen und wurde erst zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung von Frank Schirrmacher ›wiederentdeckt‹.532 Der Kampf um Öffentlichkeit und freie Meinungsäußerung, der für das Selbstverständnis der Schriftsteller zentral geworden war und sich in der Ausbürgerung Biermanns verdichtet hatte, vollendete einerseits den Bruch zwischen dem ›ersten‹ und den ›zweiten‹ literarischen Raum innerhalb der DDR. Andererseits stand er für eine zunehmende Interaktion und Überschneidung des emanzipierten, ›zweiten‹ literarischen Raumes bzw. Feldes in der DDR mit dem literarischen Feld in der BRD.533
529 »Ausgeschlossen aus der SED wurden Karl-Heinz Jakobs und Gerhard Wolf, gestrichen Jurek Becker, Sarah Kirsch, Günter Kunert. Eine strenge Rüge erhielten Stephan Hermlin und Christa Wolf, eine Rüge Volker Braun. Sarah Kirsch, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich, Thomas Brasch und Bernd Jentzsch verließen die DDR« (Mittenzwei: Die Intellektuellen, S. 308). 530 »Die politische Frage oppositionell/nicht-oppositionell wurde zu einem relevanten Code der Kapitalverteilung im literarischen Feld der DDR« (Weber: Die »allerheutigsten Kriege«, S. 40). 531 Vgl. Heukenkamp: Peter Hacks und die große Fehde in der DDR-Literatur, S. 626. 532 Frank Schirrmacher: Er denkt also, wie er will. Zwölf Zeilen eines Gedichts können eine halbe Bibliothek politischer Gemeinheiten aufwiegen. Warum wir Peter Hacks neu lesen müssen: Annäherung an einen einschüchternd brillanten Dichter, der unser letzter Klassiker war (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 3. 2008). 533 Siehe unten: 2.3., »Trianguläre Beziehungen (1976–1989/90)«.
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Feldanalytische Zusammenfassung Der gesamte Konflikt zwischen Hacks und Müller lässt sich feldanalytisch auf die Opposition von einer »Aufhebung der Widersprüche« und »Einheit« (= ›erster‹ Raum) versus »antagonistische Widersprüche«, »Entzweiung« und »Differenz« (= ›zweiter‹ Raum) zurückführen. Hierin zeigt sich der Gegensatz zwischen einer von der Staatsbürokratie kontrollierten und einer sich nach der eigenen Handlungslogik frei entfaltenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Teilbereiche. Der ›erste‹ literarische Raum gab Mitte der sechziger Jahre seine Monopolstellung bezüglich der Bestimmung der literarischen Entwicklung und der Repräsentation des »sozialen Raums zweiter Ordnung« (Alheit) ab. In beiden Beziehungen ›hinkte‹ er dem ›zweiten‹ literarischen Feld ›hinterher‹ und musste sich dessen Dynamik in wachsendem Maße anpassen, wie sich symptomatisch an dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen Hacks und Müller zeigt. Auch an der Entwicklung der Verleihung literarischer Preise in der DDR lässt sich diese Dynamik ablesen. So ging der Lessing-Preis, vergeben vom Ministerium für Kultur und damit Indikator für die Nobilitierung im ›ersten‹, nationalliterarischen Raum, 1975 an Heiner Müller, 1981 an Volker Braun und 1989 an Christoph Hein: allesamt Autoren, die sich im ›zweiten‹, zivilisationskritisch ausgerichteten literarischen Raum bzw. Feld situierten. Peter Hacks, der den LessingPreis bereits 1956 erhalten hatte und sich mit seinem Programm einer sozialistischen Klassik am kulturellen Pol des ›ersten‹ Raumes situierte und über sein kunstautonomes Postulat einer sozialistischen Klassik zunächst auch im ›zweiten‹ Raum einer sich emanzipierenden Literatur einen Referenzpunkt darstellte, stand hier spätestens seit 1976 im Abseits. Er erhielt 1974 den Nationalpreis II. Klasse und nochmals 1977 den Nationalpreis I. Klasse, womit seine Stellung im ›ersten‹, nationalliterarischen Raum abgesegnet wurde. An der Vergabe des Heinrich-MannPreises der Akademie der Künste, der den kulturellen Pol des offiziellen literarischen Raumes auszeichnete, lässt sich schließlich die Interaktion und der Wandel zu einer Konsekrationsinstanz des ›zweiten‹ Bezugsfeldes ablesen: 1962 ging er an Günter Kunert, 1963 an Christa Wolf, 1964 an Günter de Bruyn, 1965 an Wolfgang Bobrowski und Brigitte Reimann, 1966 an Peter Weiss, 1971 an Jurek Becker und Erich Neutsch, 1973 an Ulrich Plenzdorf und 1975 an Irmtraut Morgner. Mit der Abfolge der Preisträger wurden auch Zugeständnisse an einen sich emanzipierenden Literaturbegriff gemacht.
Mit der Emanzipation der Literatur vom ›feudalaristokratischen Korsett‹ differenzierten sich die Bezugssysteme aus: Sie schlossen sich nicht gegenseitig aus, sondern überlagerten sich, wodurch sich die Logik der Mehrfachpositionierung erklärt. Der ›zweite‹, inoffizielle literarische Raum eines kulturellen Reformsozialismus bildete über die Subjektivierung und Zivilisationskritik zunehmend Interferenzen mit dem literarischen Feld in der BRD aus. Auf diese Wechselwirkung und Überschneidung konnte sich nach der Wende die Position einer zur politischen »Staatsnation« alternativen »Kulturnation« Deutschland stützen, für die vor allem Günter Grass und Christa Wolf eintraten. Peter
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Abb. 7: Die Ausdifferenzierung des literarischen Raumes in der DDR ab den sechziger Jahren
Hacks besetzte mit seinem Programm einer sozialistischen Klassik einerseits den ästhetischen Pol im ›ersten‹, nationalliterarischen Raum und andererseits – mit dessen ›Sinn-Leerung‹ – zugleich den politischen Pol des ›zweiten‹, reformsozialistischen literarischen Feldes. Hier galt er spätestens nach der Biermann-Affäre als ›Partei-Dichter‹. Christa Wolf, die sich mit der zur »Ankunftsliteratur« gehörenden Erzählung Der geteilte Himmel (1963) noch im Mittelbereich des ›ersten‹, offiziellen Raumes positionierte, nahm mit ihrer Poetik einer »subjektiven Authentizität« und mit ihrem gemischten Kapital zwischen ästhetischer Form und inhaltlich-moralischer Botschaft – analog zur Gruppe 47 und vor allem zu Günter Grass – im zweiten literarischen Raum eine Mittelposition ein, während sie im ›ersten‹ Raum eine Position in der Nähe des kulturellen Pols besetze (s. Abb. 7 oben). Im internationalen Feld wurde sie erst später und eher über ihre moralisch-inhaltliche Position wahrgenommen. Dagegen war Heiner Müllers Autorposition in den achtziger Jahren nicht mehr im ›ersten‹, nationalliterarischen Raum zu verorten, sondern am ästhetischavantgardistischen Pol des ›zweiten‹ Raums. International wurde er bis zur Wende aufgrund seiner formalen Neuerungen im Rahmen des postdramatischen Theaters und seiner inhaltlichen ›Botschaften‹ von einer Neuen Linken geschätzt. Nach der Wende profilierte sich seine Autorposition sowohl im gesamtdeutschen als auch im internationalen literarischen Feld am Pol der ästhe-
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tisch-postmodernen Avantgarde – dies nicht zuletzt mit Hilfe der medialen Zirkulation seiner popkulturell anschließbaren ›Orakelsprüche‹.534
2.3 Trianguläre Beziehungen (1976–1989/90) Wie in Fallstudie 2 ausgeführt, setzte nicht erst nach der politischen Vereinigung, sondern bereits in den sechziger Jahren und insbesondere nach der Biermann-Ausweisung 1976 ein Prozess der Angleichung, Überschneidung und Wechselwirkung des ost- und westdeutschen literarischen Feldes ein. Die strukturelle Überschneidung ging von der Krise der literarischen Repräsentation des sozialen Raums und der neuen (Arbeits-)Realitäten in beiden Ländern aus. So waren die im Zuge des »Bitterfelder Weges« entstandene Arbeiter-Dokumentarliteratur im Osten und die sich an ihr orientierende Literatur der Gruppe 61 im Westen erster Ausdruck einer Literatur ›gesamtdeutschen Charakters‹.535 Neben der Dokumentarliteratur und der Forderung, Literatur und Alltagsleben anzunähern, konvergierten auch die Tendenzen zur Subjektivierung. Im Westen prägte sie eine in die Horizontale der sich ausdifferenzierenden Lebensstile und Alltagsrealitäten strebende und im Osten eine sich von politischer Dogmatik und staatlicher Bevormundung emanzipierende Literatur. Der lange Zeit noch aufrecht erhaltene transzendentale Rahmen, die Utopie eines ›wahren Sozialismus‹, wurde mit der nach einem Gedicht Uwe Kolbes benannten Generation der »Hineingeborenen« belanglos. Der so geprägte ›zweite‹ literarische Raum in der DDR und das sich von gesamtgesellschaftlichen Repräsentationsformen verabschiedende literarische Feld in der BRD näherten sich in den siebziger und achtziger Jahren über die vergleichbare Ausrichtung auf Zivilisationskritik und literarische Subjektkonstitution an. Beispiele hierfür waren Werke von Autoren der ›zweiten‹ und ›dritten Generation‹ wie Heiner Müller, Christa Wolf (z. B. mit Störfall [1987], Sommerstück [1989]), Volker Braun (z. B. mit dem Hinze-Kunze-Roman [1985]) oder Christoph Hein (Ein fremder Freund/Drachenblut [1982/83]).536 Diese Werke erfuhren sowohl 534 Vgl. Michael Töteberg: Medienmaschine. Publikationsstrategien und Öffentlichkeitsarbeit oder: Wer bedient wen? In: Text + Kritik, 73 (21997): Heiner Müller, S. 179–195. 535 Seit 1961 gab es eine Reihe von Ost-West-Schriftstellergesprächen, so zum Beispiel öffentliche Diskussionen in Düsseldorf mit Erwin Strittmatter über »Arbeiterliteratur in Ost und West« oder Diskussionen an der Weimarer Akademie über »Literatur als Dokumentation« (1964), an der westdeutsche Schriftsteller wie von der Grün, Enzensberger, Wellershoff und Baumgart teilnahmen (vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 245 f.). 536 Vgl. dazu Ulrich Krellner: Verschleierte Fremdheit. Christoph Heins Novelle Der fremde Freund / Drachenblut im Untersuchungshorizont der Theorie Bourdieus. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 123–135. »Durch eine solche Doppelstrategie von Spezifizierung und
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im Osten als auch im Westen eine breite Rezeption und unterlagen zunehmend einer direkten triangulären Wechselwirkung zwischen der ›ersten‹, offiziellen Öffentlichkeit, einer ›zweiten‹, subkulturell-literarischen Öffentlichkeit in der DDR sowie der milieuförmigen literarischen Öffentlichkeit in der BRD mit ihrer gesamtdeutschen, massenmedial vermittelten Präsenz.537 Dabei versuchte der von symbolischem Kapital entleerte ›erste‹, nationalliterarische Raum in Form der Kulturpolitik weiterhin, die Herrschaft über Druckgenehmigungsverfahren und Zensurmaßnahmen aufrecht zu erhalten.538 Aber die impliziten und expliziten Spannungen zwischen ›erster‹ und ›zweiter‹ Öffentlichkeit in der DDR beförderten die literarische Transzendierung und die grenzüberschreitende Wahrnehmung letzterer, d. h. die Rezeption der sich abspaltenden ›inoffiziellen‹, oppositionellen oder dissidenten Literatur aus der DDR in der westlichen Öffentlichkeit. So wurde der ›Idealtyp‹ des Dissidenten als ›kritische Stimme mit universalem Anspruch‹ im Westen ›koproduziert‹.539 Die Wechselwirkung der Öffentlichkeitssphären wurde mit und nach der Ausbürgerung Biermanns direkt sichtbar, wie sich exemplarisch an Christoph Hein zeigen lässt, der »seinen literarischen Durchbruch erst nach der Ausbürgerung Biermanns erlebte, d. h. zu einem Zeitpunkt, als der Exodus von Intellektuellen, Künstlern und Schriftstellern aus der DDR bereits im großen Stil eingesetzt hatte«.540 Spätestens nach der Biermann-Affäre 1976 war der offizielle, nur noch in den Schulbüchern und Literaturgeschichten in Reinform existente nationallite-
Transzendierung eines historisch konkreten Settings wird eine prekäre Balance zwischen einer gesellschaftskritischen Milieustudie und einer im Gestus der Allgemeingültigkeit vorgetragenen Zivilisationskritik hergestellt; ein Verfahren, das nicht nur den impliziten Widerspruch der Protagonistin, sondern auch das Erzeugungsprinzip des Buches insgesamt abbildet« (ebd., S. 127). 537 Vgl. auch David Bathrick: Die Intellektuellen und die Macht. Die Repräsentanz des Schriftstellers in der DDR. In: Sven Hanuschek, Therese Hoernigk, Christine Malende (Hg.): Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg. Tübingen 2000, S. 235–248. Bathrick unterscheidet drei Öffentlichkeitsformen in der DDR: »Erstens die offizielle Partei-Öffentlichkeit [...]. Eine zweite Öffentlichkeit [...] war die durch die BRD-Medien, vor allem durch Fernsehen und Radio, aber auch durch die für die DDR-Schriftsteller wichtigen Druckmedien geschaffene Öffentlichkeit [...]. Eine dritte Öffentlichkeit, historisch die jüngste und am schwersten zu definierende, bestand in den jeweiligen halbautonomen und inoffiziell öffentlichen Enklaven: aus gegenoffiziellen Stimmen, die entweder den Dialog mit der herrschenden Stimme oder mit dessen Unterminierern suchten« (ebd., S. 244). Bathrick betont, dass seit Mitte der sechziger Jahre eine wachsende Interaktion zwischen diesen drei Öffentlichkeitsformen zu beobachten sei. 538 Vgl. Mix: DDR-Literatur und Zensur in der Honecker-Ära. 539 Vgl. Peitsch: Nachkriegsliteratur, S. 242 f. 540 Krellner: Verschleierte Fremdheit, S. 133.
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rarische Raum der DDR kaum noch von literarischer Bedeutung. Er war symbolisch ›entleert‹, löste sich weitgehend auf oder ging in den ›zweiten‹ Raum über.541 Alle literarisch bedeutsamen Autoren bewegten sich mittlerweile im zweiten Bezugssystem des sich vom Staat emanzipierenden literarischen Feldes oder publizierten direkt im Westen. Zusammenfassend lassen sich drei strukturelle Entwicklungen festhalten, die ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre manifest wurden: 1. Der ›erste Raum‹ zerfiel bzw. wurde literarisch weitgehend belanglos. Peter Hacks, der sich hier noch am kulturellen Pol positionierte, geriet ins Abseits und lange Zeit ins Vergessen (s. o., Fallstudie 2). 2. Der ›zweite‹, inoffizielle Raum differenzierte sich aus, die Autorpositionen pluralisierten und entwickelten sich in Wechselwirkung mit dem westdeutschen und – seit etwa den achtziger Jahren – mit dem internationalen, ›postmodernen‹ literarischen Feld. Der ›zweite‹ Raum wandelte sich dadurch zu einem literarischen Feld, das allerdings weiterhin mit Restriktionen von Seiten des staatlichen ›feudalaristokratischen Korsetts‹ zu kämpfen hatte. 3. Einigen ostdeutschen Autoren gelang es, eine vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Problematik sichtbare und anerkannte literarische Position im internationalen literarischen Feld einzunehmen: nach Uwe Johnson vor allem Heiner Müller, Thomas Brasch, dann auch Christa Wolf oder Volker Braun. Uwe Johnson entwickelte eine Autorposition, die sich aus einer triangulären Wechselwirkung der Feldzugehörigkeit generierte. Vor dem spezifischen Hintergrund einer deutsch-deutschen Beziehungsgeschichte fand seine Autorposition in der internationalen Wahrnehmung Beachtung und Anerkennung. In seinem vierbändigen Romanwerk Jahrestage (1970–1983) hatte Johnson seine multiperspektivische Erzähltechnik ausgeweitet zu einer wechselseitigen Bespiegelung des Vergangenen und Gegenwärtigen, die sich mit Benjamin als »correspondance«und Gedächtnis-Technik fassen lässt.542 Damit wurde der Autor nicht nur zu einem ›Chronisten der gespaltenen Zeit‹, sondern er besetzte als einer der ersten eine Autorposition, die aus einer triangulären Wechselwirkung zwischen dem ost- und dem westdeutschen Feld sowie dem in den sechziger Jahren auf der Grundlage einer ästhetischen Künstlerkritik neu entstandenen internationalen literarischen Feld (»Postmoderne«) hervorging.543 Seine deutsch-deutsche Zwischenstellung scheint mit Literarisierungsverfahren zu korrespondieren, die – im Un-
541 Vgl. Albert: »Zwei getrennte Literaturgebiete?«, Anm. 128: »Natürlich muss für die 80 er Jahre in manchen DDR-Szenen der Raum ›zweiter Ordnung‹ als der einzige betrachtet werden«. 542 Vgl. Bernd Neumann: Wiederholte Spiegelungen, Metamorphosen, Correspondances – Zuordnungsprinzipien im Werk Uwe Johnsons. In: Carsten Gansel, Nicolai Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Berlin, New York 1995, S. 17–29. 543 Vgl. dazu unten.
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terschied zu Böll, Grass und anderen Autoren der Gruppe 47 – zugleich vor- wie auch ›postmoderne‹ Merkmale aufweisen und so an internationale literarische Modernisierungstendenzen anschließen konnten.544 Für die trianguläre Wechselbeziehung, also die vor deutsch-deutschem Hintergrund an die internationale Literaturentwicklung anschließende Autorposition, steht in den sechziger bis achtziger Jahren vor allem auch die Entwicklung von Heiner Müller.545 Das für Johnsons Werk charakteristische Zugleich von vor- und post-modernen Kennzeichen546 radikalisierte sich in Müllers Entwurf eines postdramatischen Theaters. Die ›leerlaufende‹ Tragödie, die Müller erstmals im Philoktet-Stück (1958/64) und am radikalsten in der Hamletmaschine (1977) und in Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten (1982) gestaltete, basierte auf der Kollision der beschleunigten Zivilisationszeit und der stillstehenden »Geschichtszeit«, in der die Revolutionen des »Weltgeistes« ausbleiben.547 Grundlage dieser Kollision war für Müller die deutsche bzw. deutsch-deutsche ›Katastrophengeschichte‹ des 20. Jahrhunderts. Sie schloss zudem an die internationalen Leitdiskurse der Postmoderne und des Poststrukturalismus an. Nicht zufällig verlief der internationale Erfolg Müllers über die Rezeption einer Neuen Linken in Frankreich und den USA in den siebziger Jahren, bevor sie Rückwirkungen auf seine exponierte Stellung in der deutsch-deutschen und nach 1990 gesamtdeutschen Rezeption hatte (vgl. oben, Fallstudie 2).548 Ein weiteres Beispiel für eine Autorposition, die vor dem deutsch-deutschen Hintergrund Profil annahm, war die von Thomas Brasch. Als Sohn des zeitweiligen Stellvertretenden Ministers für Kultur der DDR sind sein literarisches Werk, seine Theaterarbeit und seine Filme von einer Verweigerung des kulturfunktionären Erbes geprägt. Sein erster Erzählband Vor den Vätern sterben die Söhne (1977), der erst nach seiner Ausreise in die BRD im Dezember 1976 erscheinen konnte, beinhaltet – wie Müllers Werk, das einen starken Einfluss auf Brasch hatte – zum einen eine Auseinandersetzung mit dem Mythos. Zum anderen wird der für die Generation der »Hineingeborenen« zentrale Konflikt zwischen der autoritär vorgegebenen sozialistischen Welt der Väter und der Unmöglichkeit der Söhne, ihr eigenes Leben zu entfalten, literarisch verarbeitet. In der Geschichte »Der Zweikampf« verdichten sich beide Aspekte. Der von Anfang an ungleiche Wettkampf zwischen Apoll und Marsyas allegorisiert die Ohnmacht einer Rebellion der nachfolgenden Generation gegen die herrschende Ordnung. Während Apollos (Staats-)Kunst für die Disziplinierung des Lebens steht, verkörpert Marsyas eine anarchischsinnhafte, von der Präsenz des Körpers, von Schmerz und Tod geprägte Kunst. In diesem Zweikampf, in dem der Verlierer durch die vorgegebenen Regeln von Anfang an feststeht, bleibt Marsyas nur die radikale Verweigerung. Diese kann allein durch eine totale, kampflose Auslie-
544 Vgl. Gansel, Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. 545 Siehe dazu unten: Studie 2. 546 Vgl. Gansel, Riedel (Hg.): Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. 547 Zur Unterscheidung von »Geschichtszeit« und »Zivilisationszeit« siehe Wolfgang Kaempfer: Die Zeit und die Uhren. Mit einem Beitrag von Dietmar Kamper: Umgang mit der Zeit. Paradoxe Wiederholungen. Frankfurt a. M., Leipzig 1991; auf Kaempfer bezieht sich Norbert O. Eke: Zeit/Räume. Aspekte der Zeiterfahrung bei Heiner Müller. In: Theo Buck, Jean-Marie Valentin (Hg.): Heiner Müller – Rückblicke, Perspektiven, Vorträge des Pariser Kolloquiums 1993. Frankfurt a. M. 1995, S. 131–152, hier S. 143. 548 Vgl. Janine Ludwig: Heiner Müller, Ikone West. Das dramatische Werk Heiner Müllers in der Bundesrepublik – Rezeption und Wirkung. Frankfurt a. M. u. a. 2009.
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ferung an die Situation erfolgen. Die Siegerjustiz der Väter, die Häutung Marsyas’, steht für den Untergang und für die nicht zu tötende Rebellion der unterlegenen Söhne. Denn ihre Kunst überlebt die totale Herrschaft der Väter gerade in ihrer nackten, körperlichen Selbstauslieferung und dem davon zeugenden Schrei. In der Verweigerung des Kampfes und der radikalen, körperlich verbürgten Selbstaufopferung Marsyas’ zeigt sich die Verweigerung der Generation der »Hineingeborenen« gegenüber einer direkten Opposition zum Herrschaftssystem, wie sie für die reformsozialistischen Autorpositionen im ›zweiten‹ literarischen Raum kennzeichnend ist. Gleichwohl hatte Thomas Brasch die westdeutsche Zuordnung zum Kreis der Dissidenten abgelehnt. Existenziell geprägt von den deutsch-deutschen Verhältnissen strebte Brasch eine Wertschätzung seines künstlerischen Schaffens jenseits der Logik des Kalten Krieges an. Wie bei Johnson und Müller entstand seine Literatur auf der Grundlage der spezifischen Erfahrungen innerhalb deutsch-deutscher Verhältnisse, jedoch verweigerte sich Brasch der deutsch-deutschen Klassifikationsordnung. Der Reduzierung seines Schaffens auf den politischen ›Zweikampf‹ eines Dissidenten gegen das Herrschaftssystem der DDR lehnte er ab. Seine Literatur und Filme transzendieren ästhetisch die nationalen Entstehungskontexte, von denen sie zugleich geprägt sind, und knüpfen mit ihrer künstlerischen Ausrichtung an der körperlichen Zerrissenheit des Individuums zwischen Privatheit und gesellschaftlich-politischer Existenz an internationale postmoderne und subkulturelle Tendenzen der Zeit an.
Vergleichbar mit der Verabschiedung der für die Nachkriegszeit symbolisch dominanten, sich zwischen ästhetischen und moralisch-politischen Bestimmungen situierenden Literatur der Gruppe 47, setzten sich die jungen Autoren der Generation der »Hineingeboren« von den stark thematisch, d. h. zivilisationskritisch bestimmten Reformsozialisten ab, die den ›zweiten‹ literarischen Raum dominierten. Die Absetzung von den dort etablierten Autoren mit ihrer doxa beförderte die Ausbildung subkultureller und alternativer Milieus wie z. B. der Prenzlauer Berg-Künstlerszene, die über eine ›Halb-Öffentlichkeit‹ in Form von Untergrund- und Samisdat-Zeitschriften, Selbstdruck-Erzeugnissen mit geringer Auflage, Lesezirkeln, Konzerten etc. in autarker Weise kommunizierte. Dass hier die Anliegen der jungen Künstler noch direkter mit entsprechenden westdeutschen subkulturellen Milieus korrespondierten, geht exemplarisch aus dem von Sascha Anderson und Elke Erb im Kölner Kiepenheuer & WitschVerlag 1985 herausgegebenen Gedichtband Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR hervor.549 In dem vom Verlag verfassten Vorwort heißt es, der Gedichtband dokumentiere das Bild eines »sich grundlegend wandelnden literarischen Selbstverständnisses [...], das sich bei einem großen Teil der heute zwanzig- bis dreißigjährigen Autoren der DDR vollzogen« habe (9). Die neue Generation und ihre Literatur grenzten sich sowohl von den dominanten Autoren des ›zweiten‹, reformsozialistisch bzw. zivilisationskritisch ausgerichteten literarischen Feldes als auch vom ›ersten‹, nationalliterarischen Raum ab. Von der inhaltlich ausgerichteten literarischen
549 Zitate hieraus im Folgenden im Fließtext.
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Kultur der vorausgehenden, etablierten Autoren wie Christa Wolf, Hermann Kant, Stefan Hermlin, Ulrich Plenzdorf, Günter de Bruyn, Erwin Strittmatter, Stefan Heym, Volker Braun oder auch noch Christoph Hein unterscheide sich die neue Literatur durch eine dominant formale Ausrichtung, d. h. durch eine besondere Aufmerksamkeit auf die Sprache als Material. Damit grenze sich die neue Literatur zugleich deutlich von der offiziellen Sprache des Machtraums ab. Die neue Lyrik sei »eine Antwort auf Schädigungen und Verdinglichungen durch eine immer mechanischer funktionierende öffentliche und offizielle Verwaltungs- und Deklamationssprache« (ebd.). In der im Februar 1984 geschriebenen »Vorbemerkung« betont Elke Erb die Entstehung der Texte aus privaten Initiativen der Autoren, die sich auf Lesungen in privaten und subkulturellen Orten wie »Jugendclubs, kirchlichen Räumen und Privatwohnungen« trafen und außer Uwe Kolbe noch keinen Text publiziert hatten. Erb spricht von einer neuen Generation von Schriftstellern, die zwischen 1951 und 1963 geboren sind. Die auffällig klar ausgeprägte Individualität, die Unverwechselbarkeit und Vielfalt ihrer Arbeiten bringt in die Literatur eine neue, zumal von jungen Autoren sonst ungewohnte Natürlichkeit, einen ebensolchen Natürlichkeitsgewinn wie die Unmittelbarkeit ihres Verhältnisses zur Literatur. Denn sie schreiben, um zu leben, und haben nicht etwa, wie man angesichts ihrer Aussteiger-Lebensläufe denken könnte, »auf alles verzichtet, weil sie sich der Literatur verschrieben haben« (11). Der von Elb beschriebenen Generation der »Hineingeborenen« seien die »Aufstiegschancen« verwehrt worden, weshalb sie sich neue Lebenschancen jenseits des gesellschaftlichen Aufstiegs suchten. Ein weiteres Kennzeichen der neuen Literatur sei ihre Verflechtung mit anderen Künsten, mit einer neuen Musik und vor allem mit der bildenden Kunst (vgl. 12). Dabei stehe diese ›Renaissance‹ der Künste jedoch nicht am Anfang einer neuen Zeit, sondern am Ende einer alten, die gleichbedeutend mit einer festgefahrenen literarischen Situation sei. Ihre grundsätzliche Absage an die Systeme und die Verabschiedung jeder Hoffnung auf Veränderbarkeit hätten die neuen Schriftsteller zum Rückzug auf das Ich bewegt. Ihre neue »Selbständigkeit«, »besondere Unmittelbarkeit« und »unmittelbare Mündigkeit« führten aber nicht zu einer »Neuen Subjektivität« wie im Westen, sondern zu einer poststrukturalistisch inspirierten, experimentellen und prozessualen Arbeit an der Sprache. In der Auseinandersetzung mit der genormten Sprache und ihrer Wirklichkeit »gilt die Sprache als frei verfügbares Medium« (ebd.). Erb verteidigt die junge Literatur in der DDR gegen den Vorwurf, eine fremde, westliche Modernität der Popkultur übernommen zu haben (13). Gleichwohl betont sie die Konvergenzen der neuen, subkulturellen Weltwahrnehmung in Ost und West,550 worauf auch der Titel der Anthologie anspielt. Auffällig ist ihre Betonung des Umstandes, dass es den neuen Schriftstellern nicht um Avantgardismus, sondern um eine »Normalisierung« der Ansprüche der Kunst in der DDR gehe.551 Die Unverständlichkeit der angewandten Kunstsprache verstehe sich we-
550 »Die Jugend in der DDR hat wie die Jugend westlicher Länder die automatisierten und anonymisierten Vollzüge der gegenwärtigen Zivilisation zu bestehen« (Berührung ist nur eine Randerscheinung, S. 13). 551 »Es ist auch für ihre Autoren keine ›Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack‹ [...] und kein ›Avantgardismus‹ mehr, wenn sie Stilmittel gebrauchen, die einmal als avantgardistisch gegolten hatten, sondern die Überschreitung der konventionellen Sprachgrenzen ist für sie auch dann ›normal‹, wenn sie solche Möglichkeiten erst selbst für sich entdecken« (ebd.).
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niger als avantgardistische Provokation, denn als Reaktion auf die Unverständlichkeit der »normalen«, institutionalisierten Sprache (vgl. 13 f.). Die bei den sprachexperimentellen Versuchen der »Entgrenzungen« unverkennbaren Traditionslinien des Dadaismus oder der Wiener Gruppe seien zweitrangig (vgl. 14). Nicht um ›Fortschritt‹ gehe es, sondern die neue experimentelle Lyrik entfalte sich gleichsam zweckfrei und eigenständig vor allem über die Selbstreflexion der Sprache. In diesem Punkt verband sich die Prenzlauer Berg-Lyrik mit Kennzeichen der neuen kunstautonomen Lyrik in der BRD der achtziger Jahre, die sich nach der Wende gesamtdeutsch fortsetzte.552 Zur Ablehnung einer klassischen Avantgarde-Position kommt die für die Generation der »Hineingeborenen« charakteristische Abgrenzung von jeder oppositionellen Kritik. Aus der neuen, subkulturellen Lyrik spricht das »Bewußtsein einer Jugend, die nicht mehr Objekt der ererbten Zivilisation sein will und kann. […] Sie läßt sich nicht mehr infantilisieren von ihren utopischen Gehalten und widersteht ihren Kompromissen« (15). Ihr neues Selbstbewusstsein und ihre neue »soziale Reife« seien »die Konsequenz des Austritts aus dem autoritären System, der Entlassung aus der Vormundschaft eines übergeordneten Sinns. Diese soziale Reife ist von der Entwicklung der Zivilisation in einem Grade vorbereitet, daß sie von einem jugendlichen Bewußtsein erreicht werden kann (und nicht wie früher auf Ausnahmen beschränkt bleiben muß!)« (ebd.). Mit diesem Postulat eines über die kulturellen und literarischen Eliten hinausgehenden Bewusstseins reagierte Elb auf den allgemeinen Wandel des sozialen Raums: Sie positionierte sich gegen die staatliche und gesellschaftliche ›Disziplinierungsmaschine‹ und für die Zivilgesellschaft mit ihren neuen sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung, aber »im deutlichen Unterschied zu früheren Protestaktionen, weder petitionär, noch aggressiv« (ebd.). Die Abgrenzung von den oppositionellen Reformsozialisten, die den ›zweiten‹, dominant gewordenen literarischen Raum besetzten, ist vergleichbar mit der Abgrenzung einer neuen, ›individualistischeren‹ Generation gegen die dominanten Muster der 68er-Generation in der BRD der achtziger Jahre. So führt Erb die Desillusion über die Möglichkeit der freien Entfaltung »individuelle[r] Energie[n]« sowohl in der DDR als auch im Westen an (16). Der Ort der Entfremdung liege in den Erfahrungen des Individuums, die daher auf übergreifende Erfahrungen einer zerstörerischen Identität verwiesen (vgl. ebd.). Damit werden sozialistische Theoriefiguren wie die der »Entfremdung« zur Kennzeichnung eines allgemeinen Zivilisationszustandes umgedeutet. Auf dieser Grundlage kann die ›Normalisierung‹ der DDR und die Verwandtschaft der neuen Künste mit denen in den subkulturellen Milieus im Westen erklärt werden: »Es ist kein Buch über die DDR, sondern ein Buch aus der DDR, und ich meine, es tritt gerade mit dem vielstimmigen Disput seines über alle Grenzen der zivilisierten Welt reichenden Themas auch über die deutsche Grenze so real und leibhaftig, daß es die nebulöse Vorstellung von der DDR als einer terra incognita zerstreut« (16 f.).
Trotz seiner zunehmenden Dominanz war der ›zweite‹ literarische Raum in der DDR bis zum Ende des DDR-Staates von internen Differenzen und (oppositionellen) Überschneidungen mit dem ›ersten‹, offiziellen Raum geprägt. Mit Huberth553 kann das ausdifferenzierte, von divergenten, aber sich überlagernden
552 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, III. 2. 553 Franz Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen. Stasi als Thema in der Literatur. Köln, Weimar, Wien 2003.
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Historische Entwicklungslinien
Referenzsystemen geprägte literarische Feld der DDR in den achtziger Jahren anhand der Verteilung signifikanter Diskursräume verdeutlicht werden: Indem er das Sozialraum-Modell von Vester übernimmt (siehe Einleitung oben und Abb. 2), sieht Huberth das literarische Feld in der DDR der achtziger Jahre aus vier verschiedenen, sich zum Teil aber auch überlagernden Diskursräumen zusammengesetzt: Der Bereich des »offiziellen literarischen Lebens«, der in den vorliegenden Studien dem ›ersten‹ literarischen Raum entspricht, situiert sich zwischen dem »Feld der normativen Diskurse«, d. h. dem Feld der Macht, und dem »Feld der kleinbürgerlichen Diskurse«. Dieser Polarität entspricht die Spannbreite zwischen »Literatur-Funktionären« und »konformen Schriftstellern«. Zwischen dem »Feld der progressiven Diskurse« mit der Autorposition »etablierte Schriftsteller« (wie Wolf, Braun, de Bruyn oder Heym) und dem »Feld der alternativen Diskurse« mit der Autorposition »unabhängige Schriftsteller« (so z. B. die performativen Diskurse der Prenzlauer Berg-Literatur) situierte sich das »selbstorganisierte literarische Leben«.554 In den achtziger Jahren gehörten allerdings die »etablierten Schriftsteller« eines Reformsozialismus längst auch zum »offiziellen literarischen Leben«. Zwischen dem neu ausgerichteten »offiziellen« literarischen Raum und dem »selbst organisierten literarischen Leben« vermittelten »›etablierte Bindeglieder‹ wie Franz Fühmann oder Stefan Heym«.555 Ferner schob sich zwischen beide Bereiche – insbesondere nach der Ausreise vieler Schriftsteller 1976 – die Einflusssphäre der westdeutschen (bzw. internationalen) literarischen Öffentlichkeit. Da sich die drei Räume oder Felder als Bezugssysteme überlagerten bzw. überschnitten, waren Mehrfachbezüge bei den Autoren die Regel, je nach Zusammensetzung ihres literarischen Kapitals.
Der Prozess der Angleichung und Überschneidung des Bereichs des ›selbstorganisierten literarischen Lebens‹ in der DDR mit dem westdeutschen und – partiell – internationalen literarischen Feld lange vor der politischen Vereinigung vollzog sich in dem Maße, wie sich staatlich-heteronome Bestimmungen auflösten und sich literarische Selbstreferenz entfalten konnte. Dabei spielte allerdings die Kontrast- bzw. Oppositionsfunktion zum ›real existierenden sozialistischen Staat‹ in der DDR eine ungleich wichtigere Rolle als die Abgrenzung vom Staat und von den repräsentativen und moralischen Funktionen der Literatur in der BRD.
554 Albert kritisiert die aus ihrer Sicht starke Psychologisierung und methodische Überfrachtung des Ansatzes von Huberth, die sie an die alte, politisierte und theoristische Forschung zur DDR-Literatur erinnert: »Die Ausführungen zum literarischen Feld der DDR der 80 er Jahre bleiben einem naiven Antagonismus von ›affirmative[r]‹ und ›kritische[r]‹ Literatur verhaftet«. »Huberths Arbeit erweist sich – immerhin im Jahre 2003! – als eine theorieüberfrachtete, ohne Not ästhetisch simplifizierende und – trotz gegenläufiger Absicht – wiederum überpolitisierende Bekenntnisleistung« (Albert: »Zwei getrennte Literaturgebiete?«, S. 198 u. S. 199). 555 Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen, S. 93.
Das literarische Feld in der DDR
Abb. 8: Das literarische Feld der DDR in den achtziger Jahren556
556 Ebd., S. 101.
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2.4 Das Erbe der DDR-Literatur im gesamtdeutschen literarischen Feld (»Post-DDR-Literatur«)557 Für die Entwicklung des mittleren Bereichs des literarischen Feldes zwischen ästhetischer Form und moralisch-politischem Inhalt ist insbesondere der »deutsch-deutsche Literaturstreit« im Vorfeld der Wiedervereinigung von Bedeutung, zeigt er doch, wie umkämpft die Sphäre mit Anspruch auf universale Legitimität zu Beginn der neunziger Jahre noch war. Dabei wurde von konservativer Seite vorbeugend und mit Erfolg der Universalitätsanspruch ›linker‹, engagierter Autoren ›delegitimiert‹.558 Im »deutsch-deutschen Literaturstreit«, der sich an Christa Wolf entzündete,559 zeigt sich die Abstufung der universalen Autorposition und ihre Einordnung als Position einer ostdeutschen Identität. Insgesamt wurde mit dem Untergang des DDR-Staates auch die anfänglich im ›zweiten‹, inoffiziellen Raum entwickelte und mittlerweile etablierte kritische »DDR-Literatur« mit ihrem universalen, oppositionellen Anspruch abgestuft und sektoral eingestuft. Zugleich gewann sie in der deutsch-deutschen Selbstreflexion eine neue Kontur. Ein Sammelband mit dem Titel »DDR-Literatur der 90 er Jahre« 560 benennt diese Sichtbarwerdung einer abweichenden Identität: In den neunziger Jahren zeichneten sich die Konturen der »DDR-Literatur« als ein vom Westen abweichendes und für ostdeutsche Leser identifikatorisches Referenzsystem in neuer Weise ab. So erweist die sektorale Integration in das gesamtdeutsche literarische Feld, die schon vor dem Ende der DDR durch den Prozess der Angleichung der Sphären einer Literatur mit ›universalem Anspruch‹ einsetzte und in den achtziger Jahren über die Einordnung der »Prenzlauer-Berg-Literatur« in ein die Grenzen überschreitendes subkulturelles Milieu fortgesetzt wurde, nach dem Mauerfall zugleich ihre regionale Verortung. Eine
557 Vgl. zum Folgenden die Vorstudie Heribert Tommek: Das bürgerliche Erbe der DDR-Literatur. Eine Skizze. In: Weimarer Beiträge 56 (2010) 4, S. 544–563. 558 Vgl. Peitsch: »Vereinigungsfolgen«; u. Helmut Peitsch: Zur Rolle des Konzepts »Engagement« in der Literatur der 90 er Jahre: »ein gemeindeutscher Ekel gegenüber der ›engagierten Literatur‹«? In: Fischer, Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende, S. 41–48. 559 Zur Dokumentation des »deutsch-deutschen Literaturstreits« siehe Thomas Anz (Hg.): »Es geht nicht um Christa Wolf«. Der Literaturstreit im vereinten Deutschland. Spangenberg, München 1991; u. Lothar Bluhm: Standortbestimmungen. Anmerkungen zu den Literaturstreits der 1990 er Jahre in Deutschland. Eine kulturwissenschaftliche Skizze. In: Kammler, Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 61–73; zur feldanalytischen Logik dieses Streits siehe Markus Joch: Prophet und Priesterin. Die Logik des Angriffs auf Christa Wolf. In: Wölfel (Hg.): Literarisches Feld DDR, S. 223–232; u. M. J.: Zwei Staaten, zwei Räume, ein Feld. Die Positionsnahmen im deutsch-deutschen Literaturstreit. In: Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten, S. 363–377. 560 Heinz Ludwig Arnold (Hg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre. München 2000.
Das literarische Feld in der DDR
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»Post-DDR-Literatur« entstand als »eine Art Regionalliteratur, die sich jetzt nicht am Staatssystem ausrichtet, aber an der Herkunft«.561 Das übernommene Erbe der DDR-Literatur wurde im engeren Sinne zur regionalisierten »DDR-Literatur nach der Wende« als ein wesentlich an die ostdeutsche Herkunft gebundenes Reflexionsmedium.562 Hierzu gehören Vertreter der zweiten und dritten Generation (Wolf, Braun, Kant, Hein etc.), deren literarische Existenz im gesamtdeutschen literarischen Feld mit der Verarbeitung ihrer ostdeutschen Herkunft zu tun hat. In dieser regionalisierten »Post-DDR-Literatur« gibt es wiederum milieu- und biografiespezifische Ausprägungen.563 Die gesamtdeutsch erfolgreichen ostdeutschen Schriftsteller sind dann zunächst diejenigen, die im Prozess der Pluralisierung und Dialogisierung in den siebziger und achtziger Jahren erfolgreich, d. h. mit Anerkennung, Modernisierungs- und Universalisierungsstrategien ausgebildet haben. Diese zeigten sich u. a. in Form einer neuen Antike- und Mythosrezeption (bei Heiner Müller, Christa Wolf, Volker Braun oder Stefan Schütz), einer Entfremdungs- und Herrschaftsproblematik (z. B. bei Braun) oder in der Problematisierung der Fragilität des modernen Subjekts und seiner Umwelt (z. B. bei Wolf, Maron oder Hein). Schaut man sich genauer an, welche Autoren und Werke im gesamtdeutschen Feld Erfolg hatten und mit Preisen ausgezeichnet wurden, so lassen sich zwei Gruppen unterscheiden:564
561 So eine Formulierung von Thomas Geiger in: Schulze, T. G.: »Wie eine Geschichte im Kopf entsteht«, S. 121. 562 Hannes Kraus und Jochen Vogt sprechen von einem »regionale[n] östliche[n] Subsystem – eine Art ›literarische PDS‹ – mit etwa 20–30 Prozent Leseranteil, das an spezifische DDR-Traditionen anschließt und sich (selbst-)bewußt auf sie beruft. Der Riesenerfolg des dritten Bandes von Erwin Strittmaters Trilogie ›Der Laden‹ (1992), aber auch die relativen und deutlich ostlastigen Verkaufserfolge von Christoph Heins Roman ›Das Napoleon-Spiel‹ (1993), Christa Wolfs Essay-Sammlung ›Auf dem Weg nach Tabou‹ (1994), zuletzt noch von Hermann Kants Romanen ›Kormoran‹ (1994) und ›Escape‹ (1995) – das sind Signale für die Etablierung eines zumindest mittelfristig gespaltenen literarischen Marktes« (H. K., J. V.: Staatsdichter, Volkserzieher, Dissidenten? Entstehung, Untergang und Fortdauer eines Berufsbildes. In: Der Deutschunterricht 5 (1996) [= DDR-Literatur: Was bleibt? Hg. v. H. K.], S. 68–76, hier S. 75). 563 Vgl. z. B. die Fallstudien von Achim Geisenhanslüke: Abschied von der DDR [zu Maron, Burmeister, Brussig]. In: Arnold (Hg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre, S. 80–91. Mit dem Nachwachsen jüngerer Generationen vermischt sich die Reflexion ostdeutscher Herkunft und Identität in einer »Post-DDR-Literatur« mit anderen Formen der Erinnerungsliteratur wie dem Familien- und historischen Roman, der insbesondere nach 2000 populär wird. Neben den DDR-spezifischen Erinnerungen treten darin wieder die ältere Prägungen wie die der Region oder der Konfession auf. 564 Vgl. zum Folgenden Roland Berbig: Preisgekrönte DDR-Literatur nach 1989/90. In: Arnold (Hg.): DDR-Literatur der neunziger Jahre, S. 198–207.
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Historische Entwicklungslinien
Eine erste Gruppe bilden »Autorinnen und Autoren aus der DDR, die mehr oder minder entschieden gegen die DDR opponiert und nach 1990 nachdrücklich für die deutsche Einheit und gegen jede Form der ›Ostalgie‹ votiert hatten«.565 Zu ihr gehören Autoren wie Günter de Bruyn, Sarah Kirsch, Wolf Biermann, Reiner Kunze, Hans Joachim Schädlich und die 2009 mit dem neuen »Nationalpreis« 566 ausgezeichneten Erich Loest und Monika Maron. Diese Autoren erhielten im vereinten Deutschland vielfach ›vaterländische Medaillen‹, wobei ein maßgebliches Kriterium ein grundsätzlicher Widerstand gegen die ›despotischen Regimes‹ des 20. Jahrhunderts war. Oft wurden dabei verwandtschaftliche Züge zwischen der NS-Diktatur und der DDR betont.567 1991 erhielt Reiner Kunze den von der Daimler-Benz AG Stuttgart gestifteten Hanns-Martin Schleyer-Preis »für hervorragende Verdienste um die Festigung der Grundlagen eines freiheitlichen Gemeinwesens«. Sarah Kirsch erhielt 1993 den erstmalig verliehenen Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Laudator, der Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, sah in der Autorin »einen lebendigen, zwingenden Beweis [...], daß auch das geteilte Deutschland immer eine Kulturnation geblieben war«. Günter de Bruyn erhielt den gleichen Preis 1996 vom Laudator Wolfgang Schäuble, der ihn als »skeptischen Außenseiter[ ] in zwei Diktaturen« würdigte. Hans Joachim Schädlich wurde 1998 mit dem Schiller-Gedächtnis-Preis und mit den Worten ausgezeichnet, er stehe für Widerstand gegen jede Form eines despotischen Regimes ein. Schließlich ist auf die besondere Rolle von Wolf Biermann hinzuweisen (Auszeichnung u. a. mit dem Friedrich-Hölderlin-Preis [1989], dem Georg-Büchner-Preis [1991], dem Heinrich-Heine-Preis [1993] und dem Nationalpreis der neu gegründeten Deutschen Nationalstiftung [1998]). Harald Martenstein bemerkte im Tagesspiegel, dass »Biermann eine vaterländische Medaille nach der andern kriegt« und damit ein »Staatsdiener« geworden sei.568
Die zweite Gruppe gesamtdeutsch erfolgreicher ostdeutscher Autoren setzt sich aus Schriftstellern zusammen, die nie ›eigentlich‹ zur DDR-Literatur gehört haben, weil ihnen in der DDR weitgehend das Publizieren untersagt war oder sie es sich selbst versagten, wie Wolfgang Hilbig (Jahrgang 1941), Reinhard Jirgl (1953) oder Kurt Drawert (1956). Sie repräsentieren eine sich auf schmerzhafte existentielle Erfahrungen gründende, sogenannte »Ostmoderne«, die im gesamtdeutschen literarischen Feld aufgrund ihrer Anbindung an modernistische Traditionslinien, die durch den Erfahrungshorizont der Autoren eine neue, authentische Form annahmen, rasch Anerkennung fand.569 Die Angehörigen der dritten Gruppe schließlich waren in den neunziger Jahren alt genug, um noch von der DDR geprägt zu sein, und gleichzeitig jung
565 566 567 568 569
Ebd., S. 200. Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.4. Vgl. Berbig: Preisgekrönte DDR-Literatur, S. 201. »Noch ein Preis«, in: Tagesspiegel, 16. 5. 1998; zit. n. ebd., S. 202. Zu Jirgl vgl. unten: Zweiter Teil, III. 3.2.
Das literarische Feld in der DDR
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und ›unbelastet‹ genug, um erfolgreich neue Autorpositionen im gesamtdeutschen Feld einzunehmen. Hierzu zählen Autoren wie Durs Grünbein, Ingo Schulze (beide Jahrgang 1962), Thomas Brussig (1965) oder Uwe Tellkamp (1968). Der symbolische Aufstieg dieser in die DDR »Hineingeborenen«, von denen einige nach der Vereinigung zeitweilig als Kandidaten für das nobilitierte Amt eines ›gesamtdeutschen Autor‹ gehandelt wurden, verdankte sich häufig der Darstellung einer in der DDR ›verhinderten‹, sich dann aber in der BRD unter den neuen Bedingungen einer allgemeinen gesellschaftlichen ›Kälte‹ entwickelnden Künstlerexistenz.570
570 Exemplarisch in Ingo Schulzes Roman Neue Leben (2005); vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1.; zu Grünbein und Tellkamp vgl. unten: Zweiter Teil, II. 2.4.
III. Zwischenresümee Die Studien zu den Transformationen des literarischen Feldes seit den sechziger Jahren lassen sich nun zusammenfassen: Insgesamt steht der skizzierte Angleichungsprozess der literarischen Felder in der BRD und der DDR im Zeichen einer vergleichbaren, aber nicht identischen Modernisierung. Während sie in Westdeutschland die Verabschiedung der gesamtgesellschaftlichen Repräsentanz der Literatur (vor allem der Gruppe 47) bedeutete, stand sie in der DDR für die Emanzipation von staatlicher Bevormundung. Die Literatur der Reformsozialisten, die wesentlich zur Ausbildung eines ›zweiten‹ literarischen Raumes in der DDR beigetragen hatte, korrespondierte mit der symbolischen Zentralstellung der nonkonformistischen Literatur in der BRD. Autoren wie Günter Grass, Martin Walser, Christa Wolf und Volker Braun positionierten sich in einer mittleren Position zwischen ästhetischer Form und moralisch-politischer Botschaft und behaupteten (im doppelten Sinne des Wortes) die traditionelle Idee einer literarischen Öffentlichkeit mit politisch-oppositionellem Anspruch (Habermas) bzw. die »Sphäre mit Anspruch auf Universalisierbarkeit« (Bourdieu). Diese Autoren konnten aber seit den (späten) siebziger Jahren nur noch eine eingeschränkte Öffentlichkeit erreichen, weil sich die Alltagsmilieus und die kulturellen Lebensstile pluralisierten. Die ›nonkonformistische‹ Nachkriegsliteratur im Umfeld der Gruppe 47 und – phasenverschoben – die zivilisationskritische Literatur der Reformsozialisten im mittlerweile legitimen literarischen Raum ›zweiter Ordnung‹ in der DDR verloren zunehmend ihre gesamtgesellschaftliche repräsentative Funktion. Der traditionelle Universalanspruch der Literatur wurde durch den wachsenden Einfluss pluralisierter, koexistierender populär- und subkultureller Repräsentationen in der Horizontalen in Frage gestellt. Der Verlust der gesamtgesellschaftlich repräsentativen Zentralstellung der Literatur in der Folge von »1968« hing allgemein auch mit der Durchsetzung der Künstlerkritik in der horizontal ausdifferenzierten Kulturproduktion zusammen wie auch mit der Verabschiedung der inhaltlichen Sozialkritik des Kapitalismus aus der Kunst, die auf die Herrschaftsverhältnisse in der Vertikalen zielte. Die Koppelung literarischer Werte mit moralisch-politischen Werten wandelte sich zunehmend zu einer Koppelung der Literatur mit medienökonomischen Werten. So hatte die Gruppe 47 eine Scharnierfunktion und sowohl an der Entstehung einer literarisch-politischen Öffentlichkeit als auch an der Entstehung des Literaturbetriebs ihren Anteil. Die Entstehung des Literaturbetriebs571 lässt sich feldanaly-
571 So auch die Hauptthese von Helmut Böttiger: Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb. München 2012.
Zwischenresümee
213
tisch als Intensivierung der Wechselwirkungen zwischen dem Subfeld der eingeschränkten Produktion und dem der Massenproduktion beschreiben, wodurch ein expandierender und selbständiger Mittelbereich entstand. Hier entfaltete sich die milieuförmige und subkulturelle Literatur in West- und – phasenverschoben – Ostdeutschland. Die dominante Funktion der Subjektkonstitution zeigte sich dabei im Westen in unterschiedlichen Formen einer »Neuen Subjektivität«. In der DDR wahrte sie anfänglich noch den Konnex mit dem Universalanspruch der Reformsozialisten, exemplarisch in Christa Wolfs Poetik der »subjektiven Authentizität«. Mit der nachlassenden Geltung der sozialistischen Utopie pluralisierten sich aber auch hier die Formen literarischer Subjekt- und Autorkonstitution, abzulesen an der Literatur der Generation der »Hineingeborenen« und der Entstehung einer subkulturellen Prenzlauer-Berg-Literatur, die sich wiederum in den achtziger Jahren an vergleichbaren Milieus im Westen orientierte. Die wachsende Anbindung an das Marktgeschehen bedrohte den Konnex von Subkultur und Subversion, wie etwa Bert Papenfuß mit seinem anarchistischen Selbstverständnis nach der Wende schnell erfahren musste.572 Außerdem wurden universale und repräsentative Bestimmungen der Literatur immer fragwürdiger. Die Ökonomisierung und Medialisierung im literarischen Mittelbereich und die hier herrschende Konkurrenz im Umgang mit Kontingenz-Bestimmungen in einer beschleunigten, sozialen Zeit gewannen in den neunziger Jahren eine neue Dynamik und Qualität. Sie wurden zum zentralen, wenn auch nicht alleinigen ›Motor‹ der Reproduktion des literarischen Feldes. Während sich in den sechziger Jahren die Verabschiedung der Nachkriegs- und der Beginn der neuen Formation der Gegenwartsliteratur vollzogen, stellen die neunziger Jahre ihren strukturellen ›Durchbruch‹ dar, wie im folgenden, zweiten Teil der Studien auszuführen sein wird.
572 Vgl. hierzu Heribert Tommek: »Ihr seid ein Volk von Sachsen«. Zu Bert Papenfuß’ »Ark«Dichtung vom Prenzlauer Berg. In: Rainer Barbey, H. T. (Hg.): Literatur und Anarchie. Das Streben nach Herrschaftsfreiheit in der europäischen Literatur vom 19. bis ins 21. Jahrhundert. Heidelberg 2012, S. 187–208.
Zweiter Teil. Das Feld der Gegenwartsliteratur seit den neunziger Jahren
I. Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich Mit der Arbeitswelt einer neuen, symbolanalytischen Intelligenz zwischen kreativer Produktivität und sozialer Unsicherheit hat sich auch ein flexibel ökonomisierter und medialisierter Mittelbereich im literarischen Feld entwickelt. Dessen Expansion verlief parallel zur Ausbildung eines neuen Geistes des Kapitalismus (Boltanski, Chiapello) seit den sechziger Jahren, der kulturelle Werte, die bislang außerhalb der Marktlogik standen – wie ›subjektive Authentizität‹, ›Originalität‹ und ›individuelle Freiheit‹ – in die ökonomische Produktion einbindet. Dabei wurde einerseits die künstlerische Produktion ökonomisiert, andererseits der Kapitalismus ›kulturalisiert‹, indem er künstlerischschöpferische Prinzipien übernahm. Diese wechselseitige Entwicklung erreichte mit der netzwerk- und projektgestützten Management-Logik in der Arbeitswelt der neunziger Jahre eine neue Qualität.1 Der künstlerische Schaffensprozess wird allgemein nicht mehr in einem eindeutigen, subversiven Gegensatz zur Arbeitswelt verstanden. Das ›kreative Selbst‹ ist zum Prototyp und Idealbild des zeitgemäßen, flexiblen und kreativ arbeitenden Menschen geworden.2 In den expandierenden Ungewissheitszonen der kreativen Arbeit, die auch vom Verhalten der Akteure generiert werden, herrscht eine verstärkte Konkurrenz um Absätze und Aufmerksamkeit 3 wie auch um die Behauptung von Positionen. Bei der kurzfristigen Durchsetzung auf diesem symbolisch-ökonomischen Markt geht es im Kern um eine Auseinandersetzung um symbolische Kontingenz-Kompetenz. Die ursprünglich dominant vertikal strukturierte ästhetische Konkurrenzsituation um die kunstautonome ›Produktion des Neuen‹ hat sich damit in die Horizontale verlagert 4 und überschneidet oder vermischt sich hier graduell mit einer flexibel ökonomisierten und medialisierten Ordnung. Dabei vereinfacht, recycelt und verbreitet einerseits der ökonomisch-mediale Markt die ästhetischen Neuerungen der eingeschränkten, kunstautonomen Produktion, andererseits greift diese inter- und intramedial die Kreativitätsdynamik der populären Kultur auf. Zwischen den beiden Bereichen herrschen also intensivierte Wechselbeziehungen. Feldanalytisch gesehen hat sich der flexibel ökonomisierte literarische Mittelbereich zwischen den Subfeldern der eingeschränkten und der Groß- oder
1 Vgl. Erster Teil, I. 1. 2 Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Frankfurt a. M. 2012. 3 Vgl. Franck: Ökonomie der Aufmerksamkeit. 4 Vgl. unten: III. 1.
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Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich
Massenproduktion ausgebildet, zwischen den »Longsellern« einerseits und den »Bestsellern« andererseits, welche heutzutage zumeist global zirkulieren. Die in diesem Zwischenbereich situierten deutschsprachigen »Erfolgsbücher« liegen mit ca. 30.000–80.000 verkauften Exemplaren unterhalb der Spitzenplätze in den Bestsellerlisten5 und bilden den größten Teil des sich seit etwa Mitte der neunziger Jahre durchsetzenden Erfolgs der neueren deutschen Gegenwartsliteratur sowohl in ökonomischer als auch literarischer Hinsicht. Genau genommen ist dieser literarische Mittelbereich aus der Intensivierung und Verselbständigung des Wechselverhältnisses zwischen der eingeschränkten Produktion und der Massenproduktion von Literatur entstanden.6 Daher befindet er sich in der Übergangszone zwischen einer relativ autonomen, hauptsächlich nach ästhetischen Kriterien bemessenen Literatur und einer Schemaoder Trivialliteratur der Massenproduktion, die den Bestimmungen des Absatzes, des Journalismus und der massenmedial vermittelten Unterhaltung unterliegt. Im Folgenden soll dieser seit den 1960 er Jahren expandierende Mittelbereich des literarischen Feldes mit Fokus auf die neunziger Jahre ausgelotet werden, da in dieser Zeit eine neue Qualität der Gegenwartsliteratur, d. h. ihrer literarischen Werte, ihrer Legitimation und Rechtfertigung, erreicht wird.
1 Die gemischte Struktur und die Entwicklung des Mittelbereichs Durch die von Bourdieu beschriebenen Wechselbeziehungen zwischen eingeschränkter Produktion und Massenproduktion entsteht ein Mittelbereich, in dem sich ästhetische Werte, Funktionen der Unterhaltung und ökonomische Erfolgskriterien vermischen, wechselseitig intensivieren, sich verselbständigen und eine eigene hybride ›Ökonomie‹ ausbilden. Diese ›strahlt‹ auf das gesamte Feld ›aus‹. Die Expansion des Mittelbereichs der tuttologi 7 ist im Allgemeinen
5 In Deutschland werden Titel ab etwa 30.000 auf Anhieb verkaufter (Hardcover-)Exemplare auf der Bestsellerliste aufgeführt. Einen Spitzenplatz belegen Titel, von denen etwa 100.000 Exemplare verkauft worden sind (vgl. Werner Faulstich, Ricarda Strobel: Bestseller als Marktphänomen. Ein quantitativer Befund zur internationalen Literatur 1970 in allen Medien. Wiesbaden 1986, S. 22; u. Ernst Fischer: Bestseller in Geschichte und Gegenwart. In: Joachim-Felix Leonhard u. a. [Hg.]: Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen. 15 Bde., Bd. 15/1. Berlin, New York 1999, S. 764–776, hier S. 764; vgl. auch Bogdal: Klimawechsel, S. 13). 6 Vgl. Bourdieu: Die Wechselbeziehungen von eingeschränkter Produktion und Großproduktion. 7 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533.
Die gemischte Struktur und die Entwicklung des Mittelbereichs
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auf die skizzierte tiefenstrukturelle Ökonomisierung der kulturellen Produktion und im Besonderen auf die Vermischung eines neuen ›kreativen Schreibens‹ mit einem massenmedial ausgerichteten Kulturjournalismus zurückzuführen. Andererseits hat sich mit der Öffnung des relativ autonomen Subfeldes für die Alltagskultur und ihre Ökonomisierung und Medialisierung auch eine neue ästhetische Wertschätzung dieser ›mittleren‹ Literatur durchgesetzt.
Schulen des literarischen Schreibens Symptomatisch ablesbar ist die Vermischung der Ordnungen an dem im Jahre 1999 an der Universität Hildesheim durch den Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil gegründeten »Institut für literarisches Schreiben und Literaturwissenschaft«, das als exemplarischer Ausbildungsort der neuen Autoren-Journalisten des Mittelbereichs gelten kann.8 Ein anderes Beispiel ist die aus der DDR übernommene und modernisierte ›Autorenausbildungsstätte‹ des »Deutschen Literaturinstituts« in Leipzig.9 Bis in die späten neunziger Jahre gab es in der BRD quasi keine Ausbildungsschulen für Schriftsteller, weil sie seit der Genieästhetik verpönt waren. Durch den Einfluss des Creative Writing in den USA hat sich diese Ablehnung grundlegend verändert. Mittlerweile hat sich das Schreibmodell des Creative Writing auch in Deutschland etabliert und institutionalisiert, vor allem im Studiengang »Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus« an der Universität Hildesheim und in dem aus dem »Literaturinstitut Johannes R. Becher« hervorgegangenen »Deutschen Literaturinstitut« in Leipzig, das vor der Abwicklung bewahrt wurde und 1995 – grundlegend restrukturiert – den Lehrbetrieb wieder aufnahm. An beiden Orten unterrichten bekannte Schriftsteller: in Hildesheim Hanns-Josef Ortheil, in Leipzig Josef Haslinger, Hans-Ulrich Treichel und Michael Lentz. Insgesamt sind die Schreibseminare in Hildesheim und Leipzig weniger akademisch und mehr auf die Vermittlung handwerklicher Fähigkeiten ausgerichtet (vgl. 66). Die beiden Ausbildungsstätten unterscheiden sich jedoch in ihrer Zielvorgabe: Der Hildesheimer Studiengang, der z. B. auch Pflichtkurse in Kulturpolitik, Kulturmanagement und BWL beinhaltet, dient weniger der Vorbereitung auf eine freie Schriftstellerexistenz als dem erleichterten Einstieg in die Berufe der Kulturvermittlung (vgl. 68). Dagegen ist das Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig ganz auf die Literatur und auf eine freie Schriftstellerexistenz ausgerichtet. Vorgänger der Ausbildung zum literarischen Schreiben war hier das anfänglich am
8 So legt die Beschreibung des Bachelor-Studiengangs für »Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus« den Schwerpunkt auf die Vermittlung der »Techniken des literarischen und kulturjournalistischen Schreibens [..]. Verbunden wird dies mit der Vermittlung umfassender Kenntnisse der Medientheorie und der Entwicklung des Mediensystems« (http://www.uni-hildesheim.de/index.php?id=1552; abgerufen am 5. 8. 2011). 9 Vgl. zum Folgenden Norbert Hummelt: Schreiben lernen. Der Leipziger Weg. In: Arnold, Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, S. 59–71; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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»sozialistischen Realismus« ausgerichtete »Literaturinstitut Johannes R. Becher« der DDR. Georg Maurers ›schöpferische Seminare‹ 10 können in gewisser Weise als Vorläufer der heutigen Werkstattseminare angesehen werden. Jedoch orientiert sich das restrukturierte Institut nach seiner Wiedereröffnung nicht mehr an den poetologischen und praktischen Traditionen aus DDR-Zeiten, sondern am Vorbild der Creative-Writing-Seminare aus dem angelsächsischen Raum (vgl. 62). Gleichwohl wird an den Werten einer literarischen Autonomie des Autors und seines Werkes festgehalten, da in den Seminaren »das auf persönlicher Autorschaft beruhende Schreiben von Romanen, Erzählungen und Gedichten deutlich vor den neuen medialen Formen« stehe (69).
Die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre neu entstandenen Schreibschulen sind Ausdruck einer marktwirtschaftlich orientierten Professionalisierung des Schriftstellerberufs. In dem Jahrzehnt nach der Wende entstand der Trend, literarisches und kulturjournalistisches Schreiben zu verbinden und als Beruf zu wählen. Auch auf Seiten des Literaturbetriebs setzte sich die Anerkennung und Förderung junger, professionell ausgebildeter Schriftsteller durch.11 Allgemein wurden in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre – also zur ›Blütezeit‹ der »Popliteratur« und des sogenannten literarischen »Fräuleinwunders« (s. u.) – in den Verlagen hohe Vorschüsse für Nachwuchsschriftsteller gezahlt. Die Professionalisierung hat also ihren zentralen Ort im flexibel ökonomisierten Mittelbereich und ist von der an den feldinternen Werten orientierten Professionalisierung, d. h. von der Autonomisierung im Subfeld der eingeschränkten Produktion zu unterscheiden.12 Dass literarisches Schreiben ›erlernbar‹ ist, wurde seit der Genieästhetik mit ihrer Leitidee vom ›schöpferischen Individuum‹ als Autor eines einzigartigen Werkes, mit der die Entstehung eines relativ autonomen literarischen Subfeldes verbunden war, strikt abgelehnt. Die Abnahme dieser Ablehnung seit den neunziger Jahren hat zu spezifischen Kompromissbildungen sowohl bei den Autoren und ihren Schreibstrategien als auch im akademischen Bereich, der traditionellen Legitimitätssphäre für Bildungsgüter mit Anspruch auf universelle Anerkennung, geführt.
10 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 2.2. 11 »In den Verlagsprogrammen und bei den Preisvergaben spiegelt sich, was inzwischen kaum mehr strittig ist: Die lange Zeit verpönte Ausbildung für Schriftsteller ist zu einem wichtigen Faktor im Literaturbetrieb geworden« (Hummelt: Schreiben lernen, S. 60). Als Beispiel wird die Prosa von Juli Zeh, Clemens Meyer und Thomas Pletzinger, die allesamt in Leipzig studiert haben, angeführt. 12 Sapiro unterscheidet verschiedene Formen einer Professionalisierung: »a State-controlled path aiming at the control of cultural producers; a marketdriven one, which can be measured through sales and by the rhythm of production; and a field-orientated mode of professionalization, based on the accumulation of symbolic capital within the field« (Gisèle Sapiro: The Literary Field between the State and the Market. In: Mathieu Hilgers, Eric Mangez [Hg.]: Bourdieus Social Field Theory: Concepts and Applications. Oxon/New York 2014, S. 140–164).
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Analog zu den Ausbildungsstätten des »Kreativen Schreibens« haben die zwischen ›genialischer Praxis‹ und akademisch vermittelnder Lehre angelegten Poetik-Dozenturen an deutschen Universitäten (wie etwa in Bamberg, Berlin, Dresden und Oldenburg) seit Mitte der neunziger Jahre deutlich zugenommen. Auch dies dokumentiert die Öffnung für neue Praxis-, Marketing- und EventFormen. Im Mittelbereich ist in Abgrenzung zum kunstautonomen Subfeld die Vorstellung der Erlernbarkeit und Vermittlung literarischen Schreibens seit jeher über die Idee des »Kunsthandwerkes« legitim. Allerdings wird auch hier, im Unterschied zur Schemaliteratur im Bereich der Massenproduktion, an der Vorstellung eines für das Schreiben notwendigen und nicht erzeugbaren ›Genius‹ und am Leitideal eines Werkes festgehalten.13 Bei näherem Hinsehen zeigt sich daher, dass auch der literarische Mittelbereich als gesellschaftliches Kräftefeld nach den entgegengesetzten Polen: autonomes »kulturelles Kapital« versus heteronomes »ökonomisches Kapital« strukturiert ist. So ist das Leipziger Literaturinstitut eher am Pol des kulturellen Kapitals ausgerichtet, es repräsentiert also den kulturellen oder ästhetischen Flügel des Mittelbereichs, während der Hildesheimer Studiengang für »Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus« auf die marktkompatible Ausbildung und Professionalisierung der kulturellen »Symbolanalytiker« zielt und daher für den Wirtschaftsflügel steht.14 Eine homologe Polarisierung innerhalb des Mittelbereichs weisen auch die Bestseller-Klassifizierungen auf. Als Listen sind »Bestseller« ein relationales Ordnungssystem, im 20. Jahrhundert entstanden und im Kern »mittelschichtspezifisch«.15 Diese flexible und relationale Ordnungsgröße ist einerseits nach der Größe des Marktes und andererseits nach der zeitlichen Dimension des Verkaufszyklus zu differenzieren. Die Unterscheidung von »Longsellern« oder »Steadysellern« einerseits und »Bestsellern« andererseits verweist »auf ein markant unterschiedliches Lese- und Nutzungsinteresse« 16 und entspricht Bourdieus Unterscheidung zwischen einer eingeschränkten und einer Massenproduktion. Der Trivial-Bestseller als ein »spezifisches System des (internationalen) Buchmarkts […], das gezielt auf schnellen Massenabsatz orientierte, von den Verlagen mit eigens entwickelten Marketing-Strategien herausgebrachte Buch«,17 situiert sich im Bereich der Massenproduktion. Dagegen sind Long-
13 Vgl. Hummelt: Schreiben lernen, S. 70: »Dass sich Genie nach wie vor nicht erzeugen, wohl aber Begabung fördern lässt, gehört zu den gesicherten Erkenntnissen, die die Einführung des Creative Writing in Deutschland mit sich brachte«. 14 Vgl. hierzu: Erster Teil, I. 3. 15 Vgl. Faulstich, Strobel: Bestseller als Marktphänomen, S. 20 f.; u. Fischer: Bestseller, S. 764. 16 Fischer: Bestseller, ebd. 17 Ebd.
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oder Steadyseller in der Regel Klassiker des relativ autonomen Subfeldes. Im Mittelbereich richtet sich die Listen-Auszeichnung der gemischten Kategorie des literarischen Bestsellers (im Unterschied zum Trivial-Bestseller einerseits und dem Klassiker-Longseller andererseits) polar je nach der kulturellen und nach der ökonomischen Seite aus: Homolog zum Verhältnis zwischen »Hildesheim« und »Leipzig« findet sich im Mittelbereich die Opposition zwischen einerseits den (Spiegel-, Focus- etc.) Bestsellerlisten, die die meistverkauften Bücher listen und sich daher eher am Pol des ökonomischen Kapitals orientieren, und andererseits den (SWR-)Bestenlisten, die über die meistempfohlenen Bücher informieren und eher das kulturelle Kapital im Blick haben.18 Schon die erste, am 14. Oktober 1927 in Deutschland erschienene Liste, die eine kaufmännische Leistung wiedergab (in der Zeitschrift Die Literarische Welt), stieß auf die Kritik, die Frage nach der künstlerischen Leistung zu vernachlässigen (vgl. 132 f.). Mit der Einführung von regelmäßigen, die Aufmerksamkeit leitenden Bestsellerlisten der Magazine Spiegel (1962) und später Focus (2001), die auf der genauen Ermittlung der realen Verkaufszahlen basieren (vgl. 201), hat sich einerseits das ökonomisch bestimmte Ranking durchgesetzt. Andererseits erscheinen Bestsellerlisten in zwei Formen, die sich jeweils an unterschiedliche Adressaten wenden: Als Publikumslisten wenden sie sich an eine allgemeine Öffentlichkeit, als Fachinformation an die Buchbranche (vgl. 202). Heutzutage ist eine fortschreitende Ausdifferenzierung der BuchCharts zu registrieren: So gibt es Listen für die Belletristik in Abgrenzung vom Sachbuch, für Hardcover-Bücher in Abgrenzung vom Taschenbuch, schließlich für die inzwischen ihrerseits ausdifferenzierten Teilmärkte wie Kinderbuch, Frauenliteratur, Krimis, Lyrik, Hörbücher etc. Selbst eine »Bestsellerliste Ost« gibt es (vgl. 202 resp. 135).19
In der Bestsellerliste spiegeln sich zwei zusammenhängende, aber auch zu unterscheidende Einflüsse am heteronomen Pol des literarischen Feldes: zum einen der der medialisierten Öffentlichkeit in Form von journalistisch-massenmedialen Formaten und Diskursen, zum anderen der der Ökonomie in Form der Verkaufszahlen des Buchhandels. Insgesamt beschleunigen die Bestsellerlisten das Marktgeschehen in der horizontalen Konkurrenz: Die Charts bilden den zeitlichen Taktgeber sowohl für den Absatz als auch für die symbolische Ökonomie der Aufmerksamkeit für die »Neuerscheinungen«, wobei Bestseller-
18 Vgl. hierzu auch unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1.; vgl. zum Folgenden Ernst Fischer: Marktinformationen und Lektüreimpuls. Zur Funktion von Bücher-Charts im Literatursystem. In: Arnold, Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, S. 200–218; u. Werner Faulstich: Bestseller – ein Phänomen des 20. Jahrhunderts: Über den Zusammenhang von Wertewandel, Marktmechanismus und Literaturfunktionen aus medienkultur-historischer Sicht. In: Werner Arnold (Hg.): Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte. Wiesbaden 1996, S. 132–146; Nachweise aus beiden Quellen im Folgenden im Fließtext. 19 Dies spricht für die ›milieuförmige‹ oder sektorale Einordnung der Post-DDR-Literatur (vgl. oben: Erster Teil, II. 2.4.).
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listen die Verkaufszyklen einzelner Bücher auch verlängern können. Sie verwandeln Autoren zu Marken und als solche, als Produkt einer ökonomischsymbolischen ›Alchemie‹, sind die Bestseller wiederum anschlussfähig an die Zirkulation im Medienverbund. Umgekehrt verkürzt das Ranking die Lebenszyklen von denjenigen Büchern, die es nicht auf die Listen schaffen und dadurch schnell ›entzaubert‹ sind.20 Die Ausdifferenzierung der Listen und Buchsegment-Märkte bestätigt Bogdals These von der wachsenden ›Milieu-Förmigkeit‹ der Literatur seit den siebziger Jahren. In der Expansion der Wertkategorie der Bestseller zeigt sich der »Wandel von einem normativ-transzendentalen, klassischen Wertsystem zu einem profan-liberalen, modernen Wertesystem«.21 Dieser Wandel bestätigt wiederum die These des flexiblen Normalismus, dass alte, normative Instanzen kultureller Orientierung weitgehend ausgedient haben. Die traditionellen ›Wächter‹ und ›Gatekeeper‹ der Kultur wurden von den Listen ersetzt.22 Die Abwehr elitärer symbolischer Herrschaftsansprüche und kulturpolitischer Bevormundung bedeutete allgemein eine Zunahme an kultureller Selbstbestimmung,23 wie sie auch für den Strukturwandel der Gesellschaft durch die Expansion kulturellen Kapitals – oder mit anderen Worten: für den Wandel in eine ›postindustriellen Wissensgesellschaft‹ (Bell) und die Veränderung des Mandats der Intellektuellen und akademisch Gebildeten – charakteristisch ist.24 Andererseits darf der Einfluss von Bestsellerlisten nicht überschätzt und pauschalisiert werden.25 Auch die Pluralisierung der Literatur sowie ihrer Wertord-
20 Vgl. Fischer: Marktinformationen, S. 205 u. S. 214. 21 Faulstich: Bestseller, S. 143. 22 »Die Orientierung an der Bestsellerliste war die Orientierung an anderen Menschen gleicher kultureller Wertsetzung statt an normativen Prinzipien einer überkommenen kulturellen Elite. Insofern wirkten Listen geradezu als Demokratisierungsinstanz für Literatur-, Buch- und Kulturrezeption« (ebd.). 23 Vgl. ebd., S. 145. 24 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, I. 3. 25 Insgesamt ist der Einfluss von Bestsellerlisten auf die Kauf- und Leseentscheidung in Deutschland (noch) relativ gering. Es sind vor allem die Wenigleser, die sich am stärksten von Listen beeinflussen lassen, nach Orientierung suchen und für den kollektivierenden Effekt empfänglich sind. Mitte der 1990 er Jahre geben nur drei Prozent der Leser an, dass ihre Kaufentscheidung »oft« durch Bestsellerlisten beeinflusst wurde. Dagegen geben 13 % »manchmal«, 20 % »selten« und 63 % »nie« an (vgl. Fischer: Marktinformationen, S. 210). Die Lektüreinteressen wie auch der Stellenwert der Listen sind schließlich von Nation zu Nation sehr verschieden (vgl. ebd., S. 213; vgl. auch Faulstich: Bestseller, S. 138). Der unterschiedliche Anteil der jeweils rezipierten ausländischen und inländischen Autoren – und damit zusammenhängend der unterschiedliche Stellenwert von Bestsellerlisten als Ursache von Kauf- und Leseentscheidungen – hängt wiederum mit dem Angebot, der ökonomischen wie auch symbolischen Ökonomie der globalen Übersetzungen zusammen (vgl. oben: Erster Teil, I. 1.).
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nungen und die allgemeinen Kennzeichen des Sortierens, der Listen und des Rankings als Reflex auf die kompetitive und flexibel-normalistische Ordnung der Gesellschaft 26 lassen sich im Lichte der Bestsellerlisten differenzieren, wenn man ihr Verhältnis zum Prozess der Kanonisierung näher bestimmt. So haben selbst die Longseller-Listen nicht automatisch eine Kanonisierungsfunktion. Diese hängt davon ab, inwiefern die Übersetzung von der Verkaufsleistung in die Wertkategorie der langfristigen, literarischen oder ästhetischen Zeit, die eine Relevanz für die Literaturgeschichte anzeigt, gelingt. Auch stoßen die auf statistischen Mittelwerten basierenden flexibel-normalistischen RankingListen auf die Distinktionsgrenzen der klassischen Bildung, die auf anderen, ›ständischen‹ Werten gründet und nach wie vor normativ ausgerichtet ist. Es gilt also das anscheinend ubiquitäre ›Listenprinzip‹ im Sinne des Modells eines literarischen Mittelbereichs genauer zu bestimmen. Allgemein bedeutet ein Listenplatz längst nicht mehr per se Schemaliteratur im Sinne eines Trivialbestsellers, sondern die Anspruchsniveaus können ganz unterschiedlich ausfallen.27 Entsprechend besetzen »Literatur-Bestseller« einen »Zwischenraum zwischen Schema-Literatur auf der einen und Hoch-Literatur auf der anderen Seite«.28 »Literatur-Bestseller« bewegen sich also feldanalytisch gesehen im Zwischenbereich zwischen dem Subfeld der Hochliteratur mit ihren die Literaturgeschichte bestimmenden Klassikern einerseits und dem der Massenproduktion mit ihren unter der Bestimmung der sozialen Zeit stehenden Trivialoder Schema-Bestsellern andererseits. Dieser Zwischenbereich polarisiert sich wiederum nach der Seite des kunstautonomen literarischen Kapitals und der Seite des ökonomischen bzw. medialen (›aufmerksamkeitsökonomischen‹) Kapitals. Deutlich sichtbar wurde das Kräftespiel der Polarisierung zwischen ›meistgekauft‹ und ›meistempfohlen‹ 1975, als Literaturkritiker demonstrativ die SWF-Bestenliste einführten, die sich explizit gegen den »Erfolgsdarwinismus« des Bestseller-Systems richtete.29 Bei der SWF- (später SWR-) Bestenliste handelt es sich um eine den Verkaufszahlen als Ordnungskriterien entgegengesetzte Empfehlungsliste der Literaturkritik. Unter den Listen repräsentiert sie also den ›Kulturflügel‹ des Mittelbereichs. Allerdings löst sie gelegentlich auch einen Verkaufsschub aus und verhilft Büchern damit auf die Bestseller-Listen des ›ökonomischen Flügels‹. Dass sich die Kräftefelder der beiden Listen-Ordnungen überschneiden können oder auch Doppelpositionen möglich sind, zeigt sich daran, dass Autoren wie etwa Arno Geiger oder Julia Franck zeitweilig sowohl in der Bestenliste als auch in den Bestsellerlisten auftauchten.30 Symptomatisch
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Vgl. Fischer: Marktinformationen, S. 213. Vgl. ebd., S. 214. Faulstich: Bestseller, S. 136; u. Fischer: Marktinformationen, 208 f. Zit. n. Fischer: Marktinformationen, S. 200. Ebd., S. 208.
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wird hier die Mischordnung der »tuttologi« (Bourdieu) des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs sichtbar: »Die Listen bieten […] ein buntes Stelldichein von Erfolgswerken, neben trivialen Schema-Werken und Werken mittlerer Komplexität immer häufiger auch hochkomplexe Werke der Weltliteratur«.31
Der literarische Mittelbereich ist ein Bereich gradueller Vermischung, aber die Hybridisierung ist wie in einem Kräftefeld polarisiert: Einerseits gibt es den Kräftepol der kunstautonomen Wertordnung mit ihren ›zeitenthobenen‹, ästhetischen Auseinandersetzungen um die Definition des Literarischen; andererseits den Kräftepol der journalistischen und symbolökonomischen Klassifikationen mit ihren in der sozialen Zeit liegenden Konkurrenzen. Das wirkte sich auch auf eine in den neunziger Jahren dominante kulturjournalistische Literaturkritik aus, die im Verbund mit den neuen Ansätzen der Kulturwissenschaften und deren Schlagworten, Debatten und Trendbeschreibungen eine genuin literaturästhetisch argumentierende Literaturkritik, die derweil quasi aus den Feuilletons verschwunden ist, ersetzt hat. Zugleich beeinflusste sie die akademische Literaturwissenschaft immer mehr, so dass letztere verstärkt feuilletonistische Schlagwörter und Ordnungsmuster für ihre Klassifikationen übernahm.32
Literaturvermittlung im Fernsehen Die Veränderung der Literaturkritik ist vor allem von der Aufhebung des Expertenurteils über das Buch als literarisches Werk geprägt. An dessen Stelle trat die marktgerechte Präsentation des Autors als Person und der Bücher als Neuerscheinungen. Die professionelle Literaturkritik wurde immer mehr vom Marketing der Buchkonzerne verdrängt und durch einen »Service-Journalismus« ersetzt.33 In wachsendem Maße sehen die Literaturkritiker »die Rolle der Kritik vor allem darin, selbst zu einem Teil der multimedialen Inszenierung der Bü-
31 Faulstich: Bestseller, S. 145 32 Wie z. B. die der Literatur eines »Fräuleinwunders« – eine aus einem Spiegel-Artikel von Volker Hage stammende Gruppenzuordnung, die kaum durch literarische Kriterien gerechtfertigt ist; siehe hierzu unten: 3.2. 33 »Der Service-Journalismus orientiert sich strikt am Geschmack des Konsumenten, seine Richtschnur ist der ökonomische Erfolg. Seine marktbegleitende und marktverstärkende Berichterstattung konzentriert sich auf das, wofür die lauteste Werbung gemacht wird. Ein unkritischer Kuschel-Journalismus bejubelt die Spitzentitel der Verlage und die Mainstream-Ware und hängt sich applaudierend an die Bestseller. Kein Wunder, dass der Service-Journalismus zum liebsten Medienpartner der Buchbranche avanciert ist« (Löffler: Wer bestimmt, was wir lesen?, S. 113).
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cher-Auftritte zu werden«.34 Dies zeigt sich besonders deutlich im Fokus der Literaturvermittlung im Fernsehen.35 Aber auch hier sind feine Unterschiede zwischen einem ›Kultur-‹ und einem ›Wirtschafts-‹ bzw. ›Medienflügel‹ im Mittelbereich zu beobachten. Grundsätzlich können die Sendungsformate danach unterschieden werden, »ob sie sich vorrangig für den Autor als Person oder für das Buch als Substrat einer Autorschaftsleistung interessieren«.36 Feldstrukturell kommt hier der Gegensatz zwischen der Rechtfertigungsordnung des literarischen Werks am kulturellen Pol und der der Person am ökonomischen Pol zum Tragen.37 Wie der literarische Mittelbereich allgemein sind auch die Literatursendungen im Fernsehen von Kompromissordnungen geprägt. Sie stehen in einem Spannungsfeld zwischen Magazinsendung und Talkshow.38 Homolog zur Unterscheidung zwischen einem ›Kultur-‹ und einem ›Wirtschaftsflügel‹ im Mittelbereich lassen sich zweierlei Formate unterscheiden: einerseits diejenigen, die literarische (Kontext-)Informationen und ästhetische Werturteile über das Buch geben und eher die Literatur als Kunstform anvisieren; andererseits diejenigen Formate, die sich eher nach der Unterhaltungsliteratur und den Formaten der Massenmedien ausrichten. Den Autoren bleibt hier in der Regel nur der enge Spielraum zwischen dem Studiogespräch und minimaler Auseinandersetzung mit dem Buch einerseits und der Talkshow andererseits, bei der sich die Autoren als Personen medial bewähren müssen.39 Bei den literarischen Fernsehsendungen am ›kulturellen Flügel‹ geht es dagegen vorrangig um die Auseinandersetzung mit einem Werk als künstlerisches Produkt sowie um seine moralisch-sozialintegrative Funktion im Rahmen von Schwundformen einer gesamtgesellschaftlichen literarischen Öffentlichkeit. Es handelt sich tendenziell um Magazine mit Ansätzen einer Würdigung der Autorenleistung über Kurzfil-
34 Ebd., S. 114. 35 »Für den Buchmarkt ist diese Deprofessionalisierung des literaturkritischen Urteils von allergrößtem Interesse, weil dadurch eine ganz neue Klasse von Multiplikatoren gewonnen wird, die sich nicht länger durch Kompetenz, sondern allein durch Bekanntheit auszeichnen müssen« (Jörg Döring: Fernsehen. In: Erhard Schütz u. a. [Hg.]: Das BuchMarktBuch. Der Literaturbetrieb in Grundbegriffen. Hamburg 2005, S. 121–125, hier S. 124). 36 Jörg Döring: Der Autor im Fernsehen. Literatursoziologische Sequenzanalysen von zeitgenössischen TV-Formaten. In: Erhard Schütz, Thomas Wegmann (Hg.): literatur.com. Tendenzen im Literaturmarketing. Berlin 2002, S. 137–171, hier S. 170. 37 Vgl. hierzu auch unten: II. 1.1. 38 Vgl. Tilman Lang, Meike Homann: Guckst du nur oder liest du auch? In: Arnold, Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, S. 219–233, hier S. 225. 39 Vgl. Döring: Fernsehen, S. 126.
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me, Literaturdokumentationen, Kritiker- und Studiogespräch zwischen Moderator und Autor. Dagegen wird am ökonomisch-medialen ›Wirtschaftsflügel‹ eher die hedonistisch-emotionale Funktion, das Vergnügen am guten Stoff und an der gelungenen Unterhaltung betont.40 Hier geht es verallgemeinert um umgebungsanimierte Buchreportagen und Bücher-Talkshows mit Buchempfehlungen, bei denen die literarische Kritik der Experten aufgehoben ist; die Autoren interessieren vor allem als Person in ihrem medialen Auftritt. Exemplarisch für die Fernsehliteratursendung am ›kulturellen Flügel‹ des Mittelbereichs ist die von 1988 bis 2001 ausgestrahlte und seinerzeit sehr erfolgreiche Sendung »Das literarische Quartett«: eine Talkshow von Kritikern, die mit unterschiedlichen Urteilen konkurrierten, wobei Reich-Ranicki die Rolle des ›Anchorman‹ einnahm.41 Die »Sphäre potentieller Legitimation« mit konkurrierenden Kritikern funktionierte hier nach dem Prinzip des Schlagabtauschs von Lob und Tadel. Trotzdem das Format der Talkshow in erster Linie der Unterhaltung diente, inszenierte sich »Das literarische Quartett« nochmals als letzte Schwundform einer gesamtgesellschaftlichen literarischen Öffentlichkeit, in der die Literaturkritiker – ohne Beteiligung der Zuschauer, aber gleichsam als deren berufene Repräsentanten – vor allem über die Bücher als literarische Werke und als gelungene oder misslungene Leistung von Autorschaft debattierten. Da es hier um die Inszenierung einer literarischen Öffentlichkeit im Fernsehen ging, wurde auch über die moralisch-sozialintegrative Funktion der Literatur verhandelt, allerdings innerhalb eines unterhaltsamen Kontextes. 2003 folgte die von Elke Heidenreich moderierte Sendung »Lesen!« – eine exemplarisch für den ›wirtschaftlichen Flügel‹ stehende Literatursendung. In Bezug auf Quote und Marktrelevanz war sie die konsequente Nachfolgerin des »Literarischen Quartetts«. Ihr Format stand für eine Suspension der Experten-Literaturkritik zugunsten strikter Leserorientierung.42 Im Unterschied zur Inszenierung einer literarischen Öffentlichkeit im »Literarischen Quartett« stellte »Lesen!« eine Serviceleistung zur Anbahnung eines Verkaufsgeschäfts dar. Hier ging es vor allem um produktbezogene Aufforderungen sowie rezipientenbezogene Versprechungen, um persuasive Strategien, emotionale Ansprachen und persönliche Tipps.43 »Lesen!« lässt sich daher als »Dauerwerbesendung für die Literatur« und ideale Werbeplattform für den Buchhandel verstehen.44 Seit Absetzung der Sendung 2008 gibt es im Fernsehen nur noch kurze Buchpräsentationen und Autorenporträts im Rahmen von Magazinsendungen wie »aspekte« oder »Titel, Thesen, Temperamente«. Als eine der wenigen reinen Literatursendung verbleibt im deutschen Fernsehen die ARD-Sendung »Druckfrisch«, seit 2003 von Denis Scheck moderiert. Hier geht es um die unkonventionelle, dynamisch-umgebungsanimierte Präsentation von Neuerscheinungen im schnellen Zeitrhythmus. Ähnlich wie »Lesen!« ist die Sendung von direkten Persuasionen und produktbezogenen Aufforderun-
40 Vgl. Lang, Homann: Guckst du nur, S. 223. 41 Vgl. ebd., S. 228. 42 Vgl. Döring: Fernsehen, S. 123. 43 Vgl. Lang, Homann: Guckst du nur, S. 223. 44 »In Heidenreichs Lese- und Kaufbefehlen dokumentierte sich sowohl die Macht, Bücher auf die Listen zu katapultieren […], es zeigten sich aber auch die Grenzen und der allmähliche Verfall solcher Autorität« (Fischer: Marktinformationen, S. 207).
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Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich
gen geprägt, jedoch werden die Urteile nicht direkt als Aufforderung an die Zuschauer gerichtet. Im Interviewteil geht es vor allem um eine Selbstinszenierung der Autoren, jedoch steht dabei noch das Buch im Mittelpunkt.45 Wenn Reich-Ranickis »Literarisches Quartett« am ›Kulturflügel‹ eine Art Theaterstück literarischer Öffentlichkeit mit vier Personen inszenierte, Heidenreich mit »Lesen!« am ›Wirtschaftsflügel‹ zum Lesegenuss aufforderte, geht es Scheck mit »Druckfrisch« um die Vorstellung von exquisiten Neuerscheinungen. Seine Sendung ist vor allem eine Auswahl- und Urteilsinstanz der in den Mittelbereich verlagerten Produktion des Neuen. Ihrer Stellung im literarischen Feld analog ist die Konsekrationsinstanz des Deutschen Buchpreises des Börsenvereins.46
Die Situierung und Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten literarischen Mittelbereichs lässt sich folgendermaßen schematisch darstellen:
Abb. 9: Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich
45 Vgl. Lang, Homann: Guckst du nur, S. 230. 46 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, I. 3.3.
Die gemischte Struktur und die Entwicklung des Mittelbereichs
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1.1 Ästhetische Unterhaltungsliteratur Der literarische Mittelbereich kann als Bereich einer ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur zwischen Hoch- und Populärliteratur charakterisiert werden, der spezifische (rezeptions-)ästhetische Merkmale einer Ambivalenz und Kompromissordnung aufweist.47 Sowohl die Abwertung der Unterhaltungskultur aus einer elitären, hochkulturellen Perspektive als auch die vorschnelle Behauptung einer Aufhebung der Grenze zwischen E- und U-Kultur, zwischen ›hoher‹ und ›populärer‹ Kultur, übersehen die spezifische Struktur der ästhetisch ambitionierten Unterhaltungskultur bzw. -literatur. Diese zeigt sich, wenn Unterhaltungsliteratur nicht als Merkmal eines bestimmten Gegenstandes, sondern als eine prozessuale Beziehung zwischen dem Rezipienten und dem rezipierten Objekt, dem unterhaltsamen Artefakt, verstanden wird (vgl. 121–123). Für die Beibehaltung der traditionellen Unterscheidung von Hoch- und Unterhaltungsliteratur sprechen nicht zuletzt (rezeptions-)ästhetische Gründe. Die ästhetische Besonderheit der Unterhaltung unterscheidet sich von der der (hochkulturellen) Kunst durch das Moment des erlernbaren Artistischen, das nahezu beliebig wiederholbar, aber für den Zuschauer und Rezipienten im Moment des Erlebens ein Ereignis ist. Anschaulich hierfür ist das von Hügel angeführte Beispiel des Zauberkunststückes im Zirkus, das für den Moment seiner Vorführung als Zauberkunst und zugleich als handwerklich gut gemachter Trick gilt, da ansonsten die Unterhaltung in eine Angst oder ein Unbehagen angesichts einer wirklichen Zauberkraft umschlagen würde (vgl. 126 f.).48 Das in mancher Hinsicht mit dem Romanpakt vergleichbare Verhältnis zwischen dem Rezipienten und dem Dargebotenen in einer Zirkusaufführung kennzeichnet eine (rezeptions-)ästhetische Kernbestimmung der Unterhaltungsliteratur im Zwischenbereich zwischen Hoch- und Populärliteratur: So wie das Dargebotene im Moment seiner Inszenierung als ganz echt und einzigartig und zugleich als gut ›gemacht‹ (Kunsthandwerk) und reproduzierbar gilt, will auch »Unterhaltung […] (fast) ernstgenommen und (fast) bedeutungslos zugleich sein« (128). Ein zentrales Kennzeichen ästhetischer Unterhaltungsliteratur besteht also in einem, oftmals ironischen, Oszillations- oder Schwebezustand zwischen Ernst und Unernst, kurz: in einer ästhetischen Zweideutigkeit. Die ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltungsliteratur grenzt sich vom ästhetisch autonomen Kunstwerk insofern ab, als sie kein ›objektives‹ und ›unbedingtes‹ Rezeptionsverhalten verlangt. Während im Kunstwerk (im emphatisch autonomen Sinne) die Erfahrung eines Fremden – das Verdrängte oder das Erhabene – und die Erkenntnis des Eigenen vorherrschen,
47 Vgl. Hans-Otto Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: montage/av 2 (1993), H. 1, S. 119–141; Nachweise im Folgenden im Fließtext. Claudia Albert sei an dieser Stelle für den Hinweis auf diesen für die folgenden Ausführungen wichtigen Aufsatz gedankt. 48 An dieser doppelten (rezeptions-)ästhetischen Bestimmung, die für die Literatur im Mittelbereich charakteristisch ist – während im Bereich der Hochliteratur die ›Angst‹ vor dem Zauber in die Form von Erhabenheitserfahrungen transformiert wird –, schließt besonders Daniel Kehlmanns Schreibweise an, wie z. B. in seinem Roman Beerholms Vorstellung (s. u.: Zweiter Teil, II. 2.3.2.).
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erfährt der Rezipient in der Unterhaltungskultur etwas ihm halb Bewusstes oder Vertrautes, dessen Vergewisserung er noch einmal zu erleben wünscht. Diese (Selbst-)Vergewisserung bewegt sich im mittleren Bereich zwischen einer ›Offenbarung‹ und einer ›Leere‹ (vgl. 129–133). So erweist sich die Leichtigkeit der Unterhaltung im Kern als eine mittlere Zugänglichkeit. Ihr entspricht eine Rezeptionshaltung zwischen umfassender Konzentration (im Bereich der Hochkultur) und weitgehender Teilnahmslosigkeit oder Abwesenheit des Subjekts (im Bereich der Populärkultur, wo es hauptsächlich um Zerstreuung geht; vgl. 131, 138). Die Subjektkonstitution im Mittelbereich der Unterhaltung vermeidet also eindeutige, ernste Bekenntnisse und Konsequenzen, die aus der Kunstwerk-Erfahrung zu ziehen wären (Rilkes »Du musst dein Leben ändern«). Stattdessen oszilliert das unterhaltsame Kunstwerk zwischen Aufrechterhaltung und Aufhebung der intensiven Rezeption. Das rezipierende Subjekt im Mittelbereich der ästhetisch ambitionierten und ambivalenten Unterhaltung nimmt zwar in subjektkonstitutiver Hinsicht Anteil an der Kunst, die ihm ihrerseits auch das Anwendungsrecht einräumt (während das autonome Kunstwerk jede direkte Anwendung ablehnt), es zieht aber keine inneren Konsequenzen mehr aus ihr (vgl. 132 f.). Die relativ leichte Zugänglichkeit der Unterhaltungsliteratur ist sowohl Ursache als auch Folge ihrer ästhetischen Zweideutigkeit. Der ästhetischen Distanz, die das autonome Kunstwerk in seiner Erhabenheit oder Aura signalisiert 49 (während sie bei populärer und trivialer Kultur gänzlich fehlt), entspricht in der Unterhaltungskultur deren Genre-Charakter. Daraus erklärt sich auch die hier vorherrschende Neigung zum Seriellen, denn dadurch lässt sich Aufmerksamkeit iterativ auf- und im nächsten Moment abbauen (vgl. 132 f.). Das serielle Format produziert permanente Nähe- und Distanz-Erfahrungen (z. B. die melodramatische Erregung, die im nächsten Moment wieder verabschiedet wird). Innerhalb der für den Mittelbereich besonders relevanten »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck) stellt diese seriell-wechselnde Intensität der Aufmerksamkeit ein Kernmerkmal dar. Die Genrehaftigkeit der Unterhaltung ist nicht nur marktökonomisch, sondern vor allem auch ästhetisch begründet. Die im Unterschied zum Einmaligkeitserlebnis des Kunstwerks mittlere oder ›flexible‹ Rezeptionshaltung der Unterhaltung, bei der sich ästhetisch in unterschiedlicher Intensität die Wertkategorien ›Ernst‹ und ›keine Bedeutung‹ überlagern, erkennt das Besondere immer nur auf der Folie des Genrespezifischen der Serie: »Nicht auf Sinnstiftung lenkt der Unterhaltende seinen Blick, sondern auf die Bauweise eines Serienproduktes. Dabei hat der vergleichende Blick auf das Muster bzw. auf das vom Rezipienten realisierte gattungsprägende Modell, der die Unterhaltung konstituiert, ein endliches Ziel« (133; vgl. auch 136). Für die ästhetische Unterhaltungsliteratur des Mittelbereichs gilt also tendenziell eine eingeschränkte Hermeneutik im Unterschied zur tendenziell unabschließbaren (Anti-)Hermeneutik im Bereich der Hochliteratur (vgl. 133 f.).
Die ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltungsliteratur als oszillierendes Kräfteverhältnis »zwischen Teilhabe an Bedeutendem und Zerstreuung an Bedeutungslosem« 50 kennzeichnet in feldanalytischer Perspektive den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich. Dieser ambivalente oder ge-
49 Benjamin bestimmt die »Aura« des Kunstwerks bekanntlich als »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag« (Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, hier S. 142). 50 Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit, S. 137.
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mischte ästhetische Charakter zeigt sich besonders deutlich am literarischen Bestseller- oder »Kompositionsroman«, der zwischen ästhetischem Anspruch und Verkaufserfolg, welcher in kunstautonomer Hinsicht eher diskreditierend wirkt, einen ausgleichenden Kompromiss herstellt.51 Der literarische Bestseller, auf den sich z. B. der Rowohlt-Verlag ausgerichtet hat, weist eine ›mittlere‹ ästhetische Komplexität aus, wodurch er sich vom Trivialbestseller als »Schema-Literatur«, die eindeutige Bedürfnismuster des Lesers bedient, abgrenzt. Diese »mittlere Komplexität« 52 beinhaltet weder eine triviale noch eine zu anspruchsvolle literarische Qualität, sondern sie ist unterhaltend und enthält literarisch anspruchsvolle Elemente. Entsprechend wird das Erfolgsbuch oder der literarische Bestseller im Mittelbereich nicht nur über die auf Verkaufszahlen basierenden »Bestsellerlisten«, sondern auch über die ästhetische Qualitätskriterien berücksichtigenden »Bestenlisten« ausgezeichnet (s. o.) – Autoren wie Julia Franck oder Arno Geiger haben es mit ihren Erfolgsbüchern auf beide Listen geschafft. Die Brücke zwischen Hochliteratur und einer Unterhaltungsliteratur mit ambitionierter (Oberflächen-)Ästhetik schlagen insbesondere postmoderne Erzählwerke.53 Der »Kompositionsroman«, der andererseits die Brücke zur ökonomisch basierten Massenproduktion schlägt, wird gleichzeitig Grundbedürfnissen nach spannungsreicher Unterhaltung, lustvoller Belehrung und erbauender Lebenshilfe, nach Ablenkung und einem die Alltagsrealität überschreitenden Eskapismus gerecht.54 Häufig vereint er einen historischen oder gegenwartsbezogenen Realismus mit fantastischen, komischen und ironischen Elementen. Dabei greift er gerne auf international erprobte Erfolgsgenres wie den Krimi oder Thriller, den historischen Roman, die Fantasy-Literatur oder Short Stories zurück.55 Mittels Intertextualität, die den literarischen Bestseller häufig auszeichnet, kann der Kompositionsroman an frühere Erfolgswerke, an ihre bewährten Schreibweisen wie auch an ihre literaturhistorischen Kontexte anknüpfen.56 Dadurch partizipiert er zum einen am symbolischen Wert legitimierter (Hoch-)Literatur und kann zum anderen dem Leser eine leichte Zugänglichkeit durch eine klare und kohärente Handlungsführung, einen eingängigen Stil und abwechslungsreiche Erzählmittel anbieten. Oft wird diese ambivalente Partizipation durch das Stilmittel der Ironie unterstützt. Schließlich ist im literarischen Mittelbereich der ästhetischen Unterhaltungsliteratur die flexible Subjektkonsti-
51 Vgl. hierzu auch unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1. 52 Faulstich: Bestseller, S. 136. 53 »Das Gros postmoderner Erzählwerke gewährt beides: eine für den Durchschnittsleser befriedigende ausschließlich-lineare Lektüre und zudem eine intertextuelle Lektüre für den so genannten ›anspruchsvollen‹ literarhistorisch-vorgebildeten Leser« (Alexandra Pontzen: Pietätlose Rezeption? Elfriede Jelineks Umgang mit der Tradition in Die Kinder der Toten. In: Sabine Müller, Cathrin Theodorsen [Hg.]: Elfriede Jelinek – Tradition, Politik und Zitat. Wien 2008, S. 51–69, S. 53). 54 Vgl. David Wieblitz: Geniale Bestseller. Der »Genieroman« als Erfolgsrezept. Marburg 2009, S. 28; zum Begriff des »Kompositionsromans« vgl. Werner Faulstich: Thesen zum BestsellerRoman. Untersuchung britischer Romane des Jahres 1970. Bern, Frankfurt a. M. 1974, S. 89 f. u. S. 142–146. 55 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, I. 2.2. 56 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 30, mit Blick auf Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.2.).
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tution von zentraler Bedeutung.57 Mit diesen Merkmalen kann der Kompositionsroman sowohl formalästhetisch als auch inhaltlich milieuübergreifend ein breites Publikum erreichen. Oft weist er einen Aktualitätsbezug auf; zudem ist er literarischer Ausdruck »eine[r] Art kollektiver Träume: Es scheint inzwischen, daß sie geeignete Mechanismen darstellen, mittels derer bestimmte soziale Gruppen reale gesellschaftliche Entwicklungen oder Veränderungen, die als Herausforderung oder als Bedrohung empfunden werden, aufgreifen«.58 Inhaltlich und formal bietet er eine literarische Verarbeitung von faktualen Elementen und existenzielle Sinnangebote zum ›Großen und Ganzen‹, wodurch er – zumindest indirekt – dem Bedürfnis des Lesers nicht nur nach Unterhaltung, sondern auch nach einer ethisch-moralischen Orientierung und subjektiver Authentizität nachkommt.
Der Erfolg der literarischen Bestseller einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur gründet auf dem Zusammenspiel zwischen einer formalästhetischen Zweideutigkeit, inhaltlichen Aspekten einer literarischen Probehandlung und einer flexiblen Subjektbildung, schließlich auch auf intertextuellen und interdiskursiven Kopplungen, die eine leichte Zugänglichkeit und die Teilhabe an legitimierter Literatur sowie am allgemeinen gesellschaftlichen Zeitgeist ermöglichen. Das Konzept einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur, bei der der Umgang mit Unterhaltung einen spezifisch ästhetischen Kommunikationsprozess voraussetzt, kann sowohl das Schablonen-Denken einer Antinomie zwischen Hoch- und Unterhaltungsliteratur als auch die simplifizierende, postmoderne These einer umstandslosen Vermischung von Kunst und Unterhaltung überwinden helfen. Entsprechend erlaubt das Konzept eines literarischen Mittelbereichs, an der ästhetisch, funktional und institutionell begründeten Trennung der Bereiche von U- und E-Kultur bzw. der Subfelder einer eingeschränkten und einer massenhaften literarischen Produktion festzuhalten und gleichwohl ihren intensivierten Wechselwirkungen und den graduellen Differenzen innerhalb des Spannungsfeldes gerecht zu werden.59
1.2 Historische Entwicklungslinien Die Unterhaltung als Rezeptionsvorgang einer ästhetischen Zweideutigkeit setzt ihre Emanzipation voraus, d. h. die soziale Anerkennung der Unterhaltungskünstler, die Entstehung einer einflussreichen populären Kultur und die
57 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, I. 2.3. 58 Faulstich: Bestseller, S. 136. 59 Vgl. auch Hans-Otto Hügel: »Unterhaltung«. In: H.-O. H. (Hg.): Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen. Stuttgart 2003, S. 73–82, hier S. 80 f.
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Entwicklung von Medien.60 Die Anfänge dieser Entwicklungen reichen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zurück, als immer mehr Romane der ›elenden Skribenten‹ auftraten, die bereits im Titel die »Unterhaltung« als hauptsächliche Lesefunktion angaben. Dass »Unterhaltungsliteratur« zu einem Problem wurde, weil sie die seit Horaz verbindliche Einheit einer unterhaltenden und belehrenden Funktion der Dichtkunst aufzubrechen drohte, hing unmittelbar mit der Autonomisierung der Literatur zusammen.61 Zur tatsächlichen Emanzipation gelangte sie im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch einen größer gewordenen literarischen Markt und durch den Erfolg sowie die literarische Anerkennung von Romanen vor allem englischer Autoren wie Walter Scott, James Fenimore Cooper oder Charles Dickens. Eine völlige Ausrichtung auf Unterhaltung vollzog sich dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen von Familienzeitschriften wie der äußerst erfolgreichen Zeitschrift Die Gartenlaube (1853–1944). Sie wurden bald »so erfolgreich und durch ihr wöchentliches Erscheinen so alltäglich, daß sie Lesen und Unterhaltung als soziale Gewohnheit durchsetzten«.62
Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich der Gegenwartsliteratur steht in der langen Traditionslinie einer um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sich durchsetzenden ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur. Als Mittelbereich zwischen Hoch- und Populärkultur wurde dieser ökonomisierte und medialisierte Raum dann vor allem im literarischen Feld der Weimarer Republik virulent. Die Diskussionen um erste Massenauflagen von Romanen – etwa von Thomas Manns Bestseller Buddenbrooks 63 – oder um den
60 Vgl. Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit, S. 138. 61 »Die psychische und geistesgeschichtliche Grundlage dieser Ausdruckshaltung war – nach einer Formulierung von Paul Böckmann – ›das zu sich selbst gebrachte Individualitäts- und Persönlichkeitsbewußtsein‹, und von hier aus läßt sich begreifen, warum die Befreiung der Unterhaltung aus dem rhetorischen Verbund mit der Belehrung, die mit der Anerkennung der Autonomie aller Kunst zusammenging, zwar zu einem Problembewußtsein, nicht aber zu ihrer Emanzipation führen konnte. Auf dem Hintergrund der Ausdrucksästhetik mußte die Unterhaltung um so stärker abgelehnt werden, je mehr sie ein Eigenrecht forderte. […] Als Modeliteratur mußte sie sich überdies dem Vorwurf aussetzen, sie gestalte nicht die ewigen ›Geheimnisse der Natur‹ (Goethe), sondern richte sich nach den ephemeren Themen des Tages, sei bloß ›Eintagsliteratur‹, die nur kurze Zeit wirkte. Aus zufälligen individuellen ›elenden Skribenten‹ wurden so zwischen 1784 und 1800 eine ›bestimmte Klasse‹ von Literaten, die notwendig schlecht war. Die Zweiteilung von Erzähl- und Unterhaltungsliteratur war geboren« (Hans-Otto Hügel: Unterhaltungsliteratur. In: Helmut Brackert, Jörg Stückrath [Hg.]: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 280–296, hier S. 287). 62 Ebd., S. 289; vgl. S. 288. 63 Ein Jahr nach dem Erhalt des Nobelpreises (1929) trug Thomas Mann nicht nur indirekt durch die »Volksausgabe« seines Buddenbrooks-Romans in einer Auflage von einer Million Exemplaren zu einem herabgesetzten Preis am Aufkommen der Unterhaltungsliteratur bei, sondern auch direkt als Mitherausgeber der Knaur Buchreihe »Romane der Welt« (1927/28),
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literarischen Stellenwert der zahlreichen Autoren, die sich in diesen mittleren Zonen der Ungewissheit bewegten, machen dies deutlich. In der Weimarer Republik waren diese Autoren aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, auch Kritiker und Journalisten zu sein und einen gewissen ›Pakt‹ mit dem Leser einzugehen, wie sich am Beispiel Erich Kästners erkennen lässt.64 Erich Kästner gehörte wie Hans Fallada, Hermann Kesten, Robert Neumann oder Vicki Baum zu den Autoren, die sich im Mittelbereich des literarischen Feldes situierten und in einem nicht hochkulturellen, ›mittleren‹ Stil schrieben. Kästners mittlere Stillage zwischen ästhetischer »Form« und gesellschaftlicher »Moral« ist – wie später auch die der Gruppe 4765 – von der Verquickung eines Anspruchs auf literarische Gestaltung und eines moralisierenden Anliegens geprägt (vgl. 83–85). Mit 12 Millionen verkauften Kinderbüchern und zahlreichen Verfilmungen wurde Kästner, der sich als moralische und pädagogische Autorität für die Gesellschaft verstand, offenkundig von einer breiteren Öffentlichkeit als Schriftsteller wahrgenommen (vgl. 87). Er präsentierte sich als »Spezialist für Diagnose und Therapie von Modernisierungsschäden« (vgl. Kästners Lyrische Hausapotheke, Gedichtauswahl, 1936). Seine »Gebrauchslyrik« sollte »seelisch verwendbar« und »nützlich« sein und sich dabei von den »Reimspielereien« der Traditionalisten abheben (zit. n. 86). Erich Kästner wird von der Forschung häufig »in der Kitschhölle des Volksschriftstellers« gesehen.66 Durch seine moralisierend-belehrende Ausrichtung, die die ästhetische Formgebung stets zu dominieren drohte, steht er feldanalytisch betrachtet in der Gefahr, nicht dem Mittelbereich, sondern dem Pol der mit wenig literarischem Kapital ausgestatteten »volkstümlichen Schriftstellern« zugeordnet zu werden (vgl. oben, Abb. 4). Tatsächlich lassen sich für die NS-Zeit Kästner und andere Schriftsteller der ›inneren Emigration‹ im Umfeld dieses Pols verorten. Andererseits hat Peter Rühmkorf Kästner als »Einfühlungsspezialist« der Neuen Sachlichkeit charakterisiert.67 Die Autoren der Neuen Sachlichkeit, die in Abgrenzung zum
die mit ihren Massenauflagen als Vorläufer des modernen Taschenbuchs gesehen werden kann. Im Geleitwort dieser Reihe versuchte Mann die ›mittlere‹, zwischen Kunst- und Trivialliteratur liegende Unterhaltungsliteratur über die Kategorie des »Gutgemacht-Mittleren« auch literarisch zu legitimieren: »Wir haben keinen Dickens und Balzac, auch keinen Dostojewski. Der deutsche Roman großen Stils ist aristokratisch und innerlich. […] Rümpfen wir nicht esoterisch die Nase! […] Könnte das Massenhafte, das Massengerechte nicht einmal gut sein? […] Unterhaltung? Sagt dafür: Steigerung des Lebensgefühls; das klingt schon ernster. Und vielleicht ist für den ›Wiederaufbau‹ auf diesem Wege manches zu leisten« (Thomas Mann: Romane der Welt. »Geleitwort« [1927]. In: Weimarer Republik. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Hg. v. Anton Kaes. Stuttgart 1983, S. 287–289; hier zit. n. Claudia Albert: Konstruierte Autorrollen. Erich Kästner zwischen Moral und Unterhaltung. In: Literatur für Leser 26 (2003), H. 2, S. 82–100, hier S. 95). 64 Vgl. zum Folgenden Albert: Konstruierte Autorrollen; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 65 Siehe dazu oben: Erster Teil, II. 1.1. 66 So sein Biograf Sven Hanuschek (Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben Erich Kästners. München 1999, S. 424; zit. n. Albert: Konstruierte Autorrollen, S. 95). 67 Peter Rühmkorf: »Gesang aus dem Inneren der Larve – Rede auf Erich Kästner«, zit. n. ebd., S. 98.
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Expressionismus auftraten, nahmen im literarischen Feld der Weimarer Republik eine mittlere Position zwischen ästhetischem Formbewusstsein und moralisch-sozialem Anliegen ein. Kennzeichnend hierfür war ihre literarisch umgesetzte ›Gruppenfantasie‹ – analog zum kollektiven Traumcharakter des Kompositionsromans (s. o.) –, die die Entfremdungserfahrungen der Weimarer Republik im Allgemeinen und die Unsicherheiten in den Prekaritätszonen des literarischen und journalistischen Schreibens im Besonderen benannte und zugleich zu bannen versuchte.68 Eine Charakterisierung dieser Autoren wirft daher auch ein Licht auf die neue Formation der Gegenwartsliteratur in den neunziger Jahren: In der Trauer um den Verlust der Werte beharren sie zumindest auf deren Zitat; gleichzeitig aber verbünden sie sich mit den Massenmedien, um die größtmögliche Verbreitung ihrer Produkte zu fördern. Und so werden ›Moral‹ und ›Anstand‹, ›Poesie‹ und ›Geist‹ zu abrufbaren Instanzen, durch die Autor und Leser sich ihrer eigenen Dignität im Strudel des allgemeinen Wertverlusts versichern.69 Hier lassen sich Übereinstimmungen mit den oben ausgeführten Kennzeichen einer ästhetisch ambivalenten Unterhaltungsliteratur erkennen: Zwischen literarischem Effekt und moralischem Affekt changierend, bot die ›sachliche Romantik‹ der Neuen Sachlichkeit dem Leser zum einen eine Entlastung von einer zu sehr auf das Kunstwerk fixierten Reflexion und zum anderen das anschauliche Spektrum seiner eigenen (halb bewussten) Erfahrungen zum sozialen ›Probehandeln‹ und zur Subjektkonstitution.70 Wie in der ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur allgemein, sieht sich der Leser Kästners zu keinem konsequent aus der Lektüre resultierenden Engagement aufgefordert. Die Literatur bietet ihm aber eine gelegentliche Alltags- und Lebensorientierung. Albert weist schließlich darauf hin, dass die für die gemischte Ästhetik der Unterhaltungsliteratur charakteristische Balance »zwischen Teilhabe an Bedeutendem und Zerstreuung an Bedeutungslosem« 71 zuvor in der Literaturgeschichte den Autorinnen vorbehalten war.72 Im ökonomisierten Mittelbereich der Weimarer Republik und genauer: unter der ›mittleren‹ Autorposition der Neuen Sachlichkeit vermischen sich also einerseits brüchig gewordene Geschlechterrollen und andererseits die prekären, der sozialen Zeit ›ausgelieferten‹ neuen Autorpositionen, wie es auch in der Kennzeichnung durch doppelte Adjektive wie »sachlich-sentimental« zum Ausdruck kommt.
Der bei Kästner exemplarisch zu beobachtende Kompromissordnung zwischen einer ästhetischen Formgebung und einer moralisch-erzieherischen Funktion 68 Vgl. ebd., S. 97, mit Bezug auf Carl Pietzcker: Sachliche Romantik. Verzaubernde Entzauberung in Erich Kästners früher Lyrik. In: Germanica 9 (1991), S. 169–187, hier S. 186 f. 69 Albert: Konstruierte Autorrollen, S. 97. 70 Vgl. ebd., S. 98. 71 Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit, S. 137. 72 »Kästner und seine Gesinnungsgenossen füllen mit ihrem moralischen Impetus eine traditionell weibliche Rolle aus, beharren aber auf dem Konstrukt der Autorschaft, während Autorinnen wie Seghers, Keun oder Fleißer sogar ihre Autorfunktion etwa durch Pseudonyme oder männliche Protagonisten unkenntlich machen und jegliche Sinngebung als Erzieherinnen oder Mütter verweigern. So finden sie zu desillusionierten, ›männlichen‹ Schreibweisen, während gleichzeitig unter den Autoren das Feld zwischen ›kalter‹ Beobachtung und ›warmem‹ Mitgefühl neu vermessen wird« (Albert: Konstruierte Autorrollen, S. 99).
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prägte auch die ›nonkonformistische‹ Literatur der Gruppe 47, besonders die Heinrich Bölls. Auch diese Autoren positionierten sich in einem mittleren Bereich zwischen ästhetischem Formanspruch und moralischer Botschaft. Dieser blieb aber bis Mitte der sechziger Jahre noch weitgehend unbehelligt von einem flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich, der sich aus den Wechselwirkungen zwischen eingeschränkter und massenhafter Produktion generierte und zunehmend verselbständigte. Hier waren Einheit und Repräsentativität der Autorpositionen noch vom existenzialistischen Leitparadigma der Nachkriegsliteratur verbürgt. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre wurden dann die Autoren der Gruppe 47 mit dem Aufkommen neuer Medien, einer wachsenden populärkulturellen Vielfalt und Konkurrenz und schließlich mit dem Wandel von einer ästhetisch-moralischen Literatur mit »Universalanspruch« zu einer immer dominanter auftretenden Unterhaltungsliteratur der ästhetischen Zweideutigkeit mit »sektoralem Legitimationsanspruch« konfrontiert.73 Diese machte jenen Autoren die hegemoniale Zentralstellung im Mittelbereich streitig. Der Rekurs der Literatur auf universale moralische Botschaften wurde in Frage gestellt und in die horizontale Auslotung flexibel normalistischer Werte und Positionsabstände verlagert. Auch das in der ästhetischen Moderne der Weimarer Republik literarisch ausgebreitete Spektrum eines ›sachlich-sentimentalen‹ Probehandelns und einer Kommunikation mit der sozialen Welt lässt sich als (proto-)normalistische Wertbildung verstehen.74 Daher können von der ›sachlichen Romantik‹ oder ›sentimentalischen Sachlichkeit‹ aus Verbindungslinien zu den neuen Schriftstellern und zur neuen, ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur der neunziger Jahren gezogen werden: zu den Popliteraten, den Autorinnen des »Fräuleinwunders« und den ›neuen Realisten‹, die – in der Grundkonstellation vergleichbar den Autoren der Neuen Sachlichkeit 75 – mit einer stärkeren Vermischung ästhetischer und ökonomischer Wertordnungen und mit einer neuen Qualität der Prekarisierung des Schriftstellerberufs konfrontiert sind. Ihre Auseinandersetzung mit dem Werteverlust kommt aber nicht mehr über direkte moralische Anspielungen, sondern, wenn überhaupt, über ambivalente Zitate (im Gestus der Ironie oder der melancholischen Erfahrung der subjektiven Leere) oder aber in Form von flexibel-normalistischen Symbolordnungen zum Ausdruck.
73 Vgl. dazu oben: Erster Teil, I. 2. 74 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus (22006), Teil 1, Kap. 4 (»[Nicht] Normale Fahrten 2: Döblins ›Alexanderplatz‹ und Kafkas ›Der Verschollene‹ [›Amerika‹]), S. 46–50). 75 Vgl. Albert: »Zwei getrennte Literaturgebiete?«, S. 211.
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Zusammenfassend lässt sich also die These formulieren, dass im skizzierten Mittelbereich des literarischen Feldes einer ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur ein großer Teil der Gegenwartsliteratur ›nach der Nachkriegsliteratur‹ seit dem Durchbruch der neuen Formation Mitte der neunziger Jahre entsteht. Die Unterhaltungsliteratur im Mittelbereich wird zwar vermehrt nur in bestimmten Milieus geschrieben und rezipiert, aber über intermediale Vermittlungen wirkt sie milieuübergreifend und ästhetisch zweideutig, d. h. ›zweipolig‹; sie produziert weniger ›Dichter‹ und langfristig angelegte Werke, als vielmehr ›Neuentdeckungen‹, ›Kultautoren‹ und saisonale ›Erfolgsbücher‹ mit starken ups and downs, die sich im Ordnungsprinzip des Listens – sowohl der Bestenlisten der »meistempfohlenen« als auch der Bestsellerlisten der »meistverkauften« Bücher (s. o.) – permanent aufs Neue konstituieren. Nach 1989/90, nach der feuilletonistischen Proklamation der Nachkriegsliteratur und ihrer vermeintlichen »Gesinnungsästhetik« (Bohrer) sowie der Forderung nach einem neuen, von linken und moralisierenden Ideologien und dem historischen Erbe ›unbelasteten‹ Erzählen in Gestalt eines ›neuen Realismus‹ (s. u.), wurde dieser Mittelbereich zum Hauptmotor der Reproduktion des literarischen Feldes: Die Produktion und Rezeption literarischer Innovationen resultierten in der Folge weniger aus dem vertikalen Konflikt zwischen Etablierten und Debütanten als vielmehr aus der horizontalen Konkurrenzsituation um Sichtbarkeit und symbolische Kontingenz-Kompetenz der Akteure, schließlich um Absätze ihrer Produkte auf dem Markt. Die neue Dynamik entstand also aus den für den Mittelbereich kennzeichnenden Wechsel- und Mischverhältnissen zwischen einer eingeschränkten, sich dominant ästhetisch definierenden Hochliteratur und einer Massenproduktion, die sich über Absatz und Reproduzierbarkeit zum Zwecke der unterhaltsamen Zerstreuung definiert. Wenn im Folgenden von der Flexibilisierung oder flexiblen Ökonomisierung dieses Mittelbereichs die Rede ist, sind damit die Intensivierung und Verselbständigung dieser Wechselverhältnisse gemeint, durch die sich die vertikale Ordnung literarischer Wertmaßstäbe in eine horizontale Gemengelage zwischen einer zeitweiligen und sektoral geprägten sozio-literarischen Anerkennung, medialer Aufmerksamkeit und ökonomischem Absatz verlagert hat. Diese Prozesse erfuhren seit den neunziger Jahren eine neue Qualität: In dieser Zeit setzte sich eine Gegenwartsliteratur durch, die – in graduell unterschiedlichem Maße – sowohl ästhetischen Werten gerecht werden als auch unterhaltsam und ökonomisch rentabel sein möchte. Literarisch haben sich diese Prozesse insbesondere anhand der »Wiederkehr des Erzählens« 76 in einen »neuen 76 Vgl. dazu auch Hannes Krauss: Die Wiederkehr des Erzählens. Neue Beispiele der Wendeliteratur. In: Kammler, Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 97–108.
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Realismus« übersetzt. Der legitimatorische Durchbruch dieser neuen Formation der Gegenwartsliteratur gegen Mitte der neunziger Jahre erfolgte mittels einer in dieser Form bislang unbekannten intensivierten Aufmerksamkeit und Förderung durch eine Literaturkritik, die einerseits über den »deutsch-deutschen Literaturstreit« nochmals eine unverhofft gesamtgesellschaftliche, politische Beachtung erfahren hatte, andererseits durch das neue Selbstverständnis der Berliner Republik im Zeichen einer »neuen Mitte« (Schröder/Blair-Papier von 1999) und in Gestalt der neuen »Symbolanalytiker« in Zeiten der New Economy einen symbolischen Aufschwung erlebte. Insgesamt kann festgehalten werden, dass der in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einsetzende ›Boom‹ der ›zum Erzählen zurückgekehrten‹ deutschsprachigen Gegenwartsliteratur77 im Wesentlichen ein Erfolg der ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich des literarischen Feldes samt seiner Überschneidung mit dem Feld des Journalismus bzw. der Massenmedien war.
Umwertungen: Gegen Avantgarde – für den Journalisten-Schriftsteller, für einen neuen Realismus und für eine neue unterhaltsame Literatur In der Auseinandersetzung um die Definition des legitimen Ausdrucks einer neuen Gegenwartsliteratur Anfang der neunziger Jahre trat neben den Feldzug gegen eine moralisierende »Gesinnungsästhetik« im sogenannten »deutschdeutschen Literaturstreit«, in dem Literaturkritiker etablierte Schriftsteller programmatisch attackierten, die Verabschiedung einer »Akademikerprosa«, die sich an den poststrukturellen Theorien einer subjektlosen, selbstreflexiven und simulativen Postmoderne orientierte. Der Angriff zielte insgesamt auf eine symptomatische Verabschiedung jeder Form einer modernistischen Avantgarde und erfolgte im Namen einer ›neuen Autorschaft‹ in einem ›neuen Realismus‹, wie exemplarisch einem polemischen und programmatischen Artikel Maxim Billers von 1991 zu entnehmen ist.78
77 Vgl. Christian Döring: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Wider ihre Verächter. Frankfurt a. M. 1995; Helmut Böttiger: Nach den Utopien. Eine Geschichte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Wien 2004; Winfried Freund: »Neue Objektivität«. Die Rückkehr zum Erzählen in den neunziger Jahren. In: Wieland Freund, W. F. (Hg.): Der deutsche Roman der Gegenwart. München 2001, S. 77–100. 78 Maxim Biller: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus (Die Weltwoche, 25. 7. 1991); wieder abgedruckt in u. im Folgenden im Fließtext zit. n. Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 62– 71.
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Biller geht von der hegemonialen Stellung einer elitären »Akademikerprosa« und ihrer Abwertung des Journalismus innerhalb des literarischen Feldes der achtziger Jahre aus.79 Er rechnet mit einem »defätistischen, uninspirierten Avantgardistendenken« ab, das dazu geführt habe, dass »in einem Exorzismus nach echter Akademikerart, der deutschen Literatur jedes Leben, jedes Stück Wirklichkeit und der Wille zur Außenweltkommunikation ausgetrieben wurden« (63). Während der für die achtziger Jahre typische »strukturalistische[ ] Hermetikolymp« nur gelegentlich »einen Ausflug in die kleine, schmutzige Welt der Realität unternimmt«, gelte es nun die »naheliegende Verbindung von Journalismus und Literatur« gegenüber der akademischen Literatur grundsätzlich aufzuwerten und ihr Bedingungsverhältnis umzukehren, so »dass der Weg immer nur vom Journalismus zur Schriftstellerei führt, doch niemals umgekehrt« (64).
An Billers vehementer Einforderung einer Umwertung des Bedingungsverhältnisses von Literatur und Journalismus zur ›Rettung der Literatur‹,80 die bereits einige Jahre später die neuen Popliteraten auf ihre Weise erfüllen werden, lässt sich symptomatisch der diskursive ›Durchbruch‹ zwischen dem Feld der eingeschränkten literarischen Produktion und dem journalistischen Feld ablesen.81 Billers programmatische Verabschiedung der »Akademikerprosa« und jeder Form einer Literatur, die an ein Avantgarde-Konzept anschließt, steht feldanalytisch für eine Abwertung des vertikalen Reproduktionsprinzips. Diese Abwertung beinhaltet zugleich eine Umwertung zugunsten einer Verlagerung in die horizontale Logik des Schreibens. Biller plädiert für die Öffnung des geschlossenen literarischen Subfeldes für die Einflüsse der Journalismus, denen er sogar einen Vorrang einräumt. Dieses Plädoyer erweist sich feldanalytisch als Eintreten für die literarische Anerkennung des Mittelbereichs und seiner Autorpositionen angesichts einer noch als dominant wahrgenommenen Hochliteratur. Die Umwertung der Literatur äußert sich in Billers denunzierender Herab-
79 »Die Ablehnung des Journalismus als Grundlage einer modernen, begreifbaren Literatur ist ein nur ganz besonders augenfälliges Symptom für die Agonie unserer Akademikerprosa« (Biller: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel, S. 70). 80 »Ich glaube, man kann die Literatur retten. Man muß einfach nur so lange gegen die selbstgefällige Sturheit der Altavantgardisten und Literaturnomenklaturisten anreden und anschreiben, bis es wieder anständige Romane gibt. Romane, die man in einem Ruck durchliest. Die man liebt, die man genauso atemlos und gebannt durchlebt wie eine gute Reportage, einen prima Film« (ebd., S. 71). 81 Die Vermischung der Bereiche hatte sich freilich tiefenstrukturell schon länger vollzogen und der von Biller kritisierte »strukturalistische Hermetikolymp« (ebd., S. 64), womit eine poststrukturalistische, selbstreflexive Literatur im Zeichen von ›Autor-Tod‹ und ›differentieller Zeichen-Textur‹ gemeint ist, war bereits seinerseits eine Reaktion der Philosophie und allgemein der reflexiven Kunstautonomie auf die gewachsene Bedeutung des Umgangs mit materiellen ›Einzelheiten‹, mit Differenzen und Diskontinuitäten angesichts der Schwierigkeit ihrer Transzendierung in einheitliche Sinnentwürfe.
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setzung der Autorposition des »Sehers«, des »Schöpfers« oder »Sendboten« samt einem Werk-Begriff, der die »Literatur als ein geheiligtes Produkt« versteht.82 Die Kritik wendet sich schließlich nicht nur gegen jede Form einer elitären, eingeschränkt zirkulierenden, sich selbstreflexiv legitimierenden Literatur, sondern auch gegen jede Form einer Ich-Zentriertheit in Fortsetzung der Literatur der Neuen Subjektivität, die den Mittelbereich bislang weitgehend besetzt hatte. Stattdessen fordert Biller – hierin der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik vergleichbar – die Legitimierung der Autorposition des Reporters im Namen einer Literatur, die wieder der Wirklichkeit näher rücke.83 Sein Plädoyer für einen neuen Realismus und für ein neues, ›unbeschwertes‹ Schreiben und Lesen beruft sich auf den ›Wirklichkeitsstoff‹, auf biografische Erfahrungen, journalistische Recherchen, Alltagsgeschichten und einen literarisch erweiterten Reportage-Begriff.84 Der ›unbefangene‹ Umgang mit den realen ›Einzelheiten‹ wird zur neuen Grundlage des literarischen Schreibens erklärt. Das Streben nach ›Erfahrung‹ und ›wirklichkeitsrelevanter Gegenwärtigkeit‹ zielt auf die Legitimierung eines neuen Realismus im literarisch-journalistischen Mittelbereich, der hier programmatisch abgesteckt wird, indem neben den explizit politischen und weltanschaulichen Kategorien auch den kunstautonomen und distinktiv-elitären Bestimmungen der Literatur eine Absage erteilt wird. Das Plädoyer für eine über sektorale Grenzen hinausgehende Aner-
82 »Seit jeher nämlich gilt in Deutschland der Schriftsteller – wie jeder Künstler – als Schöpfer, als Gemütsmensch, als poetischer Sendbote aller metaphysisch-mystischen Erkenntnissphären zusammen. Der Journalist dagegen ist, lange vor den Nazis, als Prototyp des Zersetzers gebrandmarkt worden, als jüdischer Schlammwühler, als welscher Pseudoliterat, der bestenfalls zum Kritiker taugt, aber niemals über den göttlichen Funken des Schöpfertums verfügen wird. Diese rassistische Vorstellung hat sich, zumindest unterbewußt, bis heute in einer abstrakteren Emanation gehalten, und es ist kein Zufall, dass gerade jetzt bei uns die von Botho Strauß faschistisch-vulgarisierten Thesen George Steiners populär werden, wonach die Literatur als ein geheiligtes Produkt ausgewiesen wird, das keine Kritiker und Exegeten duldet. Diese […] reaktivierten herrenmenschelnden, sakralisierenden Kunstthesen finden nicht umsonst in unseren Feuilletons und Germanistikseminaren so viele Nachbeter. Denn sie sind der komprimierte Ausdruck der im deutschen Bewußtseinsuntergrund nach wie vor herrschenden Überzeugung: Kunst ist Kunst ist Transzendenz ist Religion. Und Realität ist Dreck ist Boulevard ist Fernsehen ist Journalismus. Ich aber glaube, dass gerade der Realismus für die Literatur lebensnotwendig ist« (ebd., S. 69; zur Sakralisierung der Literatur bei Botho Strauß s. u.: Zweiter Teil, II. 2.1.1.). 83 »Denn als Reporter, der auch literarisch arbeiten will, lernt man vom Journalismus nicht nur das Gespür fürs vorgegebene Material, für den Menschen an sich, für die Wirklichkeit« (ebd., S. 68). 84 Vgl. ebd., S. 70.
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kennung eines neuen Realismus, für die Autorposition des literarischen Reporters und für die positive Umwertung der Bewegung vom Journalismus zur Literatur, die sich einige Jahre später unter anderem im Studiengang der Universität von Hildesheim institutionalisiert hatte, erfolgt im Namen der »Erfahrung« und der existentiell durchdrungenen »Wirklichkeit«.85 In diesen Zusammenhang gehören schließlich auch die programmatischen Forderungen der Literaturkritik nach einer neuen »unterhaltsamen« Literatur und »Leselust«, wie sie besonders Uwe Wittstock vertrat.86 Ausgangspunkt für Wittstocks Positionsnahme ist zunächst eine ökonomische Argumentation. Mit Blick auf Absatz und Leserzahlen friste die deutsche Gegenwartsliteratur Anfang der neunziger Jahre eine karge Nischen-Existenz. Insgesamt werde zwar weiterhin viel gelesen, jedoch vor allem ausländische Literatur: »Die anspruchsvollen Bücher amerikanischer, englischer, italienischer, niederländischer oder lateinamerikanischer Autoren finden bei uns ein deutlich größeres Interesse als die entsprechenden Werke deutschsprachiger Schriftsteller« (13). Wittstock plädiert für eine wechselseitige Ergänzung von Kunst, die im Zeichen der »Wahrheit« stehe, und Unterhaltung, die auf Erfolg verweise. Damit befürwortet er eine ästhetische Unterhaltungsliteratur im Sinne Hügels (vgl. 15). Mit ihr verbunden ist eine Rezeptionshaltung, die sich im Leseakt als Lust beeindrucken lässt, aber aus der Lektüre keine ernsthaften Folgen mehr zieht (»Niemand kann heute zur Lektüre verpflichtet, aber jeder darf zu ihr verführt werden« [17]). Die Argumentation Wittstocks zeigt den historischen Stand der symbolischen Auseinandersetzung um die Umwertung der Literatur an: Die potentielle Legitimationssphäre der unterhaltsamen Literatur unterliegt noch der hochkulturellen, universalen Rechtfertigung (»Wer aber hierzulande fordert, Literatur solle Vergnügen machen, darf mit sofortigem, wortreichem Widerspruch rechnen« [18]). Es ist bezeichnend, dass zur Legitimation der Verbindung von »Vergnügen« und »Respektabilität« nochmals Friedrich Schiller herangezogen wird, d. h. die Kantsche Verbindung von Vernunft und Sinnlichkeit und die Zweckfreiheit des Erregens von Lust (vgl. 18 ff.). Einmal mehr wird das Ideal der Literaturkritik formuliert: die leichte Zugänglichkeit und zugleich die geistige Tiefe der »großen Bücher« (»Viele große Bücher der Literaturgeschichte sind leicht zu lesen, ohne besondere Vorkenntnisse zugänglich und trotzdem unauslotbar« [20 f.]). Dem entspricht das produktionsästhetische Ideal der »Zauberer«, der Verbindung von »Handwerk« und »Genie« (»Er muß sein Handwerk beherrschen und sich dennoch selbst überraschen können; und er muß sich, während er sich selbst überrascht, seines Handwerks völlig sicher sein« [21]). Es gehe laut Wittstock nicht um eine Senkung des literarischen Niveaus, sondern »vielmehr darum, daß ein literarisch ernst zu nehmendes Buch neben großen ästhetischen Qualitäten auch Unterhaltungsqualitäten haben sollte. Es geht da-
85 Dies ist ein Legitimationsmuster, das zur gleichen Zeit auch für die west- bzw. gesamtdeutsche Anerkennung einer ›nach-ideologischen‹ »Post-DDR-Literatur« in Anspruch genommen wird: »Noch nie gab es eine Schriftstellergeneration, die so wenig Hardcore-Journalismus und Realitätswühlerei betrieben und zugleich ein derart ereignis- und konfliktloses Dasein geführt hätte wie die unsere. Noch nie waren die Probleme eines Jahrgangs so belanglos und entrückt von allem wahrhaft Existentiellen« (ebd., S. 65). 86 Uwe Wittstock: Leselust. Wie unterhaltsam ist die neue deutsche Literatur? Ein Essay. München 1995; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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rum, daß die künstlerischen Ansprüche verschmelzen mit dem Anspruch, dem Leser Vergnügen zu bereiten« (22). Zum Beleg werden Klassiker der Moderne wie z. B. Kafka angeführt (vgl. 23). Die neue ästhetische Unterhaltungsliteratur wird schließlich mittels einer Abgrenzung gegenüber den bisherigen »[h]eilige[n] Kühe« konturiert (vgl. 24–32): gegen eine für die Nation repräsentative Literatur (d. h. gegen die Gruppe 47), gegen Avantgardismus, gegen die Vorstellung einer Progression, gegen Formalismus, gegen ästhetische Gegensphären und für ein episches, von Theorie ›befreites‹ Erzählen, für den Anschluss an traditionelle Erzähltechniken, für einen Realismus (»Was spricht dagegen, die Erzählmuster routinierter Unterhaltungsautoren – denn die beruhen auf jenen traditionellen Techniken – zu übernehmen, um etwas Besseres daraus zu machen?« [27]). Damit verändert sich auch das Bild des Autors: Dieser könne nicht mehr als Prophet (wie Christa Wolf) noch als Avantgardist auftreten, will er nicht zur »komischen Figur« werden (31). Vorbei sei die Zeit der »Posen des Weltgeists« und der »dogmatischen Poetologien« (ebd.). An die Stelle des heroischen Bildes vom Autor tritt die neue Wirkungsästhetik einer populären Kunst, die sich der medialen Konkurrenz stellt. Vorbilder hierfür sind Hans Magnus Enzensberger oder Umberto Eco, der mit den Worten zitiert wird, dass es der Literatur darum gehe, »[e]in breites Publikum zu erreichen und seine Träume zu bevölkern« (30). Das Plädoyer Wittstocks stellt sich schließlich in die Linie einer unterhaltsamen postmodernen Literatur, wie sie mit Sten Nadolnys Entdeckung der Langsamkeit (1983), Patrick Süskinds Parfum (1985), Christoph Ransmayrs Letzte Welt (1988) oder Bodo Kirchhoffs Infanta (1990) repräsentiert wird (34).
Billers Eintreten für einen neuen Reportage-Realismus, für die literarische Anerkennung des Journalisten-Schriftstellers, und Wittstocks Forderung nach einer unterhaltsamen und von Leselust geprägten Literatur sind diskursiver Ausdruck einer strukturellen Verlagerung der Produktion des Neuen vom kunstautonomen Avantgardepol in den flexibel ökonomisierten Mittelbereich einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur. Analog zur Durchsetzung der Deutungsansprüche der »Symbolanalytiker« scheinen durch die affirmative Vermischung einer literarischen, journalistisch-massenmedialen und ökonomischen Logik auch neue Möglichkeiten der Einnahme von ›gemischten‹ Autorpositionen zwischen kunstautonomen und ökonomisch-medialen Ordnungen entstanden zu sein. Diese Kombinationen oder Doppelpositionierungen sprechen jedoch nicht für die Hinfälligkeit der Unterscheidung zwischen einer hochkulturellen und einer populärkulturellen Literatur. Sie lassen sich vielmehr als jeweils spezifische, habituell verankerte, mehr unbewusste als bewusste ›Antworten‹ der Schriftsteller auf die Anforderungen des expandierenden Zwischenbereichs verstehen, dessen gemischte Struktur aus den oben skizzierten horizontalen Wechselbeziehungen zwischen der eingeschränkten und der massenhaften Literaturproduktion resultierte. Statt von der simplifizierenden These einer Aufhebung der Grenze zwischen hoher und populärer Literatur ist daher von einer Aufwertung potentieller Legitimität einer ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur im Mittelbereich auszugehen. Dieser Aufstieg erfordert eine Analyse der komplexen, ambivalenten Strategie der Kompromiss-
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bildung der Autoren, die mit der neuen Dynamik der Wechselbeziehungen konfrontiert sind und darauf eine ›Antwort‹ finden müssen – dies jedoch in einem jeweils unterschiedlichen Grad der Einflüsse und der daraus resultierenden Kompromissbildungen, in ganz verschiedenen, jeweils von der Herkunft, vom erworbenen Habitus und von der bislang vollzogenen literarischen Laufbahn abhängigen Strategien. Die jeweiligen habituellen Spaltungen, Kompromissbildungen und Mehrfachpositionen der Autoren – oft nach Gattungen getrennt, so z. B. in der Doppelproduktion von Lyrik und Essayistik, Lyrik und Prosa – gilt es relational im Kräftefeld zwischen dem kulturellen und ökonomischen Pol, zwischen kunstautonom-ästhetischer und sozialer Zeit zu untersuchen. In der feldanalytischen Langzeit-Perspektive verweist der ambivalente, ›gespaltene‹ Habitus häufig auf eine soziale Laufbahn, die im Spannungsbereich zwischen unterschiedlichen sozialen Feldern wie auch unterschiedlichen Sektoren innerhalb des literarischen Feldes verläuft. Dabei zeigen sich sukzessiv veränderte oder zum Teil auch simultane Mehrfachpositionen eher als Regel denn als Ausnahme. Die scheinbar paradoxen, ›eigensinnigen‹ oder nicht zu situierenden Autorpositionen können aus dieser Perspektive bestimmt werden hinsichtlich der Art und Weise, wie mit einer konfliktuellen oder auch kongruenten Vielfalt von Feldlogiken und ›(Spiel-)Einsätzen‹, mit denen sich Schriftsteller konfrontiert sehen, umgegangen wird. Gebrochene und widersprüchliche literarische Strategien sind Ausdruck eines »Mißverhältnisses zwischen objektiven Strukturen und einverleibten Strukturen« 87 und lassen sich daher als »Umstellungsstrategien« 88 reformulieren. Es handelt sich oft um zerrissene, in sich widersprüchliche, aber feldstrukturell erklärbare habituelle ›Antworten‹ auf die mit den Transformationen des literarischen Feldes gestellten strukturellen Anforderungen: so zum Beispiel auf die Frage, wie die unterschiedlichen ›Territorien‹ oder Sektoren, in denen sich ein Autor situiert, ihm erlauben oder ihn drängen, verschiedene Kapitalsorten zu akkumulieren und zu synthetisieren.89
87 Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt a. M. 2001, S. 204–209 (»Mißverhältnisse, Mißklänge, Mißlingen«), hier S. 204. 88 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 210–276. Bourdieu unterscheidet »Vertikalverlagerungen innerhalb desselben vertikalen Raumsektors« und »Transversalverlagerungen, die den Übergang von einem Feld zum anderen implizieren« (S. 220). Bei den Umstellungsstrategien, die auf die Transformationen im Mittelbereich reagieren, handelt es sich vor allem um Transversalverlagerungen, d. h. um Kompromissbildungen mit dem journalistisch-massenmedialen und dem ökonomischen Feld. 89 Vgl. Boschetti: L’explication du changement, S. 110 f.
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2 Literarische Umstellungsstrategien Die literarischen Umstellungsstrategien, die innerhalb des Mittelbereichs dominant wurden, lassen sich allgemein als Praxis einer flexibel gemischten und multiplen Autorschaft zwischen den Polen des kulturellen und des ökonomischen Kapitals charakterisieren. Diese ›gemischten‹ Praxisformen als Ausdruck spezifischer Kompromissbildungen prägen sich bei den Schriftstellern unterschiedlich aus, je nach Habitusgenese, Laufbahn und Stellung im Feld. Dabei geht es in allen Fällen um den Umgang mit Einzelheiten, die sich nicht mehr unmittelbar über Sinngehalte dauerhaft synthetisieren und transzendieren lassen. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit der in Einzelheiten zerfallenden Welt steht die Notwendigkeit eines besonderen Umgangs mit der Zeit, genauer: mit der Gegenwart. So stellen alle literarischen Umstellungsstrategien im Mittelbereich des literarischen Feldes im Kern ein Ringen um Präsenz und Relevanz dar.
2.1 Brückenschläge vom autonomen Subfeld in den Mittelbereich: Die Strategie des flexiblen »Eigensinns« Eine der ersten literarischen Strategien, welche sich in Reaktion auf die Expansion des Mittelbereichs auf dem ›Territorium‹ der Hochkultur ausprägten, war die des ästhetischen und intellektuellen ›Eigensinns‹. Es ist kein Zufall, dass diese praktische Vernunft zwei Autoren entwickelten – Hans Magnus Enzensberger und Alexander Kluge –, die sich im Rahmen der Kritischen Theorie früh mit der »Bewusstseinsindustrie« auseinandergesetzt und sich in der Nachfolge Brechts und Benjamins den ökonomisch-medialen Transformationen der Kunst(re-)produktion aktiv zugewendet hatten.90 Die habituelle Strategie des ästhetisch-intellektuellen ›Eigensinns‹ entstand aus der an Benjamin geschulten reflexiven Einsicht in den Verlust der Aura des Kunstwerkes und in die veränderte Stellung des Autors als Produzent in ökonomisch-medialen Verhältnissen. Mit ihr ging eine Abwendung von ideologisch fixierten, normativen wie
90 Vgl. Bertolt Brechts Schriften zur Radiotheorie, Walter Benjamins Aufsätze Der Autor als Produzent und Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Hans Magnus Enzensbergers Schriften zur Bewußtseins-Industrie und Baukasten zu einer Theorie der Medien sowie die zahlreichen medientheoretischen und -soziologischen Schriften von Alexander Kluge (z. B. in: Klaus von Bismarck, Günter Gaus, Alexander Kluge, Ferdinand Sieger: Industrialisierung des Bewußtseins. Eine kritische Auseinandersetzung mit den »neuen« Medien. München 1985, S. 51–129).
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auch proto-normalistischen Positionsnahmen einher, wie sich symptomatisch bereits in der Kursbuch-Kontroverse zwischen Enzensberger und Weiss 1966 zeigte (s. o., Fallstudie 1). Jenseits der inhaltlichen Auseinandersetzung lässt sich in dieser Kontroverse der Beginn der langfristigen Entwicklung einer habituellen Antwort von Seiten der im kunstautonomen Subfeld positionierten Akteure auf die Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs erkennen. Die Schriftsteller und Intellektuellen mit ihren traditionellen, universal-repräsentativen Ansprüchen wurden mit einem Zerfall der Welt in nicht mehr mit einem transzendenten Sinn dauerhaft zu synthetisierende Einzelheiten in der ›irdischen‹, sozialen Zeit konfrontiert.91 Enzensberger und Kluge versuchten, diese ›Einzelheiten‹ mit ihrer wechselhaften, medial vermittelten Oberflächenästhetik, der die erste Popliteratur-Generation rund um Brinkmann mit neuen Schreibweisen der Gegenwart Rechnung trug, nochmals mit einer philosophischen und ästhetisch-negativen Theorie reflexiv einzuholen: mit einer Versenkung in die immer schneller auf- und abtretenden materiellen Einzelheiten der Kulturgeschichte, dem Verzicht auf moralisch-existenzielle und explizit politisch engagierte Positionsnahmen, dem Bekenntnis zur Normalität des (kleinbürgerlichen) Mittelmaßes und schließlich dem ›Verschwinden‹ der Dinge im allegorischen Verweis, wie Norbert Bolz aus wahlverwandtschaftlicher Perspektive bei den beiden Autoren beobachtet.92 Bolz hat Mitte der achtziger Jahre die Strategie des »Eigensinns« bei Enzensberger und Kluge nochmals in den Horizont einer philosophischen Deutung mit politisch-theologischer Ausrichtung gestellt. Zunächst sieht er im »Eigensinn« eine intellektuelle Strategie der Posthistoire als »Primat der Intelligenz vor der Gesinnung« (40), worin die Wendung gegen die »Gesinnungsästhetik« von 1990 antizipiert ist. Der »Eigensinn« Enzensbergers und Kluges stehe für eine technische Intelligenz, die sich »nur funktional spezifizieren« lasse (ebd.). Deren »Haltung entspannter Aufmerksamkeit«, bei Kluge durch das »genaue Studium«, bei Enzensberger durch »Chuzpe« vermittelt, sei eine »unversiegbare Quelle der Alterität« (41). In der programmatisch verfolgten Inkonsequenz zeige sich eine »Spur der Freiheit« (ebd.). Zwar situiere sich der Autor mit »Eigensinn« inmitten der Kleinbürger (vgl. Enzensbergers Mittelmaß und Wahn [1988]) – dies aber mit reflexivem Bewusstsein, wodurch er sich über das mittelmäßige Kleinbürgertum erhebe (vgl. 42). Seine Aufmerksamkeit richte sich auf wechselnde, heterogene »Einzelheiten« als »Medium des neuen poeta doctus«,93 in denen sich »das Konkrete in sich selbst auflöst« (41). Der »Eigensinn« sei stets »à la hauteur«, was aber nicht heiße, mit der Mode zu gehen, sondern in ihr die »Signatur der Gegenwart« zu entziffern (42). Die Wahrnehmung der »Wörter zwischen Ornament und Warenmarke dient ihm zur Konstruktion der Natur-
91 Vgl. Enzensbergers Essaysammlungen: Einzelheiten. 92 Norbert Bolz: Eigensinn. Zur politisch-theologischen Poetik Hans Magnus Enzensbergers und Alexander Kluges. In: Jochen Hörisch, Hubert Winkels (Hg.): Das schnelle Altern der neuesten Literatur. Düsseldorf 1985, S. 40–59. Nachweise im Folgenden im Fließtext. 93 Vgl. zum »poeta doctus« auch unten: II. 2.2.
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geschichte des Bestehenden. Als Erfinder der Symptome a priori liest er die Verfallsbedingungen der Gegenwart an Alltäglichkeiten der sprachlichen Oberfläche ab« (43). Dabei seien Lyrik und Essay einander entsprechende Formen einer »zum äußersten gehenden Subjektivität, die, frei von Innerlichkeit, nichts ist als Agentur von Objektivem: Denken als camera obscura« (44). Schließlich zeigt sich für Bolz in Enzensbergers »Eigensinn« die »Haltung des Allegorikers der historischen Dingwelt, genauer: des Emblematikers der Waren« (ebd.). Dessen Produktionsverfahren, in Anlehnung an das Gedicht »Schaum« benannt, sei der anti-apokalyptische Affront eines Artisten in der Posthistoire (vgl. 45) und doch zeige sich der »Eigensinn« als ›immanente Transzendenz‹: »Was ihn [Enzensberger] aber je und je über das hic et nunc hinausträgt, heißt Eigensinn. Ist Eigensinn der Mantel, in den sich das Subjekt der Geschichte gegen den Sturm des Fortschritts schützend hüllt, so studiert Kluge seine historische Musterung, Enzensberger versteckt sich im warmen Futter« (47). »Eigensinn« situiert Bolz also innerhalb der Normalität des Mittelmaßes. Er stelle aber einen soziologischen »Atopos« dar, der »die unverbrauchten Energien der Normalität, wie sie das Kleinbürgertum als experimentelle Klasse par excellence mobilisiert«, kodifiziere (ebd.). Was sich der Soziologie entzieht, wüssten Kluge und Enzensberger zu kartografieren. Im »Eigensinn« zeige sich nicht nur die Lesbarkeit des heterogen Einzelnen, sondern auch der »Unsinn der Geschichte« (50) und »das unbewusste Wissen des historischen Subjekts« (51) als Kategorien der Posthistoire. Hier erweise sich das »Ende ohne Ende«, die Apokalypse als reproduziertes Produkt der Bewusstseinsindustrie (vgl. 52 f.). Damit kann Bolz Benjamins ›Engel der Katastrophen-Geschichte‹ mit Enzensbergers »Furie des Verschwindens« zusammenschließen (vgl. 53): Im Posthistoire werde die »Aufmerksamkeit« zum »natürliche[n] Gebet« (54) und »das Brausen des Verschwindens selbst das Bleibende, das hybride Immermehr des Fortschritts, das Bleiben des Vergehens« (55). Kluges ›Einsammeln der Einzelheiten aus der Zerstreuung‹ wird für Bolz gar zur »messianische[n] Geste« (57).
Der von Kluge und Enzensberger ostentativ beanspruchte und von Bolz philosophisch verklärte »Eigensinn« ist in feldanalytischer Perspektive nichts anderes als die spezifische Kompromissbildung eines im kunstautonomen Subfeld entstandenen und nun auf die alltagskulturellen Transformationen der Gesellschaft reagierenden Habitus, um à la hauteur der Deutung der sozialen Zeit zu bleiben. Die intensivierte horizontale Wechselbeziehung zwischen eingeschränkter und massenhafter Produktion wird hier von Seiten des kunstautonom konditionierten Habitus negativ in einer von Bolz behaupteten ›immanenten Transzendenz‹ kontrolliert. Der artistisch gespaltene »Eigensinn«, der sich im Gestus einer souveränen Reflexion im Bereich des normalistischen Mittelmaßes selbst verortet, stellt feldanalytisch einen souverän kontrollierten oszillierenden Brückenschlag vom kunstautonomen Subfeld in den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich dar. Der Verweis auf ein transzendentales oder gar messianisches Moment des »Eigensinns« ist heute nur noch, wenn überhaupt, in ähnlich konditionierten Produzenten- und Rezipientenkreisen glaubwürdig, die wie Bolz selbst aus dem autonomen Subfeld stammen, sich entsprechende Dispositionen zur Entschlüsselung und Synthetisierung der verschiedenen Kodes erworben haben und sich auf dieser Grundlage als ›Brückenbauer‹, als ästhetische ›Ingenieure‹ des medialisierten und ökonomisierten Mittelbereichs verstehen.
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Bolz’ philosophische ›Rettung‹ des »Eigensinns« als artistische Reflexion des »Allegoriker[s] der historischen Dingwelt« (44) inmitten einer Welt des Mittelmaßes ist noch ganz geprägt vom Dispositiv der Postmoderne und der Posthistoire der achtziger Jahre. Dieses änderte sich in den neunziger Jahren zugunsten einer Hegemonie der Dingwelt, einer Oberflächenästhetik und eines neuen Realismus, gleichwohl Vertreter einer Literatur der ›modernisierten Moderne‹ – wie z. B. W. G. Sebald in seinen Romanen Die Ringe des Saturn (1995) und Austerlitz (2001) – diese Position einer ›allegorischen Naturgeschichte der bestehenden Dingwelt‹ erfolgreich weiterentwickelten.94 An Enzensbergers Habitus des »Eigensinns«, allerdings in seiner ›säkularisierten‹ Deutung als flexible Kontingenz-Kompetenz, orientierten sich dann insbesondere die neuen Autoren der Popliteratur (so etwa Florian Illies als Sprachrohr der sogenannten »Generation Golf«),95 während sie den engagierten Autoren der Gruppe 47 und allgemein dem ›Dispositiv 1968‹ mit strikter Ablehnung oder gar Verachtung begegneten. Diese säkularisierten Erben des auratischen »Eigensinns«, die Journalisten-Schriftsteller oder literarischen »Symbolanalytiker«, beerbten insbesondere die »Freiheit der Inkonsequenz« und die »entspannte Aufmerksamkeit« für die Einzelheiten der Dingwelt, deren »Signatur der Gegenwart« (Bolz) sich einigen als ›Naturgeschichte des Bestehenden‹ in einer Archiv- und Listenordnung zeigte.96 Die säkularisierende Weiterführung dieses Erbes der ›souveränen Inkonsequenz‹ war für einen großen Teil der neuen ästhetischen Unterhaltungsliteratur der neunziger Jahre charakteristisch, da die symbolischen Kontingenz-Kompetenzen den Anforderungen der gesteigerten horizontalen Konkurrenzsituation in den Ungewissheitszonen des Mittelbereichs entsprechen. Dabei fiel mit der habituellen Herkunft aus dem kunstautonomen Subfeld – die neuen Schriftsteller und literarischen »Symbolanalytiker« stammen in der Regel aus journalistischen und medialen Berufen – jede traditionelle Form der Transzendierung weg. Ersetzt wurde die allegorische Bedeutung der
94 Vgl. dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.2.3. 95 Florian Illies: Generation Golf. Eine Inspektion. Frankfurt a. M. 2000. Anlässlich des 80. Geburtstages von Enzensberger feierte Illies in der Zeit den »kosmopolitischsten deutschen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts«: »Er hasst Ideologien, Bekenntnisse und ›Standpunkte‹ und singt das Hohelied des Realismus. […] Seine beschwingte Saumseligkeit ist den Prinzipienreitern ein Gräuel. Es ist ein großes Glück für unser Land, das [sic] sie ihn nie interessiert haben« (F. I.: Keiner von uns. In: Die Zeit, 05. 11. 2009; zit. n. Joch: Medien der Flexibilität, S. 249). Zum Versuch einer feldanalytischen Analyse dieses für den Wirtschaftsflügel des literarischen Mittelbereichs exemplarischen Buches siehe Tom Karasek: Generation Golf: Die Diagnose als Symptom. Bielefeld 2008. 96 Vgl. Moritz Baßler: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002.
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›Naturgeschichte der Dingwelt‹ durch Verweise auf Zirkularität, Listen, Oberflächen und Erfahrungen der immanenten Leere.
2.2 Brückenschläge vom Subfeld der Massenproduktion in den Mittelbereich: Skandalisierung, Ereignisinszenierung und global zirkulierende Formate Wenn von Seiten des kunstautonomen ›Territoriums‹ (nomos) eine Antwort auf die skizzierten Transformationen die Strategie des auratischen ›Eigensinns‹, d. h. die flexible Positionsnahme auf der Grundlage einer theoriegeleiteten Transzendierung darstellte, lässt sich von der Seite der ökonomisch dominierten Massenproduktion ein wachsendes Selbstverständnis der populären Kultur als eine neue Form kultureller Repräsentanz feststellen.97 Die an Einfluss gewinnende symbolische Geltung populärer Kultur erweist sich in der milieuübergreifenden Durchsetzung gemeinsam geteilter Wahrnehmungs- und Deutungsmuster der Wirklichkeit. Diese milieuübergreifenden ›Brückenschläge‹ vom Subfeld der kulturellen Massenproduktion, die eine subjektiv erlebbare Teilhabe und Kommunikation herstellen, zeigen sich besonders deutlich in Form von Skandalisierungen sowie in der Herstellung von »Erlebnissen«, die auch zur Expansion der symbolischen Geltung des literarischen Mittelbereichs wesentlich beigetragen haben. »Drei Merkmale zeichnen den Skandal aus: erstens, eine moralische Verfehlung, gleichviel, ob von hochgestellten Personen oder Institutionen begangen oder nicht, zweitens, eine Enthüllung, durch die die Verfehlung ans Licht gebracht wird, und drittens, eine Empörung, die sich aufgrund der Enthüllung einstellt«.98 Die Skandalisierung kommt nicht ohne eine Matrix (proto-)normalistischer Urteile aus. Geht sie von der Literatur aus, produziert sie interdiskursive Brückenschläge zum allgemeinen Sozialraum und zum politischen Feld. In der jeweils hergestellten Öffentlichkeit werden die (proto-)normalistischen Grenzen und Abweichungen verhandelt. Die moralisierende Skandalisierung steht einerseits in einer Traditionslinie der literarischen Debatten mit universaler, gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Die massenmedial lancierte Skandalisierung, die weniger auf eine Diskursivierung als auf ›Enthüllung‹ und ›Empörung‹ aus ist, bewirkt aber im Unterschied zu dieser Traditionslinie nur kurzfristig einen gemeinsamen Bezugspunkt für eine öffentliche Debatte. Alle von der Literatur ausgehenden großen Debatten mit gesamtgesellschaftlicher Relevanz – insbesondere diejenigen seit 1989/ 90: sei es der »deutsch-deutsche Literaturstreit« um Christa Wolf (1990), die Debatten um Botho Strauß’ Essay Anschwellender Bocksgesang (1993), Günter Grass’ Roman Ein weites Feld
97 Vgl. dazu oben: Erster Teil, I. 2. 98 Gilcher-Holtey: Schriftsteller als Intellektuelle, S. 87, mit Bezug auf Hondrich: Enthüllung und Entrüstung, S. 59.
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(1995), Martin Walsers Friedenspreisrede (1998) oder Peter Handkes Haltung zum Serbienkrieg der NATO (1999) – wurden nicht oder nicht zentral in literarischer, sondern in moralischer, gesellschaftlicher und politischer Hinsicht geführt. Dabei spielte das Moment der inszenierten Skandalisierung von Literatur, der Herstellung einer Teilhabe an einer massenmedial gestützten ›Enthüllung‹, eine maßgebliche Rolle.99 In anderen Fällen verband sich die Skandalisierung mit der Inszenierung eines Buches als ›Ereignis‹, hinter der mehr oder weniger offensichtliche Marketingstrategien stehen (z. B. im Falle von Charlotte Roches Feuchtgebiete [2008] oder Helene Hegemanns Axolotl Roadkill [2010]). Obwohl nicht trennscharf zu unterscheiden und sich vielfach überlagernd, besteht die Skandalisierung in der Herstellung eines diskursiven ›Ereignisses‹, das proto- und flexibelnormalistisch auf moralische Werte rekurriert, während die Inszenierung eines ›Events‹ mehr auf den Unterhaltungsbereich verweist, bei dem die kurzfristige, aber iterative Herstellung symbolischer Aufmerksamkeit, subjektiver Teilhabe und nicht zuletzt die ökonomische Gewinnmaximierung angestrebt wird. Das ›Event‹ steht für den Zusammenhang zwischen Erlebnis und inszeniertem Ereignis. Das ›Erlebnis‹ wird zu einem ›inneren Ereignis‹ und das ›Event‹ stellt den Versuch dar, »dieses innere Ereignis durch die äußere Inszenierung hervorzurufen«.100 Hierbei spielen die Faktoren Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Interaktion eine zentrale Rolle.101 Die Inszenierungen von ›Ereignissen‹ schließen an die Kernbestimmungen einer »Erlebnisgesellschaft« an: eine »Gesellschaft, die sich selbst nach den Prinzipien des Erlebnismarketings organisiert«.102 Personen, Dinge und Ereignisse erhalten nur dann einen Kultwert, wenn ihnen ein Erlebniswert zukommt. Dieser wird durch Marketingstrategien hergestellt oder zumindest befördert. Dabei spielt die Zeit-Bestimmung eine zentrale Rolle, denn der Erlebniskonsum kann nur durch eine stetige Verkürzung oder Überlagerung von Erlebnisepisoden intensiviert werden, so dass mit Schulze das »Event« in zeitlicher Hinsicht bestimmt werden kann als »[m]ehr Ereignisse pro Zeiteinheit«.103
Die neue, über die Anzahl der Ereignisse bestimmte Zeiteinheit wie auch die zentralen Faktoren des Events – Einzigartigkeit, Episodenhaftigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Interaktion – sind für den Brückenschlag zwischen dem literarischen Mittelbereich und dem Bereich der populärkulturellen Massenproduktion bestimmend. Ein zentraler Grund dafür, dass das literarische Buch als Leitmedium abgesetzt wurde und in der verschärften Konkurrenz unter den
99 Vgl. hierzu Johann Holzner, Stefan Neuhaus (Hg.): Literatur als Skandal. Fälle ─ Funktionen ─ Folgen. Göttingen 2009; u. Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur, S. 78–108 (Kap.: »Gegenwartsliteratur als Skandal«). 100 [Art.] »Event«. In: Schütz u. a. (Hg.): Das BuchMarktBuch, S. 119. 101 Vgl. Gerhard Schulze: Die Zukunft der Erlebnisgesellschaft. In: Oliver Nickel (Hg.): Eventmarketing. Grundlagen und Erfolgsbeispiele. München 1998, S. 303–316; zit. n. Stephan Porombka: Slam, Pop und Posse. Literatur in der Eventkultur. In: Harder (Hg.): Bestandsaufnahmen, S. 27–42, hier S. 37. 102 Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 34, mit Bezug auf Schulze: Die Zukunft der Erlebnisgesellschaft. 103 Vgl. Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 34–36; Zitat aus Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventkultur. Frankfurt a. M., New York 1999, S. 80.
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digitalen Medien in den achtziger Jahren zunehmend unterlag, bestand in der ›Trägheit‹ des literarischen Konsums wie auch des Buchmediums, das sich mit der Häufung der ›Ereignisse pro Zeiteinheit‹ und mit der so expandierenden ›Leitwährung‹ des ›Kultwerts‹ schwer tat.104 Dies änderte sich deutlich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als immer häufiger Einzellesungen, Literaturfestivals oder allgemeine Festivals mit literarischen Einlagen und auch die einzelne Bücher selbst als ›Ereignis‹ inszeniert wurden. Die Vermischung eines kulturellen Erlebnisses mit der Logik des Marktes lässt sich besonders deutlich am Durchbruch der Slam Poetry festmachen.105 Die Slam Poetry und ihre Performance, der Poetry Slam-Wettbewerb, kamen als Pop-Idee aus den USA und setzten sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre auch in Deutschland durch.106 Slams, Lyrik-Performances und literarische Lesungen wurden plötzlich in Städten populär. Ziel der Spoken-Word-Events war es, die Literatur wieder in die Clubs und Bars des Nachtlebens zu führen. Dabei ging es weniger um literarische Qualität als um Performance, den Auftritt, die Inszenierung, den Live-Act und Gemeinschaftsrituale (vgl. 31). Von den herkömmlichen Lesungen unterscheiden sich Poetry Slams nicht nur durch ihren (Party-)Ort, sondern vor allem auch durch ihre zeitliche Bestimmung: Wie allgemein für den Mittelbereich und die ästhetische Unterhaltungsliteratur charakteristisch, bewegen sich die Akteure im Hier und Jetzt, setzen auf das flüchtige Wort und auf die Improvisation: »Spontaneität, Alltagsnähe, Gegenwartsbezug, Sprachwitz, Lustprinzip und Unmittelbarkeit spielen darin eine weit größere Rolle als die abstrakte, auf ein Expertenpublikum zielende Kunstanstrengung«.107 Es kommt also auf die Präsenz, auf den persönlichen Einsatz des jeweiligen Sprachkünstlers in direkter Abhängigkeit von der Gunst des Publikums an, wodurch sich das Wettbewerbsprinzip auswirkt. Dieses Wettbewerbsprinzip setzt sich durch den Ereignis- und Präsenzcharakter, d. h. durch eine unmittelbar erlebbare Zeitform, von den abstrakten Wettbewerbsbedingungen des allgemeinen Literaturbetriebs ab (vgl. 29). Für Stephan Porombka, Dozent an Hildesheimer Studiengang für »Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus« und daher gewissermaßen Vertreter des ›Wirtschaftsflügels‹ im literarischen Mittelbereich, gab die Slam Poetry der Gegenwartsliteratur nach ihrer ›Starre‹ Anfang der neunziger Jahre die entscheidenden Impulse zu deren Belebung. Diese Belebung erfolgte aus seiner Sicht mittels einer erfolgreichen Steigerung des Kultpotentials der Literatur durch Marketing und Strategien des Eventmanagements (vgl. 34, 37 f.). So ist der Poetry Slam für ihn ein ›Ereignis‹ par excellence, da er alle vier von Schulze genannten Anforderungen für ein ›Event‹ erfüllt: Die Einzigartigkeit wird durch die Konzentration auf das ›Hier und Jetzt‹ gewährleistet. Episodenhaft ist der Poetry-Slam, weil er zeitlich und räumlich begrenzt stattfindet. Zudem orientiert er sich am Wettbewerb, wodurch er eine Spannungskurve aufbaut. Gemeinschaftlichkeit und Interaktion prägen ihn schließlich
104 Vgl. Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 36. 105 Vgl. zum Folgenden ebd.; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 106 Vgl. ebd., S. 29–31, mit Bezug auf Andreas Neumeister, Marcel Hartges: Tecstasy. In: A. N., M. H. (Hg.): Poetry! Slam! Texte der Pop-Fraktion. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 13–15, hier S. 13. 107 Neumeister, Hartges: Tecstasy, S. 14; vgl. Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 28.
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in einem besonderen Maße, weil bei einem Poetry Slam mehrere Vortragende und das Publikum interagieren (vgl. 38).
Als Events stehen Poetry Slams und Literaturlesungen für einen seriell intensivierten und zeitlich verkürzten Literaturkonsum, bei dem sich mehrere Erlebnisepisoden überlagern. 108 Durch diese intensivierten Zeitbestimmungen kommen die mit dem Brückenschlag zur kulturellen Massenproduktion verbundenen ökonomischen und medialen Bestimmungen zum Ausdruck.109 An dieser Stelle zeigt sich auch die Verbindung zur Popliteratur, die nicht nur häufig (Pop-)Events selbst thematisiert, sondern auch die zeitliche Struktur der gehäuften Erlebnisepisoden und des geschlossenen Medienkreislaufes durch neue Formen der Narration, Oberflächenästhetiken, Diskurskopplungen und Medienwechsel umsetzt.110 Eine andere Art der Wechselwirkung zwischen dem Mittelbereich und dem Feld der Massenproduktion betrifft die international zirkulierenden Formate oder Gattungsformen. Die ästhetisch ambitionierte Unterhaltungs- oder »Durchschnittsliteratur« mit Anspruch auf eine kulturelle Repräsentanz, die sektorale Legitimität übersteigt, orientiert sich tendenziell an einer ökonomisch basierten world literature, die mittels erprobter Formate – wie denen des historischen, fantastischen, Familien-, Campus- oder Kriminalromans – und mittels diskursiv-thematischer ›Halbfabrikate‹ seriell variiert hergestellt wird und global zirkuliert.111 Die world literature oder world fiction, die als Buchhandelssegment eine konkrete Gestalt annimmt, kommt auch Forderungen der Literaturkritik und Debatten Anfang der neunziger Jahre entgegen, in denen sowohl ästhetische Qualität im Kontext eines neues Realismus als auch eine neue
108 Vgl. Porombka: Slam, Pop und Posse, S. 37 f. 109 »Mit ihrer Ausrichtung am Wettbewerb haben die Slams auf geradezu allegorische Weise die gesellschaftliche Ausgangslage der Literatur in den neunziger Jahren vorgeführt. Hier wurde der Konkurrenzdruck inszeniert, unter dem sie in Bezug auf die Erzählkraft und die Erlebnismacht der elektronischen und digitalen Medien gestanden hat und immer noch steht. Gezeigt wurde mit jedem Event, mit jedem Auftritt vor dem Publikum, welcher Ausweg der Literatur bleibt, wenn sie unter diesem Druck bestehen will: die radikale Inszenierung, die Orientierung am Showgeschäft und die reflexive Ausrichtung an Moden und Trends« (ebd., S. 39). 110 Dies lässt sich insbesondere an den multimedialen Produktionen von Benjamin von Stuckrad-Barre zeigen (siehe hierzu unten: Zweiter Teil, I. 3.1.). Porombka (ebd., S. 41, Anm. 46) führt Stuckrad-Barres Livealbum (1999) als Beispiel für den Show-Charakter eines ironisch an der Unterhaltungsindustrie orientierten Literaturevents im Medienwechsel zur CD an (vgl. Liverecordings. Gelesen von Benjamin v. Stuckrad-Barre. Mit Gastauftritteinsprengseln von Christian Kracht, Harald Schmidt u. Christian Ulmen. Audio-CD. München 1999). 111 Vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 248 f.
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Unterhaltsamkeit gefordert wurden. Der literarische Wert der Gegenwartsliteratur erwies sich im Falle dieser neuen Erzählliteratur über die Anschließbarkeit an international zirkulierende Plots und narrative Grundmuster, insbesondere der short story. Hier zeigen sich die komplexen Wechselverhältnisse nationaler und internationaler sowie kultureller und ökonomischer Bestimmungen.112 Diejenigen neuen deutschsprachigen ›Erfolgsbücher‹, denen der Anschluss an international erfolgreiche Muster gelang – so zum Beispiel in Ingo Schulzes Simple Storys oder Judith Hermanns Sommerhaus, später (beide 1998) die Verwendung von amerikanischen Short Story-Elementen eines Ernest Hemingway oder Raymond Carver –, hatten gute Aussichten, auch international zu einem Erfolgsbuch zu werden, d. h. den Brückenschlag oder die Kompromissbildung zwischen kulturellem und ökonomischem Kapital im Mittelbereich durch den Anschluss an eine ökonomisch gestützte internationale Zirkulation von diskursiv-thematischen ›Halbfabrikaten‹ erfolgreich umzusetzen.113 Die internationalen populären Bestseller, die durch eine Doppelkodierung sowohl beim ›Durchschnittsleser‹ ohne spezifische Vorkenntnisse, im Subfeld der Massenproduktion, als auch bei den spezialisierten Lesern im Subfeld der eingeschränkten Produktion Erfolg haben und häufig in der Tradition des unterhaltsamen postmodernen Romans stehen – wie zum Beispiel Patrick Süskinds Das Parfum (1985) oder Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) –, sind in der Mitte des Nobilitierungssektors situiert. Sie können sich aufgrund ihrer nobilitierten Stellung der permanenten Konkurrenz im flexibel ökonomisierten Mittelbereich entziehen.114
2.3 Im Inneren des Mittelbereichs: Das Ringen um Präsenz und Relevanz Der Mittelbereich ist von Wechselwirkungen, Überlagerungen und hybriden Kompromissformen zwischen kulturell-autonomen und ökonomisch-heteronomen Bestimmungen geprägt. Dies zeigt sich insbesondere bei den Überschneidungen zwischen Literatur, Journalismus und Mediendiskursen, wodurch sich sowohl ästhetische, der Zeit enthobene, als auch in der sozialen Zeit liegende Wertordnungen und diskursive Elemente überlagern oder vermischen. Litera-
112 Vgl. oben: Erster Teil, I. 1. 113 Vgl. Thomas Kraft: Debütantenball. Über das Glück und Unglück, ein erstes Buch geschrieben zu haben. In: ndl 2 (2000), S. 132–146, hier S. 140. Zitiert wird hier auch die ernüchterne These, dass »die Krise der deutschsprachigen Literatur nur deshalb beendet ist, weil die Preise für Lizenzliteratur explodiert sind« (ebd., S. 144). 114 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.
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risch kommen diese verstärkten Wechselwirkungen, Überlagerungen und Vermischungen in verschiedenen neuen »Schreibweisen der Gegenwart« zum Ausdruck, die die Popliteratur im engeren Sinne115, und zudem die Literatur des Mittelbereichs im Allgemeinen prägen. Mit der intensivierten Wechselwirkung ist zweitens ein sowohl zeitlich als auch ästhetisch verkürzter Abstand zwischen Produzenten und Rezipienten verbunden. Eine der Hauptursachen dieser Distanzverkürzung liegt gerade in der wachsenden technisch-formalen Vermittlung, in einer Medialisierung, die die Wahrnehmungs- und Geschmacksmuster über Formate angleicht und in rezeptiver sowie zeitlicher und räumlicher Hinsicht die Vermittlungswege verkürzt. Die Koppelung der Medialisierung mit der Ökonomisierung verursacht beschleunigte Aufmerksamkeitszyklen, die wiederum der zeitlich gesteigerten Abfolge der Produktionszyklen von »Kultautoren« und ihren »Erfolgsbüchern« entsprechen. Zum ästhetisch wie auch zeitlich verkürzten Abstand zwischen Produktion und Rezeption kommt drittens eine den ganzen Mittelbereich prägende Spannung zwischen »Authentizität« und »Inszenierung« hinzu.116 Beide Parameter stellen Existenz- und Präsenzformen unter medial-ökonomischen Bedingungen dar, wobei sich »Authentizität« als eine präsentisch auratisierte, d. h. verschleierte Ausblendung, und »Inszenierung« als reflexive Spiegelung der medialen und ökonomischen Vermittlungsformen verstehen lässt. In dieses Spannungsfeld zwischen einer Ausblendung der Bedingungen durch Hyperpräsenz (das ›Authentische‹) einerseits und ihrer reflexiven Spiegelung (die ›Inszenierung‹) andererseits werden sämtliche Phänomene der zumeist von der Literaturkritik ins Leben gerufenen Gruppierungen (»Generation Golf«, die neuen »Popliteraten«, »das Fräuleinwunder« etc.) oder ›Kultautoren‹ (wie z. B. Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad-Barre, Judith Hermann, Benjamin Lebert, Daniel Kehlmann, Charlotte Roche etc.) eingeordnet. Die zwischen »Authentizität« und »Inszenierung« situierten Gruppierungen und Kultautoren bewegen sich letztlich in einem Wechselverhältnis zwischen formalisierten Techniken (die Herstellung von Ordnungs-, Ritual- und Mythosformen) und der Produktion von ›Botschaften‹.117 Ein zentrales Beispiel
115 Vgl. Eckhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003. 116 Dem Umgang mit dieser Spannung entspricht die für den »neuen Geist des Kapitalismus« (Boltanski, Chiapello) charakteristische Vermarktung von Werten, die bislang außerhalb der ökonomischen Wertordnung standen (vgl. Einleitung oben). 117 Vgl. Ilse Nagelschmidt, Lea Müller-Dannhausen, Sandy Feldbacher (Hg.): Zwischen Inszenierung und Botschaft. Zur Literatur deutschsprachiger Autorinnen ab Ende des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006.
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hierfür ist die für die neue Popliteratur charakteristische Technik der Ironie als ›säkularisierte‹ Alternative zur immanenten Transzendenzbewegung des auratisierten ›Eigensinns‹ eines Enzensberger oder Kluge. Die Ironie dient hier als literarische Navigationstechnik im Mittelbereich, als Technik einer symbolischen Kontingenz-Kompetenz, die es erlaubt, die Elemente einer diskursiven Pluralität in der Horizontalen (›Einzelheiten‹) in unendlichen, immanent oszillierenden Bewegungen ephemer zu synthetisieren. Dabei verweist die doppelte Stimme der Ironie nicht mehr auf ein souveränes Autor-Subjekt, das kontrollierte Brücken in die Ungewissheitszonen schlagen könnte. Vielmehr konstituiert sie sich innerhalb des flexibilisierten Mittelbereiches als oszillierende Stimme zwischen dem kulturellen und dem ökonomischen Pol: Ökonomisch bestimmt ist sie insofern, als sie das Marktgeschehen in eine endlose Affirmation des Neuen und in seine anschließende Verabschiedung als ›Veralterung‹ übersetzt. Auf der anderen Seite verweist die doppelte Stimme der Ironie mit ihrem Synthese- und Transzendierungsversprechen weiterhin auf den Pol kultureller Autonomie, den sie demonstrativ nicht mehr als gesichertes Fundament in Anspruch nehmen will – allerdings auch objektiv nicht mehr kann. Viertens schließlich geht es im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich der beschleunigten Produktion und Entwertung der ›Neuerscheinungen‹ um permanente, regulative Subjektkonstitutionen sowie um das Ringen um eine länger- und langfristige Existenz und Relevanz von Autorpositionen. Wer hier das Nachsehen hat, bleibt ›Debütant‹, eine vorübergehende Einzelerscheinung. Die gesteigerte Dynamik einer iterativen Subjektkonstitution, die bereits in der Neuen Subjektivität der siebziger Jahre zum Ausdruck kam und in den neunziger Jahren zunehmend in den gesellschaftlichen ›Verkehr der Einzelheiten‹ ohne Transzendenzaussicht eingebunden ist, lässt sich besonders gut mit Jürgen Links Ansatz des flexiblen Normalismus und dem Narrativ der »(nicht)normalen Fahrt« erfassen.118 Das zentrale Modell zur Veranschaulichung einer normalistischen Gesellschaft ist »das moderne technische Verkehrssystem mit seiner Standardisierung und seiner Massenhaftigkeit, seiner Durchschnittlichkeit und gleichzeitigen Unfallgefahr«.119 Das Narrativ der »(nicht)normalen Fahrt« erzählt im Unterschied zum Bildungsroman die diskontinuierliche, auf Kontingenz bezogene Zickzack-Laufbahn des modernen, charakterlosen Individuums als normalistische Monade: Sein ateleologisch verlaufendes Leben bewegt sich in einem Massenfeld von (statistischen)
118 Zu diesem flexibel normalistischen Narrationstyp siehe Ute Gerhard, Walter Grünzweig, Jürgen Link, Rolf Parr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten: Faszinationen eines modernen Narrationstyps. Heidelberg 2003. 119 Gerhard, Grünzweig, Link, Parr: Einleitung. In: Ebd., S. 7–17, hier S. 13.
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Durchschnittswerten. Die Wendepunkte in dieser ›Fahrt‹ des modernen und postmodernen Individuums als ›Durchschnittsmensch‹ markieren Abweichungen und (Wieder-)Annäherungen zum Mittelbereich des ›Normalen‹. Dieses Narrativ wird von Link als »Faszinationstyp«, als ein zur Dichotomie von Struktur und Thema quer stehendes literarisches Modell verstanden.120 In feldanalytischer Perspektive lässt sich dieses Modells dagegen in seiner Struktur als ein insbesondere für den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich zentrales literarisches Verfahren verstehen: als ein Kampf um Sichtbarkeit, ein Ringen um eine kohärente Präsenz und Relevanz, in einer angesichts der kurzfristigen normalistischen Aushandlung des KontingentNormalen prekär gewordenen Langzeitperspektive. So erscheint das Narrativ der »nicht(normalen) Fahrt« als Pendant des Zwanges zur emphatisch als Freiheitspfad (v)erklärten ›Inkonsequenz‹ des auratisierten ›Eigensinns‹ bei Enzensberger, Kluge und Bolz: als Anforderung, die Gegenwärtigkeit des Schreibens permanent zu erweisen und damit den Nachweis seiner Existenz-Berechtigung im Mittelbereich in Form von Sichtbarkeit und Relevanz in der Zeit zu erbringen oder kurz: als Zwang, à la hauteur zu sein. Das Narrativ mit seiner diskontinuierlichen und kontingenten normalistischen Selbstregulierung kann man in dieser Perspektive als Ausdruck einer unter Aktualisierungszwang stehenden Umstellungsstrategie verstehen, als eine habituelle Kompromissbildung zwischen der ökonomisch-medialen Anforderung, ›auf der Höhe der Zeit‹ zu sein, und der kunstautonomen Anforderung, eine langfristige und kohärente Subjekt- und Werk-Position herzustellen. Alle genannten Aspekte des Mittelbereichs – die Überschneidungen kultureller und ökonomischer Wertordnungen, der verkürzte, medialisierte Abstand zwischen Produzenten und Rezipienten, die iterativ regulative Subjekt- und Autorkonstitution und schließlich das Ringen um eine längerfristige ästhetische Existenz und um eine Relevanz in der sozialen Zeit – sind interdependent, wie in den nachfolgenden Studien zu dominanten Besetzungen von Autorpositionen im literarischen Mittelbereich nach 1989/90 deutlich werden wird. Die Grundlage des hier als raison d’être herrschenden Ringens um Präsenz und Relevanz bilden der mit dem ›langen Abschied von der Nachkriegsliteratur‹ einhergehende Zerfall einer homogenen literarischen Öffentlichkeit – genauer: ihres universalen und hegemonialen Repräsentationsanspruches – und die daraus entstandene strukturelle ›Leerstelle‹, die zunehmend die Populärkultur im Allgemeinen und die ästhetische Unterhaltungsliteratur im Besonderen be-
120 Jürgen Link: (Nicht) normale Lebensläufe, (nicht) normale Fahrten: Das Beispiel des experimentellen Romans von Sibylle Berg. In: Ebd., S. 21–36, hier S. 24.
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setzt hat.121 Die strukturelle Leerung der traditionellen repräsentativen Stellung der Hochliteratur wurde und wird bis heute durch neue Kanondebatten, diskursive Positionsnahmen (vor allem der feuilletonistischen Literaturkritik, die regelmäßig den ultimativen Ausdruck der neuen deutschen Gegenwartsliteratur ausruft), durch Institutionen (Schule, Universität, Preise) und nicht zuletzt durch die in der ›Legitimationssphäre mit universalem Anspruch‹ verbleibenden Schriftsteller verdeckt. Zugleich wird sie als iterativ neu zu besetzende Stelle diskursiv flankiert, wodurch sie mit der ökonomischen Logik des kurzfristigen Wechsels kompatibel ist. Die ›ökonomische Ökonomie‹ besetzt also verschleiert und immer wieder aufs Neue die offen gehaltene symbolische Leerstelle einer gesamtgesellschaftlich repräsentativen Literatur, die sich traditionell über eine eigene, ›nicht-ökonomische Ökonomie‹ definiert.122 Hierin besteht im Wesentlichen der ›Reproduktionsmotor‹ des transformierten Feldes der Gegenwartsliteratur: eine Produktion des Neuen, die sich vom avantgardistischen Pol und seiner strukturellen Vertikalverbindung mit dem Pol der arrivierten Avantgarde in die horizontale Konkurrenz um symbolische KontingenzKompetenz im Mittelbereich verlagerte.123 Mit dieser strukturellen Verlagerung treten der traditionelle, kunstautonome und der neue, popkulturelle Anspruch auf kulturelle Repräsentanz in eine Konkurrenz. Im Zentrum der Transformation der Feldreproduktion befindet sich also ein Konflikt verschiedener Rechtfertigungs- und Legitimationsordnungen des Literarischen. Konkurrenzen und Konflikte um den Ausdruck des Literarischen werden im Wechselspiel zwischen der strukturellen ›Entleerung‹ einer traditionellen repräsentativen Stellung und deren iterativer Neubesetzung mit einer aus dem ökonomisierten Mittelbereich stammenden ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur immer wieder aufs Neue ausgetragen.
3 Besetzungen im flexibel ökonomisierten Mittelbereich der neunziger Jahre Nach der Wiedervereinigung wurden – analog zum Streben nach einer politischen und moralischen Normalität Deutschlands – in der Literaturkritik Stimmen laut, die eine neue, ›ideologisch unbelastete‹ Gegenwartsliteratur forder-
121 Vgl. oben: Erster Teil, I. 2. 122 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 227–235 (»Zwei ökonomische Logiken«). 123 Zur strukturellen Transformation der avantgardistischen Produktion siehe ausführlich unten: III. 1.2.
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ten.124 Die folgenden Jahre waren von Versuchen geprägt, die Leerstelle einer repräsentativen deutschen Gegenwartsliteratur ›nach der Nachkriegsliteratur‹ temporär zu besetzen. Die seitdem in der Medienöffentlichkeit präsentierten Neuentdeckungen, die Erfolgs- oder ›Kultautoren‹, verfügen jedoch über keine repräsentative Autorität im traditionellen Sinn, sondern über ein kurzlebiges, dafür allerdings enorm wirkungsvolles symbolisches Kapital der Aufmerksamkeit, das – häufig über die Sensations-, Skandal- und Ereignislogik verstärkt – vom literarischen Mittelbereich ausgehend Brücken in den sozialen Raum schlägt und an der Zirkulation elementarer Literatur und an der Bildung von Interdiskursen teilhat.125 Ab Mitte der neunziger Jahre konnte die Leerstelle, die von der 1990 delegitimierten Literatur einer »Gesinnungsästhetik« hinterlassen wurde, mit verschiedenen Autoren(-gruppen) wiederholt neu besetzt werden. Im Folgenden sollen drei symptomatische Beispiele für die Neubesetzung im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur näher betrachtet werden: 1. die neuen Popliteraten: das sogenannte »popliterarische Quintett« rund um Christian Kracht und Stuckrad-Barre, 2. das sogenannte »Fräuleinwunder« rund um Judith Hermann und 3. die dispersen, fluktuierenden Realismus-Besetzungen mit einem Ausblick auf das von Thomas Hettche, Matthias Politycki und anderen formulierte Manifest für einen neuen, »relevanten Realismus« (2005).
3.1 Die neuen Popliteraten126 Nach der Delegitimierung der literarischen »Gesinnungsästhetik« im Zuge des »deutsch-deutschen Literaturstreits« war eine der ersten und medial auffälligs-
124 Vgl. z. B. Frank Schirrmacher in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: »Abschied von der Literatur der Bundesrepublik« und die Spiegel-Titelstory (41/1999): »Die Enkel von Grass & Co. Die neuen deutschen Dichter« (vgl. Thomas Ernst: Popliteratur. Hamburg 2005, S. 77). 125 Vgl. Link: Elementare Literatur und generative Diskursanalyse, S. 26 f.: »Elementar-literarische Rede wäre demnach praktiken-übergreifende, praktiken-verbindende, praktiken-integrierende Rede, die allerdings gleichzeitig innerhalb einer bestimmten institutionalisierten Praxis pragmatisch verankert ist. […] Der elementaren, spontanen Literatur fiele die Aufgabe zu, die Totalität der Praktiken […] imaginär herzustellen, und zwar dadurch, daß die eine Praxis zum strukturierenden Medium der anderen, man könnte auch formulieren: zum Sinnschema für die andere wird«. 126 Vgl. zu den folgenden Ausführungen die Vorstudie Heribert Tommek: Das deutsche literarische Feld der Gegenwart, eine Welt für sich? Skizzen einer strukturellen Entwicklung, in das Beispiel der (westdeutschen) ›Tristesse-Royale‹-Popliteraten mündend. In: Gilcher-Holtey (Hg.): Zwischen den Fronten, S. 397–417.
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ten Besetzungen der nun symbolisch freigesetzten Position einer neuen deutschen Gegenwartsliteratur mit dem Auftreten der sogenannten Popliteraten verbunden. Besetzt wurde die Position nicht mehr mit einem Werk aus dem Bereich der Hochliteratur, sondern mit Erfolgsbüchern aus dem Mittelbereich einer ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur, d. h. aus einem Zwischenbereich zwischen dem journalistisch-medialen Feld und dem Subfeld der eingeschränkten literarischen Produktion. Besonders sichtbar wurde die neue Position 1995 mit dem Erscheinen von Christian Krachts Roman Faserland, der zunächst starke Ablehnung erfuhr, dann aber zunehmend als Ausdruck einer neuen Gegenwartsliteratur anerkannt wurde.127 Anhand der Entwicklung dieser Position einer neuen Popliteratur lassen sich die bis auf die siebziger Jahre zurückgehende Expansionsbewegung des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs, seines Repräsentationsanspruches und die habituellen Strategien der Schriftsteller exemplarisch verfolgen.
Die feldanalytische Entwicklung von »Pop 1« zu »Pop 2« Die Popkultur der siebziger, achtziger und – in einer neuen Qualität – neunziger Jahre hat insbesondere die »Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität«, die Sphäre der nicht legitimierten Legitimationsinstanzen oder der segmentarischen Legitimität, in ansteigendem Maße ›universalisiert‹.128 Popkultur beanspruchte mit wachsendem Erfolg, ›Gegenwart‹ und ›Gegenwärtigkeit‹ zu repräsentieren. Programmatisch für diese Entwicklung war Leslie Fiedlers Aufruf zur ›Überquerung der Grenze‹, zur ›Schließung des Grabens‹ zwischen ›hoher‹ und ›niedriger‹, zwischen ernster und unterhaltender Kultur im Zeichen des Pop.129 Die Entstehung einer neuen ›Durchschnittskunst‹ vermeintlich jenseits der Unterscheidung von E- und U-Kultur erklärt der Poptheoretiker Diedrich Diederichsen damit, dass sich die oberflächliche, wirklichkeits- und konsumaffirmative Haltung der Popkultur auch als »Geheimcode« lesen lasse, der gleichwohl »für alle zugänglich« sei.130 Durch die127 Längst gehört Krachts Faserland zum Schulkanon und ist als Prüfungsgegenstand sowohl im Abitur als auch in der Universität anerkannt (vgl. z. B. Margret Möckel: Faserland. Textanalyse und Interpretation zu Christian Kracht, Faserland. Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Prüfungsaufgaben mit Lösungen. Hollfeld 2011). 128 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, I. 2. 129 Leslie A. Fiedler: Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion. Weinheim 1988, S. 57–74. 130 Diedrich Diederichsen: Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch. In: Marcel Hartges, Martin Lüdke, Delf Schmidt (Hg.): Pop, Technik, Poesie. Die nächste Generation. Reinbek b. Hamburg 1999, S. 36–44, hier S. 39 f.
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sen Brückenschlag qua Doppelkodierung sowohl für Eingeweihte als auch für ein Massenpublikum, die auch für den international erfolgreichen postmodernen Roman charakteristisch ist, haben sich die Zugangsmöglichkeiten zur Literatur grundsätzlich erweitert. Ausgehend von der amerikanischen Beat Generation war die Durchsetzung der Position der Popliteratur im deutschen literarischen Feld der sechziger Jahre vor allem mit Rolf Dieter Brinkmann und mit der sich um Dieter Wellershoff und ihn gruppierenden »Kölner Schule« verbunden.131 Die popliterarische Position beinhaltete im Kern das Eintreten für einen neuen Realismus-Begriff in der Literatur, für die Legitimität einer neuen Wahrnehmung der dinghaften Einzelheiten und ihrer Oberflächenästhetik, kurz: für »[d]as einfache wahre Abschreiben der Welt«.132 Die Literatur der deutschen ›Pop-Klassiker‹ – die frühe Popliteratur Brinkmanns und Hubert Fichtes, die sprachexperimentellen und trivialmythologischen Anfänge von Peter Handke und Elfriede Jelinek – war »popartistisch«, d. h. sie war durch eine artifizielle Beziehung zum popkulturellen Zeichenkosmos gekennzeichnet.133 Sie stand damit in einem subversiven Verhältnis zur Hochkultur und war tendenziell auf die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit ausgerichtet. Diese »popartistische«, im literarischen Feld vertikal ausgerichtete Opposition qua Öffnung der Literatur für eine horizontale Wahrnehmung der materiellen Einzelheiten und ihrer Zeichensysteme, der Massenkultur und ihrer Oberflächenästhetik, verblieb aber durch ihre artistisch-avantgardistische Ausrichtung weitgehend in einer Nische: So wurde
131 Brinkmann wurde vom Lektor und Autor Dieter Wellershoff entdeckt und publizierte bis Ende der sechziger Jahre beim Kiepenheuer & Witsch-Verlag, wo auch Nicolas Born und Günter Herburger ihre Werke veröffentlichten. Als stilbildender Ausgangspunkt ist die »Kölner Schule« auch für die sogenannte Neue Subjektivität der siebziger Jahre und, in ihrer Öffnung für das Alltägliche und Autobiografische, bereits ab Mitte der sechziger Jahre für eine später folgende Dokumentarliteratur bedeutsam (vgl. Thomas Jung: Von Pop international zur Tristesse Royal [sic]. Die Popliteratur, der Kommerz und die postmoderne Beliebigkeit. In: T. J. [Hg.]: Alles nur Pop? Anmerkungen zur populären und Pop-Literatur seit 1990. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 34–38, bes. S. 36; zur literaturgeschichtlichen Einordnung der Popliteratur siehe auch Kathrin Ackermann, Stefan Greif: Pop im Literaturbetrieb. Von den sechziger Jahren bis heute. In: Heinz Ludwig Arnold, Jorgen Schäfer [Hg.]: Pop-Literatur. München 2003, S. 55–68, hier S. 60; sowie Carsten Gansel, Andreas Neumeister: »Pop bleibt subversiv. Ein Gespräch«. In: Ebd., S. 183–196, hier S. 185). 132 Vgl. Sascha Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«. Pop-Diskurse in der deutschen Literatur nach 1960. Göttingen 2006; u. Jung: Von Pop international, S. 36. 133 Jung: Von Pop international, S. 37 (»popartistisch« ist ein hier zitierter Ausdruck von Jost Hermand); vgl. auch Dirk Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«. Ein Rückblick auf die Popliteratur der 1990 er Jahre. In: Olaf Grabienski, Till Huber, Jan-Noël Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990 er Jahre. Berlin 2011, S. 27–51, hier S. 29.
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Brinkmann sowohl von Vertretern der kunstautonomen Avantgarde, etwa der Konkreten Poesie, als auch von Vertretern der ›arrivierten Avantgarde‹, der etablierten Hochliteratur, als zu ›privatistisch‹ oder aber als zu ›konsumistisch‹ abgelehnt.134 Literarisch anerkannt war das genaue Wahrnehmen der Dingwelt und ihrer dissoziierten Einzelheiten einerseits nur im Rahmen einer ästhetischen Transzendierung in Richtung der sich in den Dingen zeigenden ›verborgenen‹ Signatur eines sprachbildgestützten, autonomen Zeichensystems, wie sie vor allem die Entwicklung der Autorposition Peter Handkes prägte;135 andererseits in der weitgehenden Loslösung der neuen Literatur von einer vertikalsubversiven Frontstellung, von ihrem ›häretischen‹ Anspruch, die ›Priester‹ der Literatur zu entmachten. Stattdessen zielte sie auf ein Arrangement mit der sie umgebenden horizontalen Welt, wie es sich im Kontext der »Tendenzwende« zum privatistisch-populären Kulturverständnis der Neuen Subjektivität Anfang der siebziger Jahre vollzog.136 Die vertikal-avantgardistische (»popartistische«) Ausrichtung der ersten Popliteratur wurde am ehesten noch von den Vertretern der sogenannten »akademischen Suhrkamp-Popliteratur«, von Thomas Meinecke, Andreas Neumeister und Rainald Goetz, weitergeführt.137 Sie repräsentieren eine legitimierte Subversion der Popliteratur, eine anerkannte ›Häresie‹ innerhalb des Subfeldes der eingeschränkten literarischen Produktion. Textproduktion und -strukturen sowie Autorverständnis sind bei ihnen durch die enge Verbindung zur (Rock-, Pop- oder Techno-)Musik und die ihr eigenen Verfahrensweisen gekennzeichnet (sampeln, recyclen, cut-ups, der Autor als ›Diskjockey‹).138 Damit einher geht ihre Ablehnung traditioneller narrativer Figuren und Verfahren, die man dagegen bei den neuen Popliteraten durchaus wieder beobachten kann.139 Die Weiterführung einer popartistischen Avantgarde, die sich für die horizontale Massenkultur öffnet, konnte auch in der Popliteratur nur in einer spezifischen Kompromissbildung erfolgen. Im Zuge der Segmentierungsprozesse der achtziger Jahre, aus denen zum Beispiel die New Wave-Bewegung hervorging,
134 Vgl. Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 29; vgl. auch unten: Zweiter Teil, III. 1.2., die Kritik Enzensbergers an Brinkmann. 135 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, I. 1.2.; u. unten: Zweiter Teil, II. 2.1.2. 136 Vgl. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 322; u. Jung: Von Pop international, S. 37. 137 Vgl. Charis Goer: Cross the Border – Face the Gap. Ästhetik der Grenzerfahrung bei Thomas Meinecke und Andreas Neumeister. In: Arnold, Schäfer (Hg.): Pop-Literatur, S. 172–182, hier S. 173; u. Baßler: Der deutsche Poproman, S. 143. 138 Vgl. Johannes Ullmaier: Cut-Up. Über ein Gegenrinnsal unterhalb des Popstroms. In: Arnold, Schäfer (Hg.): Pop-Literatur, S. 133–148. 139 Vgl. Gansel, Neumeister: »Pop bleibt subversiv«, S. 184 f.
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die sich nicht mehr als »Pop«-Bewegung bezeichnen wollte, verstanden sich die frühen Texte von Rainald Goetz wie der erste Roman Irre (1983) formal und inhaltlich als subversiv-affirmativ 140 – eine paradoxe Kennzeichnung, die die Kompromiss-Stellung oder den ›gespaltenen‹ Habitus, der auf einen Strukturwechsel im Feld reagiert, markiert. Hier liegen die Anfänge der Ausbildung einer literarischen Kontingenz-Kompetenz, d. h. einer habituellen Anpassung an die flexiblen und zunehmend prekären Bedingungen, die es den ›kreativen Akteuren‹ zugleich erlaubt, sich eine bestimmte Handlungsautonomie zu bewahren.141 So lässt sich zusammenfassen: Die erste Pop-Bewegung der sechziger und achtziger Jahre142 war eine Avantgarde-Bewegung der ›subversiven Affirmation‹, die von einem subkulturellen Avantgardepol ausging. Wie jede Avantgardeproduktion war auch diese »Pop 1«-Bewegung143 eine Form der Gegenwartsvergewisserung, die sich noch wesentlich über eine Subversion der vertikalen Werteordnung der etablierten, legitimen Kunst- und Kulturformen definierte. Darin zeigt sich zudem ihre Kompromiss- oder ›Scharnier‹-Stellung hinsichtlich einer sich in die Horizontale verlagernden Produktion des ›Neuen‹ im Rahmen einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur und allgemein einer popkulturellen Massenkultur.144 Denn die neue, nicht mehr gegenkulturell spezifische, sondern allgemeine, systemimmanente »Pop 2«-Bewegung der neunziger Jahre stand ganz im Zeichen der Verabschiedung der Kunst als Subversion. Sie war von der »Macht des affirmativen ›Jetzt‹« 145 getragen, die die Oberflächenästhetik der Populärkultur in einer demonstrativen ethisch-moralischen Indifferenz aufgriff. Feldanalytisch übersetzt erweist sich die immanente Affirmation der Gegenwartskultur und Oberflächenästhetik der »Pop 2«-Bewegung als eine sekto-
140 Vgl. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 276 u. S. 323. 141 Vgl. Manske: Unsicherheit und kreative Arbeit. 142 Während der »Tendenzwende« zur Neuen Subjektivität in den siebziger Jahren neigte die Popliteratur dazu, die gegenkulturellen Ziele aufzugeben und sich entweder vollkommen in den Kulturbetrieb zu integrieren oder »in die Reflexionsmechanismen der Hochkultur« zurückzuziehen (so bei Handke, Hildesheimer und – bedingt – Fichte; vgl. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, S. 322; Jung: Von Pop international, S. 37). 143 Vgl. zur Unterscheidung von »Pop 1« und »Pop 2«, die sich in der Pop-Forschung durchgesetzt hat: Diedrich Diederichsen: Ist was Pop? In: D. D.: Der lange Weg nach Mitte. Der Sound und die Stadt. Köln 1999, S. 272–286. 144 Vgl. Jung, der schematisch die Popliteratur mit Merkmalen einerseits der AvantgardeKunst und andererseits der Massenkultur vergleicht und sie schließlich im Übergangsbereich zwischen beiden verortet (Jung: Von Pop international, S. 49–51). 145 Vgl. Seiler: »Das einfache wahre Abschreiben der Welt«, Kap. 7.1.: »Die Macht des affirmativen ›Jetzt‹: Popliteratur in den 90 er Jahren«, S. 274–280, hier S. 276.
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rale Verlagerung: Die neue Popliteratur positionierte sich nicht mehr am ›traditionellen‹ Avantgarde-Pol, der in einem strukturellen, d. h. subversiv-›häretischen‹ Verhältnis zur etablierten Hochliteratur steht, sondern im Einflussbereich der horizontal expandierenden Ungewissheitszonen. Hier, in der verstärkten Auseinandersetzung um Kontingenz-Bestimmungen, drehten sich die verschiedenen »Schreibweisen des Jetzt« 146 um eine ›säkularisierte‹ Konkurrenz um Präsenzvergewisserung zwischen neuem ästhetischen Anspruch und ökonomischer Notwendigkeit. Die moralische Kategorie, die noch die Mittelstellung der Gruppe 47 im eingeschränkten Subfeld zwischen »Form« und inhaltlicher »Botschaft« prägte (s. Modell oben, Abb. 4), war also weggefallen, oder genauer: durch eine flexibel normalistische Ästhetik ersetzt worden, wie im Folgenden ausgeführt wird.
Die neuen Popliteraten und die Transformationen des literarischen Feldes Vier Jahre nach Erscheinen von Krachts Faserland, 1999, traten die neuen Popliteraten schon selbstbewusst als Gruppe, als »popkulturelles Quintett«, auf. Die fünf Autoren – Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander von Schönburg und Benjamin von Stuckrad-Barre – zeigten ihren ausgeprägten Sinn für die medialisierte Sichtbarmachung einer neuen, distinktiven Position, als sie mit dem Tristesse Royale-Band auftraten, der sich als stilisiertes und ironisches Manifest einer neuen Popliteratur präsentierte.147 Tristesse Royale stellt eine performative Selbstinszenierung der Popliteraten in Rollenprosa dar. Den äußeren Rahmen bildet ein Treffen im April 1999 in der Executive Lounge im Berliner Luxushotel Adlon mit Blick auf das Brandenburger Tor, um »ein Sittenbild unserer Generation zu modellieren«, wie es im Vorwort heißt (TR 11). Der Band wird als Fin-de-siècle-Produkt, als postmoderne Dekadenzdichtung präsentiert, die zeitweilig empathisch, zeitweilig melancholisch den kulturellen Zerfall am Ende des Jahrtausends zur Sprache bringt. Zugleich ist er ein Artefakt, das mediale Erwartungshaltungen antizipiert und Rückkopplungseffekte einplant. Inszeniert wird das mediale Rollenspiel »Talkshow«, um es dann noch einmal als halb dokumentarisches, halb stilisiertes Gesprächsprotokoll, das die Beteiligten selbst als »Rollenprosa« (TR
146 Schumacher, der diesen Begriff geprägt hat, meint allerdings damit die artistisch-avantgardistische Popliteratur von Rolf Dieter Brinkmann, Rainald Goetz und Hubert Fichte (vgl. Schumacher: Gerade Eben Jetzt). Dagegen wird der Begriff hier im Sinne einer ›Präsenzvergewisserung‹ für den gesamten literarischen Mittelbereich verwendet. 147 Joachim Bessing (Hg.): Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin 1999; zitiert wird im Folgenden nach der 2. Auflage (München 2002); Nachweise im Fließtext (TR Seitenzahl).
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56) verstanden wissen wollen, zu verschriftlichen.148 Provokant ist bereits der im Untertitel zum Ausdruck kommende Anspruch, für eine ›Generation Pop‹ zu sprechen.149 Der Band, auf dessen Cover sich die fünf Autoren als arrogante Pop-Dandys in Maßanzügen präsentieren, löste eine heftige Kritik im Feuilleton aus. Sie richtete sich zum einen auf die Zurschaustellung von Reichtum, ›Stil-Terror‹ und Zynismus, auf den performativen Umgang mit der Werbeästhetik, dem Massenkonsum und dem allgemeinen Werteverfall. Die zynisch gegen jede Moralität gewendete und ironische Haltung, das paradoxe Zusammenspiel von Behauptung und Selbstdementi, wurde als unmögliche gesellschaftliche Position wie auch als ästhetisch unbefriedigender Ausweg abgelehnt, wobei diese Ablehnung in den Gesprächen der Popliteraten selbst antizipiert ist.150
Der Umstand, dass sich nun junge Schriftsteller als Gruppe einer neuen Popliteratur präsentierten, die sich mit ihrer zynischen Haltung implizit gegen die moralische Haltung der Gruppe 47 wandte, war für die feuilletonistische Literaturkritik ein willkommener und zudem für die mediendiskursive Einordnung ein sehr förderlicher performativer Akt. Dabei wurden allerdings soziale und literarische Unterschiede verdeckt. Die neuen Popliteraten stammten weder aus subkulturellen Milieus noch aus akademischen Zusammenhängen, sondern aus den sogenannten »Neuen (Medien-)Berufen«. Von hier aus konnten sie – zeitweilig und in unterschiedlicher Weise – ins Subfeld der eingeschränkten literarischen Produktion eintreten, das sich seinerseits, wie skizziert, durch eine zunehmende Anerkennung einer ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur transformiert und für journalistische und popkulturelle Ordnungen geöffnet hatte. Dass der strukturelle Ort der neuen Popliteraten im expandierenden Zwischenbereich als Übergangszone vom journalistisch-medialen Feld zum eingeschränkten literarischen Subfeld lag, zeigt sich auch an den von ihnen gewählten Genres: literarische Sachbücher und Ratgeber, ästhetische Reiseliteratur und Reportagen, literarische Lifestyle-Kolumnen etc. Als literarischjournalistische »Symbolanalytiker« verfügten sie über eine hohe intermediale Kompetenz zur multiplen Autorschaft und zur Aushandlung symbolischer Kon-
148 Vgl. Rolf Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben. Biografisches Erzählen in der neuen deutschen »Pop«-Literatur. In: Kammler, Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989, S. 183–200, hier S. 191. 149 Vgl. den Stellvertreteranspruch in Florian Illies’ Generation Golf (2000) und in Jana Hensels Zonenkinder (2002). Hensels Verwendung der »Wir«-Form hatte den größten Stein des Anstoßes in der kontroversen Debatte um Zonenkinder dargestellt, wohingegen sich keiner an Illies Allgemeinheitsanspruch in Generation Golf störte (vgl. die Beiträge in: Tom Kraushaar [Hg.]: Die Zonenkinder. Die Geschichte eines Phänomens. Mit einem Nachwort von Moritz Baßler. Reinbek b. Hamburg 2004). 150 Vgl. Baßler: Pop-Roman, S. 124 f.; u. Dirk Frank: Die Nachfahren der »Gegengegenkultur«. Die Geburt der »Tristesse Royale« aus dem Geist der 80 er Jahre. In: Arnold, Schäfer (Hg.): PopLiteratur, S. 218–233, hier S. 229.
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tingenzen. Im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich bewegten sie sich im Habitus der ›gleitenden‹ Distinktionen, vor allem im Zeichen der Ironie. Neben ihrem sicheren Sinn für mediale Präsenzen und Distinktionen verfügten sie über Stildispositionen einer halb inszenierten und halb realen Naivität hinsichtlich der feldinternen Geschichte, der Entwicklung ihres geltenden Gesetzes (doxa) und ihres Geltungsraumes (nomos). So sind einige der neuen Popliteraten einerseits dem naiven Produzenten, etwa dem Romane und Erzählungen schreibenden Amateur oder Großproduzenten vergleichbar, dessen Position weit mehr von einem journalistisch-ökonomischen als genuin ästhetisch-literarischen Kapital geprägt ist. Andererseits ist diese Naivität inszeniert, da die neuen Akteure einen praktischen Sinn für den zeitweiligen Eintritt in das eingeschränkte, aber für die Populärkultur geöffnete literarische Feld aufweisen. Der – wie zu zeigen sein wird im Falle Krachts langfristige, im Falle Stuckrad-Barres kurzfristige – Eintritt der neuen Popliteraten ins Subfeld der eingeschränkten literarischen Produktion über den gemischten Habitus einer reflexiv-inszenierten Naivität 151 erfolgte im Kern also durch eine halb inszenierte und halb reale und nicht kontrollierte Ignoranz der Feldgeschichte und der mit ihr geltenden autonomen Wertordnung der literarischen Traditionsbezüge und internen Umbrüche. Die reale, qualitativ neue Öffnung des kunstautonomen Subfeldes für die expandierende ökonomische und populärkulturelle Logik, für die alltagskulturellen Einzelheiten und gleitenden Distinktionen des alltagskulturellen Lifestyles ist der Grund dafür, dass die ästhetische Inszenierung von Alltag, Naivität und Authentizität in erster Linie nicht mehr auf die traditionellen Legitimationsinstanzen (Universitäten, Akademien, eine akademisch gebildete Literaturkritik etc.) angewiesen ist. Stattdessen kann sie sich auf die emanzipierten und hegemonial gewordenen Instanzen der »segmentarischen« (feuilletonistische und journalistisch-massenmedial geprägte Literaturkritik) und »willkürlichen Legitimation« (alltagskulturelle Stil-Rankings) der populären Kultur berufen. Komplementär zur bipolaren, graduell-gemischten Struktur des Mittelbereichs weisen also die Popliteraten Vermischungen oder Überlagerungen von naiven und radikal reflexiven Habitusstrukturen auf. Ihre gemischten Stil-Dispositionen sind einerseits durch eine selektive Ignoranz der traditionellen doxa, der »Schönen Literatur«, wie sie auch schon für die Popliteratur der sechziger Jahre programmatisch war, gekennzeichnet, andererseits durch eine gegenkanonische Bezugnahme auf andere, zumeist angloamerikanische Auto-
151 Vgl. hierzu Tanja Nause: Inszenierung von Naivität. Tendenzen und Ausprägungen einer Erzählstrategie der Nachwendeliteratur. Leipzig 2002.
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ren, die einen popkulturellen Stellenwert haben (wie J. D. Salinger, Bret Easton Ellis, Nick Hornby, Raymond Carver).152 Hinzu kommen einerseits die Ablehnung einer sprachlichen und literarischen Emphase und andererseits eine empathische Kopplung mit neuen Medien (Film, Popmusik, Internet), schließlich die obsessive Charakterisierung nach Oberflächen, Auflistungen und flexiblen Normalisierungen. Die Ablehnung einer emanzipatorischen Wahrheitsfunktion der Literatur entspricht einer demonstrativen Ablehnung der vertikalen Wertordnung, die sich am stärksten im ›gegengegenkulturellen‹ Affekt der neuen Popliteraten gegen die politisch-moralische Literatur der Gruppe 47 sowie die politisierte Literatur in der Folge von »1968« zeigen. Auf der anderen Seite ist diese Ablehnung Ausdruck einer intensivierten horizontalen Konkurrenzsituation um Präsenz und Relevanz im Mittelbereich. In diese horizontal oszillierende Konkurrenz um den neuesten Ausdruck von »Gegenwärtigkeit« mischen sich schließlich auch Rückgriffe auf konventionelle Elemente wie narrative und motivische Anleihen von Autoren aus dem schulischen Kanon deutschsprachiger Prosa (bei Kracht finden sich Anleihen von Thomas Mann, aber auch Erich Kästner, Hermann Hesse oder Max Frisch). Mit ihrer ›mittleren‹ Zugänglichkeit zwischen Aufrechterhaltung und Aufhebung einer intensiven, ›verpflichtenden‹ Rezeption sprechen sie gerade das Lesepublikum des Mittelbereichs ästhetisch zweideutiger Unterhaltungsliteratur an.
Zwei Pole der ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur (Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre) Für die Transformation des literarischen Feldes sind Christian Kracht und Benjamin von Stuckrad-Barre von exemplarischer Bedeutung. In der Retrospektive zeigt sich, dass allein von Kracht langfristige relevante Impulse ausgingen, die ihn näher am kulturellen Pol des literarischen Mittelbereichs situieren (ästhetischer Kulturflügel). Stuckrad-Barre dagegen bewegte sich weitgehend auf dem Terrain der wechselnden Mediendiskurse und journalistischen »Symbolanalytiker« – seine Entwicklung ist daher eher symptomatisch für die sich nach dem ökonomischen Pol ausrichtende Seite des Mittelbereichs (multimedialer Wirtschaftsflügel). Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, stammt aus einer reichen Familie. Sein Vater, der Industrielle Christian Kracht senior, war lange Zeit Generalbevollmächtigter beim Axel
152 Vgl. Mathias Mertens: Robbery, assault, and battery. Christian Kracht, Benjamin v. Stuckrad-Barre und ihre mutmaßlichen Vorbilder Bret Easton Ellis und Nick Hornby. In: Arnold, Schäfer (Hg.): Pop-Literatur, S. 201–217.
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Springer Verlag.153 Kracht besuchte mehrere (Elite-)Internate, unter anderem das internationale Internat Schloss Salem. Er betrachtet sich weniger als Schweizer denn als Kosmopolit. Er studierte in den USA, lebte in Kanada und Frankreich, längere Zeit in Bangkok, anschließend in Zürich und Kathmandu, Buenos Aires und zahlreichen anderen (exotischen) Orten. Kracht lebte auch zeitweilig in Deutschland, wo er als Journalist für die Berliner Boulevardzeitung B. Z., für das Livestyle-Magazin Tempo und für den Spiegel (als Indien-Korrespondent) schrieb. Mit Stuckrad-Barre warb er einmal für einen Herrenmode-Ausstatter. Sein Auftritt in der Harald-Schmidt-Show, durch den er einem größeren Fernsehpublikum bekannt wurde, ist für seine Fans legendär. Bekannt ist Kracht für provokative Äußerungen zum Zeitgeschehen, jedoch unterscheidet er sich von den anderen Popliteraten durch Strategien der Exklusivität und der ›Nicht-Greifbarkeit‹: So zieht er sich zeitweilig ganz aus der Medienöffentlichkeit zurück und gibt insgesamt eher selten Interviews. Der Roman Faserland (1995) gilt als ein Gründungsdokument der neuen Popliteratur. Seine Vorreiterrolle unterstrich Kracht 1999 als Herausgeber einer Anthologie verschiedener popliterarischer Texte unter dem Titel Mesopotamia. Ein Avant-Pop-Reader. Von Herbst 2004 bis Juni 2006 gab er zusammen mit Eckhart Nickel beim Axel-Springer-Verlag die literarische Zeitschrift Der Freund heraus, die sich ostentativ als internationalisiertes L’art pour l’art-Werk präsentierte (mit Redaktionssitz in einem Hotel in Kathmandu). Vorweg auf acht Folgen limitiert und ohne Werbung, handelte es sich um ein reines Prestigeprojekt des Verlages. Hier bediente sich ein L’art pour l’art-Popprodukt der distributiven Möglichkeiten eines paradigmatisch gegen die »68er« stehenden Großverlages und war so praktisch in jedem Zeitschriftengeschäft sicht- und greifbar. Kracht gab in der Zeitschrift befreundeten deutschen, aber auch ausländischen Popliteraten die Möglichkeit, ihre Texte zu publizieren. Chefredakteur war sein Freund, der freie Journalist Eckhart Nickel, mit dem er auch schon einen popliterarischen, aus ehemaligen Kolumnentexten zusammengesetzten ›Reiseführer‹ mit dem Titel Ferien für immer (1998) herausgegeben hatte.
Soziologisch gesehen liegt Krachts Herkunft in einem internationalisierten Besitzbürgertum. Er lässt sich im übertragenen Sinne als »Händler des Internationalen«,154 als ästhetischer Kosmopolit einer internationalisierten popkulturellen Literatur mit dem Habitus einer souveränen, ironischen ›Nicht-Greifbarkeit‹ beschreiben. Seine Erfolgsbücher sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Obwohl Schweizer Herkunft, wurde Kracht nicht als Schweizer Autor, sondern als Repräsentant einer neuen deutschen Gegenwartsliteratur präsentiert und wahrgenommen (auch international). Der Roman Faserland (1995) eignete sich hierzu besonders, da er in gewisser Weise die deutsche Tradition des Bildungs-
153 Als Generalbevollmächtiger des Springer-Verlages ist Krachts Vater im Zusammenhang mit der paradigmatischen Opposition von Axel Springer und Rudi Dutschke bzw. der SpringerPresse und der 68 er Bewegung von Bedeutung (vgl. Hans Mayer: Die unerwünschte Literatur. Deutsche Schriftsteller und Bücher. 1968–1985. Berlin 1989, S. 15–31: »Springer und Dutschke«). Die »Gegengegenkultur« der neuen Pop-Literatur der »Tristesse Royale« wandte sich programmatisch gegen die Achtundsechziger und so auch gegen deren Ablehnung der SpringerPresse. 154 Vgl. Dezalay: Les courtiers de l’international.
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und Deutschlandromans aufnimmt und in eine ›postmoderne‹ oder ›posthumane‹ Zeit transformiert. Der zweite Roman 1979 (2001) wurde dann vielfach im Kontext des »clash of civilizations« (Huntington), des Aufeinanderprallens eines dekadenten, nihilistischen Kapitalismus und eines religiösen, politischen und ästhetischen Fundamentalismus, gelesen. Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) und Imperium (2012) führen schließlich die Visionen totalitärer Alternativwelten mit ihren »Topoi des kolonialen Imaginären« 155 und eines »generellen Nihilismus« 156 fort. Dabei verwendet Kracht Genremuster des internationalen Abenteuer-, Reise- und Science-Fiction-Romans. Durch die zahlreichen intertextuellen Anspielungen auf Werke sowohl einer internationalen Popkultur als auch der Klassischen Moderne und Postmoderne erhalten seine Romane eine ästhetische Vieldeutigkeit und Komplexität. In dieser Hinsicht ist Kracht, dessen Bücher sich als »Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters« charakterisieren lassen, in der es jedoch keinen Austausch mit der Zielkultur, sondern nur eine transnationale Popkultur gibt,157 Vertreter einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur in der Nachfolge einer doppelt kodierten postmodernen Erzählliteratur. Er steht für diejenigen ästhetischen kosmopolitischen Erben, die auf dem internationalen Markt popkultureller Diskurse und ihrer symbolischen ›Im- und Exporte‹ handeln. Auf dieser internationalen Grundlage fundieren sie ihren popkulturell-universalen Anspruch – ›universale Formen einer postmodernen und posthumanistischen Kultur‹, universaler ästhetizistischer Nihilismus etc. – im nationalen Feld und hier genauer: am ästhetischen Kulturflügel des Mittelbereichs. Benjamin von Stuckrad-Barre wurde 1975 als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Bremen geboren. Schon vor dem Abitur begann er, als freier Autor zu schreiben. Es folgten diverse journalistische Praktika (bei der taz, beim NDR etc.) und der kurze Versuch eines Studiums der Germanistik in Hamburg. Danach arbeitete er als Musik-Redakteur und als Produktmanager bei einer Plattenfirma. 1997 zog er nach Köln um, arbeitete zunächst in der Redaktion der ARD-Satiresendung »Privatfernsehen«, bis er schließlich Autor für die tägliche Comedyshow von Harald Schmidt wurde – jene Show, die von Illies als maßgeblich für die »Generation
155 Claudia Breger: Pop-Identitäten 2001: Thomas Meineckes »Hellblau« und Christian Krachts »1979«. In: Gegenwartsliteratur 2 (2003), S. 197–225, hier S. 220. 156 Stefan Hermes: Tristesse globale. Intra- und interkulturelle Fremdheit in den Romanen Christian Krachts. In: Grabienski, Huber, Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche, S. 187–206, hier S. 188. 157 Vgl. Johannes Birgfeld: Christian Kracht als Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Bd. 9: Kulturkonflikte in der Reiseliteratur. Bern 2007, S. 405–411, hier S. 411.
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Golf« bezeichnet wurde.158 In dieser Zeit schrieb er den Roman Soloalbum, der 1998 erschien und 2003 verfilmt in die Kinos kam. Auf den popliterarischen Durchbruch folgte eine Reihe von öffentlichen Lesungen. Diese performativen Auftritte, die von Stuckrad-Barre im folgenden Jahr mit seinem Erzählband Livealbum in Form einer »Deutschlandtournee« fortsetzte, bestehen aus einer Mischung zwischen herkömmlicher Lesung, Stand-Up-Comedy und Musikelementen. Besonderes Kennzeichen seiner eigenen Lese-Performanz ist ihr reflexiver RecyclingCharakter: Der Akt der (Selbst-)Inszenierung wird selbst thematisiert und dekonstruiert. Zwischendurch, von 1999 bis 2000, war Stuckrad-Barre Redakteur der »Berliner Seiten« der FAZ. Ende 2001 erhielt er für drei Monate den Moderationsposten einer Literatursendung beim Musiksender MTV. Es folgten mehrere Projekte: neben dem regelmäßigen Kolumnenschreiben (u. a. in der Weltwoche), eine Klassik-CD (BvS-B trifft Johannes Brahms), Hörbücher (Deutsches Theater, Poesiealbum Udo Lindenberg u. a.), ein Dokumentarfilm (Ich war hier) etc. Schließlich wurden seine Bulimie und seine Drogensucht ebenso wie die Versuche, diese zu bewältigen, in der breiten Medienöffentlichkeit bekannt und ausgetragen. Von seinem Erfolg und seiner tiefen Krise handelt der Porträtfilm Ruhm und Rausch (WDR, 2004). Bis heute setzt StuckradBarre seine vielfältigen Produktionsverfahren in wechselnden Medien fort: die der archivierenden Reihung von pseudoenzyklopädischem, medien- und popkulturellem ›Wissen‹ (Was.Wir.Wissen [2006]), der dekonstruierenden Beobachtungen von (Selbst-)Inszenierungen prominenter Akteure des Mediendiskurses und -betriebs (Auch Deutsche unter den Opfern [2010]) und der Moderation von Talkshows zwischen privatem und öffentlichem Kultursektor nach dem Vorbild von Harald Schmidt (»Stuckrad-Late night«-Talkshow auf ZDFneo seit Ende 2010, produziert von Christian Ulmen).
Soziologisch lässt sich Stuckrad-Barre als enttraditionalisierter Erbe des Bildungsbürgertums verstehen. Das traditionelle Bildungskapital hat sich hier in eine multiple Autorschaft transformiert, die er in den verschiedenen kulturellen Produktionsfeldern und Medien mit ihren gleitenden Legitimationsgraden zur Anwendung bringt. Er agiert gleichsam als »Handlungsreisender« oder »PR-Arbeiter« in eigener Sache, der seine Live-Auftritte auf der Bühne und im Fernsehen für mediale Rückkopplungseffekte nutzt. Das Bildungskapital zeigt sich bei ihm als enttraditionalisiertes in Form von vielfältigen, durch die verschiedenen kulturellen Legitimitätssphären horizontal ›gleitenden‹ Dispositionen und Positionsnahmen. Die bei Stuckrad-Barre zu beobachtende kulturelle Enttraditionalisierung erfolgt in aktiver, offensiv-aggressiver und (selbst-)reflexiver Form. Im Gegensatz zu Kracht gründet sich sein Habitus der ›Nicht-Greifbarkeit‹ auf einer permanenten, performativen und im Kern mühsamen Arbeit am Diskurs in wechselnden Medien, um ›auf der Höhe der Zeit‹ sichtbar zu bleiben.
158 Illies spricht vom »großen Erzieher unserer Generation Harald Schmidt« (Generation Golf, S. 121).
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Krachts Faserland und Stuckrad-Barres Soloalbum Krachts Faserland 159 hat Dirk Frank auf die Begriffe der »Flucht vor der Eindeutigkeit« bzw. der »Flucht in die Mehrdeutigkeit« gebracht.160 Das Handlungsgerüst – eine Reise des Protagonisten nach dem Muster des Road Movie von Norddeutschland gen Süden bis schließlich nach Zürich als vermeintliche Idylle, wo er erst vergeblich das Grab von Thomas Mann sucht und sich dann auf den Zürichsee hinaus rudern lässt – signalisiert die Tradition des Bildungsromans. Die Reise durch einen kalten, beziehungs- und kommunikationslosen ›postmodernen‹ Raum namens Deutschland erweist sich als eine zum Scheitern verurteilte Suche nach Identität.161 So steht das klare erzählerische Telos im Gegensatz zu einer nicht greifbaren Hauptfigur, die keinerlei geistige Entwicklung durchläuft. Auffällig ist die Mischung aus Aggressivität seiner sozialen Umwelt gegenüber, Unentschlossenheit und Ennui-Haltung auf der einen Seite, und Sehnsucht nach einem ›Aufgehobensein‹ in sinnerfüllten Momenten, in einfachen, lebensfernen Lebensgemeinschaften, die sich besonders an Kindheitserinnerungen, Textzeilen aus (Pop-, Rock-)Songs und Film-Figuren festmachen, auf der anderen. Ein zentrales Movens der Reise durch das als fremd und dekadent empfundene ›Vaterland‹ 162 ist der Ennui des Helden: eine Haltung, die in Tristesse Royale von allen fünf Popliteraten geteilt wird, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Ausrichtung. Der Ennui des Antihelden in Faserland zitiert die literarisch tradierte Haltung des großbürgerlich-aristokratischen Dandys, des Ästheten als Rentiers, der von den Zwängen der sozialen Zeit enthoben ist und sich in Müßiggang und Weltekel ergeht. Neben anderen Vorbildern wie Baudelaire, Huysmans oder Wilde nimmt Kracht in Tristesse Royale mehr oder weniger deutlich Züge des jungen, ›dekadenten‹ Thomas Mann an, wie sie dessen frühe Erzählungen163 und die Bekenntnisse
159 1. Auflage 1995 bei Kiepenheuer & Witsch, Köln. Zitiert wird im Folgenden aus der 5. Auflage der Münchner DTV-Ausgabe 2004. 160 Vgl. Frank: Nachfahren, S. 224; u. »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 32. 161 Vgl. Fabian Lettow: Der postmoderne Dandy – die Figur Christian Kracht zwischen ästhetischer Selbststilisierung und aufklärerischem Sendungsbewußtsein. In: Ralph Köhnen (Hg.): Selbstpoetik 1800–2000: Ich-Identität als literarisches Zeichenrecycling. Frankfurt a. M. u. a. 2001, S. 271–305. 162 »Faserland« konnotiert das englische »fatherland« und spielt intertextuell auf den Roman Fatherland von Robert Harris an (1992). Darin geht es um die Fiktion eines alternativen Weltgeschichtsverlaufs, den Sieg des Dritten Reichs und seiner Beherrschung Europas – eine Grundidee, die Kracht unter umgekehrten Vorzeichen in Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten aufgreift. »Faserland« spielt ferner allgemein auf ein »zerfasertes Land« im Sinne von »künstlich« und »zerrissen« an; vgl. Kracht in einem Interview der Berliner Zeitung vom 19. 7. 1995 (»Die legendärste Party aller Zeiten«). 163 So spielt z. B. Krachts Erzählung Der Gesang des Zauberers (erschienen in der von ihm herausgegebenen Anthologie Mesopotamia) recht deutlich auf Thomas Manns Mario und der Zauberer an. Die Grundkonstellation von Tod in Venedig – Verreisen, Festsitzen an einem verfänglichen, Tod bringenden Ort, die Erotik des langsamen Zerfalls von Ordnung und Identität etc. – wird von Popliteraten immer wieder gerne aufgenommen und variiert; vgl. z. B. Eckhart Nickels Kurzgeschichte Die Wahrheit über Lello. In: Christian Kracht (Hg.): Mesopotamia. München 2004, S. 241–258.
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eines Unpolitischen kennzeichnen. Die Ausblendung materieller Zwänge bei gleichzeitiger Überbetonung einer materiellen Ästhetik und einer ästhetizistischen Werteordnung wird gekoppelt mit der Strategie einer ›Ortlosigkeit‹ und ›Nicht-Greifbarkeit‹. So ist auch der Antiheld in Faserland nirgends wirklich zuhause, nicht greifbar, und seine Haltung des ›Über-den-Dingen-Stehens‹ leitet sich von seiner kosmopolitischen Ungebundenheit und ästhetisch-libertinen Geisteshaltung her. Daraus entwickeln sich bei Kracht einerseits eine bewusst inszenierte, provokative kolonialistisch-aristokratische Haltung und Ästhetik, die der Autor andererseits – zumindest ökonomisch und ästhetisch – tatsächlich auch leben kann. Hinzu kommt, dass sich Aggressionen und kosmopolitisch- (und später kolonial-) besitzbürgerlicher Ennui im Roman gegen jeden Vertreter einer in der sozialen Zeit situierten Gegenkultur wendet: gegen die ›Gutmenschen‹-Fraktion (Demonstranten, Gewerkschafter, Lehrer), die Jugend- oder Subkultur (Studenten, Künstler), die Modernitätsverlierer und -verweigerer (Taxifahrer, Arbeitslose) oder auch gegen die kreativ-kritische Medienlandschaft (Journalisten, Trendforscher). Exemplarisch für diese Distinktionshaltung ist jene Umkehrung des Faschismus-Vorwurf der 68er-Generation gegen ihre Eltern zur rein rhetorischen, provokativen Wendung gegen political correctness. So fühlt sich die Hauptfigur in Faserland überall umgeben von »SPD-Nazis«.164
Charakteristisch ist die provokative Abgrenzung von den Vertretern des Andersseins, die lediglich als Wiederholung der Protest-Eltern wahrgenommen werden. Die allseitige, ästhetisch begründete Abgrenzung kann aber wegen der Ausdifferenzierung der subkulturellen Zeichenpraxis seit den achtziger Jahren nicht mehr eindeutig und abschließend vollzogen werden. Die permanente ästhetische Distinktion, die eigentlich gar keine mehr sein will, weil dies wieder auf eine mediokere subkulturelle Unterscheidung hinauslaufen würde, strebt eine auf Dauer gestellte Verweigerung der Lesbarkeit des Lebensstils an.165 Hierin lässt sich mit Frank ein Bewegungsgesetz von Faserland ausmachen: Der Held zieht einer sozialen Bestimmung und einem wie auch immer gearteten Dagegen- oder Dafürsein das »Verschwinden« vor, wie die Schlussszene, das Hinausrudern auf den Zürichsee als Endpunkt der Identitätssuche, versinnbildlicht. Im folgenden Roman 1979 werden dann die Motive des »Verschwindens« und der (Selbst-)»Auflösung« zentral. Wenn sich Krachts Faserland als »Flucht vor der Eindeutigkeit« oder als »Mehrdeutigkeitskalkül« 166 auffassen lässt, kann Stuckrad-Barres Schreibverfahren auf die Formel gebracht werden: »Auf Augenhöhe mit dem Diskurs des Andersseins« oder: der Autor als »Medien-Dekonstruierer«.167
164 C.K: Faserland, S. 53; vgl. Frank: Nachfahren, S. 225; u. »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 33. 165 Vgl. Frank: Nachfahren, S. 225 f. 166 Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 35. 167 Vgl. Frank: Nachfahren, S. 226; u. »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 36.
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Soloalbum (1998)168 hat, wie so häufig in der Popliteratur, ein bilanzierendes, ich-zentriertes, narzisstisch-reflexives Thema und besteht letztlich aus einem einzigen inneren Monolog des von seiner Freundin verlassenen Protagonisten: eines typischen Antihelden der Popliteratur, der – wie einst sein Autor – als freier Journalist in einem Musikverlag arbeitet. Er ist Produkt und Teil der Musik- und Medienbranche, von der er sich zugleich distanziert. Entfremdung und Zynismus kennzeichnen seine Beziehung zur Arbeit ebenso wie sein allgemeines Verhältnis zur Gesellschaft. Anders als Faserland stellt sich Soloalbum nicht in die wie auch immer verfremdete Tradition eines Bildungsromans. Es gibt keine Reisebewegung und kein erzählerisches Telos einer Selbstfindung oder -verirrung. Das zynisch-spöttische Verhältnis des IchErzählers zur Umwelt unterliegt keinem erkennbaren Entwicklungsmuster. Die narrative Großstruktur imitiert die Strukturprinzipien der Popmusik- und Medienwelt, worin Stuckrad-Barre nicht zuletzt dem von ihm verehrten Schriftsteller Nick Hornby folgt, der versuchte, einen Roman nach Art einer Musik-CD zu erzählen.169 Der Roman handelt von Anfang bis Ende von ›Lifestyle-Justierungen‹ und endet mit einer kurzzeitigen idealen (Männer-)Gemeinschaft im geteilten Glückserlebnis während eines Rockkonzerts als ›Event‹. Dessen Reproduzierbarkeit wird innerhalb einer allumfassenden Kulturindustrie noch im flüchtigen Erlebnis selbst reflektiert.170
Einen Narrationstyp, der für die Literatur des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs allgemein und für die neue Popliteratur wie Soloalbum besonders charakteristisch ist, hat Rolf Parr auf der Grundlage des Normalismus-Konzepts herausgearbeitet:171 Bei der konsequent distanzierten, im Präsens und selbstbilanzierend-biografisch verfassten Erzählhaltung fällt die Häufigkeit von Listen,172 Aufzählungen, Rankings und quasi-statistischer Darstellungsformen auf. Mit ihnen kommen Bandbreiten von Positionen zwischen einer mittleren Normalzone und solchen ›oberer‹ und ›unterer‹ Abweichungen narrativ zur Darstellung, wie sie aus den Infografiken der Illustrierten und des
168 Zitiert wird im Folgenden nach der Taschenbuchausgabe des Goldmann Verlags, o. O. 2002. 169 Entsprechend ist Soloalbum in eine »A«- und eine »B«-Seite eingeteilt, die jeweiligen Kapitelüberschriften bilden Songtitel der Britpop-Gruppe Oasis und die Seitenangaben sind mit den Piktogrammen für »Vorwärts-« und »Rückwärtsspulen« versehen. Aus der Popmusik stammen ebenfalls die Metaphern für zwischenmenschliche Beziehungen: Eine »Band« steht in Soloalbum für eine Beziehung; für deren Auflösung steht das »Soloalbum« oder Soloprojekt, das in den meisten Fällen weit hinter das musikalische Ergebnis der »Band«, der ›ursprünglichen Gemeinschaft‹, zurückfällt. Die Klage über die Trennung von der Freundin bildet ein Leitmotiv im musikalischen Sinne der Wiederholung und Variation. 170 Vgl. S.-B.: Soloalbum, S. 241–243; u. Tristesse Royale: Benjamin v. Stuckrad-Barre: »Der Rock handelt ja vor allem von der Reproduzierbarkeit des glücklichen Moments – « (TR 146). 171 Rolf Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben. 172 Eine andere nicht-normalistische Deutung der Liste versucht Diedrich Diederichsen: Liste und Intensität. In: Dirck Linck, Gert Mattenklott (Hg.): Abfälle. Stoff- und Materialpräsentation in der deutschen Pop-Literatur der 60 er Jahre. Hannover-Laatzen 2006, S. 107–123.
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Fernsehens bekannt sind.173 Im Gegensatz zur traditionellen Funktion der Literatur eines auf gelungene Individualisierung abzielenden Bildungs- und Sozialisationsprogramms, dessen Ziel eine Identitätsfindung ist, bietet die narrative Struktur der Popliteratur, insbesondere die von Soloalbum, »innerhalb des Rahmens eines übergreifenden Generationskonstrukts erzählte Matrizen, Tabellen und Rankinglisten mit Spektren von möglichen Positionen für Subjekte« an.174 Wertungen, die traditionell über ethisch-moralische Positionsnahmen und indirekt über narrative Handlungen erfolgten, werden nun über diese Matrizen und Listen generiert. Dieses »›Reisen‹ durch Matrizen« und das »›flächige‹ Erzählen«,175 die Herstellung von Spektren mit wechselnd differenten, aber stets aufeinander bezogenen Positionen, bildeten eine narrative Matrix, durch die sich auch die Generierung von ›Generationseffekten‹ der Popliteratur erklären lässt. Bei Stuckrad-Barre ist die Funktion von Pop – die Konstruktion und das Angebot einer differentiellen Matrix und darin spielerisch eingenommener Positionen, die identifikatorische Aus- und Re-Differenzierungen ermöglichen – deutlicher als bei anderen als zentrales Generierungsprinzip seiner multimedialen Produktion zu erkennen. Ihm geht es im Unterschied zu Kracht nicht darum, eine sich stets entziehende Subjekt-Position außerhalb der Welt der Lebensstile zu beziehen. Stattdessen sind seine Beobachtungen, Einordnungen und Wertungen in den verschiedenen lebensweltlichen und medialisierten Milieus auf permanenter Augenhöhe mit den Diskursen des ›Andersseins‹, der distinktiven Stile. Stuckrad-Barre perfektioniert in dieser Hinsicht die auf ›Abgrenzung von der sich abgrenzenden Welt‹ zielende popliterarische Methode.176 Das Systemkonforme macht er dabei aber nicht an einer Kommerzialisierung der Kunst fest, die er im Übrigen befürwortet,177 sondern an einer zirkulären Bewegung, die er auf den Begriff des »Re-Modeling« bringt, wodurch die Figur
173 Vgl. hierzu Ute Gerhard, Jürgen Link, Ernst Schulte-Holtey (Hg.): Infografiken, Medien, Normalisierung. Zur Kartografie politisch-sozialer Landschaften. Heidelberg 2001. 174 Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben, S. 188, vgl. S. 192 f. 175 Ebd., S. 192. 176 So dekonstruiert er z. B. die epische Funktionalisierung der Rock- und Popkultur als Schein-Residuum einer utopisch-authentischen Lebensform, die durch und durch gesellschaftsfähig und systemkonform geworden ist (etwa Rushdies postmodernes Schreiben, das ›authentische‹ Rock-Gebaren einiger Altrocker etc.; vgl. Benjamin von Stuckrad-Barre: Remix. Texte 1996–1999. Köln 31999, S. 69–76). 177 »Die Kunst muß vielleicht ganz streng kapitalistischen Prinzipien unterworfen werden. Genauso wie diese Wurstbude vor dem Hotel streng kapitalistisch funktioniert. Es gibt keinen Grund dafür, warum der Künstler für seine Arbeit Subventionen bekommen sollte. Es gibt dafür kein Argument« (TR 78).
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des ›authentischen‹, ›genialischen‹ und ›mondänen‹ Individualisten immer wieder aufs Neue inszeniert werden kann. Komplementär zur ›Entlarvung‹ der Inszenierung von ›Anderssein‹ (in der Folge von »68«) werden so flexible »Normalcharaktere« nach dem narrativen Verfahren des Rankings – der Charakterisierung durch hierarchisierte Auflistungen –, das den Bestsellerlisten und dem Narrativ der Archivierung (Baßler) und »(nicht)normalen Fahrt« (Link, Parr) strukturell analog ist, entworfen.178 Diese, nach einer generativen Grammatik funktionierenden »diskursiven Fahrten« markieren laut Parr flexible Bereiche des »Normalen« zwischen den Grenzen eines akzeptierten und eines abgelehnten Lebensstils. Die flexiblen, ›flächigen‹ Subjektpositionen entstehen also durch gleitende und permanente Abgrenzungen in der horizontalen, konkurrierenden Werteordnung. Seine folgenden Texte wie Livealbum (1999) oder Deutsches Theater (2001) sind »Simulationen von Redeweisen« und sprachliche Inszenierungen von Originalität und Singularität.179 Sie arbeiten mit den medialisierten gesellschaftlichen Diskursen als Material und imitieren, plagiieren und dekonstruieren sie. Da diese Autorposition auf einer genauen Beobachtung, Kenntnis und praktischen Erfahrung der Spielregeln und Grenzen der massenmedial vermittelten Diskurse und Inszenierungen basiert, lässt sie sich als Zynismus auf permanenter Augenhöhe der Diskurse charakterisieren. Der Mehrwert dieser Position ist eine ›gleitende Omnipräsenz‹ im Feld der popkulturellen (Massen-)Produktion bis hin zur temporären Sichtbarkeit im autonomen Subfeld. Der Preis der ›souverän‹ zwischen den Diskursen gleitenden, flexiblen Haltung der ›Nicht-Greifbarkeit‹ ist hier jedoch – im Unterschied zur Haltung des ästhetizistischen Kosmopoliten Kracht – eine permanente Arbeit an den feinen und flüchtigen Unterschieden des Diskurses, die als distinktive Position auf dem Markt der symbolischen Kontingenz-Kompetenzen immer wieder neu sichtbar und profitabel werden muss. Denn Stuckrad-Barre lebt von seiner multiplen und generativ-flüchtigen Autorschaft, was er auch immer wieder thematisiert. Vor dem Hintergrund der ökonomischen Zwänge kann diese permanente Arbeit am Flüchtigen, die multimediale normal-range-Einordnung in Spektren und Positionsfelder des vorübergehend diskursiv Möglichen und Angesagten, in einer (wenn auch sehr gebrochenen) Nachfolge der mühevollen Kulturaneignung und -arbeit des Bildungsbürgers gesehen werden. Die anhaltende integrative
178 Vgl. Soloalbum, S. 23 f. (Liste von Frauentypen als mögliche Beziehungsalternativen für den verlassenen Protagonisten) oder S. 40–43 (mögliche Angaben zur Konstruktion einer Biografie: Namen, Berufe, Alter, Hobbys etc.); vgl. Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben, S. 192 f. 179 Frank: »Literatur aus den reichen Ländern«, S. 37.
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Selbstdeutung und -verortung Stuckrad-Barres im Narrationsprinzip des exund impliziten Rankings sowie in seinen Lesungen und Re-Inszenierungen erscheinen so als postmoderne Erneuerungsform der alten didaktisch-selbstvergewissernden Gattung.180 Gemeinsamkeiten zwischen Faserland und Soloalbum liegen also in den flächig-flexiblen Identitätsnarrationen. Dabei weist Faserland Versatzstücke traditioneller literarischer Problemstellungen der Identitätssuche und Erzählstrukturen der Bildungsromans auf, während diese bei Stuckrad-Barre weitgehend fehlen oder durch neue, außerhalb der literarischen Tradition stehende, ›naive‹ oder über Rankings vermittelte reflexive Narrationstechniken, die flexible Normalitätsdiskurse erzeugen, ersetzt werden. Krachts Erzählhaltung der ›Nicht-Greifbarkeit‹ basiert auf einer real gelebten ›Nicht-Greifbarkeit‹ des sozial und ökonomisch Privilegierten. Stuckrad-Barres Haltung des permanenten gleitenden, souveränen Diskurses auf Augenhöhe der medial gegebenen Diskurse gründet sich auf einer halb verdrängten, halb programmatisch affirmierten Notwendigkeit der ständigen (Neu-)Erarbeitung einer distinktiven und profitablen Stimme auf dem kulturellen Markt. Wenn die Kategorie des moralischen Urteils am Kulturflügel des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs durch ästhetische Wertordnungen ersetzt wird (bei Kracht vor allem durch Empfindungen des Ekels181 und der Hässlichkeit), so wird dieser Ersatz am medialisierten Wirtschaftsflügel (Stuckrad-Barre) durch interdiskursive, flexibel-normalistische Listen- und Archivierungs-Narrative der Lifestyles geleistet. Die Literatur der ›Nonkonformisten‹, der Gruppe 47 im Westen und der Reformsozialisten im Osten, war durch eine mittlere Stellung im Spannungsfeld zwischen ästhetischer Form und moralischer Botschaft charakterisiert. Dagegen ist im neuen, für die Ökonomie, Medien und Popkultur geöffneten Mittelbereich der ästhetischen Unterhaltungsliteratur die Moralkategorie weggefallen und durch popkulturelle und ästhetische Stil-Urteile ersetzt worden. Dabei erstreckt sich die Ordnung flexibler ästhetischer Geschmacksurteile zum Zwecke einer permanenten Vergegenwärtigung von Präsenz und Relevanz von einer elitären Elite-Masse-Distinktion über die Haltung des Ekels und des Ennui bis hin zu einem Auflisten als »Re-Modeling«-Verfahren, um im horizontalen Wettbewerb um Kontingenz-Kompetenzen à la hauteur zu bleiben.
180 Vgl. Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben, S. 187. 181 Vgl. Klaus Bartels: Trockenlegung von Feuchtgebieten. Christian Krachts Dandy-Trilogie. In: Grabienski, Huber, Thon (Hg.): Poetik der Oberfläche, S. 207–226.
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Das Grundgefühl des melancholischen Ennui in Tristesse Royale,182 die Empfindung einer inneren Leere der Kultur, wird im Verlauf des Bandes mit dem Symbol der »Spirale« (Titel des 3. Teils) und schließlich mit dem Begriff des »Re-Modeling« als allumfassendes kulturelles Generierungsprinzip benannt. Das literarische Ennui-Zitat, das in wertkonservativer, aristokratisch-romantischer Form Alexander von Schönburg eingeführt und von Kracht in einer ästhetizistisch-eskapistischen Variante geteilt wird, verlagert sich zum Symbol der absoluten Immanenz und Zirkularität, der »Spirale« und schließlich zum postmodern-kapitalistischen Produktionsprinzip schlechthin, des (selbst-)ironischen »Re-Modelings« (Stuckrad-Barre), der kontinuierlichen Metamorphose, die weder als Verrat noch als Anpassung noch als Avantgardeleistung der Künstler, sondern als permanente Arbeit an der »Gegenwärtigkeit« (contemporary) verstanden sein will (vgl. TR 129 f.). Dieser gleitende, symbolische Übergang vom stilisierten Lebensgefühl des Ennui, über das Symbol der »Spirale« bis hin zum popkulturellen terminus technicus des »Re-Modeling« ermöglicht eine Kohäsion diskursiver Positionsnahmen. Entsprechend der unterschiedlichen Dispositionen und sozialen Positionen der Popliteraten differieren auch die Abgrenzungs- und Auswegsvisionen: So vertritt Kracht eine eskapistische Spiritualität ferner, dem Abendland entgegengesetzter Länder und Religionen (so den Hinduismus oder Buddhismus; vgl. TR 162) sowie einen globalisierten Pop-Ästhetizismus, der mit Stilelementen einer Kolonial- und Empire-Ästhetik moralisch-politisch provoziert (vgl. den dritten Teil: »Die Spirale«: »Phnom Penh«, »Café Brûlé«). Schönburg strebt dagegen eine katholischromantische Religiosität an, während Stuckrad-Barre den Ausweg aus der Gleichförmigkeit überhaupt nicht in der Spiritualität sucht, die für ihn nur eine »Nebenspirale« darstellt, in der das »Glück der Unfreiheit« herrsche und der Glaube von der »Restriktion« lebe (TR 161). Einen weiteren »Ausweg« stellt eine ästhetizistische Faszination für Gewalt dar (zum Teil nach dem Vorbild des als Dandy-Pop-Ikone verehrten Ernst Jünger, zum Teil nach dem ästhetischen Vorbild der RAF). So fantasiert Bessing das Prinzip der immanenten Gewalt, des gegen die eigene Gesellschaft gerichteten Terrors.183 In Krachts Werk findet sich dann zunehmend eine ebenfalls gegen sich selbst als spirituelles Individuum gerichtete Gewalt (1979, Imperium), während Schönburg aristokratisch-heroische Gewaltfantasien zitiert, die die Kriegsbegeisterung junger britischer Aristokraten 1914 mit der Situation am Ende des Jahrtausends in Europa vergleichen (vgl. TR 137 f.).
Die Ersetzung moralischer Urteile durch ästhetische scheint die Popliteratur mit der klassischen L’art pour l’art-Position zu teilen. Im Unterschied zu dieser
182 »Wir sehnen uns nach der Unterbrechung der Langeweile. [...] Wir sind nichts als Produkte einer postmateriellen Generation, die nur noch mit der Langeweile zu kämpfen haben. [...] Deshalb gibt es für uns auch keine Spur eines Existenzkampfes mehr. Wir kennen auch den Statuskampf der vorherigen Generationen nicht mehr. [...] Wir schauen über die Quadriga und das häßliche Berlin dort unten hinweg und befinden uns ebenfalls am Fin de siècle einer perfekten Kultur, die offensichtlich in ihrer höchsten Endform äußerst langweilig ist« (TR 33). 183 Diese Fantasie gestaltet Joachim Bessing in seinem Roman Wir Maschine (2001) aus. Ähnliche Terror-Visionen (von rechts) als Antwort auf den inneren Zerfall der Gegenwartsgesellschaft finden sich in Uwe Tellkamps Roman Der Eisvogel (2005; zu Tellkamp vgl. unten: Zweiter Teil, II. 2.4.2.). Der Stil-Reporter Bessing erweist sich später als (klein-)bürgerlich-konservativer Verteidiger der traditionellen Familie (Rettet die Familie. Eine Provokation. München 2004).
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steht die ›Moral‹ der ästhetischen, flexibel-normalistischen Klassifikation der Popliteratur jedoch konstitutiv unter der Bestimmung der ›Gegenwärtigkeit‹, wodurch sie zur permanenten Neujustierung auf der Höhe der Zeit und ihrer Diskurse gezwungen ist. Um aus dieser ›Spirale des Contemporary‹ herauszukommen, führten die Popliteraten der Tristesse Royale, je nach Dispositionen, verschiedenen ›Auswege‹ an, die sich – in gesellschaftliche Zusammenhänge gebracht – als extreme Zivilisationskritik mit einem inszenierten Todestrieb in Form von mythisierten oder infantilen Regressionssehnsüchten zeigen. Insofern wurde zu Recht festgestellt, dass der ästhetizistische Diskurs der Popliteraten »eine ausgeprägte allegorische Struktur mit moralistischem Impetus« aufweist.184 Bei ihrer ästhetisch stilisierten Darstellung von gesellschaftlichen Entfremdungserscheinungen mit allegorischen Verweisen geht es den neuen Popliteraten jedoch um alles Andere als um einen sozialkritischen Realismus – hier grenzen sie sich deutlich vom gleichzeitig entstehenden ›neuen‹ Realismus ab, der die Relevanz moralisch-politischer Kategorien für die Literatur wieder anmahnt und sich damit in eine Traditionslinie der Gruppe 47 einschreibt (s. u.). Die kompetitive Präsenz- und Relevanzvergewisserung ist bei den Popliteraten – seien sie am ästhetischen, seien sie am multimedial-ökonomischen Flügel des Mittelbereichs angesiedelt – schließlich dominant männlich kodiert.185 Unter dem Druck zur permanenten Rezeption, Destruktion und Reproduktion von Gegenwartselementen in Form von Archivierung, Umkodierung und NeuSynthetisierung stehen jedoch auch die selbstreflexiven, ironischen Techniken der Gegenwartsvergewisserung stets in Gefahr, ins Leere zu laufen. Die Dominanz selbstbezüglicher Gegenwartsvergewisserungen schafft eine Nachfrage nach neuen ›Sinn‹-Angeboten. Diese zeigen sich Ende der neunziger Jahre unter anderem in Form der popkulturellen Erklärung vom ›Ende der Ironie‹ 2001, in den verschiedenen Sinn-Verweisen in der Literatur des »Fräuleinwunders«, schließlich in der Suche nach einem neuen, ›relevanten Realismus‹.
3.2 Das literarische »Fräuleinwunder« Eine zweite, zur erweiterten Logik der Popliteratur und ihrer Gegenwartsvergewisserung gehörende temporäre Neubesetzung der Leerstelle einer repräsenta-
184 Thomas Borgstedt: Pop-Männer. Provokation und Pose bei Christian Kracht und Michel Houellebecq. In: Claudia Benthien, Inge Stephan (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Köln 2003, S. 221–247, hier S. 230. 185 Vgl. ebd.
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tiven Gegenwartsliteratur stellte die Ausrufung eines »neuen Fräuleinwunders« dar. Die Herstellung dieser Position resultierte im Unterschied zur Gruppeninszenierung der Tristesse Royale-Popliteraten einzig und allein aus einer Fremdzuschreibung durch die Medien, die in diesem Fall auf einen einzelnen Feuilleton-Artikel von Volker Hage im Spiegel 1999 zurückging.186 Die medialisierte Herstellung einer (Gruppen-)Autorposition glich hier einem Sprechakt, einer ›wundersamen‹ Herstellung der positionellen Existenz durch Produktplatzierung und -vermehrung auf dem Markt und im Medienverbund.187 Das Marketing verband im Falle der generativen Formel vom »neuen Fräuleinwunder« Geschlecht (weiblich, ›attraktiv‹), Alter (›jung‹, d. h. bis ca. 35 Jahre), Lebensstil (›authentisch‹, ›frech‹, ›unverkrampft‹) und einen ökonomisch-medialen Erfolg (hohe Absatzzahlen,188 Medien-Affinität des äußeren Aussehens und der Lebensführung der Autorinnen). Wenn Hage das neue Erzählen von so unterschiedlichen Autorinnen wie Judith Hermann, Karen Duve, Zoë Jenny oder Jenny Erpenbeck unter dem Label »Fräuleinwunder« zusammenfasste,189 so vermischten sich hier in einer für den Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur charakteristischen Weise verschiedene gesellschaftliche Diskurse sowie symbolische und ökonomische Kategorien. Das neue ›weibliche‹ Schreiben wurde einerseits abgegrenzt von etablierten Autorinnenpositionen im eingeschränkten literarischen Subfeld, die – ›ideengeleitet‹ – in einer Verbindungslinie mit der Frauenbewegung und einer emanzipativen Neuen Subjektivität stehen, wie z. B. Marlene Streeruwitz oder Monika Maron; andererseits von der ungebrochenen ›Naivität‹ der Bestseller-Autorinnen im Subfeld der Massenproduktion, wie etwa Hera Lind oder Gabi Haupt-
186 Volker Hage: Ganz schön abgedreht. In: Der Spiegel, 22. 3. 1999; wieder abgedruckt als: Fräuleinwunder? Die deutsche Literatur ist wieder im Gespräch. In: Volker Hage: Propheten im eigenen Land. Auf der Suche nach der deutschen Literatur. München 1999, S. 335–341. 187 Die Rubrizierung unter dem Schlagwort »Fräuleinwunder« hat sich auch auf andere Bereiche (Musik, Sport) und auf die Literatur der Nachbarländer übertragen (vgl. Christiane Caemmerer, Walter Delabar, Helga Meise: »Die perfekte Welle«. Das literarische Fräuleinwunder wird besichtigt. Eine Einleitung. In: Ch. C., W. D., H. M. [Hg.]: Fräuleinwunder literarisch. Frankfurt a. M. 2005, S, 7–11, hier S. 7). 188 Die Debüt-Romane von Zoë Jenny und Judith Hermann sollen eine Auflage von 100.000 Exemplaren erreicht haben (vgl. Hage: Fräuleinwunder?, S. 339; Walter Delabar: Reload, remix, repeat – remember. Chronikalische Anmerkungen zum Wunder des Fräuleinwunders. In: Nagelschmidt, Müller-Dannhausen, Feldbacher [Hg.]: Zwischen Inszenierung und Botschaft, S. 231–249, hier S. 237; u. Annette Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot – es lebe das Fräuleinwunder. Das Phänomen der ›Fräuleinwunder-Literatur‹ im literaturgeschichtlichen Kontext. In: Ebd., S. 13–38, hier S. 13). 189 Delabar zählt ca. dreißig Autorinnen, die in den verschiedenen Feuilleton-Artikeln dem »Fräuleinwunder« zugeordnet werden (vgl. Delabar: Reload, remix, repeat, S. 243).
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mann.190 Die erfolgreich schreibenden Frauen wurden nicht länger als Ausnahme und Gegenposition innerhalb des ansonsten männlich dominierten literarischen Feldes angesehen.191 Die Abgrenzung von literarischen Traditionen im Allgemeinen und von der engagierten Frauenliteratur im Besonderen erfolgte im Namen eines neuen, unterhaltsamen und unbefangen-›lustvollen‹ Erzählens, wie es z. B. Wittstock gefordert hatte (s. o.), befreit von theoretischen und politischen Reflexionen, ›artistischen Experimenten‹ und direkten moralischen Belehrungen.192 ›Emanzipiert von der Emanzipation‹ wurde gleichsam zur neuen Maxime im spielerischen Umgang mit traditionellen Geschlechterrollen, die zum Teil wieder demonstrativ vertreten wurden, um ›68er‹-Diskurse der Emanzipation zu attackieren, die als versteinerte, hegemoniale linke political correctness in die Vergangenheit verabschiedet werden sollten. Die Kennzeichnung des neuen Schreibens der Autorinnen als das einer vom Engagement der Emanzipation befreiten ›Unbefangenheit‹ oder als das mit ›großen Gefühlen‹ wurde vom Feuilleton – in traditionell ›männlicher‹ Weise – als ›weiblich‹ kodiert. Das von vermeintlich ›großen Gefühlen‹ getragene neue Schreiben war allerdings nicht von substanzieller Art, sondern korrespondierte mit dem ›männlich‹ kodierten Habitus der ironisch-gleitenden Distinktionen, denn die Gefühle bleiben in der »Fräuleinwunder«-Literatur weitgehend unbestimmt und verweisen auf Leerstellen in der Gegenwartsvergewisserung. Die effeminierenden Bestimmungen betreffen allgemein die ästhetische Unterhaltungsliteratur in den Unsicherheitszonen des Mittelbereichs. Deren legitimierender Gründungsmythos berief sich in den neunziger Jahren auf eine neue, ›unbefangene‹, vom Journalismus kommende ›Lust‹ an neuen Narrationen der Gegenwart, die sich dem Thema der ›deutschen Vergangenheit‹ nicht mehr unbedingt verpflichtet sah oder gar ganz verweigerte.193
190 Vgl. Hage: Fräuleinwunder?, S. 338; Heidelinde Müller: Das »literarische Fräuleinwunder«. Inspektion eines Phänomens der deutschen Gegenwartsliteratur in Einzelfallstudien. Frankfurt a. M. u. a. 2004, S. 28; Caemmerer, Delabar, Meise: Die perfekte Welle, S. 11; u. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 14, Anm. 3. 191 Vgl. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 13 f. 192 Laut Hage haben die jungen Autorinnen »jene Naivität wiedergewonnen, die zum Erzählen gehöre«. Sie stünden für eine ›neue Lust am Erzählen‹, hätten Spaß an gut erzählten Geschichten und keine Angst mehr vor Klischees und großen Gefühlen. Damit stellen die Autorinnen des Fräuleinwunders im Grunde die ›weibliche‹ Variante der männlichen Gegenwartsautoren dar. Insbesondere der Popliteraten, jedoch ohne deren »erzähltechnischen Absicherungsstrategien« (vgl. Hage: Fräuleinwunder?, S. 336–338). 193 Vgl. ebd., S. 339; u. Delabar: Reload, remix, repeat, S. 237–239. Die Verweigerung gegenüber dem Thema der deutschen, von Nationalsozialismus und Krieg geprägten Vergangenheit und allgemein die demonstrativ apolitische Haltung konnten die Autorinnen des »Fräuleinwunders« nicht lange aufrecht erhalten. Davon zeugen z. B. die Romane von Tanja Dückers:
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Die Gedächtnisfunktion der Literatur als einer kulturellen Tiefenreflexion schien zunächst aus dem Bereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur ausgeschlossen zu sein: Popliteratur und die Literatur des »Fräuleinwunders« definierten Erinnerung und Gedächtnis anfänglich nur im Rahmen ihrer oberflächenästhetischen Gegenwartsvergewisserung, d. h. als Archivierung und als gleitende ästhetische Präsenz-Bestimmung.194 Wie die Popliteratur insgesamt, war auch das ›neue Erzählen‹ des »Fräuleinwunders« durch das programmatische Absehen von Bestimmungen der nationalen Vergangenheit und Identität und durch einen Anschluss an international erfolgreiche Erzählmuster charakterisiert. In dieser Hinsicht war das ›neue Erzählen‹ im Kern ein altes. Man schrieb nach dem Vorbild eines sich der strikten Unterscheidung zwischen E- und U-Literatur entziehenden angloamerikanischen Erzählens von Autoren wie Richard Ford, Margaret Atwood, Sylvia Plath oder John Updike.195 In der Orientierung an angloamerikanischen Erzählmustern einer kunstästhetisch ambitionierten und zugleich unterhaltsamen Literatur übersetzen sich die skizzierten strukturell ambivalenten Anforderungen des literarischen Mittelbereichs. Damit wird auch die ökonomische Grundlage der Durchsetzung des »Fräuleinwunders« als literarisch legitime Position sichtbar, denn diese Implementierung zielte auf eine erfolgreiche Vermarktung deutschsprachiger Gegenwartsautorinnen: Ähnlich wie beim Deutschen Buchpreis (s. u.) ging es auch in der medialen Herstellung und Inszenierung der neuen weiblichen Autorengeneration und -position um die ›Wandlung‹ deutschsprachiger Gegenwartsliteratur zu Erfolgsbüchern, die auch im Ausland Aufmerksamkeit erhalten und sich allgemein gut verkaufen.
Exemplarische Erzählmuster bei Judith Hermann Die medial hergestellte und inszenierte Gruppenbildung des »Fräuleinwunders« konzentrierte sich insbesondere auf Judith Hermann, deren Kurzgeschichten Hellmuth Karasek zum »Sound einer neuen Generation« erklärte (Klappentext zu Sommerhaus, später). Diese Bezeichnung verweist auf eine
Himmelskörper (2003), Julia Franck: Die Mittagsfrau (2007) und Jenny Erpenbeck: Heimsuchung (2008). Alle diese Romane stehen jedoch bereits für eine Loslösung ihrer Urheberinnen von der »Fräuleinwunder«-Zuschreibung und für den Versuch, ihrer Literatur eine neue (historische) ›Relevanz‹ zu verleihen. 194 Eine emphatische Gedächtnis-Funktion als kulturelle Tiefenreflexion kommt der Literatur einerseits primär im ästhetisch nobilitierten Bereich zu (s. u., Zweiter Teil, II), andererseits im Rahmen eines ›relevanten Realismus‹, der – in der Nachfolge der Gruppe 47 – die politischmoralische Bestimmung der Literatur aufrecht erhält (s. u.). 195 Vgl. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 22.
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Analogiebildung zur Popmusik, die eine gruppen- und generationsspezifische Identifikationsfunktion ausübt. Wie die Struktur der Alltagsmythen im Sinne Roland Barthes’ kennzeichnet der »Sound« die Kopplung einer (wieder-)erkennbaren und reproduzierbaren Machart (Format) und eines nicht fixierbaren Signifikanten. Auch wenn es zum Teil erhebliche Stil-Unterschiede bei den Autorinnen gibt, lassen sich einige allgemeine charakteristische Merkmale des stilistischen und narrativen Formats der »Fräuleinwunder«-Literatur herausstellen.196 Diese Formate scheinen nicht zuletzt auf die Literaturschulen in Hildesheim und Leipzig, denen einige der Autorinnen entstammen, zurückzuführen sein.197 Konkret handelt es sich bei den Formaten, zumindest der zur Gruppierung der Popliteratur gehörenden »Fräuleinwunder«-Literatur, um narrative Kurzformen, die sich auch im Falle Judith Hermanns an angloamerikanischen Vorbildern orientieren (vor allem an Raymond Carver und Alice Munro). Insgesamt sind die Geschichten auf die Gegenwart ausgerichtet, sie verorten sich zumeist im urbanen Raum (Berlin) und nehmen eine realistische, desillusionierte Grundhaltung ein. Die im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich häufig zu beobachtende Schreibstrategie der sowohl selbst- als auch fremdbestimmten ›Nicht-Greifbarkeit‹ innerhalb einer reflexiven ›Spirale‹ als Metapher der Postmoderne schwankt zwischen Ironie und Melancholie, zwischen einer Reflexivität des Selbst und einer fremdbestimmten Handlungshemmung. Mit der strukturell begründeten Konkurrenz um den Umgang mit Kontingenzen ist die Strategie der ›Nicht-Greifbarkeit‹ mit gleitenden Gender-Kodierungen verbunden: Während sich die Popliteraten innerhalb der horizontalen Konkurrenz über die Ironie-Figur und über die männlich kodierte Haltung einer ›kalt-sachlichen‹, ›gefühlsresistenten‹ Souveränität behaupten, zeigt sich die Strategie der ›Nicht-Greifbarkeit‹ und Mehrdeutigkeit bei den Autorinnen des »Fräuleinwunders« ›weiblich‹ kodiert – im exemplarischen Fall Judith Hermanns als ein unendlicher Verweis auf eine sich inhaltlich entziehende und nur in der ritualisierten, d. h. seriellen (Leer-)Form eines ›großen Gefühls‹ zu fassende melancholische Botschaft. Die für den literarischen Mittelbereich charakteristische Suche nach einem ästhetischen Ausdruck für ›Welthaftigkeit‹ und Gegenwärtigkeit, nach Präsenz und Relevanz in der sozialen Zeit, gestaltet sich bei Hermann formal in einem Erzählen in Sequenzen (so z. B. in »Sonja« in Sommerhaus, später) und in parataktischen, elliptisch verknappten Sätzen, bei denen das Präsens vorherrscht. Die Sprache ist lakonisch, oft alltagssprachlich. Häufig wird in kurzen Sequenzen erzählt, in »Cuts«, reflektierenden Erzählpausen und Fragmenten von Geschichten,
196 Vgl. zum Folgenden ebd. 197 Vgl. ebd., S. 33.
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die jederzeit anfangen und abbrechen können (so z. B. in »Rote Korallen«). Statt aus Handlung bestehen die Geschichten aus einer Vielzahl von Detailbeobachtungen, die zu keiner Deutung gebracht werden.198 Aus der Beobachtung der Einzelheiten wird eine atmosphärische Dichte hergestellt, in der sich die Melancholie und Lethargie der Alltagsexistenz199 mit dem plötzlichen, aber unbegriffenen Einbruch des Außeralltäglichen und Numinosen verbinden. Helmut Böttiger hat »[d]as Beschwören einer bestimmten Atmosphäre durch die Kunst des Weglassens« als charakteristisches Merkmal der Erzählweise von Hermann hervorgehoben.200 Das leere (Sinn-)Zentrum, um das die flexibilisierten Autorpositionen gleichsam kreisen, übersetzt sich hier formal in der Inszenierung der Unbestimmbarkeit einer ›zersplitterten‹ Weltwahrnehmung. Die unbestimmte Existenz der Figuren, die schon bald – gemäß der Ökonomie einer beschleunigten Entwertung des Neuen – von Seiten der Literaturkritik zum Vorwurf einer ›Wohlstandsverwahrlosung‹, eines Mangels an ›Erfahrung‹ und ›Existenznöten‹ führte,201 verbindet sich mit einem wiederholten melancholischen Verweis auf den Zerfall in Einzelheiten. Dieser zeigt sich auch in der narrativen Zeitgestaltung. Denn viele Kurzgeschichten von Hermann sind aus einer homodiegetischen Rückschau heraus geschrieben und innerhalb dieser entwerfen Prolepsen Zukunftsvisionen, von denen bereits feststeht, dass sie ›gescheitert sein werden‹ (exemplarisch in der Titelgeschichte »Sommerhaus, später«).202 Die Motive der menschlichen Einsamkeit, der Kommunikationsdefizite, der melancholischen Handlungshemmung, der Orientierungs- und Hoffnungslosigkeit einer Sinnsuche mit iterativ-ephemeren Sinnverweisen durchziehen auch den zweiten Erzählband Nichts als Gespenster. Als Erzähltechnik und Leitmotive prägen sie fast alle Narrationsformate des literarischen »Fräuleinwunders«.203 Charakteristisch für die ›weibliche‹ Besetzung der Leerstelle einer neuartig repräsentativen, d. h. hier: expressiven deutschen Gegenwartsliteratur sind bei Hermann zum einen das Schreibprinzip der gereihten Short Stories und innerhalb der Kurzgeschichte das Prinzip der gereihten Erzählsequenzen, die immer wieder eine Leerstelle umkreisen und dadurch als Kontur sichtbar machen. Aus diesem seriellen Verfahren entsteht wiederholte Verweis auf eine
198 Vgl. ebd., S. 31. 199 Vgl. das dem Erzählband Sommerhaus, später vorangestellte Motto von Tom Waits: »The doctor says, I’ll be alright but I’m feelin blue«. 200 Helmut Böttiger: Und immer wird gerade jemand anderes geküsst. In: Süddeutsche Zeitung, 7. 7. 2005; zit. n. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 33. 201 Vgl. z. B. Volker Weidermann: Fräulein-Plunder. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 2. 2005; oder Helmut Böttiger: Und immer wird gerade jemand anderes geküsst. In: SZ, 7. 7. 2005; zit. n. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 33. 202 »Glück ist immer der Moment davor«, heißt es in der Geschichte »Camera Obscura« (Sommerhaus, später, S. 158). 203 Vgl. Uta Stuhr: Kult der Sinnlosigkeit oder die Paradoxien der modernen Sinnsuche. Judith Hermanns Erzählungen Nichts als Gespenster. In: Caemmerer, Delabar, Meise (Hg.): Fräuleinwunder literarisch, S. 37–52. Auch die Figuren in den Erzählungen von Jenny Erpenbeck (Geschichte vom alten Kind, 1999) und Zoë Jenny (Der Ruf des Muschelhorns, 2000) empfinden permanente Leere und Sinn-›Löcher‹ in der seriell immer gleichbleibenden Zeit. Diese haben ihre Entsprechung in der Wiederholung und Lückenhaftigkeit der Erzählweise (vgl. Ursula Kocher: Die Leere und die Angst – Erzählen ›Fräuleinwunder‹ anders? Narrative Techniken bei Judith Hermann, Zoë Jenny und Jenny Erpenbeck. In: Ebd., S. 53–72, hier S. 69 f.).
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Botschaft als Verheißung einer immanenten Transzendenz. Die beiden komplementären »Bauformen des Erzählens« (Eberhard Lämmert), Serialität und Leerstellen, die wiederholte Narration von Bruch- und Leerstellen einer horizontal-oszillierenden, in der Immanenz sich erschöpfenden Existenz, wodurch in temporaler Ordnung auf eine zeitenthobene und völlig unbestimmte Transzendenz verwiesen wird, lässt sich bei Judith Hermann – wie auch im Falle von Ingo Schulze, der ebenfalls die Technik des ›Erzählens nach Leerstellen‹ anwendet –204 als eine neuartige Synthese der Traditionslinien der amerikanischen Short Story und der russischen Erzählung (Tschechows) charakterisieren. So stellt das um ein leeres Zentrum kreisende Erzählverfahren Hermanns, das darauf zielt, Gefühle der Desillusionierung wie auch der großen, aber unbestimmten Sehnsucht literarisch zur Darstellung zu bringen, ein sowohl ›klassisches‹ als auch ›nervöses‹ Erzählen dar.205 Die Erzählweise ist insofern ›klassisch‹, als die Fokalisierung fast immer intern ist. Dabei werden die Sätze und Erzählsequenzen aneinandergereiht. Somit herrscht eine gleichförmig wiederholende Erzählweise vor, die den Eindruck von Eintönig- und Beliebigkeit vermittelt. ›Nervös‹, d. h. unter der Zeitbestimmung der Diskontinuität und des Prekären stehend, ist dagegen die Erzählweise mit ihrer Unruhe und Lückenhaftigkeit sowie ihrem Verweis auf einen sinnvollen Zusammenhang, der sich nicht mehr herstellen lässt. Dem entspricht auf inhaltlicher Ebene das Sich-Treiben-Lassen der Figuren, ihr Wissen um die Sinnleere und Flüchtigkeit ihrer Subjektposition.206
Die formale Kompromissbildung zwischen der Anlehnung an ein traditionell klassisches und zugleich postmodern ›nervöses‹ Erzählen ist allgemein kennzeichnend für die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in das literarische Feld eintretenden Autorinnen. Während sich auf der Ebene der formalen Gestaltung die Technik des wiederholten Auflesens von Einzelheiten und der gleitenden, ephemeren Synthesen im Vergleich zu den männlichen Popliteraten weniger in der Figur der Ironie als in melancholischen Sehnsuchtsverweisen zeigt, unterscheidet sich die »Fräuleinwunder«-Literatur auf der inhaltlichen Ebene insbesondere dadurch, dass die Hauptfiguren hier passiv abwartend sind und in der Regel nur reagieren. Dagegen sind die Figuren der männlich kodierten Popliteratur oft durch ein rastloses, sich allerdings ebenfalls in Einzelheiten sinnlos verlierendes Handeln charakterisiert.207 Klassische Geschlechterrollen werden also in dieser Hinsicht weitergeführt. Der sowohl ästhetische als auch ökonomische Innovationswert der gleitenden symbolischen Distinktionen und der gleichermaßen ironischen wie auch melancholischen Selbstbezüglichkeit in der Momentaufnahme ist zeitlich begrenzt. So folgte schon zwei Jahre nach dem Abgesang auf die ironische Popliteratur (2001) derjenige auf die lethargisch-melancholische »Fräuleinwunder«Literatur (2003), der das Kunsthandwerkliche, Handlungsarme und Langweili-
204 205 206 207
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1. Böttiger: Nach den Utopien, S. 295 f. Kocher: Die Leere und die Angst, S. 60–62. ebd., S. 71.
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ge vorgehalten wurde.208 Der Grundanforderung zur Erlangung einer sichtbaren und anerkannten Position im Mittelbereich, nämlich einen ästhetischen Ausdruck für ›welthaltig-gegenwärtige‹ und ›unterhaltsame‹ Literatur zu finden, kann aber auch mit anderen Strategien eines Realismus begegnet werden, die später zum Zeitroman führen.209 So gesehen bildet die »Fräuleinwunder«Literatur einen Übergang von der oberflächenästhetischen Strategie der ›NichtGreifbarkeit‹ hin zu einem um gesellschaftliche Relevanz und Positionsnahme bemühten realistischen Erzählen. Das neue, ›relevante‹ Erzählen im Zeit, Familien- und Generationsroman, das sich nach 2000 durchsetzte, bedurfte im weitesten Sinne einer inhaltlich-moralischen Relevanz.
3.3 Disperser Realismus Die Besetzung der symbolischen Leerstelle einer repräsentativen deutschen Gegenwartsliteratur unterliegt der widersprüchlichen Anforderung einer ›repräsentativen Gegenwärtigkeit‹, die sich immer wieder aufs Neue, ›von Fall zu Fall‹, stellt und deren Erfüllung mit den Zyklen des ökonomischen und symbolischen Marktes eine immer schnellere zeitliche Entwertung erfährt. Der nach der Wende auftretende Ruf nach einer neuen, von jedem avantgardistischen, akademischen und ideologischen ›Überbau‹ befreiten Literatur, die sich den Anforderungen der Gegenwart stellt, indem sie – in Annäherung an den Journalismus – die Einzelheiten des Hier und Jetzt als ›lebendige Erfahrung‹ ästhetisch gestaltet, zielte auf eine »Rückkehr zum Erzählen« in einer »neuen Objektivität«,210 vor allem in Form eines neuen Realismus.211 Wie oben ausgeführt, bildet die Auseinandersetzung mit den Einzelheiten in der sozialen Zeit, d. h. in den beschleunigten Produktions- und Rezeptionszyklen im Zeitmodus der Präsenz, die Grundlage für die ästhetische Unterhaltungsliteratur des dynami-
208 Vgl. z. B. Jochen Förster: Geht dem Fräuleinwunder die Puste aus? Der schnelle Ruhm kann schnell zur Last werden. Ein kritischer zweiter Blick auf die wichtigen Jungautorinnen – und ihre neuen Werke. In: Die Welt, 12. 2. 2003; zit. n. Delabar: Reload, remix, repeat, S. 243 f.; vgl. auch Kocher: Die Leere und die Angst, S. 52. 209 So lässt sich zum Beispiel bei Jenny Erpenbeck ein Wandel in ihrem Wörterbuch-Roman von 2004 beobachten, in dem es um realhistorische Handlungen und konkrete Taten im Kontext von ›zeitlosen‹ Fragen geht, wie die Konstruktion von Wahrheit, Erinnerung und Schuld. 210 Vgl. Freund: »Neue Objektivität«. 211 Helmut Koopmann sieht die »Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur (1970–1995)« allesamt im Zeichen eines realistischen Schreibens, das sich in einem mehrphasigen Prozess, der in Kontinuität mit der Moderne stehe, ausgebildet habe (vgl. H. K.: Tendenzen der deutschen Gegenwartsliteratur [1970–1995]. In: Knobloch, H. K. [Hg.]: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, S. 11–30, bes. S. 17).
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sierten Mittelbereichs. Der neue, sich den ökonomischen und medialen Anforderungen der Gegenwart stellende Realismus ist – in eine Analogie zu Max Webers Religionssoziologie übersetzt – Sache der »Zauberer«.212 Im Gegensatz zum vertikal strukturierten Antagonismus zwischen »Priester« und »Propheten«, der das relativ autonome Subfeld prägt, erheben die »Zauberer« keinen »Anspruch auf die Ausübung spiritueller Herrschaft«,213 d. h. sie beteiligen sich nicht programmatisch am Kampf um den Erhalt oder Umsturz der doxa. Stattdessen müssen sich die »Zauberer« in einer horizontal ausgerichteten Konkurrenz um Kontingenz-Kompetenz auf dem Markt der ›Heilsangebote‹ von Fall zu Fall und das heißt in den meisten Fällen: von Roman zu Roman, von Erfolgsbuch zu Erfolgsbuch bewähren. Während es in der vertikalen Ordnung des relativ autonomen Subfeldes um das Überleben in der ästhetischen Zeit geht, dreht sich hier alles um das Überleben in der sozialen Zeit. Entsprechend lassen sich im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich verschiedene Formen eines dispersen Realismus, seiner Momentaufnahmen, Alltagsgeschichten und Chroniken, beobachten: von einer in Einzelheiten der (pathologischen) Alltäglichkeit zerfallenden Subjektposition wie z. B. bei Sibylle Berg, John von Düffel, Wilhelm Genazino bis hin zu einer von kulturellen Fremderfahrungen ausgehenden ›welthaltigen Literatur‹ wie z. B. bei Feridun Zaimoglu oder Ilija Trojanow. Die Arbeit der nach Weber außerhalb des universal legitimierten Kultusbetriebes (»Hochliteratur«) stehenden »Zauberer«, ihre ›magisch-alchemistische‹, diskontinuierliche Verwandlung der Einzelheiten, stellt insgesamt eine Profanisierung der symbolischen ›Heilsgüter‹ dar. Im Unterschied zu den »Priestern« und »Propheten«, die in einer Auseinandersetzung um den wahren »Gottesdienst« stehen (institutionalisierte, routinierte auctoritas versus charismatische, außeralltägliche Herrschaft), ringen die »Zauberer« im Mittelbereich um die magische Bändigung der »Dämonen«,214 die sich in den Einzelheiten und in der diskontinuierlichen Zeit zeigen. Während die symbolische Wertordnung des literarischen ›Gottesdienstes‹ durch den ›Kultusbetrieb‹ und seine spezifische, ästhetische Zeit gesichert ist, sind die Anforderungen der ›magischen Bezwingung der Dämonen‹ der Gegen-
212 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Teil, V, § 2: »Zauberer – Priester«, S. 259; u. oben: Erster Teil, I. 2. 213 Bourdieu: Das religiöse Feld, S. 85. 214 »Man kann diejenigen Formen der Beziehung zu den übersinnlichen Gewalten, die sich als Bitte, Opfer, Verehrung äußern, als ›Religion‹ und ›Kultus‹ von der ›Zauberei‹ als dem magischen Zwange scheiden und dementsprechend als ›Götter‹ diejenigen Wesen bezeichnen, welche religiös verehrt und gebeten, als ›Dämonen‹ diejenigen, welche magisch gezwungen und gebannt werden« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 259; vgl. Bourdieu: Das religiöse Feld, S. 27).
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wart, d. h. die vielfältigen literarischen Realismusformen der neuen ›Zauberer‹ im flexibel ökonomisierten Mittelbereich, stets der Gefahr ausgesetzt, sich in ›Profanitäten‹, in den dinghaften Einzelheiten, Subjekt-Konstitutionen, Oberflächenstil-Rankings, archivarischen Ansammlungen und ethnografischen oder pathologischen Einzelbeobachtungen der Alltagskultur ohne eine langfristige Auratisierung zu erschöpfen. Der Literatur des Mittelbereichs, die die Einzelheiten aufliest, sie aber nicht mehr langfristig, d. h. kunstautonom transzendiert, droht strukturell stets aufs Neue die Entzauberung durch die Sichtbarwerdung der Mittelmäßigkeit einer profanisierten Durchschnittsliteratur, die die soziale Zeit, die Zeit der kurzfristigen Anliegen der Gegenwart, nicht überdauert. Hinsichtlich der Reaktion auf die Anforderung der ›magischen‹ Bewährung von Fall zu Fall und hinsichtlich der permanenten Gefahr einer zeitlichen Entzauberung lassen sich zwei Arten von Umstellungsstrategien und Autorpositionen unterscheiden: Die eine geht offensiv mit der alltags- oder popkulturellen Mittelmäßigkeit um, indem sie neue flexible Wertbildungen und Oberflächenästhetiken erzeugt, die strukturell mit den dominanten ökonomisch-medialen Diskursordnungen der Konsensbildung korrespondieren. Dagegen versucht die andere Variante der Autorpositionen an die literarische Auseinandersetzung mit der Gegenwart wieder den Maßstab politisch-moralischer Werte anzulegen. Beide Varianten spiegeln sich auch in der Spannung zwischen einer medialen und einer klassischen literarischen Öffentlichkeit »räsonierender Privatleute« (Habermas), die die Brücke zur politischen Öffentlichkeit schlägt.
Flexibel-normalistische Narrationen im literarischen Mittelbereich Auf die Anforderung eines Realismus, der iterativ ›auf der Höhe der Zeit‹ die ›Einzelheiten‹ ästhetisch bindet und Konsensbrücken herstellt, können insbesondere diejenigen literarischen Verfahren reagieren, die mit ›präsentischen‹ Darstellungsformen der sozialen Zeit im Zeichen einer flexiblen Wertordnung arbeiten. Für diese Autorpositionen sind flexibel-normalistische Narrationsstrategien charakteristisch, die die oben vorgestellten Strategien der Doppelund Mehrfachkodierung, der ›gleitenden Distinktionen‹ und der ›Nicht-Greifbarkeit‹ in sich fassen: Abgekoppelt von präexistenten normativen Werten und auf der Basis einer kollektivsymbolischen Vermittlung statistischer Mittelwerte, kennzeichnet sie ein wiederholtes ›(Selbst-)Adjustieren‹ normalistischer Mittelbzw. normal-range-Bereiche mittels lust- und angstbesetzter Überschreitung von Normalitätsgrenzen in Richtung temporärer Denormalisierung.215 Das lite215 Vgl. Link: Versuch über den Normalismus; u. J. L.: Normal/Normalität/Normalismus. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 4: Medien – Populär. Stuttgart, Weimar 2002, S. 538–562.
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rarische Ausloten von Mittelmaß- oder Durchschnitts-Spektren, von kollektivsymbolischen ›Kurvenlandschaften‹ des Normalen, stellt im Kern eine kurzfristige und immer wieder neu zu justierende Herstellung kontingenter kultureller Wertordnungen der Normalverteilung in den Unsicherheits- und ›Risikozonen‹ des Mittelbereichs dar. Für diesen horizontal ausgerichteten, sich iterativ einem Mittelwert annähernden Klassifikationsprozess ist, wie bereits erwähnt, die narrative Strategie der »(nicht)normalen Fahrt« charakteristisch.216 Sie steht für eine präsentische Schreibweise der Gegenwart, in der flexibel-normalistische Lebensläufe und gesellschaftliche Entwicklungen über symbolische Kurvenverläufe kurzgeschlossen werden, die sich aus punktuellen und iterativen Abgleichungen des (nicht)normalen Zustandes zusammensetzen. Das literarische Verfahren einer flexibel-normalistischen Präsenz- und Relevanz-Versicherung steht unter der Bestimmung der beschleunigten sozialen Zeit und ihrer Profanisierung der ›Ökonomie des Heilsgeschehens‹. Moralisch wie auch ästhetisch normative Ordnungen werden durch alltagskulturelle Durchschnittsbereiche mit breiten Übergangszonen ersetzt. Die Modernisierung der gesellschaftlichen Funktionsbestimmung eines Teils der ästhetischen Unterhaltungsliteratur im Mittelbereich besteht also in ihrer Kopplung mit diskursiven ›Normalitätsfeldern‹. Im Zentrum der literarischen Auseinandersetzung mit (De-)Normalisierungsprozessen steht dabei die wechselseitige Bespiegelung von Lebensläufen und gesellschaftlichen Entwicklungen, wie man dies besonders deutlich in den Narrationen von Autoren wie Friedrich Christian Delius, Sibylle Berg oder Matthias Politycki beobachten kann. Deren Autorpositionen lassen sich als exemplarische Fälle für die Besetzung des flexibel ökonomisierten und medialisierten, hier: flexibel-normalisierten Mittelbereiches anführen.217 In F. C. Delius’ Texten geht es häufig um gesellschaftliche Grenzsituationen (so z. B. in Deutscher Herbst [1977]). Das Erzählen von kollektiven Ausnahmezuständen steht dabei in Verbindung mit individuellen ›Lebensfahrten‹. Mit Verweis auf die Widersprüche in der ›Wirklichkeit‹ werden normalistische Szenarien sowohl der kollektiven als auch der individuellen Abweichung narrativ entfaltet. Das realistisch-satirische Erzählen von Delius, das allgemein auf einer »Poetik der Widersprüche« 218 basiert, zeigt die von den modernen Industriegesellschaften produzierten A-Normalitäten auf und generiert sich aus einer »Exploration von Normalitätsgren-
216 Vgl. Gerhard, Grünzweig, Link, Parr (Hg.): (Nicht) normale Fahrten. 217 Folgende Ausführungen nach Rolf Parr: Vom ›rasenden Stillstand‹ zur ›Poetik der Widersprüche‹. Ausnahmezustände und (De-)Normalisierung bei F. C. Delius. In: Ebd., S. 85–105; Jürgen Link: (Nicht) normale Lebensläufe, (nicht) normale Fahrten; u. R. P.: Normalistische Positionen und Transformationen im Feld der deutschen Gegenwartsliteratur. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes, S. 189–208. 218 Vgl. Parr: Vom ›rasenden Stillstand‹, S. 85 f.
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zen« (so z. B. in Unsere Siemens-Welt [1972], Einige Argumente zur Verteidigung der Gemüseesser [1985]).219 Durch die enge thematische Verbindung aktueller historisch-politischer Ereignisse mit der (nicht)normalen Lebensfahrt der jeweils im Mittelpunkt stehenden Figur übersetzen sich die Brüche und der Untergang gesellschaftlicher Utopien in normalistische Lebensfahrten der neu zu justierenden Bereiche des (Nicht-)Normalen. Am Beispiel einzelner ›Normal-Monaden‹ wird von gesamtgesellschaftlichen Systemkrisen und Ausnahmezuständen erzählt, »heute, da die Katastrophen Normalität und das Normale die Katastrophe ist«.220 In Ein Held der inneren Sicherheit (1981) dient das Autofahren als Kollektivsymbol »technischer Regulierung von Mensch/Maschine-Homöostaten in Situationen potentieller De-Normalisierung«.221 Insgesamt verweist Delius’ vom Wanken zwischen Normalisierung und De-Normalisierung geprägtes Erzählen auf ein postmodernes literarisches Verfahren. Über die Anknüpfung am Zusammenbruch gesellschaftlicher Utopien bleibt es jedoch an protonormalistischen Grenzziehungen orientiert. An Delius’ Schreiben, das das Scheitern gesellschaftlicher Utopien mit individuellen, subjektkonstitutiven Lebensfahrten koppelt (so auch in Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus [1995]) und diesen Komplex über symbolische Abweichungs- und Angleichungsbewegungen zur Darstellung bringt, lässt sich der fließende Übergang zwischen flexibel-normalistischen und protonormalistischen Strategien ablesen. Damit steht Delius’ »Poetik der gesellschaftlichen Widersprüche« weiterhin in der Tradition einer moralisch-inhaltlichen Ausrichtung, also einer gesellschaftskritischen Funktion der Literatur, für die vor allem die Literatur der Gruppe 47 bürgt.
Im Vergleich zu Delius stellt Sibylle Berg eine deutlich stärkere Vernetzung von ›Fällen‹ einer rastlosen Subjektherstellung her, wodurch sich ihr Schreiben als dominant horizontal, d. h. flexibel-normalistisch ausgerichtet erweist.222 Aus dem Journalismus kommend ist die Autorin noch vor ihrem ersten Roman durch ihre Kolumnen im Zeitmagazin als »rotzfreche[ ] Zeitdiagnostikerin« bekannt geworden.223 Ihre bevorzugten Genres stammen ebenfalls aus dem Journalismus und anderen Medien: Kolumnen, Episodenromane, Reisereportagen, Porträts, Leserbriefe (»Das war’s dann wohl«. Abschiedsbriefe von Männern [2008]) und Talkshow-Formate (das Theaterstück Eine Stunde Glück [2000]). Als »Symbolanalytikerin«, die unter der Bestimmung der sozialen Zeit die Spektren alltagskultureller Stile durcharbeitet, ist ihr Schreiben dadurch gekennzeichnet, dass es die Grenzen des ›guten Geschmacks‹ und die Tabus politischer Korrektheit verletzt. Dabei sind ihre ersten Romane, die im Jahresrhythmus erschienen – Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997), Sex II (1998), Amerika (1999) –, von den gleichen Erzählformen geprägt: dem seriellen Episodenroman, der ein amerikanisches Narrationsmuster aufnimmt und im Kern auf Bergs Magazin-Kolumnen zurückgeht. Ihre serielle Erzähltechnik des ›schnellen Schnitts‹ 224 lässt sich mit Link und Parr als Narrativ der Unter- und Überschreitung von Nor-
219 Vgl. ebd., S. 86. 220 Zitat aus: F. C. Delius: Die Verlockungen der Wörter oder warum ich immer noch kein Zyniker bin (1996), zit. n. ebd., S. 102. 221 Ebd., S. 99 f. 222 Vgl. ebd., S. 101. 223 Petra Günther: Sibylle Berg. In: Arnold (Hg.): KLG, 84. Nlg. (2006), S. 2. 224 Vgl. ebd.
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malitätszonen charakterisieren. Die Episoden in Sex II drehen sich jeweils um Figuren als ›Normal-Monaden‹, die sich nur graduell voneinander unterscheiden und allesamt auf permanenter, in den allermeisten Fällen zum Scheitern verurteilter Glückssuche sind. Diese Glückssuche wird als Ausbrechen aus der kaputten ›normalen‹ Welt in der Großstadt imaginiert, jedoch ist die einzig mögliche Form des Ausbruchs aus dem gesellschaftlichen Starrsinn stets von extremer Gewalt, abnormer Sexualität, Wahnsinn bis hin zum Tod geprägt. Zudem ist die Endzeitstimmung in der Stadt stark zeitlich strukturiert, d. h. nach den kurzen Momenten der Gegenwart, die von »Geschichten gegen den Wahnsinn« außerhalb des schnellen Zeitrhythmus ergänzt werden.225 Auch der Roman Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot (1997) erweist sich als in hohem Maße von flexibel-normalistischen Narrationsverfahren geprägt.226 Die einzelnen Kapitel werden jeweils nach den zehn, wieder als ›Durchschnitts-Normal-Monaden‹ konzipierten Hauptfiguren benannt.227 Die Figuren haben keinen ›Tiefencharakter‹, sondern sind symbolisch isolierte ›Kügelchen‹ oder ›Atome‹, die sich nach einem affektiv intensiven, also ›supernormalen‹ Leben (»Glück«) und insbesondere nach emphatisch intensiver Kommunikation (»Liebe«) sehnen, ohne eigentlich an deren Möglichkeit zu glauben.228 Alle Figuren überschreiten die Normalitätsgrenze in Richtung Anormalität, während es nur einer von ihnen gelingt, den Rückweg in die Normalität zu finden. Diese Strategien des flexiblen Normalismus werden andererseits auch von plötzlich auftauchenden konservativen, kulturkritischen Tönen kontrastiert, die auf protonormalistische und normative Regulative verweisen.
Das narrative Durchspielen verschiedener Besetzungen innerhalb einer in ihren Möglichkeiten begrenzten Matrix von normal-range-Szenarien und Lebensstilen, das auch schon für Stuckrad-Barre in Form von Listen-Rankings charakteristisch war, erweist sich schließlich auch bei Matthias Politycki als ein zentrales Schreibverfahren.229 In seinem Weiberroman (1997)230 werden mehrfach Listen zur zeitweiligen Ordnungsherstellung angeführt, wie z. B. eine »Hundert-Punkte-Liste für-den-heiratswilligen-Jungerpel« zur Bewertung von Frauen (89), eine »Liste der lachfreudigsten Wörter« (104), »Haltungsnoten« und »Wallungswerte« beim Weintrinken (120), Aufstellen einer »Ewige[n] Bestenliste« aller bewunderten Frauen, »›unter Berücksichtigung der jeweiligen Komplettphänomene‹, ausgehend von jährlichen Abschlusstabellen, aus denen dann, mittels schlichter Addition der entsprechenden Platzziffern, die aktuelle Hitparade errechnet werden« kann (203). Wie in Florian Illies’ Generation Golf und den Pop-Romanen den neunziger Jahren, die die materiellen Einzelheiten in der Zeit, ihre Oberflächenästhetik und den ästhetischen Differenzwert für die flexible Subjektkonstitution in Form von Lebensstilen archivieren und damit eine Chronik der jüngsten Gegenwart schreiben,231 orientieren sich die Figuren in Polityckis Zeitroman der siebziger,
225 Ebd., S. 3. 226 Vgl. Link: (Nicht) normale Lebensläufe, S. 25–28. 227 Vgl. ebd., S. 24 f. 228 Vgl. ebd., S. 25 f. 229 Folgende Darstellung nach Parr: Vom ›rasenden Stillstand‹ zur ›Poetik der Widersprüche‹, S. 101 f. 230 Folgende Nachweise aus der Rowohlt-Ausgabe (Hamburg 1999) im Fließtext. 231 Vgl. Baßler: Der deutsche Pop-Roman.
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achtziger und neunziger Jahre an den neuesten alltagskulturellen Trends. Auch hier bestehen die chronikalischen Narrationen der sozialen Zeit aus Streuungen möglicher Positionen rund um normalistische Bandbreiten. Zum Beispiel entwickeln sich die Frauen im Roman durch einen normalistischen Abgleich ihres Verhaltens mit Mode- und Frauenzeitschriften wie »marie claire«, »Vogue«, »Elle« oder »Carina« (vgl. 271, 291, 302).232 Im Unterschied zu StuckradBarre, der dieses ›flächige‹ Erzählverfahren direkt mit der Bandbreite der aktuellen medialen Diskurse koppelt, versucht Politycki einen Anspruch auf formalästhetische Eigenständigkeit und einen literarischen Traditionsanschluss aufrecht zu erhalten. Ähnlich wie später Ingo Schulze in Neue Leben 233 schließt er hier an die Tradition des Briefromans an. Mit der Rahmung des Romans durch die Fiktion einer historisch-kritischen Ausgabe von Niederschriften mit metareflexiver Kommentierung im Anhang wird der formalästhetische Anspruch markiert und zugleich satirisch destruiert. Es wird sich zeigen, dass Politycki bestrebt ist, die horizontale Herstellung temporärer Ordnungen über flexibel-normalistische Subjektpositionen durch die Forderung nach einem neuen »relevanten Realismus« zu überwinden.
Die im Wesentlichen horizontal verlaufende Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs weist in normalistischer Perspektive einen diachronen Prozess auf, in dem sich das Spektrum möglicher Literarisierungsverfahren ausdifferenziert (s. u., Abb. 10). Dabei unterscheidet Parr mehrere Transformationsprozesse seit den 1960 er Jahren: Den ersten Transformationsschritt bildete die Ablösung der Orientierung an Normen (so gerade noch bei Peter Weiss) zugunsten einer flexibel-normalistischen Orientierung (verdeutlicht durch Urs Widmer und Hans Magnus Enzensberger), die in der Folge als zweiten Transformationsschritt in den 1970 er und 1980 er Jahren den Erzähltyp der ›(Nicht) normalen Fahrt‹ favorisiert, der das Überschreiten von Normalitätsgrenzen und mit ihnen das Durcheinandergeraten bisheriger Normalitäten durchspielt. Dieser Erzähltyp ist bei Bernward Vesper (Die Reise), Dieter Kühn (Die Kammer des schwarzen Lichts) und vielen anderen ebenso anzutreffen wie bei Friedrich Christian Delius (Ein Held der inneren Sicherheit, Mogadischu Fensterplatz). Das führt als dritte Transformation einerseits zur Tendenz hypernormalistischer Überbietung (so wie in Sibylle Bergs Amerika-Roman), in der Gegenrichtung aber auch zum Wiederaufleben einer Sehnsucht nach normativer Orientierung oder zumindest nach engeren Bandbreiten von Normalität (so bei Wellershoff). Symptomatisch für eine vierte Transformation ist die Provokation durch Hineinholen sogar extremerer Szenarien von Hygiene und Sexualität in ein damit zugleich deutlich erweitertes Normalitätsspektrum bei Charlotte Roche, was zugleich aber auch bedeuten kann, dieses Spektrum regelrecht zu sprengen (wie tendenziell bei Helene Hegemann).234
Obwohl die Entfaltung normalistischer Positionen eine historische Entwicklung aufweist, bleiben doch die verschiedenen Varianten des Spektrums (normative, proto-normalistische, flexibel-normalistische und hypernormalistische
232 Vgl. Parr: Literatur als literarisches (Medien-)Leben, S. 193. 233 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3.1. 234 Parr: Normalistische Positionen und Transformationen, S. 200.
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Abb. 10: Positionen im literarischen Feld der Gegenwartsliteratur in normalistischer Perspektive235
235 Ebd., S. 201; folgende Nachweise im Fließtext.
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Positionen) im Feld der Gegenwartsliteratur synchron gültig. Dies spricht dafür, dass normalistische Verfahren zwar eine zentrale Bedeutung für die Expansion des Mittelbereichs ästhetischer Unterhaltungsliteratur haben, dass sie sich aber im literarischen Feld unterschiedlich verteilen. Parr hat nun versucht, den Ansatz des flexiblen Normalismus mit Bourdieus Feldmodell zu vermitteln.236 Ersterer wird damit durch eine Ordnung der Positionierung ergänzt, die sich zur Konkretisierung des flexibel ökonomisierten Mittelbereichs des literarischen Feldes heranziehen lässt. Während ›träge‹ normalistische Positionen laut Parr eher dem Bereich der ›Orthodoxie‹ (im Sinne Bourdieus) zuzuordnen seien, korrelierten flexibel-normalistische Positionen tendenziell mit ›häretisch‹-avantgardistischen Positionen. Entsprechend lassen sich auf der vertikalen Achse der Macht bzw. der Anerkennung (= symbolisches Kapital) die verschiedenen normalistischen Positionen eintragen: Parr nimmt eine »Homologie zwischen der Avantgarde der Gegenwartsliteratur und hypernormalistischen Szenarien sowie zwischen Positionen der literarischen Orthodoxie und normativen bzw. proto-normalistischen Ausrichtungen« an (200). Darüber hinaus sieht er eine Korrelation zwischen Autonomie und Normalismus: »Das bourdieusche Kriterium der ›Autonomie‹ und das normalistische der ›Grenzüberschreitung‹ korrelieren so, dass in Richtung zunehmender Überschreitung des Normalen auch die Autonomie eines Autors zunimmt; umgekehrt wird Heteronomie größer in Richtung Normativität« (201). Die Eintragung normalistischer Positionen in das literarische Feld ist problematisch, da sich hier verschiedene analytische Fragestellungen überschneiden (Diskurse vs. soziale Positionen).237 Trotzdem ist der Versuch einer Vermittlung der Theorieansätze und Modelle sinnvoll, da sie Aufschluss zum einen über die Wechselwirkung und Vermischung der kulturellen und ökonomischen Logik, zum anderen über den Modus des künstlerischen Alterns im expandierenden Mittelbereich gibt. Neben der kulturell-ökonomisch gemischten Ordnung kann dieses Modell eine weitere strukturelle Transformation des literarischen Feldes erfassen: die Verlagerung der Reproduktion des Feldes vom avantgardistischen Pol hin zum Mittelbereich, wo literarische Symbolproduzenten das Neue sowohl in kulturell-symbolischer als auch ökonomischer Hinsicht für einen gemischten Markt produzieren. Der literarisch-symbolanalytisch oder -journalistisch ausgerichtete Diskurs des flexiblen Normalismus erfüllt als Interdiskurs kurzfristig und iterativ hergestellte repräsentative Funktionen, indem er Normalitäten und Abweichungen qua wechselnder Durchschnittswerte und Anerkennungsverhältnisse interdiskursiv vermittelt. So zeigt sich in der flexibel-norma-
236 Die Kopplung des feldanalytischen Ansatzes mit der Ordnung diskursiver Regelungen hält Parr trotz eigener Bedenken für legitim: »Denn erstens haben wir es bei Normalität mit einem per se genuin sozialen Gegenstand zu tun (und auf einen solchen bezieht sich ja auch Bourdieus Ausgangsfrage danach, wie Soziales in literarischen Texten aufgegriffen, verarbeitet und mit Textuellem vermittelt wird). Zweitens kann durch die Kombination beider Ansätze der Graben zwischen Bourdieus Fokussierung der Autoren und ihrer jeweiligen sozialen Kontexte und der interdiskurstheoretischen / normalismustheoretischen Fokussierung von Diskursen, im Falle der Literatur also Texten, überbrückt werden« (ebd., S. 202). 237 Siehe dazu oben: Einleitung, Abschnitt 4.
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listischen Aushandlung von Identitäten und Ordnungen des Normalen der Ausweitungsprozess der populärkulturellen Repräsentationsfunktion von Kultur bzw. Literatur: Im Unterschied zur traditionellen universalistischen kulturellen Repräsentation, die vertikale Stellvertretungsund Anerkennungsverhältnisse autoritär herstellt, ist die flexibel-normalistische Repräsentation dominant horizontal-abgleichend ausgerichtet. Im Unterschied zur vertikalen Langzeitordnung unterliegen hier die Anerkennung von Werten und die subjektkonstituierende Funktion der Kultur zeitlichen und expressiven Schwankungen. Aus der flexibel-normalistischen ästhetischen Unterhaltungsliteratur kann der Rezipient für sich im temporären (Lese-)Erlebnis etwas ›mitnehmen‹, er muss es aber nicht.
Die horizontale Expansion flexibel-normalistischer Ordnungen, die mit der Ausdifferenzierung, dem ›Aufplatzen des Wissens‹ und der Entstehung einer ›postindustriellen Wissensgesellschaft‹ korrespondiert,238 betrifft das gesamte literarische Feld. Es hat aber offenbar sein ›Epizentrum‹ im unteren aufstrebenden, (noch) nicht institutionell legitimierten, popkulturell-avantgardistischen Mittelbereich, der sich häufig nach einer Skandal-Logik Aufmerksamkeit verschafft und die jeweilige Legitimitätsgrenze erprobt. Aus feldanalytischer Sicht hat sich die neue Avantgarde mit der Expansion ästhetischer Unterhaltungsliteratur vom vertikal ausgerichteten Avantgardekanal in die horizontale Konkurrenz um Kontingenz-Kompetenz, ästhetische Präsenz-Herstellung und gesellschaftliche Relevanz verlagert. Daher unterliegen die flexibel-normalistischen und hypernormalistischen Positionen im literarischen Feld auch den graduell unterschiedlich gemischten Einflüssen zwischen einer kunstautonomen und einer ökonomischen Wertökonomie des Marktes. An Autorpositionen wie z. B. an der von Sibylle Berg lässt sich die jeweils spezifische Kompromissbildung zwischen den beiden Wert-Ökonomien ablesen. Hierbei ist die horizontale Ausrichtung, die Konkurrenz unter den symbolanalytischen »Zauberern« (Weber) von Fall zu Fall in der sozialen, alltagskulturellen Zeit, maßgeblich – im Unterschied zu einer dominant vertikalen Auseinandersetzung um die feldinterne Reproduktion der literarischen doxa zwischen »Priestern« und »Propheten« im Avantgardekanal.239 Die Zuordnung einer Autorposition entweder zur vertikal oder zur horizontal ausgerichteten Avantgarde ist durch die Expansion des Mittelbereichs – des Bereichs der neuen Symbolanalytiker und -produzenten, der tuttologi (Bourdieu) – oft schwierig. Die Positionen der Autoren verändern sich mit ihren Laufbahnen, d. h. mit ihrem spezifischen literarischen Altern graduell. Doppelund Wechselpositionen sowie Kompromissbildungen zwischen ästhetischen und ökonomischen Werten sind daher häufig. In der langfristigen Perspektive
238 Siehe dazu oben: Erster Teil, I. 3. 239 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, III.
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zeigen sich jedoch die feinen, aber entscheidenden Unterschiede hinsichtlich des Einflusses der Bestimmungen der künstlerischen und/oder der sozialen Zeit: Während zum Beispiel Sibylle Berg kontinuierlich Romane vorlegt, die ein bestimmtes, für ihre horizontal-avantgardistische Position im Mittelbereich charakteristisches Wechselverhältnis zwischen kulturellen und ökonomischen Bestimmungen aufrecht erhalten, finden Roche oder Hegemann nur eine punktuelle Aufmerksamkeit von kunstautonomer Seite, die im Feld über eine Skandallogik oder über eine ›Naivität‹ inszenierende Logik der Reflexivität vermittelt ist.240 In der langfristigen Perspektive der spezifischen, literarischen Alterns unterliegt die popkulturelle Produktion von Roche ähnlich wie die von Stuckrad-Barre dominant der ökonomisch-massenmedialen Logik, d. h. dem Subfeld der popkulturellen Großproduktion, ohne ihm ganz und ausschließlich anzugehören. Diese Autorpositionen bilden daher den ›Wirtschaftsflügel‹ des literarischen Mittelbereichs ab.
Ein symptomatisches Manifest für einen neuen, »relevanten Realismus« Wie die Beispiele von Delius und Politycki zeigen, ist der temporäre und partielle Wechsel von flexibel-normalistischen zu protonormalistischen Positionen, die sich auf ästhetische und moralische Wertgrenzen beziehen, innerhalb eines einzelnen Werkes wie auch innerhalb der Werk-Abfolge und der mit ihr verbundenen Entwicklung der Autorposition möglich. In der horizontalen Konkurrenz um ästhetische Präsenz und gesellschaftliche Relevanz entstehen disperse und fluktuierende Besetzungen einer zeitgemäßen Gegenwartsliteratur durch kurzfristig ausgehandelte, flexibel-normalistisch hergestellte interdiskursiven Ordnungen des (Nicht-)Normalen. Sie generieren strukturell gegenläufig ein Streben nach einer ›wahrhaften‹, substantiellen Relevanz und einer längerfristigen, repräsentativen Stellung der Literatur in der Gesellschaft. Beobachten lässt sich diese Gegenbewegung am Beispiel einer ihrerseits nur kurzfristig auftretenden, aber symptomatischen Debatte um einen neuen, sogenannten »relevanten Realismus«, die Matthias Politycki, Thomas Hettche und andere Autoren 2005 mit ihrem manifestartigen Artikel »Was soll der Roman?« 241 initiierten. Das Manifest für einen »relevanten Realismus« wandte sich gegen die ›Mittelmäßigkeit‹, gegen die mediokere Bedeutungslosigkeit der
240 Vgl. zur feldinternen Logik der Entstehung der ›naiven‹ Position des »Zöllner Rousseau« im Feld der Kunst Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 384–395. 241 Erschienen in: Die Zeit v. 23. 7. 2005; leicht verändert wiederabgedruckt in Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Hamburg 2007, S. 102–106; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Literatur, insbesondere des Romans, und zielte dagegen auf eine gesamtgesellschaftlich repräsentative Neubesetzung der ›Mitte‹ durch ein neues ›Wir‹-Sagen. Das Manifest beginnt mit einer metaphorischen Skizzierung des literarischen Feldes als Abfolge literarischer Generationen und ihres repräsentativen Stellenwerts im Kampf um Deutungshoheit: Vorne weg schreiten in dieser Darstellung weiterhin die Vertreter der Gruppe 47, »die großmäuligen Alten, die Deutungshoheiten mit und ohne Pfeife« (102). Dicht gefolgt kommen die 68 er Schriftsteller, die »Emanzipierten um jeden Preis, die sich in splendider Isolation eingerichtet haben und aus dieser von Zeit zu Zeit mit steiler Geste zu Wort melden« (ebd.). Schließlich folgen »die Dienstleister gestriegelter Populärliteratur und die mehrheitlich TechnikerInnen einer unerschöpflichen Ästhetik der Erschöpfung« (ebd.). Letztere könnten auch ganz vorne stehen, ›Avantgarde‹ sein, »sobald der Betrieb plötzlich kehrtum macht (hat er das nicht schon?)« (ebd.), womit eine Umkehrung der Dominanzverhältnisse zwischen der traditionell kunstautonom-universalen und der ästhetisch-präsenten, sektoralen Repräsentativität der Popkultur ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre angesprochen ist. Dazwischen sehen die Verfasser »das adulte Mittelfeld« (ebd.), quasi die Generation der 78er, der sie selbst angehören. Das »adulte Mittelfeld«, in das die »Zonenkinder des Kalten Krieges« alle »spätestens 1989 […] entlassen« wurden (ebd.), ist von politischem Desinteresse und einer Isolation des Ichs geprägt. Es unterscheidet sich von der »Mitte« der Gesellschaft durch seine Belanglosigkeit innerhalb des literarischen Betriebs. Daher rufen Hettche, Politycki und die anderen Verfasser dazu auf, eine »neue Mitte« einer gesellschaftlich relevanten Literatur zu schaffen: »Die Zurückhaltung gegenüber den Machtinstrumenten des Betriebs aufgeben, parteiisch werden, eine inner- und außerliteraturbetriebliche Opposition gegenüber Verblödung und Depression aufbauen« (103). Dabei wenden sie sich konkret gegen die »Epigonen des Familienromans, die raunenden Beschwörer des Imperfekts« (ebd.), die um 2000 die sowohl ökonomische als auch symbolische Mitte des literarischen Feldes mit dem bürgerlichen Thema der Familiengeschichten besetzt hätten.242 Sie sollen nun im Namen einer Gegenwart, die die Verfasser einmal mehr zum zentralen Ort des Erzählens erklären, an den Rand verwiesen werden. Die andere Abgrenzung betrifft das System eines »zunehmende[n] Unbehagen[s] an den gegenwartsversessenen Lebensmitschriften der jungen Kollegen« (ebd.), die ebenfalls die Mitte besetzten. Familien- und historischer Roman einerseits und die »gegenwartsversessenen Lebensmitschriften« andererseits stecken also das literarische Mittelfeld eines dispersen, konkurrierenden Realismus der ›Zauberer‹ um 2005 ab. Ihnen wird ein neuer, emphatischer Begriff des Romans entgegengehalten: Gewiß: Es gibt Familien-Historien, NS-Aufarbeitungs-, Berlin-, Pop- und Enkelromane aller Couleur, doch bereits die um sich greifende Rubrizierung zeigt, wie sehr der Roman die Mitte des Diskurses meidet. Dabei ist gerade der Roman als durchlässigste, aufnahmefähigste Literaturgattung in dieser Mitte des gesellschaftlichen Diskurses entstanden und hat aus ihr heraus immer seine auch ästhetisch größten Entwicklungen vollzogen. (103 f.) Die hier das Wort ergreifende 78er-Generation möchte die »Kleinformen und solipsistische[n] Selbsterkundungen« der Gegenwartsliteratur verdrängen und »endlich die leere Mitte der Gesellschaft« zurückgewinnen (ebd.). Die »leere Mitte der Gesellschaft« ist eine andere Umschrei-
242 Vgl. hierzu Costagli, Galli (Hg.): Deutsche Familienromane.
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bung für die mit dem ›langen Abschied von der Nachkriegsliteratur‹ gewachsene Leerstelle einer der traditionellen literarischen Öffentlichkeit entsprechenden Literatur mit gesellschaftlichem Universalanspruch, d. h. mit Anschluss an die gesellschaftlich-politische Öffentlichkeit. Die Verfasser des Manifests sind bestrebt, sich von einer »selbstreferenziellen Literatur«, die die »Problemdarstellung über die Infantilisierung der Gesellschaft« zu betreiben versuche, wie auch von einer avantgardistischen Literatur und den »Berührungsängsten der Sprachartisten« mit der Realität abzugrenzen (104). Dagegen wird die Forderung nach »mehr Relevanz« der Literatur in einer »›unheimlich‹ gewordenen Welt« gestellt: »Dies setzt voraus, daß der Schreibende eine erkennbare Position bezieht, die moralische Valeurs mit ästhetischen Mitteln beglaubigt«. (ebd.) Erzählen ist die verkappte Äußerungsform des Moralisten, ausgeübt mit dem Pathos dessen, der darin nicht etwa nur der Lust zu fabulieren frönt, sondern sich der Pflicht entledigt, Zeitgenossenschaft aus der Mitte seiner Generation heraus zu betreiben, von einem ästhetischen Standpunkt aus, der immer auch ein moralischer ist. […] Ein aus dem Druck zeitgenössischer Erfahrung resultierendes Erzählen könnte versuchsweise als »Relevanter Realismus« bezeichnet werden. Ebenso weit entfernt von Pseudoavantgarde wie von Zeitgeisterei, arrangiert der Relevante Realist seinen Stoff so kunstvoll zur Fiktion, dass sie beim oberflächlichen Lesen mit einem Abbild der Realität verwechselt werden könnte: inszenierter Realismus. (ebd.) Eingefordert wird ein »Standpunkt«, d. h. »die ästhetisch-moralische Verantwortung eines Schriftstellers, der alles Stoffliche arrangiert, um damit ein erzählerisches Ziel zu erreichen« (ebd.), das auf ein »Ringen um neue Utopien« zielt (106). Angestrebt wird eine neue Verbindung von Ästhetik und Moral. Das manifestartige Schreiben endet mit einem Bekenntnis der 78er: als »Linksliberale[ ]« müssten sie nun »wertkonservativ« denken (ebd.).243
Feldanalytisch gesehen zielt die im »Manifest« zum Ausdruck kommende Stellungnahme für einen neuen, sich vom mediokeren Mittelfeld eines dispersen Realismus abgrenzenden »relevanten Realismus« auf die repräsentative, zwischen Moral und Ästhetik, politischem und literarischem Feld situierte Stellung der Gruppe 47 unter gewandelten, flexibel ökonomisierten und medialisierten Verhältnissen. Charakteristisch für den vom Avantgardepol in den mittleren Bereich verlagerten Ort dieser programmatischen Stellungnahme eines »Manifests«, das sich explizit von einer ästhetischen Avantgarde abgrenzt, ist deren kurzzeitige Wirkung. Die weitgehend ablehnenden Reaktionen anderer Autoren auf die Forderung nach einem »relevanten Realismus« fallen entsprechend kurz und je nach Stellung im literarischen Feld aus.244 An die sich in der Forderung nach einem »relevanten Realismus« ausdrückende Absetzungsbestrebung schlossen am ehesten noch Ilija Trojanow und Juli Zeh an. 2009 traten sie für die
243 Vgl. auch Politycki: »Altwerden ohne jung zu bleiben«. In: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft, S. 9–17. 244 Vgl. die Stellungnahmen v. Andreas Maier, Juli Zeh, Hans-Ulrich Treichel, Uwe Tellkamp u. a. auf: http://www.zeit.de/2005/26/Debatte_2 (abgerufen am 12. 12. 2012).
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neue Form einer engagierten Literatur ein, die auf eine Kritik der wirtschaftlichen und kulturkolonialistischen Globalisierung245 und ihre neuen Formen eines biopolitischen Gouvernements zielt.246 Politik wird für diese Autoren wieder zu einem direkten Thema in der Literatur. Zeh versteht sie als politische Stellungnahme des Einzelnen. Literatur könne da einsetzen, wo der Journalismus und das politische Expertentum »Lücken« ließen, jedoch könne sie – im Unterschied zur symbolischen Zentralstellung der Gruppe 47 – nicht mehr Ausdruck einer kollektiven Haltung sein.247 Entsprechend tritt Zeh im Feuilleton, in Talkshows etc. eher als klassische Liberale auf.
Eine neue Konsekrationsinstanz des ökonomisierten Mittelbereichs: Der Deutsche Buchpreis Im selben Jahr, in dem einige Autoren in der Debatte um einen »relevanten Realismus« bemüht waren, die gesellschaftlich-relevanten Wertkriterien für die Literatur im Mittelbereich neu zu bestimmen, institutionalisierte sich eine strukturell weitaus mächtigere, ökonomisch gestützte Urteils- und Konsekrationsinstanz, nämlich die des Deutschen Buchpreises. Allgemein ist die Anzahl der Literaturpreise seit den frühen 1980ern signifikant gestiegen. Hierin spiegelt sich nicht nur ein wachsender Bedarf an literarischer Wertung und Kanonisierung angesichts der jährlichen Flut der Neuerscheinungen, sondern auch der ökonomische Einfluss des Marktes. Denn die Vielzahl der Literaturpreise schafft vor allem mediale Aufmerksamkeit und verkaufsfördernde PublicityEffekte.248 Der »Deutsche Buchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels« hat sich zur zentralen Konsekrationsinstanz für den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich entwickelt. Im Fokus seiner Ausrichtung steht die medienwirksame Herstellung von Aufmerksamkeit für die Romane eines gegenwartsbezogenen Realismus.249 Die gesellschaftliche ›Rele245 Ilija Trojanow, Ranjit Hoskoté: Kampfabsage. Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen. München 2007; I. T.: Der entfesselte Globus. München 2008; literarisch kommt diese Kritik in Trojanows Bestseller Der Weltensammler (2006) zum Ausdruck. 246 Ilija Trojanow, Juli Zeh: Angriff auf die Freiheit. Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. München 2009; diese Kritik kommt literarisch in Zehs Roman Corpus Delicti. Ein Prozess (2009) zum Ausdruck. Zeh engagiert sich auch direkt politisch in einer Linie der Gruppe 47. Im Bundestagswahlkampf 2005 gehörte sie zu den Autoren, die den Aufruf von Günter Grass zur Unterstützung der rot-grünen Koalition unterschrieben haben. 247 Juli Zeh: Wir trauen uns nicht. In: Die Zeit, 4. 3. 2004; zit. n. Mingels: Das Fräuleinwunder ist tot, S. 34. 248 Vgl. Michael Dahnke: Auszeichnungen deutschsprachiger Literatur gestern und heute: Was wissen wir wirklich über sie? In: Arnold, Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, S. 333–343, hier S. 334 f. 249 Vgl. zum Folgenden auch Christoph Jürgensen: »Ihre Fragen sind unsere Fragen«. Der Deutsche Buchpreis und seine Preisträger(innen). In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des
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vanz‹ von Literatur wird hier also in Form von medialer Präsenz und Steigerung des Absatzes hergestellt. Ähnlich wie der Booker Prize in Großbritannien verfolgt der Deutsche Buchpreis seit 2005 den Anspruch, »den besten deutschsprachigen Roman des Jahres« auszuzeichnen (Selbstdarstellung). Vom Börsenverein des deutschen Buchhandels gestiftet, wird er von verschiedenen Partnern aus der Wirtschaft und dem Journalismus unterstützt und ist mit 25.000 A dotiert. Es handelt sich um einen Preis für den literarischen Markt der »Erfolgsbücher«, der für die Aufhebung der Unterscheidung von E- und U-Kultur eintritt. Seine ökonomische Hauptfunktion liegt darin, schon bekannte und potentielle Erfolgsbücher zu realen Erfolgsbüchern mit entsprechenden Absatzzahlen zu machen. Dabei spielt die Wegbereitung für den internationalen Durchbruch eine zentrale Rolle, wie aus der Preisbeschreibung hervorgeht.250 Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels bringt die (potentiellen) Erfolgsbücher medial in Stellung. Mit einer umfangreichen Berichterstattung über die lange Liste (longlist) der nominierten Kandidaten und mit der einige Zeit darauf als Auswahl aus derselben erfolgenden kurzen Liste (shortlist) der Nominierten wird nicht nur buchhändlerische, sondern auch eine allgemeine mediale Aufmerksamkeit erzeugt. Die symbolische Funktion des Preises besteht schließlich in einer gesellschaftlichen Konsensherstellung, wie sich exemplarisch aus der Begründung der Jury für die Verleihung des Preises 2006 an Katharina Hacker für Die Habenichtse entnehmen lässt: Hacker erzähle »die Geschichte von Haben und Sein neu«. Die Jury lobte den Roman vor allem für seine »flirrende, atmosphärisch dichte Sprache«, mit der die Autorin »ihre Helden durch Geschichtsräume und in Problemfelder der unmittelbarsten Gegenwart« führe. So werde ein Stellvertretungsverhältnis hergestellt: »[I]hre Fragen sind unsere Fragen: Wie willst du leben? Was sind deine Werte? Wie sollst und wie kannst du handeln?« 251
Der Buchpreis des Börsenvereins mit seiner aus Vertretern der Buch- und Medienbranche zusammengesetzten Jury ist eine ökonomisch gestützte nationale Konsekrationsinstanz des Mittelbereichs für ästhetische Unterhaltungsliteratur. Seit seinem Bestehen 2004 favorisiert er den realistischen, historischen Roman als gesellschaftliche Chronik in Absetzung von einer selbstbezüglichen, ironischen Popliteratur.252 Der Preis steht für den Versuch, die literarisch-äsKonservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013, S. 321–340; vgl. auch C. J.: Würdige Popularität? Überlegungen zur Konsekrationsinstanz ›Literaturpreis‹ im gegenwärtigen literarischen Feld. In: Silke Horstkotte, Leonhard Herrmann (Hg.): Poetiken der Gegenwart. Deutschsprachige Romane nach 2000. Berlin 2013, S. 285–302. 250 »Mit dem Deutschen Buchpreis zeichnet die Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung jährlich zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse den besten Roman in deutscher Sprache aus. Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch« (http://www.deutscherbuchpreis.de; abgerufen am 16. 5. 2012). 251 http://www.deutscher-buchpreis.de/de/135020?meldungs_id=135040 (abgerufen am 15. 12. 2012); vgl. Jürgensen: Der deutsche Buchpreis, S. 330. 252 Weitere Preisträger waren Arno Geiger: Es geht uns gut (2005), Julia Franck: Die Mittagsfrau (2007), Uwe Tellkamp: Der Turm (2008), Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht (2009) u. Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf (2010). Die Auszeichnung des Romans von Nadj Abonji
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thetische und die ökonomische Auszeichnungslogik von Besten- und Bestsellerliste zu vereinigen. Er strebt nach diskursiver Konsensbildung und Herstellung neuer Repräsentationen. Zum anderen steht er für Vergleichbarkeit und eine Auszeichnungslogik in der Wettbewerbsordnung (»bester deutschsprachiger Roman des Jahres«). Schließlich ist er Ausdruck des Strebens nach einem Anschluss an den internationalen Markt literarischer Bestseller oder einer globalisierten world literature.
3.4 Exkurs: Vom »Theater der Präsenz« zum »Drama des Prekären«: Transformationen des Theaterfeldes in den neunziger Jahren Wie das lyrische Subfeld 253 stellt das Theaterfeld eine gattungsspezifische Dimension des literarischen Feldes dar. Durch seine Situierung zwischen den Polen der Textualität (Lesedrama) und der theatralen Aufführung (Performance) ist das Theaterfeld einerseits ein Bezugssystem für sich, andererseits zeigen sich auch hier – gattungsspezifisch modifiziert – die allgemeinen Transformationen des literarischen Feldes. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass sich zentrale Transformationen im Theaterfeld der neunziger Jahre homolog zur skizzierten Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereiches entwickelt haben. Dies jedoch mit dem entscheidenden Unterschied, dass das Gegenwartstheater qua Gattungsmerkmal insgesamt markanter als die Gegenwartsprosa im Mittelbereich neue ästhetische Formen ausbilden und damit in einem höheren Maße avantgardistische Funktionen übernehmen konnte, die noch näher zu bestimmen sind. Dabei kam die klassische Avantgarden kennzeichnende Verbindung von Kunst und Leben (Peter Bürger), wie sie vor allem im Dadaismus und Surrealismus angestrebt wurde, dem nicht anti-dramatischen Theater, seiner Abgrenzung vom hochkulturellen Stadttheater und seiner Öffnung für die Performance der ›Wirklichkeit‹ entgegen. Der prononcierte Umgang mit Gegenwart und Gegenwärtigkeit, der allgemein für den Mittelbereich des literarischen Feldes charakteristisch ist, kennzeichnet das Theater der neunziger Jahre in besonderer Weise.254 Dies gilt vor
lässt sich als Versuch der Jury interpretieren, deutschsprachigen Büchern einen Anschluss an eine international rezipierte »Migrationsliteratur« nach britischem Vorbild zu verschaffen. Im Vergleich zum englischsprachigen literarischen Feld sind aber Absatz und Rezeption dieser Literatur im deutschsprachigen Raum noch deutlich schwächer ausgeprägt. 253 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, III. 2. 254 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Die Gegenwart des Theaters. In: Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999, S. 13–21.
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allem für ein Performance-Theater, das sich mit dem postdramatischen Theater seit den siebziger Jahren am Avantgardepol zunehmend durchsetzte und so das literarische text-, fabel- und protagonistengestützte Drama ablöste.255 Es kann hierbei zwischen einem eingeschränkten, ›inneren‹ Bereich des postdramatischen Theaters (Heiner Müller, Rainald Goetz, Elfriede Jelinek etc.) und der Popularisierung postdramatischer Formelemente im gesamten, horizontal ausgerichteten Theaterfeld der neunziger Jahre unterschieden werden.256 Der Aufstieg des postdramatischen Theaters war – analog zur ersten Popliteratur im Bereich der Prosa – auch eine Reaktion auf den verstärkten Einfluss ökonomisch-medialer Ordnungsmuster. Wie die postmoderne Literatur allgemein, reagierte auch das Theater am Avantgardepol auf die gewachsene Medienkonkurrenz und die dem Theater überlegen scheinenden neuen populärkulturellen Repräsentationsmöglichkeiten mit der Ausbildung einer neuen Qualität von Selbstreflexivität und -referenzialität. Mit der Durchsetzung des postdramatischen Theaters in den siebziger und achtziger Jahren als Paradigma, das das »Drama« und seine mimetische Repräsentationsfunktion verabschiedet, die Referenzialität der Handlung, der Protagonisten und sprachlichen Zeichen dekonstruiert und stattdessen in seiner Performativität eine selbstreferentielle Präsenz ausbildet, wurde zugleich einerseits das politisch-soziale (Dokumentar-)Drama mit seinen sozialen Geschichten ästhetisch als gattungsspezifische Ausgrenzung der Sozialkritik entwertet. Andererseits wurde das klassische, literarische Repräsentationstheater an den anachronistischen Rand des L’art pour l’art-Bereichs gedrängt. Hier, am ästhetischen Pol der arrivierten Avantgarde, zeigte sich das zur Entwicklung des postdramatischen Theaters gegenläufige Literaturtheater der neunziger Jahre in Form der großen, textgebundenen Inszenierungen von Klassikern wie vor allem durch Peter Stein, der sich zu einem Werk- und Lektüre-Regisseur entwickelte, oder in Form des Literaturtheaters eines Peter Handke und Botho Strauß.257 Das am ästhetischen Pol situierte literarische Repräsentationstheater, das sich an ein bildungsbürgerliches Publikum wendet, war in den Augen seiner Kritiker Ende der neunziger Jahre ›tot‹, weil es längst den Anschluss an die Realität der Gegenwart verloren habe. Thomas Ostermeiers Positionsnahme ist in diesem Zusammenhang symptomatisch für die (Re-)Etablierung eines sozialkritischen Theaters.258
255 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. Ein Essay. Frankfurt a. M., S. 21 u. S. 73 f. 256 Vgl. ebd., S. 75. 257 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.1. 258 Thomas Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung. In: Theater der Zeit (Juli/August 1999), S. 10–15; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Thomas Ostermeier – seit 1996 Leiter der »Baracke« am Deutschen Theater in Berlin und kurz vor seinem Wechsel an die Schaubühne stehend – kritisierte Ende der neunziger Jahre allgemein das Stadttheatersystem, »das durch den endgültigen Triumph der Regisseure in den 70 er Jahren begann, nur noch um sich selbst zu kreisen, sich auf- und untereinander durch Rückund Querverweise zu beziehen« (11). Dieses einst politische Theater der 68 er Generation sei längst tot und das »Theater der wohltemperierten, kulinarischen Klassikeraktualisierung für gebildete Gourmets« werde mit den Bildungsbürgern aussterben (ebd.). Ostermeier wendet sich gegen das »deutsche[ ] Ideendrama«, das um verbrauchte Ideologien rotiere oder in »höchster intellektueller Selbstreflexion« und in »eitler Sprachverliebtheit« verharre (13): »Das Theater wurde immer marginaler, und seine Regietitanen wurden immer größer, wahnsinniger und maßloser in ihrer Selbstüberschätzung« (11). Die Dominanz des Regietheater habe schließlich die jüngeren Autoren aus dem Theater ausgeschlossen, so dass sie nur ein »Schattendasein« führen konnten (ebd.).
Wenn Ostermeier die Dominanz des Regietheaters und der großen Klassikerinszenierungen kritisiert und ihren Vertretern vorwirft, sie seien schuld daran, dass die jüngeren Dramatiker ein »Schattendasein« führten, so erinnert dies im Bereich der Prosa an die Klage über die vermeintliche Dominanz der letzten Vertreter der Gruppe 47 oder einer ›akademischen‹ Literatur, die vermeintlich die Anerkennung der neuen Gegenwartsliteratur Anfang der neunziger Jahre verhinderten, wie sie exemplarisch Maxim Biller formulierte.259 Entsprechend erging es den neuen Theaterformen im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich mit seinen sektoralen Legitimitätssphären. Wie bei den neuen Popliteraten in der Prosa erfolgte die wachsende Anerkennung etwa Mitte der neunziger Jahre, ausgelöst durch einen ausländischen, insbesondere englischen Einfluss: Ostermeier führte in der »Baracke« des Deutschen Theaters 1996 einige Produktionen des britischen Royal Court Theaters von Sarah Kane und Mark Ravenhill ein. Die Durchsetzung einer neuen Position im Gegenwartstheater vollzog sich auch hier im Wesentlichen durch eine Neuentdeckung der drängenden ›Wirklichkeit‹ der Gegenwart.260
Transformationen des Theaterfeldes in den neunziger Jahren Nach dem Tod von Samuel Beckett und Thomas Bernhard 1989 und nach dem Rückzug Heiner Müllers vom Theater dominierte am Avantgardepol Anfang der 259 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, I. 1.2. 260 Vgl. John von Düffel: »Mit dieser Ausrichtung auf Themen der Wirklichkeit wurde – und das darf nicht unterschätzt werden – das Interesse an neuer deutschsprachiger Dramatik größer, das heißt die Theater öffneten sich. Autorenfestivals entstanden; jedes Theater wollte seine eigene Uraufführung haben oder möglichst zwei. Es kam zu einer regelrechten Hoch-Zeit für Autoren« (John von Düffel, Franziska Schößler: Gespräch über das Theater der neunziger Jahre. In: Heinz Ludwig Arnold, Christian Dawidowski [Hg.]: Theater füs 21. Jahrhundert. München 2004, S. 42–51, hier S. 44).
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neunziger Jahre ein Theater der diskursiven Sprachspiele (Elfriede Jelinek, Marlene Streeruwitz, Werner Schwab etc.), das durch die radikale Trennung von Sprache und Körper das postdramatische Theater weiterentwickelte.261 Mitte der neunziger Jahre gab es dann eine Debatte über die »Krise des Theaters«. Aus der Sicht der Theaterwissenschaftlerin Fischer-Lichte ging es dabei aber weniger um eine Krise als vielmehr um grundlegende Transformationen des Theaters. Der diskursiven Verarbeitung der Wende, wie sie auch vom Roman gefordert wurde, habe es sich verweigert. Stattdessen habe sich das neue Theater der Transformation als maßgeblichen ästhetisch-performativem Prinzip zugewandt.262 Ästhetisch sei laut Fischer-Lichte das Prinzip der Verwandlungen auf verschiedenen Ebenen für das neue Theater entscheidend geworden: So habe sich das neue Theater in andere Künste, Medien und kulturelle Veranstaltungen verwandelt. Das ›Theater der Verwandlungen‹ trete mit den Inszenierungen in Politik, Sport, Medien und der Werbung in einen direkten Wettstreit: »Die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen. Wo hört Theater auf und wo beginnt die Werbeveranstaltung? Wo geht die Talkshow in Theater über?« (8) Kennzeichnend sei daher eine neue »Lust am Spiel mit Rahmen und Erwartungshaltungen, mit den Möglichkeiten permanenter Entgrenzungen und Grenzüberschreitungen, mit Verunsicherung und Destabilisierung« (ebd.). Die permanenten Transformationen führten dazu, dass die Zuschauer sich niemals sicher sein könnten, welcher Rahmen Gültigkeit habe. Theater würde zu einer Art »Labor« zur künstlichen Herstellung einer Krisensituation (9). Außerdem lösten sich die Rollen von Schauspielern und Zuschauern zunehmend auf oder sie transformierten sich wechselseitig. Insgesamt seien dadurch neue Zwischenräume entstanden: »energetische Felder«, in denen sich eine neue körperliche Anwesenheit und Sinnlichkeit des Schauspielers sowie »performatives Wissen« entfalteten (10).
Analog zur Abwertung und Verabschiedung der »Gesinnungsästhetik« im Bereich der Prosa wurde das neue »Theater der Transformationen« der neunziger Jahre von der diskursiven ›moralischen Anstalt‹ im Namen eines »performativen Wissens« abgegrenzt.263 Als Ausdruck einer postmodernen Ästhetik der
261 Vgl. Franziska Schößler: Albert Ostermaier – Medienkriege und der Kampf um Deutungshoheit. In: Ebd., S. 81–100, hier S. 81. 262 Erika Fischer-Lichte: Transformationen. Zur Einleitung. In: E. F.-L., Doris Kolesch, Christel Weiler (Hg.): Transformationen. Theater der neunziger Jahre. Berlin 1999, S. 7–11, hier S. 7 f.; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 263 »Das Theater der neunziger Jahre hat also auf die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und die mit ihnen verbundene Krise nicht mit Versuchen reagiert, sie diskursiv zu ›bewältigen‹. Es ist nicht zur moralischen Anstalt geworden, in der die aktuellen Probleme dargestellt und auf der Grundlage gemeinsamer Wertvorstellungen Lösungsvorschläge formuliert oder dem Zuschauer nahegelegt werden« (ebd., S. 10 f.).
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»Entgrenzung und Grenzüberschreitung«,264 des Spielerischen und Lustvollen, wurde der Wandel des Theaters begrüßt. Was emphatisch als Entstehung neuer »Frei- und Spielräume« beschrieben wurde, »in denen der Zuschauer erproben kann, mit der Erfahrung instabiler, wechselnder Identitäten lustvoll und produktiv umzugehen«,265 stellt sich in der Retrospektive als Öffnung des relativ geschlossenen Subfeldes des Stadttheaters für den sozialen Raum und feldanalytisch als gattungsspezifische Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereiches dar. Wie allgemein im Mittelbereich, haben sich auch im Theaterfeld in besonderer Weise die (Veranstaltungs-)Formate transformiert: Sie überschneiden und vermischen sich bzw. mehrere Format-Ordnungen gelten zugleich. Mit den inter- und intramedialen Verflechtungen hat sich das Spiel mit den Ordnungen intensiviert, wodurch neue Zwischenräume ästhetischer Zuschreibung entstanden sind.266 Analog zum Streben nach einem neuen, zwischen Naivität und Reflexivität oszillierenden Erzählen267 lassen sich die dem ›Ideentheater‹ entgegengesetzte neue Präsenz der Körperlichkeit und das »performative Wissen« als ein ›Ringen um Präsenz und Relevanz‹ innerhalb eines horizontalen Konkurrenzraumes deuten. Bei diesem Ringen geht es um den ästhetischen Umgang mit Kontingenz, der kompatibel ist mit einem universal gewordenen postdramatischen Paradigma, insbesondere mit der Dissoziation von Person und Stimme. Die Transformation des Theaterfeldes, die Expansion des Mittelbereichs durch die Öffnung für die Logik der ›Theatralität der Gesellschaft‹, die FischerLichte als »Theater der Transformationen« von ästhetischer Warte aus deutet, erweist sich in einer anderen Perspektive als deren Ökonomisierung, wodurch sich der verstärkte Einfluss der ökonomisch-medialen Veränderungen auf das Theater erweist. So haben Franziska Schößler und Christine Bähr angesichts der auffälligen Häufung von »Wirtschaftsdramen« seit etwa Mitte der neunziger Jahre die »Entdeckung der ›Wirklichkeit‹« und den Zusammenhang von Kritik und Identifikation des Theaters mit seiner Ökonomisierung hervorgehoben.268 264 Das Theater der Transformationen eröffne dem Zuschauer »die Möglichkeit, sich mit Unsicherheit und Destabilisierung, mit Entgrenzung und Grenzüberschreitung, mit Irritation und Verstörung spielerisch auseinanderzusetzen« (ebd., S. 11). 265 Ebd. 266 Diese Öffnung im Zeichen der Transformation wurde Ende der neunziger Jahre auch das bevorzugte Untersuchungsobjekt der expandierenden Theaterwissenschaften (vgl. Katharina Pewny: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld 2011, Kapitel 2: »Das Prekäre und die Performance Studies«, S. 23–131). 267 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, I. 3.1. 268 Vgl. Franziska Schößler, Christine Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater. In: F. S., Ch. B. (Hg.): Ökonomie im Theater
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Nach 1989 wurde das Stadttheater mit einschneidenden wirtschaftlichen Rationalisierungsmaßnahmen konfrontiert. Auch hier brachte die Wende »Strukturdebatten, Finanz-, Orientierungs- und Funktionsprobleme«.269 Das Publikum schwand, Sparten wurden zusammengelegt oder ganze Häuser geschlossen oder privatisiert (wie z. B. das Berliner Schillertheater 1993). Durch schwindende Zuschauerzahlen geriet das alte Theater in eine Legitimationskrise. Die Ökonomisierung hatte auch Auswirkungen auf Form und Inhalt des neuen Theaters, die mit der oben skizzierten ästhetischen Beschreibung des »Theaters der Transformationen« kompatibel sind. Vor dem Hintergrund der allgemeinen Integration des ›kreativen Subjekts‹ in die kapitalistischen Verwertungsprozesse erhielt die projektförmige Theater-Arbeit einen gesamtgesellschaftlichen Modellcharakter, sie wurde gleichsam ›avantgardistisch‹. Das Theater verstand sich selbst nun offensiv als ökonomisch-kreative Anstalt, als freie Szene, wo der Theatermacher zum Projektemacher wird und damit auf die verstärkte Forderung nach wirtschaftlicher Rentabilität reagiert (10 f.). Neue Produktionsformen entstanden, die die klassische Arbeitsteilung zwischen Regisseur, Dramatiker und Verlag suspendierten und die Tendenz zur kollektiven Arbeit in einem »sozioökonomisch[n] Laboratorium« (11) verstärkten. »Diese Zunahme an Team- und Projektarbeit entspricht bezeichnenderweise recht genau den Entwicklungen im Wirtschaftssektor« (ebd.). Inszenierungen wurden immer mehr als (Kult-)Produkte vermarktet und auf spezifische Zielgruppen ausgerichtet. In dieser Hinsicht erklärt sich auch das wachsende Interesse für die neuen Verhältnisse und Subjekte der Arbeit in Form von »Wirtschaftsdramen« seit Mitte der 1990 er Jahre (u. a. von Urs Widmer, Falk Richter, Kathrin Röggla, Moritz Rinke, Gesine Danckwart, Dea Loher, Robert Schimmelpfennig oder Albert Ostermaier) (ebd.).
Die ›Entdeckung der Wirklichkeit‹ und das Selbstverständnis des Theaters als »sozioökonomisches Laboratorium« waren allerdings ambivalent, denn die Kritik des Ökonomischen durch das Theater war zugleich ein Reflex auf die eigene prekäre Situation. Mit dem direkten Einbezug aktueller sozialer Miseren versuchten sich die neuen Formen des Wirtschaftstheaters in den neunziger Jahren die immer knapper werdende Ressource der Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu sichern. Entsprechend lässt sich das Fazit ziehen, dass die »Entdeckung des Sozialen als kollektive Arbeit, als Projekt, als Netzwerk und Gegenstand der Kunst […] mithin ein Effekt des ökonomischen Druckes und eine Form des Widerstands« sei.270 In eine feldanalytische Perspektive übersetzt bestätigt sich damit die Entwicklung einer horizontal ausgerichteten TheaterAvantgarde, die sich in den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittel-
der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Bielefeld 2009, S. 9–20; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 269 Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 15. 270 Weiter heißt es: »Gegenwärtig scheint derjenige Diskurs, der die wirtschaftliche Dimension des Theaters verschleiert hatte – die Kunst (um der Kunst willen) – nicht mehr reibungslos zu funktionieren, sodass das Theaterspiel als Erwerbsarbeit kenntlich wird und sich Kunst nicht mehr als Gegenteil des ökonomischen Erfolgs definiert« (Schößler, Bahr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹, S. 11).
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bereich verlagert hat. Diese Verlagerung soll im Folgenden zunächst strukturell skizziert und dann exemplarisch untersucht werden anhand der Entwicklung verschiedener Positionen im Theaterfeld zwischen einem »Theater der Präsenz« und einem »Drama des Prekären«.
Das neue Theater zwischen formalen und ethischen Maßstäben Das neue Theater der neunziger Jahre, das sich aus dem postdramatischen Theater entwickelte, den Raum des Stadttheaters verließ und in den Mittelbereich expandierte, lässt sich zunächst mit Lehmann als »Theater der Präsenz« charakterisieren.271 Mit der Emanzipation des Theaters vom literarischen Text im Sinne der klassischen Rollenrede272 und mit der Entwicklung hin zu den Grundbestimmungen von Theatralität – Körper, Raum und szenisches Spiel – ist die Intensivierung einer spezifisch theatralen Präsenz verbunden, vor allem in der »pragmatische[n] Dimension real-körperlicher Kopräsenz« (13). Für Lehmann ist die theatrale Präsenz der »Angelpunkt der neueren ästhetischen Reflexion« angesichts der radikalen Veränderungen durch Medien und Informationstechnologie (14). Entsprechend hebt er eine neue Präsenzproduktion im Unterschied zu einem Theater als Werk hervor. Das expandierende Theater der Performanz sei das »Terrain für die Erkundung der post-repräsentativen Verfassung ästhetischer Zeit« (ebd.). Mit dieser ›Terrain-Verschiebung‹ der ästhetischen Zeit öffne sich das »Theater der Präsenz« für den sozialen Raum und seine Zeiterfahrung. Es situiere sich »in einer Gesellschaft allseitiger Theatralisierung des öffentlichen Lebens« und entwickele – analog zur Popliteratur und ihren Schreibweisen der Gegenwart – verschiedene »Spielarten der Gegenwartsästhetik« (15). So werde es zu einem »konkrete[n] Theater« der körperlichen Präsenz und faktischen Gegenwart, das eine gemeinsame Jetzt-Erfahrung zwischen Szene und Publikum herstelle (vgl. 17). Letzteres übernehme die Funktion einer Zeugenschaft,273 die ebenfalls unter die Bestimmung der Zeit fällt. Zugleich sei es ein Theater der »vermittelte[n] Anwesenheit«, der mediatisierten, insbesondere bildhaften Realitäten (vgl. 18). Theatermacher wie Einar Schleef, Christoph Marthaler, Robert Wilson oder Robert Lepage stünden für internationalisierte Performanz-Konzepte, »die in einer Serie von Entwicklungsschüben zu verorten sind, die von den historischen Avantgarden, Surrealismus und Artaud, Brechts radikalsten Theaterkonzepten über Aktionskunst, Performance, Tanztheater und body art zur visuellen Dramaturgie und anderen Spielarten des Theaters der Gegenwart führen« (16). Von diesem Theater der Präsenz gehen für Lehmann die innovativen Impulse für das Theaterfeld in den neunziger Jahren aus: »Jedenfalls nimmt das neue Theater entschlossener
271 Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 19; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 272 Es ist zutreffender, von einer »Dynamisierung des Textbegriffs« zu sprechen: Der Text wird zum Material, zur Textur, und verliert seine privilegierte Stellung in der Hierarchie der Theatermittel (vgl. Hans-Thies Lehmann: Just a word on a page and there is the drama. Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater. In: Arnold, Dawidowski [Hg.]: Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 26–33, hier S. 26). 273 Vgl. ebd., S. 29 f.
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und auf lange Sicht erfolgreicher, als es das unverdrossene Beharren auf dem soliden Literaturtheater von einst sein kann, seine Chance im Medienzeitalter wahr, wenn es seine einzigartige Kommunikationsform der Theaterpräsenz vertieft« (19). Im Zentrum dieser neuen Kommunikationsform stehe die präsentische Intensität, die sich vor allem in ihrem negativen Charakter als Abwesenheit, Bruch der Kontinuität, Schock und Nichtverstehen zeige (vgl. 18). Mit der Oppositionsstellung des »Theaters der Präsenz« zum »Theater der Repräsentation« stehe auch die präsentierte Zeit einer repräsentierten Zeit entgegen (22). Diese ambivalente Zeit- und Gegenwartserfahrung versteht Lehmann schließlich im Rückgriff auf Benjamin als ein Zugleich einer »Entauratisierung« und einer Persistenz der Aura im Ereignischarakter des Theaters der Gegenwart (20 f.).274
Die Ausführungen Lehmanns zum »Theater der Präsenz« erweisen sich in feldanalytischer Hinsicht als Horizontalverlagerung der Theater-Avantgarde in den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich. Der Wandel von Drama und Werk zu Theater und Performanz steht zum einen für die Expansion des postdramatischen Theaters, das sich von den klassischen Inszenierungen des Repräsentationstheaters abgrenzt hatte und in der Nachfolge von Surrealismus und Dadaismus vom Pol der Avantgarde aus in die Mitte der sozialen Gegenwart vordrang, insbesondere durch die Öffnung für eine intensivierte mediale Kommunikationssituation. Diese Öffnung steht zum anderen für ein Aufbrechen der Trennlinien zwischen dem Subfeld einer relativ eingeschränkten Theaterproduktion (»Stadttheater«) und dem Feld der Großproduktion (hier vor allem über die Medien Film und Video) wie auch dem allgemeinen Sozialraum (»Theatralisierung der Gesellschaft«). Die von Lehmann genannten und mit Benjamin als neue, ambivalente ›Aura‹-Form gedeuteten negativen oder prekären zeitlichen Präsenzbestimmungen des neuen Theaters, die im Körper selbst ihren Austragungsort finden, verweisen auf das gerade im Mittelbereich verstärkte Ringen um langfristige ästhetische Präsenz und soziale Relevanz. Das ambivalente Wechselspiel zwischen körperlicher Präsenz und medial vermittelter Anwesenheit in Form von Brüchen und Gegenwartsentzug, Mangel- und Verlusterfahrungen, korrespondiert im Bereich der Prosa wiederum mit den popliterarischen Schreibstrategien zwischen Naivität und Reflexivi-
274 Lehmann stellt an dieser Stelle auch einen Bezug zu Bohrers »plötzlicher Erscheinung« und »selbstreferentieller Epiphanie« her. In der neuen Theaterästhetik sieht er Strategien des Schocks am Werk (Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 22). Zusammen mit der Behauptung einer Aura-Resistenz im Ereignischarakter ist diese Bestimmung – ähnlich wie Bolz’ Begriff des »Eigensinns« als immanente Transzendenzerfahrung (s. o., Zweiter Teil, I. 2.1.) – an ihre besondere Herkunft aus dem Bereich des kunstautonomen Subfeldes gebunden. Dagegen stellt sich die ambivalente Zeiterfahrung aus Sicht des Mittelbereichs als graduell changierende Wechselwirkung zwischen einer kunstautonomen und einer ökonomisch-medialen Bestimmung dar.
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tät.275 Die Etablierung eines gemeinsamen Sprach- und Wahrnehmungsraums von Schauspielern und Zuschauern als Zeugen der Gegenwartspräsentation und die Ablösung der Repräsentation durch das Kommunizieren gemeinsamer ›Jetzt‹-Erfahrungen intensivierten die auch in der Gegenwartsprosa verkürzte Distanz zwischen Produktion und Rezeption. Wenn sich die präsentische Intensität des neuen Theaters einerseits dem Eigenleben der Dinge, ihrer Materialität verdankt, andererseits einem Mangel an Präsenz bzw. den Erfahrungen von Abwesenheit, so erinnert dies an die Schreibverfahren im Prosa-Mittelbereich, die ebenfalls in ostentativer Lakonie von den stofflichen Einzelheiten der Dingwelt erzählen und dabei erzähltechnisch auf Leerstellen der Transzendenz verweisen.276 Schließlich ist die von Lehmann herausgestellte Zeit- und vermeintliche ›Aura‹-Erfahrung im neuen Theater – die paradoxe Einheit von zeitlicher Sukzession und bildhafter, zeitenthobener Simultaneität, von Präsenz und Abwesenheit 277 – in ein für den Mittelbereich charakteristisches Mischverhältnis zwischen kunstautonomer und ökonomisch-sozialer Zeit zu übersetzen. Dieses Mischverhältnis stellt an die Produzenten – graduell und je nach Position auf der horizontalen Achse zwischen ästhetischer Zeit und sozialer Zeit – die paradoxale Anforderung, immer wieder neu in ihrer Performanz auf der Höhe der Zeit zu sein und zudem im Werk kulturelle Dauer zu erlangen. Insgesamt ist das »Theater der Präsenz«, das sich im Kern als Theater der prekären, um ästhetische Dauer kämpfende Existenzform erweist, von einer Ästhetik der ›absoluten Präsenz‹ zu unterscheiden, wie sie etwa Botho Strauß in seiner Poetik vertritt. Letztere stellt eine sich von der sozialen Zeit abhebende, privilegierte Strategie innerhalb des oberen, nobilitierten Sektors dar.278 Mit der Horizontalverlagerung in den flexibel ökonomisierten Mittelbereich kann das neue »Theater der Präsenz« im Vergleich zur analog situierten Prosa einen höheren Grad avantgardistischer Merkmale im kunstautonomen Sinne realisieren. Wie skizziert, hängt dies damit zusammen, dass das neue Theater die Einflüsse der Ökonomisierung und Medialisierung gattungsspezifisch und in der Traditionslinie von Surrealismus und Dadaismus mit einer Verlagerung vom Werk zur Performanz transfigurieren kann (dies gilt umso mehr für den Film, der »Avantgarde« und »Massenproduktion« strukturell noch besser vereinen kann). Das neue Theater kann sich den Wirklichkeiten der Gegenwart
275 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, I. 2.3. u. 3.1. 276 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, I. 3.2. 277 »Die Zeitlichkeit des Bildes ist, paradox gesprochen, nur um den Preis der Sukzession zu haben, d. h. der Vereinzelung der Elemente, zugleich aber auch nur unter der Bedingung eines Potentials der Simultaneität« (Lehmann: Die Gegenwart des Theaters, S. 24). 278 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.1.1.
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aussetzen und zugleich neue Autonomieformen ausprägen, vermittelt über Begriffe wie die einer allgemeinen »Performanz«, »Theatralisierung« oder »Inszenierung« des alltagskulturellen, wirtschaftlichen und politischen Lebens. Kunstautonomie und Ökonomisierung bzw. Medialisierung, ästhetische Form und ethisch-inhaltliche Bestimmungen gehen hier eine neue Synthese ein, wie ein Ausblick auf das postdramatische »Drama des Prekären« nach 2000 deutlich macht.279 Katharina Pewny hat das neue postdramatische Gegenwartstheater als »Drama des Prekären« bestimmt, das durch eine »Wiederkehr der Ethik« bestimmt sei. In der Kategorie des »Prekären« vermischen sich ästhetische und soziale, arbeitsweltliche und ethische Bestimmungen. Das »Drama des Prekären« wird mit Theoremen der »Verletzlichkeit« und Semantiken des »Ungesicherten« verbunden, wie sie soziologisch Robert Castell und ästhetisch-ethisch Emmanuel Lévinas und Judith Butler formuliert haben (vgl. 25–37).280 Insbesondere aus Lévinas’ Bestimmung des Ichs von der Begegnung mit dem Anderen her folgt eine ethische Kategorie der Verantwortung,281 die Pewny im neuen »Drama des Prekären« performativ in der im Sinne Althussers und Lévinas’ ›anrufenden‹ Begegnung zwischen dem Dargestellten und den Zuschauern vermittelt sieht (vgl. 44 f.). Aus den untersuchten Theateraufführungen zeichnet sich für Pewny eine Ausdifferenzierung der Kategorie des »Theaters des Prekären« ab, deren Themen und Funktionen sie wie folgt bestimmt: zum einen das »posttraumatische Theater als Wahrnehmung des Ungesicherten« (vgl. 133 ff.), das in der Tradition des antiken Tragödientheaters stehe und im Umgang mit der traumatischen (nationalsozialistischen) Vergangenheit mit der psychischen und ästhetischen Struktur des Ent- und Verhüllens arbeite, wie z. B. bei Elfriede Jelinek (Stecken, Stab und Stang [1996], Ein Sportstück [1998], Rechnitz (Der Würgeengel) [2008, UA 2012] und Dea Loher (Das letzte Feuer [2008]),282 zum anderen das »transformatorische Theater als Sicherung des Ungesicherten« (vgl. 179 ff.), das von den medialen und ästhetischen Wandlungs- und Austauschprozessen bei der Performanz des Prekären geprägt sei (z. B. bei Christoph Schlingensief oder in René Polleschs Heidi Hoh-Trilogie [1999–2001]), und schließlich das »relationale Theater als (unmögliche) Begegnung mit dem Ungesicherten« (vgl. 247 ff.), das von den Relationen der Performer und der Zuschauer sowie von der »Verhältnishaftigkeit« der Künste als tragendes dramaturgisches Prinzip gekennzeichnet sei (z. B. in Rimini Protokoll: Karl Marx, das Kapital, erster Band [2007]). Die unterschiedenen Kategorien seien nicht ausschließend zu verstehen, sie legten aber »eine Bewegung vom Trauma über die Transformation zur Beziehung nahe« (299).
279 Vgl. zum Folgenden Pewny: Das Drama des Prekären; Nachweise im Fließtext. 280 Vgl. zur folgenden Darstellung auch Franziska Schößler: Theatrale Infektionen. Die Transformation des Publikums im Postdramatischen [Rez. über Pewny: Das Drama des Prekären]. In: IASLonline [17. 9. 2011], www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=3436>, abgerufen am 19. 2. 2013, Absatz 10–14. 281 »Verantwortung für den Anderen zu übernehmen, bedeutet für Emmanuel Lévinas, dessen Präsenz und seine Bedürfnisse anzuerkennen, ohne sich diesem identifikatorisch gleichmachen zu wollen, zeitgenössisch ausgedrückt, ohne ihn vereinnahmen zu wollen« (Pewny: Das Drama des Prekären, S. 40). 282 Vgl. Schößler: Theatrale Infektionen, Absatz 20.
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In Pewnys Bestimmung des neuen postdramatischen Theaters als »Drama des Prekären« wird »das Prekäre von einem philosophischen und sozialen in ein ästhetisches, respektive kunstwissenschaftliches Paradigma« umformuliert (297). In feldanalytischer Perspektive wird mit diesem Ansatz von ästhetischer Warte aus die Ausdifferenzierung des dem Repräsentationstheater entgegengesetzten und weiterentwickelten postdramatischen »Theaters der Präsenz« in der Horizontalen erfasst. Unter der Bestimmung der Zeit bewegt sich das »Drama des Prekären« zwischen ›sakral‹-kunstautonomen und temporär-sozialen Zeitbestimmungen. Damit korrespondiert das Changieren zwischen einer ästhetischen Präsentation des Sozialen und einer Repräsentation sozialer Geschichten. Die Positionen des »Dramas des Prekären« bewegen sich entsprechend zwischen den Polen der Form und der Ethik, wobei letztere eine dominant performance- und kommunikationsästhetisch bestimmte Ethik ist. Dadurch kann das in die Horizontale verlagerte Gegenwartstheater mehr als die Prosa eine kunstautonome Avantgardefunktion in der horizontalen Ausdifferenzierung übernehmen. In dieser Perspektive soll nun die Spannbreite des Gegenwartstheaters exemplarisch anhand verschiedener Autorpositionen und ihrer Darstellung von Prekarität abgesteckt werden.
Das Theater der prekären Präsenz: Positionen zwischen sozialer Repräsentation und ästhetischer Selbstreflexion Das Theaterfeld der neunziger Jahre hat Schößler nach »zeitgenössische[n] Theoreme[n] aus der Literatur- und Kulturwissenschaft« dargestellt:283 Unterschieden werden »Erinnerung« (Dramen von Jelinek, Goetz, Streeruwitz), »Mythos« (Dramen von Strauß, Handke, Roth) und »soziale Geschichten« (Dramen zu den Themen »Familiendesaster« und »Arbeitslosigkeit«). Aus feldanalytischer Perspektive sind diese Themen feldspezifisch verteilt: Dramen zum »Mythos« sind aufgrund ihrer ›sakral‹-ästhetischen Zeitstruktur tendenziell am L’art pour l’art-Pol situiert, Dramen zur »Erinnerung« finden sich vorzugsweise im Avantgardekanal, in dem es um die Passage von der ›häretischen‹ zur ›arrivierten‹ ästhetischen Zeit (Kanon, Klassiker) geht.284 Die »sozialen Geschichten« schließlich verweisen auf die Transformation und Expansion des postdramatischen Theaters in der Horizontalen der sozialen Zeit. Auf dieser Entwicklung soll in der folgenden Untersuchung der Schwerpunkt liegen.
283 Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der neunziger Jahre. Tübingen 2004, S. 14. 284 Zum »Mythos« bei Handke und Strauß vgl. unten: Zweiter Teil, II. 2.1.; zur »Erinnerung« bei Jelinek im Avantgardekanal vgl. unten: III. 3.3.
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Die seit Mitte der neunziger Jahre im Theater zu beobachtende Wiederkehr »sozialer Geschichten« begann mit der Rezeption des britischen Royal Court Theatre, insbesondere der Stücke der ›Brutalists‹ Sarah Kane und Mark Ravenshill, die Ostermeier in der »Baracke« des Deutschen Theaters in Berlin aufführte.285 Das ›Theater der Verkörperung‹, die Wiederentdeckung des Sozialen und des Realismus, verweist auf eine neue Kombination formalästhetischer und politisch-moralischer Bestimmungen, d. h. feldanalytisch auf die Verlagerung der Theater-Avantgarde vom eingeschränkten, postdramatischen Avantgarde-Pol in den horizontal ausgerichteten Mittelbereich.286 Die auf die Bühne gebrachten Geschichten mit sozialen Themen führten einerseits zu einer neuen Politisierung des Theaters in Form einer Kritik der allgemeinen Ökonomisierung, indem die konkreten Auswirkungen, die ›Beschädigung‹ der Menschen und ihres sozialen Zusammenlebens in neuen Realismus- und Dokumentarformen zur Aufführung gebracht wurden. Dabei grenzte man sich aber vom Arbeitstheater der siebziger Jahre (z. B. eines Franz Xaver Kroetz) ab, indem kulturanthropologisch-ethnologische Methoden der teilnehmenden Beobachtung wie auch die Rückkehr zu narrativ-dramatischen Formen (z. B. im Stationentheater) – das Erzählen von konkreten Fallgeschichten – verfolgt und somit neue, vermittelnde Formen einer Mitleidsdramaturgie zur Aufführung gebracht wurden. In dieser Hinsicht ist auch Thomas Ostermeiers Forderung nach einem neuen kritischen Realismus vergleichbar mit der im Feld der Prosa erhobenen Forderung nach einem ›relevanten Realismus‹ im Roman.287 In dem schon erwähnten programmatischen Artikel »Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung« vom Juli/August 1999 setzt sich Ostermeier vom ›abgestorbenen‹, traditionellen Repräsentationstheater, vom »deutsche[n] Ideendrama, das um verbrauchte Ideologien rotiert« (13), und vom Regietheater klassischer Inszenierungen ab. Dagegen fordert er einen neuen Realismus, eine neue Wirklichkeitsnähe, die auf die »Explosion verschiedener Wirklichkeiten« (ebd.) reagiere. In der Traditionslinie des engagierten, auf den sozialkritischen Autor gestützten Realismus (Büchner, Toller, Horváth, Brecht, Fleißer, Kroetz, Fassbinder) solle das Theater wieder ein ›sozioökonomisches Laboratorium‹ werden durch konkrete Lebenserzählungen, die als ›fiktionale Authentizität‹ zu präsentieren seien (vgl. ebd.). Denn die Forderung nach einem neuen Realismus der Inhalte meint für Ostermeier keine einfache Abbildung, keine »Konven-
285 Vgl. Schößler: Albert Ostermaier, S. 81. 286 Eine vergleichbare Wiederaufwertung der ›Entdeckung der Wirklichkeit‹, d. h. des politisch-moralischen Pols in kritischer Frontstellung zur wachsenden Dominanz der ökonomischmedialen Maßstäbe zeigte sich im Feld der Prosa einige Jahre später mit den Bestrebungen, dem Roman wieder eine neue gesellschaftspolitische Relevanz zu verleihen (vgl. oben: Zweiter Teil, I. 3.3.). 287 Folgende Nachweise im Fließtext beziehen sich auf Ostermeier: Das Theater im Zeitalter seiner Beschleunigung.
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tionalität von Form« (ebd.): »Wirklichkeit wird nicht mimetisch simuliert, sondern die theatrale Fiktionalität mit sozioökonomischen Konkreta überschrieben oder es werden soziale Situationen arrangiert«.288 Dabei werden die neuen medialisierten Formen nicht abgelehnt, denn das Theater dürfe nicht hinter den »Rhythmus« von Film, Fernsehen und Videoclips zurückfallen (vgl. 13).
Ostermeier fordert, dass die sozialen Wirklichkeiten nicht direkt widergespiegelt, sondern refiguriert, d. h. durch »Haltung« und »Blick auf die Welt« (13) in eine ästhetische Gestalt gebracht werden sollen, wofür ihm die Stücke Sarah Kanes vorbildlich sind. Hier zeigt sich der Versuch einer Verbindung von ästhetischer Form und politisch-moralischer Positionsnahme, wie sie für die Mittelposition der Literatur der Gruppe 47 charakteristisch war und in ihrer Folge auch von den Vertretern eines ›relevanten Realismus‹ angestrebt wurde. Wenn Ostermeier abschließend den bevorstehenden Wechsel zur Schaubühne in Berlin als scheinbaren »Rückzug auf die letzte Insel der Seligen« reflektiert, bei dem es aber darum gehe, »unserem eigenen Rhythmus zu folgen, unabhängig vom Rhythmus unserer Verwertung in die Medien« (15), äußert sich in diesem medienkritischen Ausblick eine Selbstverortung in den oberen Feldregionen des Ansehens: ein Streben nach einem relevanten Repräsentationstheater zwischen ästhetischer Form und politisch-moralischer Botschaft, das aber im Unterschied zum ›relevanten Realismus‹ im Bereich der Prosa in einem institutionell geschützten Raum (Stadttheater) situiert ist. Das neue, auf die ›Rhythmen‹ der Medien zurückgreifende, die Medien aber zugleich stark kritisierende, politisierte Autorentheater der Berliner Schaubühne hatte sich zwar über den neuen Realismus ein Stück weit für größere Publikumskreise geöffnet. Es gehörte aber letztlich – zusammen mit dem Regietheater klassischer Inszenierungen, von dem es sich programmatisch abgegrenzt hatte – zum modernisierten Subfeld der eingeschränkten Produktion des Stadttheaters. Dieses Subfeld grenzt sich u. a. über die Medienkritik deutlich von der ›Masse‹ und der Populärkultur der ›Bewusstseinsindustrie‹ ab.289 So halten Kritiker die Proklamation des Neuanfangs eines politischen Theaters, »das versucht, von den individuell-existentiellen und gesellschaftlich-ökonomischen Konflikten des Menschen in dieser Welt zu erzählen,290 für eine strategische Selbststilisierung.291 In dem neuen
288 Schößler, Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹, S. 10. 289 »In Ostermaiers Stücken wird der Streit zwischen Medien und Erzählweisen als Rivalität um Deutungshoheiten, um Wirklichkeitsdefinitionen und Wahrnehmungsnormen ausgetragen« (Schößler: Albert Ostermaier, S. 82). 290 Schaubühnen-Programm aus dem Jahr 2000; zit. n. Evelyn Annuß: Tatort Theater. Über Prekariat und Bühne. In: Schößler, Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart, S. 23–38, hier S. 25. 291 Vgl. ebd., S. 26.
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politischen Theater der Schaubühne zeige sich in formalästhetischer Hinsicht eine neue Repräsentation des Prekären anhand von Protagonisten und ihren sozialen Geschichten. In politisch-moralischer Hinsicht stehe es für ein stellvertretendes Sprechen für die Subalternen, worin sich eine »parasitäre Attitüde des Repräsenta-tionstheaters [sic]« zeige, »das auf eine sozialrealistische Verkörperung des Elends setzt, zugleich allerdings die bildungsbürgerlichen Vorbehalte gegenüber der (proletarischen) Masse fortschreibt«.292 Der vor allem vom Theater Mark Ravenhills293 ausgegangene Impuls einer neuen »Erzähldramaturgie« der narrativen Inszenierung sozialer Geschichten wurde im theatralen Mittelbereich der neunziger Jahre weiterentwickelt. Es ging hier zunächst um prekäre Familien- und Liebesbeziehungen,294 dann zunehmend auch um die Auswüchse der Ökonomisierung menschlicher Arbeitssubjekte und um das Thema der Arbeitslosigkeit.295 Vergleichbar mit der Prosa eines dispersen Realismus wird dabei die Frage nach der Tragfähigkeit sozialer Kohäsionen angesichts prekärer Gemeinschaftsformen verhandelt. Mit dieser für das ganze Theaterfeld der neunziger Jahre charakteristischen Thematik296 gingen die Autoren im flexibel ökonomisierten Mittelbereich anders um als die Autoren am ästhetischen Pol im Nobilitätssektor (s. u.), nämlich flexibel-normalistisch, wie Schößler bilanziert: Auch die Dramen der jüngeren Autoren und Autorinnen diagnostizieren vielfach diesen Verlust von Gemeinschaft, von Kommunikation und Dialog im weiteren Sinne, bzw. verzeichnen die Isolation von Individuen, auf die die Entwürfe von Handke und Strauß mit ihren restaurativen, zum Teil vormodernen Konzepten antworten. Die Dramen Bergs, von Düffels, von Mayenburgs und anderen setzen diesen Narzissmus anschaulich in Szene und führen zugleich die Normalitätsdiskurse vor, die die Erstarrung und Vereinzelung
292 Schößler, Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹, S. 12. 293 Vgl. von Düffel: »Ravenhill hingegen [im Unterschied zu Kane; H. T.] hatte einen direkteren Einfluss auf die deutsche Dramenlandschaft, weil seine Erzähldramaturgie übertragbar war und Vorreiterfunktion hatte. Dieser Erzähldramaturgie sind viele gefolgt, doch auf ihre Art und Weise, so dass nicht von erkennbarer Imitation gesprochen werden kann, eher von Transformationen« (von Düffel, Schößler: Gespräch über das Theater der neunziger Jahre, S. 44). 294 Zum Beispiel in Dea Lohers Tätowierung (1992) oder Marius von Mayenburgs Feuergesicht (1998). 295 Etwa in Oliver Bukowskis London – L.Ä. – Lübbenau (1993), Urs Widmers Top Dogs (1997), Moritz Rinkes Republik Vineta (2000), Roland Schimmelpfennigs Push up. 1 – 3 (2001), Dea Lohers Der dritte Sektor (2001) u. John von Düffels Elite I.1 (2002); vgl. Schößler: Albert Ostermaier, S. 81. 296 »Was in den Dramen der 90 er Jahre an zentraler Stelle verhandelt wird, ist die Frage nach Kohäsionskräften des Gesellschaftlichen, von Gemeinschaften überhaupt« (Schößler: AugenBlicke, S. 310).
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Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich
zementieren. Die Natur (Kroetz), der Gesundheitsdiskurs ›normaler Entwicklung‹ (von Mayenburg) und geordneter Familienbildung (Schwab, Jonigk), die normative Verbindlichkeit von Bildung, Beruf und Vernunft (Berg), all das produziert (repressive) Normalität. Zu diesen Normalisierungseffekten, die die Einzelnen zum statistischen Durchschnitt werden lassen, gehört auch, dass Ausbrüche durch Angst und ein hohes Katastrophenbewusstsein sanktioniert werden; Berg personalisiert diese Lebensangst, die die Durchschnittlichkeit der Protagonisten garantiert. Die Stücke der 90 er Jahre inventarisieren also auch diejenigen disziplinatorischen Praktiken, die nach 1989 einen ›normalen Alltag‹ herzustellen versuchen, wie ihn Rainald Goetz in seiner medialen Form notiert.297
Vergleichbar mit den Prosaformen eines dispersen Realismus, die im Zeit-, Familien- und Generationsroman wieder nach chronikalischen Zusammenhängen, protonormalistischen Werten und insgesamt nach einer neuen gesellschaftlichen Relevanz strebten, war mit den neuen sozialen (Familien-)Geschichten im Theater eine gewisse ›Wiederkehr des Textes‹ (der allerdings nie ganz verschwunden war)298 und eine Rückkehr zum konventionellen Erzählen verbunden.299 Auf der horizontalen Achse zwischen »Präsentation« (am anti-mimetischen Avantgardepol) und »Repräsentation« (des mimetischen Theaters am Pol der Massenproduktion) werden die neuen mimetischen Tendenzen des Theaters im Mittelbereich am weitesten von den Inszenierungen der unter dem Label Rimini Protokoll auftretenden Theatermacher in Richtung einer unmittelbaren, ›authentischen‹ Darstellung sozialen Elends geführt:300 Die in ihrem Performanz-Theater angestrebte naturalistische Präsenz stellt eine neue Form der Repräsentationsästhetik dar, die mit dokumentarischen und protokollarischen Formen die kapitalistische Welt und die Prekarisierung der Arbeitssubjekte konkret darstellt und kritisiert. In den Performances der Rimini ProtokollGruppe zeigt sich deutlich die Ambivalenz der Darstellung des Prekären durch ein selbst im institutionell nicht abgesicherten, prekären Raum situiertes Theater, das sich für die ökonomischen und medienästhetischen Formen der Mas-
297 Ebd., S. 311. 298 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 159. 299 »Diese Tendenz läuft einem postdramatischen Theater, wie es Hans-Thies Lehmann für die siebziger und achtziger Jahre diagnostizierte, eher entgegen« (Schößler: Albert Ostermaier, S. 81); zur neuen Konventionalität des Gegenwartstheaters vgl. Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss. In: Stefan Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Bielefeld 2008, S. 31– 42. 300 Siehe hierzu Katharina Pewny: Theatrum Europaeum Precarium. Rimini Protokolls Dramaturgie der Ökonomie. In: Schößler, Bähr (Hg.): Ökonomie im Theater der Gegenwart, S. 39– 55.
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senproduktion geöffnet hat.301 Einerseits ist hier ein fließender Übergang zum Feld der Großproduktion und des großen Publikums in Form von seriellen Talkshow-Formaten, medialer Performance oder auch »Vaudeville«-Anleihen festzustellen; andererseits ist eine vergleichbare Aktionskunst etwa von Christoph Schlingensief (Talkshow, Performance am Wiener Opernplatz, Oper etc.) als »soziale Plastik« (im Sinne Beuys’) doppelt kodiert und kann daher – je nach Rezeption der ästhetischen Selbstreflexivität oder der mimetischen Repräsentation – als Avantgarde in der Traditionslinie des Surrealismus oder als mediales Spektakel eingeordnet werden.302 Dabei kann die Frage, ob der intramediale Einbezug anderer Medien eher Bestandteil kunstautonomer Formgebung oder eher Tribut an dominante ökonomisch-mediale Anforderungen ist, ein wichtiger Indikator für die Positionierung im Theaterfeld sein.
Eine Scharnier-Position am Avantgardepol: Polleschs Ästhetik des Prekären Auch das Theater René Polleschs thematisiert prekäre Verhältnisse, es grenzt sich aber von der ›Wiederkehr sozialer Geschichten‹ und den mimetischen Tendenzen deutlich ab, indem es ›das Prekäre‹ zu einer ästhetischen Kategorie umdeutet. Der Prozess dieser Umdeutung lässt sich mit Polleschs eigener Laufbahn nachzeichnen, die im Bereich prekärer Theaterarbeit begann, sich zu einer ›Erfolgsgeschichte‹ wandelte und schließlich zu einer Neubesetzung des bis dahin postdramatisch besetzten Avantgardepols durch sein ›Diskurstheater‹ führte. Polleschs Laufbahn wurde als Verwandlung vom »Regisseur Prekär« über den »theory wizard« zum »Erfolgsrezept« und schließlich 2008 zum »Theatergenius« beschrieben.303 1962 geboren
301 »Die Performances [auf dem Theaterfestival des Hebbel-Theaters in Berlin, April 2008; H. T.] verhalten sich einerseits kritisch zu ihrem Gegenstand (beispielsweise der Börse), andererseits nutzen sie das theatrale Potenzial, die Spannung, den Thrill (der Spekulation) für den dramaturgischen Aufbau ihrer Abende – Kritik und Faszination an ökonomischen Verfahren sind nicht zu trennen« (Schößler, Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹, S. 13; siehe hierzu ausführlich Franziska Schößler: Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte. In: Schößler, Bähr [Hg.]: Ökonomie im Theater der Gegenwart, S. 93–114). 302 Mit Blick auf Schlingensiefs Rosebud bemerkt Schößler: »Als Genre der Distanz verstößt die Komödie gegen die Strategie der Unentscheidbarkeit (zwischen Ernst und Spiel, Leben und Kunst), die die (Selbst-)Provokationen Schlingensiefs sonst grudierte. Dieser Umstand mag zu der massiven Kritik an dem Stück beigetragen haben« (Franziska Schößler: Wahlverwandtschaften: Der Surrealismus und die politischen Aktionen von Christoph Schlingensief. In: Ingrid Gilcher-Holtey, Dorothea Kraus, F. S. (Hg.): Politisches Theater nach 1968. Regie, Dramatik und Organisation. Frankfurt a. M., New York 2006, S. 269–293, S. 292). 303 Pewny: Das Theater des Prekären, S. 234.
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und aus kleinen Verhältnissen stammend, studierte er Theaterwissenschaft in Gießen bei Andrzej Wirth und Hans-Thies Lehmann. 1994 bis 1998 war er ohne feste Anstellung und »nur flexibel unterwegs«.304 Er lebte von einzelnen Engagements und Stipendien (u. a. 1996 einem Arbeitsstipendium am Royal Court Theatre in London). In dieser Zeit entwickelte Pollesch ein neues Genre: die postdramatische Theatersoap (u. a. 1998 Drei hysterische Frauen beim PraterSpektakel der Volksbühne, Superblock am Berliner Ensemble sowie Globalisierung und Verbrechen für das Schauspiel Leipzig). Sein Durchbruch erfolgte dann mit der Heidi Hoh-Trilogie (1999–2001), von 2001 bis 2007 war er anschließend künstlerischer Leiter des Prater an der Volksbühne in Berlin. 2002 wurde Pollesch von der Zeitschrift Theater heute zum besten deutschen Dramatiker gekürt. Er gilt als »Prototyp der prekären Arbeit in der Kunst und ein Protagonist der Verwandlung von prekärer Arbeit in eine Erfolgserzählung«.305 Wie das postdramatische Theater allgemein wendet sich Polleschs Ästhetik gegen ein Repräsentationstheater. Auf der Suche nach einem neuen politischen Potential in der Nachfolge von Brechts epischem Theater grenzte Pollesch seine Stücke aber gleichermaßen vom traditionellen, dokumentarischen und vom direkt politisch engagierten Theater der 1970 er und 80 er Jahre ab.306 Entsprechend lehnte er auch ein neues politisches Theater im Sinne Ostermeiers ab, das im Namen subalterner Stimmen sprechen möchte, diese aber gerade durch eine die Autor-Haltung vermittelnde Geste der Repräsentation auslösche.307 Dagegen rückten bei Pollesch, der in Fortsetzung des postdramatischen Theaters die Institution des Protagonisten und der Hauptrolle abgeschafft hat, die Produktions- und Reproduktionsverhältnisse des modernen Subjektes in der Familie, in der modernen Arbeitswelt und im Theater selbst ins Zentrum der Darstellung. Statt Subjekte zeigen sich dadurch Subjektpositionen im Sinne Foucaults als Effekte von Diskursen und Repräsentationsverhältnissen. Die Heidi Hoh-Trilogie hatte insofern eine Vorreiterrolle für das Gegenwartstheater, als sie die Debatten über die prekäre Arbeit im Kunst- und Kulturbereich, die im deutschsprachigen Raum erst nach der Jahrtausendwende in einer größeren Öffentlichkeit einsetzten, beförderte. In Heidi Hoh arbeitet nicht mehr geht es um die prekären Existenzweisen selbständiger Kunst- und Kulturarbeiter und auch in Der Tod eines Praktikanten und Seid hingerissen von euren tragischen Verhältnissen (beide 2008) werden die unsicheren Arbeitsbedingungen am Theater selbst thematisiert. Sie sind exemplarisch für den neuen, flexiblen, in der Illusion der Selbstverwirklichung sich selbst ausbeutenden Arbeitnehmer. Obwohl Polleschs eigene berufliche Situation seit Heidi Hoh gesichert war, blieb die Ökonomie des Theaters bei ihm weiterhin ein zentrales Thema, das sich »mehr und mehr zu einer Untersuchung möglicher Bezeichnungspraktiken im Sprechtheater« entwickelte.308 Damit wandelte sich ›das Prekäre‹ von einer sozialen, mimetischen Angelegenheit zu einer dominant selbstreflexiven und ästhetischen Kategorie. Diese betrifft die Reflexion der Subjektposi-
304 René Pollesch: Ich bin Heidi Hoh. René Pollesch im Gespräch mit Jürgen Berger. In: R. P.: world wide web-slums. Hg. v. Corinna Brocher. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 341–348, hier S. 341. 305 Pewny: Das Theater des Prekären, S. 234. 306 Vgl. René Pollesch: Dialektisches Theater Now! Brechts Entfremdungs-Effekt. In: R. P.: Liebe ist kälter als das Kapital. Stücke Texte Interviews. Mit einem Vorwort von Dietmar Dath. Hg. v. Corinna Brocher u. Aenne Quiñones. Reinbek b. Hamburg 2009, S. 301–305. 307 Vgl. Schößler, Bähr: Die Entdeckung der ›Wirklichkeit‹, S. 12; u. Annuß: Tatort Theater, S. 23–38. 308 Pewny: Das Theater des Prekären, S. 238.
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tionen unter ökonomisierten und medialisierten Verhältnissen. Der Blick auf die Subjekte und ihre (scheiternden) Versuche einer Identitätskonstitution, ihre Körper und Gefühle als Tauschobjekte in der kapitalistischen Welt, ist stets diskursiv und medial vermittelt. Er wird als solcher ästhetisch markiert und selbstreflexiv thematisiert.309 Auch bei der Integration medialer Formate wie TV-Serien, amerikanischer Sitcoms, Video-Kamera-Verdoppelungen und Filmzitaten bleibt das Theater stets das maßgebliche ›Hypermedium‹.310 Lengers vertritt daher die These, dass bei Pollesch das Theater in seiner medialen Grenzüberschreitung zu sich selbst finde.311 Der Trivialmythos wird zu einem künstlichen Mythos umgeformt.312 In Polleschs performativem Diskurstheater gibt es keine klassischen, auf dem Prinzip der Differenz beruhenden Bühnenfiguren mit individuellen ›Rollen‹ und ›Rede‹ – die Stimmen sind, ähnlich wie bei Jelinek, von den Figuren gelöst und bezeichnen flexible Sprechpositionen. Dabei leiden die einzelnen Stimmen, die jeweils Stimmen vieler sind und sich wechselnde Träger suchen, nicht mehr aufgrund der Last der Rolle wie noch in Müllers Hamletmaschine, sondern am »Fluch der Authentizität«,313 an der Individualität und Kreativität des Subjekts unter ökonomischen Verhältnissen. Dieser Fluch, dem das künstlerisch-kreative Subjekt unter den flexibilisierten kapitalistischen Verhältnissen unterliegt, besteht in der »Ununterscheidbarkeit von Selbstverwirklichung und Selbstverwertung«,314 d. h. in der paradoxen Identität, die sich aus der Vergewisserung ihrer Einzigartigkeit und der Verwertung ihrer selbst zusammensetzt. Nach Diederichsen macht die ambivalente Position des kreativen Subjekts Polleschs Bühne zu einer Art ›heterotopen‹ Ort im Sinne Foucaults: zu einem künstlerischen ›Zwischenraum‹, wo eine soziale Identität (Heidi Hoh als prekäre Kulturarbeiterin) repräsentiert und zugleich suspendiert wird. Mit dem ›heterotopem‹ Ort des Theaters als Bühne künstlicher und authentischer Selbstinszenierung korrespondiert der ambivalente Status des Textes im diskursiven Theater Polleschs: Diederichsen deutet ihn als »Idee des dritten Textes, des ganz künstlichen Textes, der sich zwischen die alte erzwungene Rolle und die neue erzwungene Authentizität schiebt. Der theoretische Text«.315 Dieser wird zum Reflexionsmedium der neuen, kapitalistischen Alltagsmythen einer selbstbestimmten Subjektkonstitution.
In feldanalytischer Betrachtung erscheint Polleschs Autorposition als ›Scharnier-Position‹ zwischen einer horizontal und einer vertikal ausgerichteten Avantgarde. Sie übersetzt sich ästhetisch zum einen in den ›heterotopen‹ Zwischenraum der Bühne zwischen sozialer (authentischer) und ästhetischer
309 Vgl. Birgit Lengers: Ein PS im Medienzeitalter. Mediale Mittel, Masken und Metaphern im Theater von René Pollesch. In: Arnold, Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 143– 155, hier S. 147. 310 Vgl. ebd., S. 149 f. 311 Vgl. ebd., S. 148. »Polleschs Medientransfer dient primär dem brechtschen Verfremdungseffekt, der den vertrauten Gegenstand zwar erkennen, aber neu kontextualisiert fremd erscheinen lässt« (ebd., S. 151). 312 Vgl. ebd. u. Barthes: Mythen des Alltags, S. 121. 313 Vgl. Diedrich Diederichsen: Maggies Agentur. Das Theater von René Pollesch. In: Tigges (Hg.): Dramatische Transformationen, S. 101–110, hier: S. 104. 314 Ebd., S. 106. 315 Ebd., S. 103.
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(künstlicher) Existenz der neuen, kreativen Subjekte,316 zum anderen in den ›dritten Text‹ (Diederichsen) zwischen dem ›ganz künstlichen‹ und dem ›ganz authentischen‹ Text. Horizontal ausgerichtet ist Polleschs Autorposition durch die weiterentwickelte Pop- und Medien-Ästhetik, die verfremdete Elemente einer mimetischen Repräsentation sozialer Prekarität enthält. Eine vertikale, kunstautonome Ausrichtung liegt dagegen in der ›diskursiven Verfasstheit‹ seines Theaters vor, die für eine kunstautonome Reflexivität wie für einen symbolischen Ersatz für das textgebundene Literaturtheater steht.
316 Vgl. hierzu allgemein Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität.
II. Der Nobilitierungssektor Der Nobilitierungssektor bezeichnet im Modell des literarischen Feldes den Bereich symbolisch ranghoher Positionen.317 Im Folgenden geht es um diesen oberen Sektor des Ansehens und Prestiges, um die unterschiedlichen Arten und Funktionen symbolischer ›Größe‹, Rechtfertigung und Exzellenz.318
1 Struktur und Entwicklung des Nobilitierungssektors 1.1 Der Nobilitierungssektor und seine Rechtfertigungsordnungen Grundlage jeder symbolischen Herrschaft ist – wie Max Weber gezeigt hat – ein »Legitimitäts-« oder »Prestige«-Glauben.319 In der besonderen Bedeutung der symbolischen Herrschaft als Glaubensverhältnis320 zeigt sich die strukturelle Verwandtschaft des religiösen321 und des künstlerischen respektive literarischen Feldes. Hier wie dort erweist sich in einem besonderen Maße, dass das Feld zwar nicht sichtbar existieren und über reale Zwangsmittel verfügen muss, dass aber das Verhalten, das Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Handeln der Menschen, die am Feld teilhaben, so geschieht, als ob sie seinen Kräften gehorchten.322 Während die höfische Gesellschaft die standeshierarchische Verteilung der Würden und Privilegien vorgab, ist die Neuzeit und Moderne von einer zunehmenden Individualisierung der Exzellenz-Zuschreibung geprägt, die eine je-
317 Vgl. zum Folgenden die Vorstudie von Heribert Tommek: Zur Entwicklung nobilitierter Autorpositionen am Beispiel von Raoul Schrott, Durs Grünbein und Uwe Tellkamp. In: H. T., Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart, S. 303–327. 318 Zur Bedeutung des Exzellenz-Begriffs zwischen »herausragender Leistung« (excellence) und »Träger standesgemäßer Würde, Anerkennung« (excellency) siehe den Artikel »Exzellenz« von Michael Hartmann. In: Sabine Andresen, Rita Casale u. a. (Hg.): Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim u. a. 2009, S. 291–306. 319 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil, 3., hier S. 122 u. S. 153. 320 »[L]e pouvoir symbolique est en effet ce pouvoir invisible qui ne peut s’exercer qu’avec la complicité de ceux qui ne veulent pas savoir qu’ils le subissent ou même qu’ils l’excercent« (Pierre Bourdieu: Sur le pouvoir symbolique. In: Annales. Économies, Sociétés, Civilisations 32 [1977], Nr. 3, S. 405–411, hier S. 405). 321 Vgl. Bourdieu: Das religiöse Feld. 322 Vgl. Egger, Pfeuffer, Schultheis: Vom Habitus zum Feld, S. 167; zur Funktion des »Als ob« in Herrschaftsverhältnissen siehe Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Teil, I, § 2 (S. 192) u. Kap. IX, § 1 (S. 544 f.).
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weilige Rechtfertigungs- und Anerkennungsordnung notwendig macht.323 So besteht eine ausdifferenzierte Gesellschaft aus verschiedenen ›Terrains‹ oder ›Welten‹ gesellschaftlicher Rechtfertigung, die interagieren und sich auch überschneiden.324 Unter ihnen befindet sich die »Welt der Inspiration«, die einer ganz eigenen Rechtfertigungsordnung unterliegt: Die Welt der Inspiration, in der die Wesen stets mit Veränderungen ihres Ranges rechnen müssen, ist sehr instabil und weist eine nur geringfügige Ausstattung auf. All das, womit in anderen Welten Äquivalenzen hergestellt werden, Maße, Regeln, Geld, Hierarchie, Gesetze oder Ähnliches, fehlt hier. Aufgrund ihres schwachen Ausstattungsgrades toleriert diese Welt nur interne Prüfungen, die sich wenig oder gar nicht objektivieren lassen. […] Die inspirierte Welt steht also vor der paradoxen Situation, dass sie sich durch eine Größe auszeichnet, die sich jeglicher Messung entzieht, sowie durch eine Form von Äquivalenz, in der dem Einzigartigen Vorrang eingeräumt wird.325
Das literarische Feld gehört der »Welt der Inspiration« und seiner spezifischen Rechtfertigungsordnung an. Je nach Nähe oder Distanz zum kunstautonomen Pol des Feldes überschneidet es sich – in unterschiedlichen Kompromissfiguren326 – auch mit Rechtfertigungsordnungen anderer »Welten«, wie derjenigen des »Hauses« (Einfluss familiärer und moralischer Werte), der staatsbürgerlichen Welt (insbesondere über die Schule), der Meinung (Einfluss journalistischer Ordnungen), des Marktes und auch der industriellen Welt (Einflüsse der Produktion, des Marketings, der Distribution und der medialen Trägerschaft). Aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen Rechtfertigungsordnungen lassen sich – analog zu Bourdieus Unterscheidung verschiedener Legitimitätssphären,327 die den Schwerpunkt auf eine Analyse von Herrschaftsverhältnissen legen, indem sie zeigen, dass »die Geschmackssysteme im Hinblick auf die legiti-
323 Vgl. allgemein Axel Honneth: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 1992; für die Literatur vgl. Nathalie Heinich: L’épreuve de la grandeur. Prix littéraires et reconnaissance. Paris 1999. 324 Vgl. Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung. Die Autoren unterscheiden folgende »Welten« verschiedener Rechtfertigungsordnungen: die Welt der Inspiration, die häusliche Welt, die Welt der Meinung, die staatsbürgerliche Welt, die Welt des Marktes und die industrielle Welt (vgl. ebd., S. 222–286). Das Konzept der »Welten« knüpft offenbar an Max Webers Unterscheidung verschiedener Herrschaftsformen an: So unterliegt die »Welt der Inspiration« tendenziell der charismatischen Herrschaft, die »häusliche Welt« der traditionalen Herrschaft des Hausherrn, während sich die anderen »Welten« als Ausdifferenzierungen der rationalen (legalen) Herrschaft verstehen lassen (vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Erster Teil, III). 325 Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 222. 326 Vgl. ebd., S. 394–408 (X. Kap., »Kompromissfiguren«: »Kompromisse zwischen der Welt der Inspiration«). 327 Vgl. oben: Erster Teil, I. 2.
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men Werke […] eng an das Unterweisungsniveau gebunden« sind 328 – verschiedene Rezipientenkreise und Anerkennungsarten ableiten: 1. das »Massenpublikum«, 2. der Kreis der »Liebhaber« (Amateure), die in erster Linie aus Vergnügen, Interesse und Idealismus Literatur lesen, beurteilen und verlegen, 3. die professionellen »Spezialisten« unter den Verlegern, Literaturkritikern und Literaturwissenschaftlern (zwischen dem zweiten und dritten Rezipientenkreis gibt es selbstverständlich Überschneidungen) und schließlich 4. die »Pairs«, die selbst Kunstschaffende sind oder sein könnten.329 Die verschiedenen symbolischen ›Größen‹ erstrecken sich von den Autorpositionen der »Ästheten« am Pol des kunstautonomen Kapitals, über die Spitzenpositionen des Mittelbereiches (»Erfolgsautoren« und »Superstars«) bis zu den »Notabeln« am Pol des »weltlichen, temporären Kapitals« (vgl. Abb. 4 u. 5).
Der nobilitierte Raum der Ästheten: Augustinus’ De civitate dei und die »Welt der Inspiration« Die verschiedenen Legitimitätssphären und Rezeptionsbereiche im künstlerischen respektive literarischen Feld stehen in Spannungsverhältnissen zueinander. Diese Konkurrenz um die legitime Definition der Kunst und ihrer Größe kann als Ausdifferenzierung eines paradigmatischen Kampfes zwischen sakraler und säkularer Welt begriffen werden, der sich auf Augustinus’ De civitate dei zurückführen lässt. Aus Augustinus’ Lehre vom Gottesstaat können – mit Boltanski und Thévenot – die Kernbestimmungen der »Welt der Inspiration« und damit des nobilitierten ›Terrains‹ der Ästheten im literarischen Feld hergeleitet werden.330 Nach Augustinus steht der Gottesstaat (civitas dei) zum irdischen Staat (civitas terrena) in einem ewigen Gegensatz. Auf Erden selbst herrscht wiederum ein Kampf zwischen einer von der Gnade bewohnten und einer der Gnade beraubten Welt. In diesem antagonistischen Kampf verbinden sich Heilsgeschichte und politische Geschichte, wobei die Heilslehre auf eine Hinführung letzterer zur Heilsgeschichte zielt. Die Wertordnungen beider Welten sind klar voneinander abgegrenzt: Dem Streben nach Gemeinwohl (Nächstenliebe) steht das Streben nach persönlichem Ruhm und Bewunderung seitens anderer Menschen entgegen. Ebenso konfrontieren sich Formen von Größe und Elend, Demut und Hochmut: In der weltlichen Welt und ihrer Werkökonomie herrscht Hochmut, während sich die fromme Demut dem Höheren, dem, was sie der göttlichen Größe gegenüber öffnet, unterwirft. Denn der ›in der Welt pilgernde Gottesstaat‹, und damit jede wahrhafte Größe in ihr, hängt hier vollkommen von der himmlischen Gnade ab. Zwar steht der Zugang zum Gnadenstand grundsätzlich allen offen, jedoch
328 Bourdieu: Die gesellschaftliche Definition der Photographie, S. 107. 329 Vgl. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 262. 330 Vgl. zum Folgenden Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 120–129.
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lässt er sich nicht eigenmächtig verdienen, sondern er wird »nur einigen kund«; die göttliche Gnade offenbart sich vor allem in der »geistigen Gottschau« der Priester und Propheten.331
Aus Augustinus’ Lehre von dem ›in der Welt pilgernden Gottesstaat‹ lässt sich das Muster zur relationalen Bestimmung des sakralen, d. h. der sozialen Zeit enthobenen Ortes der Autorposition des Ästheten in Abgrenzung zur Größenordnung im ›weltlichen‹, flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich gewinnen. In Abgrenzung zur säkularen Welt des flexiblen Normalismus und ihrer symbolischen Kurvenlandschaften der taxierenden Mittelwerte definiert sich die »inspirierte Welt«, d. h. der Kernbereich des Subfeldes der eingeschränkten künstlerischen Produktion, als Bereich des Unberechenbaren, des jenseits der bemessbaren Werte stehenden Nicht-Rationalen. Hier zählt der Sinn für das ›Mysteriöse‹, das ›Fantasievolle‹, ›Unsagbare‹, ›Unnennbare‹ oder ›Unsichtbare‹ jenseits einer quantifizierbaren Größe.332 Über das ›Gnadenprinzip‹ grenzt sich die ›inspirierte Größe‹ im Bereich der reinen Kunst von anderen Rechtfertigungs- und Prestige-Formen weiter ab. Die göttliche Inspiration ist die grundlos gewährte Gunst.333 Im Symbol des Blitzes, das für die Durchdringung mit dem Heiligen steht und exemplarisch schon in Hölderlins sakraler Legitimierung des dionysischen Dichter-Sehers eine zentrale Rolle spielt,334 sind der von außen geprägte Zustand der Gnade und die Gewissheit einer absoluten Rechtfertigung versinnbildlicht. In der Schöpfung des Meisterwerks zeigt sich die Inspiration urplötzlich als Geistesblitz. Die der irdischen (sozialen) Zeit enthobene Begegnung mit dem Heiligen, die göttliche Eingebung einer Vision, die
331 Vgl. ebd., S. 123. Durch die Vernachlässigung der Herrschaftsstrukturen unterscheiden Boltanski und Thévenot in ihrer Bestimmung der »Welt der Inspiration« nicht die unterschiedlichen Positionen des »Priesters«, des »Propheten« wie auch des »Zauberers« im religiösen Feld. Diese auch für das literarische Feld maßgebliche Unterscheidung objektiver Herrschaftsverhältnisse (im Unterschied zu Real- oder Idealtypen) nimmt Bourdieu in seiner Analyse des religiösen Feldes in Weiterführung der Religionssoziologie Max Webers vor (vgl. Bourdieu: Das religiöse Feld, insb. das Schema auf S. 16, das das Gesamtsystem der objektiven Macht- und Austauschrelationen zwischen den Positionen zeigt). 332 »Im inspirierten Zustand der Größe entziehen sich die Wesen industriellen Messungen, dem vernünftigen Denken, der Determiniertheit, den Gewissheiten der Technik. Sie gehen auf Distanz zu den gewöhnlichen Dingen, gebärden sich bizarr« (Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 223). 333 »Wahre Größe ist ein spontaner innerer Zustand der Gewissheit, der von außen über die Wesen kommt und deshalb nicht willentlich herbeiführbar ist« (ebd., S. 222). 334 Vgl. Peter Szondi: Der andere Pfeil. Zur Entstehungsgeschichte des hymnischen Spätstils. In: P. S.: Schriften. Hg. v. Jean Bollack u. a. Neuausgabe, Bd. 1. Frankfurt a. M. 2011, S. 289– 314, hier S. 292–296.
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sich in eine notwendige Form ›gießt‹, stellt die höchste Rechtfertigung des Künstlers und seines Werks dar. Der Größe aus göttlicher Gnade ist nicht zuletzt eine Opferlogik eingeschrieben, wodurch sich der hohe Rang der Auserwählten, die zwischen der heiligen und der profanen Welt vermitteln, in der ›irdischen Ökonomie‹ ausweist: Die Aura des göttlichen Werks kann nur erfahren, wer der Katharsis durch eleos und phobos standhält.335 Mit dem Gnadenprinzip ist auch eine Grenzziehung innerhalb des autonomen Subfeldes literarischer Produktion verbunden, denn es steht für eine in der Form stillgestellte ›Veräußerung‹, Objektivierung und Ontologisierung des subjektiven, dynamischen Prinzips genialischer Selbstermächtigung der ›Propheten‹ am Avantgardepol. Während in der noch nicht legitimierten, avantgardistischen »Welt der Inspiration« das Propheten-Prinzip der genialisch-häretischen Innovation, der Neugeburt herrscht, steht im oberen, ontologisierten und in der Form sich objektivierenden ›Priester‹-Bereich die Erneuerung der sakralen, also gerechtfertigten Kunst ganz im Zeichen der Wiedergeburt.336 Die hier herrschende Aura des Glücks im zeitenthobenen erfüllten Augenblick gründet in der schlagartigen Erkenntnis der Koinzidenzen und Analogien einer wahrhaftigen, symmetrischen und einheitlichen (organologischen) Gestalt der Welt, kurzum: in der Schau der ästhetischen Form.337 Die Sphäre in der irdischen Welt, die dem göttlichen ›Staat‹, d. h. dem Reich der reinen, zeitenthobenen Kunst nachstrebt, steht in einer Beziehung zum Übernatürlichen und ist damit Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Dadurch entsteht eine Spannung zwischen Abstand und Nähe zur ›weltlichen Welt‹, zum flexibel ökonomisierten Mittelbereich und zum Feld der Massenproduktion. Hieraus erklären sich das für die Position der Ästheten charakteristische Gefühl der Isoliertheit und die demonstrative Loslösung aus sozialen Bindungen und Bestimmungen. Wie für Augustinus’ Gottesstaat gilt daher für das ästhetische Reich des L’art pour l’art das Prinzip der Anachorese. Für die ästhetischen Einsiedler ist Enthaltsamkeit von den alltäglichen sozialen Absicherun-
335 Vgl. Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 227. 336 Vgl. ebd., S. 125. Das Prinzip der Wiedergeburt oder Wiederherstellung (Restauration) der immer schon da-seienden Idee oder des Logos im Sinne Platons weist wiederum Verbindungen zur »Größe des Hauses«, dem Prinzip der patriarchalen und patrimonialen Herrschaft, auf (vgl. ebd., Anm. 17). 337 Vgl. Botho Strauß mit Blick auf Rudolf Borchardts Gespräch von den Formen: »Ja, das zwiegestalte Stück ist mit seinen heiteren, mehrfachen Symmetrien selbst der lebendigste Beweis für die gelungene Technik der Wiedergewinnung« (B. S.: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt. In: B. S.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. München, Wien 1999, S. 5–22, hier S. 10 f.; vgl. dazu auch unten: Zweiter Teil, II. 2.1.1.).
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Der Nobilitierungssektor
gen qua persönlicher Identität ebenso typisch wie der Verzicht auf die nichtigen Ämter und Ehren, auf den Verkauf ihrer ›Redekunst‹ oder auf die Versuchung, mit den Großen der Welt bekannt zu werden. Denn dadurch kann nur die Nobilität ihrer Person, nicht aber die Größe ihres Werkes gewinnen.338 Im Streben nach den reinen Werten der Welt der ästhetischen Inspiration (Kants »interesseloses Wohlgefallen«, bei dem Schönheit und Wahrheit eins sind) äußert sich indirekt die Kritik an den Bedingungen der irdischen Formen von Größe, wie z. B. die persönliche Abhängigkeit der »Notabeln« von den Großen der Welt 339 oder das im Mittelbereich literarischer Produktion ausgeprägte, von der »Welt der Meinung« abhängige Streben nach Ruhm (literarische Superstars).340 Dagegen strebt der ›demütige‹ Dichter als Ästhet nach Kontemplation der Form um der reinen Kunst willen. Die geistigen Werte der »Welt der Inspiration« können ihrem Wesen nach nicht übertragen oder kommuniziert werden, denn durch die allgemeine Mitteilung werden sie bereits profanisiert, während sie das Expertenwissen in die Form einer standardisierten Botschaft übersetzt. Da aber auch die geistigen Ideen der Mitteilung und Bewahrung bedürfen, machen sie einen Kompromiss erforderlich, zumeist mit der »Welt des Hauses«. Dieser patrimoniale Pakt zeigt sich am L’art pour l’art-Pol traditionell als Initiationsverhältnis zwischen Meister und Schüler, wodurch der interne Kreislauf und die wechselseitige Spiegelung im Rezeptionsverhältnis des ›idealen Lesers‹ zum Werk gewährleistet werden.341 Erst in der Spannung zwischen Nähe und Abstand zur weltlichen Welt, wie sie etwa in Botho Strauß’ Doppelcharakter zwischen Zeitgeistkritiker und ›Priester der heiligen Kunst‹ zum Ausdruck kommt (s. u.), ist die »physische Gegenwart des Heiligen« gesichert.342 Ebenso sind die ›inspirierten Großen‹ in ihrem Selbstverständnis zugleich einzigartig wie universell: In der Einzigartigkeit ihres (Autoren-)Eigennamens und ihres geistigen Eigentums, ihres Werkes, ist die Allgemeinheit des Menschen eingeschlossen.343 Hierauf gründet sich der Universalanspruch der Autorposition der Ästheten.
338 Die zurückgezogene, ›asketische‹ Lebensführung und das Streben nach dem heiligen Kunstwerks zeigen sich bei Botho Strauß und Peter Handke demonstrativ. Handke lebt seit Jahrzehnten zurückgezogen in einem ländlichen Vorort von Paris, Strauß zeitweilig in der Uckermark. 339 Vgl. hierzu unten: II. 2.4. 340 Vgl. hierzu unten: II. 2.3.2. 341 Vgl. Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 394. 342 Peter Brown: Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit. Leipzig 1991, S. 88; zit. n. Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 126. 343 Vgl. ebd., S. 224.
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Da sich das literarische Feld zwischen den Polen der Autonomie (kulturelles Kapital) und der Heteronomie (ökonomisches und moralisch-politisches Kapital) aufspannt, ist auch das System der Anerkennung von Größe grundsätzlich bipolar organisiert:344 einerseits die Rechtfertigungsordnung des Werkes mit ihren genuin ästhetischen Kriterien, die aus der »Welt der Inspiration« und hier aus ihrem generativen Zentrum – dem Avantgardepol – entstanden sind. Im feldspezifischen Prozess des ästhetischen Alterns (Kanonisierung und Vergessen) gipfeln diese Kriterien im Idealfall in einem »interesselosen Wohlgefallen« (Kant). Andererseits orientiert sich die Rechtfertigungsordnung der Moral und der gesellschaftlichen Haltung einer Person an den Werten der häuslichen, der staatsbürgerlichen und der ökonomischen Welt. Der Bipolarität der Größe im literarischen Feld entspricht also die Entgegensetzung der Größe des Werks auf der einen Seite und der gesellschaftlichen Nobilität (oder Honorität) der Person auf der anderen.345 Dazwischen situiert sich eine graduelle, gemischte Rechtfertigungsordnung. Sie besteht aus Kompromissbildungen zwischen einer ästhetischen Anerkennung in der »Welt der Inspiration«, einer symbolischen »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck) in der »Welt der Meinung« und einer Ökonomie des finanziellen Gewinns in der »Welt des Marktes«. Eine Vorform dieser gemischten Rechtfertigungsordnung im Mittelbereich des Nobilitierungssektors wiesen bereits die Bestsellererfolge des postmodernen Romans eines Umberto Eco oder Patrick Süskind auf. In der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, mit der Durchsetzung sektoraler Legitimität der Popkultur in der Literatur, wurde sie in einer neuen Form und mit einer neuen Wirkmacht sichtbar, wie sich am Beispiel von Daniel Kehlmann zeigen lässt.346 Die beiden Pole der Rechtfertigung – ästhetische Größe des Œuvres versus gesellschaftlicher Rang der Person – unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer zeitlichen Ordnung. Auch sie lässt sich auf den von Augustinus in De civitate dei paradigmatisch unterschiedenen Gegensatz zwischen der Heilsgeschichte und der irdischen, politischen Geschichte der Menschen zurückführen. Während der ästhetischen Größe des literarischen Werkes eine langfristige Anerkennung (bis hin zum Eingang in den Kanon der Literaturgeschichten und Schulbücher) inhärent ist, bewegt sich die aufgrund ihres gesellschaftlichen Ansehens und ihrer (ethisch-moralischen) Haltung nobilitierte Person in der Zeitsphäre der ›irdischen‹, sozialen Zeit, d. h. der kurzfristigen, vergänglichen Anerkennung – etwa durch literarische Preise, die nur einzelne Bücher aus-
344 Wobei sich der heteronome Pol wiederum aufspaltet in einen Einfluss moralisch-politischer Werte und einen der ökonomischen Maßstäbe. 345 Vgl. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 256 u. S. 260. 346 Siehe hierzu unten: II. 2.3.2.
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Der Nobilitierungssektor
zeichnen und kein (Lebens-)Werk. Hier werden das öffentliche Leben der Person und ihre gesellschaftliche Haltung in Rechnung gestellt. Während die Autoren als gesellschaftliche Personen mit ihren jeweiligen ausgezeichneten Erfolgsbüchern temporär auf dem Markt und in den gesellschaftlichen Debatten präsent sind, erweist sich die langfristige Relevanz des Werkes als dauerhafte Präsenz in den Buchauslagen, in den Backlists und in der impliziten Erwartung oder im Vertrauen, dass das einzelne Buch Teil eines Gesamtwerkes ist oder sein wird.347 Auch zielt dabei die Verbreitung des Autorbildes in der Zeit mittels materieller Gedächtnisträger (Bücher auf Backlisten und in Bibliotheken) weniger auf eine rasche Zirkulation als auf eine langfristige Umwandlung und Objektivierung im kollektiven kulturellen Gedächtnis. Denn je näher am kunstautonomen Pol situiert, desto mehr lässt der Eigenname im Prozess der Nobilitierung die Ebene der leiblichen Person hinter sich und wandelt sich zum Autor eines Werkes. Wie Michel Foucault gezeigt hat, übersteigt das »Werk« die Ansammlung einzelner Veröffentlichungen. Seine Einheit und Dauer werden durch den Autornamen und durch die Autorfunktion diskursiv hergestellt und beglaubigt.348 Den unterschiedlichen Zeit-, Objektivierungs- und Anerkennungsformen entsprechen auch verschiedene Literaturkonzepte, denen in den folgenden Studien eine besondere Aufmerksamkeit gilt. Während bei den »Ästheten« die Bestimmung über die autonome Form des Werkes dominiert, überwiegt im Kreis der »Notabeln« tendenziell die Bestimmung über den Inhalt, die Moral, die ethische Haltung und den ›guten Geschmack‹ der gesellschaftlichen Person.349 Die bipolare Spannbreite des Nobilitierungssektors spiegelt sich daher auch in zwei unterschiedlichen Aufstiegsbewegungen: einerseits im Aufstieg zur Objektivität des Werkes und seines Autors als ein auf Zukunft ausgerichtetes und geglaubtes Versprechen –andererseits im Aufstieg qua Nobilitierung der Singularität der Person, ihrer Weltsicht und ethisch-moralischen Haltung in der sozialen Zeit.350 Dem Autor eines in der ästhetischen Zeitordnung und im Glaubens- bzw. Anerkennungsverhältnis der auctoritas stehenden Werkes steht die Ökonomie der Aufmerksamkeit für die Person gegenüber, durch die Verbreitung ihres Namens, Bildes und der auf einige Schlagworte reduzierbaren ›Qua-
347 Vgl. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 263. 348 Foucault: Was ist ein Autor? (vgl. auch oben: Einleitung, Abschnitt 4). 349 Bei der Autorposition der Notabeln hebt das literarische Urteil »den Inhalt gegenüber der Form hervor und neigt, beunruhigt über die sozialen Wirkungen der Werke, zu einer moralischen oder sogar moralisierenden Betrachtungsweise« (Sapiro: Das französische literarische Feld, S. 160). 350 Vgl. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 264.
Struktur und Entwicklung des Nobilitierungssektors
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lität‹ ihres Aufmerksamkeit erregenden Erfolgsbuches im Zirkulationsraum der Informations- und Kommunikationsnetze (nicht zuletzt abzulesen an den Eyecatchern auf dem Buchrücken oder in den Werbeannoncen). Die bipolare Zeitordnung der Rechtfertigung objektiviert sich schließlich auch in der Verteilung der literarischen Preise: Hier gibt es zum einen jene Preise, die das Gesamtwerk in seinem ästhetischen Wert würdigen (im deutschen literarischen Feld traditionell der Georg-Büchner-Preis),351 zum anderen solche, die einzelne Bücher als zeitlich befristetes Ereignis auszeichnen (z. B. in Deutschland der Deutsche Buchpreis, in England der Booker Prize oder in Frankreich der Prix Goncourt – allesamt nationale Preise, die auf die Herstellung eines literarischen Bestsellers und auf die wirtschaftlich gestützte internationale Zirkulation der ausgezeichneten Titel zielen).352 Bei den Preisen, die nur Erfolgsbücher auszeichnen, besteht stets die Gefahr einer ›irdischen‹ Diskreditierung: sowohl einer räumlichen Entwertung bei zu großer Nähe des Autors zu Kritikern, Geldgebern, Politikern etc. als auch einer zeitlichen Diskreditierung durch ein zu rasches Altern nicht nur in ästhetischer, sondern auch in einer für die Öffentlichkeit relevanten diskursiven und ökonomischen Hinsicht. Entsprechend hat Bourdieu die beiden Subfelder des literarischen Feldes nach ihrer zeitlichen Ordnung unterschieden. Die kurzfristige Zirkulation, für die insbesondere die Urteilsinstanz der Literaturkritik zuständig ist, muss sich stets davor hüten, nicht durch ein zu ›weltliches‹ Renommee oder durch zu offensichtliche ökonomische Marktinteressen diskreditiert zu werden; die langfristige Zirkulation ermöglicht den Transfer in die Kanones der Literaturgeschichtsschreibung, der Schulbücher und des allgemeinen kulturellen Gedächtnisses.353 Bei der Bestimmung der symbolischen ›Anerkennungsgröße‹ (Prestige) von Autorpositionen innerhalb des oberen Nobilitierungssektors gilt es schließlich, eine weitere, doppelte Relation zu berücksichtigen. Anhand des diachronen Abstandes zu vorausgehenden und nachfolgenden Positionen lässt sich das literarische Altern ablesen, während die Relation des synchronen Abstandes, die die symbolische ›Anerkennungsgröße‹ von Autoren im Nobilitierungssektor anzeigt, sowohl im Verhältnis untereinander als auch im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Eliten.354
351 Siehe hierzu Judith S. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. Soziologie eines Rituals. Berlin, New York 2006; u. unten: Zweiter Teil, II. 1.2. 352 Vgl. dazu oben: Erster Teil, I. 1. bzw. Zweiter Teil, I. 3.3. 353 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 235–249; vgl. auch Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 265. 354 Einem direkten Vergleich der Eliten der »Welt der Inspiration« mit anderen gesellschaftlichen Eliten steht allerdings entgegen, dass erstere von einer relativen Inkongruenz ihrer Größen geprägt ist. So hat Bourdieu immer wieder die im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen
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Der Nobilitierungssektor
So lässt sich zusammenfassen: Das bipolare Feld der nobilitierten Autorpositionen reicht einerseits von den »Ästheten«, die das Kunstwerk über die Form bestimmen und symbolische Anerkennung unter ihresgleichen erlangen, »ohne jedoch in den Genuss ›temporeller‹ Konsekration zu kommen«,355 über die neuen Formen gemischter ›Größen‹ und Anerkennungsverhältnisse des »Superstars« im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich bis hin zu den gesellschaftlichen »Notabeln« oder Honoritäten. Deren Bücher werden nach gesellschaftlich-diskursiven, d. h. tendenziell nach inhaltlich-moralischen Wertordnungen bewertet. Ihre symbolische Größe stellt wiederum einen stark ›irdischen‹, zeitlich-indizierten Wert dar, der an die gesellschaftliche Haltung der Person gebundenen ist (protonormalistisch oder normativ). Die ›Exzellenz‹ des Autors als gesellschaftlich nobilitierte Persönlichkeit stützt sich hier häufig auf eine gesellschaftlich institutionalisierte, allgemeine öffentliche oder staatliche Anerkennung etwa durch Literaturpreise, Ehrendoktorwürden, Akademiezugehörigkeit und – je näher dem Mittelbereich stehend – auch durch einen medialen und ökonomischen Erfolg.
Feldern nur schwach ausgeprägte Institutionalisierung des literarischen Feldes betont und auch Paul Ricœur sprach hinsichtlich der Maßstäbe ästhetischer Innovationen von der Unbestimmtheit der »étalons d’excellence« (zit. n. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 265). Da die Wertordnung der kunstautonomen Größe traditionell einer umgekehrten Ökonomie gehorcht (ästhetischer Wert versus ökonomische Ökonomie), lässt sie sich nur über Umwege in andere Kapitalsorten konvertieren. Was das synchrone Verhältnis der Eliten untereinander angeht, hat Bourdieu die Intellektuellen im Allgemeinen und die Schriftsteller im Besonderen als dominierte Fraktion innerhalb der herrschenden Klasse bestimmt. Michael Hartmann hat in einer vergleichenden Studie herausgearbeitet, dass die Macht der Eliten, d. h. die Möglichkeit, eigene Interessen durchzusetzen, umso größer ist, »je homogener die Eliten sind und je besser sie in der jeweiligen herrschenden Klasse verankert sind« (Michael Hartmann: Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich. Frankfurt a. M. 2007, hier S. 224). Trifft der von Hartmann aufgezeigte Zusammenhang zwischen einer zunehmenden habituellen und diskursiven Kohärenz der Eliten (in Europa) und einem wachsenden Abstand zu den Nichtprivilegierten auch für die nobilitierten Autorpositionen zu? Lassen sich in Zeiten, in denen vermehrt ökonomische (insbesondere über den Journalismus und die medialen Vermittlungsformen), aber auch neue politische und moralische Wertmaßstäbe (z. B. der einer ›versöhnten Nation‹ nach der Wiedervereinigung) auf das literarische Feld einwirken, ähnliche Zusammenhänge zwischen der vertikalen Herrschaftsordnung und einer horizontalen Kohärenz der Eliten beobachten? Diese Fragestellung richtet sich gegen den Ansatz von Heinich, der Bourdieus Kategorie der symbolischen Legitimierung und damit der Herrschaftsverhältnisse durch eine der Interdependenzverhältnisse ersetzt (vgl. Heinich: L’épreuve de la grandeur, S. 268–270). 355 Sapiro: Das französische literarische Feld, S. 161. Die im Deutschen ungewöhnliche Übersetzung für französisch ›temporel‹ soll auf die religiöse Konnotation (irdisch-vergängliche Zeit vs. göttliche Ewigkeit) anspielen; vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 343, Anm. 4).
Struktur und Entwicklung des Nobilitierungssektors
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Nobilitierungssektor
Ästheten kunstreligiös
eingeschränktes literarisches Subfeld
lit. „Superstars“
Notabeln
ökonomisch
bürgerlich, staatlich
flexibel ökonomisierter und medialisierter Mittelbereich
Feld der literarischen Massenproduktion
Abb. 11: Der Nobilitierungssektor im Feld der Gegenwartsliteratur
1.2 Der deutsche Staat und seine Dichter: Eine historische Skizze Die Mechanismen zur Herstellung literarischer Exzellenz sind von nationalen Rahmenbedingungen abhängig. In Deutschland haben die staatlich gestützten Konsekrationsinstanzen für die »Notabeln« ihren direkten Einfluss nach 1945 verloren, die Akademien (etwa im Vergleich zu Frankreich) besitzen einen anderen Stellenwert 356 und auch die autonome, ›ständische‹ Anerkennung unter Gleichen für die Auszeichnung der »Ästheten« ist seit der Diffusion einer homogenen und konsensuellen literarischen Öffentlichkeit in den sechziger und siebziger Jahren fragwürdig geworden. Daher stellt sich die Frage, wie sich die Autorpositionen im Nobilitierungssektor des literarischen Feldes in Deutschland reproduziert und modifiziert haben. Diese Frage gilt insbesondere seit den neunziger Jahren, in denen sowohl die gesellschaftlich-politischen Kräfte im Zuge der Wiedervereinigung der »verspäteten Nation« 357 als auch die wirtschaftlichen, medialen und alltagskulturellen Veränderungen im Zuge der Globalisierung eine neue Dynamik angenommen haben. Die folgende Skizze des Verhältnisses zwischen literarischer ›Größe‹ oder ›Exzellenz‹ und dem ›Staat‹ in der deutschen Literaturgeschichte dient einer ersten Annäherung an die konkrete Bestimmung des Nobilitierungssektors, die es in den anschließenden Studien zu differenzieren gilt. Der politische »Sonderweg Deutschlands«, der fehlende Einheitsstaat, das Ersatzkonzept der »Bildungsnation« sowie das im Sturm und Drang, im Idealismus und in der Romantik wurzelnde deutsche Deutungsmuster »Bildung und Kultur« 358 stehen für eine im Vergleich zu Frankreich recht deutliche Trennung der Räume der
356 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.3. 357 Vgl. Helmuth Plessner: Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes [1935]. Frankfurt a. M. 2001. 358 Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur.
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Der Nobilitierungssektor
Kultur und des Staates. Goethe als Minister bewegte sich in beiden Räumen, wusste ihre Rechts- und Rechtfertigungsordnungen jedoch klar zu trennen. Seine ›Trennung der Räume und Kompetenzen‹ in Weimar war wegweisend für die Entwicklung der ästhetisch-autonom nobilitierten Autorpositionen im literarischen Feld Deutschlands. Nach den Gründungen der zwei Staaten BRD und DDR 1949 war für die Schriftsteller im Kontext des Ost-West-Konflikts diese Trennung nicht mehr aufrecht zu erhalten. Es entstanden neue »Staatsdichter«, wie sie retrospektiv im »deutsch-deutschen Literaturstreit« polemisch genannt wurden: In der DDR, wo durch eine sozialfunktionale Entdifferenzierung, durch die Nivellierung der Legitimitätssphären und durch die staatlich vorgegebene gesellschaftliche Funktion der Schriftsteller die Trennung der Räume weitgehend aufgehoben wurde, ging die symbolische ›Exzellenz‹-Setzung lange Zeit direkt von der Nomenklatura des Staates aus.359 Allerdings war auch die Entwicklung im bundesdeutschen literarischen Feld von Vorbehalten gegenüber einer rein ästhetischen Nobilitierung (›L’art pour l’art‹) und von der Expansion einer Literatur mit quasi gesamtgesellschaftlich repräsentativen, kritisch-moralischen Funktionen geprägt. Da die ausschließlich vom nationalsozialistischen Regime nobilitierten Autoren mit diesem untergingen, die Verbindungen zur ästhetischen Moderne indes weitgehend abgebrochen waren und die Exilautoren keine oder nur eine konfliktgeladene Integration erfuhren,360 rückte in dieses Vakuum einer gesellschaftlichen Repräsentanz die Literatur der Gruppe 47. Diese positionierte sich zwischen ersten formalästhetischen Neuerungen und moralischen Themen der Vergangenheitsbewältigung, also im Mittelbereich zwischen »Ästheten« und »Notabeln«.361 Zusammen mit dem symbolischen Aufstieg der Gruppe und der Durchsetzung der gesellschaftlichen Funktion ihrer Literatur als eines ›kritischen Gewissens der Nation‹ entstand dann ein neues, komplexes Gefüge literarischer Öffentlichkeits- und Wertigkeitssphären zwischen ästhetischer Eigenlogik, journalistisch-literaturkritischer und staatlich-repräsentativer Logik, kurz: der literarische Markt. In der ›postmodernen‹ Modernisierung des bundesdeutschen literarischen Feldes gewannen schließlich die Sphären »potentieller« (feldintern-konkurrierender) und »willkürlicher« (alltagskultureller) Legitimation an Einfluss, während die vor allem vom Bildungsmonopol des Staates gestützte »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« und mit ihr die ›nonkonformistischen Staatsdichter‹ deutlich an Bedeutung verloren.362 359 360 361 362
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
dazu oben: Erster Teil, II. 2.1. als Fallstudie Tommek: Peter Weiss im literarischen Feld der sechziger Jahre. dazu oben: Erster Teil, II. 1.1. hierzu oben: Erster Teil, I. 2.
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Eine andere Ausprägung des Staatsdichters entstand im Literatursystem der DDR aufgrund eines spezifischen Loyalitätsverhältnisses zwischen den Schriftstellern und dem sozialistischen Staat. In der DDR spielten Akademien und Schriftstellerverbände eine mit Frankreich vergleichbare kulturpolitische Rolle, so dass hier die Autorposition der »Notabeln« strukturell möglich und eine soziale Tatsache war, wie z. B. im Falle von Johannes R. Becher, Hermann Kant, zeitweilig Christa Wolf und anderen.Im Zuge der Ausbildung einer ›zweiten‹, inoffiziellen, aber in wachsendem Maße geduldeten literarischen Öffentlichkeit und der daran anschließenden triangulären Wechselwirkung zwischen der ›ersten‹, offiziellen Öffentlichkeit, einer ›zweiten‹, literarischen Öffentlichkeit‹ und der seit der zweiten Hälfte der sechziger Jahren sektoral-pluralisierten, milieuförmigen literarischen Öffentlichkeit in der BRD und ihrer gesamtdeutschen medialen Präsenz fand eine Annäherung, Vergleichbarkeit und Überlagerung der literarischen Sphären der im Gestus der Universalisierbarkeit schreibenden Autoren im Osten und Westen statt.363 Dem Verhältnis zwischen »Dichter« und »Staat« bzw. zwischen literarischem und politischem Feld lässt sich auch mit Blick auf die Entwicklung des Georg-Büchner-Preises, der seit 1951 von der Deutschen Akademie für Sprache und Literatur verliehen wird, nachgehen.364 Durch ihre feldinterne Institutionalisierung hat sich diese Konsekrationsinstanz von politischen und erzieherischen Indienstnahmen emanzipiert. Bis heute stellt die Verleihung des Büchner-Preises eines der wichtigsten Initiationsrituale zur ›Passage‹ von Autorpositionen in den oberen ästhetischen Nobilitierungsbereich dar. Nach 1951 war es zwar immer noch der Akademiepräsident, der den Autor durch die Übergabe der Preisinsignien – Urkunde und Scheck – als Büchnerpreisträger einsetzte und ihn auf diese Weise in aller Öffentlichkeit symbolisch wie materiell aufwertete. Doch war das Autoritätsgefälle dieser Ehrung jetzt geringer. Der Autor wurde nicht mehr feldübergreifend, sondern primär feldintern instituiert und als autonome künstlerische Persönlichkeit im literarischen Feld wertgeschätzt. Die Geber setzten die Auszeichnung nicht bewusst dazu ein, primär politische Wirkungen zu erzielen. […] Mit der Auszeichnung konnte die Deutsche Akademie innerhalb des literarischen Feldes auf die Position von Autoren und damit auf die Setzung und Bewahrung ästhetischer Standards einwirken.365
Trotz der feldinternen »Setzung und Bewahrung ästhetischer Standards« markiert die ›Konsekration‹ des Büchner-Preises weiterhin einen Schnittpunkt der Literatur mit dem (gesellschafts-)politischen nationalen Feld.
363 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 2.2.–2.4. 364 Vgl. Ulmer: Geschichte des Georg-Büchner-Preises. 365 Ebd., S. 340.
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Der Nobilitierungssektor
Die ästhetisch-politische Doppelfunktion des Georg-Büchner-Preises lässt sich an den verschiedenen Funktionen ablesen, die er seit 1951 ausübte: Zunächst übernahm er die Funktion als »Etablierungsinstrument der Deutschen Akademie im kulturellen Feld der jungen Bundesrepublik (1951–1956)«, dann war er ein »literaturpolitisches Mittel zur Durchsetzung der Gruppe 47 als ästhetischer Standard (1957–1969)«. Die »Preisvergabe an Nicht-Deutsche« diente der »institutionelle[n] Ausweichstrategie und Stabilisierung gegenüber Kritik (1970–1976)«. Danach wirkte der Preis als »Medium der Sozialkritik und der kulturpolitischen Annäherung von Ost und West (1977–1988), anschließend als »Mittel der deutsch-deutschen Auseinandersetzung und Neupositionierung (1989–1994)« und zuletzt als »Forum ästhetischer Besinnung im Zeitalter der Globalisierung und als kulturkritischer Impuls (1995–2004)«.366
Nach der Wiedervereinigung und Delegitimierung der vom Kalten Krieg geprägten (vermeintlichen) Staatsdichter, setzte sich schließlich nochmals ein neues Verhältnis zwischen dem Staat und der Kunst durch. Allgemein zeigte der deutsche Staat in den neunziger Jahren zunehmendes Interesse an einer bundespolitischen Kulturpolitik, die die Kultur der neuen, europäisch eingebundenen »Berliner Republik« fördern sollte. Neue staatliche Kulturinstitutionen entstanden, wie der »Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien« (1998) oder die »Kulturstiftung des Bundes« in Halle (2002). Im Zuge dieser Kulturpolitik wie auch allgemeiner Verbürgerlichungs- und Nationalisierungstendenzen prägte sich zudem die neue Form der bürgerlichen Autorposition der Notabeln aus.367
2 Autorpositionen im Nobilitierungssektor 2.1 Die (kunst-)religiöse Behauptung der Ästheten-Position Der obere Nobilitierungsbereich am Pol des autonomen kulturellen Kapitals lässt sich als ästhetisch gewendeter augustinischer ›Gottesstaat‹ charakterisieren. Hier positionieren sich die Ästheten als ›Priester‹ im Dienste der ›Heiligen Schrift‹. Sie schreiben an einem Werk, das sich von der Zeitordnung des flüchtigen Jetzt im Mittelbereich absetzt und sich zugleich ex negativo zu ihr in Relation setzt. Zu den sichtbarsten und renommiertesten Vertretern der L’art pour l’art-Position in der Gegenwartsliteratur gehören Botho Strauß und Peter Handke, die die poeta vates-Rolle des Autors gegen den ›Zeitgeist‹ behaupten (im doppelten Sinne des Wortes). Das Werk beider steht für die Errichtung eines ›Asyls‹, eines ›Niemandslandes‹ im Sinne eines der sozialen Zeit und der (Mas-
366 Ebd., S. 342–357 (Zitate sind Überschriften der Abschnitte). 367 Siehe hierzu unten: II. 2.4.
Autorpositionen im Nobilitierungssektor
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sen-)Gesellschaft enthobenen ästhetischen Raumes. In ihren Poetiken herrscht das ästhetische »interesselose Wohlgefallen«, das den ›irdischen‹ Interessen entgegengesetzt ist. Bei den Positionen der Ästheten geht es um ästhetische Selbstermächtigung, Selbstbegründung (Souveränität) und um die absolute Rechtfertigung der symbolisch herausragenden Stellung.
2.1.1 Botho Strauß’ Wiederherstellung der sakralen Kunstsphäre aus dem Geist der Zeitdiagnose Anhand von Botho Strauß’ literarischen und essayistischen Stellungnahmen, die seit den achtziger Jahren und besonders seit der Publikation von Anschwellender Bocksgesang (1993) und den anschließenden Debatten eine politische Brisanz erhielten, lässt sich die Zugehörigkeit seiner Autorposition zur Rechtfertigungsordnung der »Welt der Inspiration« und genauer: sein Anspruch auf eine exklusive Stellung in der symbolischen Ranghierarchie aufzeigen. Behauptet (im doppelten Sinne von Beanspruchung und Verteidigung) wird ein sich im Kunstwerk offenbarender göttlicher Logos, der sowohl die Selbstermächtigung der Kunst als auch die auf Bewahrung bedachte ›Priester‹-Position rechtfertigt – in Abgrenzung einerseits von der häretischen Inspiration der ›Propheten‹ am Avantgardepol und andererseits von den ›Zauberern‹ im Mittelbereich der sozialen Zeit. Bevor die objektiven Konkurrenzverhältnisse innerhalb der literarischen ›Heilsökonomie‹, d. h. innerhalb der Konkurrenz um die Legitimität literarischer Inspiration, näher betrachtet werden, sei die Entwicklung des Autors Strauß kurz skizziert. Denn diese lässt hinter dem auffälligen politischen Wechsel von der Linken zur konservativen Rechten die kontinuierliche Ausprägung einer ästhetizistischen Position erkennen, die allerdings – wie sich erweisen wird – weniger auf einer souveränen, sich selbst begründenden poetischen Stellung gründet, wie programmatisch behauptet, als auf einer aus der Zeitdiagnostik entstehenden Absetzungslogik.
Von der negativen Dialektik zur Ästhetik der Präsenz Strauß’ Ansehen als Intellektueller und Schriftsteller erfuhr in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren einen rasanten Aufstieg. Er begann als Theaterkritiker für die Zeitschrift Theater heute (von 1967 bis 1970), arbeitete dann als Dramaturg zusammen mit Peter Stein an der Schaubühne in Berlin und wurde schließlich freischaffender Autor vor allem von Dramen, Prosa und Reflexionsliteratur. Mit seinen Stücken Trilogie des Wiedersehens (1977) und Groß und klein (1978) gelang ihm der Durchbruch zu großen und wiederholten Publikumserfolgen. 1989 erhielt er den Georg-Büchner-Preis und auch in den neun-
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ziger Jahren gehörte Strauß zu den viel gespielten Autoren des Gegenwartsdramas. Von Anfang an verbanden sich in seinem Schreiben Zeitgeistkritik und ästhetisches Denken.368 Vorrangig waren dabei stets die ästhetischen Bestimmungen, die Suche nach theatergerechten Ausdrucksformen und die Ausbildung eines ›ästhetischen Fundamentalismus‹.369 Schon in seinem frühen, mit Foucaults Begriff der »Archäologie« argumentierenden Aufsatz »Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Neues Theater 1967– 70« 370 unterscheidet Strauß eine politische und eine ästhetische Avantgarde. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er der ästhetischen Innovation nicht nur ein Eigen-, sondern ein Vorrecht zuschreibt. Gegen das seinerzeit dominante agitatorische und dokumentarische Theater gerichtet, plädiert Strauß dafür, dass sich das Theater den neuen, aufdrängenden (politischen) Wirklichkeiten nicht direkt durch Assimilierung öffnet. Stattdessen solle es aus seinen eigenen Bedingungen, aus dem Umgang mit den eigenen Traditionen, neue kunstautonome Formen entwickeln.371 Ganz im Geiste Adornos ist es für Strauß gerade das ›unzeitgemäße‹, autonome Kunstwerk, das sich in seiner selbstreflexiven Ästhetik den direkten Zwängen der Gegenwart verweigert. Die Negation des Bestehenden solle nicht in der Aussage, sondern in der ästhetischen Form ausgetragen werden. Gerade in seinem ästhetischen Hermetismus wirke das Kunstwerk politisch widerständig und subversiv. In Strauß’ Dramen zeigt sich der Vorrang selbstreferentieller ästhetischer Autonomiebestimmungen in der Betonung der theatralen Repräsentation. Seine Stücke sind dezidiert für die Bühne geschrieben, indem sie die Grundbestimmungen von Theatralität – Körper, Raum und szenisches Spiel – in ihrer immanenten Poetik reflektieren.372 Das Drama wird als ein theatral stilisiertes Zeichenspiel vorgeführt, in dem sich die Charaktere zu künstlichen, selbstreflexiven Figuren und die Bühne zum Raum der Selbstrepräsentation wandeln.373 Zum Markenzeichen 368 Vgl. Hans-Ulrich Treichel: »Wir Rücken an Rücken vereinte«. Zeitgeist und Kulturkritik im Werk von Botho Strauß. In: Walter Delabar, Erhard Schütz (Hg.): Deutschsprachige Literatur der 70 er und 80 er Jahre: Autoren, Tendenzen, Gattungen. Darmstadt 1997, S. 286–299. 369 In »Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt« spricht Strauß selbst vom »poetischen Fundamentalist[en]« (in: B. S.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 5–22, hier S. 14); vgl. Thomas Roberg: »Wie im Buch, so auf der Bühne«? Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß in den neunziger Jahren. In: Arnold, Dawidowski (Hg.): Theater fürs 21. Jahrhundert, S. 107–130, hier S. 108. 370 Erstveröffentlicht in Theater heute 1970; wiederabgedruckt in: Botho Strauß: Versuch, ästhetische und politische Ereignisse zusammenzudenken. Texte über Theater 1967–1986. Frankfurt a. M. 1987, S. 50–73. 371 »Da die ›Revolution der Mittel‹ – im dialektischen Sinn – ein Unding ist, kann man immer nur wieder darauf hinweisen, daß die ästhetische Avantgarde des Theaters sich nicht in erster Linie mit medialen Grenzüberschreitungen, Assimilierungen umliegender Künste hervorgetan hat, sondern – und das betont ihren evolutionären Charakter – von der Auseinandersetzung, dem kritischen und verwertenden Umgang mit den eigenen Traditionen (nicht Konventionen, wie bei den oberflächlichen Erneuerern) geprägt worden ist« (ebd., S. 59). 372 Vgl. Roberg: Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß, S. 122. 373 Vgl. Stefan Willer: Botho Strauß zur Einführung. Hamburg 2000, S. 28, mit Verweis auf Ursula Kapitza: Bewußtseinsspiele. Drama und Dramaturgie bei Botho Strauß. Frankfurt a. M. 1987; u. Katrin Kazubko: Spielformen des Dramas bei Botho Strauß. Hildesheim 1990.
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seiner Stücke wurden einerseits, nach dem Vorbild Tschechows, die Inszenierung einer Dramatik im Leerlauf der (Alltags-)Beziehungen zwischen den Menschen der Gegenwart, andererseits die Inszenierung des Rätselhaften der Fabel, der Anwesenheit eines Mysteriums, das die Personen umgibt, und die partielle Aufhebung von Raum, Zeit und Handlungslogik. Entsprechend wechselt in seinen Stücken häufig die Tonlage zwischen einer (extremen) Alltagssprache und einem hymnisch-pathetischen Stil (z. B. in Kalldewey [1981]). Überhaupt kommt den Sprachund Dialogformen in den Theaterstücken von Strauß ein zentraler Stellenwert zu. Nach dem Vorbild von Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und dem zusammen mit Peter Stein an der Schaubühne 1974 inszenierten Gorki-Stück Sommergäste wird seit der Trilogie des Wiedersehens (1976) die dramaturgische Grundstruktur der dialogisierenden ›geschlossenen Gruppe‹, des Konversationsstücks, charakteristisch. Die äußere Handlung ist auf ein Minimum reduziert – ›handelnd‹ sind vielmehr die Dialoge. Die sich tendenziell von den Figuren lösenden Sprechäußerungen in wechselnden Konstellationen prägen bis in die neunziger Jahre hinein die dramatische Form des Sprechens bei Strauß (vgl. Schlußchor [1991], Die Ähnlichen und Der Kuß des Vergessens [beide 1998]).374 Seine Inszenierung formalisierter und in ihren Konstellationen wechselnder Dialogszenen betont schließlich den artifiziellen Raum der Bühne. In der Trilogie des Wiedersehens wird die räumlich verfasste Dramatik durch die Abfolge von »Blenden« und anderen Licht-Strukturierungen unterstützt. Sie akzentuieren das zentrale Thema des Stücks, die Perspektivierung im »Kapitalistischen Realismus« (in Anspielung auf den abstrakten Expressionismus rund um Gerhard Richter), das Erkennen und Verkennen des anderen, geliebten Menschen. Das leitmotivische und für die konstellativ wechselnden Dialoge funktionale Betreten und Verlassen der Figuren durch »Türen«,375 »Durchgänge« etc. akzentuiert umso mehr den ›anachoretischen‹ Charakter des ästhetischen Raums, sein ›Da-Sein‹ und ›Für-sich-Sein‹ in einer eigenen Sphäre. Die Abstraktion des dramatischen Sprechens und seines theatralen Ortes ist von einer Kritik der oberflächigen gesellschaftlichen Konversation und des permanenten sprachlichen Verfehlens der Menschen in einer entfremdeten Massengesellschaft getragen.376 Dabei verweist die Radikalität der Kritik auf die Abwesenheit eines ästhetisch und anthropologisch ›erfüllten‹, nicht entfremdeten Sprechens. So wird die Verabschiedung der Utopie durch das postdramatische Theater indirekt zurückgenommen.
Strauß’ Theaterstücke liefern einerseits ein Spiegelbild der Gegenwartsgesellschaft mit ihren phrasenhaften, alltäglichen Konversationen und leeren, sich in den Gesprächen verfehlenden Identitäten. Andererseits wird die Gegenwartsproblematik durch die artistisch-theatrale Form transzendiert, das heißt, sie wird durchlässig für einen autonomen Kunstraum.377 Hier herrscht ein ›unzeitgemäßer‹, der sozialen Zeitökonomie enthobener ›Sprach-Logos‹, der die überzeitliche Wahrheit des Kunstwerkes im Rhythmus punktueller Blenden ›enthüllt‹.
374 Vgl. Willer: Botho Strauß, S. 41. 375 In vielen Stücken von Strauß haben die »Türen« eine leitmotivische Bedeutung oder zentrale Handlungsfunktion (vgl. z. B. Trilogie des Wiedersehens, Kalldewey oder Die Zeit und das Zimmer). 376 Vgl. Willer: Botho Strauß, S. 39 f. 377 Vgl. Christoph Parry: Botho Strauß. In: Arnold (Hg.): KLG, 47. Nlg. (1994), S. 2 f.
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Die negative Dialektik und Ästhetik der Kritischen Theorie, die theoretische Herkunft von Strauß, wurde mit dem berühmten »Abschied von der Dialektik« in Paare, Passanten (1981)378 verabschiedet. Von nun an sollte sein Schreiben auf eine direkte, ›positive Sinnstiftung‹ ausgerichtet sein. Zugleich wurden Strauß’ ästhetischen und ideologischen Bestimmungen radikaler. Die Entwicklung einer ›fundamentalistischen‹ poetischen Position seit den achtziger Jahren erstreckte sich über den starke Kritik auslösenden Roman Der junge Mann (1984), das hymnische Poem Diese Erinnerung an einen, der nur einen Tag zu Gast war (1985) und die Fragmente der Undeutlichkeit (1989) bis hin zu den einschlägigen Essays wie Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit (1991) und Anschwellender Bocksgesang (1993) sowie dem Theaterstück Ithaka (1996) in den neunziger Jahren. An die Stelle des kritisch-dialektischen Denkens in der Tradition Benjamins und Adornos traten Setzungen einer »Ästhetik der Anwesenheit«, die von der theologischen Kunsttheorie George Steiners inspiriert war.
Der Aufstand gegen die ökonomisierte und medialisierte Welt Wenn Strauß im Verlauf der achtziger Jahre und radikalisiert in den neunziger Jahren die Position einer »schöpferischen Restauration« nach dem Vorbild Rudolf Borchardts379 einnahm, so geschah dies auf der Grundlage einer Abgrenzung von der als Bedrohung und Zerstörung wahrgenommenen Kultur des ›kritischen Zeitalters‹.380 Strauß’ »Ästhetik der Anwesenheit« ist – entgegen ihres programmatischen Selbstverständnisses einer sich ästhetisch selbst begründenden, souveränen Position – zuerst in ihrer Abgrenzungslogik zu verstehen. Feldanalytisch gesehen gründet seine emphatische und programmatische Entwicklung einer theologisch gerechtfertigten L’art pour l’art-Position in der negativen Absetzung von der ›weltlichen Welt‹, d. h. vom Feld der kulturellen Massenproduktion und vom Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungskultur. Dessen Repräsentationsanspruch expandierte durch seine Vermischung mit ökonomischen, journalistischen und medialen Ordnungen, so dass sich der äs-
378 »(Ohne Dialektik denken wir auf Anhieb dümmer; aber es muß sein: ohne sie!)« (Botho Strauß: Paare, Passanten [1981]. München 1988, S. 115). 379 Vgl. Botho Strauß: Die Distanz ertragen. Über Rudolf Borchardt (1987). In: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 5–22. 380 Umgekehrt konnte »der Zeitgeistdiagnostiker Strauß es sich nur deshalb erlauben […], seinem Material so nahe zu sein, weil er sich vor ihm zugleich über eine kulturheroische und ›ursprungsmythische‹ Programmatik schützt. Er sondiert die ›Kloake‹ und predigt Reinheit« (Treichel: »Wir Rücken an Rücken vereinte«, S. 290 u. S. 296; vgl. Roberg: Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß, S. 108).
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thetische ›Gottesstaat‹ auf einen ›anachoretischen‹ Bezirk reduziert sah. Strauß’ Resakralisierung der Poesie stellte also eine Umstellungsstrategie dar, eine Reaktion auf Strukturveränderungen in der sozialen Zeit. Die Umstellungsstrategie des ästhetisch konditionierten Habitus entwickelte sich im Rahmen einer sondierenden Kritik der ästhetisch postmodernen Gesellschaft und ihrer Gegenwartskultur. Sie führte zu einer immer radikaleren Verachtung der Massenkultur und provozierte immer offener die »Welt der Meinung« mit Positionen, deren Deutungs- und Wertungsmuster an die Tradition einer restaurativen und konservativ-revolutionären Kulturkritik anschlossen.381 Die ›weltliche Welt‹ wird als dekadenter Bereich der Meinungen, des Geredes, des Journalismus und der medialen Inszenierung wahrgenommen. Im Aufsatz Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, der George Steiners Schrift Von realer Gegenwart (1989) als Nachwort diente, wird das Oppositionsverhältnis zwischen der ›sekundären‹ Welt und der ›primären‹ Welt einer Realpräsenz des Göttlichen ästhetisch-theologisch begründet. Der Beginn der sekundären Welt, die »Epoche ›nach dem Wort‹«, setzte für Strauß – George Steiner referierend – »mit Nietzsches Todesurteil für den Logos-Gott« ein (44). Die Moderne, das »Imperium der Abschwörung und der Leugnung«, konnte sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem »Nazikult« unbegrenzt »als häßliche Aufklärung des Hassenswerten« entfalten: Das kritisch-soziale Zeitalter war geboren und ließ auf ein schöpferisches zurückblicken. Sein Genius ist laut Steiner der Journalismus. Der Journalismus als letztlich die einzige, die höchststehende kulturelle Leistung der Nachkriegsdemokratie; längst nicht mehr nur als Institution zur Verbreitung von Nachricht und Meinung, sondern vielmehr als eine umfassende Mentalität des Sekundären, die tief eingedrungen ist in die Literatur, in die Gelehrsamkeit, die Philosophie und nicht zuletzt in den Glauben und seine Ämter (ebd.). Strauß versteht Steiners Von realer Gegenwart als einen »Schneisenschlag«, als »rigorose[n] Entwurf gegen die philosophischen Journalisten, die Mitverfertiger einer Weltworld, die Realisten der Entropie und der überfüllten Leere, die Rhetoriker der Simulationen und des unendlichen ludibriums« (46 f.). Insgesamt gehe es »um die Befreiung des Kunstwerks von der Diktatur der sekundären Diskurse, es geht um die Wiederentdeckung nicht seiner Selbst-, sondern seiner theophanen Herrlichkeit, seiner transzendentalen Nachbarschaft« (41).
Trotz des theologisch-restaurativen Diskurses, den Strauß von Steiner übernimmt, ist seine Kritik der »sekundären Welt« und ihres journalistischen Diskurses im Kern ästhetisch begründet. Der »Eintritt von Modernität in unser Sprach-Bewußtsein« (49) wird mit Steiner an Mallarmés Zerstörung der Einheit von Signifikant, Signifikat und außersprachlichem Referenten festgemacht:
381 Folgende Nachweise im Fließtext nach Botho Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt. Bemerkungen zu einer Ästhetik der Anwesenheit. In: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 37–53.
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Nun aber war es zum Kontraktbruch zwischen Welt und Wort gekommen. Fortan sprach sich die Sprache selbst, und die Welt, Gottes Schöpfung, war ihr: die reale Abwesenheit: nicht da, wo Worte. Von der Aufkündigung der semantischen Verbindlichkeit (bei gleichzeitiger Emanzipation des Gottmenschen) bis zur reinen Selbstreferenz der Diskurse, dem nihilistischen Vertexten von Texten, verging ein Jahrhundert, das die großen ›Zeichensetzer‹ der Moderne mit gewaltigen, heroischen Bedeutungsschöpfungen bestritten. Aber sie alle, ob Marx, Freud, Wittgenstein, ob rational oder irrational, gingen hervor aus dem Verlust des tautologischen Urvertrauens in die Sprache: Ich bin der Ich bin (49 f.).
Die Entwicklung der Moderne und Postmoderne mit ihrem sekundären Zeichencharakter des leeren, selbstbezüglichen Verweises (»nihilistische[s] Vertexten von Texten«) ist in theologisch-ästhetischer Sicht ein Bruch des Bundes mit Jahwe, mit dem »Vertrauen auf die Logos-Stiftung der Sprache« (49). Diese Sicht zielt nicht nur auf die Abgrenzung von der journalistischen Welt (der »Welt der Meinung« im Sinne Boltanskis und Thévenots). Innerhalb des kunstautonomen Subfeldes (der »Welt der Inspiration«) zielt die nach göttlich-gerechtfertigter Präsenz (Epiphanie) und Souveränität strebende Autorposition auf die Abgrenzung vom avantgardistischen Pol, d. h. von den dort situierten ›Propheten‹ der »große[n] Subversion und Selbstherrlichkeit« in der Nachfolge Nietzsches (47). Gemeint ist hier der nachhaltige, seit den sechziger Jahren strukturverändernde Einfluss der neuen (französischen) Theorien mit ihren antihermeneutischen Literaturkonzepten. Polemisiert wird gegen das poststrukturalistische lecture- und texture-Verständnis, das seinerseits dem souveränen, geschlossenen Kunstwerk den Kampf angesagt hatte.382 Die von Strauß vertretene »Ästhetik der Anwesenheit« und sein Repräsentationsdrama setzten sich mit ihrer Zeitbestimmung des nunc stans in eine direkte Opposition zum postdramatischen Theater wie auch zum ›Theater der (prekären) Präsenz‹, das in den neunziger Jahren horizontal expandierte.383 Es ist daher nicht verwunderlich, dass für Strauß einer der Hauptrepräsentanten
382 Strauß’ polemische Abgrenzung sowohl von einer poststrukturalistischen Avantgarde als auch von der journalistischen »Welt der Meinung« schließt mit der Metapher des »Parasiten« bewusst provozierend an einen biologistisch-rassistischen Diskurs an: »Die Schutzhülle des Textes ist zur Flechte des Parasiten geworden, der seinen Wirt zersetzt und überwuchert. Diese Poetik hat den esoterischen Poetisten hervorgebracht, dessen familiäres Mitreden am Werk den Poeten von seiner Poesie trennt und in minutiösen Schnitten Zeit, Ort, Sinn, Autorschaft vom Werk abspaltet, um es zu einer autonomen Textualität zu verarbeiten. Die Metapher vom Parasiten ist altgedient, und sie wiegt nicht mehr als ein umwelt-, ein ›logos-bewußter‹ Protest gegen die Übermacht der sekundären, medialen, indirekten Sprechweisen, die die atmende Sprache ebenso erstickend bedecken wie die Flächenversiegelung den fruchtbaren Boden« (ebd., S. 46). 383 Vgl. oben Exkurs: Vom »Theater der Präsenz« zum »Drama des Prekären«.
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der ›Deformation‹ des Dichters und der Kunst der in den Medien präsente Heiner Müller war. Ähnlich wie schon Peter Hacks (s. o.: Fallstudie 2), richtete er gegen ihn in Die Fehler der Kopisten (1997) eine harsche Polemik: In unserem Land: alle kritische Macht für immer den Häretikern, auch wenn seit langem Kanon und Dogma keine Bedeutung mehr besitzen. Der Dichter als Durcheinanderwerfer, als Prophet des selbstgefertigten Eschatons, der Ja-Sager zu Zerstörung und Entropie (natürlich, um kenntlich zu machen den Schmutz der Geschichte), der Dichter als Medienwurmfortsatz, wie jene allseits verehrte Artaud-Brecht-Chimäre, die ihren deftigen Grabeshauch schon zu Lebzeiten über Land und Kunst dünstete; deren zynisches Frohlocken, deren menschenverächtliche Gesellschaftsbegriffe mit beifälligem Nicken, zuletzt mit allen Ehrenzeichen des Staatsdichters belohnt wurden. In ihm erkannte das häßliche, sich selbst hassende, ewig spätexpressionistische Deutschland seinen ungeniertesten Repräsentanten.384
Müller wurde nicht zuletzt wegen seiner starken Präsenz in der medialen Öffentlichkeit, der »Welt der Meinung«, Anfang der neunziger Jahre für Strauß zum Ärgernis. Durch Müller und die anschließende neue Avantgarde eines ›Theaters der (prekären) Präsenz‹ sah er den ästhetischen Wert des LiteraturDramas profaniert. In der Konkurrenz um ›inspirierte Größe‹ zählte für Strauß die Autorposition Müllers zu den außerhalb des legitimen, d. h. ›heiligen‹ Raumes stehenden ›Zauberern‹, deren ›Heilsangebote‹ darin bestehen, die ›Dämonen‹ ›von Fall zu Fall‹ zu zwingen.385 Die Logik des »Aufstand[es] gegen die sekundäre Welt« zeigt sich besonders unter der Bestimmung der Zeit: Wenn das ›Theater der (prekären) Präsenz‹ der neunziger Jahre bestrebt ist, die Jetzt-Momente der sozialen Zeit zu erfassen (= Theater der ›Zauberer‹ im horizontal ausgerichteten Mittelbereich) und sie, je näher es am avantgardistischen Pol situiert ist, ästhetisch zu transzendieren (Theater der ›Propheten‹), so rekurriert Strauß demonstrativ auf die Zeiterfahrung des nunc stans, d. h. auf die ›heilige‹, über der sozialen Zeit stehende ästhetische Zeitform des Kunstwerks. Auf ihr beruht die Trennung der cités im Sinne Boltanskis und Thévenots als Geltungsgebieten verschiedener Rechtfertigungsordnungen. Ganz im Sinne von Augustinus’ Gottesstaat geht es Strauß bei der Abwehr der Expansion der weltlichen Zeitordnung um eine Grenzziehung und ›Separation‹: um »die Entmischung der weltlichen von den verwelt-
384 Botho Strauß: Die Fehler des Kopisten [1997]. München 1999, S. 83; vgl. Roberg: Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß, S. 111 f. 385 Andererseits bezeichnete er Müller als »Propheten«, womit er feldanalytisch ganz richtig liegt, denn die Häresie des postdramatischen Theaters gründet bei Müller nicht außerhalb, sondern innerhalb des kunstautonomen Subfeldes oder – mit den Worten Max Webers – innerhalb des »stetigen Betriebs der Beeinflussung der Götter« (vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 259).
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lichten heiligen Dingen« (40) und um die Abgrenzung des ›heiligen Raums‹ der Dichtung als Geheimnis: »Wo kein Arkanum, dort kein Zeugnis, keine Realpräsenz« (41).386
Die Ästhetik der Anwesenheit: Setzungen Maßgeblich für die ästhetisch-religiöse Selbstbehauptung gegen die Expansion der sozialen Zeit und ihrer profanen Zwänge ist das von ›großer Literatur‹ geprägte Selbstverständnis des Theaterdichters Strauß. Gegen die Popularisierung und Dominanz des postdramatischen Theaters, das sich vom literarischen Text löst, verfolgte er ein poetisch-literarisches, in hohem Maße text- und werkgestütztes Theaterkonzept, für das schon Anfang der siebziger Jahre das sprachmächtige Regietheater von Peter Stein stand.387 Der Aufsatz »Das Maß der Wörtlichkeit. Über Peter Stein« (1997) ist Ausdruck der Verehrung wie auch der Selbstverortung. Steins Repräsentationstheater wird dem dominanten Gegenwartstheater, dem Theater der »Betroffenheiten« (81), entgegengestellt. Kritisiert wird eine Kunst, »die alltäglicher als der Alltag werden wollte« oder nur noch Kulturtheorie widerspiegele. Die Demarkationslinie wird klar gezogen: gegen das postdramatische Theater, das sich für die medialen Ökonomien geöffnet hat, gegen den »Akademismus der Deformationskünste«, gegen Theater »von zweiter zittriger Hand durch Netze und Medien«, gegen den »Zwang des herrschenden Zynismus« und die »Lehre von der Gleichgültigkeit« und für das Theater des ›Primären‹ und ›Originalen‹, für die »Sehnsucht« nach Sinngehalte und höheren Werten, für eine »éducation sentimentale« (ebd.). Strauß stilisiert Stein (und indirekt sich selbst) zu einem »von Herkunftsbewußtsein durchdrungene[n] und erhellte[n] Mensch[en]«: ein »wunderliches Fabelwesen […] aus versunkenen deutschen Bildungsgeschichten«, das von einer »unerbittliche[n] Schriftgläubigkeit, Buch- und Buchstabenversessenheit« geprägt sei (82). Diese unzeitgemäße (Selbst-)Bestimmung wirft ein Licht auf den Zustand des Theaters, denn »[t]atsächlich wird jetzt vom Kunstmarkt weit mehr auf die Bühne getragen als aus der Literatur«, dem ökonomisierten »Kunstmarkt« wird die Entwicklung des »neue[n] Gesamtkunstwerk[s]« entgegengehalten (83). Steins Theaterarbeit stehe für Text und Sinn, er sei der »Meister des Verstehens« und »[s]ein Theater verweigert sich der medialen Vermischung«, denn es sei der »Ort der erweiterten Buchstäblichkeit« (ebd.). Stein inszeniere nicht »Texte« (im poststrukturalistischen Sinne), sondern »das Drama und seine Zeit. Eine Zeit, die so geschlossen und verfugt, so bindend und lösend, nirgends sonst auf der Welt verstreicht« (84). Damit sind das Drama und die Gestaltung der ästhetisch souveränen Zeit im autonomen theatralen Raum angesprochen. In der räumlichen Form der ästhetischen Zeit als Prinzip des Mythos zeige sich die »zwingende Gestalt des Ganzen«, der »Rhythmus der Aufführung«, die »Gesetzmäßigkeit, die nichts Beliebiges, Zusätzliches erlaubt«: In »Steins theatralische[r] Integrität«, die von Klarheit und Geheimnis zugleich geprägt sei, kulminiert Strauß’ Ideal der klassischen Formvollendung mit
386 Vgl. auch Die Fehler des Kopisten, S. 82: »Jedes Tabu ist besser als ein zerstörtes«. 387 Folgende Angaben im Fließtext nach Botho Strauß: Das Maß der Wörtlichkeit. Über Peter Stein. In: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 79–91.
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(neo-)romantischem Kern (84 f.). Die Kritik von Seiten des Gegenwartstheaters, Steins Repräsentationstheater sei ein Rückzug ins Gefällige der kanonisch bildungsbürgerlichen Kultur, kehrt Strauß zuletzt – ähnlich wie an anderer Stelle die Kritik an einer restaurativen Position388 – in ihr Gegenteil um: Steins Theater stehe für einen Aufbruch aus den Niederungen der erschöpften Befindlich- und Beliebigkeiten; Abkehr vom Kult des Fragmentarischen, der […] zur prätentiösen Gebärde, sich der großen Form zu versagen, erstarrte. Abkehr schließlich von einem Theater, das, obschon am Rand des öffentlichen Interesses angelangt, immer noch den Affen der »Gesellschaft« spielt, anstatt sich zum Herrn einer fabelhaften Unzeitgemäßheit zu bestimmen, frei, wie es ist, und nur den Mächten seiner Phantasie unterworfen (90).
Strauß’ ästhetische Setzungen ziehen die Grenze zwischen dem ›heiligen Reich‹ des klassischen, aus sich selbst begründeten Kunstwerkes und dem Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur mit seiner prekären Ökonomie.389 Aus den angeführten Negationen lässt sich die Grundlage ableiten, auf der die Position des souveränen Kunstwerks fußt. Deutlich ist die Oppositionsbildung: soziale Zeit, Kontingenz, Disparität, Flüchtigkeit versus ›erfüllte‹ ästhetische Zeit als religiöse, ja mystische nunc stans-Erfahrung, Notwendigkeit, Ganzheit und Wesen, die einen ›Schutzwall‹ gegen die Expansion des säkularen und säkularisierenden Mittelbereichs bilden sollen. Der mythische, erfüllte Augenblick steht im radikalen Gegensatz zur profanen, seriell gereihten JetztZeit, die im Mittelbereich herrscht und deren Sinnpotential die Popliteratur und das ›Theater der (prekären) Präsenz‹ – in je unterschiedlicher Weise – zu ›erhaschen‹ sucht. Dagegen offenbart das sakralisierte Kunstwerk seine autonome Wahrheit in seinem notwendigen »So-Sein« (Heidegger). Im Verweis auf ein außerzeitliches Gedächtnis wird die Anwesenheit des Kunstwerks transparent. Wiederhergestellt werden soll also – mit Steiner – ein ästhetisch-heiliger Raum, »eine kleine anti-akademische Republik«, eine »erträumte Stadt der Künste, in der es nur Werke und Empfänger, nur Künstler und Amateure geben soll und wo jedes Gerede – ›über‹, jeder Kommentar (mit Ausnahme des rein philologischen) verboten ist« (44). In dieser Welt, die sowohl an Klopstocks Gelehrtenrepublik als auch an Novalis’ Idee der Wiederkehr eines kulturellen
388 »Der Reaktionär ist eben nicht der Aufhalter oder unverbesserliche Rückschrittler, zu dem ihn die politische Denunziation macht – er schreitet im Gegenteil voran, wenn es darum geht, etwas Vergessenes wieder in die Erinnerung zu bringen. […] Nichts anderes verfolgt nach [George] Steiner jedes große Kunstwerk und ist demnach auf eine zeitlose Weise ›reaktionär‹; es kämpft gegen Vergeßlichkeit in jeder Epoche« (Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 49). 389 Die »bezwingende Vollzugsdynamik […] unterscheidet heute den reinen und ursprünglichen Theatraliker von den zahllosen Theatermachern« (85).
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Reichs der Einheit im Geiste des ›katholischen‹ Mittelalters (Die Christenheit oder Europa [1799]) erinnert, herrscht die »Scheu vor der tabuverletzenden Benennung« (45) und die Achtung vor dem Mysterium der Schrift. Lesen ist hier zugleich Schreiben, Rezeption zugleich Produktion,390 wie es allgemein für das kunstautonome Subfeld charakteristisch ist, in dem das Prinzip der ›Pairs‹ herrscht: Die schöngeistigen ›Pairs‹ stehen in der Tradition der monastischen scholé, der Kopisten, die ihr Leben der Bewahrung, Tradierung und Umschrift der Heiligen Schrift widmen und den Übergang zur Kunstreligion bzw. zum autonomen ästhetischen Raum vollziehen. Dieser von der Gesellschaft abgetrennte Ort ist durch die ›geheime‹ Arbeit an der geistigen Überlieferung, durch die Tradierung der Stoffe des kulturellen Gedächtnisses des Abendlandes, insbesondere des Mythos, ausgezeichnet. Zum inneren ›Tempelbezirk‹ als Ort, wo sich die ästhetisch Nobilitierten – den Zwängen der sozialen Zeit enthoben – der geistigen Überlieferung widmen, gehört daher die Setzung von Mythos und Gedächtnisarbeit.391 Die exklusive Legitimierung der ›inspiratorischen Größe‹ kulminiert in ihrer Heiligung, in der Sakralisierung der Poesie als Arbeit an der ›Heiligen Schrift‹. Diese erfolgt im Kern über die Herrschaftsablösung des ›leeren‹, poststrukturalistischen Zeichenbegriffs durch das ›erfüllte‹ Zeichen der Transsubstantiation unter Berufung auf die Lehre der katholischen Kirche.392 Das heilige Wort, die »unergründliche Schrift bedarf der tagtäglichen Glossierung. Diese aber schützt das Wort, umwebt die Wahrheit mit Antwort« (45). Damit ist Strauß’ Selbstverständnis seiner poetischen Arbeit beschrieben und gerechtfertigt: das schriftliche ›Umweben‹ der nicht zu benennenden Wahrheit in einer unendlichen ›Glossierung‹ als Schriftauslegung.
390 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 165. 391 Bei seiner symbolischen Restauration eines heiligen und exklusiven Bereichs der Kunst beruft sich Strauß demonstrativ auf (katholische) reaktionäre, restaurative und faschistische Vorbilder wie Julius Evola, Mircea Eliade oder Nicolás Gómez Dávila, deren »Remythologisierung« er als »Revolte gegen die moderne Welt« versteht (vgl. 47). 392 »In der Feier der Eucharistie wird die Begrenzung, das Ende des Zeichens (und seines Bedeutens) genau festgelegt: der geweihte Priester wandelt Weizenbrot und Rebenwein in die Substanz des Leibs und des Bluts Christi. Damit hört die Substanz der beiden Nahrungselemente auf, und nur ihre äußeren Formen bleiben. Im Gegensatz zur rationalen Sprachtheorie ersetzt das eine (das Zeichen, das Brot) nicht das fehlende andere (den realen Leib), sondern übernimmt seine Andersheit. Dementsprechend müßte es in einer sakralen Poetik heißen: Das Wort Baum ist der Baum, da jedes Wort wesensmäßig Gottes Wort ist und es mithin keinen pneumatischen Unterschied zwischen dem Schöpfer des Worts und dem Schöpfer des Dings geben kann (Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 41 f.); vgl. Wolfgang Braungart: Ästhetik der Präsenz. Zu Botho Strauß mit Blick auf »Kalldewey, Farce«. In: Der Deutschunterricht 50 (1998), H. 5, S. 80–89, hier S. 82.
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Souveräne Größe, Interimszeit und Gedächtnis im Land der Dichtung als Asyl: Ithaka (1996) Strauß’ Ästhetik der Anwesenheit zielt auf eine »Heiligung des Ästhetischen« 393 oder auf eine »Resakralisierung des Kunstwerks« 394 und genauer: auf die Wiederherstellung eines ›heiligen‹ Bereiches, wo die Rechtfertigungsordnung der Inspiration in ihrer Reinform herrscht. Die durch göttliche Gnadengewalt legitimierte Poetik der Anwesenheit verpflichtet die Autorposition des Ästheten zur Arbeit an der geistigen Überlieferung und zur literarischen Gedächtnisbildung in Opposition zur Flüchtigkeit der Gegenwart und ihrer ästhetischen und sozialen Moden. Bei Strauß wird das poetische Erinnern zum quasimetaphysischen Prinzip:395 Die »Anamnesis« soll dem »Übermaß an Neuem«,396 das von den mächtigen, zerstörerischen Ordnungen in der ›sekundären Welt‹ ausgeht, Widerstand leisten, indem sie aus der beschädigten Gegenwart hinaus- und in die Anwesenheit eines längst Verlorenen und Vergessenen hineinführt. Der Gedächtnisraum der Dichtung wird als »Land« imaginiert, das dem vergessenen Heiligen als Fremdem »Asyl« gibt. Aber auch umgekehrt erhält die von der kritischen Moderne ›verfolgte‹ Dichtung »Asyl«: ein Bleiberecht im Mythos und in der klassischen Kultur der Antike als einem von der Zeit unerreichbaren, heiligen Ort. Die sakrale Schutzfunktion der L’art pour l’art-Position beinhaltet schließlich eine Kommunikationsverweigerung des Dichters als Priester: »Gegen das grenzenlos Sagbare setzt er die poetische Limitation«.397 Gleichwohl ist er aber durch die Diskurse der Gegenwart geprägt: »Die Gegenwart schreibt auf seinen Rücken«.398 Das Theater ist für Strauß ein Ort, wo das Fremdsein ›blitzartig‹ einschlägt. Dadurch gewinnt es an ›heiliger Anwesenheit‹ gegenüber einer flüchtigen, profanen Gegenwart. Durch die Begegnung mit dem göttlichen Fremden im erfüll-
393 Braungart: Ästhetik der Präsenz, S. 83. 394 Steffen Damm: Die Archäologie der Zeit. Geschichtsbegriff und Mythosrezeption in den jüngeren Texten von Botho Strauß. Opladen 1998, S. 168. 395 Vgl. Roberg: Zur Dramenpoetik und Theaterästhetik von Botho Strauß, S. 113. 396 »Wenn machtvolle Ordnungen ein Übermaß an Neuem hervorbringen, dann müssen sie mit dem Widerstand, mit den geheimen Einflüssen der Dichter rechnen, die, wie David Jones sagt, ›an etwas Geliebtes erinnern‹. Anamnesis, nichts sonst, ist ihre Kunst und ihre Pflicht. Sie suchen die Asyle da und dort, suchen Unverletzliches. Unverletzliches Einst, das auf der langen Wanderung, auf der Suche nach Wohlsein verloren und vergessen wurde: Dichtung, Land, das nie faßlich, aber doch da ist, bewohnbar, fruchtbar, unverseucht, lebenschützend, lebenspendend. Ziel. Asyl« (Botho Strauß: Die Erde – ein Kopf. Dankrede zum Georg-BüchnerPreis [1989]. In: B. S.: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 25–35, hier S. 28). 397 Ebd. 398 Ebd.
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ten Augenblick, in der Ästhetik der Präsenz, reinszeniert Strauß das Theater als Stätte, wo die Aura des Kunstwerks, deren Auflösung im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit Benjamin aufgezeigt hatte, nochmals ›Asyl‹, ein Bleiberecht im ästhetischen Chronotopos erhält.399 Die Re-Auratisierung des Kunstwerks steht im Zentrum der Wiederherstellung des Theaterraums als Ort der Erfahrung der Präsenz eines unbegreiflichen und unverfügbaren Fremden. Die punktuelle Erfahrung der kunstsakralen Präsenz ist der Fluchtpunkt des Repräsentationstheaters. Kunst soll wieder ihren Ort im kultisch-rituellen Zusammenhang haben und einen Übergang zum Heiligen bilden. Die nicht im Subjekt, sondern in der objektiven, göttlichen Legitimationsgewalt fundierte Gewissheit der Größe verbindet sich bei Strauß mit einer Theorie der Plötzlichkeit und des Sprungs, die mit der Bestimmung der ästhetischen Zeit konvergiert.400 Zur Sakralisierung des Schriftstellers als poeta vates und seines Kunstwerkes kommt schließlich die Sakralisierung seiner Stimme hinzu. Das hymnische Sprechen beglaubigt die göttliche Inspiration und ist Ausdruck einer Erhabenheitserfahrung.401 Diese basiert einerseits auf einer Verlusterfahrung, weshalb dem Kunstwerk Schrecken, Opfer- und Sühne-Zeichen eingeschrieben sind. Andererseits gründet sie auf einer Erfahrung der geistigen Souveränität im Sinne Carl Schmitts als Herrschaft über den Ausnahmezustand. Die Setzung des Dichters als Souverän, der über den Ausnahmezustand herrscht, versteht Strauß als Verfügungsgewalt über das literarische Gedächtnis. Aus feldanalytischer Sicht erweist sie sich dagegen als angstbesetztes Begehren, sich dem veralltäglichten ›Ausnahmezustand‹, dem sich die ›Zauberer‹ mit ihrer Kontingenz-Kompetenz im flexibel ökonomisierten Mittelbereich stellen müssen, zu entziehen. Da die Zeit gegen den ›Dichterfürst‹ arbeitet, bleibt ihm nur die sich panzernde Passivität seiner souveränen Präsenz. Ihre Wesensbestimmung der
399 »Das Theater ist der Ort, wo die Gegenwart am durchlässigsten wird, wo Fremdzeit einschlägt und gefunden – und nicht wo Fremdsein mit den billigen Tricks der Vergegenwärtigung getilgt oder überzogen wird. […] Wo es aber gelingt und das Fernste durch die Schauspieler in unfaßliche Nähe rückt, gewinnt Theater eine verwirrende Schönheit und die Gegenwart Augenblicke einer ungeahnten Ergänzung« (ebd., S. 34 f.); vgl. Braungart: Ästhetik der Präsenz, S. 81. 400 Vgl. den Beginn von Der Aufstand gegen die sekundäre Welt (S. 39 f.), wo sich Strauß auf die Plötzlichkeit des Zusammenbruchs des Ostblocks bezieht; vgl. allgemein zur Ästhetik der Plötzlichkeit Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. 401 Vgl. Torsten Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen. Zur Produktivität einer ästhetischen Kategorie in der Literatur des ausgehenden 20. Jahrhunderts (Handke, Ransmayr, Schrott, Strauß). Berlin u. a. 2006, bes. S. 173–207.
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Reaktion und des Abwartens, wie auch die Konturen ihres Scheiterns zeichnen sich in den »hymnischen Heimkehrer-Gesängen« ab.402 Das von Strauß angestrebte literatur- und mythosgestützte Drama zeigt sich besonders im Stück Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee (1996). Programmatisch wird es in einem Vorspruch als »eine Übersetzung von Lektüre in Schauspiel« (76) präsentiert, wodurch die Herkunft des Schauspiels aus der Schrift betont ist. Zugleich erweist es sich als Episierung des dramatischen Stoffes, die einerseits an den Ursprung bei Homer anschließt, andererseits modernisiert erscheint.403 Am Ithaka-Stück lässt sich der Unterschied von Strauß’ fundamental ästhetischer Autorposition zu einer dominant religiös oder politisch begründeten, reaktionären Position aufzeigen. Denn das Stück erweist im Kern, dass die Repräsentation des Souveränen, die souveräne Präsenz nicht mehr direkt, sondern nur über die ästhetisch-theatrale Vermittlung gelingt. Im Stück stehen sich die Freier von Penelope und Odysseus gegenüber. Erstere stehen für einen Staat im Staate, für die Ökonomie der modernen, ›sekundären Welt‹ (vgl. 2. Akt: »Haushalt der Freier«). Der Kosmos der ›weltlichen Welt‹ übt eine zersetzende und deformierende Wirkung auf den repräsentativen Körper des Souveräns aus, hier in Gestalt der zur »Götzenstatur« erstarrten, dickleibigen Penelope (78). Der Zustand Ithakas ist derjenige eines kranken Staats- und Gemeinwesens, in dem kein einheitlicher politischer Körper mehr herrscht.404 Die Herrschaft der Höflinge steht für die ›hässliche‹ Herrschaft der Masse und ihrer Zivilisation, der Konversationssprache und Nivellierung des Individuellen in den Medien. Die Kunst hat hier ihre Schönheit und transzendental-universale Einheit verloren. Die Musen sind in Form der »drei framentarischen Frauen« »Knie«, »Handgelenk« und »Schlüsselbein« zerbrochen. Der Deformation der modernen Ökonomie der irdischen ›Verkehrszeit‹ (kosmos) steht die Ökonomie des ›ganzen Hauses‹, des Hausvaters (oikos), entgegen, die Odysseus repräsentiert.405 Strauß’ Odysseus-Figur ist nicht mehr der Eroberer, Rächer oder gar Zivilisationsbringer wie bei Heiner Müller. Er steht in Ithaka für den Vollstrecker einer Heilung des deformierten politischen Körpers und für eine Wiederherstellung ihrer unversehrten Souveränität (restitutio in integrum).406 Letztere erfolgt durch einen kathartischen Akt der Gewalt (vgl. IV. Akt: »Der Bogen des Odysseus«), der für die ›blutige Reinigung‹ des Bodens von den »Freiern«, den Agenten der modernen, ›zersetzenden‹ Zeit steht. Durch das blutige Opfer soll die Einheit des politischen Körpers restituiert werden. Odysseus’ Wiederkehr in die Heimat nimmt
402 Botho Strauß: Ithaka. Schauspiel. In: B. S.: Theaterstücke 1993–1999. München 2000; folgende Nachweise im Fließtext. 403 »Abschweifungen, Nebengedanken, Assoziationen, die die Lektüre begleiten, werden dabei zu Bestandteilen der Dramaturgie. Der Dialog opfert, um beweglich zu sein, den Vers und den rhapsodischen Ton. Dennoch bleiben die großen Übertragungen von Johann Heinrich Voß und Anton Weiher zumindest im Anklang gegenwärtig: es möge genügen, um den Hörer wie eh und je in die Kindheit der Welt zu versetzen« (76). 404 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 164. 405 Vgl. zum Folgenden Christoph Menke: Heros ex machina: Souveränität, Repräsentation und Botho Strauß’ Ithaka. In: Norbert Bolz, Willem van Reijen (Hg.): Heilsversprechen. Paderborn 2002, S. 71–86, hier S. 80. 406 »Knie: […] Die Freier sind Soldaten, sind Forscher, Händler und Philosophen, Staatsmänner und Sportler … aber die Wiederkehr des Odysseus wischt alle Zeiten aus« (I. Akt 2. Szene, 79).
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im Stück die Form der Wiederinbesitznahme des Bodens der Tradition an. Als Schutzzone und Pflanzstätte ist die wiederangeeignete Tradition Bedingung der Möglichkeit eines neuen Aufblühens der Künste. Der Held Odysseus kann jedoch nicht mehr selbst die souveräne Handlung vollbringen. Er muss erst von Athene durch göttliche Berührung dazu ermächtigt werden: »Athene berührt ihn mit ihrem Stab, Rüstung und Kleidung des Odysseus werden an Drähten in die Luft gehoben. Bei der Verwandlung helfen die Drei fragmentarischen Frauen« (83).407 Bei der göttlichen Ermächtigung des Helden helfen die Künste, die in modernen Zeiten fragmentarisiert sind. Sie stehen bei Strauß für eine sichtbar gemachte »Maschinerie des Theaters«.408 Die Restitution gelingt also nur über die Kenntlichmachung des künstlichen Eingriffs, durch den deus ex machina und die fragmentarisierte Technik, die ausführenden Organe der Musen. Die Wiederherstellung der souveränen Repräsentation ist daher als poetologisch-allegorische Figur (post-)modern gebrochen.409 Der moderne Tragödiencharakter des »Schauspiels« erweist sich darin, dass es in seinem selbstreflexiven Wissen um eine nicht mehr direkt repräsentierbare Souveränität komödiantische und märchenhafte Züge annehmen muss.410 Ithaka ist damit eine »Geschichte über die Restitution eines vormodernen Herrschertums, eines Königtums im Sinne eines Künstlerkönigs«,411 die zugleich Spuren ihrer Unmöglichkeit in sich trägt.
Strauß zielt expressis verbis auf eine »sakrale[ ] Poetik«,412 die eine Wiederherstellung der Rangstellung des Dichters als Priester des heiligen Wortes einfordert. Die Anknüpfung an eine Resakralisierung der Dichtung, wie sie mit Klopstock begann, scheint hier – wie bei Steiner oder auch Martin Mosebach413 – ganz im Dienste einer reaktionären Theologie zu stehen. Im Fall von Strauß lässt sich aber ein umgekehrtes Begründungsverhältnis erkennen: Die Theologisierung dient im Kern der Wiederherstellung einer L’art pour l’art-Position.414 Wie schon im Symbolismus Stefan Georges beruht hier die Sakralisierung des poetischen Wortes auf einem emphatischen Poesie-Begriff.415 Die Position des Ästheten (Mallarmé) und dessen ›heilige‹ Steigerung zum poeta vates (George) im Symbolismus des Fin de siècle entstand bereits in Reaktion auf den Naturalismus als ästhetische Umstellungsstrategie angesichts der wachsenden Einflüsse des Journalismus, neuer Medien (Fotografie) und neuer sozialer Fra-
407 Vgl. Menke: Heros ex machina, S. 84. 408 Ebd., S. 83. 409 Vgl. auch Schößler: Augen-Blicke, S. 176. 410 Vgl. Menke: Heros ex machina, S. 85 f. 411 Schößler: Augen-Blicke, S. 176. 412 Vgl. Strauß: Der Aufstand gegen die sekundäre Welt, S. 41. 413 Vgl. Martin Mosebach: Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind. Erw. Neuausgabe. München 2007. 414 Ähnlich argumentiert Oliver van Essenberg (Kulturpessimismus und Elitebewusstsein. Zu Texten von Peter Handke, Heiner Müller und Botho Strauß. Marburg 2004), dass »Politik für kulturelle, insbesondere literarische und intellektuelle Distinktionsbemühungen – z. B. Dramatik und öffentliche ›Bedeutsamkeit‹ – instrumentalisiert wird« (ebd., S. 111). 415 Vgl. Braungart: Ästhetik der Präsenz, S. 82.
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gen.416 Analog restauriert Strauß die Ästheten-Position in Reaktion auf die ›sekundären‹ Autorpositionen in dem als Bedrohung wahrgenommenen ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich. Die Entwicklung von Strauß’ Autorposition, seine exemplarische Behauptung einer L’art pour l’art-Position, lässt sich feldanalytisch folgendermaßen zusammenfassen: Prozessualität und Reflexivität wurden zunehmend durch Bestimmungen des Seins ersetzt, ebenso der Einfluss von Adornos Dialektik aus Kritik und Tradition durch einen Antagonismus zwischen Anwesenheit und Abwesenheit des ›erfüllten‹ Worts. Die Zeitdiagnostik führte zu Konzepten eines Tiefengedächtnisses und mythischen Realismus.417 Insgesamt zeigt sich an Strauß’ Umstellungsstrategie die Konkurrenz um das Monopol literarisch›religiöser‹ Legitimität. Wie ausgeführt, strebt Strauß nach der Wiederherstellung einer Herrschaft des sakralen, auratischen Kunstwerks und des Dichters als ›Priester‹. Die Wiederherstellung des ›göttlich‹, also in sich selbst gerechtfertigten Kunstwerks basiert wesentlich auf Abgrenzungen: zum einen auf der Abgrenzung vom ›Propheten‹, der in Konkurrenz zum ›Priester‹ steht und seine vertikal hierarchisierte, durch das regelmäßig praktizierte ›Amt‹ und die ›geweihten‹ Kultstätten (hier: das Theater als Institution) beglaubigte Herrschaftsform mittels Diskontinuität und Außeralltäglichkeit ausübt; zum anderen auf der Abgrenzung vom ›Zauberer‹ in der ›sekundären‹, d. h. ökonomisierten und medialisierten Welt des Kulturbetriebs, dessen literarisch-›religiöses‹ Interesse diskontinuierlichen Charakters ist (›von Fall zu Fall‹) und dessen temporäre ›Verzauberung‹ im Ereignis auf einzelne Dinge zielt.
2.1.2 Peter Handkes L’art pour l’art-Position in der Niemandsbucht (1994) Deutlicher noch als Strauß steht Peter Handkes Werk für die Behauptung einer L’art pour l’art-Position im Nobilitierungsbereich der ›inspiratorischen Größe‹. Schon in seinen frühen poetologischen Stellungnahmen in Ich bin ein Bewohner des Elfenbeinturms (1972) wandte sich Handke programmatisch gegen jede Form einer im Sinne Sartres engagierten Literatur und bezog eine rein ästhetische Position. Es wurde oben bereits dargestellt, wie Handkes sprachzentrierte Autorposition sich über eine feldinterne ästhetische Revolte gegen das engagierte und realistische wie auch gegen das psychologisierende Schreiben stell-
416 Zur Entstehung der ästhetischen Form bei Mallarmé aus der neuen journalistischen Formatierung siehe Pascal Durand: Mallarmé. Du sens des formes au sens des formalités. Paris 2008. 417 Vgl. Helga Arend: Mythischer Realismus – Botho Strauß’ Werk von 1963 bis 1994. Trier 2009.
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te – anfänglich mithilfe von intramedialen Rückgriffen auf popästhetische Mittel. Nach einer Existenz- und Schaffenskrise Ende der 1970 er Jahren entwickelte Handke eine grundlegende Beschreibungsästhetik, die sich insbesondere im Übergang zu den achtziger Jahren und vollends in den neunziger Jahren ausprägte.418 Handkes Wende zum Klassischen leitete bereits die Langsame Heimkehr von 1979 ein.419 In seiner Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises im gleichen Jahr wird das Streben nach einem klassischen Literaturbegriff beim Namen genannt: Ich bin, mich bemühend um die Formen für meine Wahrheit, auf Schönheit aus – auf die erschütternde Schönheit, auf Erschütterung durch Schönheit; ja, auf Klassisches, Universales, das, nach der Praxis-Lehre der großen Maler, erst in der steten Natur-Betrachtung und -Versenkung Form gewinnt.420
Handke strebte fortan danach, »dem ›Volk der Leser‹ [...] von der verborgenen, immer wieder sich verbergenden, der menschenmöglichen, der guten Welt zu erzählen«.421 Durch die Anschauung der verborgenen, aber wahren, schönen und guten Natur sollte sich der von »Entsetzen und Erschrecken« geplagte (post-)moderne Mensch zu einer neoklassischen »schönen Seele« in »Heiterkeit und Glück« entwickeln, wie es bereits in Der kurze Brief zum langen Abschied heißt.422 In Langsame Heimkehr ist dann explizit vom »Bedürfnis nach Heil«, nach »einer stillen Harmonie«, die Rede.423 Die Wende von einem sprachexperimentellen Programm um 1968 (z. B. in Kaspar) hin zu einem ästhetisierten, klassizistischen Welt- und Menschenbild, bei dem das Schöne das Wahre und zugleich die Voraussetzung für das Gute ist,424 erfolgte bei Handke in einem längeren Prozess. In der Geschichte des Bleistifts (1982), die poetologische Texte aus den Jahren 1976 bis 1980 versammelt, findet sich die programmatische Wendung gegen ›Progression‹ als Kern-
418 Vgl. oben: Erster Teil, II. 1.2. 419 Die Erzählung beginnt mit dem Motto: »Dann, als ich kopfüber den Pfad hinunterstolperte, war da plötzlich eine Form …«; vgl. auch Mireille Tabah: Zum Verhältnis von Klassik, Avantgarde und Postmoderne in Peter Handkes Spätwerk. In: Alexandra Pontzen, Heinz-Peter Preusser (Hg.): Alternde Avantgarden. Heidelberg 2011, S. 121–130, hier S. 121 (mit Bezug auf Hans Höller: Peter Handke. Reinbek b. Hamburg 2007). 420 Peter Handke: Rede zur Verleihung des Franz-Kafka-Preises [1979]. In: P. H.: Das Ende des Flanierens, S. 156–159, hier S. 157 f. 421 Ebd., S. 158. 422 Der kurze Brief zum langen Abschied [1972]. Frankfurt a. M. 2001, S. 9 u. 18. 423 Langsame Heimkehr. Erzählung. Frankfurt a. M. 1979, S. 9. 424 Vgl. Tabah: Zum Verhältnis von Klassik, Avantgarde und Postmoderne, S. 125.
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bestimmung der Moderne und der Avantgarde und das Eintreten für eine Poetik der Wiederholung, die auf die (platonisch-romantische) Kunstkonzeption der präexistenten, der sozialen Zeit enthobenen Ideen und Formen und auf den solitären Dichter verweist.425 Die Poetik der Wiederholung – als Sichtbarmachung des »Wahrheitsgehaltes« (Benjamin) der das Subjekt übersteigenden Formen von Schönheit und Wahrheit im literarischen Kunstwerk – hat Handke paradigmatisch in dem Roman Die Wiederholung (1986) umgesetzt. Die ›neuen Worte‹ werden in den Zwischenräumen des Transitorischen zwischen modernem Chaos und utopischem Heil ›aufgelesen‹.426 Wie Strauß’ kunstsakrale Poetik folgt Handkes Schreiben einer literarischen Transsubstantiationslehre, so »als bilde sich nun bei ihm mit dem Wort zugleich auch die Sache«.427 Die »begriffsauflösende und damit zukunftsmächtige Kraft des poetischen Denkens« 428 verweist auf die Verwandlungskraft des poetischen Wortes, welche die den Dingen innewohnende Schönheit (wieder) aufscheinen lässt. Damit beansprucht die sprachästhetische Erkundung der Welt eine neue Unmittelbarkeit, Authentizität und Schönheit. In Handkes Poetik der literarischen ›Bildgewinnung‹ ist diese allerdings stets temporären Charakters und permanent vom ›Bildverlust‹ bedroht. Insofern umfasst die Poetik auch ein ästhetisch postmodernes Muster.429 Die Poesie des ›sachlichen Sagens‹, die die inneren Formen der Dinge in den Zwischenräumen (wieder) sichtbar macht 430 und sich vor allem an den Vorbildern eines Goethe und Stifter, aber auch an Alain Robbe-Grillet, Francis Ponge und René Chars orientiert, bewahrte Handke vor einem ›Versinken in falsche Subjektivität‹, wie er es in der Literatur der Neuen Subjektivität zu be-
425 »Bei meinen früheren Arbeiten habe ich mich noch im Schutz der anderen, der Pioniere, erlebt. Bei der jetzigen Arbeit aber bin ich ganz auf mich allein gestellt (ohne doch Pionier zu sein). Aber es gibt beim Schreiben wohl gar keine Pioniere, nur die Wiederholer. Und die Wiederholer sind die einsamsten Menschen auf der Welt; das Wiederholen ist die einsamste Tätigkeit« (Peter Handke: Die Geschichte des Bleistifts. Salzburg, Wien 1982, S. 193). 426 Vgl. Tabah: Zum Verhältnis von Klassik, Avantgarde und Postmoderne, S. 122. 427 Peter Handke: Spiel vom Fragen oder Die Reise zum sonoren Land. Frankfurt a. M. 1989, S. 124; zit. n. Tabah: Zum Verhältnis von Klassik, Avantgarde und Postmoderne, S. 124. 428 So heißt es schon in Handkes Büchner-Preisrede von 1973 (Peter Handke: Die Geborgenheit unter der Schädeldecke. In: P. H.: Als das Wünschen noch geholfen hat. Frankfurt a. M. 1974, S. 71–80, hier S. 76). 429 Vgl. Tabah: Zum Verhältnis von Klassik, Avantgarde und Postmoderne, S. 124; u. Norbert Gabriel: Neoklassizismus oder Postmoderne? Überlegungen zu Form und Stil von Peter Handkes Werk seit der Langsamen Heimkehr. In: Modern Austrian Literature 24, 3/4 (1991), S. 99– 109. 430 Vgl. dazu Handke: Aber ich lebe nur von den Zwischenräumen; u. Wolf: »Meister des sachlichen Sagens«.
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obachten meinte.431 Sein ›Weg nach innen‹ strebte nach innerer Notwendigkeit und führte über das ›Auflesen‹ des Bildcharakters der Dinge selbst. Damit einher ging die Ablehnung des Erzählens von Geschichten. Stattdessen ist es Handkes Erzählen, das in der Tradition der Romantik steht, um das (Auf-)Lesen, Entziffern und Nachzeichen der präexistenten Schrift in den Dingen, der Signatur im ›Buch der Natur‹ zu tun, und um eine Ästhetik der objektiven Anschauung. Diese ist an ein ästhetisches Subjekt gebunden, das zwischen dem ästhetischen ›Ideen-‹ oder ›Gottesreich‹ und der entzauberten ›weltlichen Welt‹ vermittelt. Handkes Erzähler-Ich als Solitär bewegt sich daher an den Rändern und in den Zwischenräumen der Gesellschaft. Die Reisen des poetischen Solitärs sind sprachliche Erkundungen, Wahrnehmungen und Darstellungen des »Inbilds«, der inneren Signatur der Dinge. Damit vereinigt Handkes Schreiben zwei gegenläufige Bestimmungen: die einer radikalen Subjektivität und die einer ›desinteressierten‹, ›klassischen‹ Objektivität des poetischen Wortes. Es ist dieser Durchbruch des Objektiven in der sprachlichen Form, der den nobilitierten, zeitenthobenen Rang des Dichters gewährleistet.
Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994) Ende der achtziger Jahre zog Handke in einen Vorort von Paris. Hier verarbeitete er seine Erfahrungen der letzten Jahre und mit ihnen reflektierte er erneut die Grundlagen seines Schreibens. Die weitere Entwicklung seiner Autorposition ist vor allem durch das Großepos Mein Jahr in der Niemandsbucht. Ein Märchen aus den neuen Zeiten (1994)432 und durch die Serbien-Kontroverse (ab 1996) gekennzeichnet. Mein Jahr in der Niemandsbucht versteht sich als Epos einer literarischen Quête. Einerseits hat es einen erkennbaren autobiografischen Charakter, andererseits ist es als ›Literaturliteratur‹ selbst- und metareflexiv angelegt und vollzieht eine Suche nach einem neuen Erzählen. Die »Niemandsbucht«, die entfernt auf den Odysseus-Mythos anspielt, steht für die literarische Suche und Durchdringung einer Art ›Nullpunkt‹ des Erzählens (Barthes), wodurch sich das Erzähler-Ich zum »Niemand« verwandelt. Zugleich kann es dadurch seine Identität in der Zeit behaupten. Die beiden ersten Teile bestimmen durch Abgrenzungen im Akt des Erzählens die narratologischen Prämissen für das neue Erzählen: die Frage nach den Figuren (I. Teil: »Wer nicht? Wer?«) und die nach dem Ort des Erzählens (II. Teil: »Wo nicht? Wo?«). Angestrebt wird ein Erzählen der Befreiung und ›Entleerung‹ der Dinge, die durch die gesellschaftliche Sprache und ihre konventionelle, stereotype Sinnzuschreibung verstellt sind. Denn die poetische Sprache gründet für Handke in einer schöpferischen Unbestimmtheit.
431 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 1.2. 432 Frankfurt a. M. 21994; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Auf den ersten Seiten berichtet der Erzähler433 in einer Art Vorerzählung immer wieder von Freunden, die ihm fremd werden und sich von ihm entfernen. Die Freunde sind einerseits abwesende, »unvollständige« Helden (251) und das Erzählen entsteht erst auf dieser Grundlage einer »Abstandswahrung« und »Entzweiung« (vgl. 164, 260). Gleichwohl ziehen die ›fremden Freunde‹ in kosmologischen Bahnen um das leer gewordene Zentrum des Erzählers.434 Die präliminarischen Narrationen von Distanzierungsbewegungen erweisen sich als Bedingungen der Möglichkeit des Erzählens selbst, denn der zum ›Niemand‹ gewordene Erzähler erzählt von Freunden, die sich erst aus einer bestimmten Entfernung heraus entfalten können (vgl. 161– 164). Die sieben »Helden«, von deren »Geschichten« dann der dritte Teil erzählt, sind daher keine individuellen Personen, sondern – wie schon die Personen in Die Wiederholung (1986) – allegorisch-allgemeine (Märchen-)Figuren. Alle – der Sänger, Leser, Maler, Architekt und Zimmermann, Priester, Sohn und die Freundin – stehen in einer inneren Relation zum ErzählerIch. Sie können als Varianten des Erzählers verstanden werden, der für sich selbst keine Identität und keine zentrale Stellung mehr im Epos beansprucht (vgl. z. B. 253). Die Freunde sehen ihn »als reinen Teilnehmer, fern von gleichwelchen Zentren, jenseits der Aktualität, herausgetreten aus all meinen Rollen, kein Anwalt, kein Schriftsteller, auch kein Vater mehr, doch auch kein Schatten, und auch nicht vereinzelt, sondern zugänglich und vorhanden« (83). Der zweite Hauptteil handelt von der Suche nach dem richtigen Ort des Erzählens. Räumliche Bestimmungen und der Vollzug des Erzählens sind in Handkes Werken untrennbar miteinander verbunden. Dem Erzähler als ›Nullmedium‹ öffnet sich die Welt nur, wenn er sich ›am richtigen Platz‹ oder ›Ort‹ befindet (vgl. 287).435 Erzählen wird als ein genaues Beobachten und Erforschen des Ortes und der Zwischenräume vorgeführt. Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit auf das (Nach-)Erzählen der feinen Farb- und Lichtkonturen sowie der Linien und Zeichen, die den besonders konturierten Raum, eine Mulde oder Anhöhe, strukturieren. Mit dem zentralen Motiv der Erkundung des Raumes beim Reisen, Wandern und Spazierengehen durch Blicke – so vor allem das »Hintermichblicken« (46), wodurch die gewöhnliche Ordnung der ›Dinge‹ in Raum und Zeit aufgebrochen wird – kann sich das Erzählen als eigengesetzlicher Prozess vollziehen. Mit dem »Zuschauen« des Erzählers setzt sich die Erzählung gleichsam von selbst »in Gang« (49) als literarischer ›Bildgewinn‹. Die genaue Erkundung der Räume
433 Wie auch andere Romanfiguren ist das Erzähler-Ich aus einem vorausgehenden Werk Handkes entnommen und weiterentwickelt: Gregor Keuschnig, der ehemalige Diplomat, von dessen existenzieller Krise Die Stunde der wahren Empfindung (1975) erzählte, hat nun die Diplomatenlaufbahn aufgegeben und ist zum hauptberuflichen Schriftsteller geworden. Durch die Pariser Anspielungen trägt er unverkennbar Züge eines Alter Ego von Handke selbst. 434 Dies geschieht in gebrochener Spiegelung der Goetheschen Wanderjahre und ihrer sich um Makarie drehenden Kosmologie (vgl. Juliane Vogel: »Wirkung in die Ferne«. Handkes Mein Jahr in der Niemandsbucht und Goethes Wanderjahre. In: Klaus Amann, Karl Wagner [Hg.]: »Von den Rändern her«. Symposion zum 60. Geburtstag von Peter Handke. Wien 2006, S. 167– 180, hier bes. S. 175–177). 435 Der Ort im ›Rücken‹ der Metropole ist poetologisch bestimmt: »Von dem Fenster aus, an dem ich sitze, sehe ich jeden Morgen die Erzählung, und wie sie im großen weitergehen sollte. Es ist ein Ort« (228). Der Blick vom Fenster aus bildet die Passage in die verzauberte Welt des Märchens: »Und eines Morgens, nach wieder einer Nacht der Versteinerung, fand ich mich und uns dort, wie im Märchen, mit einem Fensteraufstoßen, gerade an dem Ort, wo ich mich ja auch hingewünscht hatte« (299).
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ist nicht auf einen Realismus, sondern auf die romantische Poetisierung der Welt durch Sichtbarmachung des inneren Bildes der Dinge ausgerichtet: auf das verborgene und freizulegende »Inbild« (vgl. 28) als Muster oder Signatur einer Welt, die sich durch das genaue Erzählen öffnet und poetisch verwandelt. Die Poetisierung der Welt gelingt aber nur ›von den Rändern‹ der Kultur und Zivilisation her, da in deren Zentrum alle Wahrnehmung des Raums bereits ›verstellt‹ und ›besetzt‹ ist (vgl. 291). Der besetzte, erinnerungs- und bilderlose Raum ist Gegenstand einer fundamentalen Kritik der Metropole und ihrer zivilisatorischen Verkehrszeit: Die Weltstadt-Dinge hatten im Lauf der Jahre aufgehört, nachhaltig zu sein […]. So angenehm die Metropolensachen weiterhin sein konnten, so nichtssagend waren sie geworden. Sie bedeuteten nichts mehr, ließen mich nichts mehr erahnen, erinnerten mich an nichts mehr (knüpften an nichts in meinem Kindergedächtnis), hatten aufgehört, mich träumerisch zu stimmen, und erfinderisch […]. (273) Ich litt in meiner Metropole – und mir kam vor, in New York oder gar in Rom wäre das noch ärger gewesen – zunehmend an etwas, das mich schon in der Jugend, seit der Internatszeit, bedrohte: An Ortsschwund, oder Raumentzug. (291) So geht es im »Märchen aus den neuen Zeiten« um eine doppelte Verwandlung (vgl. 226, 255): zum einen um die des Erzähler-Ichs, das als Einzelgänger in der Gefahr steht, zu sehr von der Welt entfernt (vgl. 296, 304) oder zu sehr von sich selbst eingenommen zu sein.436 Zum anderen geht es um die Verwandlung der Dinge durch das Erzählen, durch die ›Entleerung‹ der verstellten Bilder, damit die Erzählung ein geöffnetes Medium der schöpferischen Weltdurchdringung werden kann. Der Erzählprozess der ›Entleerung‹ zielt schließlich auf die Freilegung des objektiven ›Gesetzes‹ der Sprache, auf eine »Rechtssprache« (211). Die poetische »Rechtssprache« soll das Gesetz nachvollziehen, die ›innere Grammatik‹, die den Dingen selbst ›gerecht‹ wird (vgl. 213, 217). Subjektive Auslegung und objektive ›Rechtsprechung‹ (ordo universi) werden so vereint.
Die Freilegung und »Wiederholung« des inneren Bildes der Dinge, das nur im narrativen Nachvollzug seiner Konturen darstellbar erscheint, ist im Kern eine Gedächtnisarbeit (vgl. 284): eine Freilegung der Signatur der ›heiligen Schrift‹ in der »Niemandsbucht«, die vergleichbar ist mit Strauß’ Bestimmung des Dichters als anachoretischen Kopisten der Heiligen Schrift. Die Poetik einer jeweils neu ansetzenden, epiphanischen Entzifferung des ›Buches der Natur‹ im Schreiben an den Rändern der Gesellschaft wird bei Handke zur maßgeblichen Instanz der Zusammenfügung der einzelnen Dinge in ihrer organischen Ordnung. Zugleich ist die schöpferische Wiederholung und Sichtbarmachung der Signatur der Dinge im Schreiben permanent bedroht vom ephemeren Dasein und der Leere, die mit diesem Prozess immer wieder einhergehen.437 436 »Bin auch ich ein Selbstvergötterer? Ein Selbstkönig? Einer der millionenfachen heutigen Selbstkaiser? Um so unausweichlicher die neue Verwandlung? Oder soll es heißen: Austreibung?« (255) 437 »Angesichts des Aufschreibens – der Instanz – sind selbst die tiefsten Übereinkünfte mir noch ein jedes Mal verpufft, und ich verlor fürs erste die Sprache. Damit neu ansetzen konnte ich dann höchstens ohne jede Idee davon, wie denn die paar mir gebliebenen Einzelstücke
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Es ist dieses Wechselspiel zwischen einer Wiederholung, d. h. Restitution des göttlich-poetischen Wortes in den Dingen, und dem Wissen um die Flüchtigkeit des Aktes und die Notwendigkeit des permanenten und prekären Neubeginns des Schreibens, das für Handkes (kunst-)religiös begründete ästhetische Autorposition charakteristisch ist. Wie für Strauß’ Schreiben und allgemein für den L’art pour l’art-Bereich im Nobilitierungssektor kennzeichnend, zielt auch Handkes anachoretisches Schreiben auf die poetische Besetzung eines von der Gesellschaft und ihrer sozialen Zeit abgetrennten kunstsakralen Raumes. Dieser Schreib-Raum ist aber bei Handke stets in Reichweite der Stadt, hier: am Rande, im ›Rücken‹ der Metropole Paris. Das Verhältnis des kunstreligiösen Raums, des inspiratorischen ›Gottesstaates‹, zur ›weltlichen Welt‹ ist also nicht wie bei Strauß eines der absoluten Entgegensetzung, sondern eines der ästhetischen Transgression, der leichten Versetzungen und der plötzlichen Verwandlungen.438 Konstitutiv für Handkes Erzählen ist eine Poetik der ›Vorstadt‹, in der die Dinge der Kultur durch die Überführung in Zwischenräume semiotisch und semantisch erweitert werden. Versteht man Paris einerseits als ›Hauptstadt der Zeichen‹ (Karl-Heinz Bohrer), andererseits als ›Weltstadt der Literatur‹ des 19. Jahrhunderts, zeichnet sich die Spannung zwischen dem narrativen Anspruch Handkes und seiner Sehnsucht nach dem langen erzählerischen Atem und der großen Geste des Epos ab.439 Handkes ›Quête‹ richtet sich auf ein ›weltdurchdringendes‹ Erzählen für das vor allem die großen Autoren des 19. Jahrhunderts wie Goethe, Stifter, Keller oder Tolstoi als Vorbilder gelten. Jedoch ist seine ›Durchdringung der Welt‹ zugleich von der Moderne, von der Versenkung in die Details und von der ›Entleerung‹ der Zeichen geprägt. Daher ist sein Roman auch ein »Märchen aus den neuen Zeiten«.
zueinandergehörten, und ob überhaupt. […] Und so drängt es mich auch hier, zusammenhanglos zu sein und das bis zum Ende des folgenden Absatzes zu bleiben« (311). 438 »Erzählend verwandeln sich die Orte in mythische Räume, die Gegenwart in eine Märchenzeit. Das ist die eigentliche Verwandlung, um die es im Buch geht. Was diese Verzauberung bewirkt, dürfte vor allem der geringe, aber stets vorhandene Abstand zwischen Autor und Erzähler, Romanwelt und Außenwelt und, am eindrucksvollsten, zwischen Romanzeit und der aktuellen Gegenwart sein. Keuschnig ist nicht ganz Handke, die Niemandsbucht ist nicht ganz identisch mit Handkes Wohnort Chaville im Westen von Paris und die in die unmittelbare Zukunft versetzte Zeit, das Jahr 1997, ist nicht das Erscheinungsjahr 1994. Die vorgerückte Zeit ist so geringfügig versetzt, dass das meiste, wovon als erzählzeitliche Vergangenheit berichtet wird, auch realzeitliche Vergangenheit darstellt. Dadurch wird die Zeit im Roman zu einer Parallelzeit zum Jetzt« (Christoph Parry: Peter Handke. In: Arnold [Hg.]: KLG, 80. Nlg. [2005], S. 21). 439 Vgl. Gabriel: Überlegungen zu Form und Stil bei Handke, S. 107.
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Die narrative Erfassung der Welt in den Dingen ist bei Handke – geschult am Nouveau Roman eines Alain Robbe-Grillet – eine Erfassung von den Rändern und Leerstellen her.440 Die Helden und ihre Geschichte(n) müssen ihrer konventionellen historischen, sozialen, kausalen Bedeutung ›entleert‹ werden, damit sie ›literaturfähig‹ werden können. Zum Streben nach einer impressionistischen Welterfassung kommt bei Handke ein stark ausgeprägtes Streben nach Subjektkonstitution hinzu. Diese erfolgt aber paradoxerweise über eine ›Subjektentleerung‹ oder in der Verwandlung zum »Niemand« als Grundlage des Erzählens. Das ist gleichsam die List des ästhetisch gewendeten Odysseus in der »Niemandsbucht«. Das Streben nach Subjekterkundung, das sich in Handkes Schreiben schon früh zeigte, stand stets in Gefahr, in bloße Subjektivität, wie sie den literarischen Mittelbereich der siebziger und achtziger Jahre prägte, abzugleiten. Davor bewahrt es allerdings Handkes Poetik des ›interesselosen‹ Erzählens, die sich aus der Beobachtung und Nacherzählung des Ortes selbst begründet und den inneren Gesetzen der Dinge widmet. Das Erzählen konstituiert sich mit der sprachlichen Nachbildung der symbolischen Geografie, den räumlichen Kraftvektoren, Schwellen, Mulden, Buchten, Grenzen, Zwischenräumen und (Farb-)Übergängen und ›legt‹ die Signatur der Dinge ›frei‹. Es beansprucht eine Notwendigkeit, die das Individuum übersteigt, und eine Objektivität der poetischen Erzählung, die aus der subjektiven Erfassung gerinnt. Schließlich ist das Erzähler-Ich als Solitär bestimmt. Am Rande der Gesellschaft situiert, ist es Medium des Verwandlungsprozesses der Dinge zu »Inbildern«. Die Vorstadt steht bei Handke für einen zeit- und geschichtsenthobenen Ort, jedoch bildet sie keinen absoluten Gegensatz zur Stadt und zur menschlichen Gesellschaft, sondern wird als ›Pforte‹ oder ›Passage‹ verstanden. Auch die (kunst-)religiöse Zeiterfahrung wird nicht als nunc stans, als plötzliche Epiphanie, sondern als offene Schwellenerfahrung und als Öffnung eines Zeitraumes konzipiert. Die poetische Verwandlung oder Initiation entspricht einer Poetik des offenen Schreibprozesses. Das erzählerische Auflesen der Dinge und die Sichtbarmachung ihres ›Inbilds‹ sind aber stets im Fluss und gehen immer wieder in ›Bildverluste‹ über.441 Die Anwesenheit des erfüllten Wortes durch literarische Weltdurchdringung und Bildgewinn ist daher mit Prozessen des Verschwindens und der Abwesenheit verbunden.442 Die poetisierte Welt ist auch bei Handke zeitenthoben, jedoch weniger Mythos (wie bei Strauß) als Märchen, d. h. eine sich punktuell und temporär fantastisch verändernde Welt
440 Vgl. Amann, Wagner (Hg.): »Von den Rändern her«. 441 Vgl. Der Bildverlust oder Durch die Sierra de Gredos (2002). 442 Vgl. Die Abwesenheit (1987).
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in Berührung mit den ›neuen Zeiten‹. Wie der Erzählraum verläuft die Märchenzeit zwischen ›irdisch‹-sozialer und ästhetischer Zeit. Es geht in der Niemandsbucht um eine Verwandlung in einem märchenhaften Jahr. In diesem ist die Zeit gestaut oder gedehnt.443 Wie bei der poetischen Erkundung des Raums geht es auch bei der poetischen Durchschreitung der Zeit nicht um die ganz andere, sondern um die durch die Literatur als Schwellenmedium verwandelte Zeit. Wie Strauß zielt auch Handkes Poetik auf die Wiederherstellung der Präsenz und Souveränität des poetischen, heiligen Wortes. Die Schöpfung der Dinge und die Schöpfung der Worte haben einen gemeinsamen ontologisch-›pneumatischen‹ Status. Im Unterschied zu Strauß und Steiner ist aber Handkes poetische ›Transsubstantiation‹ subjektiviert und dynamisiert: Die Anwesenheit der Substanz im Wort ist nicht von einer Dogmenlehre gesetzt, sondern zeigt sich als formalisiertes und temporäres »Inbild« der Dinge, das erst im Vollzug des schriftlichen Nachzeichens aufscheint. So enthält auch die Handkes Werken eingeschriebene Rechtfertigungslogik noch Spuren der Kompromissbildung zwischen der ›Welt der inspiratorischen Größe‹ und der »Welt der Meinung«, Spuren der Auseinandersetzung des klassischen mit einem postmodernen Schreiben. Jedoch überwiegt das Streben nach einer ›Reauratisierung der Ferne‹.444
Die Serbien-Debatte oder die Grenzen des Homme de lettres Die Grenzen der poetischen ›Reauratisierung der Ferne‹ musste Handke erfahren, als er versuchte, als Homme de lettres gegen eine einseitige, anti-serbische Berichterstattung während des Serbien-Krieges der NATO Einspruch zu erheben. 1996 trat Handke mit zwei Reiseberichten über Serbien an die Öffentlichkeit: »Gerechtigkeit für Serbien« 445 und »Sommerlicher Nachtrag zu einer winterlichen Reise«. Handkes ursprüngliche Absicht stand im Gegensatz zu einer politischen Stellungnahme. Explizit wendet er sich gegen Zolas »J’accuse« als engagierter Intellektueller: »Es drängt mich nur nach Gerechtigkeit. Oder vielleicht überhaupt bloß nach Bedenklichkeit, Zu-bedenken-Geben«
443 Es umfasst, wie auch die Unterkapitel des IV. Teils lauten, »Jahrzehnt«, »Jahr« und »Tag«. 444 »In seinen unausgesetzten Bemühungen, die ›Neue Welt‹ gerade dort aufzusuchen, die Ferne dort zu finden, wo die Moderne alle Schauplätze der Epiphanie zerstört zu haben scheint, revidiert Handke auch das Benjaminsche Diktum« (Vogel: »Wirkung in die Ferne«, S. 172, Anm. 12). 445 Peter Handke: Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien. Frankfurt a. M. 1996; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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(124). Als Dichter ging es ihm darum, dem dominanten Mediendiskurs der Kriegsberichterstattung einen poetischen Diskurs entgegenzuhalten. Eine winterliche Reise beinhaltet zum einen längere polemische Passagen gegen die westlichen Medien und ihre Darstellung des Krieges, die den letzten Rest einer der Wahrheit verpflichteten ›Zeugenschaft‹ eingebüßt habe. Tonangebend seien Medienintellektuelle wie z. B. Bernard-Henri Lévy geworden, »auch ein neuer Philosoph, einer von den mehr und mehr Heutigen, welche überall sind und nirgends« (47).446 Dagegen strebt der Dichter Handke danach, der von Journalisten und Medien hergestellten Konsensmeinung andere, poetische Bilder Jugoslawiens entgegenzusetzen. Im Namen der höheren, poetischen Wahrheit drängt es ihn, die »bloße[n] Spiegelungen der üblichen, eingespielten Blickseiten« zu überwinden, »hinter den Spiegel« zu treten und »einfach das Land anzuschauen« (13). Seine »winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina« zielt auf eine andere Wahrnehmung Serbiens. Da sich laut Aristoteles’ Poetik der Dichter vom Geschichtsschreiber dadurch unterscheidet, dass er sagt, was möglich sein könnte, geht es Handke darum, »diese Geschichte einmal anders zu schreiben«, um »die Völker aus ihrer gegenseitigen Bilderstarre zu erlösen« (50). In einer für sein Werk und für die Ästheten-Position charakteristischen Opposition wird der entzauberten, anti-serbischen medialen Darstellung ein »raumlassende[s] Sprechen« entgegengesetzt (58). In der poetischen Erkundung des Landes wird das innere Bild Jugoslawiens als Einheit in der Vielfalt gezeichnet. Eine solche phänomenologische »Lebenswelt« (im Sinne Husserls) befindet sich als ein »Drittes […] nicht etwa neben oder abseits der Aktualitäts- oder ZeitZeichen« (51), sondern in ihr und zugleich in einem ›Außerhalb‹. Die Re-Auratisierung der Ferne in der Nahbetrachtung des Homme de lettres erfolgt über die Sprache. So zum Beispiel angesichts des »so gar nicht pariserischen Boulevard[s]« in Belgrad, »nein ›boulevar‹, nein БУЛЕВАР, spürte ich ihr französisches ›dépaysement‹ auf mich übergehen, ihr Befremden, ihr hier Fremdsein, oder wörtlich übersetzt, ihr ›Außer-Landes-Geratensein‹, ihr ›Außer-LandesSein‹ (wie Außer-sich-Sein)« (55). Dem entgegen steht »das ›re-paysement‹, das ›Zurück-insLand-Geraten‹« (56), wodurch Bilder des einfachen Lebens entstehen können. Diese gleichen einer Ikonisierung der einfachen Wirklichkeit. Dem re-auratisierenden Blick zeigt sich die Welt »einer geradezu würdevollen kollektiven Vereinzelung«: Die Menschen in Serbien »strahlen […] allesamt ein Standesbewußtsein aus« (59). Dabei ist die Poetisierung der Welt deutlich anti-westlich und sozialromantisch ausgerichtet.447 Die mit der Wirklichkeit im Zeichen der Verwandlung verbundene Märchen- oder Traumwelt ist »das nicht verwirklichte Leben« (82). Das »Volk« wird als ›geheime Gedächtnisgemeinschaft‹ (vgl. 113), »faßbar, indem dieses im eigenen Land so sichtlich in der Diaspora haust, ein jeder in der höchsteigenen Verstreutheit« (115). An dieser Stelle wird einmal mehr deutlich, dass Handkes Eintreten für Serbien einer poetischen Logik folgt, wie sie auch Mein Jahr in der Niemandsbucht prägt. Dabei geht es um die Konkurrenz zwischen Dichter und Journalisten bzw. den neuen »Symbolanalytikern« um Deutungshoheit. Dem »Bescheidwissen« der ›Medienintellektuellen‹ wird ein ›GegenwärtigHaben‹ (129) des Dichters entgegengesetzt, der flüchtigen Rede der Mediendiskurse die ›Wahr-
446 Vgl. hierzu Jurt: Frankreichs engagierte Intellektuelle, S. 230–232 (»Heteronome Intellektuelle: ›Medienphilosophen‹ und ›Experten‹«). 447 Der aus der Not geborene Schwarzmarkt wandelt sich zur Tugend einer »ursprüngliche[n] und, ja, volkstümliche[n] Handelslust« und der Wunsch richtet sich darauf, dass diese »Unzugänglichkeit der westlichen oder sonstwelchen Waren- und Monopolwelt« anhalten möge (72).
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haftigkeit‹ der Schrift,448 der journalistischen Konsensherstellung und ihrem Deutungs- und Bildmonopol das poetische Bild als das »Verbindende, das Umfassende – der Anstoß zum gemeinsamen Erinnern, als der einzigen Versöhnungsmöglichkeit« (133).
Mit seinen Serbien-Texten geriet Handke zwischen die Fronten des poetischen und journalistischen Schreibens. Die Grenzen der Wirkmacht des ›Buchstabenmanns‹ (Homme de lettres) zeigten sich in dem vergeblichen Versuch, in einen Aufstand gegen die Medien zu treten.449 In Fortsetzung seines legendären Auftritts auf der Tagung der Gruppe 47 in Princeton berief sich Handke nicht auf allgemeine Werte, sondern er versuchte, eine ›authentische‹ Sprachkritik unter Berufung auf eine ›Augenzeugenschaft‹ zu artikulieren. Sein persönlich verbürgtes Eintreten stand der anonym-vernetzen Berichterstattung der Medien entgegen.450 Handkes Protest, der in der Logik seines poetischen Schreibens erfolgte, richtete sich gegen den immer mächtiger werdenden flüchtigen Mediendiskurs, dem er seine auf Kunstautonomie und poetische Wahrheit pochende Schrift entgegenstellen wollte.451 Sein scheiternder Versuch, das Dominanzverhältnis zwischen Autor und Journalist in der Bewertung des NATO-Einsatzes im Kosovo-Krieg umzukehren, zeigte, dass politische Erwartungen und moralische Ideale nicht mehr an Einzelstimmen gebunden sind und dass sie untergehen, ja literarisch diskreditiert werden, wenn sie gegen die netzwerkartige Meinungsherstellung durch Medien gerichtet sind. So wurde Handke später aus rein politischen Gründen der literarische Heinrich-Heine-Preis aberkannt.452
2.2 Die naturwissenschaftlich und -geschichtlich gestützte Behauptung der Ästheten-Position Die Renaissance des poeta doctus ist im Zuge der Ausbildung einer »Wissensgesellschaft« und eines komplexer gewordenen Gefüges literarischer Öffentlichkeits-, Wertigkeits- und Rechtfertigungssphären zwischen ästhetischer Ei-
448 Vgl. Karl Wagner: Handkes Endspiel. Literatur gegen Journalismus. In: Joch, Mix, Wolf (Hg.): Mediale Erregungen?, S. 65–76, hier S. 72 u. S. 74. 449 Vgl. zum Folgenden Gilcher-Holtey: Schriftsteller als Intellektuelle, S. 91–95. 450 Nach Streeruwitz’ Ansicht ging es in der Auseinandersetzung mit Handke darum, ob und »wie politische Erwartungen noch aus Einzelstimmen formuliert werden [...]. Oder ob die mediale Vermittlung einzige Quelle politischen Begehrens sein mag« (Marlene Streeruwitz: Die Abrechnung. Peter Handke. Das Fernsehen und die imaginäre Dissidenz. In: Frankfurter Rundschau, 21. 6. 2006; zit. n. ebd., S. 94). 451 Vgl. Wolf: Autonomie und/oder Aufmerksamkeit?, S. 48. 452 Vgl. Wagner: Handkes Endspiel, S. 75.
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genlogik, medial-ökonomischer und staatlich-repräsentativer Begründungszusammenhänge von besonderer Bedeutung; jener ursprünglich aus dem (Neu-)Humanismus stammende Dichtertyp wurde unter anderem von Hans Magnus Enzensberger schon ab den späten fünfziger Jahren reaktualisiert. Eine symbolische Renaissance erfuhr der poeta doctus dann in den achtziger und neunziger Jahren durch eine neuartige Verbindung der Literatur mit dem Wissensdiskurs der Naturwissenschaften, so insbesondere in der epistemologischen Neuausrichtung der Lyrik seit den späten achtziger Jahren.453 In diskursanalytischer und wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht deutet die Renaissance des poeta doctus auf eine Hegemonie der naturwissenschaftlichen Wissensordnung hin, die die Dichtung in (neue) Legitimationsnöte gebracht hat. Die bei verschiedenen Autoren zu beobachtende ›Poetologisierung der Naturwissenschaften‹ 454 stellt daher im Kern eine Legitimationsstrategie der Dichtkunst dar. In der Konkurrenz der unterschiedlichen Wahrheitsbegriffe der ausdifferenzierten Wissensordnungen verweist die Wiederkehr des poeta doctus auf den allgemeinen Marginalisierungsprozess des poetischen Wahrheitsanspruches. Die Ausdifferenzierung der Spezialdiskurse führte seit dem 19. Jahrhundert dazu, dass die Wissenschaftssprachen den universalen, humanistischen Bildungsdiskurs zunehmend ersetzten. Gleichwohl ging der Dichtertypus des poeta doctus nicht unter, im Gegenteil. In der Gegenwartsliteratur zeigen sich Anverwandlungsversuche und Analogie-Setzungen zwischen den modernisierten Wissenschafts- und den tradierten Bildungsdiskursen mit ihren jeweiligen Subjekt-Konzeptionen. Durch das ›Aufplatzen des Wissens‹ in der »Wissensgesellschaft« 455 wird Zeitgenossenschaft über popularisierte – und damit auch literarisierte – Wissensdiskurse hergestellt. In der Lyrik wurde das Gedicht zum Wahrnehmungsinstrument oder gar zur ›erkenntnistheoretischen Maschine‹ erklärt.456 In der Prosa entdeckte man den Naturwissenschaftler als Persönlichkeit und Held für den historischen Roman (exemplarisch: Alexander Humboldt und Carl Friedrich Gauß bei Daniel Kehlmann, s. u.). Und der das
453 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, III. 2. 454 Vgl. dazu Torsten Hoffmann: Poetologisierte Naturwissenschaften. Zur Legitimation von Dichtung bei Durs Grünbein, Raoul Schrott und Botho Strauß. In: Kai Bremer, Fabian Lampart, Jörg Wesche (Hg.): Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Freiburg i. Br., Berlin, Wien 2007, S. 171–190. 455 Siehe hierzu oben: Erster Teil, I. 3. 456 Vgl. Karen Leeder: »Erkenntnistheoretische Maschinen«: Questions about the sublime in the work of Raoul Schrott. In: German Life and Letters 55.2 (April 2002), S. 149–163, hier S. 151; u. K. L.: The Poeta Doctus and the New German Poetry: Raoul Schrott’s Tropen. In: The Germanic Review 77.1 (winter 2002), S. 51–67, hier S. 52.
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naturwissenschaftliche Wissen popularisierende Wissenschaftler wurde zum bevorzugten Erzähler der Gegenwart. Allgemeine Merkmale des poeta doctus als Typus sind »Wissenschaftsorientiertheit, Traditionsbildung, Handwerklichkeit und Arbeitsethos, Exklusivität für die Verständigen, Verhaftetsein an Reflexion und Theorie«.457 Feldanalytisch verweist der neue Bildungs- und Wissenserwerb der Schriftsteller auf spezifische Umstellungsstrategien als Reaktion auf die Umstrukturierung des sozialen Raumes durch die wachsende Bedeutung des eigenverantwortlichen Erwerbs kulturellen Kapitals (»Wissensgesellschaft«) seit den sechziger Jahren.458 Im Kern auf Reproduktion abzielend, basieren die Umstellungsstrategien auf zeitlich und logisch hinter dem feldstrukturellen Wandel ›hinterherhinkenden‹ Habitusstrukturen. Sie stellen Versuche dar, den symbolischen Rang (Status) verinnerlichter Klassifikationsschemata durch Anpassung und Wandel aufrechtzuerhalten.459 In ihnen zeigt sich eine symptomatische Vermischung zwischen Traditionsaufnahme und -verwandlung. Eine besondere Bedeutung kommt in dieser Perspektive der Entwicklung der Autorposition von Enzensberger und der Ausbildung einer flexibilisierten und zugleich arrivierten ästhetisch-intellektuellen Autorposition zu (vgl. oben, Fallstudie 2). Diese Vermischung einer permanent ›häretischen‹ und ›etablierten‹ Position hat ihre Entsprechung in Enzensbergers zweigestaltigen, lyrischen und essayistischen460 Rückgriffen auf naturwissenschaftliche Denkmodelle, die sein gesamtes Werk durchziehen, zuletzt gesammelt in Die Elixiere der Wissenschaft.461 Enzensbergers Reflexion auf das wachsende Ungleichgewicht zwischen dem Wissen der (Natur-)Wissenschaften und der Erkenntnisleistung der Dichtung hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Relevanz mündet in die Beobachtung, dass sich seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts neue »Grenzüberschreitungen« anbahnten und die Literatur sich von ihrer »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreit habe.462 Im optimistischen Ausblick auf eine Lyrik, die die Herausforderung der dominanten naturwissenschaftlichen Wissensordnung annimmt, verweist Enzensberger schließlich auf Durs Grün-
457 Wilfried Barner: Poeta doctus. Über die Renaissance eines Dichterideals in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. In: Jürgen Brummack, Gerhart von Graevenitz, Fritz Hackert (Hg.): Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Tübingen 1981, S. 725–752, hier S. 728. 458 Vgl. hierzu oben: Einleitung u. Erster Teil, I. 1. 459 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 210–276. 460 Als synthetische Gattung verweist der Essay auf die Pluralisierung der Wissensformen (vgl. Barner: Poeta doctus, S. 750). 461 Hans Magnus Enzensberger: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt a. M. 2002. 462 Ebd., S. 266.
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bein, in dessen Gedichtband Schädelbasislektion »Physiologie und Neurowissenschaften eine wesentliche Rolle« spielten.463
2.2.1 Durs Grünbeins Schädelbasislektion (1991) und die Entwicklung einer ›neuro-romantischen Poetik‹ Grünbeins Karriere im gesamtdeutschen literarischen Feld begann mit dem ersten Gedichtband Grauzone morgens (1988), mit dem er sich am avantgardistischen Pol positionierte.464 Der zweiter Band Schädelbasislektion (1991) führte diese Positionierung fort – zugleich lässt er bereits erste vertikale Absetzbewegungen von der sprachreflexiven Lyrik erkennen. Diese zeigen sich zunächst in der ›kalten‹, ›neu-sachlichen‹ Haltung gegenüber dem aufgewühlten politischen Zeitgeist. Die Schädelbasislektion steht für einen neuartigen naturwissenschaftlichen Rekurs in der Lyrik.465 Zudem zeigen die Gedichte den Zynismus des naturwissenschaftlichen Menschenbildes auf. Das Gehirn wird hier als eine ›Blackbox‹, als »Raum für eine vor äußeren Angriffen weitgehend geschützte Subjektivität« konzipiert.466 Die mit der Schädelbasislektion allgemein wie auch gattungsspezifisch zum Ausdruck gebrachte Haltung der Distanzwahrung kann mit Helmut Lethen als eine von der Anthropologie Helmuth Plessners abgeleitete »Verhaltenslehre der Kälte« verstanden werden, die sich als Weiterführung von Nietzsches »Pathos der Distanz« und der ›kühlen‹ Haltung der Neuen Sachlichkeit von der »Tyrannei der Intimität« (Richard Sennett) und der Neuen Subjektivität der achtziger Jahre absetzte und Anfang der neunziger Jahre eine Renaissance erfuhr.467 In-
463 Ebd., S. 267. 464 Siehe hierzu ausführlicher unten: Fallstudie 3. 465 Die Diskussionen über die Genforschung, künstliche Intelligenz etc. wurden erst Ende der neunziger Jahre dominant und fanden dann ein Echo in den philosophischen und ästhetischen, sogenannten ›posthumanen‹ oder auch ›posthumanistischen‹ Diskursen eines Sloterdijk, Enzensberger etc. (vgl. Thomas Irmer: Durs Grünbein. In: Ursula Heukenkamp, Peter Geist [Hg.]: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 711–721, hier S. 175; u. ausführlich bei Anna Alissa Ertel: Körper, Gehirne, Gene. Lyrik und Naturwissenschaft bei Ulrike Draesner und Durs Grünbein. Berlin, New York 2011). 466 Ertel: Körper, Gehirne, Gene, S. 247. 467 »Wie kommt es, daß heute [Plessners] Anthropologie ganz selbstverständlich wie ein Kompendium nobler Verhaltensregeln gelesen wird? Warum konnten sich die deutschen Spielarten der Verhaltenslehren der Distanz nie freimachen von Anflügen des ›Heroismus‹« (Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Helmuth Plessners Anthropologie der zwanziger Jahre. In: Hartmut Eggert, Erhard Schütz, Peter Sprengel [Hg.]: Faszination des Organischen: Konjunkturen einer Kategorie der Moderne. München 1995, S. 173–197, hier S. 175; vgl. auch H. L.: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994, S. 75–95).
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nerhalb des literarischen Feldes selbst profilierte sich Grünbein mit seiner poetischen Anverwandlung naturwissenschaftlicher, insbesondere neurophysiologischer Diskurselemente und Denkfiguren in der Nachfolge von Hugo von Hofmannsthal und Gottfried Benn. Seine Lyrik des ›kalten‹, neusachlich-anatomischen Blickes, die auch stark von Brechts Großstadtlyrik geprägt ist, zielte darauf, das Innenleben des Großstadtmenschen freizulegen. Mit dieser ›kalten‹ Profilierung war der Abstand vom politischen ›Zeitgeist‹-Gedicht – wie etwa Volker Brauns Gedicht »Das Eigentum« (1990) oder später Günter Grass’ Sonettenzyklus Novemberland (1993) – sowie von einer Lyrik der subjektiven Zeugenschaft und damit allgemein von den im literarischen Mittelbereich vorherrschenden Verfahren einer realistischen und moralisch mahnenden Literatur markiert, wie auch einer subjektkonstituierenden Literatur. Zugleich avancierte Grünbein mit seiner naturwissenschaftlich gestützten Poetik am avantgardistischen Pol, da er – ähnlich wie Thomas Kling, jedoch in anderer Weise468 – das kunstautonome Gedicht als subjektloses, einer objektiven Notwendigkeit folgendes Medium konzipierte, das Impulse und Zeichenkonstellationen notiert.469 Der im Titel und im ersten Zyklus der Schädelbasislektion angelegte anatomisch-sezierende Gestus des Bandes zielt darauf, »das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor[zuführen]« (41). Das ›Vorführen‹ ist hier im doppelten Sinne zu verstehen. Der Mensch wird gleichsam ›anatomisch aufgedeckt‹ und sein Selbstbild radikal desillusioniert: Seine rationalen Gewissheiten wie auch seine alltäglichen, sozialen Gewohnheiten, Wahrnehmungen und Meinungen, die ihm bislang Sicherheit gaben, werden als Illusion präsentiert und auf ihren ›kalten Kern‹ zurückgeführt. Diese radikale ›Freilegung‹ des Menschen kommt paradigmatisch in der Rückführung des Cartesianischen Denkens, mit dem einst die Epoche des modernen, rationalen Subjekts begann, auf die Reflexe des (Pawlowschen) Hundes zum Ausdruck (vgl. Zyklus V: »Der Cartesische Hund«). Die sezierenden Erkundungen des Selbst als Radikalisierung und Gegenbewegung zur cartesianisch-rationalen Selbstbegründung finden im zeitlich und räumlich Unbestimmten statt. »Niemands Land Stimmen« heißt der zweite Zyklus und »Tag X« der dritte. Ganz geschichtslos sind diese poetischen Räume allerdings nicht, spielen sie doch auf die jüngste deutsch-deutsche Zeitgeschichte und auf den Berliner Raum an. Die »Sieben Telegramme« fixieren demonstrativ Zeitpunkte aus dem Wendejahr 1989/90. Aus dem vierten Zyklus »Die leeren Zeichen« sprechen die kalte Desillusionierung und der ›grässliche Fatalismus‹ des jüngst untergegangenen Sozialismus. Der »Dialog mit Signaturen eines falschgesichtigen Sozialismus« 470 legt die vom Einzelnen verinnerlichten Folgen der kollektiven
468 Siehe dazu unten: Fallstudie 3. 469 Folgende Nachweise im Fließtext nach Durs Grünbein: Schädelbasislektion. In: D. G.: Gedichte. Bücher I–III (Grauzone morgens, Schädelbasislektion, Falten und Fallen). Frankfurt a. M. 2006. 470 Ron Winkler: Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn. Annäherungen an das lyrische Werk Durs Grünbeins. Hamburg 2000, S. 63.
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Prägung, seine bis in die innerste Existenz gehende Manipulation, sein Automaten-Wesen und die entzauberten Grundlagen seines vermeintlich selbstbestimmten Handels in einem System kollektiv konditionierter Reflex-Mechanismen frei. Die Rückführung des Menschen in Grünbeins Lyrik auf seine neurophysiologischen, ›reflexologischen‹, schließlich biologisch-zoologischen Grundlagen stellte ihrerseits einen spezifischen Reflex auf eine Zeit eminenter politisch-gesellschaftlicher Umbrüche in Deutschland dar. Mit der Wende hatte sich die Wirksamkeit der Konditionierung des ›Massenmenschen‹ (im Sinne Canettis), der sich vergeblich und illusionär seiner Individualität, seines zivilisierten und ›polis-fähigen‹ Wesens zu vergewissern sucht, für Grünbein keineswegs erledigt – im Gegenteil: Die Schädelbasislektion lehrt die Resistenz und Universalität der physiologischen Fremdbestimmung. Mit der Übertragung der Pawlowschen Reflextheorie vom Sowjetsystem auf die neuen, gesamtdeutschen Verhältnisse stellen die gesellschaftspolitischen Umbrüche zwar ›äußere‹ Veränderungen dar, im anthropologischen Kern des konditionierten Menschen in der (Post-)Moderne bleibt aber dessen reflexhaftes Verhalten dominant. Ähnlich wie bei Reinhard Jirgl 471 ist die Wende in dieser Perspektive nur eine ›Zeichenwende‹ von einem verinnerlichten, institutionalisierten Zwangs-, Disziplinierungs- und Verwaltungssystem des sozialistischen Repressionsstaates zu den verinnerlichten Zwängen der modernen Gesellschaft.472 Dem »Rauschen der Reißwölfe« in Grauzone morgens entspricht nun das ›Flimmern der Zeichen‹, der Kritik des Staatsapparats die Kritik des (post-)modernen Zivilisationsmenschen. Die Wirkungen des Zusammenbruchs eines ideologischen Systems zeigen sich nicht mehr als äußeres Reflexverhalten, sondern als Phantomspuren im Gehirn, als Fortsetzung einer chaotischfluktuierenden und überdies rauschhaften Zeichenüberflutung und -überlagerung. Das auf die objektive Notwendigkeit der naturwissenschaftlichen Paradigmen zurückgreifende Gedicht wandelt sich zum »Engramm«, zur neurologischen Gedächtnisspur,473 und zum »Inframince« (106). Es verzeichnet das neurologisch-bildhafte Aufblitzen der »[p]ostume[n] Innenstimmen« (ebd.) im Gehirn im Moment ihres Verschwindens.
In der Poetologie, die Grünbein experimentierend verfolgte, ist das Schreiben ein unwillkürlich-reflexhaft und damit notwendig verlaufender, »physiologischer Akt« 474 in Abgrenzung zu einem rational kontrollierten, referentiellen und metaphorischen Sprechen:
471 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, III. 3.2. 472 Vgl. in den westdeutschen Debatten den zwar umgekehrten, aber komplementären Referenzwechsel von der Gesellschaft zur Nation, durch den Peitsch die Delegitimierung des Engagements, die Umwertung der »Gesinnungsästhetik« erklärt: »Der positiv geprägte Begriff Gesinnungsästhetik wurde 1990 negativ umgewertet, weil die Nation an die Stelle der Gesellschaft als Instanz der [...] Verantwortung treten sollte« (Peitsch: »Vereinigungsfolgen«, S. 326 f.). 473 Vgl. Alexander Müller: Das Gedicht als Engramm. Memoria und Imaginatio in der Poetik Durs Grünbeins. Oldenburg 2004. 474 Durs Grünbein: »1. Brief über Dichtung und Körper«. In: D. G.: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a. M. 1996, S. 40–45, hier S. 44.
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Manche Leute halten dies für spleen oder Zynismus, andere für eine Mindestforderung von Seiten der literarischen Moderne. Jenseits der katatonischen Expressionismen und am Tag nach den Lektionen der konkreten Sprachkritik sind es vermutlich die Vorzeichen eines neuen beweglichen Denkstils entlang der Ränder zur Neuro-Romantik ... einer biologischen Poesie. Ossip Mandelstam, einer ihrer Väter, schreibt 1932 in sein Notizbuch: »Aus guten Gedichten kann man heraushören, wie die Schädelnähte gesteppt werden ...«.475
Mit der Ausrufung einer zynischen »biologischen Poesie« sind zugleich gattungsinterne Absetzbewegungen markiert: nicht nur von den leidenschaftlichen »Expressionismen«, die auf die verschiedenen Ausdrucksformen einer lyrischen Subjektivität in Ost und West anspielen, sondern auch von den ›verkrampften‹, ›kopflastigen‹ Vorgaben einer sprachreflexiv-avantgardistischen Poesie. Beide Abgrenzungen erfolgten im Namen eines in der literarischen Form Distanz herstellenden »Spleens«, also im Namen artistischer Verfahren einer romantisierenden Moderne mit Baudelaire und Mandelstam als Referenzinstanzen. Die von Grünbein angestrebte Weiterführung der Moderne als Übersteigerung der in einer Nische verbleibenden sprachreflexiv-avantgardistischen Position verläuft über eine Poetik der Vermischung des klinischen und des poetischen Blicks, für die Georg Büchner als Vorreiter angeführt wird.476 Auch die neusachlich-naturwissenschaftlich modifizierte romantische Moderne, die sich als »anthropologischer Realismus« oder als »literarische Anthropologie« versteht, erweist sich als eine »Poetik der Präsenz«.477 Wie schon bei Baudelaire erhalten die Dinge kraft visionärer Imagination und Sprache des distanzierten Beobachters Symbolkraft. Das ›realere Reale‹ offenbart sich in einer reflexiven und gleichzeitig ›alchemistischen‹ Beschwörung oder Evokation.478 Dabei ist die neu akzentuierte Bestimmung der Lyrik als eigenmächtiges Aufzeichnungsinstrument unwillkürlicher Reflexe in Anverwandlung der Reflextheorie Pawlows zentral, sowie als ein vom Wechselspiel zwischen Spannungen und Entladungen eines ›bloßliegenden Nervs‹ notwendig geleitetes Schreiben. Poetisches Schreiben versichert sich seiner Notwendigkeit und ob-
475 Ebd. Unter diesem ersten »Brief über Dichtung und Körper« findet sich eine Datierung als Geste des Zeitgemäßen, die in Spannung zum Gestus des Zeitenthobenen steht: »Berlin / 1/ 9/91«. Die Vorstellung, die ›Schädelnähte‹ nach Art einer Schallplatte hörbar zu machen, stammt aus Rilkes Text »Urgeräusch« (vgl. »Drei Briefe«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S.43). 476 Vgl. Grünbeins Büchner-Preisrede: »Den Körper zerbrechen«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 75–86. Der sozialkritische und politische Schriftsteller Büchner wird hier völlig ausgeblendet. 477 Wolfgang Riedel: Poetik der Präsenz. Idee der Dichtung bei Durs Grünbein. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 24 (1999), S. 82–105, hier S. 85. 478 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 178 f.
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jektiven Wahrheit über den Rückgriff auf die Maschinerie der unwillkürlichen Abläufe im Menscheninneren, die der kalte, naturwissenschaftlich informierte Blick registriert. In Grünbeins Poetik wird das Fragment zum sowohl materiellen als auch geistigen und phänomenologischen Bruchstück einer Kultur mit Bild- und Übertragungscharakter. Aus der spannungsgeladenen Assoziation dieser Elemente entstehen schlagartige Panoramen mit ›hyperrealistischer Präzision‹,479 die sich in einer autonomen Zeit-Logik entfalten. So sind im poetisch freigelegten Detail zwei zeitliche Tendenzen vorhanden: zum einen eine memorierende, quasi-archäologische Perspektive auf die Überreste einer vergangenen Totalität, zum anderen eine imaginierende, quasi-eschatologische Perspektive auf eine zukünftig zu erwartende Wiederherstellung kultureller Größe.480 In der Poesie von Grünbein, die vom Wechselspiel zwischen Memoria und Imaginatio geprägt ist, äußert sich eine »neue Faszination der Bilder des Organischen als radikale Verneinungsmöglichkeit jeder Form außengesteuerter Vereinnahmung im postmodernen Text«.481 Damit wird eine Distanzierung von der ›Vergesellschaftung‹, vom ›Zeitgeist‹ und vom ›Massenmenschen‹ gesichert, die für die Einnahme einer exklusiven ästhetischen Position im Nobilitierungssektor konstitutiv ist.482 Vergleichbar mit Strauß’ mythischem ›Zwischenraum‹ des Theaters und Handkes Poetik der narrativen »Zwischenräume« und der »Niemandsbucht« als Ausgangspunkt der Erzählung situiert sich Grünbein als Dichter im »Niemandsland«.483 Seine Gedichte befinden sich in den »rückwärtigen Räumen des Gedächtnisses«.484 Auch die Selbstbestimmung als solitärer Dichter (»Grenzhund«),485 der nach gesellschaftlicher Unbestimmtheit, Desinteresse (der ›kalte‹ Blick) und nach einer die widerstreitenden Denkimpulse übersteigenden Perspektive strebt, deutet auf die Einnahme einer exklusiven L’art pour
479 Vgl. Hermann Korte: Durs Grünbein. In: Arnold (Hg.): KLG, 72. Nlg. (2002), S. 1–17, hier S. 4. 480 Vgl. Müller: Das Gedicht als Engramm, S. 69. Müller wiederum bezieht sich auf Alexa Hennemann: Die Zerbrechlichkeit der Körper. Zu den Georg-Büchner-Preisreden von Heiner Müller und Durs Grünbein. Frankfurt a. M. u. a. 2000, S. 72 f. 481 Frank Hörnigk: Bilder des Organischen in der DDR-Literatur. Eine Beispielsreihe aus vier Jahrzehnten. In: Eggert, Schütz, Sprengel (Hg.): Faszination des Organischen, S. 285–302, hier S. 302. 482 Grünbeins Abwehr des (sozialistischen) »Massenmenschen« ist Gegenstand des Essays »Wir Buschmänner«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 197–209. 483 Schädelbasislektion, S. 191. 484 Durs Grünbein: »Mein babylonisches Hirn«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 18–33, hier S. 26. 485 Vgl. »Portrait des Künstlers als junger Grenzhund«. In: Schädelbasislektion, S. 183–197.
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l’art-Position. In dieser Hinsicht steht das »Portrait des Künstlers als junger Grenzhund« für die Abgrenzung der neuartigen, über die naturwissenschaftliche Wissenslogik der Notwendigkeit legitimierten Selbstermächtigung des poetischen »Niemands Land[es]« der »Leeren Zeichen« (Gedichtzyklen-Titel) von der profanen Welt, die von ›biologischen Reflexen‹ bestimmt ist. Nach Grünbeins Verständnis vollzieht sich in der transgressiven Bewegung einer naturwissenschaftlich gestützten, ›neuro-romantischen‹ Poesie eine Verlebendigung des toten Details. Damit verbindet sich eine an Mandelstam orientierte Überwindung der ›flächigen‹, sprachreflexiven Aneinanderreihung der Worte und eine Rückgewinnung des poetischen Raums der Sprache.486 Der Übergang vom ›flächigen‹, konstellativen Schreiben »am Schnittpunkt sehr vieler Stimmen« 487 über den Dialog mit den Stimmen der Toten (in Den teuren Toten [1994]) bis hin zur Freilegung von sprachlichen Bildräumen und Allegorien markiert Grünbeins Streben nach einer von sozialen und geschichtlichen Bestimmungen weitgehend enthobenen Position der ästhetischen Form. So wird zudem ein ›Kurswechsel‹ von der offenen, prozesshaften Form einer Avantgarde-Position in Grauzone morgens in Richtung einer in sich geschlossenen, souveränen Werkästhetik angezeigt. Die Hinwendung zum klassischen Kunstwerk deutet sich bereits am Ende des Bandes Falten und Fallen im Gedicht »Krater des Duris« an, das einen »Ausblick auf die Antike« bietet.488 Grünbeins Anverwandlung der Antike kommt dann in Nach den Satiren zu neuem Ausdruck.489 Zuvor soll aber gezeigt werden, dass auch seine naturwissenschaftlich gestützte, d. h. seine mit der Rhetorik des Wissensdiskurses und der Metaphorik der Naturwissenschaften angereicherte »neuro-romantische Poetik« in den neunziger Jahren mit anderen Autorpositionen in einer Konkurrenz um ›inspiratorische Größe‹ stand.
2.2.2 Raoul Schrotts Tropen (1998) und die Entwicklung einer Ästhetik des ›postmodernen Erhabenen‹ 490 Die poeta doctus-Position beinhaltet eine ästhetische Selbstbehauptung gegenüber den wechselnden Zeitläuften mittels der Anverwandlung naturwissen486 Vgl. Grünbein im Anhang zu Gedichte. Bücher I–III, S. 388. Mandelstam habe ihm in seinem Essay »Gespräch über Dante« die Augen geöffnet »für die dynamische Eigengesetzlichkeit poetischer Formkunst« (ebd., S. 389). 487 D. G.: Galilei vermißt Dantes Hölle (»Drei Briefe«), S. 46. 488 Vgl. Grünbein: Gedichte. Bücher I–III, S. 401; u. »Krater des Duris«. In: Ebd. (Falten und Fallen), S. 367. 489 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.4.1. 490 Vgl. zum Folgenden die Vorstudie von Tommek: Zur Entwicklung nobilitierter Autorpositionen.
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schaftlicher Wissensformen. Dadurch kann sie eine epistemologische und ontologische Notwendigkeit bzw. eine Objektivität beanspruchen, die im Zeitalter der »Wissensgesellschaft« die Funktion des »interesselosen Wohlgefallens« (Kant) zur Legitimierung der Kunst übernimmt. Die Erhabenheitspoetik von Raoul Schrott stellt hierbei eine weitere Variante dar. Der in Tunis aufgewachsene, vielgereiste österreichische Literaturwissenschaftler, Lyriker, Übersetzer und Herausgeber von Lyrik-Anthologien Raoul Schrott wurde ebenfalls in den neunziger Jahren durch seine poeta doctus-Position im deutschsprachigen literarischen Feld sichtbar.491 Die Anerkennung als Dichter äußerte sich in zahlreichen Auszeichnungen und Förderungen,492 die er im österreichischen literarischen Feld insbesondere von staatlicher Seite erhielt.493 Ähnlich wie Grünbein positionierte sich Schrott zunächst am avantgardistischen Pol mit seinen halb wissenschaftlichen, halb literarischen Studien zur Dada-Bewegung494 und mit seinen ersten eigenen literarischen Veröffentlichungen wie Makame (1989) oder Die Legenden vom Tod (1990), in denen er einige Vorab-Epitaphe auf Dichter der Wiener Gruppe wie H. C. Artmann, Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner verfasste. Außerdem mit Grünbeins Entwicklung vergleichbar ist ein deutlicher Positionswechsel um 1993: ein »Bestreben, über Sprache wieder Dinge, Orte und Räume zu definieren und große geistesgeschichtliche Bögen und innere Zusammenhänge herauszuarbeiten«.495 Es folgte ein symbolischer Aufstieg über die Rückbindung seiner Dichtung an existentielle und phänomenologische Prämissen, die mit neuen Synthese-, Objektivitäts- und Wahrheitsansprüchen einhergingen.
Die aufstrebenden Entwicklungen als poetae docti verliefen im Feld so eng beieinander,496 dass Mitte der neunziger Jahre eine direkte Konkurrenz um eine 491 Das Buch, das Schrott die größte Beachtung als ›gelehrter Dichter‹ sicherte und zugleich auch einen gewissen kommerziellen Erfolg darstellte, war Die Erfindung der Poesie: Gedichte aus den ersten viertausend Jahren (Frankfurt a. M. 1997): eine ambitionierte Übersetzung und Kommentierung von Gedichten aus verschiedenen Sprachen wie Griechisch, Alt-Irisch, Walisisch oder Arabisch. 492 So z. B. der Leonce-und-Lena-Preis (1995), der Berliner Literaturpreis (1996) oder auch der Joseph-Breitbach-Preis (2004), der der höchstdotierte deutsche Literaturpreis ist (50.000 A). 493 Schrott erhielt z. B. das Österreichische Staatsstipendium (1993), den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb (1994), den von der Salzburger Landesregierung verliehenen Rauriser Literaturpreis (1996), den Österreichischen Förderungspreis für Literatur (2002), den Sebetia Ter-Kulturpreis der G7-Konferenz in Neapel (1998) und den Tiroler Landespreis für Kunst (2009). 494 Dada 21/22. Musikalische Fischsuppe mit Reiseeindrücken. Eine Dokumentation über die beiden Dadajahre in Tirol. Nachwort von Gerald Nitsche. Innsbruck 1988 (zugleich Dissertation an der Universität Innsbruck); Dada 15/25. Post scriptum oder Die himmlischen Abenteuer des Hr.n. Tristan Tzara. Mit einem Suspensarium von Gerald Nitsche zu Elde Steeg & Raoul Hausmann. Innsbruck 1992 (Neuausgabe u.d.T.: Dada 15/25. Dokumentation und chronologischer Überblick zu Tzara & Co. Köln 2004); DADAutriche 1907–1970. Hundert Jahre DADA in Österreich. Hg. zus. mit Günther Dankl. Innsbruck 1993. 495 Thomas Kraft, Enno Stahl: Raoul Schrott. In: Arnold (Hg.): KLG, 87. Nlg. (2007), S. 5. 496 Vgl. auch Thomas Klings Laufbahn; siehe dazu unten: III. 3.1.
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naturwissenschaftlich gestützte ›inspiratorische Größe‹ entstand. Diese zeigt sich an Schrotts Polemik gegen Grünbeins Konzeption einer ›neuro-romantischen Poesie‹, insbesondere in seinem »Pamphlet wider die modische Dichtung«.497 In der Konkurrenz um die Neubegründung einer ästhetisch souveränen Position hält Schrott Grünbein eine Unterordnung unter die Naturwissenschaften vor. Neben der »nichtssagenden Beliebigkeit der modernen Lyrik« und ihrem »Zynismus« (9) kritisiert Schrott ein Versagen der Lyrik, da sie nach wie vor die Wirklichkeit zu transzendieren suche (vgl. 11), wodurch »Objektbeziehungen zerfallen« würden (13). Grünbeins ins literarische Werk übersetzten ›Verhaltenslehren der Kälte‹ und seinem ›Pathos der Distanz‹ setzt Schrott ein Streben nach »größtmögliche[r] Unmittelbarkeit und Intensität«, nach »direkteste[m] Zugriff auf Wirklichkeit« entgegen (21). Und genau hier sieht er die Dichtung nicht nur auf gleicher Augenhöhe mit den Naturwissenschaften, sondern ihr sogar überlegen, denn das von der Physik herausgefilterte »Rauschen […] überprüft die Poesie [...] auf ihre humane Relevanz, holt sie zurück in eine Unmittelbarkeit und macht sie, wenn schon nicht den Sinnen, dann wenigstens dem Sinn zugänglich« (43). Die von Schrott vertretene Konzeption einer Poesie, die sowohl die physikalischen Fakten als auch die von der Physik nicht erfassten ›Unschärfen‹ umfasst, sie »auf ihre humane Relevanz« hin überprüft und »dem Sinn zugänglich« macht (43), grenzt sich deutlich von Grünbeins neusachlich-distanzierter, ›posthumanistischer‹ Poetik ab. Entsprechend bekennt sich Schrott zu einem ›para-doxen‹ Literaturverständnis, das er auf die zwei entgegengesetzten poetischen Ordnungen des Surrealismus und des Existentialismus zurückführt (vgl. 120). So geht es ihm um ein unmittelbares Lustprinzip und zugleich um eine existentielle Rückbindung der Poesie, wodurch er den Neuentwurf eines emphatischen Subjekt-Begriffs als Grundlage der Dichtung vorlegt. Hierin lässt sich eine Kompromissbildung mit der Größenordnung des alltagskulturell und medial geprägten Mittelbereichs, der »Welt der Meinung«, erkennen, in der der Subjektkonstitution und persönlichen Identifikation ein zentraler Stellenwert zukommt. Andererseits ist in Schrotts Kompromissbildung das Bekenntnis zur ästhetischen Größenordnung der »Welt der Inspiration« weiterhin dominant. Denn grundlegender als der emphatische Subjekt-Begriff, der anthropologisch-existenziell gewendet und damit der sozialen Zeit enthoben wird, ist für ihn die Reaktualisierung des traditionellen Begriffs einer epiphanischen ›Selbstevidenz der Schönheit‹ (vgl. 9) und einer poetischen Inspirations-Lehre als modernisiertes »Ereignis der Musen«:»Und der Satz, der sich im Kopf materialisierte, kristallisierte, wie aus einer gesättigten Lösung, war nichts eigenes und war es doch – darin lag für mich eine Schönheit, die ich auch selbst empfinden konnte« (124).
An Schrotts Konzeption eines poetischen ›Kristallisationsprozesses‹ lässt sich die Umstellungsstrategie des neuen poeta doctus ablesen, und genauer: wie
497 Raoul Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches – Poetisches – Privates. Frankfurt a. M. 1999, S. 7–25 (erstmals erschienen unter dem Titel: Fragmente einer Sprache der Dichtung. Grazer Poetikvorlesung. Graz, Wien 1997); folgende Nachweise im Fließtext aus dieser Ausgabe; zur Polemik gegen Grünbein vgl. auch Hoffmann: Poetologisierte Naturwissenschaften, S. 183–186.
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sich der Rückgriff auf die Naturwissenschaften in den 1990 er Jahren in dominante ästhetische und ideengeschichtliche Traditionen einfügt. Die programmatische Verschränkung von ›ingenium‹ und ›ars‹,498 von Traditionsaufnahme und Traditionsverwandlung, die den poeta doctus seit der römischen Antike auszeichnet, tritt bei Schrott in Form eines Übergangsprozesses von einer surrealistisch-performativen Initiation hin zur ›naturhaft-notwendigen‹ Ausbildung poetischer Formen auf. Die Souveränität des poetischen Subjekts wird dabei zunächst ›posthumanistisch‹ transformiert über die Anlehnung an eine objektive, ›natürliche‹, von innerer Notwendigkeit geprägte, epiphanische ›Kristallisation‹ der poetischen Sprache (vgl. auch 41 f.). Ihr entspricht Grünbeins Konzept der »biologischen Poesie« und des Gedichts als »Engramm«: als eine dem Subjekt nicht verfügbare und daher objektive Gedächtnisspur des »neuronalen Gewitters« oder des »Pawlowschen Reflexes« des Menschen. Schrott suchte nach einer naturwissenschaftlichen Analogie zur dichterischen Inspiration und stieß auf den Begriff der »Symmetrie«, auf das »richtige Maß, die ebenmäßige Proportion« (34), die Kunst und Natur verbinde. Mit der Idee einer »sich selbst genügenden Symmetrie« (35) steht er – wie Grünbein – einem klassizistischen499 und symbolistischen L’art pour l’art-Verständnis nahe, das durch eine höhere Notwendigkeit gerechtfertigt ist, die das Subjekt übersteigt. Die Analogie-Setzung von Poesie und Naturwissenschaft garantiert hier also eine ›naturhafte‹ Symmetrie höherer Ordnung, die sich in einer Oszillationsbewegung (Kristallisation) ausprägt. Ähnlich der frühromantischen Poetik einer »transzendentalen Universalpoesie« (Friedrich Schlegel), die die Physik der Welt in einer arabesk-asymptotischen Bewegung romantisierend übersteigt,500 wird das poetisch-naturwissenschaftliche Schreiben der Gegenwart in den immanenten Welterfassungsprozess selbst verlegt. Dies geschieht über einen neu eingeführten, emphatischen Erfahrungsbegriff. Entsprechend wandelt sich bei Schrott die transzendentale Reise ins Innere zur realen Reise zu
498 Zur Synthese von ›Inspiration‹ und ›Handwerk‹ beim poeta doctus vgl. Barner: Poeta doctus, S. 745 f. 499 »[D]ie Kunst […] entspringt unserer Sehnsucht sowohl nach Schönheit als auch nach Wahrheit, sowie unserem Wissen davon, daß beides nicht identisch ist. Und doch bedingen sie einander« (Die Erde ist blau, 35). 500 Im Zusammenhang mit dem Entwurf einer neuen Mythologie greift bereits Schlegel im Gespräch über die Poesie auf das Leitparadigma der Physik zurück: »Die Spuren einer ähnlichen Tendenz könnt ihr schon jetzt fast überall wahrnehmen; besonders in der Physik, der es an nichts mehr zu fehlen scheint, als an einer mythologischen Ansicht der Natur« (Friedrich Schlegel: Kritische und theoretische Schriften. Auswahl u. Nachwort v. Andreas Huyssen. Stuttgart 1984, S. 193).
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den entlegensten Orten und Landstrichen der Welt. Die realen Transit-Erfahrungen und die ›Romantisierung der Welt‹ werden zur spiegelbildlichen bzw. komplementären Reihe kursorischer Einträge ins ›Logbuch‹ einer raum-zeitlichen, sowohl geografischen als auch poetisch-ästhetischen Expedition.501 Der neue gebildete Autor als Reisender, der Wissenschaft und Poesie verbindet, wird zum modernen »Navigator auf den Weltmeeren einer zeit- und ortlosen Informationsflut«.502 Dem epistemologischen Status der Dichtung kommt dabei zugute, dass die ›Symmetrien der Welt‹ auch in physikalischer Sicht nur asymptotisch und metaphorisch zu erfassen sind.503 Die metaphorisch verfassten Sprachbilder, die die Brücke zwischen dem Bildspender der oszillierenden, mehrdeutigen Objekte und dem Bildempfänger der ›kristallisierten‹ symmetrischen Ordnung schlagen, bilden das epistemologisch-anthropologische Apriori.504 Auf dieser Grundlage kann das Gedicht zur »präziseste[n] erkenntnistheoretische[n] Maschine, die es überhaupt gibt«, erklärt werden.505 Mit dieser Bestimmung ist die objektive Rechtfertigung des ›Wahrheitsgehalts‹ des Kunstwerkes gewährleistet: seine göttliche Notwendigkeit hat sich in eine physikalische gewandelt. Der objektive Wahrheitsanspruch aus vormodernen Zeiten, den das Kunstwerk seit der Moderne verloren hat, wird über eine postmoderne Modifikation – das Gedicht als epistemologische Maschine – zurückgewonnen. Da sich hier ähnlich wie in Grünbeins Poetik an den Grenzen der physikalischen Vermessung die Natur in ihrer ›kalten Indifferenz‹ zeigt, führt die poeti-
501 Vgl. Raoul Schrotts Roman Finis Terrae (1995). 502 Gert Mattenklott: Der gebildete Autor. Plädoyer für einen altmodischen Typ. Vortrag auf dem P. E. N.-Vorkongress 2006: Kapitulation oder neue Herausforderung? Schriftsteller in der Mediengesellschaft am 24. März 2006 im Plenarsaal der Akademie der Künste, Berlin (www.oton.radio-luma.net/php/240306_PEN-vorkongress_vortrag_gert_mattenklott.php; abgerufen am 13. 9. 2012). 503 Schrott verweist in diesem Zusammenhang immer wieder auf Niels Bohr (vgl. 25), auf die Quantentheorie und ihre Wellen- und Teilchen-Kipp-Perspektive oder auf das Beispiel der »Schrödinger Katze« (vgl. 49–73). Die metaphorische Spracharbeit kann dadurch zur gemeinsamen Grundlage von Naturwissenschaft und Poesie werden. 504 »Die Basiselemente unseres Denkens sind also Bilder, und sowohl Worte wie willkürliche Symbole bauen auf diesen topographisch organisierten Repräsentationen auf« (22). Diese Primärsetzung der bildhaften gegenüber der begrifflichen Erkenntnis kann sich auf Hans Blumenbergs »Metaphorologie« berufen. Dessen These von der Lesbarkeit der Welt (1981), die unmittelbar an die romantische Signaturenlehre anschließt, entspricht auch programmatisch Schrotts Bestimmung der Poesie. Allerdings ersetzt er das romantische »geheime Wort« (Novalis) durch eine analogisch physikalisch begriffene, unendliche Oszillationsbewegung zwischen »Text« und »Kommentar« (s. u.). 505 Raoul Schrott, zit. n. Leeder: »Erkenntnistheoretische Maschinen«, S. 154.
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sche Vermessung weiter in eine neuartige, existentialhermeneutische und rhetorische Erfahrung des Erhabenen, wie Schrott in Tropen. Über das Erhabene (1998) darlegt.506 Seiner Intention nach zeichnet der Gedichtband sowohl rhetorische als auch geografische »Tropen« nach als eine neue Form der Annäherung an das Erhabene, das nicht mehr in der Naturerfahrung selbst, sondern allein in der literarischen Form situiert werden kann.507 Tropen. Über das Erhabene erinnert auf den ersten Blick an ein Reisetagebuch oder Notizbuch einer realen wie auch poetisch-imaginären Expedition, wodurch die ›Welthaftigkeit‹ und ›Sinnlichkeit‹ der Poesie in Anlehnung an ihre vormodernen, mythischen Anfänge signalisiert ist. Schrott reaktualisiert die ›heilige Naturerkundung‹ des nomadischen Dichters, indem er sie mit modernen liminalen Reise- und Transiterfahrungen koppelt. Deren symbolischer Ort sind u. a. die »Hotels« als Transitorte, wie auch ein Gedichtband von 1995 heißt. Zur Anspielung auf ein wissenschaftlich-poetisches Diarium einer Expedition kommt eine Text-Kommentar-Anordnung der Seiten hinzu: rhetorische Fachbegriffe, naturwissenschaftliche oder historische Anmerkungen auf der einen Seite kommentieren direkt oder indirekt die Gedichte auf der anderen, wobei das weiße Papier dazwischen die für Schrotts neue Konzeption eines postmodern-rhetorisch gefassten Erhabenen zentrale Leerstelle symbolisiert.508 Der poeta doctus zeigt hier seine angestrebte Doppelpräsenz und genauer: seine permanente und damit zugleich stillgestellte (›kristallisierte‹) Oszillationsbewegung zwischen ›Primärtext‹ und ›Kommentar‹.509 Diese Konstellation von Text und Kommentar bzw. Poesie und Naturwissenschaften lässt sich im Lichte von Foucaults Wissenschafts- und Wahrheitsanalytik verstehen. Einer der internen Kontrollmechanismen zur Herstellung eines Wahrheitsdiskurses wird laut Foucault über »Kommentar« und »Kritik« bedient. Beide Methoden ziehen die hierarchische Grenze zwischen Primär- und Sekundärtext und sichern zudem die Autorität des verlöschenden Primärtextes und seiner ›stummen Existenz‹.510 Auf Schrotts Poetik übertragen zeigt sich die Herstellung
506 Raoul Schrott: Tropen. Über das Erhabene. Frankfurt a. M. 2002; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 507 Vgl. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen, S. 149, Anm. 12. 508 »Die Leere zwischen der Glosse und dem Gedicht markiert den Abgrund zwischen der wissenschaftlichen und der poetischen Diskursformation. Im Zusammenspiel von Glosse und Gedicht wird für den Leser damit jene ›Grenze zwischen Erkenntnis und Wahrnehmung‹ sichtbar, die Schrott als ein einschlägiges Kennzeichen ›des Erhabenen‹ begreift«(ebd., S. 153). 509 Exemplarisch wird dieser »Bogen« im Gedicht »Physikalische Optik V« geschlagen: Während auf der linken Seite der quasi-naturwissenschaftliche, essayistische Kommentar das Naturschauspiel einer spiegelbildlichen Bildung eines »flache[n], dunkelblaue[n] Band[es] unter dem hellen und roten Bogen der Gegendämmerung« vor Sonnenuntergang beschreibt, kündet analogisch dazu das Gedicht auf der rechten Seite von »eos« (Tropen, S. 22 f.). 510 »Seit dem klassischen Zeitalter entfaltet sich die Sprache innerhalb der Repräsentation und in deren Spaltung (dédoublement), durch die sie ausgehöhlt wird. Künftig erlischt der erste Text und mit ihm der unerschöpfliche Grund der Wörter, deren stumme Existenz auf den Dingen eingeschrieben war. Als einzige verbleibt die Repräsentation, die sich in den sprachlichen, sie manifestierenden Zeichen abwickelt und dadurch zum Diskurs wird« (Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt a. M. 1974, S. 115).
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eines postmodern-erhabenen Wahrheitsdiskurses über den kontrollierenden Einbezug des Sich-Entziehenden, über die Setzung eines populärwissenschaftlichen Kommentars und eines lyrischen Primärtextes auf eine epistemologische Ebene. In der Konstellation der wechselseitigen Rechtfertigung lässt sich Schrotts Konzeption der wissenschaftlich-poetischen Annäherung als ›Kristallisationsprozess‹ wiedererkennen: Wie die Metapher schlägt der Kommentar hier iterativ den Sprung über die ›Leere‹ des Papiers hinweg zum lyrischen Primärtext und wieder zurück. Auf diesem Sprung über die Grenze der ›Leere‹ zwischen wissenschaftlicher und poetischer Wahrheit gründet sich die neue poetische Erhabenheit. Ein weiterer Wahrheits- und Erhabenheitsanspruch zeigt sich im Gesamtaufbau des Textes, denn der Gedichtband, der als Notizbuch einer Expedition präsentiert wird, birgt in sich eine Struktur, die auf das Programm einer Vermessung der ›göttlichen Höhen‹ und ›bestialischen Tiefen‹ verweist. So scheinen die fünf »Stücke« des Bandes unterschwellig auf die fünf Akte der Tragödie anzuspielen, wobei die »Inventarien« I und II eine Art Pro- und Epilog bilden. Die Tragödie, die das ›Diarium der Tropen‹ verzeichnet, zielt auf eine vormodern, d. h. im Mythos fundierte und zugleich postmodern gefasste Naturgeschichte. Im Tropen-Band geht es Schrott schließlich explizit um eine ›Sichtbar-Werdung‹ des »Hohen« anhand einer sprachlichexistentialhermeneutischen Annäherung.511 Die ›Vermessung der Welt‹ durch den poeta doctus strebt nach der poetisch-rhetorischen Erfassung des Erhabenen und Hohen als Auslotung der Extreme der menschlichen Existenz (›Größe‹ und ›Bestialität‹) in naturgeschichtlichen Dimensionen. Die Suche nach dem Erhabenen ist insofern postmodern, als sie den Kantschen und Schillerschen Rekurs auf eine übergeordnete moralische Idee in eine körperlich-sinnlich gefasste, zwischen Kommentar und Poesie unendlich oszillierende (Schrift-)Bewegung umwandelt, die auf Erfahrungen der Leere, der Indifferenz und der Gestaltlosigkeit gründet.512 Die Tropen, »die mit ihren ungewohnten Sichtweisen jene paradoxalen Analogien erzeugen, die das Unfaßbare der Natur anzudeuten imstande sind« (207), erfahren in der ästhetischen Erhöhung durch Untergang und Vernichtung, in der Darstellung des Erhabenen und Numinosen durch eine permanente, flüchtige Schriftbewegung zwischen Poesie und Kommentar ihre neue, nicht mehr moralisch, sondern postmodern-rhetorisch fundierte Rechtfertigung und Selbstermächtigung.513
511 »Das Hohe ist eine Annäherung an das, was jenseits unmittelbar menschlicher Belange steht, um über der eigenen Endlichkeit bewußt zu werden. Zu dieser Einsicht verhelfen die Stimmen von hohen und niederen Gottheiten – trotz allem Schrecken ist der Mensch in ihnen noch aufgehoben, verleihen sie ihm eine Ahnung der eigenen Größe und Bestialität« (207). 512 Vgl. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen, S. 153, siehe auch S. 155: »Was Lyotard über erhabene Kunst allgemein schreibt, gilt somit auch für ein Gedicht wie Physikalische Optik II oder Physikalische Optik V: ›es versucht darzustellen, daß es ein Nicht-Darstellbares gibt, es ahmt nicht die Natur nach, es ist ein Artefakt, ein Trugbild‹«. 513 Den Höhepunkt der tragischen ›Vermessung der Welt‹ stellt das 5. Stück mit den Abschnitten »Über das Erhabene« und »Gebirgsfront 1916–18« dar. Hoffmann weist auf die ›betont unpoetische‹ Kriegsopfer-Darstellung hin und leitet daraus eine Kritik Schrotts an einem instrumentalisierten Erhabenheitsbegriffs ab. Er sieht hierin auch einen deutlichen Unterschied zu Ernst Jüngers Konzeption einer Erhabenheitserfahrung im Krieg (vgl. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen, S. 273, vgl. auch S. 277 ff.). Die Dekonstruktion und ›Humanisierung‹ einer solchen monumentalen Erhabenheitserfahrung des Krieges sind bei Schrott jedoch nicht so eindeutig von einer Kriegsfaszination als Erfahrung eines existentialhermeneutischen ›Ausnahmezustands‹ zu trennen. Wie lässt sich sonst erklären, dass Schrott an dieser
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Der Nobilitierungssektor
In der naturwissenschaftlich gestützten Ästhetik Schrotts wird das Erhabene zur hybriden Kategorie, die Elemente einer vormodernen, mythisch-kosmologischen Ontologie und Epistemologie in sich fasst. Mit der Metapher und dem Verhältnis von Kommentar und Poesie als oszillierendem Brückenschlag wird im poetischen Reisetagebuch des modernen poeta doctus der Anspruch auf die Les- und Darstellbarkeit der im naturwissenschaftlichen Kern schweigsamen, indifferenten Natur gestellt. Durch die poetische Verknüpfung von der naturwissenschaftlichen und einer vormodern-mythischen Erfassung der Welt gelangt die poetische Erfahrung des Menschen im Zeitalter der Krise der Repräsentation und des ›Verschwindens des Menschen‹ (Foucault) zu einer neuen Souveränität, die in der Figur des asymptotischen Verweises zum Ausdruck kommt. Feldanalytisch lassen sich diese literarischen Verfahren zur Neuvermessung der ›Naturgeschichte der Höhen und Tiefen‹, diese topografisch organisierten Repräsentationen, als Umstellungsstrategien zur Wiederherstellung einer symbolischen Exzellenzposition der Dichter-Berufung im Nobilitierungssektor verstehen. Die ›Vermessung der Welt‹ durch den neuen poeta doctus auf vermeintlicher Augenhöhe mit der herrschenden Wissensordnung der Naturwissenschaften wendet ihr epistemologisches ›Zurückfallen‹ in ein ›Übersteigen‹: Über die Figur des tragisch Erhabenen wird die offenbare Not, die unvermittelte Leere zwischen den beiden Wissensordnungen, zur rettenden Tugend und zum Distinktionszeichen des Gedichts als ›Erkenntnismaschine‹ einer höheren Notwendigkeit umgewandelt.
2.2.3 W. G. Sebalds »Naturgeschichte der Zerstörung« und die Neubesetzung der literarischen Gedächtnisposition Die Herstellung einer literarischen ›Größe‹, die Nobilitierung einer Autorposition, bedarf der Anerkennung ihrer Legitimität und der Beglaubigung ihrer symbolischen Repräsentation. Anerkannte Repräsentationsverhältnisse transzendieren subjektive Urteile und Einzelinteressen. Der Rang ›großer Kunst‹ behauptet eine das subjektive Urteil transzendierende Objektivität und Notwendigkeit. Seit der Grundlegung der »Analytik des Schönen« in Kants Kritik der Urteilskraft ist die Ästheten-Position am L’art pour l’art-Pol über das »interesselose Wohlgefallen« als allgemein geteiltes subjektives Geschmacks-
Stelle überhaupt auf die »Gebirgsfront 1916–18« zurückgreift? Dieser Teil folgt einer dreiteiligen Konzeption nach dem Vorbild Dantes: Inferno (»I Castel Dante«), Purgatorio (»II Col Santo«), Paradiso (»III Passo Paradiso«). Für die ›Humanisierung der Perspektive‹ spricht allerdings das Schlussmotiv der Überlebenden, die wieder ins Tal hinabsteigen (vgl. 204).
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urteil gerechtfertigt.514 Ein Universal- oder Notwendigkeitsanspruch kann sich auch – wie anhand von Grünbeins und Schrotts Lyrik gezeigt – über den Rückgriff auf den Wahrheits- und Größenbegriff der Naturwissenschaften begründen. Entsprechend hat auch Kants »Analytik des Erhabenen« eine dem »interesselosen Wohlgefallen« analoge Rechtfertigungsfunktion. Sie betrifft die »Größenschätzung der Naturdinge, die zur Idee des Erhabenen erforderlich ist«.515 Die ästhetisch-erhabene Wertschätzung zielt hier auf eine Zusammenführung und Transzendierung der unendlichen Anhäufung sinnlicher Naturdinge in eine »Größe schlechthin«, die nach Kant nur als ein »übersinnliches Substrat«, d. h. als Vernunft- oder sittliche Idee a priori, zu erfassen ist.516 Eine Variante dieses »übersinnlichen Substrats« bildet die Idee einer Naturgeschichte. Mit ihr verbindet sich eine weitere Möglichkeit, eine ästhetische Position mit Universalanspruch in der Gegenwartsliteratur zu legitimieren, wie nun am Beispiel der Genese und Struktur von Winfried Georg Sebalds Autorposition verdeutlicht werden soll. Für den 1944 in Wertach im Allgäu geborenen Sebald waren zeit seines Lebens die problematische Beziehung zu seinem Vater sowie die Zerstörungen in der Nazi- und Kriegszeit und deren Verdrängung in der Nachkriegszeit prägend.517 Der Vater, ein Berufssoldat der Wehrmacht, verkörperte für ihn den typischen Mitläufer in einem totalitären System. Die Heimat war für Sebald weniger Alpenidylle als exemplarischer Ort einer allgegenwärtigen Verdrängung der »Schmerzensspur« der Vergangenheit.518 Die Auseinandersetzung mit der für die Deutschen der Nachkriegszeit charakteristischen »Unfähigkeit zu trauern« 519 ergänzte eine Wahlverwandtschaft mit den melancholischen Ausgewanderten an den Rändern der westlichen Zivilisation, deren Geschichte sich auf Gewalt und Zerstörung gründet. Das Selbstverständnis eines Ausgewanderten überlagerte sich früh mit der eigenen beruflichen Entwicklung: 1965 wechselte Sebald an die Universität Fribourg in der Schweiz, um dort sein Studium der Germanistik und Anglistik abzuschließen. 1966 wurde er Lecturer an der University of Manchester. Nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit als Lehrer in St. Gallen kehrte er 1969 nach England zurück, wo er 1970 eine Anstellung als Lehrbeauftragter an der University of East Anglia fand. Mit dem Selbstbild eines Ausgewanderten und freiwillig Marginalisierten verband sich bald das eines ›Anti-Germanisten‹. So provozierte Sebald bereits in seiner Lizenziats- bzw. Ma-
514 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Werkausgabe in 12 Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, Band X, § 8, S. 127–131. 515 Ebd., § 26, S. 172–180. 516 Ebd., S. 173 u. S. 178. 517 Sebald hatte seine Vornamen (Winfried Georg) auf Kürzel reduziert, weil ihm »Winfried« als zu »völkisch« erschien und »Georg« der Vorname seines Vaters war (vgl. Uwe Schütte: W. G. Sebald. Einführung in Leben und Werk. Göttingen 2011, S. 17). 518 W. G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 2001, S. 12; Nachweise im Folgenden im Fließtext mit Sigle LL und Seitenzahl. 519 Alexander u. Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. München 1967; vgl. Sebald: Luftkrieg und Literatur, S. 90.
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gisterarbeit (1969) über Carl Sternheim und insbesondere in seiner Dissertation über Alfred Döblin (1973) mit »ressentimentgeladenen Polemiken und moralisierenden Rufmordversuchen«,520 die ihn auf Distanz zur institutionalisierten Literaturwissenschaft brachten. Trotzdem habilitierte er sich 1986 an der Universität Hamburg mit Die Beschreibung des Unglücks: einer Sammlung von Essays über große, von ihm geschätzte Schriftsteller der österreichischen Literatur wie Adalbert Stifter, Thomas Bernhard oder Peter Handke, in denen er den Ansatz, psychopathologische Fragen nach der moralischen Integrität von Autoren auf die Literatur anzuwenden, weiter verfolgte. Im Unterschied zu den frühen Arbeiten wurden diese Essays als kongenialische literarische Studien rezipiert. Ihre Nähe zum »literary criticism« empfahl Sebald als Autor und Literaturwissenschaftler im angelsächsischen Raum, weniger aber für eine germanistische Professur in Deutschland. So wurde er 1988 zum »Professor of European Literature« an der University of East Anglia in Norwich befördert. Ein Jahr später gründete er hier das »British Centre for Literary Translation«. In dieser Zeit begann Sebald mit der Arbeit an eigenen literarischen Texten. Dabei stand sein Schreiben von Anfang an (Nach der Natur, 1988) im Zeichen einer »Beschreibung des Unglücks«. 1990 erschien sein erster Prosaband Schwindel. Gefühle, der bereits die stille Trauer über die Verbrechen der Nationalsozialisten zum Ausdruck brachte. Im gleichen Jahr las er auf dem Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, jedoch noch ohne Erfolg. Der im Herbst 1992 publizierte Erzählband Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen war hingegen erfolgreich. Spätestens in dieser Zeit setzte sich bei Sebald ein Selbstverständnis als Schriftsteller durch. Bestätigt wurde es durch die positive Besprechung des Erzählbandes im »Literarischen Quartett« Anfang 1993. Es folgten daraufhin zahlreiche nationale und internationale Lesereisen und erste Literaturpreise, wie z. B. der Berliner Literaturpreis 1994. Mit Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995) legte Sebald erstmals einen Roman vor, mit dem er die melancholisch-allegorische Erzählweise unter Einbezug von Fotografien endgültig zum Kennzeichen seiner Gedächtnisprosa machte. Mit der Aufnahme in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt im Oktober 1996 erreichte das nationale Ansehen des Autors einen Höhepunkt. Im gleichen Jahr erschien die englischen Ausgabe The Emigrants, die den internationalen Durchbruch, vor allem im amerikanischen Raum, bedeutete. Signalwirkung für die internationale Rezeption hatte Susan Sontags emphatische Besprechung der Emigrants in »The Times Literary Supplement« im November 1996. Sontag präsentierte Sebald nicht mehr als deutschen Autor, sondern erhob ihn in den Rang eines der wichtigsten zeitgenössischen Autoren Europas. Sein Erzählstoff sei die Bestandsaufnahme einer europäischen Zivilisation. 1997 erhielt Sebald das Angebot, an der Universität Hamburg ein »Institut für Kreatives Schreiben« zu gründen, das er ablehnte. Dagegen nahm er die Einladung zu einer Poetikvorlesung an der Universität Zürich an. Sie wurde 1999 unter dem Titel Luftkrieg und Literatur veröffentlicht und löste eine heftige Debatte in den Feuilletons über die vermeintliche Verdrängung der Erinnerung an die Heimat-Zerstörung und an die eigenen Opfer in der deutschen Nachkriegsliteratur aus. Der Austerlitz-Roman von 2001 wurde schließlich Sebalds weltweit größter Erfolg. Ein New Yorker Literaturagent positionierte ihn als Bestseller auf dem anglo-amerikanischen Buchmarkt.521 Spätestens seitdem galt Sebald im internationalen literarischen Feld und insbe-
520 Schütte: Sebald, S. 222. 521 Vgl. ebd., S. 32.
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sondere in Amerika als ein Star-Autor der »Holocaust«-Literatur.522 Wenige Zeit später, am 14. Dezember 2001, verstarb Sebald bei einem Autounfall.
Sebalds Entwicklung steht für den außergewöhnlichen Aufstieg eines Literaturwissenschaftlers, der aus einer süddeutschen, von Krieg und Vertreibung weitgehend verschonten Provinz stammte, in der Auslandsgermanistik reüssierte, erst mit 44 Jahren zu schreiben begann und zum international hochangesehenen Autor einer Shoah-Gedächtnisliteratur wurde. Wie lässt sich diese unwahrscheinliche Karriere erklären? Der wichtigste Grund liegt in der literarischen Qualität von Sebalds Schreiben. Es steht für die Möglichkeit einer Weiterführung der großen Erzählwerke der europäischen Moderne, insbesondere der Gedächtnisprosa Marcel Prousts. Sebalds emphatisches Erzählen zielt auf eine Universalgeschichte der Destruktionen der westlichen Zivilisation. Mit seiner auf den Begriff einer »Naturgeschichte der Zerstörung« (LL 38) gebrachten Literatur wendet sich Sebald gegen die Verdrängung von Erinnerung, gegen das Vergessen der »Schmerzensspur[en]« (LL 12), deren Kulminationspunkt er in der Shoah sah. Dabei greift er – hierin Walter Benjamin folgend – Prousts Idee einer »mémoire involontaire« auf, die für eine durch die einzelnen Dinge unwillkürlich ausgelöste Wiederkehr verloren geglaubter Erinnerungen steht. In ihrem Zentrum steht ein »unverhofftes Wiedersehen« (Johann Peter Hebel) mit den Toten der Geschichte. Für Sebald, dessen Sicht von Benjamins Thesen zur Geschichte, Adornos dialektischer Aufklärungskritik und Mitscherlichs Sozialpsychologie geprägt war, bildete die Ausblendung der »Schmerzensspuren« die Grundlage einer westlichen Kultur, deren innere Signatur Naturausbeutung, wirtschaftlicher Aufstieg und menschliche Entfremdung ist, wie sich auch im Deutschland der Nachkriegszeit zeigte (vgl. LL 14). Die »Beschreibung des Unglücks«, das Auflesen der Gewaltspuren, wurde für Sebald zum Stachel, der sein Schreiben antrieb. Sein Erzählen nahm die Form einer Quête, einer Suche nach den verwischten Spuren der Vergangenheit an. Dadurch schrieb er sich in die großen Traditionslinien des europäischen Epos ein. Deutlich an Walter Benjamin anschließend,523 verdichtet sich die Koinzidenz der geschichtlichen Spuren in der allegorischen Lektüre zu Konstellationen, die auf ein historisch indiziertes
522 »Der amerikanische Kritiker Richard Eder etwa stellte ihn in eine Reihe mit dem Auschwitz-Überlebenden Primo Levi und promovierte ihn zum ›prime speaker of the Holocaust and […] the prime contradiction of Adorno’s dictum that after it, there can be no art‹« (ebd., S. 30). 523 Vgl. Anja Lemke: Figurationen der Melancholie. Spuren Walter Benjamins in W. G. Sebalds »Die Ringe des Saturn«. In: Yahya Elsaghe, Luca Liechti, Oliver Lubrich (Hg.): W. G. Sebald. Neue Wege der Forschung. Darmstadt 2012, S. 15–52.
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»übersinnliches Substrat« (Kant), auf eine negative sittliche Idee, auf die Tragödie der universalen Zerstörung als transzendentales Prinzip der Geschichte verweisen. Die Erfahrung von Krieg und Zerstörung, die Sebald als innersten Antrieb seines Schreibens anführt, ist jedoch nicht von erster Hand, sondern von ›zweiter Natur‹. Sebald ist kein Zeitzeuge. Seine Heimatregion, das ländliche Allgäu rund um Sonthofen, wo es im wörtlichen Sinne eine Hochburg der Nazis gab (vgl. LL 80 f.), war vom Krieg weitgehend verschont geblieben. Hinzu kommt, dass der Autor bei Kriegsende erst ein Jahr alt war und daher keine eigenen Kriegserinnerungen haben konnte, wie er selbst anmerkt (vgl. LL 76 f.). Trotzdem reklamiert Sebald eine traumatische ›Abstammung‹ aus dem Krieg, »als fiele von dorther, von diesen von mir gar nicht erlebten Schrecknissen, ein Schatten auf mich, unter dem ich nie ganz herauskommen werde« (LL 77 f.). Der Schatten der nicht erlebten Schrecknisse ist vor allem ein intellektuell und literarisch vermittelter. Das Gedächtnis der europäischen Gewaltgeschichte hat sich Sebald über das kontemplative ›Lesen‹, über die Kunst der Allegorese, erarbeitet. Seine elegische Gedächtnisprosa einer »Naturgeschichte der Zerstörung« ist also im Sinne Schillers von sentimentalischer, ›zur Natur hinstrebender‹ Art.524 Die ›zweite Natur‹ der Erinnerung an die Shoah, die durch das allmähliche Versterben der letzten Zeitzeugen zunehmend zu einer allgemeinen Bedingung des kulturellen Gedächtnisses wurde, bildet die Grundlage für die Wiederkehr einer emphatisch erzählenden Gedächtnisprosa in den neunziger Jahren.525 Prägnantes Beispiel hierfür ist der Roman Die Ringe des Saturn. 526 Kennzeichen von Sebalds Schreiben ist ein melancholisch-allegorisches Erzählen als Gedächtniskunst. In ihr setzt sich die Gegenwart aus topografisch arrangierten Erinnerungszeichen einer unabgeschlossenen Vergangenheit zusammen. Die Allegorese dieser Zeichen bildet eine zyklisch-labyrinthisch verlaufende Erzählbewegung, so besonders in Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt (1995). Die Wanderung des Protagonisten durch die Grafschaft Suffolk steht von Anfang an im Zeichen des barocken memento mori, emblematisch versinnbildlicht mit der in den Text eingefügten Fotografie des Schädels des Gelehrten Thomas Browne (vgl. RS 21). Dem mit der melancholischen Gabe der Hellsicht ausgestatteten Wallfahrer-Erzähler zeigt sich die »Naturgeschichte der Zerstörung« allgegenwärtig. Exemplarisch ist die Naturgeschichte des Heringsfangs. Stand der Hering einst »für die grundsätzliche Unausrottbarkeit der Natur«
524 Vgl. Michael Niehaus: W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung. In: M. N., Claudia Öhlschläger (Hg.): W. G. Sebald. Politische Archäologie und melancholische Bastelei. Berlin 2006, S. 173–187. 525 Vgl. hierzu Jürgen Ritte: Endspiele. Geschichte und Erinnerung bei Walter Kempowski, Dieter Forte und W. G. Sebald. Berlin: 2009. 526 W. G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt [1995]. Frankfurt a. M. 2011; Nachweise im Folgenden im Fließtext mit Sigle RS und Seitenzahl.
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(RS 70), so kippt das Bild im Verlauf der Geschichte seiner Ausbeutung: zunächst zum »erschreckende[n] Bild einer in ihrem eigenen Überfluß erstickenden Natur« (RS 72), dann zum Sinnbild für die massenhafte Vernichtung durch die Menschen. Durch die konstellative Analogiebildung einer Fotografie vom Heringsfang (vgl. RS 71) mit einem Foto, auf dem aufgehäufte Leichenberge in einem Waldstück des Lagers von Bergen-Belsen zu sehen sind (vgl. RS 78 f.), wird mittels allegorischer Verweisstruktur ein Zusammenhang mit der Holocaust-Problematik insinuiert.527 Die melancholische Pilgerreise durch das verwüstete Land endet schließlich in der Forschungsstätte auf Orford Ness, wo zu Beginn der 1940 er Jahre das englische Militär mit Massenvernichtungswaffen experimentierte. Die Insel entpuppt sich als allegorisches Zentrum der »Naturgeschichte der Zerstörung«: ein Totenreich, das auf eine zukünftige Dystopie verweist, deren innerste Signatur wiederum auf Auschwitz verweist. Der Wanderer-Erzähler wähnt sich unter den Überresten unserer eigenen, in einer zukünftigen Katastrophe zugrundegegangenen Zivilisation. Wie einem nachgeborenen Fremden, der ohne jedes Wissen von der Natur unserer Gesellschaft herumgeht zwischen den Bergen von Metall- und Maschinenschrott, die wir hinterlassen haben, war es auch mir ein Rätsel, was für Wesen hier einstmals gelebt und gearbeitet hatten und wozu die primitiven Anlagen im Innern der Bunker, die Eisenschienen unter den Decken, die Haken an den zum Teil noch gekachelten Wänden, die tellergroßen Brausen, die Rampen und Sickergruben gedient haben mochten. (RS 282 f.) Die melancholische Wallfahrt durch das wüste Land der menschlichen Zivilisation steht von Anfang an auch im Zeichen poetologischer Selbstreflexion. Erzählen wird als eine perspektivierte Rahmung und Rasterung der Welt gefasst (vgl. die Fenster-Abbildung, RS 12). Die auf der Wanderung ›aufgelesenen‹ materiellen Einzelheiten, kulturgeschichtlichen Daten und biografischen Details erweisen sich im Narrationsprozess als Konstellationen unwillkürlicher Erinnerungen (vgl. die »Quincunx«-Abbildung, RS 31). Sie versinnbildlichen die innere Ordnung der Geschichte als permanente Zerstörung und Vergänglichkeit. Der Konfiguration der einzelnen Erinnerungen entspricht die Allegorie als zusammengesetztes Metaphernfeld. Die Verbindung der Elemente leistet die Narration als Gedächtniskunst. Symbolisiert ist sie in Die Ringe des Saturn durch das Motivfeld der Seidenraupe und des Seidenanbaus. Das Erzählen selbst wird zum Subjekt der Erinnerung, die die Textur hervorbringt. Es gleicht der Seidenraupe, die, »indem sie immerfort den Kopf hin und her bewegt und so einen ununterbrochenen, nahezu tausend Fuß langen Faden aus sich heraushaspelt, die eigentliche eiförmige Hülle um sich herum [baut]« (RS 326). Wie die Industrialisierung der Seidenproduktion und die zunehmende Verwandlung des Menschen in Richtung eines maschinenhaften Daseins (vgl. RS 334 f.) ist auch die narrative Herstellung der Textur der Menschheitsgeschichten von Entfremdung geprägt. Widerstand und Überlebenstechnik des melancholischen Erzählens bestehen in einem Offenhalten der Erzählung, Penelopes nächtlichem Wiederauflösen der Textur (vgl. RS 252). So zeigt sich im Inneren der narrativen »Naturgeschichte der Zerstörung« eine dialektische Beziehung: das Wechselverhältnis zwischen der Einheit des Erzählens und seiner Diskontinuität, zwischen der zeitlosen Herrschaft Kronos’ (das ›goldene Zeitalter‹) und der Vernichtung seiner Kinder (die ›Chronik‹).
527 Vgl. hierzu auch Claudia Öhlschläger: Der Saturnring oder Etwas vom Eisenbau. W. G. Sebalds poetische Zivilisationskritik. In: Niehaus, C.Ö. (Hg.): W. G. Sebald, S. 189–204, bes. S. 200 f.
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Der Rückgriff auf die Idee einer Naturgeschichte ist ein Gestaltungsmittel der Zeitlichkeit,528 das die soziale Zeit zugleich ästhetisch transzendiert. Die Literatur schafft sich damit einen ästhetischen Raum, der den Ort des Vergangenen in der Gegenwart sichert. Sebalds räumliche Pilgerreise im Zeichen der Melancholie folgt dem Narrativ der kontemplativen Versenkung in die allegorische Zeichenstruktur der von Verfall und Tod geprägten Zivilisationsgeschichte. Die Erfassung der historischen Realien zielt auf die Lektüre ihrer Tiefensignatur. Der für Sebalds Texte charakteristische Einbezug von Fotos lässt sich als modernisierte Emblematik verstehen. Dabei zeigen sich die angehäuften traumatischen Bilder des Zerfalls und der Zerstörung in einer Kippbewegung als traurige, gleichwohl glänzende Tropen eines Natur-Erhabenen.529 In der Forschung wurde immer wieder die Einheit von Sebalds Werken betont.530 Die Wandlung der einzelnen Texte zu einer Werkeinheit verweist auf die Transzendierungsfunktion ästhetischer Zeitgestaltung. Modern ist Sebalds Epos insofern, als es von einer offenen allegorischen Verweisstruktur geprägt ist. Deren philosophische Grundlage bildet die »Idee der Naturgeschichte« als Antwort auf das ontologische oder metaphysische Vakuum eines geschichtsphilosophischen Sinns, wie Adorno ausgeführt hat.531 In »Die Idee der Naturgeschichte« wendet sich Adorno gegen eine stillstellende Ontologisierung von Geschichtlichkeit, für die vor allem Heideggers Philosophie steht. Dagegen versucht Adorno die Antithese von Natur und Geschichte aufzuheben. »Natur« meint für ihn »das, was von je da ist, was als schicksalhaft gefügtes, vorgegebenes Sein die menschliche Geschichte trägt, in ihr erscheint, was substantiell ist in ihr« (346). Unter »Geschichte« versteht er dagegen »jene tradierte Verhaltensweise, die charakterisiert wird vor allem dadurch, daß in ihr qualitativ Neues erscheint, daß sie eine Bewegung ist, die sich nicht abspielt in purer Identität, purer Reproduktion von solchem, was schon immer da war, sondern in der Neues vorkommt und die ihren wahren Charakter durch das in ihr als Neues Erscheinende gewinnt« (ebd.). Die Überwindung der Antithese versucht Adorno zunächst mit Rückgriff auf Lukács’ Ausführungen zum Begriff der entfremdeten Konventionen als »zweite Natur« (vgl. 355–357), dann mit Verweis auf Benjamins Trauerspiel-Buch zu fassen. Benjamin hatte die Naturgeschichte im Thea-
528 Vgl. Walter Benjamin: Der Erzähler, in: W. B.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1980, Bd. II.2, S. 451. 529 Vgl. z. B. das phosphoreszierende Leuchten der toten Heringskörper; Die Ringe des Saturn, S. 76. 530 Vgl. z. B. Franz Loquai, der die Parallele zu Proust zieht und von einem »Zyklus und ›Lebensbuch‹« spricht (Franz Loquai: Vom Beinhaus der Geschichte ins wiedergefundene Paradies. Zu Werk und Poetik W. G. Sebalds. In: Marcel Atze, F. L. [Hg.]: Sebald. Lektüren. Eggingen 2005, S. 244–256, hier S. 252). 531 Theodor W. Adorno: Die Idee der Naturgeschichte. In: Th. W. A.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann. Bd. 1: Philosophische Frühschriften. Frankfurt a. M. 1998, S. 345–365; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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ter des Barock als historisch-säkularisiertes Substitut mythischer Stoffe erkannt. Adorno zitiert Benjamin: »Natur schwebt ihnen (den allegorischen Dichtern) vor als ewige Vergängnis, in der allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte erkannte« (357), um die innere Verbindung von Natur und Geschichte freizulegen. »Der tiefste Punkt, in dem Geschichte und Natur konvergieren, ist eben in jenem Moment der Vergänglichkeit gelegen. […] Natur selber stellt als vergängliche Natur, als Geschichte sich dar« (357 f.). In der von Benjamin konstellativ gefassten Allegorie sei daher die Beziehung zwischen dem allegorischen Erscheinenden und dem Bedeuteten nicht zufällig zeichenhaft, sondern Ausdruck eines geschichtlichen Verhältnisses (vgl. 359). Damit wird einerseits die konkrete historische Faktizität und Einmaligkeit der Geschichte angemahnt. Andererseits erfährt das Historische eine »ontologische[ ] Wendung«, durch die das »Archaisch-Mythische« und das »Geschichtlich-Neue« in eine diskontinuierliche, dialektische Beziehung gesetzt werden (vgl. 360–362). Damit ist die ›Transsubstantiation‹ der Geschichte in eine »Urgeschichte des Bedeutens« gewährleistet (360). In der Allegorie verschränken sich Geschichte und Natur: »Alles Sein oder wenigstens alles gewordene Sein, alles gewesene Sein verwandelt sich in Allegorie und damit hört Allegorie auf, eine bloß kunstgeschichtliche Kategorie zu sein« (ebd.).
Mit Adornos auf Benjamin zurückgehender »Idee der Naturgeschichte« ist das poetologische Fundament von Sebalds Gedächtnisprosa benannt.532 Durch die Verschränkung des historischen Bewusstseins mit der »Urgeschichte des Bedeutens« in der Allegorie werden die Einzelheiten in ihrer historischen Faktualität und Einmaligkeit ästhetisch und geschichtsphilosophisch transzendiert, und zudem wird die »Urgeschichte des Bedeutens« historisiert, d. h. nur als diskontinuierliches, fragmentarisches Zeichen lesbar. In dieser Aufwertung des allegorischen Erzählens zum Erkenntnismedium der geschichtlichen Wahrheit liegt das ästhetische Fundament der Nobilitierung von Sebalds Autorposition. Sie steht für die Möglichkeit einer weiteren Modernisierung der epischen Moderne und des emphatischen Erzählens in allegorisch-diskontinuierlicher Form (wodurch sich Ähnlichkeiten mit einem postmodernen Erzählen erklären). Darüber hinaus birgt bereits die melancholisch-allegorische Grundhaltung das Potential zur Re-Auratisierung des Erzählens und zur Selbstnobilitierung des Erzählers. Sebalds Erzähler steht für den Melancholiker und Ausgewanderten per se (besonders Jacques Austerlitz in Austerlitz). Sein Leiden, das universalen Charakters ist, auratisiert ihn und hebt ihn hervor.533 Gezeichnet von
532 Vgl. hierzu Patrick Baumgärtel: Mythos und Utopie. Zum Begriff der »Naturgeschichte der Zerstörung« im Werk W. G. Sebalds. Frankfurt a. M. u. a. 2005; Nicolas Pethes: Naturgeschichte der Zerstörung. Evolution als Narrativ für die ›Stunde Null‹ bei W. G. Sebald und Christioph Ransmayr. In: Peter Brandes, Burkhardt Lindner (Hg.): Finis. Paradoxien des Endens. Würzburg 2009, S. 169–187. 533 Vgl. zum Folgenden Sigrid Löffler: »Melancholie ist eine Form des Widerstands«. Über das Saturnische bei W. G. Sebald und seine Aufhebung in der Schrift. In: Text + Kritik 158 (2003): W. G. Sebald, S. 103–111, hier S. 104.
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grundloser, allgemeiner Trauer, ist der melancholische Dichter zugleich ausgezeichnet durch seine ›Hellsicht‹ auf die Dinge der Welt. Wie alle melancholischen Betrachter verfügt der Erzähler Sebalds über ein verfeinertes Sensorium: einerseits für das »stille Zerstörungswerk der Zeit«,534 andererseits für die Metaphysik der Dingwelt und ihr Überleben im Gedächtnis. Schließlich lässt sich noch auf ein inhaltliches Nobilitätsmerkmal hinweisen. So bildet ein Leitmotiv in Die Ringe des Saturn die Beschreibung des Zerfalls von herrschaftlichen Landsitzen.535 In der Kritik am Materialismus schwingt eine Faszination für den (geistes-)aristokratischen Glanz mit, der zum Untergang bestimmt ist. Viele der melancholischen Wahlverwandten Sebalds sind wohlhabender und aristokratischer Herkunft (vgl. z. B. die Geschichte von Edward FitzGerald, RS 233 ff.). Als ökonomisch unabhängige Rentiers sind sie die idealtypischen Repräsentanten einer L’art pour l’art im Zerfall. Die elegischmoralische Idee von der verschwenderischen Schönheit einer (selbst-)zerstörerischen Natur und Kultur ist kompatibel mit Kants Idee vom »Dynamisch-Erhabenen der Natur« sowie vom »interesselosen Wohlgefallen«. Unter den Nobilitierungsmerkmalen von Sebalds Autorposition ist schließlich der emphatische Anspruch auf eine literarische Gedächtnisfunktion zentral. Allgemein charakterisiert die Anerkennung der »Gedächtnis«-Referenz die Zugehörigkeit zum Nobilitierungssektor, insbesondere zu dessen ästhetischem Bereich. Sie steht für die Verwandlung der sozialen Zeit und des Einzelinteresses in die ästhetische Zeit des »Überdauerns« des Werkes und seiner Repräsentationsfunktion. In feldanalytischer Hinsicht zeigt sich hier ein Zusammenhang zwischen der Durchsetzung der Autorposition Sebalds und seiner Literaturkritik, wie nun abschließend gezeigt werden soll. Uwe Schütte hat auf die auffällige Koinzidenz zwischen dem Einsetzen des literarischen Ruhms von Sebald und der Wiederaufnahme der polemischen Anfänge seiner Literaturkritik hingewiesen.536 Die ehrwürdigen Themen wie Trauma, Exil, Gedächtnis und Holocaust, die mit Sebalds Autorposition verbunden sind, stehen in einer gewissen Spannung zu seinen vernichtenden Literaturkritiken zu Beginn der neunziger Jahre, die sich erst auf Jurek Becker und Alfred Andersch und dann in der Züricher Vorlesung zu »Luftkrieg und Literatur« allgemein auf die Nachkriegsliteratur, insbesondere der Gruppe 47, richteten.
534 Ebd., S. 110. »Alle Geschichten Sebalds handeln vom Kampf gegen das Verlöschen des Gedächtnisses« (ebd.). 535 Vgl. z. B. die Geschichte des Aufstiegs und Untergangs des Herrschaftssitzes Somerleyton (RS 45 ff.) 536 Vgl. Schütte: Sebald, S. 221 f.
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Bereits in seiner Magisterarbeit über Carl Sternheim, die einen biografisch-psychologisierenden und ideologiekritischen Ansatz verfolgte, provozierte Sebald mit der These, dass der geltungssüchtige Sternheim in seinem verzweifelten Assimilationsstreben an die antisemitische Gesellschaft des Wilhelminischen Reiches die präfaschistische Sprache übernommen habe.537 Die Dissertation über Alfred Döblin war in ähnlicher Weise polemisch angelegt.538 Hier ging es um die Diskreditierung des Autorbildes von Döblin als einem kritischen Geist und indirekt um den Anspruch, die ›wahre‹ und moralisch ›integere‹ Darstellungsweise der Zerstörung zu bestimmen. Sebald übertrug das Motiv der missglückten Assimilation auf Döblin, der durch einen nicht kontrollierten Anpassungszwang an die deutsche Kultur dem »Mythos der Zerstörung« erlegen gewesen sei. Die Gewaltdarstellung in seinen Werken gehorche einem Wiederholungs- und Steigerungszwang und entbehre jeder emanzipativen Funktion. Durch dieses moralische Versagen habe sie ihre »Daseinsberechtigung« verloren.539 Das Muster der hier in auffälliger Weise gegen zwei deutsch-jüdische Autoren gerichteten Kritik einer ›unwahren‹ und ›unmoralischen‹ Identitätskonstruktion im Medium der Literatur kehrte dann Anfang der neunziger Jahre wieder, als Sebald begann, sich selbst als Autor im literarischen Feld einen Namen zu machen: zunächst in Gestalt einer moralischen Kritik der ›Distanziertheit‹ des Autors bzw. Erzählers zum Leiden der Figuren in den Romanen von Jurek Becker, wodurch wahre, auf Empathie beruhende Erinnerung verfehlt würde,540 dann in einem Generalangriff gegen Alfred Andersch. Der Essay zu Andersch, der bereits bei seiner Publikation 1993 eine Welle der Empörung auslöste und später programmatisch im Anhang zu den Vorlesungen »Luftkrieg und Literatur« veröffentlicht wurde, versuchte das Bild Anderschs als NS-Opfer und Antifaschisten zu demontieren.541 Sebald deutet Anderschs Literatur als Selbststilisierung, »als Mittel zur Begradigung des Lebenslaufs« (LL 144). Gegen den Strich gelesen zeige sich in den Romanen von Andersch Verdrängung und die Verschleierung des »Trauma[s] seines eigenen moralischen Versagens« (LL 140) gegenüber seiner ersten deutsch-jüdischen Frau, von der er sich 1942 trennte und auf die er sich angeblich opportunistisch nach Kriegsende wieder berief. Wie schon bei Döblin entdeckt Sebald in der Literatur von Andersch eine moralisch fragwürdige Ästhetisierung der Gewalt (vgl. LL 136 f.), die er polemisch auf die Wehrmachtszugehörigkeit des Autors zurückführt.542
Sebalds Fundamentalkritik an Andersch, die die Kohärenz von Leben und Werk einfordert, zielte letztlich auf die Diskreditierung eines Protagonisten der 537 W. G. Sebald: Carl Sternheim: Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära. Stuttgart 1969; vgl. Schütte: Sebald, S. 222. 538 W. G. Sebald: Der Mythos der Zerstörung im Werk Döblins. Stuttgart 1980; vgl. Schütte: Sebald, S. 223 f. 539 Sebald: Der Mythos der Zerstörung, S. 12, zit. n. Schütte: Sebald, S. 224. 540 Die Publikation des Aufsatzes wurde damals abgelehnt und erfolgte erst nach Beckers Tod: W. G. Sebald: Ich möchte zu ihnen absteigen und finde den Weg nicht: Zu den Romanen Jurek Beckers. In: Sinn und Form 2 (2010), S. 226–234; vgl. Schütte: Sebald, S. 29 u. S. 231. 541 Vgl. hierzu Jörg Döring, Markus Joch (Hg.): Alfred Andersch ›revisited‹. Werkbiographische Studien im Zeichen der Sebald-Debatte. Berlin u. a. 2011. 542 »Der Gewalttätigkeitsausbruch Efraims [in dem Roman Efraim], intendiert als der Reflex legitimer moralischer Entrüstung, ist in Wahrheit der Beleg dafür, daß Andersch unwillkürlich in die Seele seines jüdischen Protagonisten einen deutschen Landser hineinprojiziert, der dem Juden nun vormacht, wie man mit seinesgleichen am besten verfährt« (LL 142 f.).
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sich in den vierziger und fünfziger Jahren neu konstituierenden Nachkriegsliteratur (vgl. LL 113). In dieser Hinsicht bildeten die Vorlesungen zu »Luftkrieg und Literatur« den Höhepunkt einer längeren Abgrenzungsbewegung von der Nachkriegsliteratur. In »Luftkrieg und Literatur« setzte Sebald seine Abgrenzung nach zwei Seiten fort: zum einen von der »ältere[n] Garde der sogenannten inneren Emigranten«, die »vornehmlich damit beschäftigt« gewesen sei, »sich ein neues Ansehen zu geben und […] den Freiheitsgedanken und das humanistisch-abendländische Erbe in endlosen verquasten Abstraktionen zu beschwören«; zum anderen von der »jüngere[n] Generation der gerade heimgekehrten Autoren«, die »dermaßen fixiert« gewesen sei, auf ihre eigenen, immer wieder in Sentimentalität und Larmoyanz abgleitenden Erlebnisberichte aus dem Krieg, daß sie kein Auge zu haben schien für die allerorten sichtbaren Schrecken der Zeit. Selbst die vielberufene, programmatisch einen unbestechlichen Wirklichkeitssinn sich vorsetzende Trümmerliteratur […] erweist sich bei näherer Betrachtung als ein auf die individuelle und kollektive Amnesie bereits eingestimmtes, wahrscheinlich von vorbewußten Prozessen der Selbstzensur gesteuertes Instrument zur Verschleierung einer auf keinen Begriff mehr zu bringenden Welt. (LL 17) Sebalds Leitthese einer Verdrängung und Tabuisierung – »[d]er wahre Zustand der materiellen und moralischen Vernichtung, in welchem das ganze Land sich befand, durfte aufgrund einer stillschweigend eingegangenen und für alle gleichermaßen gültigen Vereinbarung nicht beschrieben werden« (ebd.) – beinhaltet nicht nur einen impliziten Vorwurf gegen die Kulturpolitik der Alliierten und die westliche Doktrin des wirtschaftlichen Wiederaufbaus. Variiert wird auch das Argumentationsmuster einer ›falschen Assimilation‹ aus seinen früheren literaturkritischen Arbeiten. Damit wird der Nachkriegsliteratur ein ›falsches Bewusstsein‹ und eine verfälschende Identitätskonstruktion vorgehalten. »Für die überwiegende Mehrzahl der während des Dritten Reichs in Deutschland gebliebenen Literaten war die Redefinition ihres Selbstverständnisses nach 1945 ein dringlicheres Geschäft als die Darstellung der realen Verhältnisse, die sie umgaben« (LL 6 f.). Insbesondere die Autoren der Gruppe 47 hätten die realitätsgetreue Erinnerung an die Zerstörung der Heimat tabuisiert: »[N]iemand, auch die mit der Bewahrung des kollektiven Gedächtnisses der Nation betrauten Schriftsteller nicht, durfte uns später, gerade weil wir unsere Mitschuld erahnten, so schmachvolle Bilder in Erinnerung rufen wie jenes vom Dresdner Altmarkt zum Beispiel […]. Jede Beschäftigung mit den wahren Schreckensszenen des Untergangs hat bis heute etwas Illegitimes, beinahe Voyeuristisches, dem auch diese Notizen nicht ganz entgehen konnten« (LL 104). Das angeblich auf Tabuisierung beruhende Desiderat einer im Sinne Sebalds realitätsgetreuen Auseinandersetzung mit den »Schreckensszenen des Untergangs« rechtfertigt die eigene Poetik. Der Autor machte sich den Ausspruch des englischen Journalisten und Zeitzeugen Solly Zuckerman zu eigen, der die Auswirkungen des »area bombing« unter dem Titel einer »Naturgeschichte der Zerstörung« dokumentieren wollte (vgl. LL 38 f.). Nach dem Beispiel von Alexander Kluges Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945 oder Hubert Fichtes Detlevs Imitationen »Grünspan« (1968) trat Sebald einerseits für die Benennung der Zerstörung mit »Präzision und Verantwortung« ein (LL 59), andererseits für deren Allegorisierung im Rahmen einer »Naturgeschichte der Zerstörung«.543 543 Vgl. Christian Schulte: Die Naturgeschichte der Zerstörung. W. G. Sebalds Thesen zu »Luftkrieg und Literatur«. In: Text + Kritik 158 (2003): W. G. Sebald, S. 82–94.
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Mit seinen Leitthesen zu »Luftkrieg und Literatur« setzte Sebald die allgemeine Diskreditierung der Nachkriegsliteratur fort, die Anfang der neunziger Jahre die Restrukturierung des literarischen Feldes prägte. Die symbolische Absetzung einer »Gesinnungsästhetik«, wie sie die Vertreter einer neuen realistischen und erzählenden Gegenwartsliteratur forderten,544 war aber bei Sebald von anderer Art. Sie erfolgte über den demonstrativen Wiederanschluss an die Ästhetik der Moderne und über die symbolische Aufwertung und Repräsentation einer zum Kanon der Nachkriegsliteratur alternativen »Exilliteratur«. Der literarische Rufmord Anderschs erweist in diesem Lichte eine Distinktionsfunktion für den Selbstentwurf als repräsentativer »Exil-Schriftsteller«. Der an die Adresse der Nachkriegsliteratur gerichtete Vorwurf der Amnesie und der Konstruktion eines idealisierten Selbstbildes verweist seinerseits auf das Bestreben, sich die Wunschbiografie eines »Exilautors«, d. h. eines moralisch integeren und wahrheitsgemäßen Autors anzueignen, dessen Werk mit dem Leben koinzidiert. Die Abgrenzung von der ›unwahren‹ und moralisch belasteten Literatur der »Daheimgebliebenen« – der sogenannten »inneren Emigration«, der »Kahlschlagliteratur« und der Literatur der Gruppe 47 – gestaltet sich also nach der Opposition zwischen »Aufbau-« und »Exilliteratur«.545 Sowohl in seinen literaturwissenschaftlichen als auch in den literarischen Texten beansprucht Sebald das Amt der universalen Repräsentation der »Ausgewanderten«. Die über die Kritik des ›Anti-Germanisten‹ vorbereitete symbolische Position des »Exil-Schriftstellers« legitimierte ihn, den ästhetischen Anschluss an die Moderne ›nachzuholen‹. Was für die deutschen Zeitzeugen nicht möglich war, das Unbeschreibliche ihrer traumatischen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, wollte der ›exilierte‹ Germanist und Schriftsteller im Nachhinein mit seiner Poetik der »Naturgeschichte der Zerstörung« leisten. Damit hatte Sebald sich einen neuen Schreibraum eröffnet, der über die zentrale Gedächtnisfunktion nobilitiert ist. Für die neue Schreibweise, die die Ästhetik der klassischen Moderne mit der symbolischen Zentralstellung des Gedächtnisses an Krieg und Holocaust verbindet, sah Sebald eine spezifische Darstellungsweise zwischen Dokumentarismus, Realismus und Autobiografismus vor. Sie musste einerseits über authentische Erfahrungen (im Sinne Benjamins) moralisch gerechtfertigt sein und andererseits die Ansammlung einzelner Realien der Erinnerung in einem allegorischen Verweis übersteigen. Sebalds Diskreditierung der Erinnerungsfunktion der Nachkriegsliteratur zielte auf eine Neubesetzung der literarischen Ge-
544 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, I. 1.2. 545 Zur strukturellen »Unzugehörigkeit« von Peter Weiss vgl. oben: Erster Teil, II. 1.1. u. die Studie 1.
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dächtnisposition: von einem bewussten, ›politisch-korrekten‹, diskursiven, aber ›unwahren‹, weil nicht den traumatischen Erfahrungen entsprechenden, sondern spezifischen Einzelinteressen dienenden Erinnern hin zu einer »mémoire involontaire«, d. h. zu einem unwillkürlich-notwendigen, bildhaften und zugleich reflexiv und schriftlich konstruierten universalen Gedenken. Die melancholisch-allegorische Gedächtnisliteratur wird einerseits den materiellen Spuren der Gewaltgeschichte in ihrer historischen Faktualität gerecht, andererseits werden diese traumatisch besetzten Spuren der Gewalt wie auch der Opferdiskurs im Namen einer »Naturgeschichte« universalisiert. Durch den Anschluss an die »Urgeschichte des Bedeutens« (Adorno) wird das emphatische Erzählen von Geschichte(n) wieder möglich. Nach der von Luftkrieg und Literatur ausgelösten Debatte in der deutschen Gegenwartsliteratur546 setzte sich ein neues Erzählen vom Heimat- und Identitätsverlust in Form des neuen Familien- und Generationenromans durch.547 Auch diesem Erzählen ist das Streben nach der dauerhaften, die soziale Zeit transzendierenden Gedächtnisposition im Nobilitierungssektor eingeschrieben. Sie verheißt ein ästhetisches Überdauern, d. h. eine Kanonisierung. Im Unterschied zu Sebalds Erzählen in der Traditionslinie der Moderne, das auf einer reflexiven Struktur und einer negativen Ästhetik beruht, ist die neue Erinnerungsliteratur oft weniger auf eine ästhetische Universalisierungsform als vielmehr auf das ›Ansammeln‹ von Realien und auf (intergenerationelle) Identitätskonstruktionen ausgerichtet – beides sind Kennzeichen des Mittelbereichs. Das ist ein Grund, warum dieser Erinnerungsliteratur die Kanonisierung oft verwehrt bleibt.
2.3 Die ökonomisch gestützte ästhetische Position im Mittelbereich Zwischen den Autorpositionen der Ästheten mit ihrem L’art pour l’art-Kunstwerk einerseits und denen der literarischen Notabeln mit ihrem bürgerlichen Kunstverständnis andererseits situiert sich der neue ›Adel‹ des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs. Die nobilitierten Positionen des Mittelbereichs sind durch komplexe Kompromissbildungen zwischen den verschiedenen Formen der ›Größe‹ und ihren Rechtfertigungsordnungen geprägt. Wie im ersten Kapitel des zweiten Teils ausgeführt, vermischen und überlagern sich hier ästhetische Werte insbesondere mit einer journalistischen Logik, d. h. mit Werten aus der »Welt der Meinung« und der »Welt des Marktes« (im Sinne
546 Vgl. Ulrike Vedder: Luftkrieg und Vertreibung: zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur. In: Caduff, U. V. (Hg.): Chiffre 2000, S. 59–80. 547 Vgl. Eichenberg: Familie–Ich–Nation; Neuschäfer: Das bedingte Selbst.
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von Boltanski und Thévenot). Die daraus resultierende gemischte oder hybride Rechtfertigungsordnung besteht im Wesentlichen aus einem Kompromiss zwischen einer ästhetischen Anerkennung und einem ökonomisch-medialen Erfolg durch Absatz auf dem Markt und öffentliche Aufmerksamkeitsprofite. Die neuartige Genese dieser Zwischen- und Kompromissformen steht im Zusammenhang mit einer gesteigerten Ökonomisierung des Feldes der kulturellen Produktion, wie sie Bourdieu im »Postscriptum« der Regeln der Kunst problematisiert hat: Die Existenz einer kommerziellen Literatur und der Einfluß kommerzieller Zwänge auf das kulturelle Feld sind nichts Neues. Aber der Einfluß derer, die über die Zirkulations(und Konsekrations-)Mittel verfügen, reichte noch nie so weit und so tief, die Grenze zwischen dem experimentellen Werk und dem Bestseller war noch nie so unscharf. Dieses Verwischen der Grenzen, zu dem die sogenannten »Medienproduzenten« spontan neigen (was unter anderem daraus hervorgeht, daß die Hitlisten der Presse die autonomsten und die heteronomsten Produzenten stets munter miteinander mischen), stellt gewiß die größte Bedrohung für die kulturelle Produktion dar. Der heteronome Produzent, für den die Italiener das herrliche Wort tuttologo gefunden haben, spielt die Rolle des Trojanischen Pferdes, das den Markt, die Mode, den Staat, die Politik, den Journalismus in das Feld der Kulturproduktion Einzug halten läßt.548
Was Bourdieu hier kritisch beschreibt, ist das zunehmende Übergreifen nicht nur der Logik des Bereichs kultureller Massenproduktion, sondern auch des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs und seiner gemischten Wertordnungen auf den Bereich des Subfeldes der eingeschränkten Produktion mit seiner kunstautonomen Logik. Dieses wachsende Dominanzverhältnis innerhalb der Konkurrenz um kulturelle ›Inspirations-‹ und ›Legitimitätsgröße‹ basiert auf der Zirkulationslogik sowohl der Ökonomisierung und Medialisierung als auch der Globalisierung. So sieht sich der traditionelle, kunstautonome Internationalismus und Universalismus der kanonischen »Weltliteratur« (longseller) in wachsendem Maße in Konkurrenz zu einem kommerziell und – eng damit verbunden – medial gestützten literarischen Kosmopolitismus, der sich in Form einer world literature der literarischen Bestseller als Buchhandelssegment zeigt. Der kommerziell getragene Import-Export von ›Halbfabrikaten‹ des Universalen, die mehr der Logik globaler Distribution und ökonomischer Rentabilität als ästhetischen Wertkategorien folgen, hat literarische Gattungen neu ausgeprägt, die sich gut zur internationalen und intermedialen Zirkulation (insbesondere durch Verfilmungen, aber auch verstärkt durch Digitalisierung) eignen, wie etwa den Reise- und Abenteuerroman, den fantastischen Roman oder die Short Story. Dabei ist zwischen den internationa-
548 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533.
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len Best- oder Megasellern, die im Feld der Massenproduktion zirkulieren (»mass-market fiction«), und den internationalen literarischen Bestsellern im Mittelbereich (»trade fiction«) zu unterschieden.549 Die Produkte einer world literature funktionieren oft nach ästhetisch erprobten Mustern wie zum Beispiel die Romane einer ›internationalen akademischen Welt‹ (Lodge, Eco) oder diejenigen eines internationalisierten kulturellen Exotismus, die sich nicht selten im Kern als neokolonialistische Bücher erweisen.550 Eine weitere Variante der internationalen ›trade fiction‹ stellt die Karriere des Reiseromans ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre dar. Er koppelt sich häufig mit Mustern des Abenteuer- oder Fantasy-Romans. Anfang der 2000 er Jahre werden dann Kopplungen mit dem historischen und dem Familienroman populär. Diese literarischen Bestseller werden von den entsprechenden Konsekrationsinstanzen wie dem Buchpreis des deutschen Buchhandels, dem Prix Goncourt in Frankreich oder der Booker Prize in England als neuer ästhetischer und kommerzieller Maßstab für den Roman präsentiert. Häufig greifen sie dabei auf Verfahren des populären oder des Feuilleton-Romans des 19. Jahrhunderts zurück.551 Auch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur näherte sich in den neunziger Jahren dieser populären »world literature« und »trade fiction« an. Beispiele hierfür sind diejenigen postmodernen oder ›post-postmodernen‹ Formen des historischen Romans, des Reise- und Abenteuerromans, die Christoph Ransmayr,
549 Die Bestsellerlisten der New York Times unterscheiden im Bereich der paperbacks zwischen »trade fiction« und »mass-market fiction«. Die Redaktion sah sich veranlasst, ihren Lesern diese ungewöhnliche Unterscheidung zu erklären: »You may still wonder why we decided to separate the mass-market and trade best-seller lists. The reason is that mass-market books — no surprise — tend to sell in larger numbers than trade. A list based on the number of copies a paperback sells will usually be dominated by mass-market. […] But the Book Review — like most review media — focuses on trade fiction. These are the novels that reading groups choose and college professors teach« (http://www.nytimes.com/2008/03/16/books/review/PaperRowt.html; abgerufen am 15. 12. 2012). Die Unterscheidung zwischen »trade fiction« und »massmarket fiction«, der in der vorliegenden Arbeit die Unterscheidung zwischen einem flexibel ökonomisierten Mittelbereich und einem Bereich der Massenproduktion entspricht, rekurriert sowohl auf marktökonomische als auch auf rezeptionsästhetische Kriterien. ›Klassiker‹ einer internationalen ›quality fiction‹, zum Beispiel Titel wie Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez, Lolita von Vladimir Nabokov oder Das Geisterhaus von Isabel Allende, sind zum Teil im Subfeld der eingeschränkten Produktion entstanden und mit dem Prozess ihrer Popularisierung in die Listen der internationalen »world literature« und »trade fiction« übergegangen. 550 Casanova führt das Beispiel von Vikram Seth’ A suitable boy / Eine gute Partie an (1993; vgl. Casanova: La République mondiale des lettres, S. 248). 551 Vgl. ebd., S. 248 f.; für die französische Gegenwartsliteratur vgl. Dominique Viart, Bruno Vercier (Hg.): La littérature française au présent. Paris 22008, S. 387.
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Raoul Schrott,552 Ilija Trojanow,553 Christian Kracht 554 und – am erfolgreichsten und im Folgenden exemplarisch – Daniel Kehlmann mit Die Vermessung der Welt (2005) vorlegten. Popularisierungs- und Nobilitierungsstrategien ergänzen sich hier.
2.3.1 Vom Wandel der symbolischen Zentralstellung (Walser, Grass, Schulze) Die gemischte Rechtfertigungs- und Anerkennungsordnung zwischen ästhetischen und moralisch-politischen Werten prägte die Karriere der symbolischen Zentralstellung der Gruppe 47 im literarischen Feld, die zudem mit der Entstehung eines institutionell und medial vernetzten Literaturbetriebs verbunden war. Im Unterschied zum Subfeld der eingeschränkten Produktion als Ort der Autonomisierung ist der Mittelbereich ein zentraler Ort der marktorientierten Professionalisierung. Mit dieser geht ein Strukturwandel der Öffentlichkeit einher. Für das literarische Feld bedeutete der Wandel, dass es sich seit der ›Tendenzwende‹ in den siebziger Jahren immer weniger mit Werten und Diskursen des sich seinerseits professionalisierenden politischen Feldes verband. Vielmehr öffnete es sich für die Wertordnungen des ökonomisch-medialen Feldes, das in Form von Alltagskultur und Lebensstilen expandierte. Diese Verlage-
552 Bei den neuen Kompromissformen geht es um Mehrfachpositionierungen und SynergieEffekte. Raoul Schrott verbindet seine ästhetische Haltung mit einem ›geniehaften‹ und medial vermittelten Bildungskapital, etwa wenn er – medienwirksam – seine provokanten und populärwissenschaftlichen Thesen zur historischen Situierung Trojas und ›wahren‹ Heimat Homers in der Südtürkei in Buchform und in Form einer Fernsehsendung der populären Doku-Serie »Terra X« (31. 1. 2010) und zudem mit einer neuen Ilias-Übertragung präsentiert (Raoul Schrott: Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe. München 2008; Homer: Ilias. Neu übertragen von Raoul Schrott. München 2008). 553 Mit dem unpolitischen ›Postkolonialismus‹ der ästhetischen und populärwissenschaftlichen Reisen Schrotts durch Raum und Zeit der Bildungsgeschichte vergleichbar ist der Aufstieg der Autorposition von Ilija Trojanow in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends. An seinem erfolgreichsten Buch Der Weltensammler (2006) lässt sich der diskursive Wandel der Migrantenliteratur hin zu einer tendenziell unpolitischen ›transkulturellen Literatur‹ ablesen. Seine Bücher stehen für einen neuen literarischen Kosmopolitismus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur analog zu einer allgemeinen wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung. Dabei zeigt sich eine Kompromissbildung zwischen ästhetisch ambitionierten Kunstmerkmalen (bei Trojanow fällt immer wieder ein gewisser Ästhetizismus auf) und Merkmalen eines ›leichten‹, unterhaltsamen Erzählens, das in den Geschichten rund um den englischen Entdecker Richard Burton auf international erfolgreiche Formate zurückgreift wie z. B. den exotischen (orientalischen) Abenteuer- und Reiseroman mit Elementen des Spionage-Genres. 554 Vgl. die Romane Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) und Imperium (2012).
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rung der dominanten Kopplung des literarischen Feldes im Gefüge mit anderen Feldern lässt sich auch als Abkopplung der Sozialkritik und wachsende Dominanz der Künstlerkritik in der Literatur verstehen. Daraus entstand wiederum eine komplexe Kompromissbildung der Werteordnung der »Welt der Inspiration« mit anderen »Cités« (im Sinne von Boltanski und Chiapello) als Rechtfertigungsordnung, vor allem mit der »Welt der Meinungen« – dem Journalismus und den neuen Medien – und der ökonomischen »Welt des Marktes«, aber es entwickelten sich auch neue Kopplungen mit der »staatbürgerlichen Welt« als Schnittpunkt mit dem politischen Feld.555
Die Weiterführung der politisch-moralisch gestützten literarischen Größe Die Zentralstellung des ehemals dominanten realistischen Literaturbegriffs der Gruppe 47 zwischen einer ästhetischen und einer politischen-moralischen Bestimmung wurde in den neunziger Jahren weiterhin vor allem von Günter Grass und in anderer Weise – in Form einer Selbstinszenierung als authentischem Geständnis- und Erinnerungsdiskurs – von Martin Walser repräsentiert. Mögliche Weiterführungen des Anspruchs auf symbolische Zentralstellung und kritische Stellvertretungsfunktion der Literatur in der Nachfolge der Gruppe 47 unterliegen den Bedingungen einer wachsenden medialen Konkurrenz, die die Beziehung von »Werk« und »Autor« und das Spannungsverhältnis zwischen Selbst- und Fremdzuschreibung verändert haben. Bei Walser zeigten sich diese Veränderungen im Rahmen seines – letztlich scheiternden – Strebens nach der Autorposition eines honorablen ›Nationaldichters‹. Er gehört zu »jenen Autoren, die Werk und (öffentliche) Person funktional verknüpft haben und ihre Selbstinszenierungen und -stilisierungen dem Wandel des Schriftstellerbildes nach 1945 flexibel anzupassen wussten«.556 Als Autor, dem im Unterschied zu Günter Grass mit seiner Blechtrommel das singuläre ›große Werk‹ fehlt 557 und dessen literarischer Stellenwert stets als großartiges »Talent zum Scheitern« gewertet wurde (Reich-Ranicki), strebte er seit dem symbolischen Niedergang der Gruppe 47 nach einer Neubegründung seiner Autorposition. Diese behielt den national geprägten Universalanspruch bei, den Walser auf der Grundlage einer Verschleierung seines Positionsbewusstseins und einer Selbstinszenierung als ›authentischer‹, bekenntnishafter Autor unter medialen Bedingungen neu begründete. Diese Umstellungsstrategie, d. h. der Versuch, das Ansehen eines legitimierten ›Sehers‹ für die deutsche Nation unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen aufrecht zu erhalten, zeigte sich bei Walser in den neunziger Jahren unter
555 Siehe hierzu unten: Zweiter Teil, II. 2.4. 556 Klaus-Michael Bogdal: »Nach Gott haben wir nichts Wichtigeres mehr gehabt als die Öffentlichkeit«. Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers. In: Text und Kritik 41/42 (32000): Martin Walser, S. 19–43, hier S. 19. 557 Vgl. ebd., S. 21. Bogdal vertritt die These, »dass Walser das fehlende Werk, das ›im Gedächtnis bleibt‹, nicht ohne Erfolg durch die kontinuierlichen, Person, Werk und öffentliche Repräsentativität verbindenden Selbstinszenierungen substituiert hat« (ebd.).
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anderem in der literarischen Ausgestaltung einer ›authentischen‹ Erinnerung an eine ganzheitliche, ›heile‹ Kindheit in der nationalsozialistischen Zeit in Ein springender Brunnen (1998). Seine Umstellungsstrategie zur Aufrechterhaltung des Anspruches auf ein nationales ›Dichteramt‹ erreichte ihren Höhepunkt in der Friedenspreisrede und in der anschließenden WalserBubis-Debatte 1998.558 Bogdal deutet die Friedenspreisrede als »Gelegenheit zur Korrektur von Missrepräsentationen« des Selbstverständnisses: »Walser versucht sich durch den Auftritt in der Paulskirche so zu positionieren, dass seine Stimme, die jetzt als Stimme eines ›persönlichen‹ Gewissens präsentiert wird, wieder Autorität erhält«.559 Damit zeichnet sich die Kompromissstruktur seiner Autorposition in der Schnittmenge zwischen dem literarischen, medialen und politischen Feld und ihren jeweiligen Diskursen ab: Die fehlende literarische Autorität eines anerkannten, singulären Werkes wird über die mediale Inszenierung eines ›authentischen‹ Geständnisdiskurses kompensiert. Die ›persönliche Stimme‹ erhielt so wieder Gewicht in einer Situation, in der die politische Intervention des intellektuellen Schriftstellers auf der Grundlage eines anerkannten literarischen Werkes längst diskreditiert war, wie auch sein Schriftstellerkollege Günter Grass in den Debatten um die deutsche Einheit erfahren musste. Auch Grass’ Laufbahn ist seit dem Niedergang oder Anachronismus der symbolischen Zentralstellung der Gruppe 47 von der Verteidigung seiner Stellung als gesellschaftlich repräsentativer Schriftsteller mit einem traditionellen, humanistisch-aufklärerischen, tendenziell national und moralisch grundierten Universalanspruch geprägt. Im Unterschied zu Walser ist aber die Behauptung seiner Autorposition als engagierter Schriftsteller, die auf der den klassischen oder universellen Intellektuellen begründenden Kopplung von Literatur und politischer Öffentlichkeit beruht, weiterhin präsent und mit der Verleihung des Nobelpreises 1999 auch international legitimiert. Die erfolgreiche Behauptung seiner Stellung als ›kritisches Gewissen der Nation‹ in den neunziger Jahren war insofern symbolisch fundiert, als er sich in den Debatten zur nationalen Vereinigung in der Wendezeit eindeutig als Vertreter einer europäischen Kulturnation Deutschland positioniert hatte.560 Dass Grass’ Position als engagierter intellektueller Schriftsteller zugleich strukturell längst in Frage gestellt war, kann man u. a. der heftigen Debatte um seinen Roman Ein weites Feld (1995) entnehmen. Der Roman bezog in literarischer Form – in verschränkten Zeit- und Textstrukturen, die Analogien zu Fontane und zur deutschen Nationalisierung in der Gründerzeit herstellen – politisch gegen die deutsche Wiedervereinigung und konkret gegen die Treuhandanstalt Stellung, die die DDR und die mit ihr verbundenen Erfahrungen nach einer ökonomischen Herrschaftslogik ›abwickelte‹. Mit seiner literarischen Gestaltung dieses ›Enteignungsprozesses‹ stellte sich Grass quer zu den dominanten Diskursen in Medien und Politik und wurde – ähnlich wie einige Jahre später Handke in den Debatten um den Kosovo-Krieg – symbolisch des ›politischen Feldes‹ verwiesen.561 Hier zeigte sich im konkreten Ereignis, was sich strukturell längst angebahnt hatte: eine veränderte, medialisierte »literarische Öffentlichkeit und de[r] Verlust ihrer kritischen Substanz«.562
558 Vgl. Frank Schirrmacher (Hg.): Die Walser-Bubis-Debatte. Eine Dokumentation. Frankfurt a. M. 1999. 559 Bogdal: Selbstinszenierungen eines deutschen Schriftstellers, S. 29. 560 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 2.4. 561 Vgl. Oskar Negt (Hg.): Der Fall »Fonty«. »Ein weites Feld« von Günter Grass im Spiegel der Kritik. Göttingen 1996. 562 Vgl. Oskar Negt: Über die literarische Öffentlichkeit und den Verlust ihrer kritischen Substanz. In: Ebd., S. 7–28.
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Der strukturelle Hegemoniewandel der Rechtfertigungs- und Legitimitätssphären – von der Koppelung der literarischen Zentralstellung der Gruppe 47 an das politische Feld mit seiner Öffentlichkeit zur dominanten Anbindung des flexibel ökonomisierten literarischen Mittelbereichs an das journalistisch-massenmediale Feld mit seiner Ökonomie der Aufmerksamkeit und Logik der Durchschnittsbildung und Mehrheitsmeinung – lässt sich exemplarisch an dem medialen Streit zwischen dem als Citoyen intervenierenden Autor Grass und dem als ›Großkritiker‹ auftretenden Marcel Reich-Ranicki festmachen.563 Mit seinem Realismus-Begriff und dem für die ästhetische Unterhaltungsliteratur wichtigen Unterscheidungscode »langweilig« – »nicht langweilig«,564 seiner Medienpräsenz und nicht zuletzt mit seiner populären Ausgabe Der Kanon. Die deutsche Literatur (2002–2006) beanspruchte Reich-Ranicki im Mittelbereich die medial gestützte literarische Definitionshoheit gegenüber der politisch-moralisch gestützten literarischen Größe von Grass. Medienwirksam inszenierte Reich-Ranicki seinen Verriss in einem »offenen Brief«, veröffentlicht in einer Spiegel-Ausgabe, auf deren Titelbild Grass’ Buch bereits symbolisch für die Öffentlichkeit zerrissen wird. Der Roman Ein weites Feld war für den ›Großkritiker‹ »ganz und gar mißraten«. Dabei argumentierte er nur beiläufig ästhetisch – der Roman ›erzähle nicht‹ –, den Kern seines Verrisses bildete hingegen die Unterstellung, dass die eigentliche Ursache für das vermeintliche literarische Scheitern in einer politischen Kränkung gelegen habe, die Grass erstmals nach dem Regierungsantritt Brandts und dann vor allem in den Diskussionen der Wendezeit erfahren habe.565 Mit dem Vorwurf der ›Gesinnungsästhetik‹ wurde dem Roman die Anerkennung eines ästhetischen Eigenwerts verweigert. Somit wurde, zusammen mit dem Rekurs auf die Trennung der Kompetenzen (literarisch – politisch), dem Schriftsteller auch die Legitimationsgrundlage entzogen, als universaler Intellektueller zu intervenieren.
Für die Weiterführung einer gesellschaftskritischen symbolischen Zentralstellung eines politisch engagierten und zugleich ästhetisch ambitionierten Realismus in der Nachfolge der Gruppe 47 lässt sich zum einen auf das Werk von Uwe Timm verweisen, das dem politischen Geist der 68 er verpflichtet ist; zum anderen auf einzelne Vertreter eines ›dispersen Realismus‹, vor allem der »78er«-Generation, die am Ende der neunziger Jahre – nach der symbolischen Dominanz der Popliteratur im Mittelbereich – eine neue politisch-moralische Relevanz und damit die Wiederanbindung der Literatur an das politische Feld und an die gesellschaftliche Öffentlichkeit kurzfristig einforderten.566
563 Zum Wandel der Literaturkritik und zur Feldpositionierung der Fernsehsendung »Das literarische Quartett« siehe oben: Zweiter Teil, I. 1. 564 Vgl. zu einer grundlegenden Kritik: Franz-Josef Czernin: Marcel Reich-Ranicki. Eine Kritik. Göttingen 1995. 565 »Allerdings vertraten Sie Anschauungen, für die die Mehrheit kein Verständnis hatte. Sie blieben allein. Das spricht noch nicht gegen Sie. Aber das hat Ihnen einen Schmerz zugefügt, mit dem Sie nicht zu Rande kommen konnten. Und haben Sie nicht gerade damals mit der Arbeit an Ihrem Roman ›Ein weites Feld‹ begonnen?« (Negt [Hg.]: Der Fall »Fonty«, S. 81). 566 Siehe dazu oben: Zweiter Teil, I. 3.3.
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Eine Variante des ›relevanten Realismus‹ stellt die Autorposition von Ingo Schulze dar, die mit unterhaltsamen, ›leicht‹ erzählten, indes sozialkritischen (Kurz-)Geschichten über die neuen, deutsch-deutschen Verhältnisse reüssierte. In den Feuilletons galt Ingo Schulze schnell als »einer unserer besten Erzähler«.567 Sein Aufstieg in den oberen Bereich der Anerkennung hing nicht zuletzt mit dem Umstand zusammen, dass er zu den ersten Kandidaten für die Besetzung der vakanten Stelle des ›Dichters der deutschen Einheit‹ zählte. Für die Einnahme dieser Leerstelle eignete er sich zum einen, weil er wie Grünbein und Tellkamp aus Dresden stammt, der Stadt, die in den neunziger Jahren zum neuen Symbol einer wiedergewonnenen deutschen kulturellen Größe und Einheit avancierte.568 Als Ostdeutscher der Generation der »Hineingeborenen« verfügte er im Unterschied zu seinen westdeutschen Altersgenossen über Erfahrungen – Erfahrungen über grundlegend gewandelte Lebensentwürfe und -verhältnisse, die er in modernen, unterhaltsamen Erzählformen für eine gesamtdeutsche Leserschaft zu vermitteln verstand. Auf die medialisierte Nachfrage nach dem deutsch-deutschen ›Wende-Roman‹ boten die Simple Storys. Roman aus der ostdeutschen Provinz (1998) das Angebot einer vernetzten Vielzahl kleiner, authentischer Geschichten, die die große Geschichte spiegeln und im Kleinen konkret erfahrbar machen. Sie handeln von exemplarischen Individuen und ihren Erfahrungen, ihren Deformationen, Missgeschicken, Sehnsüchten und Stimmungen der Verunsicherung, von ihrer Orientierungslosigkeit, Enttäuschung und Angst und vom langen Schatten der Vergangenheit. Dabei werden die östlichen, ›authentischen‹ Erfahrungen im ›westlichen‹ Format der amerikanischen short story bzw. der short cuts vermittelt. Dass sich das amerikanische Erzählmodell der short cuts auf die Veränderungen des Lebens in der »ostdeutschen Provinz« anwenden lässt, erklärte Schulze mit einem quasi über Nacht alle Verhältnisse bestimmenden Kapitalismus und der dadurch entstandenen Unsicherheit und Verletzbarkeit der neuen Lebensentwürfe.569 Die plötzlich anachronistisch und unverständlich gewordene Welt sei nur mit einem Blick von außen darstellbar gewesen.570 Angesichts dieser »Momentaufnahmen des sozialen Wandels« 571 stellen Schulzes Geschichten eine Art literarische ›Ethnografie‹ der gewandelten Alltagsverhältnisse dar, die sowohl ost- als auch westdeutsche Leser ansprach und animierte, sie mit eigenen Erfahrungen in Beziehung zu setzen.
Wie andere gesamtdeutsch erfolgreiche ostdeutsche Schriftsteller seiner Generation hat Schulze die DDR-Kulturpolitik noch selbst bewusst erfahren, wodurch einerseits die Utopie einer gesellschaftlichen Zentralstellung des Schriftstellers, der Kraft seines Wortes und die Bedeutung des Lesens, andererseits 567 Richard Kämmerlings: »Enrico Türmers unternehmerische Sendung«. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. 10. 2005. 568 Siehe dazu unten: Zweiter Teil, II. 2.4. 569 »Wir kamen aus einer Welt, in der die Worte die Zahlen verdeckt hatten, und fanden uns über Nacht in einer Welt wieder, in der die Zahlen die Worte verdeckten« (Ingo Schulze: Tausend Geschichten sind nicht genug. Leipziger Poetikvorlesung 2007. Frankfurt a. M. 2007, S. 40). 570 Vgl. Für mich war die DDR einfach nicht literarisierbar. Ein Gespräch mit Ingo Schulze. In: Am Erker. Zeitschrift für Literatur 36 (1998), S. 41–46. 571 Ingo Irsigler: »Wer und was wohin gehört«. Momentaufnahmen des sozialen Wandels in Ingo Schulzes Roman Simple Storys. In: Wirkendes Wort 55 (2/2005), S. 255–264.
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die tief verinnerlichte Erfahrung der Abhängigkeit seiner sozialen Existenz vom Staat bis hin zur Verhinderung von Entfaltungschancen grundlegend ist. In seinen literarischen und essayistischen Texten reflektierte Schulze den Anachronismus dieses Traums und die gesellschaftlichen Transformationen, insbesondere die Ökonomisierung des Schreibens. Was Tellkamp mit dem Turm nochmals in Form eines großen ›Epochenromans‹ versuchte (s. u.), verbannte Schulze als Novelle eines adoleszenten Verfassers in den fiktiven Anhang des Romans Neue Leben. Der 2005 unter dem ironisch-antiquierten Titel Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze erschienene Roman reflektiert einen grundlegenden Wandel: Wie Tellkamp später im TurmRoman, interessierte sich Schulze für den »Widerspruch zwischen einem bürgerlichen, altmodischen Stil und dem realen Sozialismus«.572 Jedoch musste er für sich bald feststellen, dass dieses Roman-Konzept in den veränderten Zeiten nicht mehr funktioniert: »Es wurde auf eine merkwürdige Art postdissidentisch. Ich fragte mich immer: Woran erkenn ich, daß das 1998 geschrieben ist und nicht 1982?« 573 Stattdessen schrieb Schulze dann über eine breitere Problematik, die die gesellschaftliche Entwicklung nach 1989 umfasste. Der Konflikt zwischen Bürgertum und realem Sozialismus, der sich im »Dresden-Mythos« verdichtet,574 wird in gegensätzlich verlaufenden Zeitbewegungen erzählt: zum einen auf den Januar 1990 zu, zum anderen vom Wendejahr 1990 weg. Dadurch erhält der Roman eine ambivalente Perspektivierung.575 Neue Leben ist ein Zeit- und Künstlerroman. Er dreht sich um eine Frage, die sich der Protagonist Enrico Türmer selbst stellt: »Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet?« 576 Für Türmers Leben heißt diese Wandlung konkret, wie er vom ›lächerlichen‹ Traum einer bedeutsamen Künstlerexistenz, einer dissidentischen Schriftsteller-Existenz der DDR, die eine ›Sendung‹ hat und deswegen einmal ausgewiesen und im Westen erfolgreich leben wird, über ein halbherziges bürgerrechtliches Engagement zu Wendezeiten innerhalb kürzester Zeit die oppositionellen Wahrheitsansprüche der Kunst aufgibt und erst zum Journalisten, dann – mit Hilfe Mephistos, der in Gestalt des westlichen Unternehmensberaters Barrista auftritt – zum erfolgreichen Geschäftsmann wird, über ein lo-
572 Ingo Schulze, Thomas Geiger: »Wie eine Geschichte im Kopf entsteht« [Gespräch]. In: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1999), S. 108–123, hier S. 253. 573 Ebd. 574 Siehe dazu unten: II. 2.4.; vgl. auch Schulzes »Nachtgedanken«, in denen er alle historischen und kulturellen Aspekte des »Dresden-Mythos«, wie sie dann auch Tellkamps Roman ausstaffieren, nennt, jedoch zum Schluss – mit Blick auf die wieder aufgebaute Frauenkirche – kritisch fragt: »Was ist das für ein Geist, der aus Dresden ein Märchen machen will, und es damit der Geschichts- und Gesichtslosigkeit preisgibt?« (Ingo Schulze: Nachtgedanken. Mythos Dresden. In: I. S.: Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen. Berlin 2009, S. 215–227, hier S. 227). 575 Vgl. Schulze, Geiger: »Wie eine Geschichte im Kopf entsteht«, S. 260 f. 576 Ingo Schulze: Neue Leben. Die Jugend Enrico Türmers in Briefen und Prosa. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Vorwort versehen von Ingo Schulze. München 2007, S. 131.
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kales Anzeigenblatt zunehmend an Macht gewinnt und schließlich – nach dem Bankrott seines regional weit verzweigten Anzeigenblattimperiums – vor den Steuerfahndern ›türmt‹ und verschwindet. Die für den Roman zentrale Frage, »auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf?« lässt sich umformulieren in die Frage, »[w]ie die Marktwirtschaft von der ostdeutschen Seele Besitz genommen hat« 577 und noch konkreter: wie sich der hohe Stellenwert des literarischen Wortes in der ›Literaturgesellschaft DDR‹ in den allmächtigen Wert des Geldes verwandeln konnte.578 Im Zeichen dieser Problematik aktualisiert und persifliert der Roman zugleich den traditionellen Künstler- und Entwicklungsroman, der in der DDR als Lebensmodell ungleich stärker und länger ein Identifikationsangebot darstellte als in den sich alltagskulturell früher und tiefgreifender pluralisierenden Milieus im Westen. Thematisiert wird eine schelmisch-satirische und zudem quasi märchenhafte Metamorphose von einem erträumten subversiven Künstlergeist, der wie Wolf Biermann mit ein paar Worten einen ganzen Staat erschüttern kann,579 zur realen Macht des Geldes und zur neuen gesellschaftlichen Zentralstellung des Unternehmers. Wahrheitsstreben und Widerstandspotential des ersehnten Schriftstellerdaseins werden dadurch reflexiv entzaubert.
Die Kompromissbildung zwischen der literarischen (ästhetischen) und der ökonomischen Werteordnung zeigt sich in der Ambivalenz der Autorposition von Schulze: Einerseits reflektiert sie grundlegend die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse (›wie kam der Westen und der Kapitalismus in meinen Kopf?‹), andererseits hält sie am hohen Stellenwert des Literarischen, am Prinzip einer emphatischen Erzählbarkeit der Welt im Kleinen, die die Welt im Großen widerspiegelt, fest. Sie stützt sich auf ein kulturelles Kapital, genauer: auf ein auf die DDR-Zeit zurückgehendes inkorporiertes literarisches Erbe (so vor allem der Einfluss der fantastischen Literatur E. T. A. Hoffmanns und des detailgetreuen Realismus Alfred Döblins), das den Glauben an die symbolische Zentralstellung der Literatur aufrecht erhält. Im literarischen Feld situiert sich die Autorposition Schulzes daher am anerkannten Flügel des literarischen Mittelbereichs. Vergleichbar mit den Vertretern eines »relevanten Realismus« strebt diese Autorposition nach einem Anschluss an sozialkritische Kategorien, d. h. nach einer Kopplung der Literatur an eine kritische Öffentlichkeit »räsonierender Privatleute« (Habermas).
Die ökonomisch-journalistische Kompromissbildung der »Welt der Inspiration« Die literarische Größe im Mittelbereich stützt sich auf eine hybride Rechtfertigungsordnung zwischen dem ökonomischen Markt, der symbolischen »Ökono577 Vgl. Iris Radisch: »Die 2-Sterne-Revolution«. In: Die Zeit 42, 13. 10. 2005. 578 Vgl. Thomas Steinfeld: Diese Seele schwarz und frei. Wie sich Verdienst und Glück verketten, das fällt den Toren niemals ein: Ingo Schulze schreibt einen Briefroman, findet den Geist der DDR und tauscht ihn in harte Währung – ein alchemistisches Wunderwerk. In: Süddeutsche Zeitung, Literaturbeilage, 18. 10. 2005. 579 Vgl. Schulze, Geiger: »Wie eine Geschichte im Kopf entsteht«, S. 253.
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mie der Aufmerksamkeit« (Franck) für die Person des Schriftstellers und ihre Neuerscheinungen sowie einer genuin ästhetisch-literarischen Anerkennung. Sie beruht auf mehrere Kompromissbildungen der »Welt der Inspiration«: mit der »Welt der Meinung«, der journalistisch-medialen Wertordnung, mit der »industriellen Welt«, mit dem ökonomischen Markt und der Herstellung von ›Erfolgsbüchern‹.580 In der »Welt der Meinung« werden die Größenverhältnisse zwischen den beteiligten Akteuren und Werten in erster Linie durch Identifikation definiert. Dadurch erklärt sich der hohe Stellenwert der für die Funktion der Literatur im Mittelbereich charakteristischen flexibel-normalistischen Subjektkonstitution.581 Das symbolische Aushandeln von Identitäten und Weltbildern ›von Fall zu Fall‹ besteht in einem permanenten Taxieren, Zuordnen und Abgrenzen. Wenn für die Werteordnung der »Welt der Inspiration« Augustinus’ Gottesstaat den paradigmatischen Text darstellt (s. o.), so ist das Gemeinwesen der »Welt der Meinung«, das wesentlich aus konkurrierenden Identifikationsverhältnissen besteht, in Hobbes Leviathan präfiguriert: Die Großen sind darin »Darsteller«, die die Kleinen einschließen, indem sie sie durch »Zeichen« »personifizieren«, ihre »Rolle« spielen, ihnen eine »äußere Erscheinung« verleihen, ihre »Worte« und »Handlungen« auf einer »Bühne« »darstellen«, ihre »Person« verkörpern und in ihrem Namen »handeln«. […] Daher identifizieren sich in der Welt der Meinung die kleinen Wesen mit den Großen, die Unbekannten mit den Bekannten, diejenigen, die im Schatten stehen, mit denen, die brillieren, den Stars und Sternchen.582 Beschrieben ist damit die Rechtfertigungsordnung des für die Mediengesellschaft maßgeblichen Star-Systems. Die personalen Glaubensverhältnisse der Identifikation steigern sich mit der Vergleichsgröße des ›Ruhms‹. Maßgeblich wird die von der »industriellen Welt« ausgehende Täuschung der ›Machbarkeit von Größe‹, d. h. die illusio, grundsätzlich könne jeder ein ›Star‹ werden.583
Wenn im Warenfetischismus den Produkten Zeichen des Ruhms angeheftet werden, ist Ruhm nicht nur in einer symbolischen Ökonomie der Aufmerksamkeit, sondern auch auf dem Warenmarkt und damit in der ›industriellen Welt‹ über einen finanziellen Wert bestimmbar. Die Grundlage für die Kompromissbildung der »Welt der Inspiration« mit der Welt des ökonomischen Marktes – sowohl der Meinungen als auch der industriellen Produktion – besteht darin, dass beide der Zeitordnung der Diskontinuität unterstehen. Sowohl ›priesterlich-kultische‹ als auch alltägliche Kontinuität wirkt sich auf den schöpferi-
580 Vgl. zum Folgenden Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 396–408. 581 Siehe dazu oben: Zweiter Teil, I. 2.3. 582 Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 396. Zitate innerhalb der Zitate stammen aus Hobbes’ Leviathan. 583 Vgl. ebd., S. 397; vgl. zur Generierung des literarischen Star-Systems in Deutschland auch Bogdal: Deutschland sucht den Super-Autor.
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schen Elan der Herstellung von und des Begehrens nach ›Heil‹ hemmend aus; sowohl der immateriell-materielle Markt symbolischer Güter als auch die »Welt der Inspiration« im engeren Sinne sind daher von einer Instabilität der ›Größen‹ und ihrer ›Wechselkurse‹ geprägt. Beide leben in gewisser Weise von der Unsicherheit und Unruhe, von dem Konvergieren der Wünsche und temporären Möglichkeiten. In beiden Welten gilt es, die Gelegenheit zu erkennen und zu ergreifen, um symbolische und finanzielle Gewinne zu erzielen. Bei näherem Hinsehen zeigen sich unterschiedliche Arten, die ›Gunst der Stunde‹ zu nutzen: Während es sich in der ›weltlichen‹, sozialen Zeit um eine sich auf dem Markt bietende Gelegenheit handelt – die kleinen Epiphanien des Alltags, um deren Darstellung sich ein großer Teil der ästhetischen Unterhaltungsliteratur des Mittelbereichs dreht –, erhebt der blitzartige ›Zufall‹ der großen, göttlich inspirierten Epiphanien in der »Welt der Inspiration« die betreffende Person und sein Werk in den Zustand der Gnade und des ErwähltSeins.584 Aber auch auf dem zeitlich indizierten Markt der symbolischen Ökonomie der Aufmerksamkeit und des Warentausches herrscht eine gewisse ›Alchimie‹, eine Verzauberung der Dinge und ihrer Träger, die sie im Sinne der Theorie des flexiblen Normalismus aus der normalen Wertordnung kurzfristig ausbrechen lässt. Hier, in der diskontinuierlichen Zeitordnung, zeigt sich die zentrale Funktion des ›Zauberers‹. Weber hat den »Zauberer« über die Kennzeichen der Diesseitigkeit und der Ökonomie,585 der Diskontinuität (›von Fall zu Fall‹) und des außerinstitutionellen Status (›Zauberei‹ versus ›Kultus‹) definiert.586 Im Unterschied zu den ›Priestern‹ und ›Propheten‹ im Subfeld der eingeschränkten Produktion lassen sich die ›Zauberer‹ im Mittelbereich als Dienstleister selbstverständlich für ihre ›Heilsangebote‹ bezahlen. An diese Bestimmungen schließt die von Boltanski und Thévenot aufgezeigte Herstellungslogik von ›Größe‹ und Rechtfertigung in der Kompromissordnung des »kreativen Marktes« an. Sie gilt auch für den literarischen Mittelbereich: Die Entdeckung neuer Güter, die im Verlauf der Prüfung durch den Markt Gestalt annehmen, verwandelt eine unbedeutende Sache in ein klar identifizierbares, wertvolles Gut. Das jähe und unvorhergesehene Auftauchen dieses neuen Gegenstandes bietet eine Gelegenheit, die für die Kompromissfigur eines kreativen Marktes günstig ist.587
584 Siehe dazu oben: Zweiter Teil, II. 2.1. 585 »Religiös oder magisch motiviertes Handeln ist, in seinem urwüchsigen Bestande, diesseitig ausgerichtet. [...] Das religiöse oder ›magische‹ Handeln oder Denken ist also gar nicht aus dem Kreise des alltäglichen Zweckhandelns auszusondern, zumal auch seine Zwecke selbst überwiegend ökonomische sind« (Weber: Wirtschaft und Gesellschaft: Zweiter Teil, V, § 1, S. 245). 586 Vgl. ebd., § 2, S. 259; u. oben: Erster Teil, I. 1. 587 Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 405.
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Auf dem »kreativen Markt« wandelt sich die ›leidenschaftliche Inspiration‹ zur flexibel-normalistischen Marktmaxime: »einfach mal etwas Verrücktes tun«.588 An dieser Stelle wird die Integration kreativer Werte in den Markt und in die Kompromissordnung zwischen der »Welt der Inspiration«, der symbolischen Ökonomie der Aufmerksamkeit und der Wertordnung der industriellen Welt im neuen Geist des Kapitalismus besonders sichtbar: So herrscht im Mittelbereich der Glaube vor, dass sich inspirierte Leidenschaft und produktive Energie durch Techniken im Sinne des kunstfertigen Handwerks, der Übung und der medialen Technik mobilisieren und durch Effizienz und Organisation steigern lassen. Im Unterschied zur göttlichen Inspiration der Gnade gilt hier der Glaube an die Machbarkeit von ›kreativer Größe‹ und Erfolg, an die Verwandlung einer ungewöhnlichen Intuition in eine effiziente Erfindung (Technik). Diese paradoxe Ideologie der Machbarkeit von charismatischer Größe (Ruhm), die die spezifische Kompromissordnung des Mittelbereichs und ihrer ›art moyen‹ (Bourdieu) prägt, bestätigt Webers Bestimmung der Handlung des ›Zauberers‹ als temporäres Bezwingen der ›Dämonen‹ in den Dingen und ihre alchemistische Umwandlung zu Fetischen. So verschmilzt in der Gestalt des genialischen Erfinders oder berühmten Wissenschaftlers – die insbesondere bei Kehlmann zentral wird – der schöpferische Akt mit einem permanenten technischen Innovationsprozess, der für die Dynamik der modernisierten industriellen Welt charakteristisch ist.589
Die ökonomisch gestützte literarische Größe Die ökonomisch gestützte ›Größe‹ eines literarischen Buches und seines Autors bemisst sich im Handel und auch in der zunehmend ökonomisch orientierten Literaturkritik nach den Bezugsgrößen der »Zeit« und des »Umsatzes«. Nach amerikanischem Vorbild werden hier »fast seller«, »best seller«, »steady bestseller«, »long seller« etc. unterschieden.590 Die sich zeitlich permanent wandelnde Hierarchisierung schlägt sich in den Bestsellerlisten nieder. Das Ranking, das die genuin ästhetischen wie auch moralischen Werturteile flexibelnormalistisch ersetzt,591 erfolgt in der Regel innerhalb einer bestimmten Zeitspanne und innerhalb eines bestimmten geografischen, zumeist nationalen Raumes.592 588 Vgl. ebd. 589 Vgl. ebd., S. 406–408. 590 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 11. 591 Siehe dazu oben: Zweiter Teil, I. 1. u. 2.3. 592 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 12. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass im ökonomischen Feld, wo im Zeitalter einer gesteigerten Globalisierung zunehmend die Logik der in-
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Mit der ökonomischen Grundlage literarischer ›Größe‹ bezeichnet der Begriff »Bestseller« Marktstrukturen und eine eigene Buchkategorie: Bestsellerautoren und Bestsellergenres gelten als sichere »literarische Banken« für den Erfolg.593 Sie bilden ein auf Kriterien des kommerziellen Erfolgs gestütztes Buchhandelssortiment neben anderen.594 Im Zeichen des Bestsellers durchdringt die Verwertungskette verschiedene »sozial- und bildungsbedingt differenzierte […] kulturelle […] Kommunikationsbereiche« (Milieus).595 Ökonomisch am bedeutsamsten ist die Verfilmung, die rückwirkend den Erfolg des Ausgangsmediums steigern kann.596 In Deutschland erzielt ein belletristisches Buch einen Spitzenplatz bei etwa 100.000 verkauften Exemplaren. Für einen Platz auf der Bestsellerliste bedarf es eines Verkaufs von 30.000 Titeln auf Anhieb.597 Bezeichnenderweise erschien in Deutschland die erste Bestsellerliste, die auf der Grundlage von Buchhändlerauskünften erstellt wurde, 1927 in der Zeitschrift Die Literarische Welt,598 also genau in dem Jahr, als Thomas Mann im Geleitwort zu Knaurs Taschenbuchreihe Romane der Welt das Wort vom »Gutgemacht-Mittleren« in den Umlauf brachte599 – dies als deutliches Zeichen dafür, dass sich in dieser Zeit der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich in einer neuen Qualität formiert hatte. Während aber diese ersten regelmäßigen Bestsellerlisten schon nach zwei Jahren aufgrund starker Kritik – die Bücher würden zu Gebrauchsgegenständen reduziert – wieder eingestellt worden sind, kommt die Expansion des Mittelbereichs ästhetischer Unterhaltungsliteratur seit den sechziger Jahren nicht mehr ohne diese Ordnungsinstrumente aus: Maßgeblich wurden in der BRD die Bestsellerlisten des Spiegels, die erstmals 1962 unter der Rubrik »Bücherspiegel« erschienen und zwischen Belletristik und Sachbuch unterscheiden. Bis heute hat die zwanzig Titel umfassende Spiegel-Bestsellerliste bei Buchhändlern und in der Buchindustrie eine hohe Bedeutung. 1993 kam die Bestsellerliste des Focus hinzu, die auf direkten Verkaufsdaten und nicht mehr auf bloßen Schätzungen der Buchhändler wie beim Spiegel basiert. Heutzutage gibt es eine Vielzahl von Bestsellerlisten in verschiedenen Medien, die von der wachsenden Binnendifferenzie-
ternationalen Warenzirkulation herrscht, stets auch nationale (Sprach- und Markt-)Eigenheiten eine Rolle spielen (vgl. z. B. zur Soziologie der internationalen Übersetzungsströme oben: Erster Teil, I. 1.). 593 Klaus Ziermann: Der deutsche Taschenbuchmarkt 1945–1995. Berlin 2000, S. 110; zit. n. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 18. 594 »Voraussetzung für einen Bestseller in diesem Sinn ist eine medialisierte Öffentlichkeit, ein äußerst flexibler Produktions- und Distributionsapparat sowie ein ausdifferenzierter Buchmarkt« (ebd., S. 19). 595 Fischer: Bestseller in Geschichte und Gegenwart, S. 773; vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 19, Anm. 58. 596 So z. B. bei Robert Schneiders Schlafes Bruder (1992, verfilmt 1995); vgl. ebd. 597 15–20.000 nennt dagegen David Oels: »Bestseller«. In: Schütz u. a. (Hg.): Das BuchMarktBuch, S. 47 u. S. 50; vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 16. 598 Vgl. Kornelia Vogt-Praclik: Bestseller in der Weimarer Republik 1925–1930. Eine Untersuchung. Herzberg 1987, S. 22 f. 599 Vgl. Albert: Konstruierte Autorenrollen, S. 95, u. oben: Zweiter Teil, I. 1.2.
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rung der als Marktsegmente fungierenden Buchkategorien (»Kinderbücher«, »Fantasy/Science Fiction«, »historische Romane« oder auch »Hörbuch«) zeugen.600 Analog zur gemischten Werte- und Rechtfertigungsordnung können Bestsellerlisten eine ›doppelte‹ Funktion ausüben: Zunächst sind sie eine aufmerksamkeitssteigernde Instanz, die zum Kauf animieren soll.601 Zugleich gibt es aber auch Buchlisten, die eine an ästhetischen Wertkriterien orientierte, ordnende und aussortierende Kanonisierungsfunktion haben. Die Unterscheidung zwischen einer ausschließlich auf Verkaufszahlen basierenden »Bestsellerliste« und einer »Bestenliste«, die noch andere Wertkriterien als den Absatz eines Buches berücksichtigt, macht deutlich, dass im Mittelbereich der ästhetischen Unterhaltungsliteratur nicht nur ökonomische und soziale Werte der Unterhaltsamkeit, sondern auch ästhetische Werte zählen. So wurde 1975 die einflussreiche SWF- bzw. SWR-Bestenliste begründet, »um literarische Qualität anstelle von an Verkaufszahlen orientierter Quantität zu bewerten«.602
Die Bestseller-Kategorie als Index der ›gemischten Zeit‹ (ökonomischer Absatz und ästhetischer Wert) umfasst sowohl den Mittelbereich ästhetischer Unterhaltungsliteratur als auch den Bereich der Massenproduktion. Daher gilt es, den literarisch ambitionierten Bestseller im Mittelbereich vom »longseller« im Subfeld der eingeschränkten Produktion und vom Trivialbestseller im Subfeld der Massenproduktion zu unterscheiden. Letzterer kommt als »Schema-Literatur« den relativ eindeutigen Bedürfnismustern der Leserschaft zum Zwecke der Zerstreuung nach.603 Dagegen beruht der literarische Bestseller auf hohen Verkaufszahlen und auf einer »mittleren Komplexität« 604 Er lässt sich daher als »Kompositionsroman« charakterisieren.605 Dem literarischen Bestseller gelingt es zwischen den traditionell entgegengesetzten Ökonomien des Marktes und der literarischen Qualität einen Ausgleich herzustellen. Sein kommerzieller wie symbolischer Erfolg, der eine gesellschaftlich breite Leserschaft anspricht, beruht nicht zuletzt auf der Kopplungsmöglichkeit seiner thematischen Aspekte mit dem ›Zeitgeist‹, d. h. mit gesellschaftlich relevanten (Inter-)Diskursen. Als Kompositionsroman ist der literarische Bestseller zwar unterhaltend, gleichwohl weist er ästhetisch ambitionierte Elemente auf. Ein wichtiger Vorläufer dieser gemischten Kategorie ist der besonders in den achtziger Jahren
600 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 12–18. 601 Bestsellerlisten üben den höchsten Einfluss auf »Wenigleser« aus. Ansonsten rangieren sie bei den Kriterien für eine Kaufentscheidung nur auf sechster oder siebter Stelle (vgl. Fischer: Bestseller in Geschichte und Gegenwart, S. 772). 602 Karina Liebenstein: Bestsellerlisten 1962–2001. Eine statistische Analyse. Erlangen-Nürnberg 2005 [online], S. 18; zit. n. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 22; vgl. hierzu auch oben: Zweiter Teil, I. 1. 603 Vgl. ebd., S. 27; diese Unterscheidung stammt von Faulstich: Bestseller, S. 136; vgl. hierzu auch schon oben: Zweiter Teil, I. 1. 604 Faulstich: Bestseller, S. 136; vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 21. 605 Vgl. Faulstich: Thesen zum Bestseller-Roman, S. 90.
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aufkommende postmoderne Roman, der ebenfalls kommerziell erfolgreich und dabei literarisch-ästhetisch anspruchsvoll war und durch seine ›Doppelkodierung‹ auch eine doppelte Lesart erlaubte.606 Ein wichtiges Kennzeichen nicht nur des postmodernen Romans, sondern allgemein des literarisch ambitionierten Bestsellers im Mittelbereich ist schließlich die Intertextualität. Mit dem hybriden Kennzeichen eines ästhetischen Wertes wie auch einer literarisch-›handwerklichen‹ Verfahrenstechnik entspricht die Intertextualität dem magischalchemistischen Bezwingen der ›Dämonen‹ durch die ›Zauberer‹ und dem Glauben an die Machbarkeit von Genialität und Ruhm als neue Formen eines Charismas unter künstlichen, medialen Bedingungen.607 Über ihre Intertextualität können Bestseller in doppelter Hinsicht an frühere Erfolgswerke anknüpfen und sich damit in renommierte Traditionslinien einschreiben: einerseits hinsichtlich der ästhetischen Kodierung (unterschwellige Anspielungen, die nur der ›Kenner‹ erkennt), andererseits hinsichtlich literaturgeschichtlich und international bewährter »Bauformen des Erzählens« (Eberhard Lämmert). So weist der literarische Bestseller als Kompositionsroman formal eine oft klare und kohärente Handlungsführung auf und zudem eine verborgene zweite Ebene der intertextuellen Anspielung. Inhaltlich kennzeichnet ihn ein Aktualitätsbezug, der indes zeitabgewandt »eine Art kollektiver Träume« anbietet.608 Häufig verarbeiten derlei Romane historische Fakten literarisch, d. h. sie spielen ironisch mit der Aufhebung der Gegensätze von Wirklichkeit und Fiktion bzw. von Fantasie im Namen einer höheren Wahrheit und Authentizität. Nicht selten geht es dabei um die Darstellung des ›Großen und Ganzen‹, um existenzielle und metaphysische Fragestellungen,609 die für die Identifikation des Lesers, für seine Subjektkonstitution und sein ›Probehandeln‹ in der Welt, von zentraler, jedoch nicht mehr langfristig verbindlicher Bedeutung sind.
2.3.2 Daniel Kehlmanns ›Spitzenposition‹ Für den Mittelbereich des literarischen Feldes ist eine Kompromissbildung der ästhetisch-inspiratorischen Welt mit dem Markt charakteristisch. Letzterer lässt 606 Ein prototypisches Merkmal des postmodernen Romans ist die »Doppelkodierung als doppelte Wirkungspotenz elitär/populär« und die »Synthese aus Innovation und Kommunikabilität, von intellektueller und genießender Lektüre« (Josua Novak: Der postmoderne komische Roman. Marburg 2009, S. 149; vgl. dazu ausführlich ebd., S 105–148). 607 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 245 f.: »Das Charisma kann entweder ─ und nur dann verdient es in vollem Sinn diesen Namen ─ eine schlechthin an dem Objekt oder der Person, die es nun einmal von Natur besitzt, haftende, durch nichts zu gewinnende, Gabe sein. Oder es kann und muß dem Objekt oder der Person durch irgendwelche, natürlich außertägliche, Mittel künstlich verschafft werden«. 608 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 28. 609 Vgl. ebd., S. 29 f.
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sich wiederum nach der (journalistisch-medial vermittelten) »Welt der Meinung«, der symbolischen Ökonomie der Aufmerksamkeit (Rezeption) und der »industriellen Welt« (Produktion und Distribution) unterscheiden. Aus der Kompromissbildung resultiert eine Nobilitierung über gemischte, sich wechselseitig befördernde ›Größen‹. »Daniel Kehlmann ist Deutschlands literarischer Superstar«, titelte 2006 der Focus. 610 Anhand der ›Spitzenposition‹ von Kehlmann, die er vor allem mit seinem Erfolgsroman Die Vermessung der Welt (2005) einnahm, lässt sich nun die hybride Nobilitierung exemplarisch studieren.
Daniel Kehlmanns Laufbahn Kehlmann ist 1975 als Sohn eines Regisseurs und einer Schauspielerin geboren. Er studierte Philosophie und Germanistik, brach aber seine Dissertation ab, als er erste Erfolge als Schriftsteller erzielte. Von dem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einsetzenden Erfolg junger Autoren der Gegenwartsliteratur wie der Popliteraten konnte er nicht profitieren, obwohl er um 2000 bereits mehrere Bücher vorgelegt hatte. Der Durchbruch im deutschsprachigen Raum wie auch erste Erfolge im Ausland gelangen ihm erst mit dem Roman Ich und Kaminski (2003), einer Satire auf den sich selbst bespiegelnden und generierenden Kunstbetrieb. Dieser Roman, der aus Klischees der medialisierten Kunstszene und der journalistischen Kunstkritik zusammengesetzt ist, wurde in der Literaturkritik sowohl als Fortsetzung wie auch als interne Abgrenzung von der Popliteratur gewertet, deren Ende nach Tristesse Royale (1999) vielfach verkündet worden war.611 Dabei hob man die Weiterführung der popliterarischen Kennzeichen der Ironie, des Spiels und der Oberfläche sowie die Ausrichtung auf Ruhm und Exklusivität hervor. Zu einem literarischen »Superstar« wurde Kehlmann dann durch den internationalen »Megaseller« Die Vermessung der Welt (2005). In der Folge erhielt der junge Autor zahlreiche Preise. Auf diesem Erfolg aufbauend, konnte der Autor sein Ansehen und das Gewicht seines Wortes durch literaturkritische Beiträge im Feuilleton, durch die Teilnahme an Preisjurys, Akademiezugehörigkeit und Poetik-Dozenturen (2001 in Mainz, 2005/06 in Wiesbaden und 2006 in Göttingen) erhöhen. Dabei tritt Kehlmann stets im Habitus der weltliterarischen Belesenheit auf. Er zeigt sich als Kenner der deutschen klassischen Literatur (Lessing, Goethe, Schiller, Jean Paul oder Kleist) und überrascht mit pointierten Detailzitaten aus den Werken, Briefen und selbst unveröffentlichten Schriften seiner internationalen Lieblingsautoren wie Vladimir
610 Zit. n. ebd., S. 96. 611 »Daniel Kehlmann ist mit Ich und Kaminski in der Popfraktion angekommen. [...] Die schnöselige Hauptfigur ähnelt wohl nicht zufällig Gestalten aus Romanen von Christian Kracht oder Benjamin Stuckrad-Barre. Vielleicht hat Kehlmann nur zeigen wollen, dass er auch dieses Genre beherrscht. Doch auch wenn Kehlmann sich selbst nicht zur Popliteratur zählen würde, deren Rettung ist er allemal« (Gustav Mechlenburg: Kunst und Kritik [online]; zit. n. Wilhelm Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«? Daniel Kehlmann und sein Erfolgsroman Die Vermessung der Welt im literarischen Feld. In: Joch, Mix, Wolf [Hg.]: Mediale Erregungen, S. 233–251, hier S. 243).
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Nabokov, John Updike oder Thomas Pynchon.612 Er brilliert mit einer Belesenheit, die er in seinen Texten zugleich pointiert und unterhaltend vermittelt. Hinzu kommen autodidaktisch erworbene Kenntnisse der Mathematik, Physik etc., mit denen er sich gerne im Gestus eines genialischen poeta doctus präsentiert. Kehlmann und seine Werke sind mittlerweile selbst Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Studien. Die Vermessung der Welt ist kanonisiert und Bestandteil des Schulunterrichts.613
Die besondere Stellung Kehlmanns basiert auf einem gemischten, akkumulierten symbolischen Kapital: auf der Verbindung von mehreren (sehr) erfolgreichen Romanen und einer dominanten Deutungsposition, die nicht zuletzt auf seiner Mitwirkung an verschiedenen Konsekrationsinstanzen beruht (Literaturkritik, Literaturpreise und Poetik-Dozenturen, die eine Brücke zur kulturwissenschaftlich modernisierten Literaturwissenschaft schlagen). Seine ›Spitzenposition‹ bedarf weder Skandalinszenierungen noch medialer Selbstinszenierungen (wie bei den Popliteraten),614 sondern zeichnet sich durch einen bürgerlich-konservativen Habitus615 und ebenso durch eine ›genialisch-unterhaltsame‹ Literaturvermittlung aus. Er verbindet einen Neuigkeitswert und zugleich die Wiederkehr von etwas nicht mehr für möglich Gehaltenem […]. Dieser Autor tritt, überspitzt formuliert, als Inkarnation eines juvenilen, die Ironie als Stilmittel und »Haltung« 616 auf neue Art perfektionierenden Thomas Mann ins literarische Feld: Für ihn sind charakteristisch Attribute wie: kultiviert, gebildet, höflich, polyglott, mehrsprachig, belesen, computerspielend (jedenfalls früher), wissensdurstig, nach Erkenntnis strebend, reiselustig. Kurz: Kehlmann ist der wahre Exponent einer neuen, mobilen und mediensozialisierten Autorengeneration in der Wissensgesellschaft [...], die mit souveräner Geste die traditionellen Grenzen zwischen E- und U-Kultur verwischt, weil ihr Literatur nicht Abbild von Realität ist, auch nicht nur »Spielfeld« (das wäre ein Missverständnis), sondern die die poetologische Notwendigkeit sieht, neue, andere Realität auf durchaus unterhaltsame Weise zu konstruieren.617
612 Vgl. Thorsten Ahrend: No more dogs! Erfahrungen mit Daniel Kehlmann. In: Text + Kritik, 177 (2008): Daniel Kehlmann, S. 68–72, hier S. 69. 613 Vgl. zuletzt Nicole Spitzley: Interpretationshilfe Deutsch. Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Hallbergmoos 2012. 614 Vgl. Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«?, S. 234. 615 Vgl. Ole Petras: Tragischer Realismus. Über Daniel Kehlmanns konservative Ästhetik. In: Maike Schmidt (Hg.): Gegenwart des Konservativismus in Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik. Kiel 2013, S. 61–78. 616 Vgl. Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen. Göttingen 2007, S. 22, hier mit Blick auf den Roman Die Vermessung der Welt. 617 Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«?, S. 244. Petras relativiert zu Recht Haefs Einordnung von Kehlmann als »Exponent einer neuen, mobilen und mediensozialisierten Autorengeneration« (vgl. Petras: Tragischer Realismus, S. 77 f.).
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Als exponiertes Beispiel einer neuen Autorengeneration, die vermeintlich die Grenzen zwischen E- und U-Kultur, Literatur als Kunst und Literatur als Journalismus verwischt, verweist Kehlmanns Autorposition in feldanalytischer Perspektive auf ihre Situierung im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich. Seine gemischte Größe, die sich aus einem ökonomischen Erfolg, ästhetischen Ambitionen, der Kopplung mit Deutungs- und Konsekrationsinstanzen und der Verbindung von Leitideen der Wissensgesellschaft mit bildungsbürgerlichem Ansehen zusammensetzt, soll nun näher untersucht werden.
Ökonomische Spitzenposition Kehlmanns riesiger Verkaufserfolg Die Vermessung der Welt steht zunächst für eine ökonomische Ausnahmestellung, für die ökonomisch gestützte Größe seiner Autorposition.618 Diese ist kumulativen Charakters. Mit dem 2003 bei Suhrkamp erschienenen Roman Ich und Kaminski erzielte Kehlmann seinen ersten breiten Erfolg mit schnell über 33.000 verkauften Exemplaren (= Bestseller). Daraufhin wurde der auf literarische Bestseller ausgerichtete Rowohlt-Verlag auf den Autor aufmerksam. Im Buchreport-Ranking der Bestseller-Verlage des Jahres 2004 belegte Rowohlt (rororo-Taschenbücher) Platz zwei hinter dem Goldmann-Verlag. Bereits fünf Monate nach Erscheinen von Die Vermessung der Welt (2005) waren über 400.000 Exemplare verkauft (= herausragender Bestseller). 2008 erschien der Roman bereits in der 40. Auflage mit 1,4 Mio. verkauften Exemplaren im deutschsprachigen Raum (= Megaseller). In der Spiegel-Bestsellerliste rangierte der Roman über 129 Wochen (ab September 2005) und 2006 erklärte ihn der Focus zum Jahresbestseller. 2005 war die Vermessung auch auf der Shortlist für den deutschen Literaturpreis des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, der maßgeblichen Auszeichnungsinstanz des Mittelbereichs.619 Mit seinen Absatzzahlen ist Kehlmanns Vermessung der Welt vergleichbar mit Patrick Süskinds Roman Das Parfum, Günter Grass’ Die Blechtrommel, Robert Schneiders Schlafes Bruder oder – als Beispiel aus dem Bereich der Massenproduktion – Frank Schätzings Der Schwarm. Von den Rezensenten wird er jedoch eindeutig der Bedürfnisgruppe seriöser »ELiteratur« zugeschrieben (im Unterschied zu Das Parfum).620 Für den Erfolg war entscheidend, dass der Roman gerade auch von denjenigen Lesern begeistert aufgenommen wurde, »die sonst vor allem Sachbücher verschlangen« (Alexander Fest vom Rowohlt-Verlag).621 Kehlmanns Megaseller entsprach damit Marktsegmenten, die über die Belletristik hinausgingen. Bis 2008 wurde er in 35 Sprachen übersetzt und auch die englische Ausgabe erreichte Bestsellerstatus. So führte die New York Times den Roman auf der Liste der weltweit meistverkauften Bücher des Jahres 2006 an zweiter Stelle.
618 Folgendes nach Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 89–96. 619 Siehe hierzu oben: Zweiter Teil, I. 3.3. 620 Vgl. Wieblitz: Geniale Bestseller, S. 98. 621 Vgl. Felicitas von Lovenberg: Vermessung eines Erfolges. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 1. 2006, zit. n. ebd., S. 94.
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Während Kehlmanns ökonomische Ausnahmestellung evident ist, bedürfen sein ästhetisch-literarischer Erfolg im engeren Sinne und die allgemeine symbolische Aufmerksamkeit, die er erzielen konnte, einer näheren Betrachtung.
Ästhetische Zweideutigkeit: zwischen handwerklicher und ›magischer‹ Bezwingung der ›Dämonen‹ als Kontingenz-Kompetenz Auffällig ist, dass alle Erzählungen und Romane von Kehlmann durch das Wechselspiel von (historischer) Realität und ausgestellter Fiktionalisierung oder Verwendung von fantastischen Elementen geprägt sind. Mit dieser Vermischung beerbt Kehlmann die Einflüsse aus der und Diskussionen um die Postmoderne, der er einerseits zugeschrieben wird, von der er sich andererseits vehement absetzt. Seine Bücher kennzeichnet allgemein ein ›leichtes‹, unterhaltsames Erzählen. Er verwendet abwechslungsreiche und kalkulierte Erzählmittel, knappe Sätze und einen eingängigen, lakonisch-klaren Stil. Daneben weist seine Prosa jedoch unzuverlässige Erzählinstanzen und komplexe (meta-)reflexive Verweiskonstruktionen auf, wie sie für die postmoderne Literatur, aber auch für das klassisch-moderne, leitmotivische Erzählen eines Thomas Mann kennzeichnend sind, wie Kehlmann selbst durch vielfache intertextuelle Anspielungen deutlich macht.622 Auf die Spitze getrieben wird die reflexive Konstruktion in den verschachtelten Geschichten von Ruhm (2009), die gleichsam ›germanistisch-handwerklich‹ alle erzähltechnischen Möglichkeiten eines metafiktionalen und metaleptischen Erzählens durchspielen.623 Dadurch sichert sich Kehlmann eine literaturwissenschaftliche Deutungshoheit.624 In seinen Künstler- und Genie-Romanen werden das ›Genialische‹ und zugleich die ›Machbarkeit‹ von Erfolg, seine handwerkliche und unternehmerische Seite, fiktional und metafiktional zum Ausdruck gebracht. Das Leitthema des ›skurrilen Genies in bornierter (deutscher) Gesellschaft‹ und das spieleri-
622 Vgl. Heinrich Deterings Rede anlässlich der Verleihung des Thomas-Mann-Preises an Daniel Kehlmann 2008, die eine Parallele zu den Buddenbrooks als »Inbegriff eines realistischen Romans« zieht, der bereits »durchzogen [ist] von jenem Geflecht mehr oder weniger geheimer Verweise, Spiegelungen, Motivechos, das in den folgenden großen Romanen unübersehbar und strukturbestimmend wurde« (Heinrich Detering: Die Spuren des Zauberers. Über Daniel Kehlmann und Thomas Mann. In: Thomas-Mann-Jahrbuch 23 [2011], S. 119–126, hier S. 120). 623 Vgl. J. Alexander Bareis: ›Beschädigte Prosa‹ und ›autobiographischer Narzißmus‹ – metafiktionales und metaleptisches Erzählen in Daniel Kehlmanns Ruhm. In: J. A. B., Frank Thomas Grub (Hg.): Metafiktion. Analysen deutschsprachiger Gegenwartsliteratur. Berlin 2010, S. 243–268. 624 Vgl. Petras: Tragischer Realismus, S. 69.
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sche Verwischen der Grenzen zwischen dem Bereich des Realen und dem der Fantastik und Fiktionalisierung lassen sich als Variante des literarischen ›Probehandelns‹ mit Normalitäten und ihren Abweichungen im Rahmen eines flexiblen Normalismus deuten. Im Unterschied zu den Popliteraten schließt der Umgang mit den Abweichungen von ›normalen‹ Ordnungsvorstellungen stärker an literarischen Traditionen wie z. B. der fantastischen an und wird in einer souveränen, u. a. an Thomas Mann orientierten Bildungshaltung der Ironie abgesichert. Dem erzähltechnisch brillant gemachten Oszillieren zwischen einem realistischen und einem magischen Erzählen entsprechen auf thematischer Ebene Geschichten und Protagonisten zwischen (historischer) Wirklichkeit und ihrer punktuellen Aufhebung in Traum und Fiktion. Im Mittelpunkt von Kehlmanns Romanen stehen zumeist skurrile Genie-Figuren, die die Ordnung der sie umgebenden banalen Welt zeitweilig aufheben, bewusst oder unbewusst nach Ruhm streben, diesen auch in ihrer Skurrilität oder Genialität erlangen, um schließlich jedoch seine Doppelbödigkeit erkennen zu müssen: so der Zauberer in Beerholms Vorstellung (1997), der Physiker in Mahlers Zeit (1999), der Kunstjournalist und der romantische Künstler in Ich und Kaminski (2003), der Naturwissenschaftler Humboldt und der Mathematiker Gauß in Die Vermessung der Welt (2005). Die temporäre Abweichung vom Normalen ist bei Kehlmann mit dem Einbruch des Fantastischen und Magischen verbunden. Bereits im Debütroman Beerholms Vorstellung stehen die Figur des Zauberers, seine magische Kunst und die zunehmende Ununterscheidbarkeit von Wirklichkeit und Magie im Zentrum. Der Roman handelt vom Leben des Protagonisten, der sich früh für Karten- und Zaubertricks begeistert, nach einer mehr oder weniger misslungenen Schulaufführung das Zaubern zunächst zugunsten eines Studiums der Theologie aufgibt, für die er ein rein mathematisches Interesse hat, dann aber – animiert durch die Aufführung eines berühmten Zauberers – sich doch für seine Berufung entscheidet und zum erfolgreichsten und berühmtesten Zauberer seiner Zeit aufsteigt. »Ihren Wendepunkt nimmt die Erzählung, als Beerholm – anfangs willentlich – beginnt, die Unterscheidung zwischen dem ›Handwerklichen‹ der Zauberei und wirklicher Magie zu nivellieren«.625 Auf dem Höhepunkt seines Ruhms zieht er sich daher aus der Öffentlichkeit zurück. Um sich selbst zu beweisen, dass er ein echter Zauberer ist, stürzt er sich, nachdem er seine Geschichte aufgeschrieben hat, von einem Fernsehturm. In Beerholms Vorstellung erzählt Kehlmann realistisch und zugleich fantastisch. Auch thematisch verbindet sich im Protagonisten Rationales mit Visionärem, was bereits in der Doppeldeutigkeit des Ausdrucks »Vorstellung« im Titel zum Ausdruck kommt. Die Zaubervorstellung mit ihrer ästhetisch-inspiratorischen Ambivalenz zwischen dem ›Glauben‹ an die Verzauberung im magischen Moment und dem ›Wissen‹, dass es sich nur um eine ästhetische Täuschung handelt, kann als Metareflexion über die Stellung des Künstlers und seines Kunstwerks im medialisierten Mittelbereich gelesen werden. So verweist schon das vorangestellte, metareflexive Motto626 auf die Wirklichkeit der Täuschung – der medialisierten Simulation – (und
625 Henning Bobzin: Daniel Kehlmann. In: Arnold (Hg.): KLG, 87. Nlg. (2007), S. 3. 626 »Solch ein Spiel verlangt Überlegung. Einem Taschenspieler zu glauben ist Abzeichen der Dummheit. Nicht anders aber der schlichte Unglaube, den er wohl zu nutzen und gegen dich zu kehren weiß. Darum merke dir: Ihm zu mißtrauen, das ist die Weisheit der Toren. Jedoch selbst vor dem Mißtrauen noch Vorsicht zu bewahren, das ist die Torheit der Weisen. Denn
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umgekehrt) sowie auf die für die ästhetische Unterhaltungskunst charakteristische ambivalente Rezeptionshaltung.
Wie allgemein in postmoderner Prosa erscheint in Kehlmanns Romanen Wirklichkeit als Frage der Perspektive. Sie ist durchsetzt von Spiel, Täuschung und Reflexion, wodurch dem Fiktionalen und Fantastischen, d. h. der Erzählkunst, eine konstitutive Bedeutung zukommt. Damit ist ein Grundthema Kehlmanns angesprochen: das Zurückweichen der rationalen Grenzen der Welt und die Erweiterung von Raum und Zeit in fiktional-fantastischen Dimensionen. Die magische Erweiterung der Weltwahrnehmung dient der ›Bezwingung der Dämonen‹ (Weber) in einer von Zufällen und Mittelmäßigkeiten geprägten Welt.627 So ist die Größe des ›Ruhms‹ in der modernen, ökonomisierten und medialisierten Welt, etwa des Kunstbetriebs in Ich und Kaminski, Ergebnis einer gelungenen Inszenierung zwischen Naivität und Reflexivität, zwischen dem Glauben an den Zauber und dem Wissen um seine Künstlichkeit. Dies entspricht der Kernbestimmung der »ästhetischen Unterhaltungsliteratur« (Hans-Otto Hügel).628 Die erzähltechnisch hergestellte Magie in Kehlmanns fiktiven Welten verspricht die Aufhebung der Naturgesetze und steht für den Versuch, den Zufall und das Chaos unter Kontrolle zu bringen.629 Ihm entspricht das erfolgreiche Erzählverfahren eines »gebrochenen Realismus«,630 mit dem sich Kehlmann in die Traditionslinie des Schelmenromans und des fantastischen Realismus Südamerikas einschreibt.631 Die von Kehlmann bevorzugten und intertextuell zitierten ›Meisterwerke‹ 632 stehen für die Verbindung von Realismus und magi-
aus beidem erwächst Verwirrung. Welchen Weg du auch einschlagen willst: gewinnen wird der Taschenspieler. (Giovanni di Vincentio: Über die Kunst der Täuschung)« (Daniel Kehlmann: Beerholms Vorstellung [1997]. Neuausgabe Reinbek b. Hamburg 2007, S. 5); vgl. auch Klaus Zeyringer: Gewinnen wird die Erzählkunst. Ansätze und Anfänge von Daniel Kehlmanns »Gebrochnem Realismus«. In: Text + Kritik, 177 (2008): Daniel Kehlmann, S. 36–44, hier S. 38. 627 In Ich und Kaminski unterzieht der Maler Kaminski den Realitätsbildern Spiegelungen und Perspektivwechsel, um einen »Weg aus der Mittelmäßigkeit« zu finden (Daniel Kehlmann: Ich und Kaminski [2003]. Frankfurt a. M. 2004, S. 127). 628 Vgl. oben: Zweiter Teil, I. 1.1. 629 Vgl. Martin Lüdke: Eigentlich geht es nur um den Zufall. »Beerholms Vorstellung« und seine keineswegs vergeblichen Schritte auf dem Weg zur Aufklärung. In: Text + Kritik, 177 (2008): Daniel Kehlmann, S. 45–53, hier S. 45. 630 Vgl. Zeyringer: Gewinnen wird die Erzählkunst. 631 Vgl. Ahrend: No more dogs!, S. 69. 632 Vorbilder für seinen ›gebrochenen Realismus‹ sind Kleist, Stendhal, Proust, Thomas Mann, Nabokov, Salinger, Updike, Pynchon, Coetzee und insbesondere die lateinamerikanischen Erzähler wie Gabriel García Márquez (Hundert Jahre Einsamkeit [1967]), Jorge Louis Borges (Fiktionen [1944]), Alejo Carpentier (Das Reich von dieser Welt [1949]), Juan Rulfo (Pedro
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schem Erzählen ein. Indessen befinden sich viele von ihnen heute auf den Listen einer international erfolgreichen world literature. Es handelt sich in der Mehrzahl um Klassiker einer international erfolgreichen ›trade fiction‹. Viele der ökonomisch gestützten internationalen Bestseller mit literarischen Qualitäten schließen an den postmodernen Roman an – und das heißt häufig: an eine internationalisierte Kafka-Rezeption vor allem in Gestalt der südamerikanischen Erzählliteratur des »magischen Realismus«. Kehlmanns Literatur wiederum knüpft an eine international bereits nobilitierte Literatur an, die sich aus einem klassischen (wie bei Nabokov) und neuen (wie bei Updike) ästhetisch ambitionierten und zugleich unterhaltsamen Erzählen mit Elementen philosophischer Fantastik (wie bei Borges) zusammensetzt. Dabei komprimiert Kehlmann oft das Format seiner Autorenvorbilder: Er bevorzugt kleinere Erzählformen, die den Stilmitteln der Prägnanz und der Überraschungsmomente (Pointen) als literarische ›Zaubertricks‹ entgegenkommen. Kehlmann zielt mit seiner Autorposition auf die exklusive Aneignung und genialische Vermittlung dieser internationalen ›Meisterwerke‹ ab. Seine demonstrative Wahlverwandtschaft mit dem magischen Realismus633 lässt sich auf die im literarischen Feld eingenommene Position zurückführen. Der als literarischer Kosmopolit auftretende Autor ist in literatursoziologischer Sicht ein exklusiver symbolanalytischer ›Händler des Internationalen‹,634 der mit dem bereits gesicherten Ruhm international zirkulierender Produkte ›handelt‹ und aus ihnen literarische Halbfabrikate für seine eigene Produktion gewinnt: Wie auch Kracht, aber stärker noch der klassischen bürgerlichen Literatur verbunden, verarbeitet Kehlmann traditionelle Elemente des historischen Romans und des Reise- und Abenteuerromans neu. Die Neuverarbeitung von Halbfabrikaten der klassisch-modernen Erzähltradition wird durch metafiktionale Reflexivität und Ironie-Formen angereichert und gegen Entwertungen abgesichert. Insgesamt gewinnt Kehlmann mit diesen Verfahren ein neues, ›exzellentes‹, d. h. unterhaltsames und außerdem ›meisterhaft‹ arrangiertes, die Zeit überdauerndes Erzählen. Die ästhetische Zweideutigkeit zwischen einem intertextuellen und metafiktionalen Anschluss an literarische ›Meisterwerken‹ einerseits und leicht
Páramo [1955]), Mario Vargas Llosa (Der Krieg am Ende der Welt [1981]), Roberto Bolaňo (Die wilden Detektive [1998]); vgl. Zeyringer: Gewinnen wird die Erzählkunst, S. 36. 633 Vgl. Gunther Nickel: Von »Beerholms Vorstellung« zur »Vermessung der Welt«. Die Wiedergeburt des magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik. In: G. N. (Hg.): Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«. Materialien, Dokumente, Interpretationen. Reinbek b. Hamburg 32009, S. 151–168. 634 Vgl. Dezalay: Les courtiers de l’international.
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zugänglicher Unterhaltung andererseits basiert auf einem Genre-Format, das bei Kehlmann ein erzählkompositorisch serielles Produktionsverfahren aufweist.635 Stets geht es in seiner Prosa um eine biografische Geschichte mit Identitätsproblematik. Aufbau und Varianten der Geschichten liegt eine generative Matrix der Erzählmuster zu Grunde.636 Hinzu kommt das durchgängige Verfahren der Doppelkodierung: die literarische Selbstreflexivität oder Metafiktionalität und zugleich das ›leichte‹, aber ›meisterhafte‹ Erzählen im Gestus der souveränen Komposition (unter Berufung auf Flauberts Ideal der stilistischen »impeccabilité«),637 wodurch die neuartige, gebildete Souveränität des Autors inszeniert wird. Deren ›Genialität‹ zeigt sich gerade in einer kunstvollen, handwerklichen Fähigkeit. Kehlmanns stilistisches Durchkomponieren bewährter Erzählmuster und deren Transzendierung durch Reflexivität und Metafiktionalität, kurz: das Erfolgsrezept für die Reaktualisierung der Idee einer ›genialischen‹ Autorschaft unter sekundären, medialisierten Bedingungen folgt der unternehmerischen Leitidee der kreativen Berufe: der Machbarkeit von Erfolg durch das Beherrschen des Handwerks eines ›leichten‹, souveränen Erzählens plus unverfügbarer kreativer, divinatorisch-inspiratorischer Elemente ›genialischer‹ Pointen und fantastischer Grenzüberschreitungen. Schließlich sichern die Anspielungen auf internationale (klassische) Intertexte der world literature 638 den Anschluss an die literarische Tradition und damit eine Nobilitierung, die mit der bildungsbürgerlichen Idee der Kategorie der ›Meisterwerke‹ die symbolische Distinktion zwischen E- und U-Literatur letztlich eher fixiert als aufhebt. Die Aufrechterhaltung des Status eines großen Kunstwerks und zugleich das Versprechen einer leichten Vermittlung charakterisiert auch das paradoxe Credo der Literaturkritik, an die Kehlmann anknüpft. Das ›Genie‹ oder der ›Magier‹, der schlagartig Normalitätsordnungen durchbricht und auf den Kopf stellt, sind Leitmotive in Kehlmanns Werken, in denen der Autor seine gesellschaftliche Stellung reflektiert. Sie verweisen auf Webers Typus des unternehmerischen ›Zauberers‹. Mit dem expliziten Rückgriff auf den südamerikanischen magischen Realismus verbindet sich bei Kehl-
635 Vgl. zum foldenden Modell Petras: Tragischer Realismus, S. 70 f. 636 1. ein realistischer Ausgangsraum (zumeist ein solipsistischer Mann), 2. der Versuch einer Durchbrechung oder Nutzung der Isolation, 3. der Einbruch des Fantastischen (die Auflösung der gewohnten Ordnung, Verlust der Maßstäbe einer prästabilisierten Ordnung), 4. das Scheitern der Transition (das Eingeständnis der Grenzen), 5. Der katastrophale Schluss (oft der Tod der Hauptperson); vgl. ebd. 637 Vgl. Daniel Kehlmann: Ironie und Strenge. In: D. K.: Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher. Reinbek b. Hamburg 2005, S. 133–143, hier S. 136. 638 In der Vermessung der Welt finden sich intertextuelle Anspielungen auf Thomas Pynchons Mason / Dixon (1997); Ruhm spielt auf Mario Vargas Llosas La casa verde (1965) an.
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mann ferner eine interne Abgrenzung von dem im Mittelbereich vorherrschenden Realismus. So wird auch die Literatur der Gruppe 47 als ›radikaler Realismus‹ entwertet.639 Wenn sich Kehlmanns Autorposition einerseits von einem engagierten oder ›relevanten‹ Realismus abgrenzt (= Kopplung mit einer klassischen politischen Öffentlichkeit), übersteigt sie andererseits auch den ›dispersen Realismus‹ (= Kopplung mit einer Ökonomie der Aufmerksamkeit).640 Die exponierte ›Magier‹-Position Kehlmanns verwandelt den ›dispersen Realismus‹ im Mittelbereich durch einen exklusiven, indes populären Anschluss an die Größen einer globalisierten world literature. Hinzu kommt eine – u. a. an Thomas Mann anschließende – Leitmotivik, die den Gestus einer ›genialisch‹-komplexen und einfach-unterhaltenden, handwerklich virtuosen Komposition des Kunstwerks trägt. Mit dieser erzähltechnischen und thematischen Modernisierung des Künstlerromans erzeugt Kehlmann das (Auto-)Porträt eines souveränen Autors, der in einer grundsätzlich von Kontingenz geprägten Welt den Überblick und die Kontrolle behält. In Fortführung des Flaubertschen Ideals des Autors als kompositorischem ›Gott‹,641 der einen Realismus mit stilistischer Kunstfertigkeit verbindet, stellt Kehlmanns ›magisches Bezwingen der Dämonen von Fall zu Fall‹ eine besondere Souveränität im Umgang mit Kontingenz dar, die zum Handwerk der neuen »Symbolanalytiker« zählt.642 Die erzähltechnisch wie auch thematisch umgesetzte ›Zauberkunst‹ ist ein Kunststück der Unterhaltung und zugleich des ästhetischen Könnens, der pièce bien faite. Der literarisch umgesetzte Zaubertrick verwandelt das Flüchtig-Kontingente kurzzeitig, halb im Spaß und halb im Ernst, in verblüffende Epiphanien des Alltags, die – das macht ihre ästhetische und erzähltechnische Größe aus – durch Intertextualität, Leitmotivik und Metafiktionalität in einen ›geheimen‹, doppelkodierten Zusammenhang als Form gebracht sind: die des guten, unterhaltsamen Erzählens einerseits und
639 Von der Kritik ausgenommen wird Günter Grass, da er Autor des weltliterarischen ›Meisterwerks‹ Die Blechtrommel ist. Grass wird von Kehlmann als »große[r] Magier unserer Literatur« bezeichnet (Daniel Kehlmann: Diese sehr ernsten Scherze. Zwei Poetikvorlesungen. In: D. K.: Lob. Über Literatur. Hamburg 2011, S. 125–168, hier S. 137). 640 Siehe hierzu oben: Zweiter Teil, I. 3.3. 641 »Während der vorflaubertsche Autor ein räsonierender und kommentierender, den Leser von der Seite anredender, dem Geschehen mit manchmal mehr oder manchmal weniger Aufmerksamkeit folgender Begleiter war, ist sein Nachfolger ein unerreichbares, alle Handlungsfäden kontrollierendes Wesen, das sich nicht auffinden läßt und sich nie äußert, obwohl nichts geschieht, das nicht in seiner Macht und Absicht läge, mit anderen Worten: Gott« (Kehlmann: Wo ist Carlos Montúfar? [»Ironie und Strenge«], S. 137). 642 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, I. 3.
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erzähltechnischer Komplexität und Reflexivität andererseits. Der Schriftsteller als ›Zauberer‹ und sein ›magischer Realismus‹ erfüllen und entziehen sich daher im Habitus der Souveränität dem im Mittelbereich geltenden Imperativ zum Umgang mit Kontingenzen im Zeitmodus der Flüchtigkeit.
Diskurskopplungen und Doppelkodierungen der ›Meisterwerke‹: Die Vermessung der Welt und Kehlmanns Literaturkritik Der ökonomische Erfolg der Vermessung der Welt war von breiten Rezipientenkreisen getragen. Der Roman sprach verschiedene Leser-Milieus an und bot Anschlussmöglichkeiten an zentrale gesellschaftliche (Inter-)Diskurse. Politisch lassen sich diese als Leitdiskurse eines modernisierten bürgerlichen Konservatismus charakterisieren, worauf auch die gesellschaftliche und politische Ausrichtung vieler Preise, die Kehlmann erhalten hat, hinweist.643 Dieser Konservatismus zeigt sich am deutlichsten im Rekurs auf dominante Wissens- und Bildungsdiskurse, der für den Roman charakteristisch ist.644 Der Erfolg des Romans Die Vermessung der Welt lässt sich nicht nur auf den Anschluss an international populäre Gattungen wie den historischen und biografischen Roman zurückführen, sondern auch auf die Vermittlung an (national geprägte) Bildungsdiskurse, denen in der modernisierten bürgerlichen ›Wissensgesellschaft‹ eine zentrale Bedeutung zukommt. Kehlmann, dem das Anliegen eines »Gesellschaftsromans« eher suspekt ist (vgl. 236), bevorzugt das Modell des historischen Romans. Gleichwohl ist unübersehbar, dass die mit den beiden Protagonisten verbundenen Wissensdiskurse – der den klassischen Humanitätsdiskurs ad absurdum führende Ethnologie- und Anthropologiediskurs Humboldts und Gauß’ Formalisierungsdiskurs der Mathematik, Astronomie und Geometrie – eine unmittelbare Bedeutung für die gegenwärtige Wissensgesellschaft haben.645 Der Roman bietet ein unterhaltsames ›Bildungsspiel‹, in dem verschiedene Leitthemen der Gesellschaft der Gegenwart über die historische Fiktion verhandelt werden: so zum Beispiel das Widerspiel zwischen Faszination und Grenzen der wissenschaftlichen Erfassung der Welt, zwischen deutscher Borniertheit und ästhetischem Kosmopolitismus (vgl. 237). Im Roman wird Alexander von Humboldt von Goethe als Abgesandter der klassisch-humanistisch gebildeten Welt auf Reisen geschickt.646 Dazu konträr steht der ebenfalls von Humboldt
643 Kehlmann erhielt u. a. 1998 den Förderpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, 2003 den Förderpreis des Österreichischen Bundeskanzleramtes, 2006 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, 2007 den WELT-Literaturpreis und 2008 den Thomas-Mann-Preis. 644 Folgende Ausführungen zum Teil nach Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar?«; Nachweise im Fließtext. 645 »Die Verbindung des naturwissenschaftlichen und mathematischen mit dem kulturwissenschaftlichen Diskurs, der Philosophie und Literatur, ja eigentlich [sind] alle wichtigen und re-aktualisierbaren Wissensformen der Goethezeit in die Narration integriert, könnte ein entscheidendes Kriterium für den Erfolg sein« (ebd., S. 236). 646 Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt. Reinbek b. Hamburg 2008, S. 37.
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repräsentierte Charakter der wissenschaftlichen Vernunft gleichsam als Kehrseite der humanistischen Sendung. Die Gewalt, die die wissenschaftliche Vermessung der Welt in sich trägt, kommt über die Erzähltechnik der indirekten Rede und im Duktus einer lakonischen Beiläufigkeit zum Ausdruck.647 Die Transgression des historischen Realismus erfolgt über Einbrüche des Fantastischen innerhalb der Diegese648 und über metafiktionale Elemente wie vor allem in Gestalt der »drei Ruderer«, die über ihre Vornamen – Carlos (Fuentes), Gabriel (García Márquez), Mario (Vargas Llosa) und Julio (Cortázar) – und ihre narrative Funktion einen metafiktionalen Verweis auf den magischen Realismus südamerikanischer Erzähler darstellen.649 Das Fantastische widersteht nicht nur der rationalen Aneignung der Welt – es führt sie auch über sich selbst hinaus. Ähnlich wie bei Raoul Schrott wird eine Verbindung zwischen dem Künstler und den Naturwissenschaften im Zeichen der ingeniösen Imagination hergestellt.650 Die wissenschaftliche Weltvermessung hat ihre Grenzen, aber das literarische Erzählen erlaubt ihre Transgression bis hin zu höheren Erkenntnissen einer ›Weltweisheit‹. Diese werden aber stets, einem Zaubertrick gleich, mit einem ironischen Augenzwinkern des Erzählers metafiktional vorgeführt. Auch die Exotisierung der von Humboldt entdeckten Neuen Welt – Südamerika – dient der Behauptung einer Ähnlichkeit zwischen der naturwissenschaftlichen und der literarischen Weltwahrnehmung, mehr noch: Letztere übersteigt erstere, da der Wissenschaftler selbst zu einer Figur des magischen Realismus wird.651 Damit bietet der Roman einen doppelten Zugang an: Einerseits scheint er ›exklusive‹ anekdotische Einblicke in das Leben der großen Persönlichkeiten der Goethezeit zu vermitteln. Andererseits wird die präsentierte Wissenschafts- und Bildungsgeschichte der Klassiker in ihrer Komplexität im Namen der ›ingeniösen Fantasie‹ soweit simplifiziert und naturalisiert (die menschliche Seite der Geistesgrößen), dass sie für jedermann ohne Kontextwissen zugänglich ist.
Die auch für den populären postmodernen Roman charakteristische Doppelkodierung der Vermessung der Welt sowohl für einen ›eingeweihten‹, professionellen als auch für einen ›amateurhaften‹ Leser korrespondiert mit der ironisch-distanzierten Erzählstimme »zur Umgehung der ›Trivialfallen‹ des historischen Romans«.652 Die ›Meisterschaft‹ Kehlmanns besteht also darin, dass er
647 »In Havanna zum Beispiel habe der Baron zwei Krokodile einfangen und mit einem Rudel Hunde zusammensperren lassen, um ihr Jagdverhalten zu studieren. Das Geschrei der Hunde sei kaum zu ertragen gewesen, es habe geklungen wie das Jammern von Kindern. Danach seien die Wände so blutig gewesen, daß man den Saal auf Baron Humboldts Kosten neu habe ausmalen müssen« (Vermessung der Welt, S. 165). 648 Es tauchen plötzlich ein Ufo, ein Seeungeheuer, ein Hund und die eigene Mutter auf. 649 Vgl. Die Vermessung der Welt, S. 105 f. 650 Die Fiktionalität der wissenschaftlichen Erforschung der Welt findet ihren Höhepunkt bei der Besteigung des Chimborazo, die im Ungefähr der Imagination endet: »Man könnte, sagte Bonpland, auch einfach behaupten, man wäre oben gewesen« (ebd., S. 177). 651 Humboldt weist zunehmend selbst dämonische, ›schemenhafte‹ Züge auf (vgl. ebd., S. 196 oder S. 198). 652 Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«?, S. 237. Haefs zitiert Kehlmann aus einem FAZ-Interview: »Ohne die Idee der indirekten Rede hätte ich das Buch nicht schreiben können. Wenn man zum erstenmal darüber nachdenkt, einen historischen Roman zu schreiben, ist man zunächst eingeschüchtert von all den Trivial-Fallen, die da lauern« (in: Gunter Nickel
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die diskursiven und erzähltechnischen ›Halbfabrikate‹ des historischen Romans, die für gewöhnlich im Bereich der Massenproduktion zirkulieren, mit Leitmotiv-Strukturen und Doppelkodierungen, die auf Intertexte der klassischen Hochliteratur verweisen, ›anreichert‹. Dadurch wird sein Roman auch für professionelle oder bürgerlich-bildungsbeflissene Lesarten zugänglich. Zur Doppelkodierung kommt Kehlmanns »Strategie der permanenten Distanzierung vom literarischen Markt« hinzu sowie der »fortwährend ausgestellte Habitus kultureller Distinktion gegenüber den Marktmechanismen der Literaturverwertung, den Literaturvermittlungs- und Verwertungszwängen« hinzu.653 Die Distinktion erfolgt indessen über eine aktive Beteiligung. Nach der Besetzung einer exklusiven Spitzenposition geht es um »symbolische Besitzstandswahrung«.654 So erweiterte Kehlmann nach dem ›Megaerfolg‹ der Vermessung der Welt seine Präsenz an wichtigen Knotenpunkten des literarischen Betriebs. In der Rolle des Literaturkritikers erweist er sich als ein Nachfolger des ›Großkritikers‹ Reich-Ranicki. Dieser hatte mit der Inszenierung des ›Theaterstücks‹ einer literarischen Öffentlichkeit in der Fernsehsendung Das literarische Quartett maßgeblich zur Medialisierung der Literaturkritik beigetragen und deren Wertungskriterien dem Maßstab der Unterhaltung angepasst.655 In den Bänden Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher (2005) und Lob. Über Literatur (2010), die Buchbesprechungen, Beiträge und Vorträge versammeln, tritt Kehlmann nun als hybride Konsekrationsinstanz des Mittelbereichs auf: als genialischer Literaturkritiker-Schriftsteller. Kehlmanns Literaturkritik betont häufig – ganz in der Logik des journalistischen Diskurses – die ›Meisterschaft‹, den ›literarischen Rang‹, die ›Bedeutsamkeit‹, ›souveräne Autorität‹ oder ›große Kunst‹ von Autoren und ihren Werken.656 Er nähert damit die Kritik des literarischen Werkes der schöpferischen Persönlichkeit des Autors an. Die bevorzugte Methode seines literarischen Urteils ist die der Einfühlung im Sinne eines idealen Lesers. Dabei tritt die Lektürelen-
[Hg.]: Daniel Kehlmanns »Die Vermessung der Welt«. Materialien, Dokumente. Interpretationen. Reinbek b. Hamburg 32009, S. 26–35, hier S. 32). 653 Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar«, S. 248; vgl. auch Kehlmanns Kritik an den Deutschen Buchpreis, nachdem 2005 Arno Geiger ihm vorgezogen wurde (Daniel Kehlmann: Entwürdigendes Spektakel. In: FAZ.net, 20. 9. 2008; zit. n. ebd., S. 249, Anm. 53). 654 Petras: Tragischer Realismus, S. 69. 655 Vgl. hierzu oben: I. 1.1. Reich-Ranicki selbst ebnete Kehlmann den Weg, als er am 6. 10. 2003 in Heidenreichs Literatursendung Lesen zu Gast war und den jungen Autor mit einem apodiktischen, zum Kauf auffordernden Statement ›höhere Weihen‹ verlieh: »Ich empfehle Daniel Kehlmann unbedingt. Intelligenz, Beobachtungsgabe und fabelhafte Dialoge!« (zit. n. Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar?«, S. 244). 656 Vgl. Lob, S. 18 (zu Thomas Bernhards Holzfällen), S. 34 (zu J. M. Coetzees Tagebuch eines schlimmen Jahres), S. 44 (Kleistpreis-Laudatio auf Max Goldt).
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kung mit einem Gestus auf, der zwar nicht mehr apodiktische, aber doch ›genialische‹ Deutungshoheit beansprucht. Analog zu Reich-Ranickis binären Bewertungsmaßstab langweilig – nicht langweilig (= ›meisterhaft‹) gibt es bei ihm nur ›gut‹ oder ›schlecht erzählte‹ Geschichten. Dabei wird der Wert der Literatur an einem kosmopolitischen, weltliterarischen Maßstab gemessen. Das zentrale Kriterium des literarischen Urteils ist die Meisterschaft der Autoren der internationalen klassischen und der zeitgenössischen Moderne. In Lob werden Klassiker gelobt, die keines Lobes mehr bedürfen.657 Gehuldigt wird kanonisierten Klassikern der Weltliteratur wie Shakespeare oder Kleist im Tone eines ›Bildungs-Wir‹, wobei Kehlmann die Strategie der genialischen Pointe und des unerwarteten Urteils verfolgt.658 Mit der Herstellung von Wahlverwandtschaften geht zugleich die Rolle eines Präzeptors einher. Einem zweiten Borges gleich, verbindet Kehlmann die Inszenierung eines enzyklopädischen Wissens mit einer ›magisch-ingeniösen‹ Anwendung. In diesem Sinne bedeutet Literaturkritik bei ihm ein Nachspielen von ›Meisterpartien‹, worin sich der für den literarischen Mittelbereich charakteristische Glaube an die Machbarkeit des Genialischen und an den Autor als ›ingeniösen Unternehmer‹ zeigt.
Kehlmanns ›kosmopolitisch-genialischer‹ Habitus steht in Opposition zu einem bigotten und bornierten Geschmack des deutschen Bürgertums. Sein ästhetisches Urteil bietet ein Distinktionsangebot innerhalb der bürgerlichen Literaturrezeption selbst. Hier verbinden sich ein stilkonservativer Habitus mit modernisierten Repräsentationsgesten und -formeln.659 Bei aller alchemistischer Verwandlungskunst im Spielen mit fiktiven und faktualen Referentialitäten ist Kehlmanns gesellschaftspolitische Haltung relativ eindeutig: gegen eine linke Avantgarde, gegen Fortschrittsglauben und auch gegen postmodernen ›Unfug‹.660 Seine neokonservative Autorposition steht in Verbindung mit dem Auftreten einer neuen Bürgerlichkeit, die für die zweite Hälfte der neunziger Jahre charakteristisch war und sich auch auf das literarische Feld auswirkte.
2.4 Die bürgerlich gestützte ästhetische Position der Notabeln Die Polarität des literarischen Feldes verläuft strukturhomolog zum sozialen Raum, d. h. zum »Gegensatz zwischen einem Pol, an dem das kulturelle Kapital vorherrschend ist, und einem Pol, an dem das wirtschaftliche und politische
657 Vgl. zum Folgenden Christopher Schmidt: Enfant flexible. Daniel Kehlmann lobt als Rezensent, Essayist und Konzertredner vor allem solche, die kein Lob mehr brauchen – z. B. sich selbst. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.7./1. 8. 2010. 658 So zum Beispiel, wenn er behauptet, Grass sei kein »engagierter Didakt«, sondern ein großer »Magier« wie Márquez gewesen (Kehlmann: Lob [»Diese sehr ernsten Scherze«], S. 137). 659 Vgl. Haefs: »Deutschlands literarischer Superstar?«, S. 244 f. 660 Vgl. hierzu auch Petras: Tragischer Realismus, S. 74–78.
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Kapital überwiegt«.661 Während die ›Spitzenpositionen‹ im Mittelfeld tendenziell auf einer Kompromissbildung zwischen ästhetischem und (medien-) ökonomischem Kapital beruhen, repräsentiert die Autorposition der Notabeln eine bürgerlich gestützte Größe. Ihre Reputation ist im Unterschied zum Ansehen der Ästheten nicht durch eine dominant ästhetische, sondern durch eine dominant der sozialen Zeit unterliegende gesellschaftliche Wertschätzung gekennzeichnet. Gegenüber dem zentralen Wert des ästhetischen Urteils, des »interesselosen Wohlgefallens«, das im Kern aristokratisch, d. h. antibürgerlich ist, dominieren hier die bürgerliche Haltung des Schriftstellers und die von seinen Werken repräsentierten gesellschaftlichen und moralischen Wertordnungen.662 Am Pol der literarischen Notabeln wird Literatur als »ein Mittel der Reproduktion der sozialen ›Elite‹« angesehen; oft wird mit ihr »eine pädagogische Berufung [verbunden], die in der Veranschaulichung der grundlegenden Werte der sozialen Ordnung besteht«.663 Die Wertschätzung bezieht sich dabei auf die mit der gesellschaftlichen Person des Schriftstellers und seinen Werken verbundene posture: eine literarische Positionsnahme, die sich aus dem gesellschaftlichen Habitus und Ethos der Person und entsprechenden, in den Werken zum Ausdruck gebrachten Werten zusammensetzt.664 Die Legitimation und Rechtfertigung der Größe des bürgerlichen Schriftstellers ist durch den kulturellen Geschmack der herrschenden Klassenfraktionen und letztlich (staatlich-)institutionell abgesichert.665 So schreiben literarische Notabeln ihre Werke mit dem Selbstbewusstsein einer gesellschaftlich-institutionell verbürgten moralischen Legitimität. Häufig melden sie sich in den Feuilletons der Leit-
661 Sapiro: Das französische literarische Feld, S. 159. 662 »Im Kreis der ›Notabeln‹, wo der ›gute Geschmack‹ vorherrscht, hebt das literarische Urteil den Inhalt gegenüber der Form hervor und neigt, beunruhigt über die sozialen Wirkungen der Werke, zu einer moralischen oder sogar moralisierenden Betrachtungsweise« (ebd., S. 160). 663 Ebd. 664 Zum Konzept der literarischen posture vgl. Jérôme Meizoz: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Joch, Wolf (Hg.): Text und Feld, S. 177–188. 665 Für das französische literarische Feld resümiert Sapiro: »Der vorherrschende Soziabilitätstyp an diesem Pol des Feldes ist derjenige der mondänen Salons, in denen der Schriftsteller mit den Inhabern des ökonomischen und politischen Kapitals zusammentreffen. Ebenso ist die Académie française jene Instanz, welche die im Dienst der herrschenden Fraktionen der herrschenden Klasse und der Tradition stehende Literaturkonzeption am besten verkörpert, sind in ihr doch die Schriftsteller mit anderen Repräsentanten der weltlichen und geistlichen Macht wie Politikern, Offizieren, Geistlichen und freien Berufen vertreten« (Sapiro: Das französische literarische Feld, S. 161).
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medien zu Wort.666 Nicht selten sind sie Träger von Ehrenwürden und übernehmen Schirmherrschaften, sitzen in Preisjurys oder sind Mitglieder von Akademien.667 Die (literarischen) Akademien spielen in Deutschland eine andere Rolle als die Académie française in Frankreich, jedoch gibt es Überschneidungen. In den ersten Jahren nach 1945 war das bildungsbürgerlich-konservative, pädagogische Selbstverständnis der Akademien in beiden Teilen Deutschlands stark ausgeprägt: Sowohl in der BRD als auch in der DDR sollte die Dichtung moralische und demokratische Orientierung geben und Leitwerte der neuen Staatsbildungen repräsentieren. Im Zuge der Ost-West-Polarisierung zeichneten sich dann verschiedene Entwicklungspfade ab: Die Deutsche Akademie der Künste zu Berlin – 1950 kurz nach der DDR-Staatsgründung durch einen feierlichen Staatsakt geschaffen – war eine direkt mit der staatlichen Kulturpolitik und ihren Repräsentations- und Regulierungsbedürfnissen verbundene Institution (vgl. 159). Auch in Westdeutschland wurde das Modell einer nationalrepräsentativen Literatur- und Sprachakademie angestrebt, wobei man sich am Vorbild der Académie française orientierte: Die Position einer nationalen Literatur- und Sprachakademie, wie sie die Académie française repräsentiert, war freilich unter den ganz anderen Bedingungen in Deutschland nicht als gesamtstaatlich verantwortliche und daher auch zentralstaatlich installierte Instanz, sondern nur in der Form einer staatsunabhängigen, gleichwohl von den staatlichen Instanzen sanktionierten Einrichtung möglich. (160) Entsprechend hatte (und hat weiterhin) die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt, die durch die Übernahme der Verleihung des Georg-Büchner-Preises (seit 1951) für das literarische Feld zur wichtigsten Konsekrationsinstanz geworden ist, einen politisch-literarischen Doppelcharakter.668
Die literarisch-symbolische Größe der Notabeln ist maßgeblich von ihrer gesellschaftlichen Haltung und den von ihnen repräsentieren weltanschaulichen und moralischen Werten geprägt. Die ästhetische Wertordnung nimmt hier Formen des Kompromisses mit der Rechtfertigungsordnung des »Hauses«, des »Staatsbürgers«, der »industriellen Welt« und auch der »Welt der Meinung« an (im Sinne von Boltanski und Thévenot). Feldstrukturell bildet diese bürgerlich nobilitierte Autorposition eine Schnittstelle zwischen dem eingeschränkten literarischen Feld und dem Feld der Massenproduktion, jedoch weniger über die ökonomische Leitwährung der Bestseller als über die im Sozialraum und im politischen Feld zirkulierenden gesellschaftlichen Leitdiskurse. Die literari-
666 »Stützen ihres Engagements sind die großen Presseorgane, der öffentliche Vortrag und der Essay« (ebd.). 667 Vgl. zum Folgenden Bernd Busch: Zwischen ›Poetenwäldchen‹ und ›Richter und Wächter‹. Zur Rolle literarischer Akademien. In: Arnold, Beilein (Hg.): Literaturbetrieb in Deutschland, S. 151–171; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 668 Vgl. hierzu auch oben: Zweiter Teil, II. 1.2.
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schen Notabeln sind Wortführer der Leitdiskurse gesellschaftlicher Eliten, insbesondere des konservativen (Besitz- und Bildungs-)Bürgertums mit seinen familiären, religiösen und nationalen Wertordnungen. Dabei kann jedoch das Dominanzverhältnis der Kompromissbildungen im einzelnen Werk rezeptionsästhetisch jeweils unterschiedlich wahrgenommen werden: Wie schon hinsichtlich Botho Strauß gesehen, kann eine ästhetische Bestimmung des Kunstwerkes in eine heteronome Lesart umschlagen, wenn das Werk dominant außerästhetischen Werten und Leitdiskursen der Religion, der Nation etc. zugeordnet wird. Autoren und ihre jeweiligen, mit dem Werk verbundenen (ästhetischen, politischen, moralischen) Positionsnahmen können also eine Doppel- oder Kipp-Position zwischen Ästheten und Notabeln einnehmen, je nachdem, ob sie sich in die dominanten Geschmacksordnungen der bürgerlichen Welt einfügen lassen oder nicht.669 Die Zuordnung zum ästhetischen Pol oder zum Pol der Notabeln zeigt sich deutlicher erst in der langfristigen Rezeption, so besonders in den Literaturgeschichten. Während in der dominant ästhetischen Wertschätzung das Werk als Kunstform zählt und sich die biografische Person im Sinne Foucaults zum Autor als diskursiver Einheit des Werkes verwandelt, unterliegt die Zuordnung zum Pol der Notabeln der sozialen oder historischen Zeit. Ihre Wertschätzung beruht vor allem auf der gesellschaftlich situierten Persönlichkeit und auf den in ihren Werken vermittelten weltanschaulichen Themen und Werten. Nach »1968« war in der BRD die von nationalstaatlichen und bürgerlichen Institutionen gestützte Autorposition weitgehend diskreditiert.670 Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden jedoch im Zuge allgemeiner Nationalisierungs- und Verbürgerlichungstendenzen in der neuen ›versöhnten‹ Nation der »Berliner Republik« (s. u.) neue Notabeln im kulturellen respektive literarischen Feld sichtbar. Einige von ihnen wurden mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet, der durch seinen ästhetisch-politischen Doppelcharakter eine Scharnierfunktion ausüben kann: Einerseits befördert er durch seine kunstautonome Konsekrationsform die Initiation oder Passage von einer avantgardistischen zu einer arrivierten Position der Ästheten. Anderseits stellt er aufgrund seiner institutionellen Einbindung in die Akademie der Sprache und Dichtung in Darmstadt, die zu 90 % aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, auch eine Passage zum Status bürgerlicher Respektabilität dar. In diesem Falle ist der BüchnerPreis eine dominant gesellschaftliche Konsekrationsinstanz für Autoren, deren
669 Handkes Ästheten-Autorposition am Rande der Gesellschaft ist mit dem herrschenden bürgerlichen Geschmack in einer ›friedlichen Koexistenz‹ vereinbar; ihre politische Übertragung aber nicht (s. o.: Zweiter Teil, II. 2.1.2.). 670 Vgl. oben: Erster Teil, II. 1.; u. Zweiter Teil, II. 2.1.
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Wertschätzung im Kern auf ihrer bürgerlichen Haltung beruht. Beispiele hierfür wären die Preisverleihungen an die Autoren Martin Mosebach (2007) oder Walter Kappacher (2009), deren literarischer Rang und langfristige Integration in das literarische Gedächtnis in Frage gestellt werden.671 Andere Notabeln erhalten (staats-)bürgerliche Weihen von anderen, zum Teil nach der Wiedervereinigung neu gegründeten Institutionen. Sie stehen für eine unmittelbar sichtbare, politisch-gesellschaftlich motivierte Wertschätzung, wie etwa der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung,672 der vom Kulturkreis der deutschen Wirtschaft verliehene Literaturpreis (ehemals »Hans-Erich-Nossack-Preis« 673, z. B. 2006 an Ernst-Wilhelm Händler) oder der »Nationalpreis« der »Deutschen Nationalstiftung« (u. a. 2009 an Uwe Tellkamp, s. u.).
2.4.1 Auf dem Weg zur bildungsbürgerlich-klassischen Kunst: Durs Grünbeins Nach den Satiren (1999), Antike Dispositionen (2005) und Porzellan (2005) 674 Die naturwissenschaftlich gestützte Behauptung poetischer Souveränität findet ihren Fluchtpunkt in einer Klassik, in der die kosmische Ordnung der Einheit 671 Vgl. z. B. Sigrid Löffler zur Verleihung des Büchner-Preises an Martin Mosebach im Vergleich zur Preisverleihung an Peter Handke: »[D]er gewaltige Unterschied zwischen Peter Handke und Martin Mosebach ist der: Niemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, wird bezweifeln, dass Peter Handke ein außergewöhnliches, literarisches Werk hat, dass seine literarischen Qualitäten außerordentlich sind. Die sind unbestritten. Er bekommt also seine Preise für die literarische Qualität seines Werkes und nicht für seine politischen Meinungen, die Irrmeinungen sein mögen. Bei Martin Mosebach hingegen bezweifle ich die literarische Qualität. Es bleibt mir gar nichts anderes übrig, als zu vermuten, dass seine Gesinnung ausgezeichnet werden soll und nicht seine literarische Qualität, die in meinen Augen ziemlich fragwürdig ist« (»Das hat etwas Perverses«. Löffler kritisiert Vergabe des Georg-Büchner-Preises an Mosebach. Kulturinterview auf Deutschlandradio Kultur am 5. 10. 2007; http://www.dradio.de/dkultur/ sendungen/kulturinterview/677424/; abgerufen am 21. 10. 2012). 672 »Seit 1993 wird der von Ministerpräsident Dr. Bernhard Vogel ins Leben gerufene Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung in Weimar vergeben. In kürzester Zeit ist der Preis zu einer festen Größe im literarischen Leben in Deutschland geworden. Geehrt werden Autoren, die der Freiheit ihr Wort geben« (Selbstdarstellung der Konrad-Adenauer-Stiftung, http:// www.kas.de/wf/de/21.61/; abgerufen am 21. 10. 2012); Preisträger waren u. a.: Sarah Kirsch (1993), Walter Kempowski (1994), Hilde Domin (1995), Günter de Bruyn (1996), Thomas Hürlimann (1997), Herta Müller (2004), Wulf Kirsten (2005), Daniel Kehlmann (2006) und Uwe Tellkamp (2009). 673 »Das Gremium Literatur vergibt jährlich unter dem Vorsitz von Nina Hugendubel den mit insgesamt 40 000 Euro dotierten Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft in den Sparten Prosa, Poesie, Dramatik und Übersetzung« (Selbstdarstellung des Kulturkreises des BDI, http://www.kulturkreis.eu/index.php; abgerufen am 21. 10. 2012). 674 Vgl. zum Folgenden auch unten die Fallstudie 3 und die Vorstudien von Heribert Tommek: Die Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz: Der Aufstieg Durs Grünbeins in
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durch die Prinzipien der Analogie und der Repräsentation herrscht. Auch Grünbeins Lyrik zeugt von einem Wandel der Grundlegung: von der Objektivität der naturwissenschaftlichen Wissensordnung hin zu den traditionell geltenden Ordnungen der humanistisch-klassischen Bildung. Die gesellschaftliche Nobilitierung Grünbeins begann mit der Erklärung Gustav Seibts in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der junge Lyriker aus Dresden sei der neue »Götterliebling« und der »erste Dichter, der die Spaltung der deutschen Literatur überwindet«.675 Gegen den politisierten Schriftstellertypus der alten BRD und der DDR gewendet, erfolgte hier die Herausstellung einer neuen ›Größe‹ im Rahmen einer öffentlich inszenierten Beglaubigung des vermeintlichen ›Endes des Zeitalters der Ideologien‹ von bürgerlich-konservativer Seite. Die Nobilitierung erreichte dann ihren Höhepunkt mit der Verleihung des Büchner-Preises an Durs Grünbein 1995. In der Begründung der Preisjury hieß es: »In seinen Gedichten verbindet sich Kalkül mit einer seismografischen Sensibilität. Mit behutsamer Genauigkeit hebt er das Wort aus den Schatten überladener Bedeutung in die Helle des Gedichts, das sich so unserer Wirklichkeit öffnet«.676 Der Büchner-Preis hat primär eine literarische, aber auch eine gesellschaftliche Nobilitierungsfunktion. So deutet die Rede von der »überladene[n] Bedeutung« auf das politische (oder auch subjektive) Gedicht, das Grünbeins neue Lyrik überwinde. Die »Helle des Gedichts« verweist auf eine ästhetische Qualität, auf eine »Rückkehr in den Raum des Gedichts« (Uwe Kolbe).677 Nach der Auszeichnung mit dem Büchner-Preis erfolgte zunächst ein mehrjähriger ›Rückzug‹. In dieser Zeit entwickelte Grünbein habituelle poetische Umstellungsstrategien, die der weiteren gesellschaftlichen Konsolidierung und Nobilitierung seiner Autorposition förderlich waren. Nach den Satiren (1999) stellte durch die demonstrative Hinwendung zur Spätantike einen für die Durchsetzung seiner bürgerlich nobilitierten ästhetischen Position signifikanten Wandel dar. Der sich hierin zeigende Wille zur Formgebung markiert die bereits in Falten und Fallen angelegte Überwölbung der ›Fallen‹ des Menschen, seine Unzulänglichkeit, durch eine lyrisch-pointierte, mit wachsender Souveränität agierende Sprachführung.678 Nach der Naturwissenschaft als den neunziger Jahren. In: Robert Schmidt, Volker Woltersdorff (Hg.): Symbolische Gewalt. Herrschaftsanalyse nach Pierre Bourdieu. Konstanz 2008, S. 147–167; u. H. T.: Das bürgerliche Erbe der DDR-Literatur. 675 Gustav Seibt: Mit besseren Nerven als jedes Tier [Rezension von Falten und Fallen]. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. 3. 1994. 676 Michael Assmann, Herbert Heckmann (Hg.): Zwischen Kritik und Zuversicht. 50 Jahre Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Göttingen 1999, S. 430. 677 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, III. 2. 678 »Es mutet daher nicht mehr merkwürdig an, daß Grünbeins Lyrik, trotz des Blicks in den gähnend tiefen Schacht Mensch, die Fugung oder Synaphie der Zeilen nicht sprengt. Die
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›Anatomie‹ und ›Neurophysiologie‹ wird nun die Antike als ›Archäologie‹ zum zentralen poetologischen Paradigma,679 das schon auf eine zeitenthobene Gedächtnisfunktion verweist. Das Subjekt tritt hier deutlicher denn je bei Grünbein als souveränes Bildungssubjekt hervor. Der poeta doctus setzt die Prämisse einer anspruchsvollen Sprach- und Textchiffrierung und geht dabei zugleich von einem »geheime[n] Einverständnis zwischen Dichter und Publikum« aus.680 Dieses Einverständnis bedarf des ›idealen Lesers‹ zur wechselseitigen Beglaubigung symbolischer Exzellenz.681 Nach den Satiren fand beim gebildeten, akademischen Publikum große Anerkennung, so auch beim renommierten Altphilologen und Latinisten Manfred Fuhrmann, der sich in gleich zwei Aufsätzen mit dem Band auseinandersetzte. Fuhrmann, Verfasser einer Geschichte der römischen Spätantike (1994) und später eines Reclam-Bandes über die Genese und Aktualität der humanistischen Bildung (2002), bescheinigt Grünbein, das spätrömische Erbe in exzellenter Weise weitergeführt zu haben:682 Die Bezugnahme auf den spätrömischen Satiriker Juvenal sei stimmig und überzeugend, nicht nur in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht. Neben der Wertschätzung der poetischen Form betont Fuhrmann die gelungene »Zeitdiagnose am Widerpart Rom«. Denn Juvenal gilt als erster Großstadtdichter mit zivilisationskritischem Impetus. Auch die Hauptintention der »Historien«, die den ersten Gedichtzyklus von Nach den Satiren bilden, ziele auf das späte Rom als »Modell der Dekadenz, als Menetekel eines ausweglosen Endes«, so wie Grünbeins Lyrik allgemein als »Praeparatio mortis, im stoischen oder existentialistischen Sinne« zu verstehen sei.683 In der spätantiken Referenz erkennt Fuhrmann die aktuelle Thematisierung eines problematischen »Völkergemisch[s] der Metropole« und einer »Konkurrenz der Ausländer« 684 – ein Thema, bei dem man an die zeitgenössischen Debatten der neunziger Jahre im Zusammenhang mit der Verschärfung des Asylrechts, an die angstbesetzte Wahrnehmung zunehmender ›Migranten-Ströme‹ und an die fremdenfeindli-
›Variationen‹, ›Annoncen‹ und ›Telegramme‹, die das Erschrecken über urplötzlich auftretende Mängel des Alltags aufzeichnen, teilen den Schock nicht in der Laut-Form mit. […] Die pointierte Zeile macht Schluß und schließt ab, was nie zum Ausbruch kam. Davongekommen« (Erk Grimm: Das Gedicht nach dem Gedicht. Über die Lesbarkeit der jüngsten Lyrik. In: Döring [Hg.]: Deutschsprachige Gegenwartsliteratur, S. 287–311, hier S. 303 f.). 679 Vgl. zum Folgenden Hermann Korte: Habemus poetam. Zum Konnex von Poesie und Wissen in Durs Grünbeins Gedichtsammlung »Nach den Satiren«. In: Text + Kritik, 153 (2002): Durs Grünbein, S. 19–33. 680 Ebd., S. 19. 681 Der ›ideale Leser‹ wird hier als komplementäre Figur zum poeta doctus verstanden, d. h. er verfügt über die notwendigen Bildungsdispositionen zum Er- und Anerkennen der textuellen Formgebung und stofflichen Kodierung. 682 Manfred Fuhrmann: Zeitdiagnose am Widerpart Rom. Zu Grünbeins Gedichtband »Nach den Satiren«. In: Sprache im technischen Zeitalter 37 (1999), S. 276–285. 683 Ebd., S. 277–279. 684 Manfred Fuhrmann: Juvenal – Barbier – Grünbein. Über den römischen Satiriker und zwei seiner tätigen Bewunderer. In: Text + Kritik, 153 (2002): Durs Grünbein, S. 60–67, hier S. 61 f.
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chen Ausschreitungen in Deutschland denkt. Doch diese aktuellen gesellschaftspolitischen Themen werden von Fuhrmann nicht direkt, sondern nur über die spätrömische Referenz, also über den gebildeten Diskurs, sublimiert und indirekt angesprochen.
In der akademischen Lektüre erweist sich das komplementäre Verhältnis zwischen dem klassischen Kunstwerk und seinem idealen, bildungsbürgerlichen Leser. Diese wechselseitige Selbstvergewisserung durch Bildung funktioniert über die Anverwandlung antiker Formen und Stile auf Seiten der Produktion und deren Wieder- und Anerkennung auf Seiten der Rezeption. Der hermeneutische ›Grundvertrag‹, auf dem sich die ideale Lektüre gründet, lässt sich mit Korte problematisieren, der den Band Grünbeins als Dokument des in den neunziger Jahren neu auftretenden poeta doctus liest: Während sich in Schädelbasislektion noch Chiffren zur poetologischen Konstruktion und Simulation von Wirklichkeitsmodellen finden, werde in Nach den Satiren eine neue Qualität des Wissensrekurses der Poesie erreicht. Der Rückgriff auf historische Wissensfelder in einem »bunten Mix aus römischer Kulturhistorie, Kunst-, Literatur- und Zeitgeschichte (von Tiberius bis Stalin, von Horaz bis Heiner Müller)« geschehe in einer Weise, dass dieser Wissens- und Bildungsrekurs zu einem das einzelne Gedicht übersteigendes Strukturelement werde.685 Als Selbstzweck erfülle es eine bestimmte Funktion: Im Gegensatz zum »verstörende[n] anthropologische[n] Blick der Schädelbasislektion« verleihe es dem lyrischen Subjekt eine Haltung der Souveränität, so dass dieses mit der Zusammenfügung des Geschichtlichen geradezu spielerisch umzugehen wisse. Damit konstituiere sich der Autor als souveränes Subjekt bzw. als souveräne Sprecherstimme, die eine ›Vogelschau‹ einnehme und die entlegenen Wissensressourcen wie selbstverständlich in einer poetischen Zusammenführung präsentiere.686 Die Inszenierung souveräner Autorschaft verweist auf den ihr zugrundeliegenden Konnex von Autorschaft und Autorität und damit auf ein gesellschaftliches Anerkennungs- und Glaubensverhältnis. Die Herstellung einer Position des souveränen Autors rekurriert auf die Autorität der Traditionen, auch wenn diese gebrochen aufgenommen werden. Bei Grünbein geht es zunächst allerdings weniger um eine klassizistische Restaurierung als darum, dass das Subjekt des Schreibens eine Möglichkeit findet, von sich selbst im Modus des Gerechtfertigten zu sprechen. Mit diesem »dokumentierte[n] Selbstbewußtsein« findet eine (Re-)Inszenierung literarischer Autorschaft statt. Es wird ein poetologisches Programm vertreten, das Lyrik wieder den »Rang bedeutenden Sprechens zuweist«.687
685 Vgl. Korte: Habemus Poetam, S. 23 f. 686 Vgl. ebd. 687 Ebd., S. 29.
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Grünbeins folgende Werke sind von einer fortgesetzten Anverwandlung der Antike geprägt. Der Titel des Essay-Bandes Antike Dispositionen (2005), der Aufsätze aus den Jahren 1995–2004 versammelt, spielt darauf an.688 Der für Grünbein charakteristische ›neusachlich-kalte‹ Habitus zielt nun verstärkt auf die Strenge der lateinischen Grammatik, wie er im Aufsatz »Zwischen Antike und X« (2001) ausführt. Das Gedicht als eine Erkenntnismaschine, die memorierend die Gedankenimpulse und Reflexe aufzeichnet, hat sich in ein »Perpetuum mobile« lateinischer Verse transformiert: Perpetuum mobile – keine andere Sprache war so sehr Maschine; eine Maschine, die alles Psychische und flüchtige in etwas Präzises und Transitives verwandelte, in ein Produkt von dauerhafter Bedeutung. Die Schubkraft der Syntax, das Spiel der Ausdrucksmuskeln im Griff der Kola bewirkte, daß einem das Dichterwort im Lateinischen als etwas quasi Gegenständliches entgegentrat, als Plastik aus Silben, vokalischer Artefakt. (393)
Wie Handke in der Niemandsbucht zeigt sich Grünbein fasziniert von einer »Sprache als Codex« (393), die alles Subjektive, Affektive und Vielfältige in Maß und Form bringt und ihre universale Grammatik freilegt. Wie allen »Sprachverliebten« (Philologen) ist sie auch ihm Zauber der Form – ultima ratio im verbalen Gestöber. […] Es scheint, als hätten wir hier eine lingua universalis, der die lyrischen Metren so inhärent waren, daß sie durch bloße Selbstbesinnung zum Vorschein kamen. (394)
Gleich dem antiken Ideal des wohlgeformten Körpers und der ihm komplementären aristokratischen Haltung der Arete hält die Formstrenge »die widerstrebenden Affekte« zusammen (ebd.). Von ihr geht eine Identität gebende Selbstdisziplinierung aus, an deren Ende die qua klassischer Bildung geadelte Haltung steht: »Im Lateinischen steckt der Befehl zum aufrechten Gang, das Alphabet zur Charakterbildung: der Buchstabe ist der Charakter« (ebd.). Haltung ist das nach außen gewendete innerliche Streben nach Ordnung, Form und Distinktion. Das Ideal ästhetischer Subjektkonstitution ist hier bildungsbürgerlicher Art, d. h. ein »Zusichkommen der Inspiration« (398) in der Disziplin.689 Grünbeins weitere Entwicklung prägte ein nicht zu übersehender
688 Dies gilt auch, wenn ihm ein Hamlet-Zitat vorangestellt ist, das das englische »antic« im Sinne von »grotesk«, »verworren« meint: »As I perchance hereafter shall think meet / To put an antic disposition on –« (Hamlet, I.5; zit. in Durs Grünbein: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005, hier S. 9; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 689 »Domestiziert haben uns beide, in gegenstrebiger Fügung, wie es bei Heraklit heißt: das Lateinische als Schule der Disziplin, das Altgriechische als Zusichkommen der Inspiration. In ihm lag das Alpha, das die Sehnsucht zum Omega mit sich bringt, das Verlagen der Physis nach Schönheit und Metaphysik« (398).
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›militanter‹ Wille zur klassischen Haltung und zur Aneignung von »Weltkultur«. Es wurde zwar zu Recht bemerkt, dass es dabei »nicht um buchstäbliche Auferweckung der Antike, sondern um Selbsterkenntnis« ging,690 aber diese »Selbsterkenntnis« war konstitutiv mit einer Rechtfertigung der gesellschaftlichen Existenz des Dichters verbunden. Die seit Nach den Satiren und Antike Dispositionen charakteristische Zusammenstellung kultureller Zeugnisse ganz verschiedener Zeiten zielt auf die »Zusammenschau in der Perspektive des Individuums. […] Die Antike ist in diese umfassende Präsenz unterschiedlicher Zeiten, Räume, Kulturen eingebunden, sie kommt zur Sprache und zum Sprechen, indem sie im Bewußtsein des Sprechers präsent wird«.691 Die Antikerezeption dient der Vervielfältigung der Wahrnehmungs- und Anspielungsebenen im Glauben an die synthetische Macht der poetischen Autorität der Sprache. Je mehr aber Grünbein die Haltung eines souveränen Umgangs mit dem Kanon des legitimen Kulturerbes demonstrierte, desto mehr gerieten sein Schreiben und die Herstellung innerer Beziehungen und Analogien in den Verdacht des epigonalen Kunsthandwerks.692 Das Streben nach antiken Dispositionen trägt in sich die Tendenz zu manierierten ›Überformen‹ und zur (deutschen) Mythenbildung. In der Folge zeigte sich Grünbeins Autorposition produktions- und rezeptionsästhetisch mehr bürgerlich als ästhetisch gerechtfertigt, wie sich am Porzellan-Poem aufzeigen lässt. Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt (2005) markiert den Übergang von einer dominant ästhetischen zu einer dominant gesellschaftlichen Rechtfertigung der Autorposition Grünbeins. Das Poem kann als ein Höhepunkt innerhalb der Entwicklung einer Position der ›barocken Feierlichkeit‹ gelesen werden. Diese visiert die poetische (Re-)Totalisierung der fragmentarisierten Kultur, der zerbrochenen schönen Formen an, d. h. die Wiederherstellung einer Weltkultur im Spiegel der Geschichte der Zerstörung Dresdens. Allgemein gewann der Dresden-Topos in dieser Zeit an Bedeutung. Diese symbolische Gewichtung stand in einem Zusammenhang mit der Durchsetzung der Legitimität eines neuen Opferdiskurses der Deutschen in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, die für das neue kulturelle Selbstverständnis der »Berliner Republik«
690 Michael von Albrecht: Nach den Satiren. Durs Grünbein und die Antike. In: Bernd Seidensticker, Martin Vöhler (Hg.): Mythen in nachmythischer Zeit. Die Antike in der deutschsprachigen Literatur der Gegenwart. München 2002, S. 101–116, hier S. 107. 691 Ebd., S. 114. 692 Albrecht kommt diesem Vorwurf zuvor und verteidigt Grünbeins literarische Exzellenz: »Präsenz der Antike heißt für ihn nicht tote museale Bildung, sondern Lebendigkeit des Sprechens, frei von den Symptomen sprachlicher Vergreisung, wie sie in den gedankenlosen Klischees der Politik und der Werbung allenthalben um sich greift« (ebd., S. 115).
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wichtig wurde. Die Formation des neuen Opferdiskurses lässt sich in verschiedenen Prosatexten nachlesen, etwa in Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995), in Martin Walsers Ein springender Brunnen (1998) oder in Günter Grass’ Im Krebsgang (2002). Sie ging in eine Debatte über, die durch W. G. Sebalds Vorlesungen Luftkrieg und Literatur (1999, 2001 veröffentlicht) angestoßen wurde.693 In diesen Zusammenhang gehören auch die Darstellungen der traumatischen Erinnerung an die Zerstörung Dresdens, die sich ab dieser Zeit häuften.694 Auch in Grünbeins Werk findet sich schon früh die Auseinandersetzung mit seiner Heimatstadt als Memorialort. Im Anhang der Werkausgabe von 2006 wird der erste Gedichtband Grauzone morgens ausdrücklich einer »Revision« unterzogen. Grünbein, der zum Teil in der »Er«-Form und in indirekter Rede von sich selbst spricht, distanziert sich von der ›naiven‹ Form seines ersten Gedichtbandes. Was er in der Rückschau allein noch gelten lässt, ist der Schauplatz, die Stadt namens Dresden. Diese allein sei das Bleibende darin, ein Stück geschundener europäischer Barockkultur, und sie so früh schon besungen zu haben in aller Sprödigkeit, der wahre Zweck des Büchleins, das ihm ansonsten ganz ferngerückt sei.695
In seiner »Revision« betont Grünbein den besonderen Wert, den die poetische Gestaltung Dresdens als »magischer Schauplatz« für die weitere Entwicklung des Werkes hatte. Die folgende Auseinandersetzung mit dem Dresden-Topos führte vom »Gedicht über Dresden« 696 in Schädelbasislektion, über »Europa nach dem letzten Regen« in Nach den Satiren und Reflexionen in einem Gespräch vom März 2002697 bis hin zu ihrem Höhepunkt in dem Porzellan-Poem,
693 Vgl. Volker Hage: Zeugen der Zerstörung. Die Literaten und der Luftkrieg. Essay und Gespräche. Frankfurt a. M. 2003; u. V. H. (Hg.): Hamburg 1943. Literarische Zeugnisse zum Feuersturm. Frankfurt a. M. 2003; zu Sebalds Luftkrieg und Literatur siehe oben: Zweiter Teil, II. 2.2.3. 694 Vgl. Renatus Deckert (Hg.): Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden. Frankfurt a. M. 2005; u. Achim Geisenhanslüke: Nach Dresden. Trauma und Erinnerung im Diskurs der Gegenwart. Durs Grünbein ─ Marcel Beyer ─ Uwe Tellkamp. In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes in der Gegenwart, S. 285–301. 695 Grünbein: Gedichte Bücher I–III, S. 379 f. 696 Das »Gedicht über Dresden« bildet eine Einheit mit dem Gedicht »O Heimat, zynischer Euphon«, das weiter unten in der Studie 3 näher untersucht wird. 697 Renatus Deckert, Durs Grünbein: »Auch Dresden ist ein Werk des Malerlehrlings«. In: Lose Blätter. Zeitschrift für Literatur. Sonderheft 3 (2002), S. 8–21; wiederabgedruckt in: Deckert (Hg.): Die wüste Stadt, S. 189–212; vgl. auch Renatus Deckert: Ruine und Gedicht. Das zerstörte Dresden im Werk von Volker Braun, Heinz Czechowski und Durs Grünbein. Dresden 2010, S. 135–154.
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das 2005, im Jahr der Weihung der wieder aufgebauten Frauenkirche, erschienen ist. Dabei wandelte sich der Dresden-Topos vom Symbol einer »reinen spätsozialistischen Gegenwart« 698 ohne poetische Qualität bis hin zum ›genius loci‹ und Gedächtnisraum einer einstigen Teilhabe an der Weltkultur, die für immer zerstört, deren Verheißung auf ›Wiederherstellung‹ aber in den Fragmenten des Denkbildes (im Sinne Benjamins) aufbewahrt sei. Wie schon in Grauzone morgens geht es in dem Figurengedicht »Gedicht über Dresden« 699 weiterhin um die »Scheintote Stadt« (V. 1), jedoch hat die »Barockphobie« 700 deutlich ihren Akzent verschoben hin zu einem Gesang auf die zerstörte barocke Schönheit der Stadt. Dresden wird als »Barockwrack an der Elbe« (V. 1) zum »Suchbild« (V. 3) und »Puzzle« (V. 4), also zu etwas, was durch seine Lückenhaftigkeit hindurch auf eine ursprüngliche Vollständigkeit, auf eine verlorene Gesamtform zurückverweist und zugleich dort hindrängt. Die Stadt wird nicht mehr als industrielle Landschaft, sondern als »königlich« wahrgenommen (ebd.). Der ›harte Blick‹, der in Grauzone morgens vorherrschte, hat sich zu einem ›weichen Blick‹ gewandelt.701 Die neusachlich-kalte, apathische Wahrnehmung ist nun von einem »genius loci« (V. 10) gefangen genommen, einem gleichsam wärmenden »Depressivum« (ebd.), »gemästet mit Erinnerungen« (V. 11), der Baudelaireschen narkotischen Nostalgie gleich (vgl. V. 14), die auf ein präraffaelitisches »nevermore« verweist (V. 14). Damit liegt eine dem Gesamtgestus der Schädelbasislektion zwar äußerlich entgegenstehende, ihr aber schon zugrunde liegende Ästhetisierung und Romantisierung vor.702 Indem diese immer wieder in ironischer, sarkastischer oder zynischer Brechung auftreten, entstehen durch die gewollten ›harten Fügungen‹ zum Teil sehr groteske und bis ans absurd Abwegige grenzende Perspektiven: So wird das zerstörte Dresden in einer Abwandlung eines Brecht-Zitats als »das Werk des Malerlehrlings« Hitler (V. 16) bezeichnet, die Zerstörung Europas als »Stilbruch« (V. 18) und als »Technik flächendeckender Radierung« (V. 20) – eine provokante Ästhetisierung, als politischer Stilbruch inszeniert, an die später das als ästhetisch ›kühn‹ entworfene Porzellan-Gedicht anknüpft, indem es für den Leser oft befremdende Verbindungen, etwa die von ›Bombardierung‹ und ›Penetration‹ der Stadt, vornimmt.703 Zum feierlichen ›Gesang‹, zur Ästhetisierung und zu der
698 Grünbein im Gespräch in: Deckert (Hg.): Die wüste Stadt, S. 201. 699 »Gedicht über Dresden«. In: Schädelbasislektion, S. 202. Das Gedicht besteht aus vier siebenzeiligen Strophen in einer grafischen Versetzung der Zeilen jeweils nach schräg unten, die offenbar die alliierte Reaktion auf das »Werk des Malerlehrlings« (Hitler), die »Technik flächendeckender Radierung / Durch fremde Bomber« illustrieren soll. 700 Vgl. »Etwas das zählt«. In: Grauzone morgens, S. 13. 701 Vgl. »weichmachen« (Schädelbasislektion, S. 202, 2. Strophe; vgl. auch Grünbeins Rede vom »Weichmacher« der Zeit im Gespräch mit Deckert. In: Deckert [Hg.]: Die wüste Stadt, S. 208). 702 Vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.2.1. 703 Vgl. Durs Grünbein: Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt. Frankfurt a. M. 2005 (ohne Pagin.; im Folgenden wird hieraus zitiert unter Angabe des ›Gesanges‹ [= G]), hier G 2: »Bombe, Bombe – blankpoliert, fiel durch den Schacht / Tonnenweise Schrott in den Mätressenschoß«. In der hier zum Ausdruck kommenden »Verbindung von Massensterben und Geilheitsmetapher« sieht Thomas Steinfeld ein falsches Pathos, einen »Dienst an der Sensation« und einen »schlechte[n] Journalismus« (»Bomben, blankpoliert. Durs Grünbein kittet Dresdner
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der Moderne anverwandelten und sarkastisch gebrochenen Romantisierung (»Romantik in der Hand / Von Ingenieuren« [V. 27 f.; gemeint sind die Ingenieure der Vernichtungs- und Zerstörungswaffen]), kommt im »Gedicht über Dresden« schließlich eine Feier der Größe im Verfall hinzu (»groß im Verfall«; V. 25), die mit einer barocken und romantischen Ruinenästhetik ins Werk gesetzt wird (»Schönheit der Ruinen, ihr Ruinenwert« [V. 26]).704
Im »Gedicht über Dresden« der Schädelbasislektion wird bereits eine ›innere Haltung‹, eine aristokratische Größe der einstigen Weltkulturstadt gefeiert, die sich durch die Zerstörung hindurch bewahrt habe. Als allegorischer Gedächtnisort der Ruinen wird Dresden als »Gesamtkunstwerk« (V. 28) lesbar, das »unter Trümmern noch in höchsten Tönen« singt (V. 29). Der ›nachgeborene‹ Dichter übernimmt hier die Funktion des melancholischen, die Allegorie in einer Art Traumhandlung entziffernden Lesers, der die traumatischen Verluste, die verbleibenden ›Scherben‹ als Erinnerungsstücke, besingt und damit poetisch das Gesamtkunstwerk wieder zusammenfügt.705 Die hier angelegte allegorischimaginative Wiederherstellung des Gesamtkunstwerkes aus dem Fragmentarischen, Verlustreichen, Lückenhaften zeigt sich dann noch deutlicher im Porzellan-Poem. Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt führt das Streben nach allegorischer Wiederherstellung der verlorenen kulturellen Größe qua gebrochener Formen und ›Bedeutungsscherben‹ im melancholisch-imaginativen Gedächtnisbild weiter. Dabei steht der Bildbereich des Porzellans für die zerstörte und nur noch in Scherben erhaltene Barockstadt. Das Poem besteht aus neunundvierzig Gedächtnisbildern von Dresden und ist als »elegisches Memorial« auf ein »große[s] Panorama« ausgelegt.706 Das Memorial ist eingebettet zwischen der Inszenierung einer rituellen Gedenkfeier für die Opfer durch die Behauptung einer jährlichen (Trauer-)Arbeit am Poem im Februar, dem Monat der Zerstörung Dresdens (vgl. G 5), und dem Zeitgenossenschaft signalisierenden Paratext am Ende: »Geschrieben zwischen 1992 und 2005«. In der memorialen, wiederholenden Kreisbewegung sind drei zeitliche Ebenen zu unterscheiden, die einen mythisierenden Dreischritt andeuten: 1.) Dresden in seiner barocken Blütezeit unter dem
Porzellan zusammen«. In: Süddeutsche Zeitung, 6. 10. 2005). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Grünbeins Stolz auf die Tradition der ›sächsischen Frivolität‹ (im Gegensatz zur ›preußischen Disziplin‹) und auf einen eigenen »frivole[n] Schönheitssinn, der sich im Schreiben behauptet« (in: Deckert [Hg.]: Die wüste Stadt, S. 212). 704 Hier wird auf Benjamins allegorische Gedächtnis- und Geschichtskonzeption angespielt; vgl. in G 49 die Motive der Märchenwelt und der Porzellan-Scherben im Erdreich: »Diese heiklen Formen. Worum gehts hier?« »Und er tauscht die Zeiten, Räume, Maße, tauscht und tauscht«; vgl. auch Deckert: Ruine und Gedicht, S. 152. 705 »Schon als Kind hatte ich den Wunsch, das Stadtbild sozusagen im Traum zu komplettieren« (Grünbein im Gespräch. In: Deckert [Hg.]: Die wüste Stadt, S. 192). 706 Nicolai Kobus: Regenrinnen im Schädelinnern. Über Durs Grünbeins Poem. In: taz-Magazin, 24. 12. 2005.
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sächsischen Kurfürsten August dem Starken (1694–1733),707 2.) Dresden zur Zeit seiner Bombardierung am Ende des Zweiten Weltkrieges in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 und 3.) Dresden in der Gegenwart zur Zeit des Wiederaufbaus und der Weihung der Frauenkirche im Februar 2005. Das »elegische Memorial« setzt sich aus aneinandergereihten, Denkoder Gedächtnisbildern in Form von Miniaturen zusammen, die mit angedeutetem HexameterVersmaß antikisiert sind. Die Miniatur steht zum Panorama in einem repräsentativen Verhältnis von Mikro- zu Makrokosmos (vgl. G 7). Die einzelnen Gedächtnisbilder stellen Vergegenwärtigungen dar – Vergegenwärtigungen eines Abwesenden durch die Imaginationskraft des lyrischen Subjekts. Wie schon im »Gedicht über Dresden« ist die Stadt genius loci, dem nun explizit eine geheime restaurative Kraft zugeschrieben wird.708 Das im Inneren des Subjekts geschaute oder memorierte Sein betrifft die schöpferische Wiederherstellung und Wiederaneignung des ›gebrochenen‹ deutschen ›Gesamtkunstwerks‹ oder mit anderen Worten: die neue Darstellbarkeit der deutschen Geschichte als Verlust- und Opfergeschichte, der eine ursprüngliche kulturelle Größe noch eingeschrieben ist.
Das Porzellan-Poem bringt die »Sehnsucht nach Weltkultur« 709 und das Streben nach verloren gegangener kultureller Größe auf deutschem Boden zum Ausdruck.710 Die damit verbundene Positionsnahme in der Auseinandersetzung um eine neue symbolische Aneignung der deutschen Geschichte tritt für ein – an Heiner Müller, aber auch an Martin Walsers Friedenspreisrede erinnerndes – ›Offenhalten der Wunde‹ ein (vgl. z. B. G 11). Dieses nostalgische ›Offenhalten der Wunde Dresden‹ meint indessen weniger die aus der nationalsozialistischen Vergangenheit resultierende demokratische Verpflichtung, die für die nationale Identität Deutschlands in der Nachkriegszeit zentral war, als das Gedenken des eigenen Opfers und des kulturellen Verlusts, das zu einem neuen Kennzeichen der kulturellen Identität der Berliner Republik geworden ist. Diese Themen, mit denen das Poem ›ringt‹, werden noch als gesellschaftliche Tabus vorgestellt. Die ins Werk gesetzte innere ›Zwiesprache‹ findet zum
707 Dresden wird zum einen als barocke Frau, zum anderen als zerbrechliche Porzellanfigur allegorisiert. Gesang 45 fasst Dresden im Emblem einer »Schönheit [...] schwatzhaft, üppig, provinziell«, die sich den Fluss als Schärpe um die Hüfte schwingt. Bedient wird das Stereotyp des Weiblich-Fruchtbaren, Ganzheitlichen und Naturhaften. Gefeiert wird Dresden als sinnlich-erotisches, prunkvoll-zeremonielles, höfisches Gesamtkunstwerk des Barock. Durch die Allegorisierung wird die Zerstörung der Stadt als metamorphotische Vergewaltigung der kulturell ›üppigen Frau‹ darstellbar (in Anspielung auf den Daphne-Mythos in Ovids Metamorphosen). 708 »Genius loci, ihn, der alles restauriert, errätst du nie« (G 12). 709 Gespräch mit Grünbein in: Deckert (Hg.): Die wüste Stadt, S. 210. 710 Diese Sehnsucht nach Wiederherstellung kultureller Größe ist bei Grünbein mit dem Pompeji-Motivkreis verbunden (vgl. auch ebd., S. 200). In dem Gedicht »Europa nach dem letzten Regen« ist die Rede vom »Smog um Pompeji«, vom »Gerücht von Größe« und vom »heimkehrend[en]« »Vorwärtsdrang« (Nach den Satiren, S. 143–153, hier S. 143 u. S. 145).
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einen mit den ›Stimmen der Toten‹ statt.711 Die andere ›Stimmenart‹ bilden die verinnerlichten Stimmen der gesellschaftlich-moralischen Diskurse der political correctness, also gleichermaßen des gesellschaftlichen Über-Ichs. Aus dieser inneren Zwiesprache entsteht die charakteristische Grundbewegung des Poems, wie sie sich auch ganz ähnlich in Walsers Friedenspreisrede wiederfinden lässt:712 Sie führt als Ausdruck des rhetorischen imaginativen Vorstoßes einer ›gewagten‹ Fantasie oder Sehnsucht nach Wiederherstellung einer deutschen kulturellen Größe, dabei eine (vermeintliche) Tabugrenze überschreitend, zur diskursiven Rücknahme eben dieser Überschreitung durch die Stimmen des gesellschaftlich-moralischen Über-Ichs.713 Sowohl die ›barocke‹, d. h. feierlich-melancholische, imaginative und ritualisierte Stimme des Vorstoßes als auch die der ›politisch-korrekten‹ Rücknahme sind bewusst komponiert. Die Funktion dieses Stimmarrangements besteht in einem Vorbringen einer ›unerhörten Sehnsucht‹ im Zurücknehmen, in einem ästhetischen Zeigen durch Verschleiern: Durch die ästhetische Brechung wird das mit dem untergegangenen Kulturerbe verbundene, bildungsbürgerliche Begehren nach Wiederherstellung von Weltkultur auf deutschem Boden wieder aussprechbar. Zusammenfassend lässt sich daher das Porzellan-Poem als ein ›vaterländischer Gesang‹ charakterisieren. Ihm zugrunde liegt eine Memorial-Poetik, die allegorisch die kulturellen Scherben aufliest und sie imaginativ wieder vervollständigt. Diese Poetik zielt auf die Wiederaneignung der deutschen Geschichte und Kultur durch die ›Nachgeborenen‹, für die Dresden im wiedervereinten Deutschland ein zentrales Symbol geworden ist. Der Notabel-Dichter ist bestrebt, auf seine Weise zur Repräsentation der Nation beizutragen, die über das Gedenken des Schmerzes ›versöhnt‹ wird und zu neuem Selbstbewusstsein gelangt.714 711 Herangezogen werden barocke Stimmen (des »Sächsischen Hof-Alchemisten« Böttger)und romantische Stimmen (Kleist, Eichendorff), ein Celan-Zitat und zeitgenössische Stimmen (vgl. G 15 nach Art einer Tagebuchnotiz: »Nach Vollendung des Wiederaufbaus der Frauenkirche, 23. Juni 2004«), dann der ›Schlusschor‹ des Poems, den zwei Stimmen bilden (G 44: Zitat aus Friedrich Reck-Malleczewens Tagebuch eines Verzweifelten, u. G 47: Zitat aus Rudolf Borchardts Schmähgedicht Nomina odiosa), schließlich die Stimme Goethes. 712 Vgl. Matthias Lorenz: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck«. Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart 2005, S. 446–463. 713 Vgl. exemplarisch in G 46 die Inszenierung der Stimme des warnenden Über-Ichs, der political correctness: »Sieh dich vor, du! – raunt der Mann im Ohr, ein Realist. / Leicht verletzt sich, wer wie du mit alten Scherben spielt. / Merkst du auch, wann du zu weit gegangen bist?« Dagegen wird die Stimme des Narren gesetzt, der die tabuisierte Wahrheit aussprechen darf, hier in Gestalt der ›barocken Frau‹ Dresden: »Harlekine, dich ruf ich als Zeugin: wie es war« (vgl. auch G 5–6, 9–10, 24–25, 34, 38, 41–42, 47). 714 Das barocke Dresden ist »[e]ine Stadt nach menschlichem Maß, die ein Maximum an Kulturblüte hervorbringt. […] Keine moderne Gesellschaft, die ich kenne, wird je mehr so viele
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2.4.2 Uwe Tellkamp und sein Roman Der Turm (2007) 715 Die Etablierung der symbolischen Exzellenzposition Grünbeins ist an die allgemeine gesellschaftliche Aufwertung einer nationalen kulturellen Repräsentation gebunden. Dieser Zusammenhang ist auch Grundlage einer verwandten, aber anders akzentuierten Karriere, nämlich der von Uwe Tellkamp und seinem Roman Der Turm (2007). Für diesen Roman wurde Tellkamp 2009 zusammen mit Erich Loest (für Nikolaikirche) und Monika Maron (für Flugasche) mit dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung ausgezeichnet. Die Deutsche Nationalstiftung mit Sitz in Weimar, deren Gremien sich aus Vertretern der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftspolitischen Eliten der Bundesrepublik zusammensetzen, wurde vor dem Hintergrund der Wiedervereinigung Deutschlands 1993 von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, von dem Unternehmer Michael Otto (Otto-Versandhaus) und anderen (u. a. dem Bankier Hermann Josef Abs, dem Unternehmer Gerd Bucerius und dem Astrophysiker und ›Wissenschaftsmanager‹ Reimar Lüst) gegründet. Schirmherr ist der jeweilige Bundespräsident. Der Name der Stiftung wurde nach eigener Darstellung mit Bedacht gewählt: Die Idee der deutschen Nation und die Bestimmung unserer nationalen Identität in einem geeinten Europa dürfen wir weder extremen politischen Kräften noch den Gegnern der europäischen Integration überlassen. Der Versuch auf den Begriff von Nation und nationaler Identität zu verzichten, müsste abermals die Gefahr einer Deutschen [sic] Sonderrolle auslösen. Keine andere Nation Europas würde eine ähnliche Rolle für sich akzeptieren.716 Die Stiftung verfolgt nach eigener Aussage drei Zwecke: 1. die Förderung des Zusammenwachsens Deutschlands, 2. will sie »die nationale Identität der Deutschen bewusst machen und die Idee der deutschen Nation als Teil eines vereinten Europas stärken« und 3. befasst sie sich mit »aktuellen Grundsatzfragen der Nation«.717
Die Nationalstiftung und der von ihr vergebene Nationalpreis stellen eine nach der Wiedervereinigung neu geschaffene nationale Konsekrationsinstanz der staatlichen Legitimation im kulturellen Feld dar. In einer nationalliterarischen Perspektive zielt die Wiederherstellung oder zumindest Stärkung der »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« (Bourdieu) auf die Neubesetzung einer für die Nation repräsentativen Autorposition. Wie sich die
Mittel für Repräsentation aufwenden wie seinerzeit im Barock. Was wir als Künstler tun können, ist, die Splitter, die Fetzen, die Geste solcher vergangener Repräsentationen weiterzutragen. Darin sehe ich einen Auftrag« (Grünbein im Gespräch. In: Deckert [Hg.]: Die wüste Stadt, S. 212). 715 Vgl. zum Folgenden die Vorstudie von Tommek: Das bürgerliche Erbe der DDR-Literatur, S. 551–557. 716 Selbstdarstellung auf www.nationalstiftung.de (abgerufen am 15. 12. 2012). 717 Ebd.
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Stärkung der Autorposition der literarischen Notabeln literarisch umsetzt, lässt sich am Beispiel von Tellkamps Roman Der Turm näher betrachten.718 Der Turm ist seiner Form nach sowohl ein Zeitroman als auch ein (mit Blick auf den Protagonisten Christian ›verhinderter‹) Entwicklungs- und Künstlerroman mit einem spezifischen Wahrheitsanspruch. Ein dominantes Modell ist dabei Thomas Manns Zauberberg, oder besser gesagt: Tellkamps »Wille zum Zauberberg«.719 Ähnlich dem Sanatorium in Davos wird in Der Turm die Geschichte einer Nischengesellschaft, einer anachronistischen, bildungsbürgerlichen Gemeinschaft und ihres Zerfalls erzählt. Wie der Aufenthalt Hans Castorps auf dem »Zauberberg« währt die Zerfallsgeschichte sieben Jahre, nämlich von 1982 bis 1989, vom Tod Breschnews bis zum Mauerfall. Diese sieben Jahre bilden eine ›bleierne Zeit‹, eine ›stillstehende Zeit‹. Wenn man die Parallele weiterführt, so entspräche der Mauerfall in Der Turm dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der Hans Castorp gewaltsam aus der Starre des Zauberbergs in die zerstörerischen Zeitläufte wirft. Schließlich kann man weiter folgern, dass die von Tellkamp geplante Fortsetzung seines »Nautilus«-Projektes, eines mehrteiligen Zeitromans,720 in die ›prosaische Zeit‹ der gesellschaftlichen Kräfte mit ihren ›zerstörerischen Bewegungen‹ im horizontalen ›Flachland‹ führt, in die Welt hinter dem letzten, mit einem Doppelpunkt gleichsam den »Turm« sprengenden Satz des Romans: »schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ›Deutschland einig Vaterland‹, schlugen ans Brandenburger Tor:« (973). Die Welt des Turms handelt dagegen von der Zeit vor dem Knall, also vom »Schlaf in den Uhren«.721 Sie entsteht zu Beginn aus einer an Thomas Mann erinnernden ›musikalischen‹ Reflexion über die Zeit in Form eines mythischen Stimmkontinuums: Die »Ouvertüre« gebiert aus einem ›Stimmenmeer‹, das man als ›mythischen Untergrund‹ der Stadt Dresdens lesen kann, die Welt als »Geschichte aus einem versunkenen Land«, wie schon der Romanuntertitel ankündigt. In der ›wagnerianischen‹ »Ouvertüre« ist so bereits ein Hinweis auf eine quasi musikalische Formgebung als Vermittlung zwischen naturmythischer und geschichtlicher
718 Uwe Tellkamp: Der Turm. Geschichte aus einem versunkenen Land. Frankfurt a. M. 2007; Nachweise im Folgenden im Fließtext. 719 Vgl. Andreas Platthaus: »Zeitverschiebung: Uwe Tellkamps Dresden«. In: FAZ.net, Bücherrezensionen Belletristik: »[I]n der Liebe zum verwunschenen Detail und zur Einbettung der Häuser in die grandiose Hanglandschaft tritt zutage, was Uwe Tellkamp auf den Begriff bringt: ›der Wille zum Zauberberg‹« (abgerufen am 15. 12. 2012). Tellkamps »Wille zum Zauberberg« umfasst allerdings weit mehr als Detailversessenheit, nämlich den ›Willen‹ zur bürgerlichen Dichter-Persönlichkeit, zur literarischen Notabeln-Existenz. 720 Der Turm soll der erste Teil einer Trilogie sein, die mit der Zeit nach der Wiedervereinigung fortsetzt. Dabei steht »Nautilus« – vgl. das »Musikzimmer«-Kapitel (s. u.) – für den Roman als Schiff oder ›U-Boot‹, das kreisend und ›echolotend‹ durch das ›Meer der Geschichte‹ fährt. Angeregt ist das U-Boot-Motiv vermutlich von Tellkamps Erfahrung als Kommandant eines Panzers, mit dem auch Unterwasserfahrten geübt wurden (vgl. Welt online, 2. 3. 2009: »Wie der NVA-Soldat Uwe Tellkamp 1989 erlebte«). Es steht auch in Verbindung mit dem Motiv des ›fliegenden Holländers‹. 721 Der in Klagenfurt vorgetragene Romanauszug dieses Titels, mit dem Tellkamp 2004 den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann, wurde allerdings nicht in Der Turm aufgenommen. Der Text und die anschließende Jury-Diskussion sind abgedruckt in: Iris Radisch (Hg.): Die Besten 2004. Klagenfurter Texte. München u. a. 2004, S. 23–46.
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Welt, zwischen gesellschaftlichem Zeit- und transzendentalem Künstlerroman gegeben. Mit dieser Formgebung verbunden sind auch ein bestimmter Umgang mit der Zeit und eine Zeitreflexion, die die verschiedenen Stimmen aus Vergangenheit und Gegenwart verbinden. Auch die Topografie des Romans erinnert an die des Zauberbergs, denn sie ist in ihren Grundzügen vertikal ausgerichtet. Die Handlung setzt ein mit der Auffahrt des Protagonisten Christian in die Welt des kulturellen, aber auch politischen ›Oben‹: die Welt des eigentlichen Romangeschehens auf den Elbhängen722 im Gegensatz zum ›Unten‹ als Handlungsraum der ›normalen‹ Bevölkerung der Stadt (Dresden) bzw. des Landes (DDR). Dieses Unten bleibt im ersten Teil über weite Strecken ausgeblendet, erreicht ›die da oben‹ vor allem in den Passagen des Romans, wo er Zeitroman ist und Stoffe des Zeitgeschehens zur Darstellung bringt. Der zunehmenden Beschleunigung der Zeit auf der Handlungsebene entspricht in der symbolischen Topografie des Romans eine zunehmende ›Talfahrt‹. Der Künstlerroman und sein spezifischer Wahrheitsanspruch haben dagegen ihren topografischen und symbolischen Ort vor allem in der Welt derjenigen ›da oben‹. Diese wiederum unterliegt einer bewusst gestalteten Topografie. Sie ist zweigeteilt und bildet ein komplementäres Kräftefeld aus einerseits dem Bereich »Ostrom«, der Welt der politischen Nomenklatura, der ›roten Aristokratie‹, in der auch etablierte Staatsdichter und Intellektuelle residieren,723 und andererseits dem eigentlichen Bereich der »Türmer« mit seinen zentralen, märchenhafte Namen tragenden Familiensitzen der Protagonisten.724 Die Welt der Turmbewohner steht für eine überlebte bildungsbürgerliche Nischengesellschaft mit markanten Berufsprofilen, habituellen Distinktionen und ›standesgemäßer‹ kultureller Lebensführung im Zustand des Anachronismus und des allmählichen Zerfalls.725 Das »Musikzimmer« im von Niklas Tietze und Familie bewohnten »Haus Abendstern«,
722 Gemeint ist das historisch als Kurort mit Sanatorium dienende Villenviertel »Weißer Hirsch« im Dresdner Stadtteil Loschwitz, das nach der Wende wieder zu einer sozial gehobenen Wohngegend wurde. 723 Exemplarisch und kritisch gewendet in den Figuren der ›Staatsdichter‹ Eschschloraque und Altberg, in denen sich Züge von Peter Hacks und Franz Fühmann erkennen lassen. 724 »Mit seinem vielstimmigen Opus magnum hat sich Uwe Tellkamp eine ungeheure Fallhöhe geschaffen. Sie entspricht dem Abstand, den die weitverzweigten Protagonisten seines Romans, die im sogenannten Turmviertel hoch auf den Elbhängen wohnen, zu den gewöhnlichen Leuten unten in der Stadt einnehmen. Die Mühen der Ebene teilen sich phantasielose Rechthaber, bösartige Opportunisten mit SED-Parteibuch und das stumm unter Schikanen und Versorgungsengpässen leidende Volk in seinen Mietskasernen. Die Häuser dagegen, in denen die Zahn- und Schiffsärzte, Toxikologen oder Schauspielerinnen auf den Elbhöhen residieren, tragen als architektonische Persönlichkeiten Namen wie ›Tausendaugenhaus‹, ›Fagott‹ oder ›Haus Karavelle‹. Kinder namens Ezzo und Reglinde üben sich in Hausmusik oder rezitieren das Hildebrandslied« (Katrin Hillgruber: »Zeit der Bürger. Sentiment und paramilitärische Härte: Uwe Tellkamps Epochenroman ›Der Turm‹ über die letzten Jahre der DDR«. In: Der Tagesspiegel, 17. 9. 2008). 725 Soziologisch gesehen gab es diese bildungsbürgerlichen Nischen in der DDR, jedoch sollten sie auch nicht überbewertet werden (vgl. Günter Wirth: Zu Potsdam und anderswo. Kontinuitäten des Bildungsbürgertums in der DDR. In: Manfred Hettling, Bernd Ulrich [Hg.]: Bürgertum nach 1945. Hamburg 2005, S. 85–110). Dass der Verfall bürgerlicher Kulturformen und die Entstehung der Wunschvorstellung ihrer Renaissance vor allem aus den sechziger Jahren der DDR datieren, zeigen Thomas Großbölting (Entbürgerlichte die DDR? Sozialer Bruch und kultureller Wandel in der ostdeutschen Gesellschaft. In: Ebd., S. 407–432) und Ralph Jessen (»Bil-
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Der Nobilitierungssektor
als dem eigentlichen symbolischen Zentrum der »Türmer«,726 stellt den bildungskulturellen Pol dar. Diesem »Musikzimmer« steht symbolisch die »Dunkelzelle« im Militärstrafgefängnis Schwedt gegenüber, in die Christian wegen »öffentlicher Herabwürdigung« des Staats (vgl. 799) eingeschlossen wird. Christian, die Hauptperson des Entwicklungsromans, bewegt sich wie sein Onkel Meno zwischen den beiden Polen des Kräftefeldes, jedoch in einer deutlichen inneren ›Abstoßung‹ vom Pol der politischen Macht: Wie Wilhelm Meister möchte Christian Künstler oder ein berühmter Arzt werden. Er steht grundsätzlich in einem inneren Konflikt mit der politisch-militärischen Welt, auf die er sich äußerlich in Form des Militärdienstes einlässt, um sein MedizinStudium aufnehmen zu können. Schaut man sich aber seine Entwicklung näher an, wird die vermeintliche Zweigeteiltheit der oberen Welt relativiert und als komplementäre erkennbar: Denn im Inneren der bildungsbürgerlichen Welt der Turmbewohner ist ein ›militanter‹ Humanismus zu erkennen, der dem Menschenbild und der Erziehungsform am anderen Pol dieser Welt analog ist.727 Als Produkt seiner Erziehung ›da oben‹ lässt sich eine Weltferne in Form eines erstarrten Bildungshumanismus erkennen, der ihn immer wieder auf Distanz hält zu den anderen Personen und ihrer Weltsicht, insbesondere ›da unten‹. In der kulturaristokratischen Distinktion gegenüber der unteren Welt besteht eine Identifikationsmöglichkeit, die die Innenwelt der Bildungsbürger und die äußere Welt der politischen Nomenklatura verbindet. Historisch gesehen spiegelt sich hier das Erbe einer sozialistischen Kulturpolitik in den sechziger Jahren wider, die zwar die traditionellen Bildungsbürger in die Nischen drängte, ihnen aber hier zugleich das Privileg der ›Pflege des kulturellen Erbes‹ zubilligte.728
Im Zentrum der bildungsbürgerlichen Nischenwelt, im Musikzimmer, findet in einer persiflierten ›barocken‹ Haltung der Melancholie die mehrstimmige Evokation einer Welt im Wissen um ihren Untergang statt:
dungsbürger«, »Experten«, »Intelligenz«. Kontinuität und Wandel der ostdeutschen Bildungsschichten in der Ulbricht-Ära. In: Lothar Ehrlich, Gunther Mai [Hg.], unter Mitwirkung von Ingeborg Cleve: Weimarer Klassik in der Ära Ulbricht. Köln, Weimar, Wien 2000, S. 113–134). 726 Vgl. Tellkamp im Suhrkamp-Werbefilm zum Roman (www.suhrkamp.de/mediathek/uwe_ tellkamp_-_der_turm_42.html; abgerufen am 15. 12. 2012). 727 Vgl. Tellkamp im Interview mit Gerrit Bartels auf die Frage, ob er sich nach seiner bürgerlichen Jugend zurücksehne: »Die Intensität, mit der sich meine Eltern und Verwandten um mich gekümmert haben, war eine schöne Erfahrung. Doch es gab auch eine beklemmende Ähnlichkeit zwischen der Pädagogik der offiziellen Gesellschaft, die Abweichungen streng bestraft hat, und dieser scheinbar idyllischen Gegenwelt, in der ich aufwuchs, zwischen der offiziellen sozialistischen Tugendgesellschaft und der inoffiziellen Tugendgesellschaft dieses merkwürdig verkapselten DDR-Bürgertums. Jäger und Gejagte wurden sich ähnlich, das Gefühl hatte ich schon damals, als der Lebensbruch mit der Armee stattfand« (Uwe Tellkamp: »Vielleicht bin ich ein giftiger Lurch«. In: Der Tagesspiegel, 13. 10. 2008). 728 Vgl. Bollenbeck: Bildung und Kultur, S. 394 f., Anm. 33; vgl. auch Tellkamp im Interview (»Vielleicht bin ich ein giftiger Lurch«): »Die DDR war eben nicht nur Karl Marx, sondern auch Goethe, Kleist und Eichendorff – ein humanistisches Projekt«. Der »Turm« steht als Symbol für die kulturelle Seite dieses humanistischen Projekts, für die auch Peter Hacks mit seiner sozialistischen Klassik eintrat (vgl. oben: Fallstudie 2).
Autorpositionen im Nobilitierungssektor
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»Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens.« [...] Und früher: »Warn wir Residenz. Residenz! Tscha, früher ...« Sie seufzen. Fotos werden herausgesucht. [...] Die Beschwörungen beginnen, die Dresdner Sehnsucht nach Utopie, einer Märchenstadt. Die Stadt der Nischen, der Goethe-Zitate, der Hausmusik blickt trauernd nach gestern [...] und das zersplitterte Glas über dem Foto der alten Frauenkirche, Dresden ... »Ich werde dieser Perle die rechte Fassung geben« [...] Die Synagoge brannte. [...] »Elbflorenz, so italienisch weich, eine lächelnde Stadt!« (368 f.)
Die vergangene Welt, die in dieser Stimmcollage evoziert wird, dreht sich immer wieder um die ehemalige kulturelle ›Bedeutung‹ und ›Eleganz‹ Dresdens als Repräsentant deutscher kultureller Größe und ›Haltung‹. Mit der Kreisbewegung der Schallplatte werden Dresdner Zeugnisse kultureller, deutscher Tiefe und das Datum der Bombardierung der Stadt am 13. Februar 1945 in einen Zusammenhang gestellt und in Bildern beschworen. Durch diese ritualisierten, stellenweise auch ironisierten Verfahren der Wiederholung traumatischer Verlusterfahrungen oder ›Phantomschmerzen‹ im neuen Opferdiskurs – wie sie auch in Grünbeins Porzellan-Poem zu finden sind – flicht Tellkamp den Dresden-Mythos in die Textur ein. So zeigt sich das textuell-klangliche Weiterspinnen des Mythos zum Beispiel in dem oben zitierten Ausspruch: »Wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens«, der von Gerhart Hauptmann stammt, als er sich zum Auskurieren einer Lungenentzündung im Sanatorium des Dresdner Weißen-Hirsch-Viertels zur Zeit der Bombardierung aufhielt. Mit Hauptmann ist ein »Staatsdichter« benannt, dessen ›Untergang‹ wiederum Thomas Mann im Zauberberg in der Person Mynheer Peeperkorns ›besang‹ und damit dessen Erbe antrat. Tellkamp seinerseits lässt die Mannsche Figur Peeperkorns mit dessen charakteristischen Satzellipsen während der – an eine Geheimgesellschaft erinnernden – Lesung aus dem Löffler-Band über das Alte Dresden auferstehen: »Beweist, Herr Rohde, hören Sie: be-weist! [...] Es steht im Löffler, ich hab’s Ihnen auch noch mal aus meinen älteren Äggsem-plarn rausgezo-chn« (364). Die literarische Technik der mehrfachen oder überlagerten Stimmführung, für die der Dichter Tellkamp immer wieder gelobt wird, erweckt hier klanglich nochmals den sächsischen »Staatsdichter« Hauptmann zum Leben.729 Dabei 729 Zugleich ist in dieser dialektal-›musikalischen‹ Anspielung auch eine ganz andere, unvermutete Stimme eingeflochten, nämlich die Stimme von Thomas Kling. Tellkamp verehrt Kling für dessen poetisch-eigenwillige »Vorzeitbelebung« und dafür, dass er dabei keine Rücksicht auf »die Keule politischer Korrektheit« nahm (diese Wendung erinnert an Martin Walsers Wort von der »Moralkeule« Auschwitz in seiner Friedenspreisrede von 1998): »Thomas Kling hat es gewagt, diese Erotik zu zeigen, und ist das (enorme, zumal in Deutschland) Risiko eingegangen, dieser Gorgo ins Gesicht zu blicken. Dafür bewundere ich ihn. [...] Da nahm einer die Tradition an, in der er stand und aus der er kam, die deutsche Kunst und Kultur mit ihren Wurzeln in der Antike, im Christentum und im Morganatischen [sic]. Da scheute sich ein deut-
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lässt sich in Tellkamps textuell-tonaler Einflechtungs- und Überlagerungstechnik ein imaginäres Begehren vernehmen. Dieses richtet sich darauf, ein spezifisch amalgamiertes Erbe anzutreten, nämlich modern und zugleich national, ›staatstragend‹-repräsentativ zu sein. Wie Grünbein in seinem Porzellan-Werk vom Untergang der Stadt Dresden versucht auch Tellkamp, das Gebrochene und Verlorene durch die Formgebung zur ursprünglichen ganzen Gestalt und damit zu einem in sich geschlossenen Meisterwerk eines Epochenromans imaginativ zu ›heben‹, gerade indem das Zerfallene ehemaliger kultureller Größe besungen wird. Das ›politisch inkorrekte‹ Beschworene besteht allgemein im affirmativen Pathos einer ›deutschen Tiefe und Einheit‹, die die alte Dresdner Kultur- und Bildungsbürgerwelt repräsentiert, und literaturgeschichtlich in einer Rückkehr zum (manieristischen) Erzählen im Thomas Mannschen ›raunenden Imperfekt‹. Der Begeisterung, mit der die Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises auf Tellkamps Probe reagierte, ist ebenfalls das Streben nach Wiederkehr der ›großen Erzählung‹ in deutscher Sprache zu entnehmen. So pries Iris Radisch »die Wiederauferstehung einer sinnlichen Welt«, die sie zu einem besonderen Erbe der Literatur aus Ostdeutschland erklärte: Natürlich, Wolfgang Hilbig und Reinhard Jirgl sind Autoren, die das auch hatten, aber damals war das immer mit Hass und Ekel verbunden. Auch diese Autoren haben schon das alte Deutschland wieder auferstehen lassen mit allem Material, was da drin steckt, aber es war immer zugespitzt, überspitzt, orchestriert mit Hass. Das ist hier plötzlich weg. Das ist eine neue Generation, deswegen auch eine vollkommen neue Stimme für mich. [...] Es geht im Grunde nur um Wiederauferstehung, und das weckt mein Interesse und scheint mir ein vollkommen neuer Weg zu sein.730
scher Dichter nicht, ein deutscher Dichter zu sein. Das machte ihn mir lieb« (Uwe Tellkamp: Die Sandwirtschaft. Anmerkungen zu Schrift und Zeit. Leipziger Poetikvorlesung. Frankfurt a. M. 2009, S. 102); zur Unvereinbarkeit von Klings »Vorzeitbelebung« und der auch bei Grünbein partiell zu beobachtenden Sehnsucht, wieder ein »deutscher Dichter« zu sein, siehe unten: Studie 3. 730 Radisch: Die Besten, S. 40 f. (Herv. H. T.).
III. Der Avantgardekanal 1 Die Entwicklung der Avantgarde: Von der vertikalen Ausrichtung in die horizontale Die formalen Kennzeichen der Avantgarde – die Ausrichtung auf eine reflexive Transgression, auf eine kunstautonome und zum Teil gesellschaftlich-politische Vorreiterrolle, die oft mit einem linear-progressiven Geschichtsverständnis verbunden war, schließlich die Tendenz zur Universalisierung und Internationalisierung – wurden spätestens seit der kulturellen Postmoderne und wirtschaftlichen Globalisierung in Frage gestellt, wenn nicht gar längst vom Ende der Avantgarden im Zeitalter der ›Posthistoire‹ ausgegangen wurde. Trotz der prinzipiellen Kritik an Universalismus und Selbstpositionierung als Spitze einer progressiven Modernisierung ist aber nicht zu übersehen, dass die ästhetische Postmoderne selbst viele Theorien, Formen und Praktiken von den Avantgarden übernommen und fortgeführt hat.731 Wenn die Entwicklung der neoavantgardistischen Literatur ab den sechziger Jahren unter dem Zeichen der theoretischen Reflexion von Poststrukturalismus und Dekonstruktion stand, so scheint sich die (Selbst-)Zuordnung zur Avantgarde und zu ihren emphatischen Ansprüchen seit den neunziger Jahren endgültig erschöpft zu haben.732 Im Folgenden soll die Transformation der Avantgarde-Position in der Gegenwartsliteratur untersucht werden. Dabei liegt der Fokus auf der für die traditionelle Reproduktion des literarischen Feldes, d. h. für die feldinterne Geschichte, zentrale strukturelle Verbindung vom Avantgardepol zum Pol der ›arrivierten Avantgarde‹. Zur Kennzeichnung dieser strukturellen Verbindung wird der Begriff eines »Avantgardekanals« eingeführt.
1.1 Zur Veränderung des Avantgarde-Begriffs Mit dem Begriff der künstlerischen Avantgarde verbindet sich der Anspruch auf eine radikale Erneuerung der Kunst, ihrer ästhetischen Formen wie auch
731 Vgl. Hubert van den Berg, Walter Fähnders: Die künstlerische Avantgarde im 20. Jahrhundert – Einleitung. In: H. v. B., W. F. (Hg.): Metzler Lexikon. Avantgarde. Stuttgart 2009, S. 1–19, hier S. 9. 732 Vgl. Michael Grote: Etikettenschwindel. Die »Postmoderne« und die »Avantgarden«. In: Ivar Sagmo (Hg.): Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung in Oslo, 25.– 26. 11. 2004. Frankfurt a. M. 2007, S. 47–57, hier S. 47 f. Die Grazer Zeitschrift »perspektive. hefte für zeitgenössische literatur« druckte in ihrem Heft Nr. 39 (2000) die Beiträge zu einer von Ferdinand Schmatz und Franz Josef Czernin veranstalteten Tagung zum Thema »Avantgarde –
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Der Avantgardekanal
ihrer Positionierung in der Gesellschaft.733 Im Angelsächsischen synonym mit modernism, war der Avantgarde-Begriff auch im deutschen Sprachraum bis in die fünfziger Jahre hinein nicht deutlich unterschieden von dem einer »Moderne« oder eines »Modernismus«. Erst Anfang der sechziger Jahre trat insbesondere mit Enzensbergers viel beachtetem Aufsatz »Aporien der Avantgarde« (1962) der Begriff stärker ins öffentliche Bewusstsein.734 Durch das Negativurteil – »[j]ede heutige Avantgarde ist Wiederholung, Betrug und Selbstbetrug« 735 – trennte Enzensberger die Avantgarde von der (klassischen) Moderne diskursiv. Eine Aufwertung erfuhr der Begriff dann in den siebziger Jahren durch Peter Bürger.736 Bürger sah das Kernmerkmal der Avantgarde in ihrem Angriff auf die bürgerliche »Institution Kunst« und in der Rückführung der Kunst in das Leben, um die gesellschaftliche »Folgenlosigkeit« ihres Autonomiestrebens zu beenden.737 In diesem Anliegen scheiterte sie jedoch nach Bürger, für den die Neo-Avantgarden der Nachkriegszeit keine Fortsetzung, sondern einen Bruch mit den Vorkriegsavantgarden darstellen. Die Konsequenzen des Scheiterns der avantgardistischen Intentionen angesichts ausdifferenzierter gesellschaftlicher Teilsysteme – »das legitime Nebeneinander von Stilen und Formen, von denen keine mehr den Anspruch erheben kann als die avancierteste zu gelten«, und die »Verfügbarkeit aller Traditionen« 738 – werden dann in den Diskussionen um Moderne, Postmoderne und Posthistoire reflektiert. Im Unterschied zu Bürger betont die neuere Avantgarde-Forschung trotz strukturellem Wandel der Gesellschaft und des künstlerischen Feldes die Fortsetzung der Avantgarde als Netzwerk und unabgeschlossenes Projekt.739 In dieser an Boltanskis und Chiapellos Bestimmung des neuen Geistes des Kapitalismus anschließbaren Netzwerk-Perspektive zeigen sich Wanderungsbewegungen avantgardistischer Zentren und Neubestimmungen des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie.740 Dabei wird das verbindende Kennzeichen in der
auslöschen oder verbessern?« Dabei zeigte sich, dass die Mehrzahl der befragten, experimentell arbeitenden Autoren es heute ablehnen, sich einer »Avantgarde« zuzuschreiben. 733 Vgl. van den Berg, Fähnders: Die künstlerische Avantgarde, S. 1. 734 Vgl. ebd., S. 8. 735 Enzensberger: Einzelheiten II (»Aporien der Avantgarde«), S. 79. 736 Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974. 737 »Der avantgardistische Protest, dessen Ziel es ist, Kunst in Lebenspraxis zurückzuführen, enthüllt den Zusammenhang von Autonomie und Folgenlosigkeit« (ebd., S. 29). 738 Ebd., S. 130 f.; vgl. Georg Jäger: Avantgarde. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Klaus Weimar. Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 183–187, hier S. 186. 739 Vgl. van den Berg, Fähnders: Die künstlerische Avantgarde, S. 11–14. 740 Vgl. ebd., S. 18.
Die Entwicklung der Avantgarde
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Erneuerung durch Grenzüberschreitungen, d. h. in der Transgression gesehen.741 Das Strukturmerkmal der reflexiven Transgression führte mit den historischen Avantgarden zu einer Öffnung der Kunst: Alle Materialien und Verfahren wurden kunstfähig und die Grenze zwischen Kunst und Leben verschwamm. Konzepte des geschlossenen, organischen Werkes wurden durch Verfahren der Variation und Kombination gesprengt, Gattungen wurden enthierarchisiert und neu vermischt, ebenso Kunstsparten und Medien. Insbesondere die Sprache wurde umgedeutet: von einem begrifflichen zu einem lautlichen und bildlichen Material, das – oft mit den Verfahren der Montage und unter der Prämisse einer aktiven Rezeption – neu angeordnet wurde.742 Insgesamt kam es mit den Avantgarden zur Entfaltung einer tendenziell abstrakten, anti-mimetischen, de-semantisierten (Anti-)Kunst, zu einer Aufweichung des traditionellen Gegensatzes zwischen Hoch- und Populärkultur sowie zu einer Entnationalisierung der künstlerischen Ordnung. Die internationale ästhetische Ausrichtung wurde zu einem Kernelement der Avantgarde.743 Zum strukturellen Merkmal der reflexiven Transgression gehört das der Erneuerung: Avantgarden stellen den Anspruch, in ästhetischer wie auch in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht (wenn sich die künstlerische Avantgarde auch als politische versteht) auf dem letzten Stand der Dinge zu sein. Mit ihrer programmatischen Wendung gegen die Institutionen der Kunst (»antibürgerliche Kunst«, »Antikunst«) bewegten sich die historischen und neuen Avantgarden jedoch durchaus weiterhin in institutionellen Zusammenhängen. Das heißt feldanalytisch, ihr Machtanspruch war vertikal ausgerichtet.744 So erweist sich im Anspruch der Avantgarde auf radikale künstlerische Erneuerung ihre (re-)generative Funktion innerhalb des Autonomisierungsprozesses des künstlerischen Feldes. Dieser Prozess setzt sich aus den Auseinandersetzungen um die legitime Definition der Kunst zusammen, durch die wiederum die feldspezi-
741 Vgl. ebd., S. 17. 742 Vgl. Jäger: Avantgarde, S. 184–186. 743 Van den Berg, Fähnders: Die künstlerische Avantgarde, S. 17. Gleichwohl weisen van den Berg und Fähnders auf Gegenbeispiele eines nationalistischen oder regionalistischen ästhetischen Avantgardismus hin (ebd., S. 18). 744 Vgl. ebd., S. 16; vgl. auch Clemens Albrecht: Der ewige Aufstieg der Canaille über die Avantgarde in die Institutionen oder: Die Verzeitlichung der Klassik. In: C. A. (Hg.): Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden. Würzburg 2004, S. 87–95, hier S. 88: »Meine These lautet: Die Opposition der Avantgarde gegenüber den Institutionen ist ein Moment der Karriere in ihnen. Macht sie diese Karriere nicht, war sie ex post auch nie Avantgarde, nur Bohème. Bürgerliche Kultur und Avantgarde gehören zusammen wie das Auto und sein Motor. Der Begriff des Autos freilich enthält den des Motors, umgekehrt aber nicht«.
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Der Avantgardekanal
fische Geschichte geprägt wird. Allgemein geht die Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert mit einer zunehmenden Anerkennung und Integration avantgardistischer Kunst in die Institution des künstlerischen Feldes einher.745 In dieser Perspektive ist Avantgarde weniger inhaltlich als funktional hinsichtlich der spezifischen Zeitökonomie des Feldes zu bestimmen: Wie Bourdieu herausgestellt hat, zeigen Avantgarde-Bewegungen den strukturellen Prozess ästhetischen Alterns an (s. u.). Der Gegensatz zwischen »Avantgarde« und »arrivierter Avantgarde« wird schließlich durch den produktiven Widerstreit zwischen einer nationalen und einer internationalen Ordnung verdoppelt, wie Casanova gezeigt hat.746 Die Transgression des nationalen literarischen Raums erfolgt über den Anschluss an eine internationale ästhetische Zeit. So bestimmen internationale (arrivierte) Avantgarden das, was Casanova den »Greenwich-Meridian« nennt:747 einen international geltenden literarischen Zeitmaßstab, der die akkumulierte ästhetische Zeit und ihre neuesten ›Zeitstände‹ anzeigt. Dadurch lässt sich die relative Nähe oder der relative Abstand einer Literatur von den Zentren formalästhetischer Umbrüche bestimmen.748
1.2 Die Infragestellung der Avantgarde als Reproduktionsprinzip der feldspezifischen Geschichte Konzepte der Postmoderne und der Posthistoire stellen die Möglichkeit und Entwicklung avantgardistischer Positionen einerseits in Frage, andererseits scheinen sie sie zu vollenden. Statt einer linearen Entwicklung und eines strukturellen Zusammenhangs zwischen einer ›Vorhut‹ einer neuen ästhetischen Epoche und einer ihr folgenden allgemeinen ›Nachhut‹ dominieren Konzepte einer synchronen und gleichwertigen Pluralität. Wie bereits angedeutet, steht bei Bourdieu die Avantgarde vor allem für ein zeitliches und strukturelles Reproduktionsprinzip des Feldes, für eine konfliktuelle Logik des (formal-)ästhetischen Alterns.749 Den zwei Polen des Kräftefeldes entsprechend (kulturelles 745 »Gehörten Mitglieder der Vorkriegsavantgarde mittlerweile zum kulturellen Establishment, so setzte sich die spätere Avantgarde viel schneller durch und erhielt – wie der Kunstbetrieb insgesamt – stärker als zuvor offizielle, institutionalisierte Unterstützung in Form von Preisen, Aufträgen, Stipendien usw., die mehr und mehr die Ökonomie des künstlerischen Feldes prägen« (van den Berg, Fähnders: Die künstlerische Avantgarde, S. 11). 746 Casanova: La République mondiale des lettres, bes. S. 163–172 (Kap.: »Nationaux et internationaux«). 747 Vgl. ebd., S. 135–156 (Kap.: »Le méridien de Greenwich ou le temps littéraire«). 748 Vgl. oben: Erster Teil, I. 1. 749 Vgl. die Kapitel »Zwei Modi des Alterns«, »Epoche machen« und »Die Logik des Wandels« in Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 235–259; dem Spannungsverhältnis von »Avantgarde« und
Die Entwicklung der Avantgarde
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vs. ökonomisches Kapital), unterscheidet Bourdieu »zwei Lebenszyklen des Unternehmens der Kulturproduktion, zwei Modi des Alterns von Unternehmen, Produzenten und Produkten, die sich absolut ausschließen«:750 einerseits ein Altern unter dem Einfluss des ökonomischen Pols und seiner ›profanen‹ Zeitökonomie des ›Neuen‹, die zugleich das definitiv Veraltete anzeigt; andererseits das Altern als ›Arrivieren‹ am kunstautonomen Pol: das ›gediegene Alte‹ oder ›Klassische‹, das als kulturelles Kapital mit einem konstanten oder konstant wachsenden ökonomischen Wert verbunden ist.751 Analog dazu gibt es ›überholte‹ Autoren, die durchaus zu einer jüngeren Generation gehören können, und kanonisierte Avantgarden, die Klassiker. Diese vertikal ausgerichtete avantgardistische Reproduktionslogik des ästhetisch Neuen752 wird von der horizontal ausgerichteten Marktlogik zunehmend konterkariert. In der ästhetisierten Populärkultur im Allgemeinen und in der Popliteratur im Besonderen überlagern sich – wie oben im Zweiten Teil, Kap. I ausgeführt – das kunstautonom-avantgardistische und das ökonomischmediale, populärkulturelle Neue. Der für die Transformation des literarischen Feldes seit den sechziger Jahren charakteristische Prozess der Enthierarchisierung, Hybridisierung und Pluralisierung steht so gesehen für eine Fortsetzung und gar massenhafte Realisierung des Projekts der historischen Avantgarden durch die Postmoderne.753 Denn die für die klassische Avantgarde-Position charakteristische Forderung nach einer Überführung von Kunst in Leben754 (und umgekehrt) und das scheinbare Obsolet-Werden der Unterscheidung zwischen Hoch- und Populärkultur konvergieren allgemein mit der projektgestützten Netzwerklogik des Kulturkapitalismus sowie mit den Positionen der neuen Symbolproduzenten und -analytiker, die populäre Kultur als neue, horizontal
»Altern« in der Gegenwartskultur und -literatur widmet sich der Sammelband von Pontzen, Preusser (Hg.): Alternde Avantgarden. 750 Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 236; vgl. Alexandra Pontzen, Heinz-Peter Preusser: In »Gegenrichtung voran«! – Eine Einleitung zu den Alternden Avantgarden. In: A. P., H.-P. P. (Hg.): Alternde Avantgarden, S. 7–28, hier S. 18. 751 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 241. Ein Veralten am kunstautonomen Pol im Sinne einer definitiven Entwertung führt entweder zu einem Historismus oder zu einem Vergessen. 752 Vgl. Bourdieus Schema ebd., S. 255. 753 Vgl. Andreas Huyssen: After the great divide. Modernism, mass culture, postmodernism. London 1986; u. Wolfgang Asholt: Umbau, Verschwinden oder unheimliche Rückkehr avantgardistischer Autorpositionen? In: Tommek, Bogdal (Hg.): Transformationen des literarischen Feldes, S. 271–284, hier S. 272. 754 »Die Avantgarde intendiert die Aufhebung der autonomen Kunst im Sinne einer Überführung der Kunst in Lebenspraxis« (Bürger: Theorie der Avantgarde, S. 72).
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ausgerichtete Form einer legitimen und repräsentativen Kultur verstehen.755 Der Transformation der avantgardistischen Kunstproduktion von einer dominant vertikalen in eine dominant horizontale Ausrichtung liegt also diese neue Synthese der Ordnungen des ästhetisch und ökonomisch ›Neuen‹ zugrunde. Auch der im Zusammenhang mit der Untersuchung des flexibel ökonomisierten Mittelbereichs vorgestellte flexibel-normalistische Theorieansatz von Link bestätigt die Verlagerung der Produktion des Neuen vom kunstautonom-avantgardistischen Pol, der in einer strukturell vertikalen Verbindung mit dem Pol der arrivierten Avantgarde (den »Klassikern«) steht – hier findet im Wesentlichen die autonome Reproduktion der Moderne statt –, hin zum ökonomisierten, horizontal in der sozialen Zeit konkurrierenden Mittelbereich.756 Der »Paradigmawechsel vom Protonormalismus […] hin zum Flexibilitätsnormalismus«, den Link exemplarisch an Enzensbergers Essay Zur Verteidigung der Normalität (1982) festmachte,757 stellt feldanalytisch gesehen den Wechsel von einer vertikal ausgerichteten Avantgarde (= Moderne) hin zur horizontal ausgerichteten ›Avantgarde‹ (= Postmoderne) als dem neuen wirkmächtigen Reproduktionsprinzip des literarischen Feldes dar. Trotz der Verlagerung in den flexibel ökonomisierten Mittelbereich bleibt der kunstautonom-avantgardistische Pol mit vertikal ausgerichteter Reproduktionsfunktion im Feld der Gegenwartsliteratur personell vertreten und strukturell wirksam. Werke, die in sich die Subversion etablierter Werkästhetiken und das Zukunftsprojekt einer anderen Literatur tragen, gibt es weiterhin, ebenso Schwundstufen ihres funktionalen Einflusses auf die Reproduktionslogik des gesamten literarischen Feldes. Es handelt sich aber nur noch um eine ›Nische‹ oder genauer: um einen stark eingeschränkten ›Verbindungskanal‹ vom kunstautonom-avantgardistischen Pol zum Pol der arrivierten Avantgarde bzw. der Klassiker. Dieser literaturautonome strukturelle Kanal, in dem nach wie vor ein emphatischer Literatur-Begriff mit Anspruch auf universelle Geltung vertreten wird,758 steht für die vertikale Struktur der Produktion der kunstautonomen 755 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, I. 1; vgl. bes.: Göttlich, Albrecht, Gebhardt (Hg.): Populäre Kultur als repräsentative Kultur. 756 Vgl. oben: Zweiter Teil, I. 2.3.; vgl. Link: Normal/Normalität/Normalismus, S. 543: »Die modernen (besonders die avantgardistischen) Ästhetiken der Normbrechung richten sich in erster Linie gegen diese normativen Idealtypen und gehören daher selbst zum Bereich einer (negativen) Normativität. Allerdings interferiert diese Normativität seit dem Entstehen einer Massenkunst ebenfalls mit normalistischen Faktoren […]«. 757 Ebd., S. 547. 758 Der Begriff des »Kanals« lässt sich hier in einer modifizierten Anlehnung an Bogdals »Klimaanlage/Gang 1« verstehen: »Das Dilemma besteht darin, daß sich diese Literatur in einem Zentralgang wähnt, der zu allen sozialen Milieus führen müßte, während sie in Wirklichkeit nur einer unter vielen und nicht einmal mehr der bedeutendste ist« (Bogdal: Klimawechsel,
Die Entwicklung der Avantgarde
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Literatur: Hier geht es aus Sicht der Avantgarde um die Absetzung der bislang herrschenden ästhetischen Zeit bzw. Wertordnung durch ein neues ›Zeitalter‹ (= ›Propheten‹-Position). Dies ist der ästhetische Kampf der ›Häretiker‹ gegen die ›Priester‹, der die feldinterne Geschichte schreibt. Aus der Sicht der arrivierten Avantgarde, der Klassiker, wiederum stellt der Avantgardekanal rückblickend eine ›Initiationspassage‹ dar: Wer sie erfolgreich durchlaufen und ästhetische ›Weihen‹ erhalten hat – im deutschsprachigen Feld vor allem durch den Büchner-Preis759 –, dessen Bücher verwandeln sich zu einem Werk (Œuvre) und dessen biografische Person wird endgültig zum Autor des Werkes (= ›Priester‹-Position). Durchläuft ein Autor diesen vertikalen Avantgardekanal nicht erfolgreich, verbleibt er als ›Avantgardist‹ in einer Nische (= ›Propheten‹Position) oder er ›wandert‹ als neuer ›Bohémien‹ in den flexibel ökonomisierten Mittelbereich und muss sich dort von Fall zu Fall neu bewähren (= ›Zauberer‹-Position). Der Avantgardekanal, in dem es im Wesentlichen um die Aufrechterhaltung des universalen Anspruchs der kunstautonomen Literatur geht, hat sich seit den siebziger und achtziger Jahren seinerseits relativ ›postmodernisiert‹, d. h. flexibilisiert und im Austausch mit den horizontal strukturierten, populärkulturellen Elementen transformiert. Dieser Austausch steht jedoch – im Unterschied zur intermedialen Kopplungs- und Zirkulationslogik, die im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich vorherrscht – in einer dominant intramedialen Logik.760 Hier herrscht die Auseinandersetzung um die le-
S. 20). Bogdal hatte hier insbesondere die arrivierten Vertreter der Gruppe 47 und der ostdeutschen Reformsozialisten mit ihrem universalen Repräsentationsanspruch im Auge. Diesem historisch-diskursiv bestimmten »Gang« entspricht im Feldmodell der literarisch-politische Mittelbereich (vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.3.1.) oder der obere, nobilitierte Bereich am ästhetischen Pol der arrivierten Avantgarde (vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.1.). Hier liegen gleichsam die ›Fluchtpunkte‹ des traditionellen autonomen Avantgardekanals. Allerdings ist der Universalanspruch der Ästheten (Kants Bestimmung einer subjektiv vermittelten Objektivität des ästhetischen Geschmacksurteils) zu unterscheiden von der symbolischen Zentralstellung mit Anschluss an eine politische Öffentlichkeit (die literarische Öffentlichkeit im Verhältnis zur politischen im Sinne Habermas’). 759 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, II. 1.2. 760 Obwohl »die Künste am autonomen Pol der Produktion immer mehr zu ›Reinigung‹ und Selbstreflexion tendieren«, wurden intermediale Austauschverfahren zu einem Avantgardemerkmal des vertikal ausgerichteten Legitimitätsgewinns: »Intermediale Verfahren dienen im literarischen Feld der Herstellung einer intramedialen Dominanz. Ein ›filmisches Schreiben‹ zum Beispiel löst die Grenzen zwischen Literatur und Film nicht unbedingt auf, sondern kann im Gegenteil eine doppelte Grenzziehung produzieren: hin zum Film – und hin zu einer nichtfilmischen Literatur« (vgl. Uta Degner: »Eine neue Vorstellung von Kunst«. Intermediale Usurpationen bei Bertolt Brecht und Elfriede Jelinek. In: Degner, Wolf [Hg.]: Der neue Wettstreit der Künste, S. 57–76, hier S. 59).
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Der Avantgardekanal
gitime Definition des Literarischen innerhalb des relativ autonomen Subfeldes, während die im flexibel ökonomisierten Mittelbereich praktizierten Formen der Intermedialität in erster Linie einer Logik der horizontalen Konkurrenz mit den neuen Medien unterstehen. Dort erweist sich der ökonomische Charakter des horizontalen Zeichenverkehrs und der technischen Reproduzierbarkeit.761 Im intramedialen Verfahren einer vertikal ausgerichteten Avantgardeproduktion dominiert die Form über die Funktion.762 Es geht weniger um die Dominanzverhältnisse zwischen den Künsten und neuen Medien als um die feldinterne »Konkurrenz zwischen verschiedenen Interpretationen dessen, was überhaupt den Namen ›Kunst‹ verdient. Intermedialität ist dabei Ausdruck eines intraliterarischen Kampfes um die Legitimität neuerer Poetiken«.763 Die vertikale Reproduktionslogik des Konkurrenzkampfes um die Legitimität neuer literarischer Ordnungen oder einer neuen ästhetischen Zeitrechnung ist – in jeweils unterschiedlicher Qualität – besonders seit den sechziger und mehr noch seit Mitte der neunziger Jahre von der horizontalen Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs beeinflusst. Damit ist die Positionierung im vertikal ausgerichteten Avantgardekanal nicht nur abhängig vom Umgang mit den feldinternen Traditionen, sondern auch von dem mit den horizontal formierten neuen Medienformen und Ästhetiken. Nach einer historischen Skizze der Entwicklung des Avantgardekanals im Allgemeinen und im Fokus des lyrischen Subfeldes im Besonderen werden im Folgenden unterschiedliche kunstautonom-avantgardistische Positionen im literarischen Feld unter den Aspekten der Spracharbeit, des Verhältnisses zu anderen Medien und des Umgangs mit anderen literarischen und künstlerischen Traditionen untersucht. Exemplarisch analysiert werden dabei die Positionsentwicklungen von Durs Grünbein und Thomas Kling sowie Reinhard Jirgl und Elfriede Jelinek. Am Beispiel dieser Autorpositionen lassen sich sowohl allgemeine als auch gattungsspezifische Formen der Behauptung (im doppelten Wortsinne) des universalen Anspruchs kunstautonomer Literatur aufzeigen. Aus dieser Behauptung entsteht das, was im Folgenden als das Raunen im Avantgardekanal bezeichnet wird.
Historische Infragestellungen und Anzeichen einer neuen Formation Wie im Abschnitt zum »Modernisierungsschub vom ›Wendejahr 1959‹ bis ›1968‹« skizziert,764 setzte im bundesdeutschen literarischen Feld spätestens 761 762 763 764
Vgl. Winkler: Diskursökonomie, S. 32–35 u. S. 183; u. oben: Erster Teil, I. 1. Vgl. Degner: Intermediale Usurpationen, S. 58. Ebd. Siehe hierzu oben: Erster Teil, II. 1.1.
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Ende der fünfziger Jahre die Neubelebung einer zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes weitgehend ins Exil verlagerten, abgebrochenen oder untergegangenen Traditionslinie avantgardistischer Literatur ein. Die Neubelebung des avantgardistischen Pols, der diskursiv noch nicht von der direkten Anknüpfung an die klassische Moderne getrennt war, führte Anfang der sechziger Jahre zu einer zunehmend umkämpften, da für die Feldentwicklung zentralen Position. Enzensberger, der mit seinem Museum der neuen Poesie (1960) dazu beigetragen hatte, die ›modernisierenden Geister‹ zu wecken, sah schnell deren Verselbständigung. Schon 1952 mußte Paul Celan nach der Lesung seiner Todesfuge innerhalb der Gruppe 47 die höhnische Ablehnung seiner als »hermetisch« stigmatisierten Lyrik von Seiten einer dominanten neu-realistischen Literatur-Konzeption erfahren. Wenn Grass eine formalexperimentelle Avantgarde moralisch im Namen eines gemäßigt modernisierten und engagierten Realismus ablehnte, so wollte Enzensberger sie im Rahmen einer sich aus dem ›Museum‹ der internationalen klassischen Moderne speisenden Modernisierung lenken, das heißt zu einer avancierten Dichtung umlenken. Die Position einer avanciert-modernisierten Dichtung ist im Falle Enzensbergers nicht mit einer avantgardistisch-experimentellen Position zu verwechseln765 – im Gegenteil: Sie grenzte sich von ihr ab. So betonte er schon in seinem Museum-Vorwort ausdrücklich die Abgrenzung von einer »schlechten Avantgarde«, deren Vertreter sich auf einen leeren Formalismus versteiften »als auf eine Ideologie, mit deren Hilfe sie kaschieren möchten, daß sie nichts zu sagen haben«.766 In »Die Aporien der Avantgarde« von 1962 wird dann die Avantgarden-Position systematisch destruiert.767 Das Ende des literarischen Reproduktionsprinzips qua Avantgarden ist laut Enzensberger auf die eingetretene Hegemonie des ökonomischen Marktes und der »Bewusstseins-Industrie« zurückzuführen: Der geschichtliche Wettstreit um die Nachwelt wird zum kommerziellen Wettbewerb um die Mitwelt. Der Mechanismus des Marktes imitiert den verschlingenden Gang der Geschichte im Kleinen: kurzatmig, nach dem Augenmaß der Betriebswirtschaft, auf raschen Umsatz bedacht.768 Aus der Ersetzung der kunstautonomen Avantgardelogik, die einen Anspruch auf das »ganze Leben« stellt, durch die markt- und warenförmige, kommerzielle Reproduktionslogik des ästhetisierten »Neuesten« leitet Enzensberger die erste Aporie der Avantgarde ab: im Zeitalter der industriellen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks den Anspruch zu erheben, »en avant« zu
765 766 767 768
Vgl. auch Fischer: Der fliegende Robert, S. 165. Enzensberger: Museum der modernen Poesie, S. 784. Vgl. zum Folgenden auch oben: Fallstudie 1. »Aporien der Avantgarde«. In: Einzelheiten II, S. 50–80, hier S. 60.
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sein.769 Die zweite Aporie sieht Enzensberger im Anspruch der politischen Avantgarden, Freiheit doktrinär als Elitebewegung durchzusetzen. Seine Kritik der historischen Avantgardebewegungen, die zum Faschistischen und Totalitären neigten, hat eine zeitspezifische, explizit antiparteikommunistische Ausrichtung, die sich gegen Lenins Partei-Begriff als politische Avantgarde des Proletariats wendet.770 Implizit deutet sich hier bereits die Ausgrenzung der politischen Sozialkritik aus dem Bereich avancierter Literatur zugunsten der Künstlerkritik an.771 Der Aufsatz geht schließlich in eine konkrete Ausgrenzung und Delegitimierung der zeitgenössischen experimentellen Avantgarde-Tendenzen über: erstens der sprachexperimentelle Avantgardebewegung, vor allem der Konkreten Poesie rund um Helmut Heißenbüttel, die darauf ausgerichtet war, die semantische Tiefe der poetischen Sprache formalästhetisch aufzusprengen, zweitens die sich ankündigende Agitprop-Lyrik (Erich Fried, Peter Hamm u. a.) und ihre Anti-Poetik im Namen einer (leninistischen) politischen Avantgarde und drittens die von der amerikanischen beat generation beeinflusste Popliteratur rund um Rolf-Dieter Brinkmann, die sich der »Bewußtseins-Industrie«, der Alltagskultur, den Trivialmythen und den filmischen Montagetechniken offensiv zugewendet hatte. Insbesondere in dieser letzten Tendenz sieht Enzensberger nichts Anderes als eine »willkürliche, blinde Bewegung«, die für die totale Konformität mit der kapitalistischen Bewusstseinsindustrie anfällig sei.772 Die allgemeine Stoßrichtung der Kritik, die Diskreditierung einer Popliteratur-Avantgarde, die die Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs konstitutiv in ihre Poetik einbezieht, hatte Brinkmann deutlich wahrgenommen.773 Thomas Kling wird Enzensbergers Urteil später rückblickend als »Avantgarde-Bashing« bezeichnen (s. u.).
Die erfolgreiche Passage einer Autorposition durch den Avantgardekanal, also das mit dem ästhetischen Altern einhergehende symbolische Avancieren durch Umwandlung des kurzfristigen symbolischen Kapitals in einen langfristig geltenden, mit Legitimität ausgestatteten Wert in der literarischen Zeit, muss zum einen traditionellen ästhetischen Autonomieanforderungen und zum anderen einer in der sozialen Zeit situierten Auseinandersetzung mit den neuen Realitäten im Mittelbereich gerecht werden. Enzensberger entwickelte seine charakteristische ›eigensinnige‹, d. h. flexibilisierte Autorposition, indem er das Erbe der deutschen und internationalen klassischen (Metropolen-)Moderne antrat
769 Es lässt sich »kein Standpunkt ausmachen, von dem aus zu bestimmen wäre, was Avantgarde ist und was nicht« (ebd., S. 62). 770 »Nicht anders als der Kommunismus in der Gesellschaft will Avantgarde in den Künsten Freiheit doktrinär durchsetzen. Ganz wie die Partei glaubt sie, als revolutionäre Elite, und das heißt als Kollektiv, die Zukunft für sich gepachtet zu haben« (ebd., S. 67). 771 Vgl. dazu oben: Erster Teil, I. 3. u. Fallstudie 1. 772 »Aporien der Avantgarde«, S. 68–73. 773 »Verständlich mag noch sein, daß 1962 noch nicht die Kontinuität der Bewegung [der amerikanischen beat generation; H. T.] hier wahrgenommen wurde, die Mitte der fünfziger Jahre in den USA begann, so daß aus eingefahrenem Denken heraus und steckengeblieben in der Befangenheit, in nationalen Räumen zu denken, mit gewohnter Skepsis H. M. Enzensberger in seinem Aufsatz ›Die Aporien der Avantgarde‹ das damalige Statement Jack Kerouacs [...] als naiv abtun konnte« (Brinkmann: Der Film in Worten, S. 384).
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und sich zugleich als einer der Ersten mit dem analytischen Instrumentarium der Kritischen Theorie der »Bewusstseinsindustrie« zuwandte. Dabei versuchte er, verschiedene konkurrierende Avantgardebewegungen diskursiv in Nischen abzudrängen und ihren ästhetischen Innovationsanspruch zu delegitimieren. Insbesondere die Abdrängung der sprachreflexiven, formalistischen Avantgardeliteratur einerseits, die in der Ablehnung der kunstautonomen Avantgardeästhetik durch die Studentenbewegung ihre Fortsetzung fand, und die Abwertung der Popliteratur als Teil der »Bewusstseinsindustrie« andererseits sind symptomatisch für die weitere Entwicklung des Avantgardekanals, d. h. für die symbolischen Aufstiegsmöglichkeiten in den oberen Sektor nobiliterter Autorenpositionen des literarischen Feldes. Als Symptom der strukturellen Entwertung einer prononcierten Avantgarde-Position zeigte sich am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts ein verstärkt als common sense auftretendes ›Abqualifizieren‹ der experimentalästhetischen Avantgarden, das dann Thomas Kling auf die Formel eines »Avantgarde-Bashings« brachte.774 Zudem sah er aber auch Anzeichen einer neuen sprachartistischen Avantgarde-Formation in der Lyrik, der er sich selbst zuordnete. Kling ist sich bewusst, dass es keine einheitlichen Künstlergenerationen mehr geben kann, dass Expressionisten wie Benn und Trakl letzte Vertreter einer Generation waren, die, »bei aller Heterogenität und Diskrepanz der ästhetischen Ansätze, noch ein letztes Mal als eine Künstlergeneration (sich) aufspielt« (11). Er verabschiedet die Gruppenbildung der Avantgarde und spricht sich gegen programmatische, erstarrte Manifeste aus, die einen totalen, »autoritär gegen Vorgänger-Autoritäten« vorgehenden Neuanfang proklamieren (vgl. 22). Stattdessen vertritt Kling – ähnlich wie in der neueren Avantgarde-Forschung – die Konzeption einer sich fortgesetzt aus individuellen, aber konvergierenden Stimmen zusammengesetzte Avantgardeposition oder -formation im Sinne eines impliziten Netzwerkes. So betont er den Anschluss an die Tradition der sprachreflexiven experimentellen Lyrik (insbesondere in der Nachfolge der Wiener Moderne und Wiener Gruppe) und an die avantgardistische, insbesondere dadaistische Tradition der ästhetischen Performanz- und Skandallogik, die er zuletzt in den lyrics des Punk (ab 1976) weitergeführt sieht. Dieser Einschnitt sei jedoch im bürgerlichen Feuilleton der achtziger Jahre nicht wirklich wahrgenommen worden, ebenso wenig wie die ersten Lyrik-Bände einer Reihe von Autoren, die um 1950 geboren sind und für Kling wenn nicht eine neue Avantgarde-Gruppe, so doch eine neue Formation am avantgardistischen Pol bilden, zu der er sich selbst zählt. Dieser sei erst ab 1989 größere Aufmerksamkeit geschenkt worden und ab Anfang und Mitte der neunziger Jahre habe sich im deutschsprachigen Raum dann ein scheinbar größeres Interesse an einer zeitgenössischen Lyrik entwickelt, die einen neuen ästhetischen Anspruch stelle (vgl. 25 f.).
774 Thomas Kling: Zu den deutschsprachigen Avantgarden. In: T. K.: Botenstoffe. Köln 2001, S. 9–31; Nachweise im Folgenden im Fließtext.
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Der Avantgardekanal
2 Die Entwicklung des lyrischen Subfeldes Die Transformation des Avantgarde-Pols und die Neuformierung avantgardistischer Autorpositionen, die – wie von Kling angedeutet – in den neunziger Jahren eine neue Qualität erreichte, können nun mit Fokus auf das lyrische Subfeld genauer verfolgt werden. Auch hier muss auf die Entwicklung seit den sechziger Jahren zurückgegangen werden.
Bruchstelle um 1960 775 Parallel zum allgemeinen Modernisierungsschub in der Literatur ist auch im lyrischen Subfeld in den sechziger Jahren ein ästhetischer Paradigmenwechsel zu beobachten. Vorbereitet wurde die ›Bruchstelle um 1960‹ bereits in den fünfziger Jahren durch Gedichtbände von Paul Celan (Mohn und Gedächtnis [1952]), Ingeborg Bachmann (Die gestundete Zeit [1953]) und Nelly Sachs (Und niemand weiß weiter [1957], Flucht und Verwandlung [1959]), durch die Anfänge der Konkreten Poesie bei Gomringer und Heißenbüttel und nicht zuletzt durch die sprachexperimentellen Einflüsse der Wiener Gruppe rund um Artmann, Bayer, Achleitner, Wiener, Rühm und Jandl. Die Modernisierung manifestierte sich dann um 1960 in einer Reihe von Gedichtbänden,776 die die traditionalistische Lyrik der Nachkriegszeit – die naturmagische Dichtung eines Rudolf Alexander Schröder und die klassizistische eines Rudolf Borchardt – schlagartig ästhetisch veraltern und für die weitere Lyrik-Entwicklung bedeutungslos werden ließ. Die Abrechnung mit dem traditionalistischen Gedichtverständnis erfolgte sowohl in polemischer, als auch in einer stark theoriegestützten Weise. Mit seinen Bänden verteidigung der wölfe (1957) und Landessprache (1960) verkörperte Enzensberger exemplarisch die sich durchsetzende modernisierende Autorposition eines »zornigen jungen Manns« (so auch Peter Rühmkorf) einerseits und eines poeta doctus andererseits, während Paul Celan als Exponent des »hermetischen Gedichts« galt, das im Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit für das modernistische, sich einer breiteren Kommunikation versperrende Gedicht schlechthin stand.
775 Vgl. zur folgenden Skizze Hermann Korte: Energie der Brüche. Ein diachroner Blick auf die Lyrik des 20. Jahrhunderts und ihre Zäsuren. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Lyrik des 20. Jahrhunderts. München 1999, S. 63–106. 776 Zwischen 1959–1962 erschienen Paul Celans Sprachgitter (1959), Johannes Bobrowskis Sarmatische Zeit (1961), Karl Krolows Fremde Körper (1959), Helmut Heißenbüttels Textbuch I (1960) und Eugen Gomringers 33 Konstellationen (1960; vgl. Korte: Energie der Brüche, S. 89).
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Die mit der Befreiung von einer traditionalistischen Lyrik einhergehende Theoretisierung und die die sechziger und siebziger Jahre prägenden poetologischen Debatten führten jedoch zu keiner neuen Kanonbildung oder verbindlichen Festschreibung von Stil, Habitus, Poetik, Genre, Thematik oder gar Bildung einer Schule. Sie führten zu einer Pluralisierung: zu einer »in vielen Positionen und Teilrichtungen facettierte[n] Unverbindlichkeit [einer] reaktivierte[n] Moderne, die aber gerade deshalb so attraktiv wurde, weil sie jedem ›seine‹ poetische Sprache erlaubte, sein individuelles Verständnis vom Gedicht und von der Aufgabe des Lyrikers«.777 So lässt die von Walter Höllerer 1965 angestoßene Debatte um das ›kurze‹ und ›lange Gedicht‹ 778 das Spektrum einer ›geöffneten Poetik‹, eines neuen Möglichkeitsraums für die Lyrik, erkennen: »auf der einen Seite das ›hermetisch‹ genannte, äußerst verdichtete, an den Rand des Schweigens gebrachte ›kurze‹ Gedicht, auf der anderen Seite das sich komplexen, modernen Wirklichkeiten öffnende, auf ein aktuelles Zeitpanorama reflektierende ›lange‹ Gedicht«.779 Höllerers Position des ›langen Gedichts‹ verstand sich aber nicht als radikale Ablösung, sondern als »dialektische Gegenbewegung zum kurzen bzw. ›aristokratischen‹ Gedicht; seine Thesen waren Vorschläge zur Erweiterung der lyrischen Ausdrucksmöglichkeiten«,780 die sich für die neuen Lebenswirklichkeiten öffneten. In diesem Kontext erfolgte ab Mitte der sechziger Jahre wiederum eine Verengung der Ausdrucksmöglichkeiten im Namen einer sich im Umfeld der Studentenbewegung formierenden ›politischen Avantgarde‹ und ihrer neuen politischen Lyrik, die sich bis zur Anti-Poetik des Agitprop und zur Selbstaufhebung in der politischen Tat radikalisierte.781 Andererseits weiteten sich die lyrischen Ausdrucks- und Rezeptionsmöglichkeiten mit dem Aufkommen des »Alltagsgedichts«, das sich für die Themen der Zeit öffnete, auf die Alltagssprache direkt zurückgriff, sich mit dem wachsenden literarischen Markt durchsetzte und in verschiedenen Milieus ausdifferenzierte.782 Die alltagslyrische ›Rebellion‹, der Höllerer indirekt mit den Thesen zum ›langen Gedicht‹ und seiner Wirklichkeitserkundung zugearbeitet hatte, verstand sich als strikter Bruch mit der Tradition des »hermetischen Gedichts« im modernistischen Avantgardekanal und als Öffnung für die alltäglichen Gedanken, Erfahrungen, Stimmungen und Gefühle in der Literatur der sogenannten Neuen Subjektivität.
777 Ebd., vgl. auch S. 92. 778 Walter Höllerer: Thesen zum langen Gedicht. In: Akzente 2 (1965), S. 128–130. 779 Korte: Energie der Brüche, S. 90. 780 Michael Braun: Lyrik. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 12, S. 424–454, hier S. 431. 781 Vgl. ebd., S. 424–427 (»Vom politischen Gedicht zum ›Kampftext‹«). 782 Vgl. ebd., S. 430–435 (»Die Poetik des Alltagsgedichts«).
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Vergleichbare Entwicklungen einer Öffnung für die neue, pluralisierte Wirklichkeitswahrnehmung des Subjekts im Medium des Zeit- und Naturgedichts fanden Anfang und Mitte der sechziger Jahre auch in der DDR in Gestalt einer neuen Lyriker-Generation der »Sächsischen Dichterschule« um Georg Maurer statt.783 Hier modernisierte sich die politische Lyrik des ›ersten‹, nationalliterarischen Raums, indem sie sich im Zeichen einer genauen Wirklichkeitsbeobachtung des lyrischen Ichs mit dem Alltags- und Landschaftsgedicht synthetisierte. Damit trug sie zur Genese eines ›zweiten‹, inoffiziellen literarischen Raumes bzw. Feldes bei.784 Im Kern ging es hier um eine von offiziellen Vorgaben emanzipierte Welt- und Selbstwahrnehmung. Beides, die Öffnung des Raums und die Pluralisierung der Lyrik-Positionen, wurde in der DDR jedoch noch deutlich durch die Idee eines utopischen Sozialismus zusammengehalten. In der im Zeichen der Modernisierung erfolgten Pluralisierung der Lyrikformen stand der Tod Paul Celans (1970) für eine Binnenzäsur, für das vorläufige Auslaufen des ›hermetisch-artistischen‹ Modernisierungsstranges. Das »absolute Gedicht« und seine Poetik der sprachlichen »Hermetik«, der Paradoxie und des Verstummens,785 standen produktionsästhetisch für den Dichter als ›Seher‹ und rezeptionsästhetisch für eine geschlossene Kommunikation. Zugleich verliehen sie aber der historischen Shoa-Erfahrung einen konkreten Ausdruck.786 Dieser Modernisierungsstrang verlief zwischen der Nischenexistenz einer abstrakt sprachexperimentellen Lyrik und der relativen Breitenwirkung des politisch-realistischen, moderat modernisierten Zeitgedichts eines Enzensberger oder Rühmkorf. Erst mit den neuen Lyrikern der 1990 er Jahre wurde Celans sprachartistische Modernisierung des Gedichts wieder aufgegriffen. Die Lyrik der siebziger und achtziger Jahre stellte keine grundlegende Ablösung, keinen Paradigmenwechsel, sondern lediglich eine Variation des Moderne-Impulses und des geöffneten Spektrums legitimer Lyrikformen dar.787 Die ›Wiederentdeckung‹ des Ichs in der Lyrik der Neuen Subjektivität, das Alltags-, Betroffenheits- und Katastrophengedicht wie auch die Poplyrik in der
783 Vgl. Berendse: Die »Sächsische Dichterschule«. 784 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, 2.2. 785 Celan bestimmte die Dichtung als »Gegenwort und Unterbrechung« (vgl. Achim Geisenhanslüke: Energie der Zeichen. Zur Tradition artistischer Lyrik bei Gottfried Benn, Paul Celan, Thomas Kling und Marcel Beyer. In: literatur für leser (2002), H. 1, S. 2–16, hier S. 9). 786 Vgl. Celans berühmte Gedichte »Engführung« und »Du liegst im großen Gelausche«. 787 Vgl. Korte: Energie der Brüche, S. 93, u. S. 94: »[D]as in Westdeutschland in Blüte stehende Betroffenheits- und Katastrophengedicht der achtziger Jahre bediente das seit den Sechzigern verbreitete Poetik-Muster der Warn- und Mahngedichte«.
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Prägung Brinkmanns stellten in dieser Perspektive keinen grundlegenden poetologischen Versuch dar, die Moderne abzusetzen – mit Ausnahme der Ablehnung ihrer vertikalen Progressionsausrichtung, wie sie in Brinkmanns Forderung nach filmischen Montageprinzipien in der Lyrik programmatisch zum Ausdruck kam.788 Entsprechend verlagerten sich auch die Abfolgen der LyrikPositionen in die Horizontale, d. h. in koexistierende sektorale Präsenz-Formen. In der DDR war die Entwicklung der Lyrik in den siebziger und achtziger Jahren vergleichbar, sie fand jedoch unter anderen Rahmenbedingungen statt: Der nach der Biermann-Ausbürgerung einsetzende Exodus vieler Lyriker löste die Kontur einer einheitlichen DDR-Lyrik im Namen eines Reformsozialismus zunehmend auf. Ab der zweiten Hälfte der siebziger Jahre formierten sich künstlerische Subkulturen in Leipzig, Dresden und Berlin. Insbesondere bei den Lyrikern des Prenzlauer Berges in Berlin setzte eine grundlegende Veränderung des Moderne-Impulses in der DDR-Literatur der sechziger Jahre durch die Rezeption der historischen Avantgardebewegungen, der Konkreten Poesie und poststrukturalistischer Theorien ein. Jedoch zerfielen die Subkulturen nicht in gleichem Maße in sektorale Präsenz-Positionen wie im Westen, sondern sie standen weiterhin in einem übergeordneten Konnex angesichts ihrer Frontstellung gegen das Feld der Macht und gegen die Restformen des offiziellen, nationalliterarischen sowie des ›zweiten‹ literarischen Raums eines Reformsozialismus.789
Bruchstelle neunziger Jahre Nach der Bruchstelle um 1960 sind es dann die neunziger Jahre, die literaturgeschichtlich für die Durchsetzung einer neuen ästhetischen Zeit im lyrischen Subfeld stehen. Korte charakterisiert diesen Wechsel als »Rückkehr in den Raum der Gedichte«.790 Für diese »Rückkehr« stand eine neue Formation 788 »Kunst schreitet nicht fort – sie erweitert sich« (Brinkmann: Der Film in Worten, S. 387– 389 u. S. 394–399). 789 Vgl. oben: Erster Teil, II. 2.3. 790 Vgl. Hermann Korte: Zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Deutschsprachige Lyrik der 1990 er Jahre. Mit einer Auswahlbibliographie. Münster 2004. Kortes Titel zitiert einen Essay von Uwe Kolbe: »Er war zurückgekehrt in den Raum der Gedichte. Nur konnte er sie nicht mehr so nennen« (U. K.: Zehn poetologische Schattenspiele, die Tomas Tranströmer verstehen würde. In: U. K.: Nicht wirklich platonisch. Gedichte. Frankfurt a. M. 1994, S. 81–84, hier S. 82; zit. n. ebd., S. 10). Dass die neunziger Jahre eine Zäsur für die Lyrik darstellten, betont auch Achim Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien. Zur Lyrik der neunziger Jahre. In: Kammler, Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur 1989–2003, S. 37–49, hier S. 37.
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sprachexperimentell-avantgardistischer Lyriker, die zumeist in den fünfziger und sechziger Jahren geboren sind, literarisch aus subkulturellen Milieus stammen und in den achtziger Jahren bereits publiziert hatten.791 Thomas Kling, der sich bald als maßgeblicher Protagonist der neuen, in den achtziger Jahren formierten Lyrik-Bewegung erwies, sah ein gemeinsames Merkmal in der Wendung gegen die Aschenbrödelfetzen des Alltagsgedichts (sogenannte Neue Subjektivität) nach 1968 [...], depressiv, schlecht gearbeitet, sprachschlampig, sackförmig schlackernd in ostentativer Schlechtdraufität. Geradezu Anlaß für meine Generation, die in den 70 er Jahren das Gedichtschreiben begann, andere Wege einzuschlagen, andere, als die von der Gruppe 47 abgesegneten Traditionen, aufzugreifen.792
Mit der Abgrenzung von den bislang dominanten und inzwischen ästhetisch gealterten arrivierten Positionen der Gruppe 47, der Erlebnisdichtung wie auch der Lyrik der Neuen Subjektivität bildete sich eine neue avantgardistische Formation heraus, die sich aus individuellen, subkulturell-milieugebundenen Positionen zusammensetzte, aber in dem Grundkonzept einer sprachreflexiven, artistisch-konstruktivistischen Lyrik-Auffassung konvergierte. Einig war man sich in der Abgrenzung vom Räsonier- und Parlando-Stil der achtziger Jahre, im Misstrauen gegenüber subjektiven Sinnversprechungen, Authentizitätskonzepten und unbekümmerter Erlebnisdichtung. Dem damit verbundenen semantischen Sprachverständnis wurde die Wiederkehr einer sprachlichen Artistik und Hermetik entgegengesetzt.793 Einigkeit bestand also ferner in der Aufwertung der Sprache als genuin ästhetischem Wert. Darüber hinaus herrschte in diesen Kreisen seit den neunziger Jahren Übereinstimmung darüber, dass Lyrik nicht mehr die Funktion von Manifesten in Vers-Form zum Tagesgeschehen, also keine politisch oder moralisch engagierte Parteinahme mit Anspruch auf eine medienvermittelte Aktualität über-
791 Aus Ostdeutschland gehörten dazu einzelne Lyriker der Prenzlauer Berg-Szene, vor allem Bert Papenfuß, aber auch Durs Grünbein, aus Westdeutschland und Österreich (Wien) SzenePoeten wie Peter Waterhouse und der aus der Düsseldorfer Punk-Szene kommende Thomas Kling. Wichtige Vermittlerinnen zwischen den vorausgehenden Avantgardebewegungen und den neuen Tendenzen waren im Westen Friederike Mayröcker und im Osten Elke Erb. Für einen ersten gemeinsamen Ausdruck der neuen avantgardistischen Lyriker stand zum Beispiel die ost-west-übergreifende Anthologie Proë (Berlin 1991; mit Grafiken und Gedichten v. A. R. Penck, Peter Waterhouse, Bert Papenfuß, Thomas Kling, Durs Grünbein, Gerhard Falkner, Stefan Döring, Sascha Anderson u. a.). 792 Kling: Botenstoffe (»Zu den deutschsprachigen Avantgarden«), S. 28. 793 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 38; vgl. auch Thomas Kling: »Hermetisches Dossier«. In: Itinerar [1987]. Frankfurt a. M. 2006, S. 51–58.
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nehmen könne.794 Hinzu kam eine selbstbewusste Abgrenzung von einer unterhaltenden Lyrik im Mittelbereich, wie sie exemplarisch in Klings »hermetischem Dossier« gefordert wird.795 Diese Abgrenzungen nach außen gehen mit der reflexiven Bildung eines neuen poetischen Sprachgebrauchs nach innen einher: Der neue interne Konsens war, dass das Gedicht ein komplexes poetisches Sprachgebilde sei, das eine Auseinandersetzung mit seiner Medialität sowie eine ästhetisch kodierte, gleichsam ›hermetische‹ Kommunikation voraussetze.796 Die Abgrenzungen von politischen, ökonomischen und subjektiv angeeigneten alltagskulturellen Bestimmungen einerseits und die ästhetische, ›sprachhermetische‹ Selbstbestimmung andererseits verweisen auf die Durchsetzung einer neuen kunstautonomen avantgardistischen Literatur-Konzeption im lyrischen Subfeld und damit auf die Ausprägung einer neuen avantgardistischen Richtung.
Milieu-Auffächerung und feldstruktureller Wandel Die Rückkehr der Lyrik zu einer autonomen, sprachreflexiven Instanz, die Reaktualisierung des artistischen Gedichts als spezifisch kunstsprachliche Erkenntnisform (im Sinne Benns)797 wie auch des ›hermetischen‹ Gedichts mit seinen ›Spurenelementen der Wirklichkeit‹ (im Sinne Celans) in den neunziger Jahren sind vor dem allgemeinen Hintergrund literarischer Marginalisierungstendenzen und dem Zerfall einer ›berufenen‹ symbolischen Zentralstellung der Literatur seit den sechziger Jahren zu sehen.798 Wenn der lyrische Aufschreibprozess im Unterschied zu früheren Konzepten einer prophetischen, ›Flaschenpost‹-artigen oder geschichtsphilosophischen Bestimmung nun als »unberufene Schreibpraxis« 799 verstanden wurde, so zeigt sich hierin noch die Herkunft aus dem sektoralen, subkulturellen Präsenz-Bereich, die keinen Anspruch auf Universalität und repräsentative Stellung mehr erlaubte. Entsprechend zieht Korte – im Anschluss an Bogdals These einer seit den 1960 er Jahren in Milieus zerfallenden literarischen Öffentlichkeit – das Fazit, dass auch die Lyrik der neunziger Jahre eine starke Tendenz zur Diversifizierung aufwies und sich in sektorale Repräsentanzen und Öffentlichkeiten aufteilte:
794 Vgl. Korte: Zurückgekehrt. S. 48. 795 »Was darf das Gedicht dieser Jahre keinesfalls sein? Ich meine laut: Rezeptions- und Unterhaltungsindustrie« (Itinerar, S. 51). 796 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 53 f. 797 Vgl. Gottfried Benn: Probleme der Lyrik (1951). In: G. B.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1997, S. 505–535. 798 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 44. 799 Korte: Energie der Brüche, S. 97.
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Es gibt keine vertikal (also von oben nach unten) strukturierte, vom Anteil am Modernitäts- und Innovationsparadigma bestimmte Hierarchie des lyrischen Gegenwartskanons mehr, sondern ein in die Fläche reichendes, horizontales Nebeneinander unterschiedlicher Lyrik-Sektoren.800 In dieser Hinsicht unterteilt Korte das lyrische Subfeld der neunziger Jahre nach Art einer ›Milieu-Landkarte‹, in der er ein traditionelles literarisches Milieu (Autoren wie Krolow und Enzensberger) und eine Bandbreite gleichgeordneter Milieus erkennt, die »von Szene-Lyrik, über Slam Poetry und social beat bis zum Markt für Verschenkgedichte und zur Lyrik von Autoren mit regionalem, ja lokalem Popularitätsgrad« reicht.801 In einem zweiten Schritt unterscheidet er die Lyrik-Milieus nach thematischen Gesichtspunkten und beobachtet dabei verschiedene Tendenzen: eine gewisse Renaissance der Tradition des »Deutschlandgedichts«, das in einem thematischen Zusammenhang mit Wende und Wiedervereinigung steht,802 eine in Reaktion auf die (Umwelt-)Katastrophenlyrik der achtziger Jahre marginalisierte »Naturlyrik«,803 eine nicht mehr um allgemeine Katastrophen, sondern um eine vom lyrischen Subjekt neu erfahrene Körperlichkeit und Zerfallsthematik kreisende »Alterslyrik«,804 schließlich die »neuen Stimmen«, die in den autonomen »Raum des Gedichts« zurückgekehrt seien und der gesamten Darstellung Kortes den Titel geben.
Der neue, diversifizierte »Raum des Gedichts« ist hier im Zusammenhang mit der Frage nach der Entwicklung des Avantgardekanals, d. h. der vertikal-strukturellen Verbindung von »Avantgarde« und »arrivierter Avantgarde«, von Interesse. Dabei fällt in Kortes Darstellung ein ungeklärter Widerspruch auf: Einerseits betont er die Leitthese seiner Untersuchung, d. h. das horizontale,805 additiv marktsegmentartige Nebeneinander unterschiedlicher Lyrik-Sektoren.806 Dass eine Reihe in wachsendem Maße anerkannter Lyriker wie Papenfuß und Kling aus Szenen-Literaturen stammen, deutet Korte nicht im Rahmen der traditionellen ›Wachablösung‹ im literarischen Feld durch eine Avantgarde, sondern als Ausdruck der Pluralisierung literarischer Praxis, in der die Opposition des subversiven Neuen gegen das Anerkannt-Etablierte keine Rolle mehr spielt, weil die jeweilige »Positi-
800 Korte: Zurückgekehrt, S. 14; vgl. auch Korte: Energie der Brüche, S. 99. 801 Korte: Zurückgekehrt, S. 15. 802 Dazu zählen Gedichte von V. Braun, K. Drawert, B. Papenfuß, T. Rosenlöcher, L. Rathenow, K. Hensel und G. Grass; vgl. ebd., S. 19–27. 803 Vgl. ebd., S. 27–33. 804 Ebd., S. 33–35. 805 Vgl. ebd., S. 22, S. 47 u. passim. 806 »Die Sektoren sind additiv geordnet, ähnlich wie Marktsegmente, die sich Käuferkreise teilen. Hier mag einer der Gründe dafür liegen, dass in den neunziger Jahren trotz der gegenüber den achtziger Jahren sprunghaft gestiegenen Rolle der Lyrik in der Gegenwartsliteratur von keinerlei Debatte um Richtungen, Formationen und Poetologien zu berichten ist« (ebd., S. 19).
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on im diskursiven Raum der Literatur« zunehmend sektoral reguliert wird und die kanonbildende gate keeper-Funktion der Literaturkritik ihre traditionelle Bedeutung verliert.807
Einerseits zieht Korte die Schlussfolgerung, dass sich aus der pluralisierten Praxis weder eine Abfolge in der ästhetischen Zeit, d. h. eine vertikale Hierarchie, die sich nach »Begriffen wie Epigonentum, Traditionalismus und Avantgarde« ausrichtet, noch eine qualitative Abgrenzung zur massenhaft verkauften Lyrik ableiten lasse.808 Andererseits kann Kortes Darstellung – wie schon am Titel und dem ungleich größeren Seitenumfang der entsprechenden Untersuchungsabschnitte ablesbar – nicht verbergen, dass den »neuen Stimmen«, die mit ihrem Autonomieanspruch in den »Raum des Gedichts« zurückgekehrt seien, eindeutig ein ästhetischer und literaturhistorischer Vorrang eingeräumt wird. Die Untersuchung widerspricht also in ihrer Durchführung selbst ihrer Leitthese. Es besteht ein Widerspruch809 zwischen dem Befund gleichrangig nebeneinander geordneter Lyrik-Milieus einerseits und dem Auftreten eines für die Lyrik der neunziger Jahre allgemein wegweisenden ›Gedicht-Raumes‹, der sich mit seinem kunstautonomen Anspruch von den anderen Sektoren in ästhetischer Hinsicht deutlich hierarchisch absetzt, andererseits. Dieser Widerspruch lässt sich feldanalytisch leicht auflösen: Das lyrische Subfeld spannt sich in den neunziger Jahren zwischen einem neu ausgeprägten avantgardistischen Pol, einem flexibel ökonomisierten Mittelbereich und einem Bereich der Massenproduktion auf. Am avantgardistischen Pol ist ein neuer Freiraum für eine sprachreflexiv-autonom bestimmte Lyrik entstanden. Je weiter man in Richtung »ökonomisches« bzw. »alltagskulturelles« Kapital geht, desto mehr legt die Lyrik die Merkmale eines sprach- und formalästhetischen Anspruches ab. Zugleich verlagert sie den Akzent zunehmend auf inhaltliche und moralische (Sinn-)Kategorien. Typische Genres sind hier: Kurzgedichte, Szenegedichte oder Verschenklyrik, die auf Lebensorientierung mit Individualitätskonzepten,
807 Ebd., S. 16, mit Bezug auf Bogdal: Klimawechsel, S. 19. 808 »Gerade weil es […] angesichts der Pluralisierung der Poetiken und Stile eine differente lyrische Praxis gibt, die nicht mehr mit Begriffen wie Epigonentum, Traditionalismus und Avantgarde in ihrer Bedeutsamkeit hierarchisiert werden kann, macht es wenig Sinn, das Lyrik-Milieu, dem Kruppa zuarbeitet [gemeint ist der Goldmann-Autor Hans Kruppa mit Gedichtbüchern wie In deiner Nähe, Nur wer sich liebt, Du lebst in mir und Lichter der Hoffnung; Anm. H. T.], als bloß nachrangige, triviale, ja banale Spielart einer literarischen Gattung zu verspotten« (Korte: Zurückgekehrt, S. 17). 809 Auch Geisenhanslüke spricht von einem »Widerspruch zwischen der poetologischen Selbstbeschreibung und der soziologischen Außenwahrnehmung der Gegenwartsliteratur« (Geisenhanslüke: Altes Medium – neue Medien, S. 47).
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Identitätsangeboten, Alltäglichkeitsdarstellungen und Beziehungsgeschichten ausgerichtet sind.810 Was Korte phänomenologisch als milieuförmige Lyrik beschreibt, ist feldstrukturell als flexibel ökonomisierter Mittelbereich zu fassen. Die Varianten eines horizontal geöffneten Moderne-Spektrums in der Lyrikentwicklung seit der Neuen Subjektivität korrespondieren mit den allgemeinen strukturellen Transformationen des literarischen Feldes, insbesondere mit der Expansion des flexibel ›individualisierten‹ Mittelbereichs und seiner Bandbreite an Subjekt- und Realismuspositionen. Während die sprachliche Kommunikation im Bereich der Massenproduktion weit geöffnet ist, steht der kunstautonome »Raum der Gedichte« für eine eingeschränkte Kommunikation auf Seiten der Rezeption und für eine Grenze des Sagbaren seitens der Produktion. Außerhalb ihres eigenen, eng begrenzten Raums wird die neue Lyrik der neunziger Jahre wenig wahrgenommen – hier zeigt sich einmal mehr die ›Kanalisierung‹ der Avantgarde; innerhalb des Avantgardekanals gelten neue qualitative Maßstäbe des poetischen Umgangs mit der Sprache, die in der ästhetischen Zeit ›Epoche‹ machen oder zumindest Zäsuren als Trends setzen.
Trends im neuen ›Raum der Gedichte‹ Unter den neuen Stimmen im »Raum der Gedichte« – feldanalytisch: innerhalb des sich rekonfigurierenden Avantgardekanals im lyrischen Subfeld – lassen sich mehrere Trends unterscheiden.811 Grundlegend war der Trend zur »Rückeroberung der Autonomie-Poetik« durch »Experiment und Sprachreflexion«. Ergänzt wird er durch Trends zur »provisorische[n] Partitur«, aber auch zur großflächigen Konstellation, zum »Zyklus und Panorama-Gedicht«. Letzteres trat jedoch »nicht als perspektivisch geordnete Überschau« auf, sondern als »Ensemble aus Assoziationen, Wahrnehmungsfetzen und Sprachmaterial« sowie als »Schnittstellen-Technik von Sprach- und Bildmaterial«.812 Hieran
810 »Das Milieu, das für solche Lyrik empfänglich ist, hat einen Sinn für Literatur als Orientierung, genauer: für alle möglichen Spielarten von Individualitätskonzepten und Identitätsangeboten. Alltäglichkeiten und Beziehungsgeschichten, Träume und Niederlagen, Ängste und Befindlichkeiten bilden die Inhalte der zumeist kurzen Gedichte. Epigrammatisches, auf Wortspiel und Pointe zielende, kaum mehr als zwei oder drei Strophen umfassende Gedichte schreibt indes eine Vielzahl von Autoren; der Sektor Verschenklyrik geht formal wie inhaltlich in traditionelle, anerkannte Schreibmilieus über. […] Es gibt, zusammengefasst, Lesemilieus, in denen sprach- und formästhetische Experimente nicht gefragt sind, die aber eine Vorliebe für Literatur als Lebensorientierung haben« (Korte: Zurückgekehrt, S. 18). 811 Vgl. ebd., S. 36–63. 812 Ebd., S. 41.
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knüpfte der ebenfalls charakteristische Trend zur Auseinandersetzung mit Medialität und Mediengeschichte an.813 Hinzu kam schließlich die Schwerpunktsetzung auf Poetiken der Erinnerung und des Gedächtnisses, an denen sich die kunstautonome, intramediale Ausrichtung der Positionen im vertikalen Avantgardekanal ablesen lässt. Kennzeichnend für die wieder verstärkt auf Kunstautonomie ausgerichtete Lyrik waren nicht nur ihre Innovationen in der Gestaltung des lyrischen Wortes. In scharfer Abgrenzung zum Alltags- und Betroffenheitsgedicht der siebziger und achtziger Jahre stützte sich die »Rückkehr in den Raum der Gedichte« in den neunziger Jahren auf eine intensive Rezeption der lyrischen Traditionen, insbesondere der modernistischen Tradition des artistischen und ›hermetischen‹ Gedichts.814 Rezipiert wurden einerseits der junge Bertolt Brecht im Zusammenhang mit der Entstehung einer neuen Großstadtlyrik, etwa bei Grünbein,815 andererseits Gottfried Benn, auf dessen Lyrik Grünbeins Poetik einer neusachlichen ›Nervenkunst‹ aufbaute.816 Für die großformatigen, zyklischen Sprachkompositionen wurden schließlich wieder Rilke, George und Borchardt als Vorbilder entdeckt.817 Auch Thomas Kling zeigte sich demonstrativ desinteressiert an der Lyrik der Nachkriegszeit, etwa eines Günter Eich, Hans Magnus Enzensberger, Peter Rühmkorf oder Günter Kunert, und schloss dagegen an die historischen Avantgarden und an die Moderne an.818 Die ›Sondagen‹ seines ›Lyrik-Speichers‹ drangen aber noch tiefer in die Schichten des poetischen Geschichtsraumes. So fand er die für seine Neukonzeption des Gedichts zentrale »Energie der Zeichen« 819 bereits bei den Dichtern des Mittelalters (Oswald Wolkenstein), des Barock (Friedrich Logau und Johann Michael Moscherosch) und vor allem bei den Expressionisten (insbes. Georg Trakl). Für Kling, der sich »bewußt im Interferenzbereich von Oralität und Schriftlichkeit« bewegte,820 waren ferner die 813 In den großformatigen Arbeiten sah Kling »Anzeichen, daß man ausgreifende Bildstrecken bewältigen möchte; unter Umständen werden andere Nachbarmedien (Fotografie, Dias, Tapes etc.), einbezogen« (Sprachspeicher. 200 Gedichte auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert[,] eingeleitet und moderiert von Thomas Kling. Köln 2001, S. 311). 814 Vgl. dazu Geisenhanslüke: Energie der Zeichen. 815 Vgl. Grünbein: »Transit Berlin«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 136–143. 816 Vgl. Grünbein: »Mein babylonisches Hirn«. In: Ebd., S. 18–33. 817 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 42 f. 818 Vgl. Hermann Korte: »Kopfjägermaterial Gedicht«. Thomas Klings lyrisches Werk in sechs Facetten. In: Frieder von Ammon, Peer Trilcke, Alena Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte. Zum Werk Thomas Klings. Göttingen 2012, S. 25–39, hier S. 31. 819 Vgl. Kling: »Sprachinstallation 2«. In: Itinerar, S. 15–26, hier S. 16. 820 Hubert Winkels: Zungenentfernung. Mündlichkeit, Schriftlichkeit und das Kling-Gedicht »löschblatt. Bijlmermeer«. In: H. W.: Der Stimmen Ordnung. Über Thomas Kling. Köln 2005, S. 79–88, hier S. 79.
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Dadaisten Hugo Ball und Walter Serner Vorbilder für ein performatives Experimentieren mit dem Sprachmaterial, mit Mündlichkeit und polyphonen Sprechweisen. Schließlich wurde die Lyrik Paul Celans, deren Modernisierungstendenz historisch ›auf der Strecke‹ geblieben war, zu einer neuen maßgeblichen Referenz: nicht nur für Thomas Kling, sondern auch für Peter Waterhouse, Marcel Beyer und andere.821 Dieser Traditionsanschluss an »›die unabdingbare Vielstelligkeit des Ausdrucks‹ (Celan)« 822 trug wesentlich zur Neubestimmung des kunstautonomen Gedichts bei. Kling verstand es als rhythmisches, verkürztes, klangvoll-musikalisches Sprechen über Welt, in das grundsätzlich alle Sprachlagen geschichtet sein können. Aus dem unvermutete Bilder und Welten auftauchen – das Gedicht als Sprachspeicher.823
Mit seinem Konzept einer Spracharchäologie stellte sich Kling in die Traditionsreihe der »Stimmen-Sammler«, wie sie einst Herder mit seinen Stimmen der Völker in Liedern begründet hatte.824 Zur Auseinandersetzung mit den Traditionsbeständen kam eine »Beschäftigung [mit] den Reservoiren der Naturwissenschaften oder der Kulturgeschichte« hinzu.825 Aus ihnen speiste sich die neue Stimme eines »poeta doctus, der sein gelehrtes Wissen allerdings nicht qua Imitation reproduziert, sondern auf kontrollierte Weise durcharbeitet«.826 Während für Kling und Waterhouse der Dissens zwischen »Wort« und »Wissen« grundlegend blieb,827 zeigten sich mit der Souveränitäts- und GelehrsamkeitsEmphase des reflektierenden Subjekts bei anderen Autoren – etwa bei Raoul Schrott oder Durs Grünbein – bald Ansätze zu einer neuen ›Gipfelpoetik‹, der Übersicht, Weitblick und Erhabenheitserfahrungen eingeschrieben sind, die das erkennende Subjekt und die eigene Autorschaft nobilitieren.828 Von hier aus, von der poetischen Stimme des poeta doctus in den neunziger Jahren, führte ein Weg durch den Avantgardekanal in die oberen Feldbereiche nobilitierter Autorpositionen, genau dann, wenn die Herstellung einer kontrollierten
821 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 46 f.; u. Text + Kritik, 53/54 (2002): Paul Celan, mit Beiträgen v. Marcel Beyer, Peter Waterhouse u. Thomas Kling; vgl. auch Geisenhanslüke: Altes Medium – neue Medien, S. 40 u. S. 44. 822 Kling: »Sprachinstallation 2«. In: Itinerar, S. 26. 823 Kling: Sprachspeicher, S. 329. 824 Vgl. Thomas Kling: »Drei Gespräche aus den Neunzigern«. In: Botenstoffe, S. 202–244, hier S. 223. 825 Kling: Sprachspeicher, S. 311. 826 Korte: Zurückgekehrt, S. 43. 827 Vgl. ebd., S. 49. 828 »Bei Schrott kehrt das Autonomiepostulat der Poesie in der absolutgesetzten Autonomie der eigenen Autorschaft wieder« (ebd., S. 48); siehe hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.2.2.
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und souveränen ›Haltung‹ des Autors das ›Durcharbeiten‹ im Medium der Sprache dominierte. Für die neue Sprach-, Medien- und Traditionsreflexion in der Lyrik waren die Gedichte von Durs Grünbein und Thomas Kling maßgeblich. In der folgenden Detailstudie werden die Entwicklung ihrer Autorpositionen und ihre Poetiken unter den Aspekten a) des Sprachbewusstseins, b) der Medienreflexion und c) der (intertextuellen) »Vorzeitbelebung«, d. h. des Umgangs mit Erinnerung und Gedächtnis, verglichen. Der Vergleich wird zunächst eine Konvergenz und Nähe der Autorpositionen und ihrer Entwicklungen aufzeigen. Diese wandelte sich dann in ein Konkurrenz- und Konfliktverhältnis bis hin zum Bruch und zu unterschiedlichen weiteren Verläufen. Die Konvergenz, der Konflikt und die getrennten Laufbahnen der Autorpositionen von Kling und Grünbein lassen sich nicht als Angelegenheiten zweier ›einzigartiger Schöpfer‹ und ihres ›Genius‹ verstehen. Vielmehr werden sie hier symptomatisch als Ausdruck veränderter Kräfteverhältnisse im literarischen Feld gelesen, konkret: unter dem Gesichtspunkt der Bestimmung des lyrischen Avantgardekanals, der den Pol der Avantgarde mit dem der arrivierten Avantgarde strukturell verbindet. Im Avantgardekanal geht es dabei um die Aufrechterhaltung eines kunstautonomen Strebens mit Universalanspruch angesichts der strukturell zunehmenden Infragestellung von autonom-ästhetischen Avantgarde-Positionen.
Fallstudie 3: Zwischen Nischenexistenz und symbolischem Aufstieg: Die Konkurrenz der Autorpositionen von Thomas Kling und Durs Grünbein Der Paradigmenwechsel im lyrischen Subfeld der neunziger Jahre, die Neuformierung eines kunstautonom-avantgardistischen Gedichts, war produktionsästhetisch vor allem mit einer poetischen Sprachreflexion verbunden. Da das Sprachbewusstsein zum entscheidenden Merkmal des neuen Gedichts wurde, könnte man von einem neuerlichen ›linguistic turn‹ sprechen. Dieser war aber im Unterschied zur Konkreten Poesie der fünfziger und sechziger Jahre weder abstrakt sprachexperimentell noch – im Unterschied zur neoavantgardistischen Literatur der siebziger und achtziger Jahre – poststrukturell, sondern sprachartistisch ausgerichtet. Zugleich zielte das neue Gedicht auf eine spezifisch poetische Durchdringung der (historischen) Realien. Dadurch gewannen dezidiert poetische Verfahrensweisen wieder deutlich an Gewicht. In deren Zentrum stand, sich in die Tradition der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins stellend, der spezifische Gebrauch und die spezifische Erkenntnisfähigkeit der poetischen Sprache.
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Der Avantgardekanal
Thomas Klings Laufbahn bis Mitte der neunziger Jahre In den achtziger und neunziger Jahren entwickelte sich Thomas Kling zu einem der maßgeblichen Akteure der neuen sprachartistisch-avantgardistischen Lyrik. Er wirkte schulbildend (so z. B. für Peter Waterhouse, Marcel Beyer, Barbara Köhler, Ulrike Draesner oder Sabine Scho). 1993 porträtierte ihn Friederike Mayröcker als wegweisenden »Magier« einer neuen »Sprachverwirklichung«.829 Klings Laufbahn lässt sich zunächst anhand der Autor-Bilder, mit denen er sich in der Öffentlichkeit präsentierte, die ihm aber auch zugeschrieben wurden, abstecken. In einer ersten Phase bis Mitte der neunziger Jahre präsentierte sich der Autor in einer subkulturellen Abgrenzung als Punk-Szene-Autor, ›Sprachzertrümmerer‹ und ›fahrender (Performance-)Sänger‹. Die Anfänge der subkulturellen Abgrenzung erfolgten im Geiste des Punk (vgl. erprobung herzstärkender mittel [1986], geschmacksverstärker [1989]).830 Die Punk-Posen der Zerstörung – der zerhackten, parataktischen Sprache – waren dabei nicht nur ästhetisch, sondern auch positionell kalkuliert, denn sie dienten nicht zuletzt der Abgrenzung von der bislang dominanten Subjektivitätslyrik und der Praxis der Lesungen in den achtziger Jahren, die – »piepsig und verdruckst« – für Kling »der Sprache gegenüber eine Frechheit« waren.831 Die in Klings PunkKonzept zum Ausdruck kommende Verbindung von Destruktion und Konstruktion schloss an die historischen Avantgarden, insbesondere an die Dadaisten Hugo Ball und Walter Serner, an. Da aber für Kling nicht nur der lyrische Sprachgebrauch, sondern auch der Begriff der »Performance« in den achtziger Jahren »völlig ausgefranst, vollkommen vernutzt« 832 war, bezeichnete er nach eigener Aussage bereits 1985 seine Auftritte als »Sprachinstallation«. Dieser Begriff sollte einerseits die Grenze zum zeitmodischen Schlagwort der »Performance«, dem Kling schnell zugeordnet wurde, ziehen.833 Andererseits wurde damit die schriftlich komponierte Sprachlichkeit der Lesung betont. So ging es Kling nicht um eine möglichst authentische Wiedergabe und Improvisation von Mündlichkeit, wie es vielfach im Zusammenhang mit der Verwendung von Szenejargon in den Gedichten ratinger hof verstanden wurde,834 sondern um eine schriftliche Inszenierung von Oralität.835 Das Gedicht als schriftlich komponierter,
829 »Thomas Kling: Poesie Gratwanderer, Poesie Lunatiker, mit dem Selbstauslöser Sprachbilderkataloge generierend, er selbst in kunstanarchischer Pose davor, nämlich als Magier einer ins nächste Jahrtausend weisenden Sprachverwirklichung« (Friederike Mayröcker: Löschblattlosigkeit. In: Die Zeit, 12. 11. 1993; zit. n. Korte: Zurückgekehrt, S. 38). 830 Vgl. zum Folgenden Enno Stahl: Die Geburt des Geschmacksverstärkers aus dem Geiste des Punk. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 69–80. 831 Kling: Itinerar (»Sprachinstallation I«), S. 9–13, hier S. 9. 832 Ebd., S. 11. 833 Vgl. Kling: Itinerar (»Memorizer«), S. 59–67, hier S. 59. 834 Der »Ratinger Hof« war ein Szene-Lokal in Düsseldorf, dem Kling drei Gedichte in den Bänden erprobung herzstärkender mittel und geschmacksverstärker gewidmet hat (vgl. Hermann Kinder: Zwei-Phasen-Lyrik: Bemerkungen zu Thomas Klings »ratinger hof, zettbeh (3)«. In: Text + Kritik, 147 [2000]: Thomas Kling, S. 81–90). 835 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 212.
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räumlich-konstellativ (s. u.) hergestellter »Mundraum« ist für Kling ein »Wahrnehmungsinstrument«.836 Die erprobung herzstärkender mittel, wie sein erster über die Szene hinaus wahrgenommener Gedichtband heißt, war auf die Neubelebung des sprachlich ›toten‹ Gedichts der achtziger Jahre aus. In Anspielung auf Jean Paul und Hölderlin verstand Kling die »herzstärkenden Mittel« als Aufforderung zum Weiterhinsehen, zur weiteren Sprachenfindung; zum Fortsetzen dichterischer Traditionslinien im Rückgriff auf teils weit zurückreichende Rhizomanordnungen und als Aufruf zu exzessiven Recherchen philologischer wie journalistischer Art, die vor jeder Niederschrift, vor dem Schreibakt stehen – seien sie nun literal oder oral bestimmt. Die Einbeziehung aller existierenden Medien ist gefragt. Die Augen des Dichters gehen auf, der Mund öffnet sich, um nach Gegebenheiten zu fragen, Phänomene zu registrieren, Erkundigungen über Lebensläufe einzuholen; mitgemeint sind selbstverständlich Lebensläufe auch von Worten, von Soziolekten. Ich pflegte von jeher eine Etymologiebegeisterung, die der des 19. Jahrhundets [sic], als die Aufbruchstimmung in den Humanities hochschlug, in keiner Weise nachsteht.837
Auch wenn Kling zu einem wichtigen Impulsgeber für die in den neunziger Jahren populär gewordene Slam Poetry-Szene geworden war, grenzte er sich durch seine Sprachverfahren und seinen eigenwilligen Traditionsbezug deutlich von einer subkulturellen Kunst ab.838 So sind die subkulturellen Perspektiven in dem Band brennstabm (1991), dessen Titel auf das poetologische Prinzip der ›Anreicherung‹ und ›Energiegewinnung‹ durch sprachliche ›Kernspaltung‹ anspielt, stark erweitert: In den Blick geraten Kulturbestände in größeren, über eine Szene hinausgehenden Kontexten, die sprachlich zerlegt und in neue Konstellationen gebracht werden. Klings Durchdringung der Wirklichkeit ist von einem spezifischen Interesse an einer Spracharchäologie geprägt, die von konkreten, rudimentären und randständigen Fundstücken ausgeht. Sie ermöglicht eine Geschichtserfahrung, die nicht dem großen Datum, sondern dem schlaglichthaften Detail den Vorrang einräumt.839 Diese historische Spurensuche äußert sich – in Analogie zur Archäologie und Geografie – in Sprachüberlagerungen als Gegenstand einer intensiven Spracharbeit und zugleich als Aufforderung an den Leser zu einer eigenständigen Entzifferungs- und Übersetzungsarbeit. Die erste Phase von Klings Laufbahn bis Mitte der neunziger Jahre kann als die eines Impulsgebers zusammengefasst werden: Seine Lyrik stand für einen grundlegenden, sich bereits in den achtziger Jahren anbahnenden Paradig-
836 Sprachspeicher, S. 329. 837 Itinerar (»Sprachinstallation 2«), S. 15 f. 838 Vgl. Erk Grimm: Thomas Kling (1957–2005). In: Ursula Heukenkamp, Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jahrhunderts. Berlin 2006, S. 686–695, hier S. 686. 839 Vgl. Korte: »Kopfjägermaterial Gedicht«, S. 34.
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menwechsel in der deutschsprachigen Lyrik. Verabschiedet wurde die Betroffenheits- und Befindlichkeitslyrik im Namen einer neuen sprachbewussten Lyrik der urbanen und kulturlandschaftlichen Welt.840 Die Ausstellung von Sprache als einer gesprochenen hatte Kling zu einer wichtigen Instanz für die ›performative Wende‹ in der Literatur der achtziger Jahre gemacht, ohne die die maßgeblichen Lyrik-Strömungen der neunziger Jahre nicht zu denken sind. So erfuhr er über die subkulturellen, performativen Lyrik-Milieus hinaus zunehmend Anerkennung unter den Kennern der Gegenwartslyrik bis hin zur Einschätzung, »der zweifellos bedeutendste Dichter seiner Generation« zu sein.841 Klings Autorposition war also nicht nur die eines wichtigen Impulsgebers für die Slam Poetry und den horizontal, auf den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich ausgerichteten neuen ›Zeit-Takt‹, sondern auch für eine vertikal ausgerichtete Avantgarde im lyrischen Subfeld, der es um einen poetologischen Epochenwechsel ging. Ähnlich wie im Subfeld des Theaters842 grenzte sie sich vom Mittelbereich durch eine an Textualität festhaltende, schriftliche Komposition von Mündlichkeit und Performanz sowie durch einen kunstautonomen Traditionsbezug ab – bei Kling durch die eigenwillig gezogene Traditionslinie von der sprachmystischen Antike, über Mittelalter, Barock, Expressionismus und Dadaismus bis hin zu Paul Celan und zur Wiener Schule. Während die Slam Poetry auf die publikumsbezogene Präsenz der performenden Person, ihrer Stimme und des sprachlichen Ausdrucks zielt, strebt die Autorposition im vertikal ausgerichteten Avantgardekanal nach Überführung der personalen Präsenz in eine ästhetische des Werkes.843 Wie sich im Vergleich mit Grünbein zeigen wird, ist die ästhetische Präsenz des Werkes bei Kling allerdings nicht nur in der ersten, sondern auch in der zweiten Phase seiner Laufbahn weit entfernt von einer geschlossenen, ›klassischen‹ Form, da diese Präsenz in ihrer konstellativen ›Mehrstelligkeit‹ des sprachlichen Wortes die Öffnung der Form beibehält und auf eine prozessuale, aktive Entzifferung des Lesers ausgerichtet ist.
Durs Grünbeins Laufbahn bis Mitte der neunziger Jahre Von einer anderen Seite kommend, war auch Grünbeins ›kometenhaft‹ aufsteigende Laufbahn Anfang der neunziger Jahre symptomatisch für die Transfor840 Vgl. ebd., S. 26 f. 841 Michael Braun: Thomas Kling – ein nomadischer Sprachreisender. In: Neue Zürcher Zeitung, 4. 4. 2005. 842 Vgl. hierzu oben Exkurs: Vom »Theater der Präsenz« zum »Drama des Prekären«. 843 Vgl. zu Slam Poetry oben: Zweiter Teil, I. 2.2.; vgl. zur Struktur des Nobilitierungssektors: Zweiter Teil, II. 1.
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mation des lyrischen Subfeldes. Sein erster, von Heiner Müller an den Suhrkamp-Verlag vermittelter Gedichtband Grauzone morgens (1988) hatte für eine neue, aus dem subkulturellen Kontext heraustretende und in ihrem ästhetischen Ausdruck zukunftsweisende Lyrik Signalwirkung.844 Wie auch andere avantgardistische Lyrikstimmen in der DDR positionierte sich Grünbein mit seinem ersten Gedichtband Grauzone morgens 845 in einem gesamtdeutschen literarischen Feld, dessen Genese bis in die siebziger und achtziger Jahre zurückreicht:846 auf der vertikalen Achse im subkulturellen Bereich in Abgrenzung zur etablierten Literatur im offiziellen wie auch im ›zweiten‹, inoffiziellen, aber anerkannten literarischen Raum – auf der horizontalen Achse am avantgardistisch-avancierten Pol bzw. am Pol der »alternativen Diskurse« (vgl. oben: Abb. 8). Mit dem im renommierten Suhrkamp-Verlag erschienenen Gedichtband trat Grünbein als ostdeutsche, für die westdeutsche literarische Öffentlichkeit neue und zugleich fremde Stimme im Eigenen auf: als eine poetische Stimme, die von den zerfallenden industriellen Randzonen eines erkennbar ostdeutschen, sozialistischen urbanen Erfahrungsraums ausging, jedoch eine die Ost-West-Grenze überschreitende Problematik der (Post-)Moderne zum Ausdruck brachte.847 Für die westliche Rezeption war der Gedichtband attraktiv, da die Grauzone einerseits als Reihung verdichteter Momentaufnahmen des äußerlich und innerlich zerfallenden Gesellschaftssystems im ›real existierenden Sozialismus‹ gelesen werden konnte, andererseits darüber hinaus als poetisch dichter Ausdruck einer allgemeinen Wahrnehmung des sinnentleerten Status quo postindustrieller Systeme. Zur doppelten Dekodierbarkeit kam die Möglichkeit von Mehrfachanschlüssen an die literarische Tradition hinzu: zum einen an Motive und Formen der klassischen Weltliteratur (z. B. an Dantes Divina Commedia)848 und der frühen und klassischen Moderne (z. B. an Eliots Waste Land, Pounds Cantos, Brechts Großstadtgedichte und Benns frühe Lyrik), zum anderen an Verfahren der zeitgenössischen Postmoderne und Posthistoire. Letzteres äußerte sich durch die Grundtechnik der schockartigen Momentaufnahmen, die Kurzformeln einer verdichteten, splitterhaften Wahrnehmung des Konkreten (Glimpses & Glances heißt der dritte Teil des Bandes, womit auf das amerikanische Vorbild William Carlos Williams’ verwiesen wird), sowie durch die Poetik der sprachlichen Reduktion und metaphorischen Neukombination, der sprachlichen Rhythmisierung und räumlichen Anord-
844 Vgl. zum Folgenden die Vorstudie von Tommek: Durchsetzung einer ästhetisch-symbolischen Exzellenz. 845 Nachweise im Folgenden nach der Ausgabe in Grünbein: Gedichte. Bücher I–III. 846 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 2.3. 847 Obwohl die Verbindung zum biografischen Erfahrungsraum der Kindheit und Jugend Grünbeins, einem von Kasernen, Übungsgeländen und Müllberg geprägten Vorort Dresdens (Hellerau), naheliegt, wird die direkte Lokalisierung in Dresden vermieden. Hierin lag eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Rezeption von Grauzone morgens in Westdeutschland, wo man den Band als Chiffre für die ›Essenz der Moderne‹ lesen konnte. Als industrielle, ruinöse ›Außenseite‹ der Stadt wird »Dresden zu einer exemplarischen Schablone dystopischer Erfahrung abstrahiert« (Winkler: Dichtung zwischen Großstadt und Großhirn, S. 28 u. S. 11); vgl. zum Folgenden Korte: Durs Grünbein. 848 Vgl. das Gedicht »›Die Meisten hier …‹« (Grauzone morgens, S. 17).
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nung849 und schließlich die der reflexiven Brechung, die den Aufschreibprozess selbst zur Sprache bringt. Die Gedichte sind aus der Perspektive eines unbeteiligten Beobachters des erstarrten Gesellschaftssystems geschrieben, der sich selbst in totaler Vereinzelung wahrnimmt. Im Kontrast dazu steht das Ansprechen eines vagen Gegenübers im inneren Monolog (»mon frère« [12], »Du« [13], »Amigo« [17]). Mit dieser Spur einer unbestimmten Durchbrechung der Vereinzelung korrespondiert die sachlich-kühle Wahrnehmung von Zeichen eines momenthaften Aufbrechens oder Überschreitens der ›verwalteten Welt‹ in einem ästhetisch faszinierenden Alltagsfund mit »epiphanische[r] Qualität« im Detail.850 Damit ist ein allgemeines Generierungsprinzip des ersten Gedichtzyklus benannt: Die gereihten Bestandsaufnahmen eines entfremdeten, kühl diagnostizierenden Ichs inmitten einer toten Mit- und Dingwelt werden durch unerwartet aufscheinende ästhetische Indizien aufgebrochen, die auf die mögliche Spur einer ›Botschaft‹ verweisen, welche sich jedoch nicht mehr eindeutig entschlüsseln lässt.851 Im ruinenhaften Stadtraum des melancholischen Zerfalls, der stillgestellten, toten Zeit und der Sinnleere (»Barockphobie« [13]) behauptet sich der allein in der Beobachtung konturierte Beobachter durch seine emotionale Distanz zu den Dingen und den anderen Personen, die er in zeitenthobenen Momentaufnahmen erfasst.
Grauzone morgens steht für eine unabgeschlossene Wahrnehmung, Reflexion und Dechiffrierungsarbeit des Gedichts. Der neue poetische Gebrauch der Sprache bringt das Gedicht in seiner prozessualen, fragmentarischen und artifiziellen Verfasstheit zur Darstellung. Im Unterschied zu den siebziger und achtziger Jahren gilt auch hier Sprache nicht mehr als Medium von Botschaften, Betroffenheiten und Befindlichkeiten, sondern als Reflexionsraum des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung, Erkenntnis und eben Sprache. Dabei wird mit wechselnden Stimmen gearbeitet. Wenn Kling in brennstabm die Spaltung der Sprache zur Freisetzung sprachartistischer ›Energien‹ verfolgte, waren für Grünbein die sprachlichen ›Kurzschlüsse‹, die elektrisierenden, räumlich-konstellativen Zusammenstöße verschiedener poetischer ›Elementarteilchen‹ poetologisch dominant.
849 Exemplarisch schon im ersten Gedicht (»Den ganzen Morgen ging«), das quasi aus einem Prosatext besteht, der räumlich angeordnet ist. Später, in der Ausgabe gesammelter Gedichte von 2006, hat sich Grünbein von Grauzone morgens mit ihrer »zerrauften Typographie« als »Dokument seiner Unmündigkeit« grundlegend distanziert (»Revision ›Grauzone morgens‹«. In: Gedichte Bücher I–III, S. 379–382, hier S. 379). 850 Irmer: Durs Grünbein, S. 712; vgl. folgendes Beispiel: »Etwas das zählt (gleich am Morgen) ist / dieser träge zu dir / herüberspringende Chromblitz eines / Motorrads« (»Etwas das zählt«. In: Gedichte Bücher I–III, S. 13). 851 Vgl. folgendes Beispiel, das auch die Übertragungsmöglichkeit der monotonen Erfahrung auf die westliche (amerikanische) Welt zeigt: »›Auf jedem Bildschirm dieselbe Scheiße!‹ / Mea piscilla (im Bett) sieht mir zu wie ich / verschiedene Hemden probiere (Flanell oder was sonst) ... – eine / Wandinschrift in Pompeji?« (»Wenn es nach einer Amerikanischen Nacht«, ebd., S. 26).
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Das provisorische Zugleich widersprüchlicher Stimmen und leerer Zeichen prägte noch deutlicher Grünbeins zweiten Band, die Schädelbasislektion (1991).852 Mit dem zwischen 1988 und 1991 entstandenen Gedichtband hatte Grünbein seine Position am avantgardistisch-avancierten Pol des gesamtdeutschen literarischen Feldes gefestigt – gleichwohl wies der Band aber auch erste vertikale Absetzbewegungen auf, wie bereits ausgeführt wurde.853 Innerhalb des kunstautonomen lyrischen Subfeldes zeigte sich die Distinktion vermittels der an Benns Lyrik anschließenden Aufnahme naturwissenschaftlicher, insbesondere neurophysiologischer Diskurselemente und Denkfiguren, wodurch ein neuartiges poetisches Idiom zum Ausdruck kam und ›posthumane‹ Referenzen entstanden. Zu dieser neusachlichen Profilierung der avancierten Position kam die Abgrenzung von sowohl ›empfindsamen‹ (»Befindlichkeitsgedicht«, »Alterslyrik«) als auch ›diskursiv-politischen‹ Positionen (»Deutschlandgedicht«), die beide für das illusionäre und jederzeit angreifbare ›Gemeine‹ der unmittelbaren Authentizität und/oder des leidenschaftlichen Engagements standen. Grünbeins lyrisch umgesetzte »Verhaltenslehren der Kälte« (Lethen) gewährleisteten die symbolische Distinktion. Sprachbewusstheit, Intertextualität und die Auseinandersetzung mit Körperlichkeit und Medialität waren zu den zentralen Kennzeichen der neuen Lyrikformation geworden.854 Der Status der Lyrik wurde in Auseinandersetzung mit der Konkurrenz von Naturwissenschaften und Medien in paradoxaler Weise aufgewertet: Das neue, sprachbewusste Gedicht wurde so zu einer »letzten Erkenntnisform« im Bewusstsein ihrer Vereinzelung und Marginalität.855 Während aber Kling seine Lyrik als »Erprobung herzstärkender Mittel« verstand, die die analytische und synästhetische Wahrnehmung im Medium der Lyrik schärfen sollten, erklärte Grünbein das ›kalte Medium‹ Gehirn zum neuen Or-
852 Vgl. die Zwischentitel in Schädelbasislektion: »Posthume Innenstimmen«, »Inframince«, »Niemands Land Stimmen«, »Sieben Telegramme«, »Die Leeren Zeichen«. 853 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.2.1. 854 Vgl. Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien, S. 38. 855 »Wenn die Wahrnehmung der Unterschiede zwischen belebter und unbelebter Materie schwindet, wenn Organismen und Maschinen, Apparaturen und Nervensysteme, Gesichter und Fahrzeugteile nicht mehr angemessen auseinandergehalten werden, steigt Dichtung zur letzten Erkenntnisform auf, indem sie die Kriterien der seelischen Regsamkeit wachhält. Wie sonst läßt sich das Credo des jungen Novalis erklären, Poesie sei das echt absolut Reelle? […] Dichten, das ist die Offensive der Ohnmacht, Mobilmachung im Stil der kleinsten Größe, die Allmachtsphantasie in der Nußschale. Wer dichtet, ist nicht tot« (Grünbein: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen [2001]. Frankfurt a. M. 2003, S. 79 f.; vgl. auch Korte: Zurückgekehrt, S. 44 f.).
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ganon der Dichter.856 In beiden Konzepten, in Klings »Sprachinstallation« wie auch in Grünbeins »Neuro-Romantik«, kam das neue Bekenntnis zur Autonomie-Poetik zum Ausdruck.857 Grünbeins Kritik des die Sprache kontrollierenden und konstruierenden Subjekts und dessen Rückführung auf neurologische Reflexe in der Schädelbasislektion waren bereits Absetzungstendenzen von den sprachkonstruktivistischen Lyrikpositionen Anfang der neunziger Jahre eingeschrieben. Wenn Kling in erprobung herzstärkender mittel, geschmacksverstärker und brennstabm die poetische Konstruktion unter ›Laborbedingungen‹ betonte, verfolgte Grünbein das Konzept einer ›neuro-romantischen‹, »biologische[n] Poesie«, die sich sowohl von emphatischen »Expressionismen« als auch von abstrakten Sprachkonstruktionen abgrenzte.858 Beide Lyriker erklärten das autonome Gedicht zum eigenständigen Wahrnehmungs- und Erkenntnisinstrument. Es wird sich aber zeigen, dass der feine Unterschied zwischen der konstruktivistisch-prozessualen »Sprachinstallation« und der »Neuro-Romantik« auch zu unterschiedlichen Entwicklungen innerhalb des Avantgardekanals führte.
Misslingender Versuch eines Avantgardepaktes Anfang der neunziger Jahre lagen die Autorpositionen der beiden jungen Lyriker noch nahe beieinander. Zu dieser Zeit gab es von Seiten Grünbeins den Versuch einer ›Allianzbildung‹. Grünbein, der keinen expliziten AvantgardeAnspruch erhob, nahm zweifellos die zentrale Bedeutung Thomas Klings für die neue, avancierte Gegenwartslyrik wahr. Dies schlägt sich in dem Kling gewidmeten Gedicht »O Heimat, zynischer Euphon« nieder.859 Es ist nicht nur Ausdruck einer Wertschätzung, sondern auch des Bestrebens, zusammen mit Kling eine führende Position in der sich anbahnenden neuen Lyrik-Formation einzunehmen. »O Heimat, zynischer Euphon« beinhaltet eine Reflexion über die Bedingungen des Dichtens in der Gegenwart.860 Die Datierung auf den »20/3/89« markiert eine Zeitgenossenschaft noch
856 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 36; u. Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien, S. 38– 40. 857 Vgl. die programmatische Zeile in Grünbeins Gedicht »12/11/89«: »Komm zu dir Gedicht, Berlins Mauer ist offen jetzt« (Schädelbasislektion, S. 152). 858 Vgl. »Drei Briefe«. In: Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 45. 859 Vgl. Schädelbasislektion, S. 201 f.; folgende Vers-Nachweise im Fließtext. 860 Ein Pendant hierzu stellt Grünbeins Gedicht »Memorandum« aus dem Band Nach den Satiren dar (vgl. Ernst Osterkamp: Durs Grünbeins Memorandum zur Lage der Poesie nach den Utopien. In: Olaf Hildebrand [Hg.]: Poetologische Lyrik von Klopstock bis Grünbein. Gedichte und Interpretationen. Köln u. a. 2003, S. 324–334).
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vor dem Mauerfall, die diesen aber antizipiert. Das vierstrophige, formal relativ geschlossene861 Gedicht beginnt mit elliptischen Aussagen im Nominalstil, die das motivische Grundgerüst abstecken: »Flickerbilder«, »Künstlerhirnen«, »Gewalt«, »Spiegelscherben«, »nackte Welpen«, »Erben hoher Stirnen«, »Nervennelken« (V. 2–5). Durch die auffällige Abwesenheit aktiver Verben ist von Anfang an jede Handlungsoption eingeschränkt und damit die grundlegende Situation einer Passivität intoniert. Versteht man das im Titel genannte »Euphon« – ein aus Glasstäben bestehendes Musikinstrument, das mit den Fingern zum Schwingen gebracht wird – als Metapher für das Dichten (»Euphonie« bedeutet »Wohlklang«), so umreißen die »Flickerbilder in den Künstlerhirnen« und die »durch Spiegelscherben exorziert[e]« Gewalt dessen Bedingungen heute. »Flickerbilder« sind ›Bewegungsbilder‹, wie sie in den Anfängen der Filmgeschichte durch schnelle Abfolge die Illusion von Bewegungen erzeugten. Im übertragenen Sinne stehen sie für eine Vielzahl von sprachlichen und bildlichen Impulsen, die im Gehirn und im allgemeinen kulturellen Gedächtnis archiviert sind und sich zu ephemeren ›Sequenzen‹ assoziieren. Die hymnische Apostrophe im Titel »O Heimat« und der weitere Verlauf des Gedichts machen deutlich, dass es um ikonografische und diskursive Erinnerungszeichen einer Heimat geht, deren geschichtliche Signatur wie im Werk Heiner Müllers durchgängig von Gewalt geprägt ist. Die »Spiegelscherben«, durch die die Gewalt »exorziert« worden ist, lassen sich als Simulationen im postmodernen Sinne deuten. »Nervennelken« ›betäuben‹ die direkte sinnliche Erfahrung, machen sie zur vermittelten, sekundären Erfahrung.862 Unmittelbare ›Welterfahrung‹ ist hier verstellt. In die Welt der Sekundärerfahrungen, die an Strauß’ Diktum von der ›sekundären Welt‹ erinnert, sind die Sprecherstimme Grünbeins und der Adressat Thomas Kling als Vertreter einer neuen Dichtergeneration diesseits und jenseits der Mauer ›hineingeboren‹ (»wir, der Mauern / Sturzgeburt«, Z. 6 f.). Damit wird eine gemeinsame Wahrnehmung behauptet, die von Beginn an von ›Betäubung‹, Passivität und einer gewissen Opferidentität geprägt ist: Hilflos wie »nackte Welpen« sei die neue Dichtergeneration von Geburt an. Sowohl diesseits als auch jenseits der Mauer habe sie eine anonyme symbolische Gewalt erfahren, die ihr Denken konditionierte (»welche Schwester drückte ihren Daumen / Ins zarte Fontanell uns ungerührt« [Z. 12 f.]). Ihr ›Nervenkostüm‹ sei »mit Nervennelken tätowiert« worden (Z. 5): Die Gewalt der Geschichte habe sich den ›Nachgeborenen‹ bis in die ›letzte Faser‹ eingeschrieben (»tätowiert«). Zugleich habe sie ihre sinnliche Wahrnehmung ›betäubt‹. Die ›Betäubung‹ steht einerseits für eine – eher westlich geprägte – ›postmoderne‹ Wahrnehmung der Simulation, der synthetischen, medial vermittelten Sekundärerfahrung.
861 Das Gedicht weist ein Kreuzreimschema und zumeist zwölfsilbige jambische Sechsheber (bzw. einen Endecasillabo) mit alternierendem Auslaut auf, mit Ausnahme der letzten Strophe, die aus nur männlichen Versschlüssen und einem umarmenden Reim besteht. 862 Mit dem Motiv der »Nervennelken« klingt hier intertextuell Nicolas Borns Bremer Literaturpreisrede von 1977 an, in der er von einem »unwiderruflichen Stadium« der Vernichtung und Fremdbestimmung spricht: »Unsere Sinne und unser Bewußtsein sind schon weitgehend anästhesiert; die Sprache legt dafür Zeugnis ab: in Begriffen wie Lebensqualität und Umweltfreundlichkeit drückt sich die Verödung der Empfindungs- und Wahrnehmungsfähigkeit aus. Was wir noch erleben, unsere äußere Wirklichkeit besteht zu 80 Prozent aus Synthetics, der Rest ist reine Wolle. [...] Wörter wie ›Natur‹ und ›Landschaft‹ bezeichnen ein immer blasser werdendes Phantom der Erinnerung« (zit. n. Peter Hamm: Vorerst – oder: Der Dichter als streunender Hund. Lobrede auf Durs Grünbein. In: manuskripte 33 [1993], H. 122, S. 103–106, hier S. 103).
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Diese Sekundärerfahrung kann Grünbein an Benns Konzept der ›kalten Nervenkunst‹ und an die Kritik der humanwissenschaftlichen ›Durchleuchtung‹, ›Immunisierung‹ und ›Dressur‹ des Menschen anschließen (»Geröntgt, geimpft, dem deutschen Doppel-Klon, / Gebrochnes Auges […] / böse verfallen sind wir, pränatal dressiert« [Z. 14–16]). Aus spezifisch ostdeutscher Perspektive wird andererseits mit der Rückwendung auf die nur noch im Zitatcharakter entzifferbare (deutsch-)deutsche Geschichte von Faschismus, Krieg und Stalinismus (»›Tief, tief im Deutsch …‹, ertränkt« [Z. 7]) und auf die staatliche Gewaltausübung angespielt. Die in der Darstellung des Gedichts diesseits und jenseits der Mauer traumatisch erfahrene Gewalt der Geschichte sowie die medienvermittelten Simulationen, das Fortschreiten der Humanwissenschaften und die politischen Denkverbote, weckten schließlich eine gewisse trotzige ›Lust‹ bei den ›Nachgeborenen‹: Sie verweist einerseits auf eine verborgene Sehnsucht nach einem ›Naturzustand der Wilden‹, nach einer über das politisch-moralische Verdikt triumphierenden Lust an der Schönheit der Menschen(-tiere) ›jenseits von gut und böse‹, wenn man mit Jörg Döring das Gedicht aufgrund der im Titel »O Heimat, zynischer Euphon« anklingenden Paraphrase des Verses »O Himmel, strahlender Azur« als intertextuelle, abweichende und damit sich selbst behauptende Bezugnahme auf den ›Vatertext‹, die »Ballade von den Seeräubern« von Bertolt Brecht, liest.863 Ferner verweist die Lust auf Grünbeins Konzept einer demonstrativ kalten, neusachlichen »Schädelbasislektion«: Wie Rilkes durch das Abtasten der Schädelnaht hörbar gewordenes »Urgeräusch« 864 entstehe aus den ›Schädelnähten‹ der nachgeborenen Dichter ein »zynischer Euphon«, eine angesichts der geschichtlichen Deformationen notwendige ›Erotik des Bösen‹. Die »nackten Welpen«, die in diese Stituation ›nach-‹ oder ›hineingeborenen‹ Dichter, werden schon in der ersten Strophe als »Erben hoher Stirnen« apostrophiert (V. 4). Dass dieses Erbe nicht nur passiv übernommen, sondern jetzt als höhere Bestimmung angetreten werden soll, diese ›Umwertung der Werte‹ macht der Fluchtpunkt deutlich, auf den das einzige aktive Verb des Gedichts verweist: das Gieren des ›gebrochenen Auges‹ nach Weitblick (vgl. Z. 15). Das ›Gieren‹ erscheint als poetisches Bestreben, die Bestimmung der »Erben hoher Stirnen« unter den Verhältnissen der deutschen Katastrophengeschichte anzutreten. Diese Erben bringen mit ihren gebrochenen, notwendig zynischen Stimmen einen neuen universalen Geltungsanspruch ex negativo zum Ausdruck. Zum Fluchtpunkt des Gedichts wird so eine ›Nervenkunst‹ in Weiterführung der Traditionslinie des artistischen Gedichts, die die in den »Flickerbildern« der Geschichte eingelagerte Gewalt neu sicht- und hörbar macht und gerade in der artistischen Konstruktion die gesellschaftliche ›Dressur‹ abund den ›bösen Eros‹ einer ›wilden‹, antihumanistischen Natur freilegt (»böse verfallen sind wir« [V. 16]). Das Programm eines ›Avantgarde-Paktes‹ mit Kling mündet in ein ›Gieren‹ nach Neuanschluss an eine untergegangene kulturelle Größe (»Erben hoher Stirnen« – man darf hier vielleicht an Stefan George denken). Diese ›Gier nach Weitblick‹ äußert sich im Eingedenken der von Anfang an gebrochenen Stimmen der deutschen Geschichte und der im Sinne Heiner Müllers geschichtsphilosophisch stillstehenden Situation Deutschlands Ende der achtziger Jahre. So steht den Erben der Katastrophengeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts nur
863 Vgl. Jörg Döring: Von den Nachgeborenen. Brechts Ballade von den Seeräubern und Durs Grünbeins O Heimat, zynischer Euphon. In: Walter Delabar, J. D. (Hg.): Bertolt Brecht 1898 – 1956. Berlin 1998, S. 355–377. 864 Vgl. Grünbein: Galilei vermisst Dantes Hölle (»Drei Briefe«), S. 43–45; vgl. Judith Ryan: Das Motiv der Schädelnähte bei Durs Grünbein. In: Fischer, Roberts (Hg.): Schreiben nach der Wende, S. 301–315.
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ein ›zynischer Wohlklang‹ zur Verfügung, wollen sie noch von ›Heimat‹, d. h. von der gewaltgeprägten deutschen Geschichte und Identität ›singen‹. ›Große Dichtkunst‹ kann fortan nur noch im gebrochenen, schmerzhaften Ausdruck der »Stachelgaumen« (V. 10) ex negativo erklingen.
Das Gedicht stellt das Angebot eines ›Avantgarde-Paktes‹ dar. Es steht für den Versuch Grünbeins, sich mit Kling über die deutsch-deutsche Grenze hinweg als »Dioskuren« einer neuen, bild- und klangkörperlichen Poesie als Erkenntnisinstrument der in den Dingen eingelagerten (Gewalt-)Geschichte zu versichern.865 Grünbein konnte sich an Kling im Zeichen des gemeinsamen Grundansatzes adressieren, dass das zeitgenössische Gedicht die sprachliche und mediale Bedingtheit des Subjekts, der Weltwahrnehmung und der Wissensformen reflektieren müsse. Auch Klings Poetik einer schriftlich-mündlichen, körperlich-performativen Lyrik als Klanginstallation musste für Grünbein attraktiv sein: Die Bestimmungen der pluralen Stimmüberlagerung, der Körperlichkeit, der Medien- und schließlich der Traditionsreflexion waren mit Grünbeins Konzept einer ›Nervenkunst‹ direkt kompatibel.866 Wenn für Klings Sprachinstallation der »Mundraum« zur Leitkategorie der neuen Lyrik wurde,867 so war es bei Grünbein der »Stachelgaumen« (V. 10) als Organ des ›zynischen Euphons‹, einer nur im Missklang ertönenden Heimat.
865 Grünbein und Kling trafen sich erstmals 1988 auf der Frankfurter Buchmesse als Debütanten im Suhrkamp-Verlag, wie sich Grünbein erinnert: »Eine Weile lang wurden wir damals als Dioskuren gehandelt, ungeachtet der schroffen Unterschiede, als das ungleiche Vorzeigepaar einer neuen deutsch-deutschen Dichtergeneration« (Durs Grünbein: Dioskurenklage. In: den sprachn das sentimentale abknöpfn. Widmungen zum 50. Geburtstag von Thomas Kling. Konzeption und Bearbeitung v. Heidemarie Vahl u. Ute Langanky. Düsseldorf 2007 [unpagin.]). »Dieser von Grünbein offenbar nur allzu gerne aufgegriffene Vergleich Klings und seiner selbst mit dem mythischen Zwillingspaar Kastor und Polydeukes ist freilich nicht ohne Ambivalenz, denn dem Mythos nach stirbt der sterbliche Kastor, weil er Streit angefangen hatte, woraufhin er von dem unsterblichen Polydeukes beklagt wird« (Frieder von Ammon: »Originalton nachgesprochen«. Antikerezeption bei Thomas Kling. In: Stefan Elit, Kai Bremer, Friederike Reents [Hg.]: Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart. Paderborn 2010, S. 209–240). Gedichte beider erschienen dann zusammen in der schon erwähnten deutsch-deutschen Anthologie Proë (1991). 866 »Das Gedicht, idealerweise, führt das Denken in einer Folge physiologischer Kurzschlüsse vor. Jeder Entladung folgt sofort wieder ein Spannungsaufbau und umgekehrt. […] Das Engramm ist also eine Leuchtspur im Gedächtnis, und so wie ein Leuchtspurgeschoß ein großes Manöverfeld erhellt, reißt das Engramm ganze Bewußtseinsregionen in ein plötzliches Licht« (Grünbein: Galilei vermisst Dantes Hölle [»Drei Briefe«], S. 42 f.); siehe dazu ausführlich Müller: Das Gedicht als Engramm. 867 Vgl. die Gedichte »Manhattan Mundraum« (in morsch [1996]) und »Manhattan Mundraum Zwei« (in Sondagen [2002]); sowie Geisenhanslüke: Altes Medium – neue Medien, S. 44.
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Im Bestreben, das Erbe der »hohe[n] Stirnen« über die innerdeutsche Grenze hinweg nicht nur passiv, sondern auch aktiv mit dem »Gieren nach Weitblick« anzutreten, zeigte sich bei Grünbein ein gewisses nationales, über den Dresden-Topos868 regional verankertes Streben nach kultureller ›Größe‹, dass sich später, in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre, als symptomatisch für einen neuen Umgang mit der deutschen Geschichte erweisen sollte. Grünbein war offenbar vom regionalen Kulturbezug in Klings neuartiger Lyrik fasziniert.869 Wie später Tellkamp,870 nahm er ihn als Vorbild für einen Dichter der deutschen Kulturlandschaft wahr. Klings regionale Verortung war jedoch bei genauerem Hinsehen ganz anders geartet und motiviert. Sie stand vor allem in Verbindung mit seinem Konzept des Dichters als sprach- und kulturgeschichtlichem »Memorizer«. Das Interesse für ›regionale Sprachspeicher‹, insbesondere für die Klings Leben prägende Rheinlinie zwischen dem Geburtsort bei Bingen am Oberrhein und dem letzten Wohnort am Niederrhein, ist nicht vorrangig autobiografisch motiviert.871 Vielmehr hat Kling – im Zusammenhang mit seinem Verständnis des Dichters als »Memorizer« 872 – die regionale Sprachgeschichte als ›Stammesgeschichte‹ verstanden. Seine lyrischen Erkundungen und Porträts der rheinischen Kulturlandschaften (z. B. »brief. probe in der eifel« in geschmacksverstärker oder »mittel rhein« in nacht.sicht.gerät) sind stets an Etymologie, Geografie und den historischen wie auch gegenwärtigen sozialen Dimensionen orientiert. Diese Ausrichtung führte zu Schreibverfahren archäologischer »Sondagen«. Mit ihnen werden verschiedene Sprachschichten in einer Poetik des Palimpsestes sichtbar. Die untersuchten Schichten der Kulturlandschaft können Schlacht- und Gräberfelder oder sonstige (prä-)historische Fundorte sein (so z. B. das Neandertal, Xanten oder das Siebengebirge). Der Stift des Dichters dient gleichsam als Spaten zum Abstecken des Feldes. Die Textur steckt zunächst die oberste Schicht der Sondage ab, um dann tiefere Schichten in ihren Überlagerungen freizulegen. Dabei »genügt sich die als Sondage entnommene Probe selbst: Ihren Aufbau, ihre Struktur zu zeigen, scheint einziges Ziel der Kunstanstrengung zu sein«.873 Es fällt aber eine für Klings »Sondagen« charakteristische
868 Das zweite Gedicht, das im Gedichtband mit »O Heimat – zynischer Euphon« eine Einheit bildet, trägt den Titel »Gedicht über Dresden« (Schädelbasislektion, S. 202). Dieses Gedicht, das das »Gesamtkunstwerk« (Z. 27), das »Barockwrack« (Z. 1) Dresden »groß im Verfall« (Z. 24) zeichnet, steht wiederum für eine Verbindung von »O Heimat zynischer Eupheon« mit dem Großpoem Porzellan von 2005 (s. o.: Zweiter Teil, II. 2.4.1.). 869 Vgl. Norbert Hummelt: Kleiner Grenzverkehr. Thomas Kling als Dichter des Rheinlands. In: Text + Kritik, 147 (2000): Thomas Kling, S. 24–37. 870 Tellkamp verehrt Kling für dessen poetisch-eigenwillige »Vorzeitbelebung« und dafür, dass er dabei keine Rücksicht auf »die Keule politischer Korrektheit« nehme (Tellkamp: Die Sandwirtschaft, S. 102; vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.4.2.). 871 Vgl. zum Folgenden Norbert Hummelt: Bucheckern. Regionale Bezüge in der Dichtung Thomas Klings. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 113–134. 872 Vgl. Itinerar (»Memorizer«), S. 59–67. 873 Hummelt: Bucheckern, S. 120.
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Grundspannung auf: »Einerseits insistiert der Autor auf der Gleichgültigkeit ›der Sache selbst‹, andererseits beharrt er auf der Konkretion seiner Funde […]. Es besteht also eine Spannung zwischen konzeptuellem Ansatz und erzählerischem Anliegen, die sich in den Texten auf unterschiedliche Weise löst«.874 Eine zweite regionale Verortung zeigt sich beim ›Wahlwiener‹ Kling.875 Sein Aufenthalt in Wien 1979/80 war Programm.876 Die Stadt war für ihn zum einen ein besonderer historischer und kultureller Raum, zum anderen stand sie für eine literarische Modernität, der er sich verpflichtet sah. Kling setzte sich mit der Lyrik von H. C. Artmann, K. Bayer, R. Priessnitz, F. Schmatz, F. Mayröcker und F.-J. Czernin auseinander. Mit vielen von ihnen war er persönlich befreundet. Ihn beeindruckte das sprachliche »Ingenieurstum« 877 der Wiener Gruppe und überhaupt die Tradition der Pragmatiker und Vortragskünstler in Wien, wo das Kaffeehaus stets auch als Bühne diente. Fasziniert war Kling von der Wiener Mündlichkeit, ihren Rhetorikund Litaneiformen, ihrer Komik, Sinnlich- und Körperlichkeit, kurzum: von den Stimmen der (plebejischen) Urbanität Wiens – einem Stadtraum, der ihm als ein vegetatives System (›Myzel‹) erschien.878 Bei seiner begeisterten Rezeption österreichischer, aber auch anderer Schriftsteller wählte Kling selbstbewusst aus: In Oswald von Wolkenstein sah er ein frühes Vorbild für den Dichter als »Memorizer«, mit Franz Werfel und Ingeborg Bachmann konnte er nichts anfangen, Rilke nannte er einen »Nervenfaun«, Walter Serners Dandytum verehrte er und mit Georg Trakls Leiden an seiner Zeit setzte er sich intensiv auseinander (etwa in »mühlau, †« und »AUFNAHME MAI 1914« in brennstabm). Bei Konrad Bayer sah er hinter dem Dandytum das ›zu Kopflastige‹ (vgl. »Bayer †«, ebd.), bei Artmann beeindruckte ihn die Verbindung von Sprache und Erotik, Jandls Performanz war für ihn stilbildend und von Mayröcker lernte er nicht zuletzt die Evokationskunst, die im Barock wurzelt.879
Grünbeins Gedicht-Widmung an Kling, die Konstruktion einer gemeinsamen deutschen Herkunft, die von Anfang an durch Gewalt geprägt sei, und die Vergewisserung einer nur im gebrochenen Ausdruck aussprechbaren Dichter-Berufung unterlag einer Verkennung oder strategischen Konstruktion. Bei Kling findet sich um 1989/90 keine entsprechende Wahrnehmung der deutsch-deutschen Situation, der ›posthumanen‹ Geschichtsprägung, keine lebensphilosophisch-anthropologisch grundierte ›Erotik des Bösen‹, keine melancholisch gebrochene Sehnsucht nach einer neuen, artistisch vermittelten ›Gewalt-Erfahrung‹ und schon gar nicht ein ›Gieren‹ nach einer topologisch begründeten – Dresden als höfisch-barockes Phantomschmerzbild der deutschen Gechichte – nationalen Berufung des Dichters im Zeichen einer Wiedererweckung von ›Weltkultur‹. Gleichwohl äußerte sich in dem Versuch, mit Kling einen ›Pakt
874 Ebd. 875 Vgl. zum Folgenden Daniela Strigl: Kling in Wien. Zu einem literarischen Myzel. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 81–112. 876 Vgl. Itinerar (»Sprachinstallation 2«), S. 22. 877 Ebd. 878 Vgl. Strigl: Kling in Wien, S. 84–86. 879 Vgl. ebd., S. 87–97.
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der führenden Dichter-Dioskuren‹ Deutschlands zu schließen, der Sinn für die Nähe, ja Konkurrenz der angestrebten Autorpositionen am avantgardistischen Pol des lyrischen Subfeldes Anfang der neunziger Jahre. 1995 erhielt nun nicht Thomas Kling, sondern Durs Grünbein den symbolisch für die ›Passage‹ durch den Avantgardekanal wichtigsten deutschen Literaturpreis. Mit ihm hatte Grünbein eine institutionalisierte Weihe und damit einen symbolischen Aufstieg erfahren. Diese Nobilitierung stand im Gegensatz zur nicht-institutionalisierten, feldinternen Weihe Klings am avantgardistischen Pol durch die Pairs, d. h. durch die anderen Akteure einer kunstautonom ambitionierten Lyrik, wie zum Beispiel durch Franz-Josef Czernin. So kam es kurz vor der Büchner-Preisverleihung zu einer auffällig polemischen Auseinandersetzung zwischen Czernin und Grünbein, bei der es weniger um einen persönlichen Streit als vielmehr um einen objektiven Konflikt zwischen zwei im Feld konkurrierenden Autorpositionen und den ihnen eingeschriebenen Literatur-Begriffen ging. Genauer gesagt stand die Bestimmung der legitimen Form einer zeitgenössischen avanciert-avantgardistischen Lyrik, ihres poetischen Sprachgebrauchs und ihrer Wirklichkeitsreferenz zur Debatte.
Konfliktpunkte zwischen den Autorpositionen Sprachbewusstsein Zusammen mit einer neuen poetologisch-epistemologischen Befragung der (historischen) Wirklichkeit war das artistisch-konstruktivistische Sprachbewusstsein das vorrangige Kennzeichen für das Autonomiestreben im neuen Gedicht der neunziger Jahre. In der Kontroverse zwischen Czernin und Grünbein, in dem stellvertretend ein positioneller Konflikt zwischen Grünbein und Kling ausgetragen wurde, trat eine implizite Unvereinbarkeit der Sprachkonzeptionen zu Tage, die die divergierende Weiterentwicklung ihrer Autorpositionen bestimmte. Um die erst latente, dann manifeste Unvereinbarkeit der Sprachkonzepte besser verstehen zu können, gilt es zunächst, Klings Konzept der »Sprachinstallation« näher zu betrachten. In Klings Bestimmung der »Sprachinstallation« arbeitet das artistisch-konstruktivistische Gedicht mit der Sprache als einem vielstimmigen und vielstelligen, reflexiven Material. Gedichte sind hochkomplexe (»vielzüngige«, polylinguale) Sprachsysteme. Kommunikabel und inkommunikabel zugleich: Hermes als Hüter der Türen und Tore, in diesen Eigenschaften des Doorman, Schleusenwärters und Botenstoffbeförderers tritt er in Erscheinung, ein Wirklichkeitsmixer, Reaktionsfähigkeit ist gefragt. Er hat darüber hinaus Zutritt zur Totenwelt: zu (elektronischen) Bibliotheken. Das Gedicht baut auf Fähigkeiten der
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Leser/Hörer, die denen des Surfens verwandt zu sein scheinen, Lesen und Hören – Wellenritt in riffreicher Zone.880
Als Sprachinstallation ist das Gedicht »hermetisch« im Sinne einer »Übersetzung« der Wahrnehmungsimpulse kultureller Realien in eine poetische Komposition.881 Die Bestimmung der lyrischen Komposition als »hochkomplexe (›vielzüngige‹, polylinguale) Sprachsysteme« zielt auf einen melting pot, auf eine Mischung von Fachsprachen und Jargon.882 Dem entspricht kein nationales, sondern ein breites kulturhistorisches Interesse an Landschafts- und Sprachräumen, die von einer »Vielvölkergeschichte« 883 geprägt sind. Die Herstellung ›vielzüngiger Sprachsysteme‹ bedarf der Recherche: einerseits der sprachetymologischen Recherche mittels Wörterbüchern, andererseits der Erkundung der konkreten Kulturgeschichte vor Ort, wie auch ihrer medialen Vermittlung. »Sondagen«, wie ein Gedichtband Klings von 2002 programmatisch heißt, bezeichnen sowohl die Voraussetzungen – die Recherchen des neuen poeta doctus – als auch das im Text nicht zum Abschluss gebrachte, sondern offen gehaltene und dem Leser angetragene Rezeptionsverfahren. Dem geologischen und archäologischen Bild entsprechend, geht es um eine Sprach-, Bildund allgemein um eine Kulturarchäologie, die ›Schichten‹, d. h. räumlich-synchronen Beziehungen in einem sprachlich abgesteckten ›Areal‹, einer ›Vermessung‹ unterzieht, ohne die freigelegten Details in abschließende Synthesen zu bringen. Bei den »Sondagen« als poetologisches Verfahren geht es also nicht um einen die Details übersteigenden, geschlossenen lyrischen Ausdruck – wie bei Grünbein spätestens seit Nach den Satiren im Zeichen eines souverän synthetisierenden Bildungsrekurses –, sondern um eine poetische Entfaltung oder Vermittlung der sondierten Kräfte in sprachlichen Reihen und Kombinationen. Die verschiedene Schichten ›absteckende‹ Sprache Klings zielt auf eine »Rythmisierung von Realien«,884 nicht auf deren einheitsstiftende Transzendierung.885 880 Kling: Itinerar (»Hermetisches Dossier«), S. 55. 881 Vgl. Frieder von Ammon, Peer Trilcke: Einleitung. In: F. v. A., P. T., Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 9–22, hier S. 17. 882 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 203 u. S. 210. 883 Ebd., S. 206. 884 Ebd., S. 214. 885 Ganz ähnlich bestimmt Czernin das ›relativ absolute‹ Gedicht: »Dichten heißt versuchen, alle Kräfte, so verschieden oder verschiedenartig sie auch sein mögen, aneinander zu entfalten oder zwischen ihnen zu vermitteln. Daß die Dichtung die Gelegenheit dazu auf eigenartige Weise bietet, ist eine notwendige Voraussetzung dafür, sie als eine eigenständige Form von Erkenntnis anzusehen, die auf keine andere reduziert werden kann« (Franz Josef Czernin: Dichtung, relativ und absolut. In: F. J. C.: Apfelessen mit Swedenborg. Essays zur Literatur. Düsseldorf 2000, S. 11–15, hier S. 11). Czernin betont dabei die Herstellung verschiedener, »un-
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Die sprachliche Reflexivität spielt für die eigenständige Form der poetologischen Erkenntnis durch sprachliche Vermittlung und Entfaltung von DetailBeziehungen in prozessualen Konstellationen, die nur über Teilverbindungen auf universale Verhältnisse verweisen, eine zentrale Rolle. Auch der recherchierende poeta doctus im Sinne Klings präsentiert eine Vielzahl traditioneller Wissensbestände, jedoch stets in ihrem vermittelten Rezeptions- und Zitatcharakter. In den Gedichten verbinden sie sich mit einer poetologischen Reflexivität und offenen Prozessualität, die eine aktive, unabgeschlossene konstellative Verfertigung selbst zum Gegenstand macht. Das Gedicht als bildhafte Sprachinstallation, die die räumlich-konstellative Lektüre erfordert, ist weniger metaphorisch als sprachlich-konstruktivistisch und poetologisch reflexiv. Durch die konstellative Anordnung treten im Vollzug der Lektüre die Bildelemente der Natur und der (Schrift-)Kultur in eine reflexive Spiegelung ihrer medialen Aufschreib- und Gedächtnissysteme, ihrer kognitiven Rahmung und ihrer perzeptiv-sinnlichen Wahrnehmung. Dieses für Klings Gedichte »typische Ineinander von Referenzialität und Selbstreferenzialität, bei dem sowohl Wirklichkeit dargestellt als auch die Medialität dieser Darstellung reflektiert wird«,886 lässt sich besonders deutlich am Gedicht »gewebeprobe« ablesen: der bach der stürzt ist nicht ein spruchband textband weißn rauschnnz; schrift schon; der sichtliche bach di textader, einstweilen ein nicht drossel-, nicht abstellbares textadersystem, in rufweite; in auflösnder naheinstellun’. bruchstücke, ständig überspült; überlöschte blöcke, weiße schriftblöcke und glitschige, teils, begreifbare anordnungn: ein ununterbrochn ununterbrochenes. am bergstrich krakelige unruhe
absehbarer Reihen« von Kräften und Beziehungen, z. B. von »Vorstellungen […], die durch die sinnlich wahrnehmbaren sprachlichen Tatsachen – den Klang, den Rhythmus, das Aussehen sprachlicher Elemente – erst ausgelöst werden oder, umgekehrt, jene sinnlich wahrnehmbaren sprachlichen Tatsachen ihrerseits erst auslösen« (ebd., S. 12). 886 Ammon, Trilcke: Einleitung, S. 18.
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und felsskalpell. schäumendes ausschabn. bezifferbarer bach, der bach der stützt: guß, megagerinnsel, hirnstrom.887
Zur konstellativen Spracharbeit (»textadersystem«, V. 7) und ihrer engen Verbindung mit einer kognitiven Körperlichkeit (»hirnstrom«), durch die sie sich – zusammen mit ihrem Wirklichkeitszugang – von einer abstrakten oder konkreten Poesie unterscheidet, kommt die besondere Rolle des Auditiven: So entsteht der besondere »Kling-Sound« aus einer Dynamisierung des Sprachmaterials über Brüche und Neu-Kopplungen als schriftlich komponierte Mündlichkeit.888 Klings Lyrik ist exemplarisch für die in den neunziger Jahren allgemein wachsende Bedeutung der Sprechkunst.889 Seine Sprachinstallationen sind von deiktischen und räumlichen Zügen geprägt. Ihre Kompositionstechniken zielen nicht auf ein (Sinn-)Deuten, sondern auf ein performatives Zeigen. Dabei handelt es sich jedoch weniger um theatralisch-dramatische Vergegenwärtigung als um rhythmisierte sprachliche Gesten.890 Als wesentlichen Bestandteil dichterischer Arbeit sah Kling den »mündliche[n] vortrag schriftlich fixierter texte« an.891 Den vortragenden Dichter verstand er als »sprachinstallateur«, seine »ganze konzentration gilt einzig dem auswendig-gesprochenen bzw. abzulesenden text – der ist nun seine partitur«.892 Mit der Konzentration auf die mündliche Aufführung des Textes und mit dem Verzicht auf die öffentliche Exegese und Inszenierung des Autors als subjektive Person, wie sie für die in den neunziger Jahren immer beliebter werdenden Dichterlesungen charakteristisch sind, stellte sich Kling bewusst in eine andere Tradition: in die Tradition der »Histrionen«, der Dichter als sprechendes, ›artistisch-göttliches‹ Medium, das das Publikum mitreißt. Sein Vorbild war die Vortragskunst der »›stehenden Mönche‹«, der »Säulenheiligen« (Styliten), die er u. a. in den Dichtern des Mittelalters wie Oswald Wolkenstein, vor allem aber in dem »das maskenhaft Performative betonende[n] Weihespielliebhaber« Stefan George und im »Dada-Priester« Hugo Ball sah.893
887 »gewebeprobe« aus dem Gedichtzyklus »augnentnahme« im Band morsch (1996), in: Thomas Kling: Gesammelte Gedichte. 1981–2005. Hg. v. Marcel Beyer u. Christian Döring. Köln 2006, S. 442. 888 »Sprach-Räume mit der Stimme gestalten, Sprache mit der Stimme der Schrift gestalten: Sprachinstallation« (Itinerar [»Memorizer«], S. 59). 889 Vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: »Ohrenbelichtung für alle«. Thomas Kling über den Dichter als ›Live-Act‹. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 241–262, hier S. 242. 890 Vgl. ebd., S. 256. 891 Thomas Kling: »DER DICHTER ALS LIVE-ACT. DREI SÄTZE ZUR SPRACHINSTALLATION«. In: Proë [ohne Pagin.], zit. n. ebd., S. 245. 892 Ebd. 893 Itinerar (»Hugo Ball. Frühe Performance«), S. 35 u. S. 62 (»Memorizer«).
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Mit seinem Entwurf einer performativ-textuellen Sprachinstallation kommunizierte Kling einerseits mit subkulturellen Verfahren, die Mitte der neunziger Jahre im Mittelbereich populär wurden.894 Andererseits ist an der Betonung des Textes als Partitur und an der Weiterführung der artistisch-›hermetischen‹ Tradition der antiken, mittelalterlichen, symbolistischen und dadaistischen Vortragskunst die kunstautonom-vertikale Ausrichtung seiner Autorposition ablesbar. Sie stellt sich in diese Traditionslinie mit dem Anspruch, sie innovativ und ›zeitgemäß‹ weiterzuentwickeln. Daher ist der Unterschied zwischen der Dichterlesung Klings, die sich für die horizontale, milieuförmige Kultur öffnet, aber kunstautonom-vertikal ausgerichtet bleibt, auf der einen und dem Leseevent im Slam Poetry oder den in den neunziger Jahren populär werdenden Literaturfestivals auf der anderen Seite herauszustellen.895 Klings ›Antwort‹ auf den postmodernen Topos vom ›Verschwinden des Autors‹ war der Dichter als ›Live-Act‹, verstanden aber als eine »Sprachinstallation«, in der sich der Autor – der Pythia gleich – in seiner Rolle als Medium des ›Gottes‹ der schriftlich komponierten Mündlichkeit behauptet. Auch in Grünbein Lyrik ist die Reflexion auf die schriftliche Signatur wichtig, jedoch zielt sie auf eine anthropologische Wesensbegründung, die das Kunstwerk zum Ausdruck bringt. Bereits die ersten beiden Verse des Eingangsgedichts der Schädelbasislektion reflektieren »auf den Akt der Benennung, auf Sprache als Grundlage der Menschwerdung«:896 »Was du bist steht am Rand / Anatomischer Tafeln«.897 Die lyrische Anatomie des Menschen erweist die physiologischen Grundlagen des Menschen. Dabei bleiben die verschiedenen Aufschreibsysteme – hier: die Anleihen aus der Sprache der Physiologie und Neurologie – und damit allgemein die Sprache das vorrangige Auskunfts- und Erkenntnisinstrument. Wenn die Vivisektion des Menschen ihren letzten Grund in der Sprache findet, kann die Lyrik ihre besondere Zuständigkeit gegenüber den Naturwissenschaften behaupten. Grünbeins Öffnung der Lyrik für die Sprache der Naturwissenschaften und seine Kritik an Idealismus und rationalem Subjekt signalisierte – in der Traditionslinie von Benns Lyrik – die Wiederaufnahme des artistischen Ge-
894 Zur Slam Poetry siehe oben: Zweiter Teil, I. 2.2. 895 »Ihre kalkulierte und durchinszenierte Künstlichkeit unterscheidet die Rezitationen deutlich von jenen Rap-nahen Spontan-Leseevents der jüngeren Slam-Generation. Die ›Lesungen‹, anfänglich häufig im Umkreis von Präsentationen bildender Kunst inszeniert, sind extrem modulierte akustische Veräußerlichungen von Texten. Bei dieser ekstatischen Form des Vortrags vermeidet Kling allerdings entschieden jede Kundgabe individueller innerer Befindlichkeit. Er macht sich eher zu einer Art ›Tonverstärker‹, der in seinen schriftlichen Texten komprimierten Oralität. Er gibt kein Ich in der Stimmführung zu erkennen, sondern überführt den graphisch strikt organisierten Text in einen komplexen Hörraum« (Winkels: Zungenentfernung, S. 79; vgl. Meyer-Kalkus: »Ohrenbelichtung«, S. 253). 896 Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien, S. 40. 897 Schädelbasislektion, S. 101.
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dichts als Erkenntnisinstrument anthropologischer Wahrheiten. Diese Traditionsaufnahme wurde von der Literaturkritik, die im »deutsch-deutschen Literaturstreit« Anfang der neunziger Jahre auf eine Ablösung der »Gesinnungsästhetik« drängte, begrüßt. Zugleich wurde allerdings auch schon früh auf den Widerspruch hingewiesen, dass die Reflexion auf Sprache und Subjekt »in abgeklärtem, souveränem Gestus« eines Autors erfolge, »der von der Desillusionierung, die er betreibt, selbst gänzlich unangefochten zu bleiben scheint«.898
Der souveräne Gestus des Autors beruht einerseits auf der reflexiven Ausrichtung, die das neue Gedicht in den neunziger Jahren allgemein auszeichnet. Andererseits kommt bei Grünbein ein Festhalten an einer Sprache hinzu, die – durch den metaphorischen Verweis – ein anthropologisches ›Eigentliches‹ benennt. Die mit der sprachanalytischen Philosophie Wittgensteins gezogene Grenze der Sprache wird bei Grünbein transzendiert. Das Übertreten der Grenze des sprachkritisch-reflexiven Terrains war ein entscheidender Schritt für die Abwendung Grünbeins vom avantgardistischen Pol und seiner weiteren Entwicklung in Richtung einer arrivierten, nobilitierten Autorposition.899 Vor diesem symbolischen Aufstieg, der mit der Verleihung des Büchner-Preises eine institutionalisierte Rechtfertigung erfuhr, kam es zu einem symptomatischen Konflikt zwischen Czernin und Grünbein über den Umgang mit der Sprache im Fokus des Metapherngebrauchs. Franz Josef Czernin, Jahrgang 1952, ist ein Pair, d. h. selbst Verfasser von sprachexperimentellen Gedichten, Essays, Aphorismen und Theaterstücken.900 In der Mai-Ausgabe 1995 der Zeitschrift »Schreibheft« schrieb Czernin eine grundlegende Kritik des Gedichtbandes Falten und Fallen.901 Ausgehend von dem modernistischen Paradigma einer autonomen Progression hält er Grünbein einen »unreflektierte[n] Traditionalismus« (182) und poetische Verfahren vor, die hinter ein schon erreichtes ästhetisches und sprachkritisches Niveau zurückfielen, »als ob […] weder Trakl oder George, noch Arp oder Schwitters geschrieben hätten, ohne auch die avantgardistischen oder modernistischen Arbeiten der letzten dreißig Jahre verarbeitet zu haben« (180). Czernin kritisiert insbesondere den Metapherngebrauch, »[j]ene metaphorische Übertragung von sinnlich Wahrnehmbarem auf nicht sinnlich Wahrnehmbares« (ebd.), für die er zahlreiche Beispiele anführt. Grünbein demonstriere zwar »Alltäglichkeit als Garant für Modernität oder Zeitgenossenschaft« (181), letztlich bediene er aber trotz seines artistischen Sprachgestus eine »althergebrachte poetische Maschinerie«, ohne jedoch
898 Jörg Magenau: Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Literatur der neuesten »Neuen Innerlichkeit«. Texte von Reto Hänny, Ulrike Kolb, Ulrike Draesner, Durs Grünbein, Thomas Hettche, Marcel Beyer und Michael Kleeberg. In: Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartsliteratur, S. 107–121, hier S. 113; vgl. Geisenhanslüke: Altes Medium – Neue Medien, S. 40. 899 Siehe hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.2.1. u. II. 2.4.1. 900 Zu Czernin siehe die ihm gewidmete Ausgabe »Akzente. Zeitschrift für Literatur« 51 (August 2004) H. 4; sowie den Artikel von Thomas Eder im KLG. 901 Franz Josef Czernin: Falten und Fallen. Zu einem Gedichtband von Durs Grünbein. In: Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 45 (1995), S. 179–188; Angaben im Folgenden im Fließtext.
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daß der literaturgeschichtliche Ort dieser Maschinerie mitbedacht wird. Diese Maschinerie wird so verwendet, als hätten die letzten hundert Jahre der Geschichte der Lyrik die Möglichkeiten ihrer Funktion beziehungsweise ihren Wert nicht wesentlich verändert; so zum Beispiel, als ob man in Gedichten ohne weiteres eine fundamentale Ebene wörtlichen, nicht-übertragenen Sprechens behaupten könnte, von der sich dann eine zweite Ebene aus punktuellen Übertragungen, als sekundäre selbstverständlich unterscheiden lässt. (180). Das Festhalten an der hermeneutischen Unterscheidung zwischen einer wörtlichen und einer übertragenen Bedeutung ermögliche den Gestus des zeitgenössischen Ausdrucks über die Verwendung sprachlicher Elemente des Alltags, und zudem die Übersteigung dieser wörtlichen Ebene durch metaphorische Operationen und »großen Worten« (vgl. 185 f.). Daraus ergebe sich das Gesamtbild »ein[es] poetischen Ich, das die Attitüde hat bzw. sich in der Pose ergeht, all diese so verschiedenartigen Dinge von oben herab zu einer poetischen Gegenwart und auf eine Fläche zu bringen und gerade damit das Ganze absehbar zu machen« (187).
In seiner Fundamentalkritik argumentierte Czernin vom Standpunkt einer sprachkonstruktivistischen Avantgarde aus. Er berief sich auf kunstautonome Entwicklungen der Moderneästhetik und stellte den schon einmal erreichten Autonomie-Stand einer ästhetisch-sprachkritischen Reflexion in Rechnung, hinter den die Lyrik Grünbeins zurückfalle. Die Kritik lautete, dass Grünbeins poetischer Sprachgebrauch zwar Modernität signalisiere, tatsächlich aber auf einem traditionellen Sprach- und Metaphernverständnis beruhe, und dass sich in seiner Lyrik zunehmend ein ostentativer Bildungshabitus, das Übersteigen der sprachlichen Detailverhältnisse hin zum souverän synthetisierenden Umgang mit Universalismen, durchgesetzt habe. Damit ist die Herstellung eines ›Raunens‹ beschrieben, das einen traditionellen Universalanspruch stellt, indem es die wörtlichen Realien der Gegenwart ›einbindet‹ und sie mit dem Gestus eines übertragenen Bedeutungsverweises transzendiert.902 Die Reaktion Grünbeins auf Czernins poetologischen Angriff ist ihrerseits im feldanalytischen Sinne symptomatisch, da sie als Wirkung eine Übergangssituation bzw. eine Strukturtransformation im lyrischen Subfeld sichtbar macht.903
902 Grünbein ist hier insofern mit dem jungen Enzensberger vergleichbar als beide einen neuen »beweglichen Denkstil[ ]« (Galilei vermißt Dantes Hölle, S. 45) entwarfen, der sich einerseits aus der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stoffen und medialen Brechungen speist und andererseits die metaphorisch-synthetische Benennungskraft der Sprache aufrecht erhält (vgl. dazu auch oben: Fallstudie 2). 903 Grünbeins Entgegnung trägt den Titel Feldpost (in: Schreibheft 46 [1995], S. 191 f.; folgende Nachweise im Fließtext nach dieser Angabe). Czernins Kritik wird mit einer Kriegssituation verglichen: »Aber der Einwand aus den Schützengräben der Sprachanalytik trifft mich nicht. Vorgetragen wie mit dem Maschinengewehr. In repetitiver Diktion, soll er wohl einschüchtern wie der endlose Vortrag der immergleichen Dekrete« (ebd., S. 191).
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Grünbein lehnt Czernins »Glauben an die gesetzgeberische Macht der Frühen Moderne« ab (191). Er weist »die gute alte herrschsüchtige Moderne, die hier zur Ordnung ruft«, von sich und erklärt die »modernistische Literatur-Literatur, die sich nurmehr als elitäre Geste behaupten kann« (192), ihrerseits für veraltet: »Alles das Permutieren und Syntaktieren, wo es sich rein auf die Wortbewegung konzentriert, ist bestenfalls Regression, Sehnsucht nach der Kinderzeit der Moderne« (ebd.). Für Grünbein weist Czernins Position den »Weg in die Emigration der abstrakten Moderne […]. Wer ihn gegangen ist bis dorthin, wo keiner ihm mehr zuhören mag, soll nicht wehleidig zurückblicken auf der Suche nach dem verlorenen Witz« (ebd.). Der sprachanalytischen Argumentation hält Grünbein einen vitalistisch-physiologischen Diskurs entgegen. Während Czernins Konzept-Gedicht maschinenhaft sei, sich alle Leidenschaften verbiete und »die saubere Kastration« suche, plädiert Grünbein für ein Gedicht, »das sich Erlebnis und körperlichem Reflex verdankt« und sich »nur wie lebendiges Gewebe sezieren« lasse: »Der Schnitt geht in die Eingeweide, das Blut das herausfließt, ist nicht zu stillen« (191). Vergleichbar mit Enzensbergers Diskreditierung der Konkreten Poesie wird hier die sprachreflexive Position als ›blutleere‹, rückwärtsgewandte ›abstrakte Moderne‹ in eine Nischenexistenz verwiesen.904
Aus der Auseinandersetzung um die Definition der legitimen Form des modernen Gedichts am avantgardistischen Pol lässt sich ersehen, dass sich der Aufstieg von Grünbeins Autorposition hin zu einer ästhetischen Exzellenzstellung im Nobilitierungssektor zum Zeitpunkt des Konflikts (1995) zwar schon anbahnte, jedoch noch durch die von Czernin vertretene sprachkonstruktivistische Avantgarde-Position angreifbar war. Grünbein reagierte auf diesen Angriff mit der symbolischen Verbannung der sprachavantgardistischen Position in die Nischenexistenz einer veralteten, ›abstrakten Moderne‹ (»Emigration«). Die zwar polemisch, aber im Kern poetologisch geführte, am Metapherngebrauch festgemachte Kritik Czernins an Grünbeins Lyrik im Vorfeld der Büchner-Preisverleihung war letztlich ein ›Stellvertreterkrieg‹, bei dem es nicht zuletzt um eine Auseinandersetzung um Klings Autorposition und um die mit ihr verbundene Poetik ging.905 Zusammenfassend lässt sich der entscheidende Unterschied zwischen Grünbein und Kling hinsichtlich des poetischen Gebrauchs der körperlich bestimmten Sprache auf die Opposition von »Aussage« und
904 Grünbeins metaphorische Gleichsetzung einer »abstrakten Moderne« mit der »Emigration«, sein Bildsprachgebrauch einer ›kastrierten Maschinenlyrik‹, der eine ›am lebendigen Gewebe‹ sezierende, ›blutende‹ Lyrik entgegengesetzt wird, greift – in Anlehnung an Friedrich Nietzsche und Heiner Müller – problematische lebensphilosophische Ressentiments auf. 905 In der Schreibheft-Ausgabe folgte auf Czernins Kritik ein programmatischer Artikel von Kling (»Die Rede, die in die Schrift flieht. Zum Abschluß der Priessnitz-Werkausgabe«, S. 189 ff.). Auf der anderen Seite sekundierte Michael Braun Grünbein bei der Entgegnung auf Czernins Kritik (»Kleine, verwunderte Fußnote zu einer Polemik von Franz Josef Czernin«. In: Schreibheft 46 (1995), S. 192 f.).
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»Form« bringen.906 In feldanalytischer Hinsicht zeigt sich hier die Bruchstelle der avantgardistischen Lyrik-Formation Mitte der neunziger Jahre: Czernin protestierte im Namen einer sprachkonstruktivistischen Poetik gegen die sich ankündigende Nobilitierung der zwar äußerlich avantgardistisch-zeitgemäßen, im poetologischen Kern aber traditionellen Poesie Grünbeins. Doch diese Autorposition setzte sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre durch und die sprachartistisch ausgerichtete Avantgarde, für die Kling einstand, drohte erneut auf ein Nischendasein zurückgeworfen zu werden.
Medienreflexion Neben dem konstruktivistischen Sprachbewusstsein war die Medienreflexion ein zentrales Kennzeichen der neuen Positionen im kunstautonomen Raum der Lyrik. Sie war intramedial ausgerichtet, d. h. sie diente der (Re-)Autonomisierung der Lyrik.907 Feldanalytisch ist die intramediale Medienreflexion eine Form der Auseinandersetzung mit den Leitbestimmungen, die im dominant gewordenen flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich gelten: Die auf Kunstautonomie ausgerichteten avantgardistischen Autoren, die zugleich den Anspruch vertreten, auf der Höhe der künstlerischen wie auch außerkünstlerischen, sozialen Zeit zu sein, müssen sich den ökonomischen und medialen Leitbestimmungen stellen. Kling prägte auch hier die Parole für alle Autoren, die das Gedicht als spezifisches Wahrnehmungsinstrument verstanden.908 Die Reflexion einer medial vermittelten Wahrnehmung, die auf keine ›eigentliche‹ Wirklichkeit dahinter zielt, wurde bei den meisten Autoren zur selbstverständlichen conditio ihres Schreibens.909 Im Unterschied zu Botho Strauß verstand Kling die Auseinandersetzung mit dem primären Konstruktionscharakter der sekundären Welt- und Wirklich-
906 »Was bei Grünbein auf der Ebene der Aussage bleibt, die Verbindung von Körperlichkeit und Sprachlichkeit, wird bei Kling zum formbestimmenden Element« (Geisenhanslüke: Altes Medium – neue Medien, S. 41 f.). 907 Vgl. Korte: Zurückgekehrt, S. 51: »Dass Lyrik sich gegen die Macht der Neuen Medien ihre Eigenständigkeit bewahrt, die neuen Techniken für sich nutzend oder aber in konfrontativer Opposition, darin sind sich offenbar viele Lyriker zurzeit einig«. 908 »Die Einbeziehung aller existierenden Medien ist gefragt« (Itinerar [»Sprachinstallation 2«], S. 15); vgl. Korte: Energie der Brüche, S. 97: »Wahrnehmung selbst wird […] zum lyrischen Thema, und zwar als Reflexion von Wahrnehmungsprozessen, sprachlichen, visuellen und medialen Wahrnehmungsprozeduren«. 909 Sie spielt eine zentrale Rolle in der Lyrik von Jürgen Becker, Bert Papenfuß, Barbara Köhler, Ulrike Draesner, Marcel Beyer und eben auch bei Durs Grünbein in seinen ersten beiden Gedichtbänden.
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keitswahrnehmung im Medium des Gedichts als Aufforderung »zum Fortsetzen dichterischer Traditionslinien im Rückgriff auf teils weit zurückreichende Rhizomanordnungen und als Aufruf zu exzessiven Recherchen philologischer wie journalistischer Art«.910 Wie schon in der Moderne der Zwischenkriegszeit, erfolgt hier das »Fortsetzen dichterischer Traditionslinien« nicht in Abgrenzung, sondern vermittels der journalistischen Recherche und den neuen medialisierten Wissensformen der »Symbolanalytiker«. Dagegen sind die Schreibweisen am »L’art pour l’art«-Pol im Nobilitierungssektor durch prinzipielle Ablehnung oder Ignoranz der Verfahren neuer technischer Medien und des Journalismus geprägt.911 Im Unterschied zu Grünbeins seit Falten und Fallen (1994) und Nach den Satiren (1999) nobilitierter Lyrik, in der die mediale Brechung entweder als Metapher oder als eine Negativfolie fungiert, auf der sich die universale Bestimmung der ›hohen Kunst‹ seit den Anfängen der modernen Lyrik – seit Baudelaire und seiner Reaktion auf die dominant werdenden Zeitungen – fortsetzt,912 verband sich Klings Auseinandersetzung mit der medialen Konstruktion von Wirklichkeit untrennbar mit der poetologischen, unabgeschlossenen Konstruktionsarbeit in der »Sprachinstallation«. Im Unterschied zu den Autorpositionen, die innerhalb des Mittelbereichs situiert sind und sich über intermediale Verfahren zur Gestaltung der ›Jetzt-Zeit‹ in der Medienkonkurrenz zu behaupten versuchen, ist die Medienreflexion im literarischen Avantgardekanal im Kern intramedial, d. h. von Verfahren geprägt, deren reflexiver Einbezug anderer Medien und Künste vorrangig einer Positionsnahme für die Autonomisierung des Sprachkunstwerkes und nicht seiner Angleichung dient. Kling hatte das Gedicht klar von der Unterhaltungsfunktion abgegrenzt, jedoch war sein Umgang mit der ›Kulturindustrie‹ nicht von Ablehnung, sondern von einer genauen Wahrnehmung der Medialität und Inszenierung des Wortes geprägt. Entsprechend diente ihm, wie auch Marcel Beyer,913 die »Einbeziehung aller existierenden Medien« (Kling) zur Entfaltung einer eigenen Formsprache des Gedichts. Die Medienreflexion im Gedicht nimmt Formen eines spezifisch poetischen Nachsprechens, genauer: Formen der Zerlegung, Verfremdung und Neuformung medialer Wirklichkeitswahr-
910 Kling: Itinerar (»Sprachinstallation 2«), S. 15. 911 Vgl. dazu oben: Zweiter Teil, II. 2.1. 912 Vgl. Grünbeins Gedichte »Memorandum« und »Daguerreotypie Baudelaire« in Nach den Satiren. 913 Vgl. z. B. Marcel Beyers Gedicht »Verklirrter Herbst« (in: Falsches Futter [1997]); u. dazu Achim Geisenhanslüke: Parasitäres Schreiben. Literatur, Pop und Kritik bei Marcel Beyer. In: Thomas Wegmann, Norbert Christian Wolf (Hg.): ›High‹ und ›Low‹. Zur Interferenz von Hochund Populärkultur in der Gegenwartsliteratur. Berlin, Boston 2012, S. 83–95.
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nehmungen an. So bietet z. B. »Manhattan Mundraum Zwei« (in Sondagen)914 ein eindrucksvolles Beispiel für den ästhetischen Ausdruck einer intramedialen Medienreflexion, d. h. für eine lyrisch-kunstautonome Gestaltung des medialen Ereignisses der ›neuen Zeit‹ schlechthin: der Terroranschläge auf die New Yorker Twin-Towers vom 11. September 2011 – eines Datums, das selbst längst zur medialen Signatur eines vermeintlich neuen Zeitalters geworden ist. Dessen »algorithmen-wind« (1, 725 u. 20, 732), der den Rahmen für die lyrische »Mundraum«Installation bildet, hat die Weltwahrnehmung verändert, denn sie ist nicht mehr vom medialen Blick zu unterscheiden: »in tätigkeit / stetig das loopende auge« (1, 725). Der mediale, »loopende« Blick »schraubt« sich in die Dinge ein, wird zur technisch wiederholbaren Schleife traumatischer Detailbilder, die vom ›realen‹ Vorgang selbst (das sich in einen Twin Tower hineinschraubende Flugzeug) nicht mehr zu unterscheiden ist. Sie sind zum medialisierten Gedächtnisbild eines neuen Zeitalters geworden, dem überdies eine alttestamentarisch-apokalyptische Signatur eingeschrieben ist: »palms915 auf autoheck: / septemberdatum dies / das gegebene, / dies ist die signatur / von der geschichte; / verwehte wehende unverwehte / loopende wie hingeloopte // augn-zerrschrift« (4, 726).916 Die medialisierte Wahrnehmung der Welt ist nicht länger Sekundärphänomen im Verhältnis zu einem vermeintlich ›Eigentlichen‹, ›Primären‹ oder ›Authentischen‹, das die Lyrik der Neuen Subjektivität mit einer Alltagssprache noch zu benennen suchte, sondern primärer und ausschließlicher Zugang zur Welt. Auch die Natur kann nicht mehr vom Künstlichen zivilisatorischer Vermittlung unterschieden werden, sondern sie wird ausschließlich als ›zweite Natur‹, als ›Sprachraum‹ über Medien wahrgenommen, wie insbesondere in Klings Auseinandersetzung mit der Geschichte der medialen Wahrnehmung des Landschaftsraums der Alpen deutlich wird.917
Im Unterschied zur intermedialen Konkurrenzbeziehung im medialisierten literarischen Mittelbereich wird die Medienreflexion bei Kling bewusst in ›langzeit-belichtete‹, sprachlich-literarische Traditionszusammenhänge eingeordnet: So sieht er beispielsweise die sprachlichen Beschleunigungen der Werbung bereits im Expressionismus umgesetzt und im Barock findet er bereits die dynamisierten Text-Bild- und high-low-Mischungen.918
914 In: Gesammelte Gedichte, S. 723–732; Nachweise (Abschnitt, Seitenzahl) im Folgenden im Fließtext. 915 Gemeint ist wohl das Daten-Organizer-Gerät »Palm«, dessen Funktion hier die mit Staub bedeckten Autohecks übernehmen. »Palms« ist zugleich ein Anagramm von »Psalm« (vgl. »rache-psalm-partikel«, 4, 726). 916 Eine ausführliche Interpretation des Gedichts findet sich bei Indra Noël: Sprachreflexion in der deutschsprachigen Lyrik 1985–2005. Berlin u. a. 2007, S. 261–281. 917 Vgl. die Zyklen »TIROLTYROL. 23-teilige landschafts-photographie« in brennstabm oder »stromernde alpmschrift 1–8« in nacht.sicht.gerät); vgl. hierzu Erk Grimm: Lesarten der zweiten Natur. Landschaften als Sprachräume in der Lyrik Thomas Klings. In: Text + Kritik, 147 (2000): Thomas Kling, S. 59–69. 918 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 228. Die Ausführungen des Barock-Dichters Georg Philipp Harsdörffer zur literarischen Emblematik (»Sinnbildkunst«) versteht Kling »als frühen Aufruf zu intermedialer Zusammenarbeit« (T. K.: Auswertung der Flugdaten, Köln 2005, S. 112 f.).
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Klings sprachartistische Medienreflexion ist nicht nur mit kulturarchäologischen Langzeitbetrachtungen, sondern auch mit anderen Künsten, insbesondere der bildenden Kunst, verbunden. Zum Beispiel wird die cliphafte, beschleunigte Wahrnehmung der Werbung, die in der Werbeagenturenstadt Düsseldorf besonders präsent ist, über die räumliche Anordnung des Sprachmaterials in der »Sprachinstallation« ausbalanciert. Sie steht für eine spezfisch lyrische Aneignung von Modellen und Verfahren der bildenden Kunst im Klingschen »Gemäldegedicht«. Hiervon zeugt der Gedichtzyklus »petersburger hängun’«.919 Der dezidiert bildkünstlerische Charakter von Klings Lyrik ist durch die Rezeption zahlreicher Künstler wie Matthias Grünewald, Pieter Bruegel d. Ä. oder Joseph Beuys angeregt. Erk Grimm sieht sogar eine werkimmanente Entwicklung von der »Sprachinstallation« zum »Gemäldegedicht«, das erstmals explizit in brennstabm (1991) vertreten ist.920 Der Band morsch (1996) ist bereits stark von komprimierten Bildprotokollen, d. h. von Mitschriften der Wahrnehmung und des Sehprozesses, geprägt. Dabei fallen besonders das Motiv und die Technik der »Bildstörung« auf, die schon in Mayröckers Begriff der »Mehrfachbelichtung« und ihrer Aussage: »ich denke in langsamen Blitzen« vorgeprägt sind.921 Ein Verfahren im Umgang mit der Tradition besteht darin, das Bild beizubehalten, aber die Bedeutung umzukehren.922 Ferner ist für Klings sprachliche Bilddarstellung das Herausnehmen einzelner Details, die Technik der Auslassung und des gitterförmigen Sehens, konstitutiv (vgl. z. B. »rostschutz ’43« in geschmacksverstärker oder »schmerzzentrum kolmar« in morsch). Darüber hinaus arbeitet seine Bildbeschreibung des Isenheimer Altars von Matthias Grünewald (in Auswertung der Flugdaten) mit einem charakteristischen Wechselverhältnis von an- und abwesenden Personen. Anhand die-
919 »petersburger hängun’« (geschmacksverstärker). In: Gesammelte Gedichte, S. 185; vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 204. »Petersburger Hängung« meint, nach dem Vorbild der Eremitage, eine besonders enge Reihung von Gemälden, die häufig bis an die Decke reicht. Das dem Düsseldorfer Künstler Dieter Hiesserer gewidmete Gedicht setzt dieses Anordnungsprinzip poetologisch um in ein aus mehreren ›Bildsplittern‹ zusammengesetztes geschichtliches Sprachbild von Sankt Petersburg/Leningrad – und genauer: in ein Sprachbild der Folgen des Sturms auf den Winterpalast – am »SCHNEIDETISCH«: Das sprachliche Porträt ist eine Hommage an die Randexistenzen, an die aus dem Kanon der Sowjetunion ausgeschlossenen und politisch verfolgten avantgardistischen Künstler Velimir Chlebnikov, Sergej Eisenstein und Daniil Charms. 920 Vgl. zum Folgenden: Erk Grimm: Bildstörung. Ikonografie des Notfalls. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 263–292, hier S. 264–266. 921 Friederike Mayröcker: Mein Herz mein Zimmer mein Name. Frankfurt a. M. 1988, S. 41; u. F. M.: Gesammelte Gedichte. 1939–2003, hg. v. Marcel Beyer. Frankfurt a. M. 2004, S. 88; vgl. Strigl: Kling in Wien, S. 112. 922 »Diese Form der Spurenänderung erinnert mich wiederum an ›barocke‹ Strategien, wie sie an Harsdörffers schönem Begriff der ›Verborgene(n) Sendschreiben‹ deutlich werden. ›Verborgene Sendschreiben‹: ich finde, das ist überhaupt ein gut brauchbares Wort, um das Gedicht zu charakterisieren!« (Thomas Kling: »Zum Gemäldegedicht. Düsseldorfer Vortrag«. In: Auswertung der Flugdaten, S. 107–122, hier S. 115).
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ser Merkmale lässt sich eine spezifische Poetik des Unbildes erkennen, in dem Bildliches verstärkt und zugleich verstellt wird.
Klings »Gemäldegedicht« arbeitet mit der Materialität der Schrift und nimmt eine Gestalt an, die sich aus der medienreflexiven Montage eines disparaten und leerstellenhaften Materials zusammensetzt. Kling hat seine Gedichtform zwischen der Konkreten Poesie und der Alltagslyrik situiert, die beide ein gewisses Bilderverbot prägt.923 Hieraus lässt sich seine Selbstpositionierung im lyrischen Subfeld ableiten, die weder auf ein Nischendasein einer abstrakten, sprachreflexiven Avantgarde noch auf deren popkulturelle Situierung im Mittelbereich zielt, sondern auf einen neuen, autonomen Raum des Gedichts dazwischen, der sich für die medial vermittelten Wirklichkeiten geöffnet hat.924 Sein dynamisiertes, oft reportageartiges »Gemäldegedicht« 925 beabsichtigt im Unterschied zu Grünbeins Lyrik keine Panorama- oder Überschau, sondern enthält räumliche Anordnungen der zergliederten Details: prozessuale konstellative Reihungen sprachlich durchrhythmisierter Bild- und Diskurselemente der Kulturgeschichte wie auch der gegenwärtigen Alltagskultur.926 Wie Brinkmann geht es Kling um »Sprachpolaroids«,927 um ein »Sprachsehen«, das stets von der Entstehung eines (Sprach-)Bildes bzw. Blickes erzählt. Dabei grenzt er sich deutlich und polemisch von der alltagskulturellen »Prä-Trash-Ästhetik« Brinkmanns und damit von der popliterarischen ›Avantgarde‹ des Mittelbereichs ab, in der er nicht die »Medienverschmelzungs-Konzepte« der klassischen Avantgarde sah, sondern nur ein »naives Verständnis von Underground und seiner industriellen Verwertung«.928 Über die fotografische Augenblicks-
923 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 221; vgl. auch den Düsseldorfer Vortrag »Zum Gemäldegedicht« (Auswertung der Flugdaten, S. 107–122). 924 Von der Warte einer radikalen sprachreflexiven Avantgarde in der Nachfolge Gertrude Steins, Kurt Schwitters und der Konkreten Poesie aus spricht Sebastian Kiefer Thomas Kling, dessen Gedichte das »Bezeichnungsempfinden des linearen, regulären, naturwüchsig intonierten, zielgerichteten Aussagesatzes« im Kern nicht in Frage stellten, die Zugehörigkeit zur Avantgarde ab. Als Vertreter dieser ›wahren‹, sprachkritischen Avantgarde, die im Unterschied zu Kling in ihrem spezifischen Nischen-Milieu verbleiben, nennt Kiefer Autoren wie Oskar Pastior, Reinhard Priessnitz, Franz-Josef Czernin oder Ferdinand Schmatz (Sebastian Kiefer: Inszenierte Bedeutung. Auftakt einer Studie über Thomas Kling. In: Schreibheft 65 [2005], S. 191– 200, hier bes. S. 195 u. S. 196 f.). 925 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 217. 926 Kling selbst spricht von einem »durchrhythmisierten realismus« (ebd., S. 211; vgl. auch ebd., S. 214). 927 Ebd., S. 216. 928 Vgl. Thomas Kling: Totentanzschrift, Fotomaterial. Wiener Vorlesung zur Literatur, Abschnitt: »Ins Bild setzen IV. Reinhard Priessnitz und Rolf Dieter Brinkmann«. In: Botenstoffe, S. 90–92, hier S. 91.
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aufnahme hinaus strebt er nach poetologischen Verfahren der ›Mehrfach-‹ und ›Langzeitbelichtung‹, die – zwischen Fotografie und Film – die Metamorphosen der Bildaggregatzustände sicht- und hörbar machen.929 So zeigt sich im Hinausgehen über das Einfangen des Augenblicks, der ›Jetzt-Zeit‹, die für die Ästhetik im flexibel ökonomisierten Mittelbereich maßgeblich ist, in der Erweiterung des ›Sprachpolaroids‹ zur rhythmisierten ›kulturarchäologischen Sondierung‹, das ästhetische Bewusstsein für lange Zeitordnungen. In dieser Hinsicht erklärt sich auch Klings besonderes Interesse für die Zeit des Ersten Weltkrieges und seines künstlerisch und medial vermittelten Gedächtnisses.930 Denn der Erste Weltkrieg war das erste medial vermittelte Weltgeschehen, das ein Generationstrauma und kollektive, gebrochene Gedächtnisbilder verursachte. Dem Ersten Weltkrieg ist ein umfangreicher Gedichtzyklus im Band Fernhandel gewidmet. Schon von den Titeln der Gedichte wie »Diese Photographie, dieses Foto«, »Die Schrift – Echtfoto«, »Monarchen, aus der Entfernung gesehen«, »Bleiglanz«, »Es sind die unterschiedlichen Belichtungszeiten« und »Das Bildbeil« lässt sich ablesen, dass es hier stets um mediale Erinnerungsspuren geht, die in einem sprachlichen Prozess entfaltet werden. Dabei interessieren Kling insbesondere die beschädigten ›Bildträger‹ der traumatischen Erfahrung,931 mit denen seine poetischen Techniken der blitzartigen Detailaufnahmen, der Überblendung und der Langzeitbelichtung korrespondieren. In »Aufnahme Mai 1914. 8.1–8.5« (brennstabm) zeichnet das Gedicht in mehreren Sequenzen die bekannte Fotoaufnahme von Trakl nach. Das Fotoporträt Trakls selbst fehlt – es ist durch mehrere historische, an Postkarten erinnernde Marine-Aufnahmen ersetzt, die erst zum Schluss Kriegshandlung erahnen lassen. Der Sprung wie auch die Überlagerung zwischen der individuellen und kollektiven traumatischer ›Signatur‹ im sprachlichen und fotografischen Gedächtnisbild kommt bereits im ersten Satz zum Ausdruck: »der sizzta cool / + is am plazzn«.932 Die geschichtlichen, medial
929 »Die Begriffe der Doppelbelichtung und das, was sich alles fachsprachlich den neueren modernen visuellen Medien verdankt – von der Daguerreotypie angefangen bis zum Film mit seinen Schnitten, Video usw. –, sind mir insofern wichtig, als das, was ich in den 80 er Jahren als Sprachpolaroids bezeichnet habe, über die Augenblicksaufnahmen eines Brinkmanns hinausgeht. Es geht mir nicht um eine Aneinanderreihung, also das, was der Fotodokumentarist eine Strecke nennen würde, sondern tatsächlich um diese Doppelbelichtungen, also tief in die Sprach- und Wortgeschichte, in die Kulturgeschichte hinein« (Botenstoffe [»Drei Gespräche«], S. 216); vgl. auch das in den Zyklus »Der erste Weltkrieg« eingeschobene Gedicht »Es sind die unterschiedlichen Belichtungszeiten« (Fernhandel. In: Gesammelte Gedichte, S. 614 f.). 930 Vgl. dazu ausführlich Peer Trilcke: Historisches Rauschen. Das geschichtslyrische Werk Thomas Klings. Elektronische Dissertation. Göttingen 2012 (http://ediss.uni-goettingen.de; abgerufen am 15. 12. 2012). 931 Vgl. Hermann Korte: »Bildbeil«, »Restnachrichten« und »CNN Verdun«. Thomas Klings Erster Weltkrieg. In: Text + Kritik, 147 (2000): Thomas Kling, S. 99–115, hier S. 101. 932 »Aufnahme Mai 1914 8.1–8.5« in brennstabm. In: Gesammelte Gedichte, S. 289–301, hier S. 289.
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gespeicherten Spuren sind traumatischer Art, d. h. unbewältigt. Daher sind sie in Klings Gedichten als sprachlicher Erinnerungsspeicher stets auch von einem Gegenwartsbezug geprägt, wie vor allem an der Formel »CNN Verdun« abzulesen ist.933
Sowohl Kling als auch Grünbein verstehen Lyrik als einen besonderen Gedächtnisspeicher. Während aber in Grünbeins Konzept des »Engramms« der Schwerpunkt auf der ›neurologischen‹ Wahrnehmungsspur des Subjekts und in der ›Porzellanscherbe‹ der Akzent auf der materiellen Spur einer einstmaligen Ganzheit im »Denkbild« (Benjamin) liegt, sind Klings »Sprachspeicher« ganz von der Medialität der sekundären Wahrnehmung, der ›Nachbearbeitung‹, der gebrochenen Materialität und von der Prozessualität der Erinnerung geprägt. Kortes Charakterisierung des poetischen Umgangs Klings mit dem historischen Gegenstand markiert zugleich den Unterschied zu Grünbeins Lyrik: Klings Poem entsteht aus einer verwirrenden Vielfalt fragmentarischer Spuren; Detailund Großaufnahmen stehen im Vordergrund, während Überschau und Totale gemieden werden. Aus kleinsten Einheiten setzen sich Erinnerungsspuren zusammen.934 Es gibt keine ordnende, keine deutende, keine Sinn produzierende oder ex kathedra Sinn beanspruchende lyrische Instanz, die dem Leser die Erinnerungsarbeit abnimmt. Hier liegt die eigentliche Stärke des gesamten Zyklus. […] Gegen die melancholische Trostlosigkeit dieser Version von Erinnerung stemmt sich Klings Weltkriegszyklus mit aller imaginativen Kraft der Sprache, ohne die Gedächtnis-»steine« zu vergessen, »auf denen einfach keine steinchen sind«.935
Die Nutzung der neuen Medien als Material der Spracharbeit und als Reflexionsform der eigenen Perspektive erstreckte sich bei Kling auf eine intensive Auseinandersetzung mit einer traumatisch erlebten Geschichte. Die zerbrochenen Bilder des Vergangenen werden im Gedicht neu montiert, wodurch die »Dimension des Geschichtlichen« zurückgewonnen wird.936 Kling schöpft aus der Tradition der bildenden Künste wie auch des Films,
933 Vgl. z. B. »Diese Photographie, dieses Foto«: »es folgen die bilder von CNN VERDUN, summen im ohr – für uns aus // einiger entfernung« (Gesammelte Gedichte, S. 601). »Die Redewendung ›CNN Verdun‹, die sich leitmotivisch durch den Zyklus zieht, markiert unmissverständlich den Standort des Sprechers in der Gegenwart. Geschrieben zwischen 1996 und 1998, verweist Klings Zyklus, in diesem Punkt der medien- und sprachkritischen Tradition eines Karl Kraus folgend, auf die Rolle der Massenmedien als Kriegswaffe, die nicht nur die Wahrnehmung von Kriegen kontrollierten, sondern auch Kriegsverläufe steuerten, wie der Nachrichtensender CNN im Golfkrieg« (Korte: »Bildbeil«, S. 109). 934 Ebd, S. 108. 935 Ebd., S. 113, mit Bezug auf das Gedicht »Es stützen mit den Toten Schultern« in Fernhandel (in: Gesammelte Gedichte, S. 624 f.). 936 Vgl. Geisenhanslüke: Energie der Zeichen, S. 15; Zitat, ebd., S. 12.
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um so Bilder zusammenzustellen, die die in der Sprache des Gedichts gespeicherte Energie des Vergangenen wieder abrufbar zu machen versuchen. »Energie der Zeichen« 937 bedeutet im Falle Klings daher nicht allein die Berufung auf die Selbstreferentialität der Sprache in der Tradition Mallarmés und Benns, sondern zugleich das Insistieren auf den Vergangenheits- und Wirklichkeitsbezug des Gedichts.938
Die poetische Artistik im Sinne Benns und der spuren- oder abdruckhafte Wirklichkeitsbezug des modernen Gedichts im Sinne Celans finden in Klings Lyrik zu einer neuen Verbindung.939 In der intramedialen Medienreflexion, in der Öffnung des Sprachkunstwerkes für die medialisierte Wahrnehmung zum Zwecke seiner kunstautonomen Weiterentwicklung, führt Kling das ›hermetische Gedicht‹ auf die Höhe der Zeit. Wenn das neue ›Raunen‹ im Avantgardekanal für den paradoxalen Anspruch auf Transgression und universale Geltung der poetischen Stimme im Bewusstsein ihrer bedingten Position steht, löst Kling dieses Dilemma durch eine Lyrik, die in einer intermedialen Beziehung zur horizontalen Ausdifferenzierung steht und auf die Stärkung der autonomen Position, den vertikalen Aufstieg in der Langzeitgeschichte des kunstautonomen Gedichts, ausgerichtet ist. Ein Indikator für die Transgression der ›Gegenwartszeit‹ ist der Fokus auf eine Erinnerungs- und Gedächtnisfunktion der Literatur. Mit der archäologischen Freilegung von Sprach- und Bildschichten ist Klings Gedichten diese Funktion bereits inhärent, wodurch das ephemere Dasein der Gestaltung von Gegenwart realisiert und zugleich überstiegen wird. So findet sich im letzten Band, Auswertung der Flugdaten, das »Projekt: Vorzeitbelebung«: ein Projekt, das Kling schon seit etwa Mitte der neunziger Jahre verfolgte und das wie bei Grünbeins Entwicklung mit einer Hinwendung zur Antike940 verbunden war.
»Projekt ›Vorzeitbelebung‹«: Klings Entwicklung ab Mitte der neunziger Jahre Mit der von Grünbein verfolgten Wiedergewinnung einer souveränen Autorschaft, mit seinem ›Gieren nach Weitblick‹, Weltkultur und Klassizität, avancierte seine Position im Avantgardekanal hin zur Exzellenzstellung einer »L’art pour l’art«-Position.941 Dabei wiederholte Grünbein eine Bewegung, die schon
937 Kling: Itinerar (»Sprachinstallation 2«), S. 16; Zitat aus Nietzsches Götzendämmerung. 938 Geisenhanslüke: Energie der Zeichen, S. 15. 939 Vgl. ebd., S. 16. 940 »Nachdem der Geschwindigkeitsterror der achtziger Jahre vorbei war, war es wichtig, einen weiten Atem in die Kulturgeschichte zu nehmen« (Botenstoffe [»Drei Gespräche«], S. 235). 941 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.4.1.
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für Baudelaire charakteristisch war: die Absetzung von der Avantgarde und zugleich das Bestreben, über den Rückgriff auf die Antike ein ›unsterblicher‹ Dichter der Moderne und ihrer kulturellen Transiträume zu werden.942 Mit der Büchner-Preisverleihung an Grünbein drohte die Autorposition Klings, die nach einer Anerkennung über die subkulturelle und ultra-sprachreflexive avantgardistische Szene hinaus strebte, in die Grenzen einer Nischenposition zurückzufallen. Vor diesem Hintergrund sei nun Klings weitere Laufbahnentwicklung verfolgt. Der Beginn einer zweiten Phase zeichnet sich bereits im Gedichtband nacht.sicht.gerät (1993) ab und zeigt sich dann deutlich ab Mitte der neunziger Jahre mit dem Band morsch (1996). Sie ist – mit dem Umzug von Köln auf die »Raketenstation«, einem Kunstareal in Hombroich bei Neuss – von einer verbesserten äusseren Situation wie auch von einem gefestigten Selbstbewusstsein geprägt (Kling spielte nun mit bildungsbürgerlichen Dichter-Images) und gründet auf einer entschiedenen Arbeit an der Sprache und an den kulturellen Traditionsbeständen.943 Zu den sprachlichen Zersetzungsverfahren der ersten Laufbahnphase kam die Intensivierung der mit der Konzeption der »Sprachinstallation« verbundenen kulturgeschichtlichen, geografisch-topografischen und spracharchäologischen Recherche hinzu. Dies führte zur Ausprägung von Merkmalen einer poeta docta-Autorfigur, wie sie zeitgleich auch bei anderen Autoren wie Grünbein oder Schrott zu beobachten war.944 In nacht.sicht.gerät (1993) verdichten sich kultur- und kunstgeschichtliche Anspielungen und Zitate in einer insgesamt vom »Bildungsjargon und Bildungsballast durchsetzte[n] Poesie«.945 Darin findet sich verstärkt eine »Neigung zu zyklischen Kompositionen«, in denen »Topografien lyrischer Reflexionsräume« ausgelotet werden.946 Ähnlich wie hinsichtlich Grünbeins Lyrik stellt Korte insbesondere mit Blick auf den
942 Was Benjamin über Baudelaire schrieb, lässt sich auch auf Grünbein übertragen: »Den alten Anspruch auf die Unsterblichkeit erfuhr er als seinen Anspruch, einmal wie ein antiker Schriftsteller gelesen zu werden. Daß ›alle Moderne es wirklich wert sei, dereinst Antike zu werden‹ – das ist ihm die Umschreibung der künstlerischen Aufgabe überhaupt«. »Baudelaire will gelesen werden wie ein Antiker. [...] Zwar steht Paris noch; und die großen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung sind noch die gleichen. Aber je beständiger sie geblieben sind, desto hinfälliger wurde an der Erfahrung von ihnen alles, was im Zeichen des ›wahrhaft Neuen‹ gestanden hatte. Die Moderne ist sich am wenigsten gleich geblieben; und die Antike, die in ihr stecken sollte, stellt in Wahrheit das Bild des Veralteten. ›Man findet Herculanum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschütten die Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane‹« (Walter Benjamin: Das Paris des Second Empire bei Baudelaire. Die Moderne. In: W. B.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, S. 584 u. 593). 943 Vgl. Grimm: Thomas Kling, S. 691. 944 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.2. 945 Hermann Korte: Thomas Kling. In: Arnold (Hg.): KLG, 49. Nlg. (1995), S. 1–6, hier S. 5. 946 Vgl. ebd.; vgl. zum Beispiel die Gedichtzyklen »sachsnkriege oder was« und »stromernde alpmschrift« in nacht.sicht.gerät (Gesammelte Gedichte, S. 351 ff. u. S. 393 ff.).
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Zyklus autopilot fest: »Das lyrische Subjekt, daran besteht im Gedichtband ›nacht.sicht.gerät‹ kein Zweifel mehr, hat bei Kling eine souveräne Position zurückerobert: gegen postmoderne Subjektnegation und gegen alle Tendenz zu postmodernem, ›subjektlosem‹ Sprach- und Klangdesign«.947 Das künstlerische Selbstbewusstsein stützte sich nun auf einen beim Leser vorausgesetzten und eigensinnig verwendeten Wissensfundus, mündete aber – im Unterschied zu Grünbein und Schrott – in das Selbstbild eines ›schamanenhaften Gedächtnisverantwortlichen‹ einer ›Stammesgemeinschaft‹.948 Mit dem Band morsch (1996) sieht Grimm dann den Schritt in eine neue Werkphase vollzogen. Der Band sei von einer Beschränkung der Verfahren der »Wortverstrickungen«, einem reduzierten Zitateinsatz und einer Annäherung an konventionelle Formen gekennzeichnet.949 Grimm beobachtet eine Weiterführung des »Gemäldegedichts« und charakterisiert die Neuausrichtung insgesamt mit der Verszeile: »anmut und rohheit / in stücken«.950 Die weiteren Gedichtbände Fernhandel (1999) und Sondagen (2002) werden von Aufsatzsammlungen (Itinerar [1997], Botenstoffe [2001]), die die poetologische Reflexion weiterführen, von der Gedichtzusammenstellung Sprachspeicher (2001), die der programmatischen Positionsnahme in Form eines Gegenkanons dient, und außerdem von der Auseinandersetzung mit der Antike (u. a. in Form der Übersetzung von Catulls Das Haar der Berenice [1997]) begleitet. Letztere erfolgte auch stets in Abgrenzung zu Kontrahenten wie Grünbein und Schrott, die in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre ebenfalls den ›langen Atem der Geschichte‹ suchten und sich mit der Antike auseinandersetzten.
Eine wachsende Etablierung der Autorität Klings als Lyriker lässt sich an seinem Wirken als (Gegen-)Kanonisierer, Herausgeber und Förderer anderer Künstler und Schriftsteller951 und schließlich an den intensiven Auseinandersetzungen mit Autoren der ›Hochkultur‹ festmachen. Sie mündeten im letzten Band – Auswertung der Flugdaten (2005) – in das »Projekt ›Vorzeitbelebung‹«, das gleichwohl von der schweren Lungenkrebserkrankung Klings überschattet war. So ging die Belebung der Stimmen der Vorzeit in das Wissen um das baldige Verstummen der eigenen Stimme über.952 An der Reflexion des eigenen Verhältnisses zum Traditionszusammenhang der Hochliteratur kann das Verhältnis der Autorposition zum Nobilitierungssektor abgelesen werden: Bei Kling geht es nicht um eine Inbesitznahme eines vergangenen Kulturguts. Seine lyrischen Sondagen der Kulturräume sind »ohne Anspruch auf Wahrheit und ohne den Stimulus zur raunenden Be-
947 Korte: Thomas Kling, S. 6. 948 Vgl. Kling: Itinerar (»Memorizer«), S. 59–67. 949 Grimm: Thomas Kling, S. 689. 950 »vogelherd mikrobucolica«, Nr. 12 (morsch. In: Gesammelte Gedichte, S. 490); vgl. Grimm: Thomas Kling, S. 691. 951 Kling gab zwei Bände heraus: Friederike Mayröcker: Benachbarte Metalle. Frankfurt a. M. 1998 u. Sabine Scho: Thomas Kling entdeckt Sabine Scho. Hamburg, Wien 2001. 952 Vgl. hierzu unten: Zweiter Teil, III. 3.1.
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schwörung des Ausgegrabenen«.953 Das sondierte und zusammengetragene Material wird als Medium, als Gedächtnisträger, behandelt. Es geht um das Herausstellen der »materielle[n] Erinnerungsspur der Sprache, der sich Kling in seinen komplexen Installationen zuwendet«.954 Dabei weist der Inhalt der Erinnerung Formen seiner medialen Bearbeitung auf, wodurch dem Gedicht als Gedächtniskunst stets Fremdkörper und Bildbrüche eingeschrieben sind, wie insbesondere im Erste Weltkrieg-Zyklus (Fernhandel) und hier in der Formel von der »grobkörnige[n] Mnemosyne« deutlich wird.955 Die Mnemosyne im Medium des Gedichts entsteht gerade aus ihrer konstruktivistischen Prozesshaftigkeit und ihrem Materialbezug. So hat Kling seine poetische Spracharbeit mit der Arbeit der Wespe (bzw. Biene) verglichen: […] die wespe ist in stetiger bewegung. und ihre fühler in bewegung. es ist ein zeiger-, so ein zeichenweißes spiel, das hier gespielt wird. die wespe knackt nicht den tresor. ein zeitaquarium.956
Liest man diese Verse als poetologische Allegorie, so ist der Dichter als Wespe ein permanenter Sammler und Arbeiter am Wort. Er spielt ein »zeichenweißes Spiel«, verbleibt also im Bereich der sprachsemiotischen Konstruktionen. Er arbeitet instinktiv und zeitvergessen an der Durchdringung der Zeit, ohne jedoch die »Zeit« je zu ›knacken‹.957 Das ›bienenfleißige‹ Arbeitsethos des Dichters als Sammler und unentwegter Konstrukteur schafft einen künstlichen Sprach- und Reflexionsraum; »das ist die Folie, auf der aus der Erinnerung heraus gearbeitet werden kann«.958 Die dem Memorizer-Text angefügten Fotos verdeutlichen, worin die handwerkliche Seite der Erinnerungstechnik besteht: in der Arbeit am Palimpsest durch Abkratzungen und Restaurierungen der his-
953 Korte: Thomas Kling, S. 25. Kortes weitere Bemerkung, dass es bei Kling »um die Durchmusterung einer von heutigen Sinndiskursen strikt abgetrennten Kultur« (ebd.) gehe, ist weniger überzeugend. 954 Geisenhanslüke: Energie der Zeichen, S. 15. 955 »grobkörnige Mnemosyne, die das / frostdia in perspektivischer verzerrung über kantige flächen wirft fransig« (»BLEIGLANZ«, in: Gesammelte Gedichte, S. 610); vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 242. 956 »Ihr Hinterleib in ständiger Bewegung«. In: Gesammelte Gedichte, S. 618 f. 957 Dieses poetologische ›Wespengedicht‹ ist in den Zyklus »Der Erste Weltkrieg« (in Fernhandel) eingefügt. In einem Gespräch erläuterte Kling, dass er diese allegorische Reflexion auf die Arbeit des Dichters im Umgang mit der historischen Zeit »als Antidot gegen das Pathos dieses überwältigenden Stoffes [des Ersten Weltkrieges; H. T.] gebraucht« habe (Botenstoffe [»Drei Gespräche«], S. 237). 958 Ebd., S. 226.
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torisch ›geschichteten‹ Bilder.959 Klings Umgang mit der geschichtlichen Überlieferung und dem kulturellen Erbe ist die Arbeit eines (Re-)Konstrukteurs. Sie stellt eine Mischung aus Anverwandeltem (der übersetzte Text) und Porträt (ein impliziter lyrischer Kommentar) dar.960 Das anverwandelte Porträt ist eine bevorzugte Form der ›Vorzeitbelebung‹ Klings. Es dient der Legitimierung der eigenen Poetik durch eine eigenwillige, von dominanten Zuordnungen der Gegenwart abgegrenzte Traditionsaneignung.961 Während es für Kling zunächst galt, den Abstand zur Neuen Subjektivität der siebziger und achtziger Jahre zu markieren, ist seine Laufbahn in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre von einer neuen Antikerezeption geprägt. Die Rezeption der Antike, die spätestens seit Winckelmann und Goethe zur Überwindung des expressiven, aber flüchtigen Ausdrucks des Subjekts hin zu ›zeitlos-klassischen‹ Formen des Werkes diente, spielt für den Aufstieg in den Nobilitierungssektor des literarischen Feldes eine wichtige Rolle. So war Klings Auseinandersetzung mit der Antike unterschwellig auch eine Differenzsetzung zu Grünbein eingeschrieben, der die »antiken Dispositionen« für sich und sein Werk in Anspruch genommen hatte.962 Um das Pathos, das ›Raunen‹ im Umgang mit dem antiken Erbe von Anfang an zu brechen und sich damit indirekt von Grünbein abzugrenzen, nannte Kling ein Gedicht provokativ »Antikenverwaltung«.963 959 Vgl. Itinerar (»Memorizer«), S. 65–67, u. Botenstoffe (»Drei Gespräche«), S. 224. 960 Vgl. Botenstoffe (»Drei Gespräche «), S. 234. 961 Ein besonderer Traditionsbereich, in dem Kling Materialien für seine Dichtung fand, stellt der Barock dar. Beeinflusst von der Barock-Rezeption der Wiener Gruppe, aber auch von Arno Holz oder Georg Trakl im Zusammenhang mit ihren Kriegs- und Krisenerfahrungen, tritt Kling in Essays und in seiner Lyrik-Anthologie Sprachspeicher vehement für eine neue, ernsthafte sprachliche Weiterführung der Verfahrensweisen des Barock ein. Klings Weiterführung barocker Sprachverfahren zeigt sich in Neufassungen der Ars oratoria, der Ars combinatoria und der Ars emblematica am Beispiel von Beschreibungen barocker Bilder im Band Botenstoffe (2001). Allgemein spielen die aus dem Barock übernommenen Verfahren der Antithetik von Tod und Leben, die Vanitas-Motivik, die Drastik der Gewaltsprache, die Beobachtungsgenauigkeit und die Bewegung vom randständig Oralen (Dialekte, Rotwelsch, Argot etc.) zum Literalen eine zentrale Rolle für die eigenen poetisch-poetologischen Verfahren. Neben dem Anspruch auf eine ernsthafte Weiterführung steht Klings schelmische ästhetisch-sprachliche Inszenierung einer barocken Authentizität jenseits jeder theologischen Einbindung, worin sich sowohl die produktive Auseinandersetzung als auch eine Strategie ausdrückt: Denn in der Klingschen Ars poetica, in seinem Rückgriff auf den Barock als maßgebliche Epoche, die der bürgerlichen Empfindsamkeit vorausging, zeigt sich erneut das Bestreben einer Überwindung der Subjektivität der siebziger Jahre; vgl. hierzu ausführlich Stefanie Stockhorst: »Geiles 17. Jahrhundert«. Zur Barock-Rezeption Thomas Klings. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg): Das Gellen der Tinte, S. 163–196. 962 Vgl. Ammon: Antikerezeption, S. 211 u. S. 218; u. oben: Zweiter Teil, II. 2.4.1. 963 Kling: Gesammelte Gedichte, S. 661.
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In Klings Anverwandlung der Antike steigen die ›hohen Götter‹ herab in die irdische (Gegenwarts-) Zeit, ohne jedoch in ihr aufzugehen. Der antike Mythos wird schlagartig evoziert und sprunghaft durch die Zeiten transponiert, wobei die mediale Vermittlung jeweils analog verläuft und zur ›Transmutation‹ der mythischen Figur beiträgt: So wird Äskulap konstellativ und zugleich in Bewegung, nämlich in die Gegenwartszeit herabsteigend, dargestellt, »an hermenhaufen am sonnenstand am handy orientiert« (Z. 2). Er ist der »landarzt hurtig über serpentinen« (Z. 5) unterwegs bis hin in die Imagination »einsteigend in die traum-/kavernen erscheint im schlaf dir zischend Aesculap« (Z. 5 f.). Der Gott der Heilkunde wandelt mit den Zeiten seine Morphologie und kann sich auch dem Technik- und Verwaltungszusammenhang nicht entziehen: So ist er heute in die Routine der Geräte- und Schönheitsmedizin eingebunden und »schenkt / gefüllte lippen dir, ein blütenfleisch aus rosen-silicon« (Z. 9 f.).
Klings »Antikenverwaltung« ist von einer partiellen Entzauberung durch Übertragung, Mischung mit modernen Ausdrücken, medialen Techniken, subkulturellem Vokabular und einem anti-akademischen Gestus geprägt. Indessen arbeitet sie mit ›genialischen‹ Anleihen aus der Wissenschaft, besonders der kulturhistorischen und ethnologischen aus dem neunzehnten Jahrhundert im Übergang zum zwanzigsten. Die Mythen der Antike durchlaufen hier eine bildsprachliche Metamorphose bis hin zu den Mythen des Alltags. Die poetische Transmutation steht zudem für eine konstellative Form: für einen vielstelligen Ausdruck als Epiphanie und Palimpsest, bei dem es darum geht, die historisch und medial überlagerten Schichten freizulegen.964 Die poetischen Verfahren lassen sich damit zwischen einer prozessual-offenen und epiphanisch-konstellativen, stillgestellten Form verorten. Dem entspricht Klings paradoxaler Versuch einer konstruktivistischen und zugleich magischen »Vorzeitbelebung«. Ähnlich wie sich aus Klings Perspektive Stefan George von Rudolf Borchardt abgrenzte, dem er eine verklemmte wilhelministische Prägung vorhält – wie im nächsten Abschnitt ausgeführt werden wird –, setzte sich Kling mit seiner magisch-konstruktivistischen »Vorzeitbelebung« polemisch von der ›folkloristischen Antikenverwaltung‹ Grünbeins ab.
3 Das Raunen im Avantgardekanal Der strukturelle »Widerstreit zwischen dem grundsätzlichen Anspruch auf Autonomie der poetischen Funktion der Sprache einerseits und dem prekären ge964 Ammon unterscheidet in Klings Antikerezeption zwei Phasen: Während es ihm bei seiner Catull-Übersetzung (1997) um eine Aneignung und ›Weiterreichung‹ ging, sei die »Spätphase« von einer Rezeption der Antikerezeption geprägt: »[N]achgesprochen wird nicht der Originalton, sondern der nachgesprochene Originalton. Kurz: Es handelt sich um eine Antikerezeption aus zweiter Hand«. Sie werde »auf diese Weise erkennbar als Teil eines kulturellen Prozesses, in dessen Verlauf die antiken Texte immer wieder aufs Neue um- und weitergeschrieben wer-
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sellschaftlichen Ort der Lyrik« 965 andererseits bedingt das ›Raunen‹ im Avantgardekanal. Es lässt sich übersetzen als Behauptung (im Sinne des ästhetischen Scheins, des »als ob«, und einer selbstreflexiven positionellen Selbstverteidigung) der universalen Geltung des poetischen Wortes – eine Behauptung, die vielstimmig und in verschiedenen Formen, je nach Gattung, auftritt und in Relationen, d. h. Abgrenzungen und Wahlverwandtschaften, eingebunden ist. Im Folgenden werden die poetischen Techniken der Aufrechterhaltung eines kunstautonom-universalen Stellenwerts der Literatur im Bewusstsein ihrer gesellschaftlichen Marginalisierung in der Gegenwart, also die Behauptung einer avantgardistischen Position in ›postavantgardistischen‹ Zeiten, bei Thomas Kling in der Lyrik, bei Reinhard Jirgl in der Prosa und bei Elfriede Jelinek in Prosa und Drama näher untersucht.
3.1 Thomas Kling Klings eigenwillige ›Arbeit am Mythos‹ zwischen reflexiver Konstruktion und genialischer Inspiration kann nun anhand seiner Deutung der Dionysos- und Hermes-Mythen in Auswertung der Flugdaten weiter verfolgt werden. Sie hat eine allegorische Bedeutung für seine Poetik.966 Die Berufung auf »Dionysos Bromios«, den »Geräuschgott«, legitimiert das Ineinandergreifen von ›rauschhafter‹ Akustik des Materials – einer vom (Laut-)Material inspirierten genialischen Rede, die sich auch zum aggressiven Brummen der »Bremse« wandeln kann – und unermüdlicher Konstruktionsarbeit der unentwegt sammelnden und bauenden »Biene«.967 Zu »Dionysos Bromios als nonverbaler Kommunikationsgott« tritt »Hermes[,] der Verständlichmacher qua Wort«.968 Klings Umgang mit der Antike gründet also auf einer gemischten allegorischen poetologischen Selbstbestimmung zwischen der vom Sprachmaterial ausgehenden ›rau-
den. Diese sind mithin keine statisch-unveränderlichen, sondern dynamische, einer stetigen Veränderung unterworfene Größen« (Ammon: Antikerezeption, S. 238 f.). 965 Geisenhanslüke: Altes Medium – neue Medien, S. 47. 966 Vgl. zum Folgenden auch Grimm: Thomas Kling, S. 693. 967 »Bromios: ein Gott des Akustischen ist er von seinem Namen her – ein lauter und ein leiser Gott, ein Rauschender und Tosender; ein wie der Bienenschwarm summend-brausender; ein wie die Pferdefliege, die Bremse, aggressiv brummender. Das griechische brómos umfasst das Prasseln des Steinschlags, das Gebirgswaldbrausen, das vieltonige Getöse des Baches, der stürzt. Im Altindischen findet sich die Verbindung zur produktiven Biene, die wiederum mit dem aus dem kleinasiatischen Raum nach Griechenland eingewanderten Dionysos zu tun hat« (Auswertung der Flugdaten, S. 46 f.). 968 Ebd., S. 47.
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schenden‹, nonverbalen Akustik (»Dionysos Bromius«) und dem »Dolmetscher« Hermes, der die Sprache, den Botenstoff selbst, virtuos zündet: gewandt in der Berechnung (Baudelaires Calcul), verschmitzt, von geriebenem Anspielungsreichtum und prekärem Eigentumsbegriff, der sich der Sprache mit rücksichtsloser Zärtlichkeit, mit schöpferischer Neugier bedient, um, mit diesen und anderen schillernden Eigenschaften, Leidenschaften und Eigenheiten ausgestattet, Distanzüberwindung zu seiner Sache zu machen. Hermes, der Trickster.969
Im Zentrum des »Projektes ›Vorzeitbelebung‹« steht eine Auseinandersetzung mit Euripides’ und Borchardts Bakchen als akustischem Sprachkunstwerk. Das unter dem Titel »Bakchische Epiphanien« aufgerufene Schreckbild eines zerrissenen Körpers ist in eine poetologische Reflexion eingebunden: Der zerrissene Körper ist die conditio des dem »Geräuschgott« gewidmeten Kunstwerkes. Er stellt die sprechkünstlerische Ausgangslage des im Sinne Klings ›hermetischübersetzenden‹ Gedichts dar, das das zerrissene Material aufsammelt und den Fundstücken das poetische Wort ›ablauscht‹ bzw. ›abliest‹. Klings Poetik geht also von der schamanistischen »Gliederverstreuung«, von der »Wortauswerfung« und »Wortverwerfung« im Gesprochenen aus. Die Schrift entsteht aus diesem poetischen »Schamanismus«, der mit seinen »vielgestaltig-vielgliedrigen Initiationsriten« den zerstückelten Körper neu zusammenfügt: »Die gesprochene, hin auf die Einzelteile gesprochene Schrift. / Die Schrift – Die Heilung«.970 Die Poetik der »Gliederverstreuung« führt zur ›Schrift der Heilung‹. Diese mündet jedoch nicht in eine symbolische Synthese. Die Verschiebung vom zerstückelten Körper hin zum zusammengefügten Text ist eine handwerkliche und zugleich ›göttlich‹ inspirierte Herstellung oder »Installation« einer konstellativen Mehrstelligkeit der Sprache. Die Herstellung der sprachlich-akustischen wie auch metaphorischen Mehrstelligkeit aus dem zerstückelten Körper- und Geschichtsmaterial, die in ihrer Struktur an das mehrteilige metaphorische Bildfeld der Allegorie erinnert, ist die Arbeit des Dichters als Schamane oder als Heilsgott Äskulap. Mit der Poetik einer ›auf die Einzelteile hin gesprochenen‹ und ›heilenden‹ Schrift ist Klings ambivalente Annäherung an die Klassik und feldanalytisch an den Bereich der arrivierten Avantgarde angezeigt: Angestrebt wird die Position des göttlich inspirierten, schamanistischen Dichters. Dessen installatorisch-›heilendes‹ Sprachwerk trägt in sich – im Unterschied zum klassischen opus operatum, das in der geschlossenen Form alle Spuren
969 Itinerar (»Hermetisches Dossier«), S. 54. 970 Zitate aus Auswertung der Flugdaten (»Schamanismus« u. »Poetik«), S. 60 f.
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seines Herstellungsprozesses verschleiert und verneint – die Markierung oder Spur, die Erinnerung an den zerstückelten Körper, an das vielstellige (Wort-)Material seiner konstruktivistischen offenen Form, die dem Leser ›energiegeladen‹ zur Lektüre als ›Gliederzusammensetzung‹ überantwortet wird.
Stefan George und das Raunen des Dichters Klings Faszination für den Schamanen971 und seine Neigung zu einer charismatischen Rolle mit potentiell gruppen- und traditionsbildender Wirkung spiegeln sich auch in seiner Auseinandersetzung mit dem ebenfalls aus Bingen stammenden Stefan George.972 Für George interessierte sich Kling in dreifacher Hinsicht, wie er in »Der fotogene, der schriftliche und der mündliche George« deutlich macht.973 Am schriftlichen George interessierte ihn erstens die Mallarmé-Nachfolge der artistischen, verdichteten Sprachinstallation.974 In Klings Wahrnehmung war Mallarmés und Georges Verständnis vom schriftlich installierten Gedicht zweitens untrennbar mit einer poetologischen Dimension des Mündlichen verbunden.975 Ferner war Kling vom fotogenen George fasziniert, von dessen Medienbewusstsein und Kunst der Selbstinszenierung, schließlich von seinen charismatischen Herrschaftstechniken innerhalb einer Gruppe von ›initiierten‹ Jüngern. An Klings George-Rezeption lässt sich die Selbstbestimmung und -legitimierung seiner Autorposition ablesen.976 Er orientierte sich an den MallarméSchülern George und Ball, denn beide hatten ein »sichere[s] Gespür für das
971 Kling interessierte sich in dieser Hinsicht auch für Joseph Beuys. 972 Vgl. Kling: »Leuchtkasten Bingen. Stefan George Update«. In: Botenstoffe, S. 32–44. In einigen Erinnerungen an Bingen und in seinem Verhältnis zum Dialekt vergleicht sich Kling direkt mit George (vgl. ebd., S. 36). 973 Auswertung der Flugdaten (»Bakchische Epiphanien III. Der fotogene, der schriftliche und der mündliche George«), S. 66–68. 974 »Da ist Stefan George ganz Schüler Mallarmés, dem er die Konzentration auf das Sprachmaterial verdankt. Auch die Forderung nach größtmöglicher Komprimierung im Text, der nur sich selbst verantworten und bedeuten soll, ist artistisch im Sinne Mallarmés« (»Stefan George, Schülerbibliothek«. In: Botenstoffe, S. 150–152, hier S. 151); »George ist konzeptmäßig, durchüberlegt vorgegangen« (ebd. [»Leuchtkasten Bingen«], S. 36). 975 »Mallarmé sieht das Mündlichmachen der Dichtung als eine Art Probe, in welcher das Schriftliche seine Funktionstüchtigkeit zu beweisen hat« (Itinerar [»Memorizer«], S. 62). 976 So hebt Kling in Georges Gedicht »Juli-Schwermut« Aspekte und Anspielungen hervor, die auch für seine eigene Lyrik charakteristisch sind, wie z. B. den »hocherhitzte[n] MemoriaApparat, mit zahlreichen Vanitas-Aspekten«, »Bingen als: Mohn und Gedächtnis!«, das Wespen-Motiv, die Bedeutung der »Oberflächenfunde« und den Gedichtzyklus Georges als »stichhaltige Gedichte« (Botenstoffe, [»Leuchtkasten Bingen«], S. 39 f.).
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ursprünglich Magisch-Theatralisch-Histrionische der Dichtung«.977 Worauf Kling zielte, war »der Dichter als Stylit«. Nach dem Vorbild Hugo Balls geht der »Stylit«, der »Säulenheilige«, als »magischer Bischof« aus einer sprachmächtigen Performance hervor. Der Dichter als »Stylit« ist das Sprach-Medium der »innerste[n] Alchimie des Wortes«:978 »Der Sprachgott spricht durch Balls Mund. In der Mundhöhle spielt sich das Höhlengleichnis ab. Ball spricht unversehens. Der Dichter spricht, lallt, röhrt: eigentlich spricht er die gelöschte Tonspur aller Sprachen«.979 Auch George war ein »Stylit«: ein »Säulenheiliger«, aus dessen formalisierten und stilisierten ›Mundraum‹ die magisch-mündliche Sprache ›hervorquillt‹ (wie die Spruchbänder in den mittelalterlichen Darstellungen von Heiligen oder die ›stromernde‹ Sprache der Natur im arrangierten und medialisierten Bildgedicht bei Kling).980 Die konstellativ stillgestellte Form und die performative Mündlichkeit sind hier untrennbar verschränkt. Entsprechend konterkariert Klings Porträt den pontifikalen, am hohen Stil orientierten Sprachduktus Georges, indem es dessen sekundäre Bearbeitung aufzeigt. Der Akzent wird auf die historisch und kulturregional situierten Selbstdarstellungsstrategien und poetischen Verfahren gelegt. Sie weisen Spuren der Mündlichkeit – rheinische Regionalismen, Jargon und Geheimsprache (Rotwelsch) – auf.981 Das »reine Gedicht« wird aufgebrochen, seine ›Glieder‹ ›verstreut‹. Sichtbar werden die Spuren der Konstruktionen im Werk. Analog wird das Porträt des ›Säulenheiligen‹ George aufgebrochen, geradezu umfunktioniert und damit der klassischen Vereinnahmung entzogen: Die Verehrung gilt dem sprachlichen Herstellungs- und Inszenierungsprozess, dem aus der Selbstinszenierung hervorgegangenen »Stylit« als dem Medium des rauschenden Sprachgottes. Dessen ›Mund‹ poetischer Verlautbarung entsteht mit dem artistisch angeordneten sprachlichen Materialfluss. Bei aller dionysisch-dynamischen Kontrafaktur eines statuarischen George-Porträts: Die »Street Speech« des Gastwirtsohns aus Bingen, »sein rheinhes-
977 Ebd. (»Zu den deutschsprachigen Avantgarden«), S. 18. 978 Ebd., S. 18 f. 979 Ebd., S. 20 f. 980 Vgl. »stromernde alpmschrift 1–8« und »gewebeprobe« in nacht.sicht.gerät (Gesammelte Gedichte, S. 393–402 u. S. 442). 981 »Das ist für mich, vom Wortmaterial her betrachtet, die eigentliche Überraschung, bei George auf ein Rotwelsch-Wort zu stoßen, bei Stefan George, der doch wie kein anderer der deutschen Dichtung für kolossale Erhabenheit, für erhabene Kolossalität steht« (Auswertung der Flugdaten, S. 119); vgl. dazu auch Korte: Thomas Kling, S. 26.
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sischer Slang – Achtung: Dionysos Bromios!«,982 zielte nicht auf eine Verbundenheit mit der Straße,983 sondern war nach Kling seine »Geheimwaffe«, sich von Konkurrenten im Stil abzugrenzen.984 Hier wird deutlich, dass Kling über einen ausgesprochenen Sinn für Konkurrenzpositionen, Distinktionen und strategische Gruppenbildungen verfügte. Seine Rezeptionen reflektierten auch seine eigene Stellung im literarischen Feld. So sah er in der Verwendung von Rotwelsch in Georges Gedicht »Hexenreihen« »Abgrenzungsstrategien« und »arkane Vorgänge«.985 Über die Thematisierung der Abgrenzungsstrategien Georges, die sich auf die Abwehr von Nachahmern und Konkurrenten wie Hofmannsthal und Borchardt richteten,986 reflektierte Kling seine eigenen Positionskämpfe mit Grünbein. Dieser wird mit Hofmannsthal 987 und zum Teil auch mit Borchardt analogisiert.
982 Auswertung der Flugdaten, S. 66. 983 »George haßte die Straße, haßte auch in der Sprache alles Barocke. Das formal Durchgestylte hielt ihn und seinen Kreis zusammen« (Botenstoffe [»Leuchtkasten Bingen«], S. 40). 984 »Ich begreife den Einsatz der Rotwelsch-Vokabel durch den rheinischen Dichter-Hierophanten als Mittel klarer apotropäischer Abgrenzungsstrategie« (Auswertung der Flugdaten, S. 119). Die Verwendung rotwelscher Ausdrücke werde von George zu »einem Werkzeug magischen Abwehrzaubers innerhalb des restmagischen Wahrnehmungsinstruments Gedicht gemacht. Das Gedicht als Wahrnehmungsinstrument und Abgrenzungsmittel« (ebd., S. 120). 985 »Es geht um Abgrenzungsstrategien einer Gruppe nach außen, die sich aus der Thematisierung von mindestens zweierlei Sehen, sowie der exklusiv-exkludierenden Wortwahl, ergibt« (ebd., S. 116). Wenn Kling im Rheinländer George und im Römer Sallust »Archaisten« sah, wird erneut deutlich, dass seine Porträts der eigenen poetologischen Positionierung und Legitimierung dienten: »[B]eide benutzten alte Sprache und machten ihre Fundstücke für ihr eigenes Schreiben produktiv, waren also ausgräberisch, als Spracharchäologen, als Wortschatzgräber tätig. Bei George kommt neben der Fundlust eine Abgrenzungsstrategie zum Tragen, deren Teil es ist, daß der archaistisch-moderne Dichter seinen elitären Leser-Cercle zum Wörterbuch treibt« (ebd., S. 118). 986 »stefan george hatte schließlich alle hände voll tun, sein image zu warten; überwachung des nächsten publicity-shots; rausschmiß, wenn nicht pulverisierung, unbotmäßiger, nichtzügelbarer, bekanntermaßen auch aus seinem staff …« (ebd. [»Bakchische Epiphanien III«], S. 66). 987 Mit Blick auf die Gedicht-Auswahl in der Text+Kritik-Anthologie »Lyrik des 20. Jahrhunderts« spricht Kling von einem Ranking als strategisches Schach-Spiel: Während er GeorgeGedichte ausgewählt habe, hätten andere (Grünbein) Gedichte von Hofmannsthal dagegen gesetzt (vgl. Botenstoffe, S. 51); über Hofmannsthal (Grünbein) heißt es in Botenstoffe: »Schon gar nicht zur Debatte steht für mich Hugo ›Chandos‹ von Hofmannsthals näselnde Nervenkunst (ein Begriff Soergels), dessen dünn-aristokratisches Schwammerlsüppchen anderen munden mag« (Auswertung der Flugdaten [»Stefan George, Schülerbibliothek«], S. 150).
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Kling erkennt die ungeheure Kraftanstrengung Borchardts zur sprachlichen »Vorzeitbelebung« an,988 jedoch bleibt er in seinen Augen weit hinter George zurück.989 Rudolf Borchardt? Georges Marathon-Mann. Die dritte Dantemaske einer restaurativen Moderne. Zutiefst neuromantisches Projektions-Modell einer wilhelminisch unterfütterten ItalienMittelalter-Sehnsucht. Sozusagen eine Caprigrotte voll mit den beklopptesten Einfällen! Abgefahrene Sprachstrecken, die zum Sprachschinken, zum reinen Kostümfilm, häppchenweise genießbar nur, sich ballen.990 Es ist der »Peinlichkeitsfaktor Borchardts« einerseits und der »hofmannsthalsche Gehässigkeitsfaktor« andererseits, vor dem sich George durch Strategien des Abstands geschützt habe.991 Borchardts »Bakchische Epiphanien« seien »mit dem Brecheisen« gemacht, »berechnend-ingenieurhaft«, zugleich eine einzigartige, Hollywood-reife Inszenierung einer ›Besessenheit‹, einer »Bakchenraserei […] – einer sprachzerstückelnden Bakchenraserei, die im zwanzigsten Jahrhundert ihresgleichen nicht hat –, und er verwischt seine Reißbrettspuren so perfekt, daß man ihm ohne weiteres sein wilhelminisches Ausflippen abnimmt, denn ein solches ist es zweifelsfrei. Großes Kino! ist man gewillt zu sagen, wirklich großes Kino«,992 das ironisch-sarkastisch mit den Auftritten von Bühnenstars wie Josef Kainz oder später Klaus Kinski verglichen wird: »Textaufsage-Attacken des hochgebildeten Piefke mit dem Haut-goût des Nicht-Aristokraten und dem Talent zum ausdauernden Nervensägen«.993 Anhand von Klings Borchardt-Porträt wird deutlich, wie schnell die Autorposition des ›magischen Priesters‹ in Folklore umkippen kann: Borchardt steht für die Gefahr des lächerlichen Auftritts eines Dichters als Sprachmagier in wilhelministisch verklemmter, ›genie-‹ und ›humorloser‹ Nachahmung: Nachdichten im Sinne von Hinterher-Dichten, also Hinterherhechten reicht ihm nicht. Damit gibt der wahre Dichter sich nicht ab. […] Es muß schon Tiefstes sein bei einem deutschen Dichter. Das muß schon gleich – auf gut goetheanisch, im Sinne des schützenswerten Weltliteraturerbes: »der Antike« – zweimal betont werden. Daß schon zu Weimar, hundert Jahre vor ihm, die Recylingmaschinchen [sic!] emsig geschnurrt haben, blendet er weg.994
In der Figur Borchards reflektierte Kling die Möglichkeit einer Antiken-Nachfolge heute, und damit auch die Möglichkeit einer Autorposition des ›klassischen‹
988 Der Ausdruck geht auf Borchardt zurück, der 1930 im Zusammenhang mit seinen PindarÜbersetzungen von einer »stilumsetzende[n] Vorzeitbelebung« sprach (vgl. ebd., S. 121). 989 »Während sein Erzfeind George seine Bücher konzeptuell durchzukonzipieren die Nerven hatte, blieb bei Borchardt allzuviel liegen. Blieb Stückwerk, glimmender Entwurf« (ebd. [»Bakchische Epiphanien IV«], S. 71). 990 Botenstoffe (»Venedigstoffe«), S. 138. 991 Auswertung der Flugdaten (»Bakchische Epiphanien II. Zur Borchardtschen Antikenverwaltung«), S. 63. 992 Ebd., S. 64. 993 Ebd. 994 Ebd. (»Bakchische Epiphanien III«), S. 65.
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Dichter-Sehers. In der Destruktion der manieristischen Antiken-Pose Borchardts steckte der polemische Seitenhieb auf den Antipoden Grünbein, der sich einst als Vertreter des ›blutenden‹ Körper-Gedichts in Frontstellung zur abstrakten, ›kastrierten‹ Avantgarde-Lyrik Czernins gerierte, um anschließend die klassische Antike zu besingen. Das »große Kino« Borchardts meint zugleich die »Sandalenfilme« Grünbeins.995 Das Borchardt-Porträt kann also als indirekte Replik auf Grünbeins einstiges Angebot gelesen werden, im Rahmen eines ›Avantgarde-Paktes‹ der ›Dichter-Dioskuren‹ das Erbe der ›hohen Stirnen‹ anzutreten (vgl. Fallstudie 3): Der ›nachmallarmésche‹ George (ab Der siebente Ring) und Borchardt (tendenziell Grünbein ab Nach den Satiren) haben, wenn sie als deutsche Dichter in die ›Tiefe‹ der Antike strebten, den sakralen Status des Gedichts und des Dichters überschätzt.996 Nicht in der Antikerezeption an sich, sondern im Streben nach Tiefe sah Kling die Gefahr einer karikaturistischen Folklore für den Autor in heutigen, medialisierten und das ›Dichter-Amt‹ marginalisierenden Zeiten. Wenn der Autor heute noch als ›Säulenheiliger‹ auftreten und nicht in eine manieristische Folklore zurückfallen möchte, muss er laut Kling notwendigerweise zugleich seine sekundäre Bearbeitung, seine Stilisierung und Medialisierung wie auch das »Recy[c]lingmaschinchen« der ›klassischen Tiefe‹ reflektieren. Er muss Abstand vom Streben nach Tiefe nehmen und stattdessen nach der sprachartistischen Oberfläche streben. Der Weg zum ›Säulenheiligen‹, zum »Memorizer« einer Kulturgemeinschaft in der Gegenwart, führte für Kling also wesentlich über die Inszenierung: über die Mimikry oder Camouflage des tonangebenden Dichters.
Die Camouflage des Avantgardisten Neben der Sprachartistik faszinierte Kling an George am meisten dessen charismatische Selbststilisierung anhand »zahlreicher durchinszenierter Porträtfotos«.997 Es ist vor allem das »Medien-Phänomen G.«, für das sich Kling interessierte:998 Dessen »Medienkontrolle« – der exklusive George-Druckstil, das Ab-
995 »Wenn den Antikefreund das Fell juckt, er aber kein Gefühl für Geschichte hat? Dann bekommt man Kostümfilm – Sandalenfilme aus den Grünbein-Studios« (ebd. [»Dionysos 1900«]), S. 49. 996 »Das präzise Wahrnehmungsinstrument Gedicht, das kleinste subkutane Bewegungen der Sprache sichtbar und hörbar zu machen versteht, dieses steinalte Präzisionswerkzeug, dem George und sein nicht minder herrischer Antipode Rudolf Borchardt, beide von bedeutender Bockbeinigkeit, noch soviel Zündkraft zugetraut haben, in grotesker Ignorierung der längst eingetretenen Marginalisierung des Dichters« (ebd. [»Zum Gemäldegedicht«], S. 120). 997 Botenstoffe (»Leuchtkasten Bingen«), S. 35. 998 Vgl. ebd., S. 35–37.
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druckverbot in Printmedien, die Autorporträts etc. – setzte sich aus einer spezifischen »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck), aus einer Mischung von Öffentlichkeitsscheu und bewusster Selbstinszenierung, zusammen. Letztere bestand im Kern aus einer »starke[n] Betonung des Visuellen und Ornamentalen«, wie Kling aus Benns Rede auf Stefan George (1934) zitiert.999 Das Visuelle und Ornamentale charakterisiert nicht nur die Arbeit an der Sprache, sondern auch die Medialisierung und Inszenierung der eigenen Autorposition in Form von Masken zur Herstellung einer charismatischen Herrschaft innerhalb eines »engsten Jüngerkreis[es]«: Mallarmé, der große Buch-Süchtige und Sprachverweigerer, pflegte gerade mal im engsten Jüngerkreis Eigenes vorzulesen. Hierin vor allem ist ihm George gefolgt, der das maskenhaft Performative betonende Weihespielliebhaber (Dante-Verkleidung!); stilisierter noch, aufs antikisch Feierliche bedacht und durchaus histrionisch.1000
Im Zeichen des »Histrionischen« – der stilisierten Mimikry und des »maskenhaft Performative[n]« – vermischen sich das Material und sein Artikulationsmedium, der Autor als ›magischer Bischof‹. Masken der ›inneren‹ und ›äußeren Landschaften‹ greifen hier ineinander.1001 Die inszenierte Mimikry oder Camouflage (hier: die Verkleidungen Georges, aber auch Klings Camouflage in der Gestalt Georges), der poetische Umgang mit Masken und Verkleidungen, dient der Destruktion von Identitätsbehauptungen zugunsten einer sprachlichen, generativen und reflexiven Konstruktionsarbeit. Die Masken werden ›geöffnet‹, ihre Brüche und Medialität markiert, ohne ein ›Eigentliches‹ dahinter zu zeigen. Die Anwendung wechselnder »sprachlos-sprachvolle[r] Masken« verweist auf eine metamorphotische Selbstbestimmung ohne feste Identität. Die bei George beobachteten »Verkleidungslüste[ ]« sind auch ein poetologisches Selbstbekenntnis von Kling.1002 Ebenso sind Mimikry und Camouflage Verfahren seines »Gemäldegedichts« und seiner Porträts, deren sprachartistische Konstruktion zudem einen Kommentar beinhaltet:1003 Das Aufsetzen von 999 Ebd., S. 37; mit einem einzigen Benn-Zitat wirft Kling ein Schlaglicht auf die politische Problematik von Benn und George: »(›aus der Georgerede habe ich die politisch überflüssigen Stellen entfernt‹, Benn an Oelze 1950)« (ebd.). 1000 Itinerar (»Memorizer«), S. 62. 1001 »Das waren die gespaltenen Masken der (inneren) Landschaften von Bingen. Teilansichten dieser sprachlos-sprachvollen Masken« (Botenstoffe [»Leuchtkasten Bingen«], S. 41). 1002 Ebd., S. 35; vgl. Klings diverse Autorporträts. Insbesondere seine Camouflage als Schamane (Fotos in Schreibheft 65 [2005] u. 76 [2011]). 1003 Kling stellte eine direkte Verbindung zwischen dem Gemäldegedicht und der »Camouflage« über das Wortfeld »Malen« her. Ihn interessierte das Sprachspektrum »Mal, Zeichen, Schriftzeichen, Schrift«: »Die Schminke ist im Althochdeutschen ›ougmal‹, hier wird also auch – in wirklich jeder Hinsicht – gemalt. Es werden Zeichen gesetzt: schau her – ich bin’s!
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Masken ist zugleich deren metamorphosierende Umfunktionierung als ›Abwehrzauber‹ gegen Vereinnahmung. Hier zeigt sich die Abgrenzung vom Streben nach Klassizität, das im Nobilitierungssektor herrscht. Im Verhältnis zum flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich weist die Camouflage als chamäleonartig wechselnder Umgang mit Masken zunächst eine Ähnlichkeit mit dem popliterarischen Verfahren der Ironie als Ausdruck der dort geforderten Kontingenz-Kompetenz auf. Was aber Klings Camouflage, die fast durchweg einen satirischen Unterton hat, von der Ironie als Schreibweise der flüchtigen Gegenwart unterscheidet, ist ihr Verweis auf ein von der Camouflage konstellativ markiertes Zentrum: auf eine – durchaus jüdisch-christlich konnotierte – Schmerzpoetik: Ja, das Gedicht braucht, wie das Gemälde, den »schmutzigen Daumen«, wie es Sigmar Polke einmal gesprächsweise formuliert hat. Und unter seinem Nagel darf und muss ein Blutrest sein. Denn: daß das Gedicht sehr wohl, auf diese letztlich dokumentierende Art, die Funktion des (selbstverständlich didaktikfreien) Blutzeugen erfüllen kann, steht für mich weiterhin außer Frage.1004
Klings Celan-Rezeption Dass Klings zeichen(auf)lesendes »Gemäldegedicht« eine Schmerzensspur eingeschrieben ist, geht vor allem auf die poetische Rezeption Paul Celans zurück.1005 Die Rezeption Celans war für die neue ›sprachschöpferische‹ Linie in der Lyrik seit den neunziger Jahren von zentraler Bedeutung, insbesondere für Kling, Waterhouse und Beyer.1006 Kling bevorzugte Celans mittleres und spätes Werk (ab Sprachgitter) und lehnte eine biografische und ausschließlich leidensexistentielle Rezeption ab.1007 Ferner wandte er sich gegen die Iso-
Mein Gesicht: zwischen Schönheit und Camouflage« (Auswertung der Flugdaten [»Zum Gemäldegedicht«], S. 111). 1004 Ebd. (»Jagdzauber«), S. 127. 1005 Vgl. zum Folgenden Hermann Korte: Säulenheilige und Portalfiguren? Benn und Celan im Poetik-Dialog mit der jüngeren deutschsprachigen Lyrik seit den 1990 er Jahren. In: Karen Leeder (Hg.): Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog. Amsterdam, New York 2007, S. 109– 137; Markus May: Von der »Flaschenpost« zum »Botenstoff«. Anmerkungen zu Thomas Klings Celan-Rezeption. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 197–213. 1006 Vgl. Korte: Säulenheilige, S. 122–131. 1007 Den »Einfluss des biografistischen, das Seh- und Urteilsvermögen entscheidend beeinträchtigenden Cocktails, dessen Ingredienzien in variierenden Mischverhältnissen nach wie vor Traumata-Psychose-Suizid heißen«, lehnte Kling ab (Thomas Kling: Sprach-Pendelbewegung. Celans Galgen-Motiv. In: Text + Kritik, 53/54 [32002]: Paul Celan, S. 25–37, hier S. 25; vgl. Korte: Säulenheilige, S. 124; u. May: Von der »Flaschenpost«, S. 205.
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lierung des ›hermetischen Gedichts‹, die ins Abseits drängende Zuordnung Celans in die »geschlossene Abteilung Gedicht«, der Enzensbergers gesellschaftspolitisch relevante Lyrik gegenübergestellt wurde.1008 Sein Interesse richtete sich auf einen poetischen Zugang zu Celan, auf dessen Bestimmung des Gedichts als »Atemwende« und als Dialog von Stimmen.1009 Kling knüpfte an »die spektrografische Möglichkeit des Wortes« 1010 und die »›unabdingbare Vielstelligkeit des Ausdrucks‹ (Celan)« an.1011 Celan galt ihm als eine Stifterfigur des Konzepts der »Sprachpendelbewegung«, die für den Konnex von schriftlicher und mündlicher Sprache, Materie, Körper, Memoria und Gewalt steht.1012 Celans Galgen-Motiv interessierte ihn vor allem als poetologisch-sprachästhetisches Prinzip, die historischen und persönlichen traumatischen Shoa-Erfahrungen klammerte er aber weitgehend aus.1013 Die in Sprachgitter ausgeloteten spektrografischen Möglichkeiten des Wortes, die Entfaltung der etymologischen und semantischen Tiefendimensionen und ihre Oszillation, hat Kling insbesondere in der Verbindung eines botanisch, geografisch und physiologisch Stofflichen weitergeführt. So schließt die intertextuelle Reminiszenz im Gedicht Mundraum Manhattan Zwei an Celans Konzept einer von Auslassung, Hermetik, wörtlicher Sprachpräzision und zugleich drohender Aphasie geprägten Sprache eines traumatischen Erlebens an.1014 Dabei sprengt Kling Celans »Galgenperspektivik« auf und betont eine bislang weitgehend ausgeblendete Seite, nämlich die der Sprachlust, der Spracherotik als Ergänzung einer Sprache des Traumas. Die von der Celan-Forschung stark betonte biografisch-existentielle Dimension kehrt in Klings Blick nur vermittelt wieder: über den stets präsenten Zusammenhang von Sprache und Gewalt und in der Wiederkehr der Celanschen Verbindung von Atem und Dichtung im späten »Gesang von der Bronchoskopie« (Auswertung der Flugdaten) des an Lungenkrebs erkrankten Autors.1015
In Klings Celan-Rezeption spiegelt sich einmal mehr die eigene Poetik: Celans Gedichte werden auf das Verfahren der formalen Pendelbewegung zurückgeführt, die im Zusammenhang mit einem kulturgeschichtlichen Raum das Spektrum des Wortes auslotet oder genauer: dieses zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ›ausschraffiert‹.1016 Dem Gedicht ist eine »stratigrafische Memo-
1008 Kling: Sprach-Pendelbewegung, S. 25; vgl. S. 26. 1009 Paul Celan: Der Meridian und andere Prosa. Frankfurt a. M. 1988, S. 58; vgl. Korte: Säulenheilige, S. 125. 1010 Kling: Sprach-Pendelbewegung, S. 27. 1011 Itinerar (»Sprachinstallation 2«), S. 26. May weist darauf hin, dass Kling hier Celan selektiv zitiert, dessen Kernaussage, dass es im zeitgenössischen Gedicht (1958) vor allem um »Präzision« gehe, unterschlägt (vgl. May: »Flaschenpost«, S. 201). 1012 Vgl. ebd., S. 202; u. Korte: Säulenheilige, S. 129. 1013 Vgl. May: »Flaschenpost«, S. 201. 1014 Vgl. ebd., S. 211 f. 1015 Vgl. ebd., S. 210. 1016 »Die Sprachen malen sich an den Orten ab, wo Menschen siedeln« (Kling: Sprach-Pendelbewegung, S. 28). »Oft benutzt Celan im Gegenschnitt, beziehungsweise in Überlagerung, oder sagen wir in stratigrafischer Schichtung funktionierende Formen von Schriftlichkeit und Mündlichkeit. Diese Mündlichkeits-Schriftlichkeits-Töne sind oft dem O-Ton, dem Gesprächston oder einem originalen Erzählton […] nachempfunden« (ebd., S. 29).
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ria(l)-Strategie« eingeschrieben.1017 Durch den Dialog mit den Stimmen der Toten wird es zur Gedächtniskunst. Celans bzw. Klings sprachinstallatorisches Gedicht zielt auf die »Großsekunde« (Celans »Atemwende«), auf ein »Sprach(en)-Gedächtnis«, auf die »zeitrafferisch-verschwindende Memoria-Apparatur«: »Es geht um geschichtliches Bewusstsein, festgemacht an genauem Sprach(en)-Gebrauch«.1018 Das »Sprach(en)-Gedächtnis« ist dem »Voice-overVerfahren« im Bereich des Films vergleichbar: Bilder werden mit Stimmen aus dem Off synchronisiert. Es sind Stimmen von anonymen oder vergessenen Toten und Gewaltzusammenhängen, die von einem Geschichtsbewusstsein zeugen. Mit den Stimmen aus dem Off entstehen die (Sprach-)Bilder und doch sind sie nicht mit ihnen identisch. Das von Celan übernommene »Voice-over-Verfahren« ist ein Verfahren der sprachlich hergestellten (Gedächtnis-)Bildstörung. Das Verfahren der »Sprach-Pendelbewegung«, das für Kling mit dem im Werk Celans immer wieder auftretenden Motiv des Galgens verknüpft ist,1019 verweist schließlich auf den nicht direkt benennbaren, aber mit der Sprachbewegung ›ausschraffierten‹ Ort einer monströsen Gewalt. Von daher erklärt sich Klings besonderes Interesse für »numinose, unheimliche Hinrichtungsstätten«.1020 Die in der ›ausschraffierenden‹ Sprache liegende Erinnerungsfunktion richtet sich auf sozial ausgegrenzte Orte und Personen: auf geografisch abseits gelegene Stätten und auf Personen mit ›unehrlichen‹ Berufen wie Henker, Scharfrichter, Schinder, ›Galgenvögel‹, Gaukler und fahrende Leute, die die nicht schriftlich verwendeten, sozial ausgegrenzten und stigmatisierten Sprachen wie Rotwelsch oder Argot sprechen. Die für Celan biografisch begründete zentrale Bedeutung des Gedächtnisses jüdischer Opfer tritt bei Kling im allgemeinen Kontext der Ausgegrenzten auf. Sein Interesse gilt vor allem den oben genannten Berufen und sozialen Aussenseitertypen, in denen er seine Autorposition gespiegelt sieht. In Celans Gedichten begegnet Kling schließlich auch die »Botanik des Grauens«, bei der vor allem eine sagenumwobene Zauberpflanze sein Interesse erregt: die Alraune.1021
1017 Ebd., S. 29; vgl. Korte: Säulenheilige, S. 129. 1018 Kling: Sprach-Pendelbewegung, S. 30. 1019 Kling verweist auf den Vers »Oh-diese-Galgen-schon-wieder« in Celans Gedicht »Huhediblu« (in Niemandsrose) (Vgl. ebd., S. 27 f.); vgl. z. B. auch folgende Verse aus Celans Gedicht »Stimmen« (Sprachgitter): »Stimmen vom Galgenbaum her, / wo Spätholz und Frühholz die Ringe / tauschen und tauschen«. 1020 Ebd., S. 28. 1021 Ebd., S. 34. Mit Blick auf Celans Gedicht »Huhediblu« bringen für Kling die »Alraunenfluren« das »Beilwort« hervor (ebd., S. 33).
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Die sagenhafte Alraune ist für die Kulturgeschichte der Alchimie von besonderer Bedeutung: Die angeblich aus dem Samen eines Gehängten gewachsene Alraune hat eine besonders lange, an eine Menschengestalt erinnernde Wurzel. Sie ist »eine[ ] Zauberpflanze, die – ethnologisch gesehen – mit einem Schrei stirbt und deren Entstehung mit dem Sperma eines Erhängten verbunden ist«.1022 Beim Ziehen dieser Wurzel entsteigt dem Boden ein Klagelaut, ein Raunen. In Klings allegorischem Verständnis von Celans »Sprach-Pendelbewegung« verbinden sich in der letzten, »letalen Atemwende« am Galgen Schöpferkraft (»Ejakulation«) und Todesschrei (»Röcheln«): [D]iesen Todes-Geburts-Schrei, der allgemein als nicht jedem Ohr zumutbar beschrieben wird, stößt die zauberkräftige Alraune aus, wenn sie vom Galgenplatz, zu zauberischer Verwendung, aus dem Erdreich entfernt wird.1023
Auch in H. C. Artmanns Gedicht »interior« stößt Kling auf die Verszeile »im scheuen gewort der alraune« und sein Kommentar ist gleichermaßen CelanRezeption wie poetologische Selbstbestimmung: An diesem »scheuen gewort« ist Artmanns innersprachliches Arbeitsvorgehen zu beobachten; der Sprach(en)fachmann, ein Liebhaber zeitlich wie räumlich abgelegener Sprachschichten, serviert, mit »gewort«, englisch »whort«, ein altes Wortwurzelgemüse, zu dem natürlich der »würzsamen« gehört – und den läßt er mit sich selbst rätseln. Er jagt die Sprache, wie nebenbei und in genau dosierten Bildern, auf sich selbst zu! Wirft die »zauberknöchelchen«, seine getöteten, abgestorbenen Sprachgeschwister, sich selbst zu und wartet, was sie (gewissermaßen als System kommunizierender Röhren) mit sich zu treiben verstehen. Der Dichter braucht eigentlich nur die Transmutation zu steuern. Im Sinne der Lust am Text des Roland Barthes kann er »›einen neuen alchemistischen Zustand der Sprachmaterie in Erscheinung treten … lassen‹«.1024
Klings Celan-Rezeption, sein Umkreisen einer ›Poetik des Schmerzes‹ im Sinne einer »Lust am Text« (Barthes) kann man kritisch gegenüberstehen.1025 Mit der tödlichen Krebserkrankung und mit dem letzten, bilanzierenden Band rückt die ›Camouflage des Schmerzes‹ 1026 aber in ein anderes Licht. Sie erweist sich als eine eigenständige Weiterführung von Celans Dialog mit ›fremden Stimmen‹ im Wissen um das eigene Verstummen.
1022 »Totentanzschrift, Fotomaterial. Wiener Vorlesung zur Literatur«, »Ein frühes ArtmannGedicht« in: Botenstoffe, S. 73–76, hier S. 76. 1023 Kling: Sprach-Pendelbewegung, S. 34. 1024 Botenstoffe (»Totentanzschrift, Fotomaterial. Wiener Vorlesung zur Literatur«), S. 76. 1025 Beispielsweise wenn Kling in »Mundraum Manhattan Zwei« im Zusammenhang mit den Opfern des Terroranschlages durch die Zeile »und siedelten in der Luft« auf Nelly Sachs’ Gedicht O die Schornsteine und auf Paul Celans Todesfuge anspielt (»Manhattan Mundraum Zwei«, 8. Abschnitt. In: Gesammelte Gedichte, S. 728). 1026 Vgl. Hubert Winkels: Tiefenzeit – Gespiegeltes Leid. In: H. W.: Der Stimmen Ordnung, S. 116.
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Die Klings gesamtes Werk prägende Aufnahme ›fremder Stimmen‹, die Intertextualität, nimmt im letzten Band eine besondere Wendung. Auswertung der Flugdaten (2005) ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass angesichts der Lungenkrebserkrankung das eigene Verstummen ›besungen‹ wird (vgl. den Eröffnungszyklus »Gesang von der Bronchoskopie«). In dem ersten Gedicht »Arnikabläue« wird in einer Bergbau-Metaphorik der eigene ›Stollen‹ inspiziert. Auch hier ist die poetische Sprache ein präzises Wahrnehmungsinstrument, überlagert von der tatsächlichen medizinischen Untersuchung der Lunge. Die medizinisch-textuelle Inspektion fördert Zeichen des körperlichen Zerfalls und das Grauen vor der Stimmauflösung zu Tage: wie man eintäufte in meine brust, rumfuhrwerkte darin und loren proben abtransportierten, nix von gemerkt – frantic […] so franzst grafit, in selbsteintäufung, mir’s hochgebirge aus. […] Indem sich der ›ausfransende Sprachspeicher‹ Kling selbst zum Gegenstand der poetischen ›Erkenntnismaschine‹ macht, werden fremde Stimmen freigesetzt: vor allem die ›Atem‹-Stimme Paul Celans, aber auch die von Benn, Hölderlin und Heine aus seiner »Matrazengruft«.1027 Wenn Klings frühes Werk durch den ständigen Wechsel von Sprechinstanzen und harten Brüchen geprägt war, zeigt der letzte Gedichtband eine Sprechinstanz, die sich aus einem fließenden, inneren, d. h. intertextuellen Dialog mit anwesenden, ›abgelagerten‹ Stimmen zusammensetzt.
Der im Wissen um den nahenden Tod geschriebene Band Auswertung der Flugdaten deutet bereits im Titel auf eine Bilanzierung, was von der poetischen Stimme bleiben wird. Das Wissen um die Auflösung und die Gefahr, ins Vergessen zu geraten, lässt Kling mit Hölderlin die Frage nach der Mnemosyne stellen. Hölderlins Eingangsverse der zweiten Fassung des Gedichts – »Ein Zeichen sind wir, deutungslos / Schmerzlos sind wir und haben fast / die Sprache in der Fremde verloren« 1028 – ist die intertextuelle Grundlage für Klings »Auswertung der Flugdaten«. Diese Intertextualität nimmt im Gedicht »Unbewaffnete Augen. Mnemosyne. Fest. Spielhaus.« ihren vielleicht radikalsten Ausdruck an:1029 Den auf Trakls Gedichte, aber auch auf Buñuels Film Un chien andalou anspielenden »unbewaffneten Augen«, die sich dem Blick auf die eigene Lage nicht mehr verweigern können, zeigt sich der nahende Tod als »finale camouflage: / das gedächtnis verfliegt«. Die unausgesetzt auf den Platanen landen-
1027 Vgl. Aniela Knoblich: »The old men’s voices«. Stimmen in Thomas Klings später Lyrik. In: Ammon, Trilcke, Scharfschwert (Hg.): Das Gellen der Tinte, S. 214–237, bes. S. 224. 1028 Friedrich Hölderlin: Sämtliche Gedichte. Studienausgabe in zwei Bänden. Hg. u. komm. v. Detlev Lüders. Wiesbaden 21989, Bd. 1, S. 363. 1029 »Unbewaffnete Augen«. In: Gesammelte Gedichte, S. 887 f.
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den »signallose[n] häher«, die der starre Blick aus dem Klinik-Fenster registriert, sind gleichermaßen Sinnbilder des Todes wie auch der poetischen Stimme. So hält das Gedicht die verzweifelte ›Lage‹ der Mnemosyne zwischen Auflösung und ›Lauern‹ auf eine (christlich konnotierte) ›Zuwendung‹ fest: alt- und kurzzeitgedächtnis in lösung begriffen, in auflösung: gänzlich. unbegriffen. daten, alle daten auf rasur. kennungen? meine kennung. […] so liegt sie. so liegt mnemosyne. zuwendungskürze allein erlauernd: denn das ist würdig und recht.1030
Die Autorposition Thomas Klings im Avantgardekanal Im Motiv der Alraunwurzel und genauer: mit ihrem ›Ziehen‹, allegorisierte Kling ein Kernmerkmal seines eigenen poetologischen Verfahrens. Feldanalytisch übersetzt ist damit eine mit seiner Autorposition verbundene Variante des ›Raunens‹ im Avantgardekanal benannt, verstanden als Behauptung einer schamanisch-auratischen Bedeutung des Dichteramtes und seines poetischen Wortes im Bewusstsein seiner sekundären, d. h. artifiziellen und medialen Natur, seiner partikularen und ephemeren Existenz und seiner gesellschaftlichen Marginalisierung durch das Vergessen in der Zeit. Versucht man resümierend die Autorposition Klings im vertikalen Avantgardekanal zwischen »Avantgarde« und »Ästheten« und im Verhältnis zum horizontal ausgerichteten flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich zu bestimmen, geben die Autorbilder, die Kling insbesondere in seiner zweiten Laufbahnphase ab Mitte der neunziger Jahre vertrat, Anhaltspunkte, die sich nun feldanalytisch beschreiben lassen: Ausgehend vom ›fahrenden (Punk-)Sänger‹ im subkulturellen Milieu innerhalb einer dominant horizontal ausgerichteten ›neuen‹, sprachexperimentierenden Avantgarde orientierte sich Kling über seine Konzeption des Gedichts als »Sprachinstallation« zunehmend an größeren Kulturräumen und längeren, kunstautonomen Traditionslinien,
1030 Ebd., S. 888.
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insbesondere auch der bildenden Kunst. Literarische Anerkennung erfuhr er nicht nur im ›Szene-Milieu‹, sondern in wachsendem Maße auch von den ›eingeweihten‹ Pairs des eingeschränkten, kunstautonomen lyrischen Subfeldes, so zum Beispiel in Person Friederike Mayröckers. Als Lyriker strebte er eine über Szene und Milieu hinausgehende »Memorizer«-Stellung an. Die sich in Klings Laufbahn abzeichnende paradoxe Bewegung eines avantgardistischen Strebens nach einem ›häretischen‹ und zugleich ›priesterlichen Standbild‹, das für eine Kulturgemeinschaft eine Gedächtnisfunktion ausübt, verweist ex negativo auf die ›Kanalisierung‹ der kunstautonom-avantgardistischen Autorposition: auf den Kampf um Anerkennung als avantgardistische ›Größe‹ jenseits einer Nischenexistenz, in der die radikalen sprachkonstruktivistischen Avantgardisten (wie Priessnitz oder Czernin) verbleiben. In diese Nische wollte Kling nicht abgedrängt werden. Daher rührt seine verschärfte Wahrnehmung einer wachsenden Konkurrenz zu Grünbein, dessen Autorposition spätestens mit der Verleihung des Büchner-Preises 1995 repräsentative Weihen erhalten hatte und sich im Nobilitierungssektor etablieren konnte. Das Ziel einer Memorizer-Position, einer ›Zauberer‹- und zugleich ›Priester‹-Rolle als Medium des »Sprachgottes« und des kulturgeschichtlichen Materials, spiegelt sich auch in Klings Auseinandersetzung mit der Antike und mit Autoren der Hochkultur, die sich in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre intensivierte. So ist sein »Projekt: Vorzeitbelebung« von paradoxer Art: Es geht hier um die Evokation des bis auf die Antike zurückgehenden Priesteramtes des Dichters im Modus seiner sprachmorphologischen und medialen Destruktion, exemplarisch figuriert in den »Bakchischen Epiphanien« und in dem zweigestaltigen Götterbild des »Hermes und Bromios« in Auswertung der Flugdaten. In dem Ideal einer »Memorizer«-Stellung äußert sich das Begehren nach einer charismatischen Priester-Persönlichkeit, die eine auratische Erkenntnis-, Verkündigungs- und Gedächtnisfunktion für eine Kulturgemeinschaft ausübt. Im Unterschied zur klassischen, statuarisch-repräsentativen Autorität des Autors und seines Werks im Nobilitierungssektor orientierte sich Kling dabei weiterhin an den ›fahrenden‹ Gauklern und Buß- und Volkspredigern, die »[m]ediengeschichtlich eine wichtige Unterhaltungs-/Machtposition besetzten«.1031 In der Faszination für die charismatische »Massenanheize« nach dem Vorbild der Sprachmystiker Kuhlmann und Abraham à Santa Clara1032 zeigt sich Klings ambivalente Autorposition, die sich aus der Herkunft aus dem subkulturellen Milieu, aus dem dort herrschenden Umgang der ›Magier‹ oder ›Zauberer‹ mit den Epiphanien der ›Jetzt-Zeit‹ – mit dem Kontingenten, dem Ökonomisierten
1031 Vgl. Itinerar (»Memorizer«), S. 59. 1032 Vgl. ebd., S. 60.
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und Medialisierten –, einerseits und aus der vertikalen Zielrichtung auf ein Priesteramt innerhalb der Avantgarde-Tradition andererseits zusammensetzt. Der vom Mittelbereich ›affizierte‹ vertikale Aufstiegswille Klings im Avantgardekanal äußert sich auch in den angewendeten Techniken des Verschwindens des Autors und zudem in der sich selbst bespiegelnden Faszination für das »stilisierte Autor-Porträt« eines Wolkenstein oder George.1033 Die vektorielle Bestimmung der Autorposition Klings im Spannungsbereich zwischen dem autonomen Avantgardepol, der populärkulturellen, horizontal ausgerichteten ›Avantgarde‹ im Mittelbereich und der charismatisch nobilitierten, kunstautonom-vertikal ausgerichteten Autorposition veranschaulicht vielleicht am besten das Bild des ›ziehenden Styliten‹: eines Hybridwesens zwischen dem fahrenden Sänger oder Gaukler und dem statuarischen Säulenheiligen, aus dessen Mund(-raum) die Aura der poetischen Sprache ›raunt‹, d. h. im Falle Klings: konstellativ hergestellt und zugleich ›gliederverstreuend‹ zerstört wird.1034 Dieser Spannung, die die Autorposition zu ›zerreißen‹ droht, begegnete Kling unter anderem mit dem Verfahren der Camouflage.1035 Es ersetzte bei ihm die ästhetischen Verfahren des Erhabenen, die für die Behauptung der ästhetischen Position im Nobilitierungssektor charakteristisch sind 1036 und ästhetisch zwischen der Schönheit und dem Schrecken vermitteln, indem sie letzteren transformieren und verdrängen. In Klings ›Raunen‹, im Anspruch auf eine universale auratische Stellung, die über das subkulturell-avantgardistische Milieu hinausgeht, äußert sich sein paradoxes Streben nach einer ›avantgardistischen Klassik‹, die Artistik und Handwerk einerseits und das Priesteramt als Medium einer höheren Erkenntnis und Gedächtnisfunktion andererseits in der Selbstinszenierung als Schamane verschränkt. Der Schamane ist ein Auserwählter, dem ein bestimmtes Wissen zur Heilung des Zerstückelten weitervererbt wurde. Der ›Größenwahn‹ von Klings Autorposition lag in der (Selbst-)Inszenierung des antik-klassischen Autors als ›Gott der Sprachkunst‹. Diese Position entstand aus der permanenten avantgardistisch-inspiratorischen Brechung. Die hermetisch-histrionische Poetik Klings arbeitet mit masseninszenatorischen volkstümlichen und subkulturellen Elementen sowie Ele-
1033 Vgl. ebd., S. 59 u. S. 61. 1034 Diese ambivalente Zwischenposition wird auch an einigen Selbstporträts Klings deutlich, so z. B. in dem Foto, auf dem Kling das in Stein stilisierte Porträt Wolkensteins nachahmt. Dieses Foto wird von jenem kontrastiert, das Kling beim Beobachten der palimpsest-artigen Schichten einer Deckenbemalung zeigt (mit Details, die auf das Motiv des Dämonischen verweisen; vgl. Itinerar, S. 61 u. S. 65–67). 1035 »Es werden Zeichen gesetzt: schau her – ich bin’s! Mein Gesicht: zwischen Schönheit und Camouflage« (Auswertung der Flugdaten [»Zum Gemäldegedicht«], S. 111). 1036 Vgl. hierzu oben: Zweiter Teil, II. 2.2.2.
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menten der regionalen Kulturgeschichte. Diese stehen in einer Gegenbewegung zur Inspiration und Aura des Priester-Dichters, der nur für Eingeweihte spricht. So führte Kling die Linie des artistischen, hermetischen Gedichts weiter, indem er sie intramedial durch Techniken der Medialisierung und alltagskulturellen Popularisierung zu modernisieren versuchte. Das ›Raunen‹ Klings lässt sich entsprechend zusammenfassen: Es ist der paradoxe Ausdruck eines um klassische (›priesterhafte‹) Bedeutung avantgardistisch (›häretisch‹) ringenden Autors im reflexiven Umgang mit und zugleich in magischer Abwehr von einem medialen Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. So zeigte sich Kling auf dem Umschlag seines letzten Bandes Auswertung der Flugdaten halb ernsthaft und halb ironisch als ›Säulenheiliger‹, der um die Fragilität seiner erhöhten (Autor-)Position weiß.1037 Mit Thomas Kling – und in seinem Umfeld mit Marcel Beyer, Barbara Köhler, Ulrike Draesner und anderen – ist die Weiterführung einer sprachexperimental-avantgardistischen Lyriktradition im Feld sichtbar geworden. Auch in den anderen Gattungen, in der Prosa und im Theater, gibt es Autoren, die weiterhin, trotz ihres ausgeprägten Bewusstseins der ›entzauberten Zeit‹, in der sie leben, mit einem dezidiert avantgardistischen Schreib-Habitus auftreten. Wie sich ihr kunstautonomer Anspruch manifestiert und inwiefern sich ihre avantgardistische Position behaupten oder nur noch als Phantom zeigen kann, soll nun anhand von zwei weiteren Autorpositionen untersucht werden. Beide gelten als sprachexperimentell-avantgardistisch und wurden auch als solche mit renommierten Preisen ausgezeichnet: Reinhard Jirgl ist Georg-BüchnerPreisträger von 2010 und Elfriede Jelinek wurde 2004 der Nobelpreis verliehen.
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Als Reinhard Jirgl 2010 den Büchner-Preis erhielt, hoben Stimmen in der Literaturkritik hervor, dass dieses Mal zu Recht eine ausgesprochen avantgardistische Literatur ausgezeichnet worden sei.1039 Dagegen meinte Volker Hage be-
1037 Vgl. Knoblich: »The old men’s voices«, S. 230 f. Knoblich deutet Klings ›Wissen um den drohenden Absturz‹ vor allem biografisch. 1038 Folgende Studie ist eine überarbeitete Fassung von Heribert Tommek: »Von Dämmerung zu Dämmerung«. Zum Verhältnis von Moderne, Post-Moderne und Ost-Moderne im Werk von Reinhard Jirgl. In: Viviana Chilese, Matteo Galli (Hg.): Im Osten geht die Sonne auf? Tendenzen neuerer ostdeutscher Literatur. Würzburg 2014, S. 119–134. 1039 »Es gibt gute Gründe, von Reinhard Jirgls Büchern befremdet zu sein: ›In 1 1zigen Augen-Blick war alles=anders ... geworden : kleines, ungesehenes, ohne Müh bis=lang mit dem Gewicht von Staubkörnchen Ertragenes – sonst 1 Lichtflackern 1 vorüberhuschender Schatten,
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reits 1995 angesichts des plötzlich hoch gehandelten Romans Abschied von den Feinden, dass es sich bloß um ein Symptom handle für die »offenbar anhaltende Lust einiger Kritiker, dem Publikum als neu und bedeutsam anzudienen, was Avantgarde von gestern ist«.1040 Jirgl selbst sagte in einem Interview von 2011, dass es ihm gar nicht um »Avantgarde« an sich gehe, sondern allein darum, »dass die Sprache selbst ein Material ist, mit dem man Kunst machen kann«.1041 Diese unterschiedlichen Einordnungen lassen sich fortführen: Einerseits steht Jirgl für eine eigenwillige experimentelle Sprache und Poetik. Andererseits konvergieren die Themen seiner bekanntesten Romane durchaus mit allgemeinen Tendenzen in der Literatur: So konnte Abschied von den Feinden im Kontext der Forderung nach dem »Wenderoman« 1042 gelesen werden und Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit (2005) als Auseinandersetzung mit der seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 veränderten globalen Lage. Die Unvollendeten von 2003 schließlich lieferte einen Beitrag zu den nicht zuletzt durch W. G. Sebalds Thesen zu »Luftkrieg und Literatur« 1997 ausgelösten Debatten um eine neue Gedenk- und Erinnerungskultur angesichts von Flucht und Vertreibung der Deutschen.1043 Die schwankende Einordnung Jirgls zwischen Avantgarde und Manierismus, ästhetischem Eigensinn und allgemeinen Tendenzen äußert sich schließlich auch im Bereich seiner noch wenig beachteten Essayistik. Hier vertritt Jirgl eine schillernde Position. Der Jirgl-Forscher Arne De Winde räumt ein, dass Jirgls Essays nicht nur von Adornos Kulturkritik einer verwalteten Welt, sondern auch vom anti-modernistischen Geist der Konservativen Revolution eines Oswald Spenglers, eines Carl Schmitts und anderer geprägt sei. Der Kritik,
1 Flüstern einst : SCHREIEN jetzt‹. Geht es nicht auch eine Nummer kleiner? Muss dieser Avantgardegestus denn sein? Hat sich derlei nicht längst überlebt? Und ausgerechnet diesem Autor hat die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung nun ihre wichtigste Ehrung, den Büchner-Preis, zugesprochen?« (Tilman Spreckelsen: Mit Hellsicht geschlagen. Diesen Blick auf die Welt hat sonst keiner: Warum der Schriftsteller Reinhard Jirgl ein würdiger Büchner-Preisträger ist. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 7. 2010). 1040 Volker Hage: »Nacht mit Folgen«. In: Der Spiegel, 10. 4. 1995 (wiederabgedruckt in V. H.: Propheten im eigenen Land. Auf der Suche nach der deutschen Literatur. München 1999, S. 144–149). Hage bezieht sich in seinem Urteil auch auf Thomas Hettches Roman Nox (1995). 1041 Jirgl in: »Schreiben ist keine Planwirtschaft«. BZ-INTERVIEW mit dem Georg-BüchnerPreisträger Reinhard Jirgl über seine frühen Lektüren und die Sprache als Material. In: Badische Zeitung, 22. 10. 2011. 1042 Vgl. Christoph Jürgensen: Im Herz der Finsternis. Das »Irr-Wahna-DeDeR« in Reinhard Jirgls Roman Abschied von den Feinden. In: Wirkendes Wort 2 (2005), S. 243–254. 1043 Vgl. Vedder: Luftkrieg und Vertreibung; vgl. auch oben: Zweiter Teil, II. 2.2.3.
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in den Texten zeigten sich ein »[i]ntellektualistischer und massenfeindlicher Elitismus«, ein »anachronistischer Manierismus«, schließlich ein »poststrukturalistisch verbrämter Neokonservatismus (oder sogar Antisemitismus)«,1044 hält aber de Winde den »porösen und rhizomatischen Charakter von Jirgls Werk« 1045 entgegen. Abgesehen davon, dass der Autor ein Übertreibungskünstler sei, der gegen die Gebote der ›politischen Korrektheit‹ die Taktik der Zuspitzung verfolge, würden »jene konservativ-revolutionären Intertexte zahlreichen Transformations- und Perspektivierungsverfahren […] unterzogen, die sie mit neuen inkongruenten Bedeutungen versehen«.1046 Mit dem Hinweis auf literarisch hergestellte »Unschärferelationen« verteidigt auch Clemens Kammler1047 den Autor gegen den Vorwurf einer in den Familiengeschichten der neunziger Jahre auftretenden neuen Empathie mit der deutschen Tätergeneration und ihrer Umdeutung zu Opfern1048 – hier konkret im Roman Die Unvollendeten 1049 an jener Stelle, wo Annas Geliebter, der ehemalige SS-Mann Erich, vermutlich einen KZ-Häftling erschossen hat, dies aber im Ungefähren eines traumatischen Erlebnisses des »Junge[n] in SS-Uniform« zur Darstellung kommt (U 76). Zu berücksichtigen sei, so Kammler, der »Kunstcharakter« der Figur und die durch Perspektivbrüche und unzuverlässiges Erzählen hergestellte »›Unschärfe‹ bzw. Polyvalenz«.1050
In einer zugespitzten Perspektive scheinen sich in Jirgls Autorposition antimodernistische und radikal zivilisationskritische Inhalte einerseits und poststrukturalistisch-avantgardistische Formen andererseits zu vereinen. Um sich der Bestimmung der Autorposition von Jirgl im literarischen Kräftefeld anzunähern, werden im Folgenden die Begriffe der »Postmoderne«, »Moderne« und »Ostmoderne« lediglich als heuristische ›Kraftvektoren‹ herangezogen.
Vektoren I: Klassisch moderne und postmoderne Erzählverfahren Jirgl steht, neben seiner auffälligen avantgardistischen Spracharbeit, auf die noch einzugehen sein wird, für eine demonstrativ experimentelle Poetik. Seine Erzählverfahren stehen im Zeichen der Brüche. Sie weisen modernistische und postmodernistische Elemente auf, wie die »Polyphonie der Erzählstimmen, Stilbrüche, Diskursüberschneidungen, der Verzicht auf narrative Abgeschlos-
1044 Vgl. Arne De Winde: »Das hatte ich mal irgendwo gelesen«. Überlegungen zu Reinhard Jirgls Essayismus. In: Text + Kritik, 189 (2011): Reinhard Jirgl, S. 86–97, hier S. 91. 1045 Ebd., S. 86. 1046 Ebd., S. 94. 1047 Clemens Kammler: Unschärferelationen. Anmerkungen zu zwei problematischen Lesarten von Reinhard Jirgls Familienroman »Die Unvollendeten«. In: David Clarke, Arne De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl: Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterdam, New York 2007. S. 227–234. 1048 Vgl. Harald Welzer: Schön unscharf: Über die Konjunktur der Familien- und Generationenromane. In: Mittelweg 36 (2004), 1, S. 53–64. 1049 Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten [2007]. München 22009; zit. im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle U und Seitenzahl. 1050 Kammler: Unschärferelationen, S. 232.
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senheit«.1051 Schon die frühen Texte, die Genealogie des Tötens (verfasst 1985– 89), der Mutter Vater Roman, Uberich. Protokollkomödie in den Tod (beide 1990) und der »Schichtungsroman« Im offenen Meer (1991) arbeiten mit experimentellen Textcollagen, die disparate Szenen ›schichten‹ und mit reflexiven, essayistischen Kommentarpartien durchsetzen. Die Collage von Bewusstseins- und Realitätsschichten steht zum einen in der Tradition des modernen Großstadtromans, insbesondere in der Nachfolge von Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz.1052 Zum anderen nimmt sie – vermutlich über die Rezeption Uwe Johnsons – die Traditionslinie des Nouveau Roman auf.1053 Die Durchsetzung der Prosa mit reflexiven Kommentarpartien verweist auf den Einfluss des Epischen Theaters von Brecht und des postdramatischen Theaters von Heiner Müller, der auf die Schreibanfänge von Jirgl einen zentralen Einfluss hatte. Insgesamt versteht Jirgl sein Schreiben in der Tradition des Realismus – es handelt sich allerdings um ein Schreiben, das »den inneren Realismus und den äußeren Realismus einer Figur, die Erlebniswelt, die Traumwelt, die reflexiven Ebenen, die ein Mensch mit sich herumträgt«, sprachlich auslotet.1054 Hier kommt die expressionistische und surrealistische Grundlage von Jirgls Schreiben zum Vorschein. Mit der Vorstellung vom Gehirn als ›offenes Meer‹ (in Anspielung auf Strindbergs Roman von 1908), als ›zerebrale Unendlichkeit‹ des Menschen im wissenschaftlichen Zeitalter (in Anspielung auf Benns Denkfigur einer »progressiven Cerebralisation«, die in den Nihilismus führt),1055 entwickeln sich die frühen »Psycho-Protokolle« zu einer Prosaform verdichteter Verweise auf modernistische Autoren von Kafka über Borges bis Beckett.1056 Jirgl führt hier erzähltechnisch Benns Plädoyer für die ästhetische Konstruktionsarbeit und konkret sein Konzept eines »Orangenstils« fort, der die einzelnen Schichten der Realität, die sich um einen zentralen existenziellen Kern gruppieren, gleichwertig und im sachlich-kühlen Ton zur Darstellung bringt.1057 Schließlich gibt es hier einen auffälligen Berührungspunkt mit dem eben-
1051 Werner Jung: »Material muss gekühlt werden«. Gespräch mit Reinhard Jirgl. In: Neue deutsche Literatur 3 (1998), S. 56–70, hier S. 61. 1052 Vgl. Erk Grimm: Alptraum Berlin: Zu den Romanen Reinhard Jirgls. In: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 2 (1994), S. 186–200. 1053 Vgl. Erk Grimm: Reinhard Jirgl. In: Arnold (Hg.): KLG, 55. Nlg. (1997), S. 4 f. 1054 Jung: »Material«, S. 62; vgl. Andreas Meier: Die Rückkehr des Narrativen – Reinhard Jirgls »Deutsche Chronik«. In: Volker Wehdeking, Anne-Marie Corbin (Hg.): Deutschsprachige Erzählprosa seit 1990 im europäischen Kontext. Trier 2003. S. 199–220, hier S. 204. 1055 Vgl. Gottfried Benn: »Nach dem Nihilismus« (in: G. B.: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke. Mit einer Einführung hg. v. Bruno Hillebrand. Frankfurt a. M. 1997, S. 223–231) und »Akademierede« (ebd., S. 449–455). 1056 Vgl. Grimm: Jirgl, S. 4 f. 1057 »Eine Orange besteht aus zahlreichen Sektoren, den einzelnen Fruchtteilen, den Schnitten, alle gleich, alle nebeneinander, gleichwertig, die eine Schnitte enthält vielleicht einige Kerne mehr, die andere weniger, aber sie alle tendieren nicht in die Weite. In den Raum, sie
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falls von Benn geprägten Durs Grünbein, der in dieser Zeit – in der emotional aufgeladenen ›Wendezeit‹ – die ›kalte Verfahrenstechnik‹ einer »neuro-romantischen« Poetik in der Schädelbasislektion (1991) entwickelte. Im Unterschied zu Grünbeins Lyrik kippen aber die literarischen ›Kaltstellungsverfahren‹ bei Jirgl immer wieder um in affektive Hass- und Gewalt-Suaden, die mit ihrem unterschwelligen Pathos an den Expressionismus und mit ihrer sprachlichen Wucht an die Écriture automatique des Surrealismus erinnern.
Der Schreibweise Jirgls wohnt einerseits die halluzinatorisch-traumartige Wucht einer Écriture automatique inne, andererseits ist sie hochgradig reflexivartistisch konstruiert. Die Schichtung eines äußeren und inneren Realismus verbindet sich mit wechselnden Perspektiven und Bewusstseinsströmen in nicht-linearer Ordnung. Dies wird sehr deutlich in Abschied von den Feinden,1058 wo der jüngere Bruder sprachlos, aber erinnerungsmächtig in einem Krankenhaus liegt, während sich der ältere Bruder, nachdem er dem anderen im Krankenhaus die Kehle aufgeschlitzt hat, in einem stehenden Zug Richtung Berlin befindet und über Familienfotos in Erinnerungsbilder versinkt. Erzählen erfolgt hier in der halluzinatorischen Okkupation des oder der feindlich gesinnten Anderen (damit Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob radikalisierend). In dem »Motiv der Usurpation fremden Bewusstseins« 1059 geht Jirgl über Verfahren der historischen Avantgarden und klassischen Moderne hinaus. Er scheint hier Roland Barthes’ und Michel Foucaults Theorie vom »Tod des Autors« erzählerisch umzusetzen: Wie in Hettches ebenfalls 1995 erschienenem NoxRoman entsteht die Möglichkeit des Erzählens erst mit der Tötung des souveränen Erzählsubjekts. »Ich spreche meinen Mörder«, sagt der jüngere Bruder (AF 229). Zusammengehalten wird die auf mehrere Figurenperspektiven verteilte Erzählfunktion durch eine stark ausgeprägte Technik der variierenden Wiederholung von Leitmotiven (etwa die Fliegen oder das »Gesicht einer weißen Füchsin«; AF 35 u. passim), die auch intertextuelle Brücken zwischen den einzelnen Romanen schlagen.1060
Jirgls Schreiben weist ein ungewöhnliches Potpourri, eine Reaktivierung, Verdichtung und Weiterführung von Erzähltechniken der klassischen Moderne, der historischen Avantgarden wie auch des Poststrukturalismus und der Postmoderne auf. Andererseits begründet seine Destruktion des Romans eine neue, emphatische Form von Autorschaft und Narration: Denn bei Jirgl zeigt sich trotz aller Brüchigkeit ein Werk im Sinne eines Œuvres, das auf eine narrative
tendieren in die Mitte, nach der weißen zähen Wurzel, die wir beim Auseinandernehmen aus der Frucht entfernen. Diese zähe Wurzel ist der Phänotyp, der Existentielle, nichts wie er, nur er, einen weiteren Zusammenhang der Teile gibt es nicht« (Gottfried Benn: Das Doppelleben. Zwei Selbstdarstellungen. Stuttgart 1984, S. 149). 1058 Reinhard Jirgl: Abschied von den Feinden [1995]. München 1998; folgende Nachweise nach dieser Ausgabe mit der Sigle AF und Seitenzahl im Fließtext. 1059 Grimm: Reinhard Jirgl, S. 7. 1060 Vgl. Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 208 f.
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Panorama-Schau und auf eine das ganze ›Jahrhundert der Katastrophen‹ umfassende Chronik zielt.1061 Der »Chronik«-Begriff verweist auf die für Jirgls Poetik zentrale Erinnerungsfunktion der Literatur, auf den spezifisch literarischen Zugang zu den »sedimentierte[n] Erfahrungsschichten des Menschen«:1062 »Erinnern: Das heißt immer Wiedergängerei, den Blick aushalten auf die Bruchstellen der Lebenswirklichkeit«.1063 Das erzähltechnische Aufbrechen der Perspektiven und Identitäten des atomisierten Subjekts in der Moderne beruht bei Jirgl auf zivilisations- und diskurskritischen Konzepten einer Archäologie und Genealogie der Macht im Sinne Nietzsches und Foucaults. Das diskontinuierliche Erzählen und die Auflösung des Romans, zu der allerdings der thematische Anschluss an den Familienroman in einer Spannung steht, gründen sich in philosophischer Hinsicht auf das Verschwinden des Subjekts in den ausdifferenzierten Diskursen der Humanwissenschaften.1064 Die zunehmende zivilisationstechnologische Disziplinierung der Menschennatur, insbesondere seiner Leiblichkeit und Sexualität, bildet die posthumanistische Folie, auf der Jirgl die ›Chronik der Deutschen‹ als Chronik einer universalen zivilisatorischen Katastrophengeschichte erzählt, die in Naturgeschichte umschlägt.1065 ›Posthumanistisch‹ ist seine machtgenealogische Gewalt-Narration insofern, als die Figuren bei ihm stets entindividualisiert, typisiert, diskursiv konstituiert und reflexiv-halluzinatorisch gebrochen sind.1066 Andererseits verweist auch sein »Orangenstil« auf den Kern existentialistischen Denkens in anthropologischen Konstanten. Unter Berufung auf Foucaults diskursanalytischen Ansatz kann Jirgl das Narrativ einer fortgesetzten Gewalt entfalten.1067 Wie Grünbein mit der Pawlowschen Konditionierung, schlägt Jirgl mit Foucaults und Agambens Theorie einer Biopolitik die Brücke zwischen der Gewalt der Diktaturen des 20. Jahr-
1061 Vgl. dazu ausführlich ebd. 1062 Arne De Winde, Clemens Kammler: »Schreiben – das ist meine Art, in der Welt zu sein«. Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl. In: Clarke, A. D. W.: Reinhard Jirgl, S. 21–59, hier S. 30. 1063 Reinhard Jirgl in seiner Joseph-Breitbach-Preisrede »Die Diktatur der Oberfläche« (Frankfurter Rundschau,, 25. 9. 1999); zit. n. Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 207. 1064 Vgl. De Winde, Kammler: Gespräch in Briefen mit Reinhard Jirgl, S. 50 f. 1065 Vgl. hierzu die Sebald-Studie oben: Zweiter Teil, II. 2.2.3. 1066 Vgl. die Positionsbezeichnung in Jirgls Mutter Vater Roman. Die meisten Figuren in Abschied von den Feinden oder Hundsnächte haben keine Namen, sondern Berufsbezeichnungen oder sie sind »die Frau mit dem Gesicht einer weißen Füchsin«, die »Fremden« etc. 1067 Vgl. Stefan Pabst: Fortgesetzte Gewalt. Die Wiederkehr der DDR in Reinhard Jirgls Erzählung der Bundesrepublik. In: Daniel Fulda, Till von Rahden (Hg.): Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg. Göttingen 2010, S. 313–335, hier S. 330 f.
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hunderts und den gesellschaftlichen Entwicklungen nach der Wende. Die diktatorische Gewalt hat sich für Jirgl nicht aufgelöst, sondern sie hat lediglich in einer »Zeichenwende« ihr diskursives Gesicht verwandelt.1068 Damit behalten die historischen Gewalterfahrungen der DDR ihre Aktualität für die Kritik einer hegemonialen westlichen Einheitswelt, die sich globalisiert hat. Wie ein roter Faden durchzieht Jirgls Werk der Anspruch auf Zeitdiagnostik, indem der machtgenealogische Übergang von der totalitären Massen- zur entindividualisierten Mediengesellschaft dargestellt wird.1069 In den Fokus der Kritik rücken die Massenmedien, deren Oberflächen-Diskurse zur Herstellung von Konsensgesellschaften Jirgl als fortgesetzte Diktatur wahrnimmt.1070 Seine Kritik der Massenmedien schließt einerseits an die Kritik der »Bewusstseinsindustrie« der Kritischen Theorie an, andererseits versucht sie, Elemente postmoderner Medientheorien, etwa von Baudrillard oder Flusser, aufzunehmen.1071 Das Anliegen, im Medium der Literatur eine fundamentale Medienkritik auf der Höhe der Zeit zu formulieren, übersetzt sich beispielsweise in das erzähltechnische Verfahren der Verlinkung, das in den Romanen Die Unvollendeten (2003), Abtrünnig (2005)1072 und Die Stille (2009),1073 angewendet wird. Die Unterbrechung der chronologischen Erzählordnung durch Vor- und Rückverweise scheint den Erzähltext in einen Hypertext zu verwandeln. Im Unterschied zu Texten wie Rainald Goetz’ Abfall für alle (1999), die nach dem postmodernen Prinzip der vernetzten Synchronizität gelesen werden können, ist die Verlinkung bei Jirgl der Narration einer Chronik nachgeordnet, das heißt, sie dient in erster Linie der Herstellung eines »synchronen Horizonts« von verschiedenen Generationsperspektiven.1074 Außerdem dienen die Links einem textuellen Bildverfahren, einer Allegorisierung, die auf eine in den ›Tiefenschichten‹ der Sprache lagernde ›wilde‹ Bildhaftigkeit verweist (s. u.). Mit Schopenhauer gesprochen steht hier also der medialen, diskursiven Welt als Oberflächen-Vorstellung die textuelle Welt als Wille gegenüber, in der sich die verdrängten Anteile der Geschichte segmentiert zeigen.
1068 Vgl. Andrzej Madeła, Reinhard Jirgl: Zeichenwende. Kultur im Schatten posttotalitärer Mentalität. Koblenz 1993. 1069 Vgl. Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 211. 1070 Reinhard Jirgl: Die Diktatur der Oberfläche. Über Traum und Trauma des 20. Jahrhunderts. In: R. J.: Land und Beute. Aufsätze aus den Jahren 1996–2006. München 2008, S. 33–52. 1071 Vgl. Reinhard Jirgl: Abtrünnig. Roman aus der nervösen Zeit [2005]. München 2008, S. 543 f., wo sich die bibliografischen Hinweise auf Vilém Flusser (Die Geschichte des Teufels. Hg. v. Andreas Müller-Pohle. Göttingen 1996) und auf Jean Baudrillard (Der Geist des Terrorismus. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 2002) finden. 1072 Jirgl: Abtrünnig; Nachweise im Folgenden aus dieser Ausgabe mit der Sigle At und Seitenzahl im Fließtext. 1073 Reinhard Jirgl: Die Stille. München 2009; Nachweise im Folgenden aus dieser Ausgabe mit der Sigle S und Seitenzahl. 1074 Aleida Assmann: Wie Buchstaben zu Bildern werden. In: Susanne Strätling, Georg Witte (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 191–202, hier S. 197.
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Jirgls ›posthumanistisches‹ Erinnerungskonzept 1075 beansprucht, das politisch Unbequeme, das Körperlich-Schmerzhafte der Geschichte, das insbesondere in der neuen »Berliner Republik« das offizielle, repräsentative Gedenken verdränge, vor dem Vergessen zu bewahren. In der Forschung wurde Jirgls Anliegen mit Sebalds Schreiben verglichen und als Erinnerungspoetik von »Schmerzensspuren« bezeichnet, die »auf halluzinatorische Weise Spuren einer nicht verarbeiteten Vergangenheit, einer nicht ins Bewusstsein vorgedrungenen Gewalt« entdecke.1076 Die einübende Erinnerung an die Präsenz von Katastrophenszenarien – davon handelt auch Jirgls Büchner-Preisrede1077 – kann man als »postmoderne Mythoskritik« einer neuen Unbefangenheit, eines neuen, universalen Fortschritts- und Technikglaubens in Deutschland nach der Ende des Kalten Krieges verstehen.1078 »Postmodern« ist diese Kritik insofern, als sie im Bewusstsein der Unmöglichkeit einer absoluten Wahrheitsposition stets einen erzähltechnischen und epistemologischen Zitatcharakter beibehält. Des Weiteren stößt man bei Jirgl hinter dem Spielerischen und Simulierten auf ein ›ernstes Anliegen‹ der Dekonstruktion, auf eine Art negativer »Ethik des Schreibens«.1079 Diese »Ethik« versteht der Autor als Zulassen bestimmter Dinge, die von außen kommen, die Erscheinungen, die meist mit Gewalt verbunden sind und sich im menschlichen Dasein, bei dem natürlich die Großstadt überaus prägend ist, fortwährend ereignen.1080
Dieses ernste Anliegen lässt sich noch genauer bestimmen: Es ist ein spezifisch deutsches Unbehagen an der Kultur als Zivilisation, die als Gewaltform einer Massengesellschaft wahrgenommen wird. Allerdings ist Jirgls literarisch und
1075 In der Forschung wurde zu Recht bemerkt, dass es nicht ausreiche, Jirgls Erzählverfahren mit modernistischen Etikettierungen wie »symbolistisch«, »expressionistisch« und »surrealistisch« zu versehen. Vielmehr handle es sich um den eigensinnigen Versuch, »eine Sprache für eine authentische, in Vergessenheit geratene Form des Erinnerns und Denkens zu finden« (Birger Solheim: „:??Woher dieses gespenstische Vergessen“. Zur Wiederbelebung moderner und postmoderner Schreibstrategien im Werk von Reinhard Jirgl. In: Ivar Sagmo [Hg.]: Moderne, Postmoderne – und was noch? Akten der Tagung in Oslo, 25.–26. 11. 2004. Frankfurt a. M. 2007, S. 95–110, hier S. 106). 1076 Ebd., S. 107. 1077 Reinhard Jirgl: Praemeditatio malorum – Schreiben am mitternächtigen Ort [BüchnerPreisrede]. (http://www.deutscheakademie.de/druckversionen/DankredeBuechner.pdf; abgerufen am 15.1.13). 1078 Vgl. Solheim: Wiederbelebung moderner und postmoderner Schreibstrategien, S. 103. 1079 Jung: »Material«, S. 61. 1080 Ebd.
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essayistisch formuliertes Unbehagen, sein Anliegen, über die Mythen der Massengesellschaft ›aufzuklären‹, selbst wiederum mythologischen Charakters.1081
Vektoren II: Antimodernistische Erzählstoffe Schaut man sich den Erzählstoff näher an, aus dem Jirgls Romanwelten gebaut sind, wird deutlich, dass der Autor an einem großen »Werk«, an einer »Deutschen Chronik« schreibt. Diese knüpft an die Tradition des »Familienromans« an, wenngleich unter dem Zeichen des Zerfalls. Jirgls »Werk« weist – darin dem Mythos vergleichbar – wiederkehrende Konstellationen und Variationen auf, wie Erk Grimm herausgestellt hat.1082 Wiederholt stehen einsame, vor allem männliche, typisierte Figuren im Zentrum – Ärzte, Juristen, Ingenieure, Schriftsteller, Journalisten, Grenzsoldaten. Wiederholt treten sie in Wiedergänger-, Doppelgänger- oder Vater-Sohn-Konstellationen auf. Dabei sind die Figuren von einem schicksalhaft geerbten Leben geprägt, dem die selbstbestimmte Lebenszeit gestohlen wurde. Sie stehen in einer unglücklichen Beziehung zum anderen Geschlecht sowie in einem vorwiegend von Feindschaft geprägten Verhältnis zur Gesellschaft. Variiert werden Versuche des innerlich vereinsamten und gescheiterten (männlichen) Subjekts, durch Flucht aus dem schicksalhaft vorgegebenen Lebensweg der Verletzungen und der nicht-realisierten Möglichkeiten auszubrechen, sei es über die innerdeutsche Grenze, von der Provinz in die Großstadt oder nach Amerika. Diese Fluchtversuche führen letztlich nur das Scheitern fort – lediglich in Ansätzen gibt es in späteren Romanen, in Die atlantische Mauer und in Die Stille, Hinweise auf gelingende Versuche eines Ausbruchs aus den Schicksalsverhältnissen.
Mit Grimm kann man in Jirgls Werk eine literarische Organisation der eigenen Lebens- und Sozialisationsgeschichte sehen. Die Variationen eines scheiternden Lebensweges weisen enge Verbindungen mit der Biografie des Autors auf.1083 Die Erfahrungen des Lebenslaufes übersetzen sich literarisch in eine Art »Flimmerprosa«.1084 Man könnte Jirgls Narrationen mit einem ›flimmernden‹ expressionistischen Stummfilm vergleichen, in dem mit großer expressiver Geste, allerdings mit monomanischer Sprachlust, fragmentarisierte Erinne-
1081 Vgl. auch Solheim: Wiederbelebung moderner und postmoderner Schreibstrategien, S. 109. 1082 Erk Grimm: Die Lebensläufe Reinhard Jirgls. Techniken der melotraumatischen Inszenierung. In: Clarke, De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 197–226. 1083 Diese sei stichwortartig genannt: Sohn einer sudetendeutschen Familie, Familienerzählungen vom Schicksal der Vertreibung, ein rätselhaftes Verschwinden des Vaters, das Aufwachsen bei der Großmutter in der Provinzstadt Salzwedel in Sachsen-Anhalt, offenbar traumatische Rückkehr zu den Eltern nach Berlin als Jugendlicher, Erfahrungen eines einsamen, sinnentleerten Lebens in der Großstadt. 1084 Grimm: Lebensläufe, S. 200.
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rungsbilder aufflackern. Den Untertitel bilden wiederkehrende, zum Teil durch die typografisch und orthografisch Schreibweise akzentuierte Motti, Leitmotive und Sentenzen, die durch alle Brüche, Spiegelungen und Variationen hindurch gleichbleibende Muster bilden. Als durchgängiges Thema der ›Untertitel‹ in Jirgls Narrationen erscheint ein gnostisches Verhältnis zur Welt: Wie bei Heiner Müller, dessen postdramatisches Theater er in gewisser Weise in der Prosa weitergeführt, zeigt sich bei Jirgl in den ›Eingeweiden‹ der modernen Stadt und ihrer Menschen das Leitthema einer Thanatologie.1085 Leben heißt in Jirgls Romanwelten nicht nur Leiden an einer Krankheit, sondern vor allem ein Töten und ein Dasein zum Tode.1086 Im Kern verweist Jirgls lebensphilosophisch-expressionistische Thanatologie wie bei Müller auf die Tragödie des Untergangs des einstmals ›großen‹ und in modernen Zeiten geschlagenen Helden bzw. erniedrigten Menschen.1087 Das auffälligste Spannungsverhältnis in den variiert wiederholten Lebensläufen ist das zwischen dem einsamen Ich und einer bedrohlichen Umgebung. Dieses Verhältnis ist durch Ekel, Wut, körperliche Gewalt bis hin zu Vernichtungsfantasien innerhalb eines sich ewig perpetuierenden Krieges geprägt. Die Doppelgänger- oder Vater-Sohn-Verhältnisse (in Die Unvollendeten auch die Verhältnisse von Großmutter, Mutter und Tochter) allegorisieren über das Thema der untergehenden Familie die ›Blutsbande‹ der schicksalhaften Verstrickung. Einerseits wird die geerbte Schuldverstrickung der Täter hervorgehoben, andererseits prägt Jirgls Romanwelten auch eine ›unscharfe‹, zwielichtige Empathie mit der Tätergeneration und ihren Erben, die – unter der Prämisse der »Zeichenwende« – als Opfer der universalen Gewalt- und Herrschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts dargestellt werden. Dabei vermeidet Jirgl jede Mitleidsrhetorik, er diffamiert geradezu jede Form einer naiven Hoffnung auf Humanität, da diese für ihn nur eine weitere biopolitische Herrschaftstechnik im Sinne Foucaults darstellt. Vom zynischen postmodernen Erzähler unterscheidet ihn aber der Umstand, dass er zugleich einige Figuren mit einem antiquierten moralischen Rigorismus ausstattet.1088
1085 Vgl. Horst Domdey: Produktivkraft Tod. Das Drama Heiner Müllers. Stuttgart, Weimar 1998. 1086 Vgl. Grimm: Lebensläufe, S. 199 f.; Helmut Böttiger: Buchstaben-Barrikaden. Von Reinhard Jirgls Anfängen bis hin zu »Die Stille« – ein in sich stimmiger ästhetischer Kosmos. In: Text + Kritik, 189 (2011): Reinhard Jirgl, S. 14–24, hier S. 15: »Das ›Töten‹ bildet den großen Motivkomplex«. 1087 Vgl. Reinhard Jirgl: Das Verlöschen des Helden: nach »Berlin Alexanderplatz«. In: Akzente 42 (1995), H. 4, S. 332–341. Der Essay beinhaltet eine krude Interpretation des ›Helden‹ Franz Biberkopf als Symbol für das »Schicksal der Semiten«: Deren Beschneidung wird mit Freud als »Kastration als eingetauschtes Überleben« gelesen, wodurch sich der »›Selbsthaß der Juden‹« erkläre (ebd., S. 335, Anm. 1). Analog ergehe es dem Einzelnen, der in der Massengesellschaft nur durch ›Kastration‹ überleben könne! 1088 So etwa Johanna Rosenbach in Die Unvollendeten, die man mit Uwe Johnsons Gesine Cressphal verglichen hat (vgl. Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 217).
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Die schon erwähnte Technik der Wieder- und Doppelgängerfiguren kann als gespaltene Ich-Konstitution vor der Kontrastfolie der bedrohlichen Anderen gedeutet werden.1089 Jirgls narrativer Kosmos durchzieht eine Opposition zwischen einem eremitischen, schreibenden oder meditativen ›Möglichkeits-Ich‹ und einem urban-getriebenen, massenhaften ›Wirklichkeits-Ich‹.1090 Sinnfällig wird dies z. B. in Hundsnächte (1997),1091 wo der eremitisch in der Abbruchruine hausende und dahinsiechende Bruder als personifiziertes Autorprinzip einzig und allein über den Akt des Niederschreibens der Erinnerung auf Zettelchen sich verzehrend überlebt, während die Dorfgemeinschaft und die Abrisstruppe draußen nur darauf warten, ihn endlich als ›Beute‹ der modernen Zeiten niederwalzen zu können. Die ›Zweikammern‹-Ich-Konstitution vor der Kontrastfolie der »Anderen« als »EINEMASSE« (H 252 u. 488)1092 basiert bei Jirgl auf der Grundannahme einer fundamentalen, existentiellen Heimatlosigkeit, Fremdheit und Feindschaft unter den Menschen. Die traumatisch wiederkehrende, angstbesetzte Abwehr des Menschen als Masse, scheint auch eine spezifische Reaktion auf das oktroyierte Idealbild des kollektiven Menschen in der DDR zu sein.1093 Die Ausgrenzung des Fremden als ›Abtrünnigen‹ wird in der Konfrontation mit der Dorfgemeinschaft offen ausgetragen. In der Großstadt Berlin und gesteigert in Manhattan (in Die atlantische Mauer) potenziert sich die repressive Einheitswelt in neuen Formen. Der in der Massengesellschaft seiner individuellen Würde beraubte Mensch gehört zu den »Schmutzigen Menschen«, wie das erste Kapitel in Abtrünnig heißt. Es sind die »Kimmerier« (vgl. Die Stille, 2. Buch), die an der Schwelle zum Reich des Dunklen, im Untergrund der Stadt – in Bombentrichtern und Kellern – leben: Im Unterschied zu Wolfgang Hilbig steigert sich bei Jirgl deren melancholische Wahrnehmung des urbanen Raums als Trümmerlandschaft mit ihren untoten Bewohnern in einer sprachorgiastischen Suada bis hin zur Fantasie eines Mordes oder eines Amoklaufs des erniedrigten Individuums (so in Die atlantische Mauer und in Abtrünnig). Was Jirgl mit sei-
1089 Vgl. Grimm: Lebensläufe, S. 199. 1090 Vgl. ebd., S. 202. 1091 Reinhard Jirgl: Hundsnächte [1997]. München 2001; folgende Zitate nach dieser Ausgabe mit der Sigle H und Seitenzahl im Fließtext. 1092 Vgl. Grimm: Lebensläufe, S. 203. 1093 Vgl. z. B. At 229: »In 1 fettigen Welt auf den Behörden-Weg vom Waisenhaus ins Wohnheim, & immer vor Gesichter blass mit bösartigen Mündern. In schwitzige Zwangsgemein= schafft aus niedergehaltnen Willen, schäumigem Wahn & Lärm, Trillerpfeifen & Befehlen«; vgl. auch Jürgensen: Im Herzen der Finsternis, S. 248; David Clarke: Anti-Ödipus in der DDR. Zur Darstellung des Verhältnisses von Familie und Staat bei Reinhard Jirgl. In: D. C., De Winde (Hg.): Reinhard Jirgl, S. 89–110.
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nen einsamen männlichen Wiedergängern offenbar im Auge hat, ist die Fortschreibung einer Raskolnikov-Figur (vgl. At 203) in einem globalisierten Nihilismus. Damit greift er für seine Symbolisierung der Berliner Republik eine anti-moderne Konstellation auf, die insbesondere aus der Literatur der zwanziger Jahre stammt und aus der Opposition zwischen einer »Massenbiographie des Herdenmenschen« und den »einsame[n] Wegen des Herrenmenschen« besteht.1094 Postnationalistisch gewendet zeigt sich der »Geist des Terrorismus« nach dem elften September 2001 mit Baudrillard als innersystemisches Produkt eines weltweit herrschenden Empires.1095 Im Zentrum von Jirgls Werk geht es also um das sich ausschließende Verhältnis zwischen einer nivellierenden Massenkultur, die das kulturell Andere, Nicht-Konforme ausgrenzt, und dem abtrünnigen, isolierten Menschen, der seinerseits einen Kampf gegen die Konsens-, Mehrheits- und Political-CorrectnessGesellschaft führt.1096 Die moderne Einheitsgesellschaft, für die letztlich Amerika steht, ist allmächtig geworden. Die Massenmenschen in den Städten (die Söhne Kains) stehen im Begriff, den Fremden, also die eigensinnigen Menschen (die Söhne Abels), zu vernichten.1097 Damit wäre aber die dezisionistische Feind-Freund-Opposition im Sinne Carl Schmitts aufgehoben.1098 Aus dieser Perspektive meint dann »Abschied von den Feinden« – ähnlich wie bei Heiner Müller –, dass nach dem Ost-West-Konflikt keine tragische Feindschaft zwischen zwei gleichwertigen, geschichtsphilosophisch nobilitierten Helden mehr möglich ist. Daher ist »Jirgls Hölle [...] die des Kleinbürgertums der DDR«,1099 die globale Ausmaße angenommen hat. Nicht die konkrete Fremdenfeindlichkeit, wie sie Anfang der neunziger Jahre in Anschlägen gegen Asylsuchende in Deutschland manifest wurde (vgl. AF 19 f. u. 43), sondern der Verlust der Tragödienfähigkeit ist das vorrangige Thema von Jirgls Abschied von den Feinden. Die durch die Massenkultur ihrer Tragödienfähigkeit beraubten ›außerordentlichen Menschen‹ werden zu einer Farce, zu Wahnsinnigen mit Terrorfantasien – wie etwa der entstellte Tragöde in Die atlantische Mauer
1094 Peter Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung. Autobiographien der Zwanziger Jahre. München, Wien 1978, S. 81; vgl. Grimm: Lebensläufe, S. 199. 1095 Vgl. Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. 1096 Die Debatten um Political Correctness wurden in Amerika von konservativen Gegenbewegungen angestoßen, um gegen liberale Reformbewegungen – insbesondere der 68 er – vorzugehen; vgl. dazu Ariane Manske: Political Correctness und Normalität. Die amerikanische PC-Kontroverse im kulturgeschichtlichen Kontext. Heidelberg 2002. 1097 Vgl. Richard Herzinger: Masken der Lebensrevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992, S. 131. 1098 Vgl. Jirgl: Land und Beute (»Die Diktatur der Oberfläche«), S. 49. 1099 Böttiger: Buchstaben-Barrikaden, S. 14.
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(AM 314). Sie werden andererseits zu einsam Vertriebenen in einem massenhaften, universalen »Treck« oder »Transport«, der sich in Jirgls Romankosmos von den Deportationen nach Auschwitz über die Vertreibungen der Sudetendeutschen bis hin zum rastlosen Menschen in der globalisierten Welt zieht.1100 Über historische und politische Unterschiede hinweggehend, werden die heimatlosen Menschen zu allegorischen, geschichtsphilosophischen Figuren, zum Homo sacer im Sinne Agambens, in einer nunmehr weltweit die gesellschaftlichen Systeme prägenden Lagerpolitik, in der der Mensch bis zur nackten Körperlichkeit herrschaftstechnisch kontrolliert und verwertet wird.1101 Wenn der Verlust der Tragödienfähigkeit des modernen Menschen einst mit Hamlet als zauderndem Täter begann, so endet er mit dem Homo sacer im globalisierten Lager als Opfer der biomachtpolitischen Systeme im Sinne Foucaults. Was angesichts dieses pessimistischen Geschichts- und Menschenbildes bleibt, ist die literarische Gestaltung des Schreis – in Anlehnung an Edvard Munch – des sich seiner Souveränität beraubt sehenden (männlich-heroischen) Individuums als der letzten Form eines Widerstandes. Widerstand findet hier sein letztes Residuum in der Sprache.
Vektoren III: Das Raunen der Sprache In der Medienkonkurrenz und in der Auseinandersetzung um Gegenwartsdeutung und Gestaltung des kulturellen Gedächtnisses bezieht sich Jirgl auf die Materialität der Sprache. Sie bildet einen gleichsam körperlichen Widerstand.1102 Die Abweichung von der normierten Schriftsprache, Jirgls eigenwillige Orthografie und Zeichensetzung, zielt auf die Sichtbarmachung einer Bildlichkeit und Körperlichkeit im Material der Schriftsprache. Die Wiederkehr der buchstäblich-bildlichen Sprache, der Hieroglyphen, die Re-Ikonisierung der Schrift, kommt bei Jirgl – wie Aleida Assmann herausgestellt hat 1103 – in vier unterschiedlichen Weisen zum Ausdruck: in der orthografischen Besonderheit, die die Wiedererkennung eines Wortes durch verfremdende Schreibweisen und volksetymologische wie auch kalauernde Anspielungen hinauszögert, in der typografischen Annäherung der Schriftsprache an die ge-
1100 Vgl. z. B. U 13: »Tag-der-Transporte […] der-Treck«; 15: »die Züge des Ewigen Deportierten aus allen Ländern«; 29: »– diese Ur-Angst aller Deportierten –«. 1101 Vgl. Heribert Tommek: Das allgegenwärtige Lager und die gestische Stille. Reinhard Jirgls dystopisches Raunen. In: Heinz-Peter Preußer, Viviana Chilese (Hg.): Technik in Dystopien. Heidelberg 2012, S. 87–103. 1102 Vgl. Solheim: Zur Wiederbelebung moderner und postmoderner Schreibstrategien, S. 108. 1103 Vgl. zum Folgenden Assmann: Wie Buchstaben zu Bildern werden, S. 197–199.
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sprochene Sprache, in einer direkten Aufnahme von O-Tönen und phonetischen Dialektsprachen, schließlich in einem Schriftbild, das die Ikonizität einzelner Buchstaben hervorhebt, von denen insbesondere das »O« als Chiffre für die traumatische Konfrontation mit Tod und Verschwinden eine leitmotivische Funktion in Jirgls Werk hat, so vor allem in Die Unvollendeten und in Die Stille.
Die eigensinnig-widerständige, avantgardistisch-experimentelle Orthografie1104 kann in einer Tradition ästhetischer Stilmittel der lyrischen Akzentsetzung und Rhythmisierung gesehen werden,1105 wie sie insbesondere den literarischen Expressionismus kennzeichnet. Jirgls neo-expressionistisches, sprachrhythmisches ›Raunen‹ ist einerseits Ausdruck einer kollektiven Masse, so z. B. das fremdenfeindliche Wir-Kollektiv auf dem Land in Abschied von den Feinden, deren ›Gegenrede‹ gegen das Individuum chorisch-alliterativ und gestisch-tautologisch rhythmisiert ist: »Wir wissen was wir sagen Und wissen was wir von Fremden zu halten haben« (AF 19).1106 Gegen den uniform raunenden Gewaltdiskurs der Masse setzt Jirgl andererseits den mit der Sprache spielenden Kalauer als »Molotov-Cocktail des ›kleinen Manns‹, den er dem gravitätischen Parademarsch des sanktionierten (Kultur-)Sinns zwischen die polierten Stiefel wirft«.1107 Zuletzt tritt zum sprachlichen Kalauer ein sprachlich-existentielles Pathos.1108 Denn Jirgls Technik des ›Raunens‹, die Behauptung des Individuums, das sich seiner Souveränität beraubt sieht, in der diskontinuierlichrhythmisierten sprachlichen Geste, ist auch Schmerz- und Wut-Ausdruck eines gesellschaftlich isolierten und verletzten Individuums. In einer ›total verwalte-
1104 Obwohl Jirgl die Lektüreregeln seiner Orthografie in einem Anhang zu Abschied von den Feinden programmatisch erläutert hat, waren seine »orthografische[n] und sonstige[n] Spezialitäten [...] eine bewegliche Angelegenheit, die sich von Buch zu Buch weiterentwickelt hatten, sich aber auch den Intentionen jedes einzelnen Buchs anzuschmiegen wussten«, wie sein Lektor Wolfgang Matz mit Blick auf seinen letzten Roman Die Stille, dessen Sprache deutlich ruhiger, epischer geworden ist, anmerkt (W. M.: Punkt, Punkt, Komma, Strich. Höchstpersönliche Anmerkungen eines Lektors [= Lesers] zu einigen Eigenheiten im Romanwerk von Reinhard Jirgl. In: Text + Kritik, 189 [2001]: Reinhard Jirgl, S. 69–79, hier S. 74). 1105 Vgl. Matz, der auf den Lyrismus der Jasminszene, in der der Inzest stattfindet, hinweist: »→ Ja: ’s mîn – , – betörender Blütenduft und die Leibwärme 1 Mädchens –!Regen – Tageundnächte im Märzregen vor Dreiundvierzigjahren. – (St 66; Matz: Punkt, Punkt, Komma, Strich, S. 77). 1106 Durch die Großbuchstaben sind gleichsam die Versumbrüche markiert. 1107 Reinhard Jirgl: Das Gegenteil von Spiel ist nicht Ernst, sondern Wirklichkeit! In: Text+Kritik 189 (2011): Reinhard Jirgl, S. 80–85, hier S. 85. 1108 Vgl. Böttiger: Buchstaben-Barrikaden, S. 22: »Kalauer, Satire, Sarkasmus sind bei Jirgl immer in ein existenzielles Pathos hineinverwoben, eine zunächst unmöglich anmutende Verbindung, die bis zum Schluss unmöglich bleibt und dennoch in paradoxer Weise die Sprache dieses Autors trägt«.
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ten Welt‹ (Adorno) wird die gebrochene Sprache zum »letzten Residuum von Individualität«,1109 genauer: zum Residuum eines sprachkörperlichen Widerstandes, dem nur die rhythmisierte, stumme Geste bleibt. Jirgl hat sein Sprachkonzept in einem komplexen Essay zur »Wilden und gezähmten Sprache« 1110 dargelegt. Sein monomanischer Drang nach Expressivität zur Abwehr einer existenziellen Angst beruft sich u. a. auf Benjamins Aufsätze Über das mimetische Vermögen der Schrift und zur Lehre vom Ähnlichen.1111 Angestrebt wird eine mimetische Schreibweise, eine »sinnliche Annäherung ans Unsinnliche der Schrift«,1112 das sich als anonyme Triebstruktur oder als Mythos übersetzen lässt. Denn der individualisierte Ausdruck an der Oberfläche verweist in seinen Rissen auf eine »wilde« Sprache, auf die Sprache des Traums oder der Halluzination, die allerdings nur durch bewusste Konstruktionsarbeit Gestalt annimmt. Durch sie wird der archaische Schrecken bzw. das Trauma benennbar.1113
Dem ästhetischen Gelingen einer mimetischen Konstruktion der »wilden«, raunenden Sprache und Jirgls Anspruch auf sprachliches Pathos sowie auf eine tiefenstrukturelle Machtanalyse kann man durchaus kritisch gegenüberstehen. Interessant ist in jedem Fall die typografische Notation von Punkt, Strich, Komma, Ausrufezeichen etc.: Sie ist der Versuch einer verdichteten gestischen Notation des Todes, die komplementär und zugleich im Kontrast zum machtdiskursiven Lärmen der Welt steht. Die musikalische Partitur der Akzentsetzung1114 ahmt einerseits das digital kodierte Rauschen der modernen Zeit nach. Dieses überführt die inhaltliche Botschaft in formalisierte Zeichen, die für sich bedeutungslos sind und erst in ihrer syntagmatischen Kombination zum Bedeutungsträger werden. Andererseits kann Jirgls schriftsprachliche Partitur, seine orthografische, rhythmisiert-gestische Zeichensetzung, zudem als mimetische Nachahmung des in seinem monomanischen Redefluss unterschwellig verstummenden Menschen in postmodernen und posthumanistischen Zeiten verstanden werden. So durchzieht eine komponierte Stille, ein stummer, aber gestisch-rhythmisierter Schrei, der sich emblematisch im »O« des Wortes »Tod« als Mundraum verdichtet, leitmotivisch und allegorisch Jirgls gesamtes Werk.1115 Im Unterschied zu Klings »Mundraum«-Konzept, das auf einer artisti1109 Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 214. 1110 Reinhard Jirgl: Die wilde und die gezähmte Sprache. Eine Arbeitsübersicht. In: Sprache im technischen Zeitalter 42 (2004), Nr. 171, S. 296–320 (auch in: Land und Beute, S. 92–124). 1111 Vgl. Jirgl: Das Gegenteil, S. 83; u. Jirgl: Die wilde und die gezähmte Sprache, S. 312. 1112 Jirgl: Das Gegenteil, S. 83. 1113 »[D]enn es bedarf«, so Jirgl, »der bewußten Reflexion, im Traumhaften das Mythische zu erkennen und textgerecht einzusetzen« (ebd.). 1114 Vgl. Meier: Rückkehr des Narrativen, S. 206 u. S. 214. 1115 Vgl. Karen Dannemann: Die Spur des schwarzen O und der Schrei. Der Mensch als Opfer der Geschichte in Reinhard Jirgls Romanen. In: Text und Kritik, Nr. 189 (2011): Reinhard Jirgl, S. 38–46. Die Allegorie des zum ›stummen Schrei‹ geöffneten Mundes ist von Edvard Munchs
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schen Poetik der sprachschöpferischen Installation beruht, verweist Jirgls Schrei auf den Kern einer existenzialistischen, neoexpressionistischen Anthropologie.
Vektoren IV: Politische Prägungen 1116 Das Politische der Erzählkonstellationen und -verfahren Jirgls zeigt sich in der für sein Schreiben zentralen Fundamentalopposition zwischen dem einsamen Möglichkeits-Ich und dem gesellschaftlichen Wirklichkeits-Ich, das der ubiquitären Gewalt der Massengesellschaft unterworfen ist. Von dieser Fundamentalopposition leiten sich weitere Grenzziehungen politischen Charakters ab, wie sie aus der Literatur der Jahrhundertwende bis zu den zwanziger Jahren bekannt sind: gemeint sind die Abgrenzungen vom ›Gerede‹ des Journalismus, von Parlament und Demokratie. Hier zeigt sich eine punktuelle Nähe zu einem neurechten Denken, das sich zivilisationskritische, antikapitalistische, antimassengesellschaftliche und anti-globalistische Theorien der Linken angeeignet. Im Falle Jirgls verbindet sich Horkheimers und Adornos Kulturkritik einer Dialektik der Aufklärung, einer das Individuum zerstörenden instrumentellen Vernunft, mit Foucaults Analysen einer Disziplinierungs- und Biomacht. Letztere wurden vom Denken einer neuen Rechten in ihrer Globalisierungskritik insofern aufgegriffen, als sich ihr Rassismus nicht mehr auf die Unterschiede von Blut und Rasse, sondern auf das ›Naturrecht‹ kulturell-ethnischer Unterschiede gegen jede Form von ›Multikulti‹ beruft.1117 Jirgls ›antihumanistische‹ Kritik der globalen, massengesellschaftlichen Nivellierung des ›großen Individuums‹ und seine Ikonografie des ›geschlagenen Helden‹ sind mit dieser Position kompatibel.1118 Zumindest gab es Anfang der neunziger Jahre eine punktu-
berühmtem Bild »Der Schrei« inspiriert (vgl. Die Stille, S. 175). Die Übertragung in das BildhaftBuchstäbliche, der Verweis auf den Buchstaben »O« im Wort »TOD«, findet sich übrigens schon in Heinrich Bölls Roman Billard um halbzehn (»das O von TOD wie ein offener Mund, der einen drohenden Laut zu bilden schien«; dtv-Ausgabe München 1974, S. 169). 1116 Die folgenden Ausführungen gehen zurück auf Tommek: Reinhard Jirgls dystopisches Raunen, S. 89–93. 1117 Vgl. den Hinweis auf den »Ethnopluralismus« in rechten Kreisen bei Grimm: Lebensläufe, S. 225, Anm. 43. 1118 Vgl. z. B. folgende Passage: »[Tiberius’] totalitärer Traum kann Vollendung erfahren in der Spätphase der bürgerlich totalisierten Verwaltungswelt. Ihr Sinn liegt in der Nivellierung der Differenz wie in der Abschaffung des Anderen; ›alle Menschen sind gleich‹ – diese heuchlerische und lügenhafte Formel subalterner Ökonomen ist allemal die beste Waffe in Händen der Rassisten, denn schon der bloße Augenschein auf den Anderen straft die Floskel Lügen« (Jirgl: Das Verlöschen des Helden, S. 339).
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elle publizistische Nähe zur sog. Neuen Rechten.1119 Bei Jirgl gibt es allerdings – im Unterschied zu den Theoretikern einer neuen Rechten – keinen positiven Begriff von Heimat, Vaterland, vom neuen, heroischen Menschen etc. Alle diese Themen äußern sich bei ihm ex negativo in der Kritik der kapitalistisch-demokratischen Massengesellschaften, der Globalisierung, der Massenmedien und der ›Massenmenschen‹. Unverkennbar bei Jirgl ist eine Radikalisierung von Adornos Kritik der Kulturindustrie und der verwalteten Welt, die die individuellen Unterschiede der Menschen nivellieren und zu einem neuen Totalitarismus neigen.1120 In Jirgls essayistischen Schriften überwiegt die kulturkritische Sicht auf die »Diktatur der Oberfläche«,1121 die den Menschen zu einer vergleichbaren und damit beherrschbaren Zahlengröße macht. In der Vision eines totalitär verwalteten, künstlich-maschinellen Menschen führt Jirgl nicht nur die Kritische Theorie weiter. Die in seinen Essays wiederholt dargelegte Diagnose einer ›posttotalitären Welt‹, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihren totalitären Charakter nicht abgelegt, sondern unter anderen Zeichen ausgeweitet habe, knüpft zum einen unmittelbar an die klassische Moderne an, die bereits die wachsende Kluft zwischen einer Utopie der Menschheit und der Geschichte ihrer Zerstörung zum Ausdruck gebracht hatte. Zum anderen führt Jirgl – über Heiner Müller vermittelt – eine Linie innerhalb der DDR-Literatur fort, die in einer Tradition deutscher Zivilisationskritik steht und sich mit Namen und Werk von Oswald Spengler und Ernst Jünger verbindet.1122 Zivilisationsgeschichte schlägt hier in Naturgeschichte um. Jirgl bezieht sich in seiner Kritik der westlichen, globalisierten Zivilisation – inklusive ihres Liberalismus, Kapitalismus, technischen Fortschrittsglauben, Individualismus bzw. der Vermassung, den Massenmedien etc. – vor allem auf Foucaults Konzept der Biopolitik. Inwiefern Jirgls essayistisch dargelegte Machtanalytik mit Denkmustern der Neuen Rechten konver-
1119 Vgl. den zusammen mit Madeła verfassten Band Zeichenwende, der im Siegfried BubliesVerlag erschienen ist. Es handelt sich um einen Verlag der Neuen Rechten (vgl. erstmals Grimms Hinweis in: Grimm: Lebensläufe, S. 216 f.). Auf den letzten Seiten des Bandes finden sich Verlagsanzeigen zu Biografien von Otto Strasser und Ernst Niekisch. Die Aufsätze von Madeła (insbesondere seine Aufsätze »Einige Bemerkungen zum ›Konservatismus‹-Begriff« und »›Volk im Raum‹. Übergangsmomente von Volks- in völkische Literatur« – u. a. zu deutschnationalistischen und antisemitischen Autoren wie Julius Langbehn, Adolf Bartels, Gustav Frenssen, Friedrich Griese und Erwin Guido Kolbenheyer) präsentieren sich in einer kruden, konservativ-revolutionären Traditionslinie, die sich in ihrer postmodern gewendeten Kritik auf die sogenannte »posttotalitäre«, das heißt: unter anderen Zeichen fortgesetzte totalitäre Gegenwart richtet. 1120 Vgl. das Kapitel »Kulturindustrie, Aufklärung als Massenbetrug«. In: Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente [1944]. Frankfurt a. M. 1991, S. 128–176; u. Karen Dannemann: Der blutig=obszön=banale 3-Groschen-Roman namens »Geschichte«. Gesellschafts- und Zivilisationskritik in den Romanen Reinhard Jirgls. Würzburg 2009, insbes. Kap. 10 zur Kulturkritik. 1121 Vgl. Jirgl: Land und Beute, S. 33–52: »Die Diktatur der Oberfläche«. 1122 Vgl. Herzinger, Preußer: Vom Äußersten zum Ersten.
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giert,1123 wäre systematisch zu untersuchen und kann hier nur umrissen werden: Insgesamt verteidigt Jirgl die Rechte des ›eigensinnigen‹ Individuums gegen seine biopolitische Disziplinierung. Was ihn von einer neurechten Argumentation unterscheidet ist, dass er weitgehend 1124 auf organisch-ganzheitliche Gegenentwürfe verzichtet. Was ihn aber mit einer Neuen Rechten verbindet, ist – neben seiner Gesamtausrichtung auf eine antiwestliche und antimoderne Zivilisationskritik – die Tendenz zu einem Separatismus, der sich über kulturelle Herkunft begründet, der sich gegen jedes ›Multi-Kulti‹ richtet und der einen problematischen Heimat-Begriff verfolgt. So mahnt Jirgl – selbst aus einer vertriebenen sudetendeutschen Familie stammend – in dem Essay Heimat und imperialistische Utopie. Zur Wiederentdeckung einer Ressource 1125 gegen die vermeintliche Verfemung in Medien und Politik den »historischen Fakt des Land- und Besitzraubes durch Vertreibungsaktionen« an.1126 Er bestimmt Heimat als »Zugehörigkeit zu einer Rasse, einem Volk, einer Nation mitsamt den hierfür spezifisch kulturellen Determinanten«.1127 Zudem tritt er gegen die Globalisierung und ihre imperialistische »Utopie von planetar organisierter Arbeits- und Lebenspraktik« 1128 und für eine kulturelle Grenzziehung ein.1129 Die gleichsam in der ›gesunden Natur‹ des Menschen liegende Heimat, die sich von anderen Kulturen abgrenzt und eigenen Lebensraum beansprucht, werde zunehmend ›Beute‹ einer globalisierten Welt, die die lebensnotwendigen Grenzen bedrohe. Hierin sieht Jirgl die Aktualität von Oswald Spenglers Vision einer »Welt als Beute«,1130 die die Heimat
1123 Intellektuelle der Neuen Rechte haben sich biopolitische Konzepte zu eigen gemacht haben und ihren Rassismus in einer globalisierten Welt nicht mehr biologisch, sondern kulturalistisch-differentiell begründet (vgl. Sebastian Reinfeldt, Richard Schwarz, Michel Foucault: Bio-Macht. Biopolitische Konzepte der Neuen Rechten [Reinfeldt/Schwarz], Leben machen und sterben lassen. Die Geburt des Rassismus [Foucault]. Duisburg 1992). 1124 Ausnahmen betreffen z. B. seine literarischen Frauenbilder. Die geschlechtliche Kodierung der Jirglschen Figuren ist – bei genauerem Hinsehen – konservativ bis regressiv ausgerichtet, da seine weiblichen Figuren fast durchgängig im männlichen Blick naturalisiert werden (vgl. etwa folgende Stellen aus dem Roman Die atlantische Mauer (AM): »Denn schon nach wenig Augen-Blicken hinter ihren Augäpfeln jenes kurze Aufzucken, mit dem Frauen registrieren, daß sie angeschaut werden – (wie !nahe doch bei Frauen stets das Wissen liegt, auch Beute sein zu können)«. »Ohne Zweifel, diese junge Frau-neben-mir im Flugzeug, ihre Ausströmung von Begierde als ein Kräftefeld massiven Willens, zusammen mit jenem sanften Anachronismus ihrer Erscheinung, die sie offenbarte u verhüllte, faszinierte mich vom 1. Augen-Blick« (Reinhard Jirgl: Die atlantische Mauer [2000]. München 2002, S. 296 u. 299). Anführen ließe sich auch die traumatische Urszene in Abschied von den Feinden, das Beobachten des Jungen, wie seine Mutter durch Büttel der Staatsmacht vergewaltigt und geraubt wird. Dieses klassische männliche Trauma der Scham (es geht nicht um die Frau, sondern um den Ehrverlust des Mannes) besiegelt das Schicksal der Brüder. 1125 In Jirgl: Land und Beute, S. 231–249. 1126 Ebd., S. 231. 1127 Ebd., S. 234. 1128 Ebd., S. 240. 1129 »Erst aus der Eingrenzung und Relativität heraus können Charaktere und Fähigkeiten universell sich entfalten und bewähren« (ebd., S. 235). 1130 Vgl. ebd., S. 242, mit Bezug auf Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. München 81986, S. 69. Das Stichwort der »Beute«
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des Menschen auflöse, damit seine Identität bedrohe und ihn so erneut zur Barbarei führe. Letztere nehme im postnationalen Zeitalter nicht mehr die Form nationaler Kriege, sondern bürgerkriegsähnlicher Zustände – vor allem in den Städten – an,1131 die Terrorhandlungen und Amokläufe von (männlichen) Individuen mit sich brächten, die sich an den Rand gedrängt und in ihrer Ehre verletzt fühlten, so wie bei der Hauptperson in Abtrünnig der Fall.
In Jirgls essayistisch-gnostischen Visionen spielen die Opfer von Globalisierung und Technik eine zentrale Rolle: Doch gerade aus der planetaren Verteilungsproblematik, unter dem Dominat von Technik in all ihren Ausformungen inmitten atomisierter Kommunikations- und Konsumgesellschaften, erwächst die Besinnung der einzelnen Akteure auf sich selbst. Und dies bezieht in erster Linie den geschlossenen Heimat-Text der kulturellen Identität als Ressource für die Herausbildung und den Bestand souveräner Grundtypen im Zeitalter immer formloser werdender Massendemokratien als Agens für Entwicklung in sich ein.1132
In diesem Zitat wird deutlich, worauf Jirgls literarische und essayistisch-dystopische Visionen des ›zerstörten‹ Menschenlebens ex negativo verweisen: auf die »Herausbildung und den Bestand souveräner Grundtypen« (Herv. H. T.). Damit ist aber ein Grundmuster vor allem aus der Literatur der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts aufgenommen, das aus der Opposition zwischen einer Massenbiografie des ›Herdenmenschen‹ und den einsamen Wegen des ›Herrenmenschen‹ besteht.1133 Dass Jirgl jedoch um das Ende der positiv bestimmbaren Utopien weiß, wird in dem Essay »Über das Träumen und das Schweigen vom Tod« deutlich, der einen direkten Zusammenhang zwischen »Utopie« (bzw. deren negatives, ›wahres‹ Gesicht in der dystopischen Vision), modernem Subjekt und technischem Leitdiskurs der Gegenwart herstellt.1134 Mit deutlichem Bezug auf Foucault betont Jirgl die stabilisierende Funktion der Utopien für kodifizierte und kodifizierende Systeme. Sie lösten die »Uneinheitlichkeit« des modernen Subjekts und der ausdifferenzierten Welt auf »in die Kohärenz eines Diskurses, der die Ohnmacht und den Irrtum aus der Herkunft vergessen macht. Der Leib bewaffnet sich mit Sprache, den Aberglauben seiner eigenen Kontinuität zu erdichten«.1135 Dagegen sei die tatsächliche Körpergestalt des Menschen »in Diskurse verstreut – so in Diskurse der Medizin, der Soziologie, Ökonomie, der Psy-
scheint für Jirgl das verbindende Element seiner Essaysammlung mit der Zivilisationskritik Spenglers zu sein. 1131 Zwar anders argumentierend, aber zu einem gleichen Ergebnis kommt H. M. Enzensberger in seinem Essayband Aussichten auf den Bürgerkrieg (Frankfurt a. M. 1993). 1132 Jirgl: Land und Beute, S. 248 f. 1133 Vgl. Sloterdijk: Literatur und Lebenserfahrung, S. 81. 1134 Vgl. Reinhard Jirgl: Über das Träumen und das Schweigen vom Tod. In: Madeła, Jirgl: Zeichenwende, S. 106–132. Dem Aufsatz ist ein Motto von Drieu La Rochelle vorangestellt: »Ich heilte mich von der Erde. Indem ich mir einen Himmel schuf; ich nannte ihn Nichts«. 1135 Ebd., S. 109.
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chiatrie und der Justiz«.1136 Die »Ideologisierung des Körpers«,1137 wie sie sich nicht zuletzt in gesellschaftlichen Utopien erweise, verschleiere seine Atomisierung, seine zunehmende Disziplinierung und Dressur.1138 Die verschleierte »Verstreuung« des Subjekts zeige sich deutlich im technischen Diskurs, der – nach dem Ende der ideengestützten Utopien – für das neue utopische Denken stehe: Denn einzig der wissenschaftlich-technische Diskurs vermöge es, die ausdifferenzierten gesellschaftlichen Diskurse zu bündeln und um sich zu zentrieren. Dies könne er durch einen »Nullzustand der Sprache«, der sich aus einer Reihung leerer Zeichen, dem ›Rauschen des maschinenhaft hergestellten Diskurses‹ zusammensetze.1139 So hätten die technischen Metadiskurse einen »Kern aus Utopieen [sic!] ohne Identität«.1140 Analog zur sprachlichen Verschiebung von den Inhalten zur tautologischen Reihung beobachtet Jirgl in der technischen Zivilisationsentwicklung eine »Verlagerung des Zentrums vom menschlichen zum funktionalen Aspekt«.1141 Im Zentrum stehe so das Verschwinden des souveränen Subjekts, an dessen Stelle seine Funktionalisierung gerückt sei.1142 Jirgl erweitert hier also Adornos und Horkheimers Kritik der instrumentellen Vernunft mit Foucaults Machtanalytik. Aus dieser Warte ist nach dem Ende aller inhaltlichen Utopien der technische Diskurs der letzte Metadiskurs, die letzte totalisierende, funktionale Utopie, der sich die Menschen ›freiwillig‹ und massenhaft unterwerfen. Dem gnostischen Blick des Dichter-Essayisten zeigt sich die totalisierende Technik- und Wissensutopie der Gegenwart als ihr Gegenteil: als Dystopie einer umfassenden, totalitären Machtordnung, die den ganzheitlichen Menschen immer weiter atomisiert und regierungstechnologisch diszipliniert. Der moderne Mensch kann sich daher nur noch in der funktionalen Negativität, nicht mehr aber in einer substanziellen Positivität fassen. Die links-rechts-schillernde Weltsicht Jirgls zwischen diskursiver Machtanalytik und antimoderner deutscher Zivilisationskritik endet schließlich in einer Kritik des Spezialistentums des 20. Jahrhunderts und des technischen Diskurses der Gegenwart: Diese stünden – wie der Sexualdiskurs, mit dem der technische Diskurs die letzte verbleibende Kraft zur Totalisierung teile – letztlich für eine Tabu-Ordnung: für ein Verbot der Rede über den Tod.1143 Somit erweist sich im Zentrum von Jirgls essayistischer Weltsicht ein existentialistischer Kern, der mit seinem literarischen Neo-Expressionismus konvergiert.
Ostmoderne? Die ambivalente Autorposition Jirgls Wiederholt wurde Reinhard Jirgl zusammen mit Wolfgang Hilbig, Gert Neumann und Kurt Drawert einer »Ostmoderne« zugeordnet – dies, obwohl dieser Begriff literaturwissenschaftlich keineswegs geklärt ist.1144 Der Begriff ist in
1136 Ebd., S. 110. 1137 Ebd., S. 111. 1138 Vgl. ebd., S. 113. 1139 Ebd., S. 123 (»Nullzustand der Sprache« vermutlich im Sinne von Barthes’ Am Nullpunkt der Literatur). 1140 Ebd., S. 127. 1141 Ebd., S. 123. 1142 Vgl. ebd., S. 117. 1143 Ebd., S. 127. 1144 So findet sich im Metzler-Lexikon DDR-Literatur (hg. v. Michael Opitz u. Michael Hofmann. Stuttgart, Weimar 2009) kein entsprechender Eintrag.
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erster Linie ein Begriff der Literaturkritik. Offenbar ist mit ›literarischer Ostmoderne‹ eine verspätete, dafür aber umso intensivere Rezeption und Weiterführung modernistischer Tendenzen gemeint. Diese setzte erstmals in den sechziger Jahren in Reaktion auf das Formalismus-Verdikt und die Modernefeindlichkeit sowie auf das sozialistische Realismus-Gebot in der DDR ein.1145 Die genannten Autoren einer späteren, in den achtziger und neunziger Jahren formierten ›literarischen Ostmoderne‹ setzen sich in einer besonderen Spracharbeit mit den ›Nachtseiten‹ des modernen Menschen und seiner Zivilisationsgeschichte in einem fortgesetzten Gewaltzusammenhang auseinander. Jirgls »Schreiben am mitternächtigen Ort«, wie seine Büchner-Preisrede von 2010 im Untertitel heißt, scheint in besonderer Weise den Schwellenraum ›ostmodernen‹ Schreibens zu kennzeichnen. Es steht bei Jirgl zum einen für die emphatische Wiederaufnahme der Erzähltechniken des Expressionismus, des Symbolismus, der Dekadenzliteratur und des Surrealismus. Diese werden amalgiert und damit zum anderen auch konterkariert mit dem Bewusstsein (und den Techniken) einer postmodernen Ortlosigkeit, Zirkularität und Vergeblichkeit einer moralisch fixierbaren Wahrheit. Jirgls Position im literarischen Feld ist angesichts dieses komplexen Zusammenspiels oder besser: Zusammenpralls von modernistischen, postmodernen wie auch erinnerungstheoretischen Ansätzen1146 zu situieren. Was heißt das konkret? Der »deutsch-deutsche Literaturstreit« in der Wendezeit, der stellvertretend um Christa Wolf geführt wurde, hat die Gefahr einer symbolischen Abstufung für Autoren der (Post-)DDR erwiesen: So wurde der Universalanspruch der Literatur Christa Wolfs und anderer entwertet und in der Folge zu einer quasi-regionalen Problematik, zur Problematik einer spezifischen »Post-DDR«Identität abgestuft.1147 Alle ostdeutschen Autoren, die im gesamtdeutschen Feld als Referenz bestehen oder hier erstmals mit einer Autorposition Sichtbarkeit erlangen wollten, waren mit dieser Gefahr einer symbolischen Abwertung konfrontiert. Diejenigen, die sich nach der Wende behauptet oder durchgesetzt hatten, konnten dieser Gefahr durch Strategien der Universalisierung von DDRspezifischen Erfahrungen und Deutungsmustern entgehen. Erfolgreiche Universalisierungsstrategien waren etwa bei Ingo Schulze die Entwicklung von Narrationsformen zur Darstellung eines neuen deutsch-deutschen Alltags, bei Durs Grünbein die Anverwandlung erst naturwissenschaftlicher, dann antiker Formprinzipien, bei Uwe Tellkamp die Verwendung klassisch-bildungsbürger-
1145 Siehe hierzu oben: Erster Teil, II. 2.1. 1146 Vgl. Solheim: Wiederbelebung moderner und postmoderner Schreibstrategien, S. 108. 1147 Vgl. hierzu oben: Erster Teil, II. 2.4.
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licher Erzählformen.1148 Auch im Falle Jirgls hängt die Autorposition von einer erfolgreichen Universalisierung seiner DDR-spezifischen Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster ab, d. h. vor allem von ihrer Anerkennung durch westliche Urteilsinstanzen. Ähnlich wie bei Hilbig lässt sich das ›ostmoderne‹ Schreiben Jirgls als eine Universalisierungstechnik fassen, die im Wesentlichen über eine neue Form des Anschlusses an die ›nächtliche‹ Literaturtradition der Moderne funktioniert. Dem entspricht die Autorrolle eines Außenseiters und mehr noch die eines poète maudit. Dazu passt Jirgls beinahe manisches Beharren auf Außenseitertum und ›Selbst-Vereinzelung‹ sowie seine eigentümliche obsessive Fixierung auf das Gewaltpotential historischer Umbruchszeiten unter Berufung auf Nietzsche und Foucault (bzw. Agamben). Dass damit eine zivilisationskritische, erinnerungspolitische Brisanz verbunden ist,1149 zeigt sich vorrangig in Jirgls Essayistik. Zutritt zum gesamtdeutschen literarischen Feld fand Jirgl – wie dargestellt – über das literarische Kapital einer nachgeholten ›Ostmoderne‹, die moderne existentielle Erfahrungen einer totalitären, mythisch-gewaltsamen Gesellschaftsform mit avantgardistischen (Sprach-)Formen synthetisiert. Die Aufnahme dieses modernistischen Erbes belebte nach der Wende den avantgardistischen Pol im literarischen Feld mit Heiner Müller als Vorläufer im postdramatischen Theater. Auch Jirgls literarisches Ansehen stieg kontinuierlich seit Abschied von den Feinden, über Die Unvollendeten bis hin zu Die Stille. Seine Romane wurden als zwar eigensinnige, aber doch adäquate Zeitromane gelesen: ob als Wende-, Berlin-, Deutschland-, Familien- oder Generationsroman. Einen Höhepunkt fand Jirgls literarische Universalisierungs- und Erinnerungsarbeit mit der Verleihung des Büchner-Preises.1150 Die eingangs zitierte Aussage, es gehe Jirgl nicht um Avantgarde, sondern allein um die Sprache als künstlerisches Material, deutet auf das Bestreben hin, eine artistisch-ästhetische Position einzunehmen. Gleichwohl sein Schreiben weiterhin experimentellen Verfahren verpflichtet ist, lässt sich doch im Vergleich zu den frühen Werken ein Nachlassen der ›harten‹ sprachlichen und erzähltechnischen Kollisionen zugunsten eines leichter akzentuierten ›Lyrismus‹ innerhalb eines groß angelegten Zeitromans beobachten (wie z. B. in Die Stille). Jirgls Entwicklung
1148 Vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.4.1.–2. 1149 Vgl. Grimm: Reinhard Jirgl, S. 18. 1150 Ausgezeichnet wurde Jirgl dafür, dass sein »Romanwerk von epischer Fülle und sinnlicher Anschaulichkeit ein eindringliches, oft verstörend suggestives Panorama der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert entfaltet hat […] und dadurch die Stimmen der Vergessenen und Verschütteten für uns wieder hörbar macht« (Büchner-Preis: Urkundentext; www.deutscheakademie.de; abgerufen am 15. 1. 2013).
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in Richtung eines ›arrivierten Erzählers‹ hängt schließlich mit dem sich im Werk immer deutlicher abzeichnenden Projekt der Narration einer ›Chronik der Deutschen‹ als Schicksals- oder Naturgeschichte zusammen. Hier konvergiert Jirgls Autorposition mit der zu Beginn des neuen Jahrtausends einsetzenden Renaissance des historischen Familienromans im literarischen Mittelbereich. Die mythisch überhöhte ›Chronik der Deutschen‹, an der Jirgl schreibt, ist das hart erkämpfte Produkt einer literarischen Universalisierungsarbeit: der Übertragung einer DDR-Erfahrung auf die Kritik der neu entstandenen Berliner Republik und der westlichen globalisierten Welt (in Die atlantische Mauer). Angesichts der Kritik einer globalisierten Gegenwart, wie sie sehr deutlich in den Essays ausbuchstabiert wird, lassen sich Jirgls Narrationen als eine neue Form von Heimatliteratur oder sogar als eine verhinderte deutsche Heimatliteratur charakterisieren. Anders als diejenige »Post-DDR-Literatur«, die nach der Wende in ihrem universalen Anspruch zu einer Regionalliteratur herabgestuft wurde, behauptet Jirgl (im doppelten Sinne) die Universalisierbarkeit seiner spezifischen Weltsicht. Die ästhetische Durchsetzungskraft seiner verhinderten ›Heimatliteratur‹, ihre Stärke, liegt gerade in ihrem Verhindert-Sein, in ihrer Negativität und in ihrem ernsthaften Leiden daran, das sich literarisch in einen stillen, gestischen Schrei übersetzt. Wie sehr allerdings die Autorposition Jirgls »am mitternächtigen Ort« von einem Umkippen seiner literarischen Universalisierung in eine konkrete Regionalisierung und politische Tendenz geprägt ist, zeigt sich darin, dass Jirgl 2010 den Büchner-Preis und 2011 den Kulturpreis der Landsmannschaft der Sudetendeutschen erhalten und angenommen hat.1151 Ob Jirgl im Avantgardekanal langfristig aufsteigt oder nicht, hängt also wesentlich davon ab, inwiefern und in welchen Rezipientenkreisen es ihm weiterhin gelingt, die historisch spezifischen Gewaltzusammenhänge im Zeitalter der Globalisierung literarisch überzeugend zu universalisieren.
3.3 Elfriede Jelinek Ähnlich wie in Jirgls Werk legen auch Jelineks Texte das Gewaltfundament in der Gesellschaft der Gegenwart sprachlich frei. Jedoch gibt es einen entschei-
1151 Zu Jirgls Sicht auf Schuld und Vertreibung der Deutschen siehe seinen Artikel »Endstation Mythos« (in: Frankfurter Rundschau, 24. 3. 2004, Beilage, S. 1). An Walsers Wort von der »Moralkeule Auschwitz« erinnernd, spricht Jirgl von einem »moral bombing, wie insgesamt der Bombenkrieg alliierter Streitkräfte gegen die deutsche Zivilbevölkerung. Das hierfür maßgebliche Rechtsempfinden beruhte auf einem kruden Gut/Böse-Dualismus, dem das moralische Einrasten in Opfer- und Täter-Volk und später dann der Kanon von der Kollektivschuld des deutschen Volkes an den Verbrechen des NS-Regimes folgten. So die eindimensionale
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denden Unterschied: Bei Jirgl wird das mythische ›Raunen‹ der Gesellschaft im tragischen Untergang des einstmals heroisch-souveränen, jetzt aber »schmutzigen Menschen« in Frontstellung zur Masse ex negativo beschworen, während Jelinek es destruiert oder dekonstruiert, wie im Folgenden im Zusammenhang mit der Entwicklung ihrer Autorposition gezeigt werden soll.
Jelineks literarische Laufbahn bis Ende der achtziger Jahre: Eine Skizze Von einer klassischen Musik-Ausbildung kommend, begann auch Elfriede Jelineks literarische Laufbahn am Avantgardepol, hier im spezifisch österreichischen literarischen Feld.1152 Während es in Österreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine größere kollektive literarische Avantgardebewegung gab, bildete sich eine solche in den fünfziger und sechziger Jahren schlagartig aus. Diese Avantgarde setzte sich zunächst aus dem lockeren Verbund der Wiener Gruppe um Oswald Wiener, Gerhard Rühm, Konrad Bayer, Friedrich Achleitner und H. C. Artmann zusammen, zu deren Umfeld unter anderem Ernst Jandl, Friederike Mayröcker oder Elfriede Gerstl gehörten. Artmann verließ schon 1958 die Gruppe, die sich mit dem Selbstmord Konrad Bayers 1964 endgültig auflöste. Unterdessen bildete sich rund um das »Forum Stadtpark« und die von Alfred Kolleritsch herausgegebene Zeitschrift manuskripte die Grazer Gruppe. In diesem Umfeld liegen die literarischen Anfänge von Peter Handke und Elfriede Jelinek. Hinzu kam die Grazer Autorenversammlung, die 1973 als neoavantgardistische Gegenposition zum traditionalistischen, regional und national ausgerichteten österreichischen P. E. N.-Club u. a. von Ernst Jandl gegründet wurde. Artmann war ihr erster Präsident und auch Jelinek gehörte zu den Mitbegründern. Im Verhältnis zu den radikalavantgardistischen, in Subkulturen verankerten Anfängen der Wiener Gruppe stand die von Jandl angeführte literarische Neoavantgarde, die weniger kollektive als jeweils individuelle, selbstreflexive Schreibverfahren verfolgte, für eine zunehmende Institutionalisierung der Avantgarde, die auch staatlich gefördert wurde.1153
Wahrheit«. Mit ihr einhergegangen sei ein »gesellschaftsweites Ausblenden der Vertriebenenthematik« (ebd.). 1152 Zur Existenz eines eigenständigen österreichischen literarischen Feldes vgl. Verena Holler: Felder der Literatur. Eine literatursoziologische Studie am Beispiel von Robert Menasse. Frankfurt a. M. u. a. 2003, S. 31–92. Menasses Schreibweise eines mehrfach kodierten »hermetischen Realismus« nimmt eine Zwischenposition ein, wodurch die Unterschiede der Felder sichtbarer werden: Die Zwischenposition Menasses liegt zwischen einerseits dem deutschen literarischen Feld, das sich zunehmend nach der heteronomen Forderung nach einer neuen ›Lesbarkeit‹ ausrichtet und andererseits dem österreichischen Feld, in dem der autonome Pol eines avancierten Kunstanspruchs noch stärker präsent ist (vgl. Holler: Positionen – Positionierungen – Zuschreibungen, S. 181). 1153 Vgl. Klaus Kastberger: Wien 50/60. Eine Art einzige österreichische Avantgarde. In: Thomas Eder, K. K. (Hg.): Schluß mit dem Abendland! Der lange Atem der österreichischen Avantgarde. Wien 2000, S. 5–26; u. Roland Innerhofer: Avantgarde als Institution? Am Beispiel der Grazer Autorenversammlung. In: Ebd., S. 81–96.
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Von Anfang an war das Schreiben Jelineks an avantgardistischen und modernistischen Strömungen wie dem Surrealismus, Dadaismus, der experimentellen Literatur der Wiener Gruppe bis hin zur zeitgenössischen Pop-Art orientiert. Ihr erster »Hörroman« bukolit (1968, erst 1979 veröffentlicht) ist ein ausgesprochen experimenteller Text, der an Schreibweisen der Wiener Gruppe anschließt, die die Grenze zwischen dem Mündlichen, Schriftlichen und medial Vermittelten aufheben. In einem mit Grafiken versehenen Sprachstrom werden Muster der Werbesprache, des Trivialromans, des Comics und der Pop-Art collagiert. Hinzu kommen schriftgrafische Verfahren der Konkreten Poesie. Inhaltlich geht es um die Gewalt des männlichen Phallus-Prinzips in der Gesellschaft, dessen selbstherrliche ›Natur‹ hier in einer extremen Künstlichkeit und Formalisierung vorgeführt wird.
Jelinek galt in der anfänglichen öffentlichen Wahrnehmung als eine junge, sehr zurückgezogen lebende,1154 aber avantgardistische und politisierte Autorin. Ihre Gedichte und ihre erste Romane sah man noch als unreflektierte, avantgardistisch-modernistische Nachahmungsversuche an, die in einer »vermeintlich anti-bourgeoise[n] Haltung« einen »affektierten Kunst-Anspruch« anmeldeten.1155 In dieser Einordnung spiegelt sich auch der skizzierte allgemeine Wandel der Avantgardebewegung in Österreich, die angesichts der sozialstrukturellen Veränderungen und einer expandierenden Kulturindustrie nicht mehr mit einem ›originären‹ ästhetischen Neuerungsanspruch1156 und auch kaum noch mit dem Anspruch auf eine gesamtgesellschaftliche, politische Vorreiterrolle auftreten konnte. Für Jelineks Schreiben waren um 1970 bereits zwei Einflüsse wichtig, die für ihre weitere Entwicklung maßgeblich werden sollten: zum einen der Einfluss Bertolt Brechts, der für eine marxistische Kritik der Klassengesellschaft und ihrer Ideologie stand;1157 zum anderen die Rezeption von Roland Barthes’
1154 Aufgrund ihrer familiären Situation – die wachsende Demenz des Vaters und eine übermächtige Mutter – und daraus resultierenden Depressionen und Angstphobien lebte die junge Autorin sehr zurückgezogen (vgl. Verena Mayer, Roland Koberg: Elfriede Jelinek. Ein Porträt. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 38–41. 1155 Marlies Janz: Elfriede Jelinek. Stuttgart 1995, S. 2. 1156 Symptomatisch antwortete Jandl 1966 in einem Brief an Raoul Hausmann auf dessen Vorwurf, dass die Neo-Avantgarde nicht mehr originell sei, dass es ihm weniger um Originalität als um »Fertilität«, um die Fruchtbarkeit literarischer Strategien im Werkzusammenhang gehe (zit. n. Kastberger: Wien 50/60, S. 22 f.). 1157 »Ich sehe zumindest mein Nora-Stück als eine Weiterentwicklung des Brechtschen Theaters mit modernen Mitteln der Literatur, den Mitteln der Popkultur der fünfziger und sechziger Jahre, die auch darin bestehen, vorgefundenes Material – pur oder gemischt mit eigenem, aus dem ursprünglichen Zusammenhang gerissen – nebeneinanderzusetzen, um eine Bewußtmachung von Zuständen und Sachverhalten zu erreichen« (Elfriede Jelinek: »Ich schlage sozusagen mit der Axt drein«. In: TheaterZeitSchrift 7 [1984], S. 14–16, hier S. 15).
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Mythen des Alltags ([1954] 1964), die das Modell einer strukturalistischen Semiologie moderner Ideologieproduktion bot. Beide Ausrichtungen verbanden sich in der für Jelinek typischen sprachgestischen Ausstellung massenmedial kodierter Trivialkultur, die zugleich eine kritische Distanznahme vollzieht.1158 Dabei griff die Autorin auf Verfahren der Trivialkultur, der Pop-Art sowie der experimentellen Literatur in der Nachfolge der Wiener Gruppe zurück und entwickelte eine für ihr Schreiben charakteristische intertextuelle Zitiertechnik. Ihre sprachsemiotische Doppelung von Pop- und Trivialkultur zielte auf eine satirische Destruktion von Alltagsmythen der Gegenwart.1159 Jelineks erster veröffentlichter Roman, wir sind lockvögel baby! (1970), gilt als einer der ersten deutschsprachigen Pop-Romane, der die ›Hochkultur‹ vollkommen hinter sich zu lassen scheint. Bei der scheinbaren Aufhebung der Grenzen zwischen hoher und populärer Kultur geht es aber im Kern um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Literatur und Realität, d. h. um einen kunstautonomen Umgang mit der Medialisierung und Ökonomisierung der Kultur.1160 Um die medialisierte Realität zur Darstellung zu bringen, verfolgt Jelinek – ähnlich wie Thomas Kling – ein extrem anti-realistisches, konstruktivistisches Konzept, das sich an den Montage-Prinzipien der Pop-Art orientiert und die Brüche und Kontingenzen der vorgefertigten Sprachmuster und Versatzstücke akzentuiert. Ihre Pop-Art ›entnaturalisiert‹ das Künstliche und arbeitet mit der Ästhetik des seriell reproduzierten Warencharakters von Kunst. Entsprechend greift der lockvögel-Roman auf vorgeformtes Material aus Vorabendserien, Werbung etc. zurück und reproduziert die Sprache des Kitsches sowie die Formmuster der zeitgenössischen Trivialmythen. Dabei verwendet Jelinek insbesondere Montage-Verfahren, die durch Wiederholungen und Redundanzen das Stereotype zum Ausdruck bringen. Hinzu kommen auch Collage-Techniken, die mit der Gleichzeitigkeit und Überlagerung verschiedener semantischer Sprachschichten und sprachphonetischer Assoziationen arbeiten.1161 Hier sind bereits verschiedene Zitatverfahren angelegt, deren Weiterführung für Jelineks Schreibweise kennzeichnend wird. Deutlicher als im lockvögel-Pop-Roman zeichnet sich die gesellschaftskritische Ausrichtung in Jelineks drittem Roman Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1972) ab. Auch hier greift sie auf populärkulturelle Zitate aus den Massenmedien zurück, in diesem Fall auf Versatzstücke und Sequenzen populärer Fernsehserien. Deren harmonische Abläufe werden destruiert und in feinen, ›gegenrhythmischen‹ Variationen verändert. Diese kompositorische ›Überspannung der Form‹ lässt die implizite Gewalt in den Alltagsmythen der Familie, wie sie in den populären Serien wie »Flipper« zum Ausdruck kommen, explizit werden. Nach dem Prinzip des formalen Kontrastes wird das Ungeheuerliche im Tonfall einer alltäglichen Normalität geschildert. Ausgestellt wird der iterative Ausbruch brutaler Gewalt unter Beibehaltung der patriarchalen Erzählstimme mit der zirkulären, sich unendlich perpetuierenden Botschaft einer heilen, behüteten Welt. Dieses serielle Ineinanderspielen von struk-
1158 Vgl. Degner: »Eine neue Vorstellung von Kunst«, S. 71 f. 1159 Vgl. Janz: Jelinek, Vorwort, S. VII. 1160 Vgl. Barbara Alms: Triviale Muster – »hohe« Literatur, Elfriede Jelineks frühe Schriften. In: Umbruch 6 (1987), Nr. 1, S. 31–35; u. Janz: Jelinek, S. 5. 1161 Vgl. Janz: Jelinek, S. 4.
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tureller (faschistischer)1162 Gewalt und Gefühlen des Geborgenseins kennzeichnet die moderne mythische Welt, die medial kodierte »Infantilgesellschaft«. Charakteristisch für das gesamte Frühwerk Jelineks ist die Mimikry einer zeichenhaften Oberflächenästhetik der Popkultur, die den substanziellen Werk-Mythos destruiert.
Mehr noch als in bukolit geht es in den Romanen wir sind lockvögel baby! und Michael nicht nur um ein experimentelles Spiel mit Mustern der Trivialkultur, sondern um die im Verborgenen wirkenden Strukturen der sich in der Gesellschaft alltäglich fortsetzenden Gewalt. Die Verwendung trivialer Muster lässt das monströse Bild einer hierarchisch-patriarchalen Gesellschaft entstehen. Jedoch zeigt sich schon hier die für die Entwicklung von Jelineks Oberflächenästhetik charakteristische ›Geheimnislosigkeit‹ und ›Flächigkeit‹ der bildlichen Sprache, die – und sei es nur ex negativo wie bei Reinhard Jirgl – auf keine substanzielle ›Natur‹ und auf kein existenzielles ›Da-Sein‹ mehr verweist. Vielmehr geht es um die »Analyse und Entmythologisierung der immer wieder in Erstarrung und harmonistischen Lügen sich verfestigenden Vorgänge – ohne selbst je aus der Entfremdung austreten zu können«.1163 So findet sich in den frühen Romanen bereits das später vollends ausgeprägte Verfahren, »der künstlichen Welt der Mythen und Trivialmythen keine Sphäre der Natürlichkeit oder Eigentlichkeit gegenüberzustellen, sondern im Medium der entfremdeten und verdinglichten Sprache zu bleiben und sie lediglich durch Überzeichnung und abermalige Deformation zu denunzieren«.1164 Hierin kommt eine österreichische und jüdische Tradition des Sprachwitzes und der Sprachskepsis, des Antimetaphysischen und Antimythologischen zum Ausdruck.1165 Mit der ideologiekritischen, entmythologisierenden Funktion der Literatur hängt die Ausrichtung auf die Autonomie des sprachlichen Kunstwerkes zusammen: Der Rückgriff auf die medialen, populärkulturellen Verfahren dient bei Jelinek gerade nicht der Angleichung der Literatur an andere Medien.1166 Die Intermedialität ihrer Schreibverfahren hat vielmehr eine intramediale Zielsetzung. So lässt sich ihr »Jugendbuch« Michael nicht verfilmen. Es ist nach Art und Anlage ein literarisches Sprachkunstwerk. Ein erster literarischer und auch verkaufsökonomischer Durchbruch als Autorin erfolgte mit Die Liebhaberinnen (1975) – es verkaufte sich seinerzeit
1162 Der Titel »Michael« spielt auf den Roman Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern (1929) des späteren NS-Propagandaministers Joseph Goebbels an. 1163 Alms: Triviale Muster – »hohe« Literatur, S. 34. 1164 Vgl. Janz: Jelinek, S. 7. 1165 Jelinek beruft sich wiederholt auf Franz Kafka, Karl Kraus und Walter Serner (vgl. ebd., S. 5). 1166 Wie etwa in Stuckrad-Barres Soloalbum, Livealbum, Remix etc.; s. o.: Zweiter Teil, I. 3.1.
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sehr gut und ist zugleich »wohl das einzige ästhetisch ernst zu nehmende Buch der ›neuen‹ Frauenbewegung im deutschsprachigen Bereich, die damals gerade auf ihrem Höhepunkt war«.1167 Jelinek erteilte damit einer Frauenliteratur, die sich zunehmend von der Sozialkritik der Ausbeutung verabschiedet und der Künstlerkritik der Entfremdung, dem Streben nach Authentizität und Selbstverwirklichung im Kontext der Literatur der Neuen Subjektivität zugewendet hatte, eine kritische Absage. Ihr ästhetischer Anspruch und ihre Abgrenzung von der in dieser Zeit vorherrschenden ›Subjektivität‹ und ›Authentizität‹ durch einen entmythisierenden, konstruktivistischen und politischen Ansatz deuten trotz hoher Verkaufszahlen, die auf einer anderen Erwartung der Leser beruhten, eine Positionierung im Avantgardekanal an. Die Autorposition Jelineks verschließt sich aber nicht gegenüber den Einflüssen des expandierenden Mittelbereiches und seinen literarischen – hier: ›weiblich‹-kodierten – Subjekt- und Autorzuschreibungen, sondern setzte sich zu ihnen in eine kritisch-reflexive Beziehung. Jelineks Auseinandersetzung mit den Entfaltungsmöglichkeiten einer weiblichen Subjekt- und Autorposition in der medialen Produktion, und allgemein in den männlich dominierten gesellschaftlichen Diskurs- und Gewaltzusammenhängen, zielte darauf ab, in einer größeren Öffentlichkeit als legitime Autorinnen-Position wahrnehmbar zu sein. Der große Durchbruch erfolgte mit dem bewusst auf Sichtbarkeit in einer breiteren, medialisierten Öffentlichkeit angelegten Roman Die Klavierspielerin (1983), der 2001 von Michael Haneke verfilmt wurde. Der Roman wird linear erzählt, trägt realistische Züge, arbeitet bewusst mit einer Psychologisierung eines Mutter-Tochter-Verhältnisses, die stark autobiografisch erscheint, und thematisiert eine ›skandalträchtige‹ weibliche Libido. Die Kennzeichen des Autobiografischen, Psychologischen und Pathologischen weiblicher Libido im ›hochkulturellen‹ Kontext der klassischen Musik in Wien verhalfen dem Roman und seiner Autorin zu einer breiten Aufmerksamkeit. Zudem ist der Roman eine (Selbst-)Reflexion künstlerischen Schaffens in Verbindung mit dem bürgerlichen Mythos des genialen Künstlers und der ihm eingeschriebenen
1167 Janz: Jelinek, S. 21. In Die Liebhaberinnen (1975) verwendet Jelinek im Vergleich zu den vorausgehenden Romanen weniger Verfahren einer ausgestellten Künstlichkeit. Stattdessen ist der Roman von einem gewissen Realismus geprägt. Dabei wird keine Rollenprosa verwendet, sondern ein milieugeprägter Kunst-Jargon, der durch die Stimmführung zugleich eine immanente Kritik erfährt. Jelineks Kritik zielt in allen Texten und besonders in Die Liebhaberinnen auf die Männer- und – komplementär dazu – auf die Klassengesellschaft. Denn das private Verhältnis zwischen Mann und Frau in einer patriarchisch geprägten Gesellschaft weist Analogien zur Verfügungsgewalt der Produktionsbesitzer über die Produktivkräfte auf, wie der Roman in der parallelen Darstellung der beiden Protagonistinnen in ihrem (Konkurrenz-)Kampf um eine soziale Existenz aufzeigt.
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(autoaggressiven) Disziplinierungsgewalt. Die politische (marxistische) Kritik des bürgerlichen Künstler-Mythos und der gesellschaftlichen Zerstörung weiblicher Sexualität, auf der die Geschichte einer weiblichen ›Besessenheit‹ basiert, wurden in der Öffentlichkeit jedoch kaum wahrgenommen. Stattdessen prägte sich das öffentliche Bild Jelineks zwischen ›Vamp‹ und ›Feministin‹, zwischen ›weiblicher Verführung‹ und ›Männer-Schreck‹, ein. Produktionsästhetisch liegt ihm die Nachahmung und zugleich Destruktion mythischer Autor- und Subjektbildern zugrunde, denen in der medialen Produktion und in einer von männlich-›identitärer‹ symbolischer Gewalt bestimmten Gesellschaft gleichsam von selbst ›natürliche‹ Sichtbarkeit zukommt. Die Doppelstrategie einer überdeutlich markierten Mimikry und einer Kritik trivialer Gesellschaftsmythen kennzeichnet die Schreibverfahren Jelineks. Die Liebhaberinnen, Die Klavierspielerin wie auch Lust (1989), ein als »weiblicher Porno« annoncierter Roman, der die bis dahin größte ästhetische Komplexität in Jelineks Schreiben aufweist, waren feldanalytisch gesehen Versuche, von einer kunstautonomen Position aus, aber parallel zur Populär- und Massenkultur – deren horizontale Produktionsverfahren imitierend – eine Sichtbarkeit außerhalb des Subfeldes der eingeschränkten Produktion zu erlangen. Die Verfahren dieses ambivalenten Begründungsverhältnisses einer kunstautonomen, gleichwohl in der Gesellschaft situierten Kritik stehen für eine Reflexion der Position und Funktion des Autors – insbesondere der Autorin – in gesellschaftlich-medialen Produktionsverhältnissen. Sie führte bei Jelinek zur Entwicklung einer Oberflächenästhetik als Generierungsprinzip ihrer ›weiblichen‹, mit struktureller Unsichtbarkeit konfrontierten Autorposition.
Oberflächenästhetik, intramediale Reflexivität und Grenzziehungen Die Entwicklung einer Oberflächenästhetik prägt Jelineks Werk von Anfang an. Seit dem Essay »Die endlose Unschuld« (1970) und seit dem Michael-Roman (1972) ist das Werk mit einer mythen- und medienkritischen Reflexion verbunden. Der Essay »Ich möchte seicht sein« – wie Die Klavierspielerin 1983 erschienen – beinhaltet den ersten programmatischen Entwurf einer Poetik der Oberfläche.1168
1168 Elfriede Jelinek: Ich möchte seicht sein. In: Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu Elfriede Jelinek. Frankfurt a. M. 1990, S. 157–161 (Nachweise im Folgenden im Fließtext); vgl. zur Entwicklung der Oberflächenästhetik ausführlich Juliane Vogel: »Ich möchte seicht sein«. Flächenkonzepte in Texten Elfriede Jelineks. In: Thomas Eder, J. V. (Hg.): Lob der Oberfläche. Zum Werk von Elfriede Jelinek. München 2010, S. 9–18.
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Jelineks Autorposition ist von einer programmatischen Vernichtung mythisierender Tiefendimensionen geprägt, die für die Genese eines (männlichen) Sinn-, Substanz- und Identitätsdenkens stehen. Die Autorin schließt dabei sowohl an die Sprachkritik der Wiener Gruppe als auch an Wittgensteins Sprachverständnis an, die beide gegen bedeutungsorientiertes Sprechen gerichtet sind. Die Destruktion und Umformung der hermeneutischen Tiefendimension der Sprache führte zum grundlegenden Konzept der Fläche, das unter dem Begriff der »Sprachfläche« zum Kennzeichen wurde. Damit wird das Hervorragende im wörtlichen und übertragenen Sinn destruiert.1169 Abgewehrt werden so die Leitkategorien der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft im Allgemeinen und der Neuen Subjektivität im Besonderen: das falsche Einheitsdenken der Subjekt-Identität, die Illusion der ›Abbildungen‹ und des ›Eigentlichen‹ und der introspektive Blick auf das, was im ›Inneren‹ oder ›dahinter‹ zu liegen scheint. Mit den inhaltlichen Hierarchien werden die formalen ›abgetragen‹. Lineare Zeitfolgen oder auch die grammatikalische Ordnung von Subjekt und Objekt werden destruiert und umformatiert, substanzielle Identitäten verabschiedet: »Belästigen Sie uns nicht mit Ihrer Substanz! Oder womit immer Sie Substanz vorzutäuschen versuchen, wie Hunde, die sich mit aufgeregtem Getön umkreisen« (159). Die Sprache wird zum luftigen »Kleid«, zur Sprechform ohne Substanzkern. Diese wahrt aber die Beziehung zur Kontur des Menschen: Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein! Modeschau deswegen, weil man die Kleider auch allein vorschicken könnte. Weg mit den Menschen, die eine systematische Beziehung zu einer ersonnenen Figur herstellen könnten! Wie die Kleidung, hören Sie, die besitzt ja auch keine eigene Form, sie muß um den Menschen gegossen werden, der ihre Form IST (157 f.). Die Loslösung des Sprechens vom Sprechersubjekt erklärt die für Jelineks Schreiben zentrale poetologische Metapher des Kleides. Aber auch das sprachliche Kleid selbst als eine in Beziehung zu den Menschen gesellschaftlich situierte äußere Erscheinung wird nochmals in eine transitorische Form umkodiert, unter der die Sprache wirkt: Ich will, daß die Sprache kein Kleid ist, sondern unter dem Kleid bleibt. Da ist, aber sich nicht vordrängt, nicht vorschaut unter dem Kleid. Höchstens daß sie eine gewisse Standfestigkeit verleiht dem Kleid, das aber, wie jenes des Kaisers, wieder verschwindet, wie Rauch zerfließt (obwohls eben noch fest war), um Platz zu machen für ein anderes, neues.1170
Im Unterschied zu Jirgls ›Raunen‹, das sich ontologisch auf die fundamentalhermeneutische, etymologische Sprachsubstanz als traumatisches Gedächtnismedium bezieht, sich im allegorischen »O« zum christologischen memento mori verdichtet und auf eine verlorene Substanz der souveränen (heroischen) Individuation verweist, wendet sich Jelineks »Dramaturgie des Formverlusts« gegen jede vertikale, ›männlich-wiedergängerische‹ Subjektkonstitution und
1169 Vgl. ebd., S. 9 f. 1170 Vgl. Elfriede Jelinek: Sinn egal. Körper zwecklos. In: E. J.: Stecken, Stab und Stangl – Raststätte oder Sie machens alle – Wolken.Heim. Neue Theaterstücke. Mit einem »Text zum Theater« von Elfriede Jelinek [1990]. Reinbek b. Hamburg 32004, S. 7–13, hier S. 8.
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gegen jede »Volumenbildung«,1171 sei es auch nur im allegorischen, ›ruinenhaften‹ Verweis. Stattdessen zielt sie auf eine horizontal-flächige Ordnung, auf die sprachliche Verflachung des (männlichen) Identitätsprinzips. Ihr ästhetisches Streben nach ›Fläche‹ und ›Flachheit‹ erfolgt in Analogiebildung zu den Verfahren der populären Kunst.1172 Es werden nicht nur die flächigen, horizontal gereihten Diskurse der Popkultur gegen die bürgerlich-einheitlichen Konzepte der Hochkultur ausgespielt, sondern auch die Macht und symbolische Gewalt der populärkulturellen, trivialmythisch unendlich reproduzierten (Fernseh-)Bilder dekonstruiert. Jelineks Kritik der Massenkultur folgt jedoch nicht den zivilisationskritischen Oppositionen wie denen zwischen ›Oberfläche‹ und ›Tiefe‹ oder zwischen ›Masse‹ und ›Individuum‹ wie in Jirgls Poetik des geschlagenen, zum Homo sacer nivellierten (männlichen) Individuums in seinem beschädigten Leben. Die Strategien der Verflachung von Einheits-Körpern stellen in der ›weiblichen‹ Autorposition Jelineks eine sprachliche Gegengewalt dar. Die männlich kodierte Identitätseinheit – ihr naturalisiertes ›Ganz-beisich-Sein‹ – wird aufgebrochen und zu einer beweglichen oder fließenden Existenz transformiert, zum Beispiel auf »Zelluloid« in einer Film- und Flächenästhetik.1173 Dabei erzeugt die literarische Transformationsarbeit laufend wechselnde ›Schattenbilder‹, aber ohne einen ›existenziellen Subtext‹ wie in Jirgls Neo-Expressionismus. Wie generell im postdramatischen Theater verselbständigt sich die Sprache als »Kleid« 1174 und nimmt eine gespenstische Existenz als textuelle Hülle oder Fläche an, die im Prozess der Stimmentfaltung permanent neue ›Falten‹ wirft. Der Arbeitsbegriff der entgrenzten und dynamisierten sprachlichen Umformung führt zum poetologischen Prinzip der unabschließbaren sprachlichen »Faltung« 1175 als Grundlage einer ›weiblichen‹ Autorposition. Deren unendlicher Umformungsprozess löst die illusio, das Gewebe der Ver-
1171 Vgl. Vogel: Flächenkonzepte, S. 15 (Anm. 19). 1172 »Durch den Einsatz von Verflachungsstrategien fallen kulturelle Werthierarchien, die sich in herkömmlichen Raumordnungen ausbilden. Zugleich werden die medialen Grundlagen für eine Textpolitik geschaffen, die sich an den Formen der Unterhaltungs- und Popliteratur orientiert« (ebd., S. 9 f.). 1173 »Schließen wir sie als Inventar aus unsrem Leben einfach aus! Klopfen wir sie platt zu Zelluloid! Wir machen vielleicht einen Film aus ihnen, von wo uns ihr Schweiß, Symbol einer Arbeit, der sie im Luxus ihrer Persönlichkeiten zu entkommen trachteten, nicht mehr anwehen kann« (Ich möchte seicht sein, S. 160). 1174 Vgl. Vogel: Flächenkonzepte, S. 14: »Wie sich das Sprechen seines Sprechers, so entledigt sich das Kleid seines Trägers«. 1175 »Das in der Falte repräsentierte Flächenkonzept wird durch einen permanenten und unabschließbaren Umbildungsprozess bestimmt, der einmal gewonnene Formen sofort wieder preisgibt« (ebd., S. 17).
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schleierungsarbeit eines ›ganz bei sich seienden‹ Kunstwerkes als opus operatum rückläufig auf und macht den in den ›Falten‹ liegenden modus operandi wieder sichtbar, ohne allerdings den autonomen Kunstanspruch aufzugeben. Aus der Maxime des »Nichts dahinter« in »Ich möchte seicht sein«, aus Jelineks Streben in die horizontale Flächigkeit und ihren der Populärkultur analogen Verfahren, hat Juliane Vogel eine Absage an einen in »E« und »U« unterteilten Kulturbegriff gefolgert.1176 Dagegen lässt sich mit Uta Degner einwenden, dass es in Jelineks Texten »nicht um eine Nivellierung der Differenz von ›hoher‹ und ›niederer‹ Kunst, sondern um eine aktionistische Brechung konventionalisierter kultureller Praktiken, seien sie auf Seiten der ›hohen‹ oder der ›niederen‹ Kunst« gehe.1177 Degner betont, dass die ›Remedialisierung‹ des Populären längst zu einem legitimen Mittel ›hoher‹ Literatur geworden sei. Jelineks Aneignung von populärkulturellen Verfahren, ihre »Usurpation des Illegitimen im Medium der Literatur beweist damit nicht die Auflösung der Grenze zwischen hoher und niederer Kunst«, sondern lege vielmehr die fortgesetzte Wirksamkeit der ›Transsubstantiation‹ profaner in sakrale Güter, d. h. der alchemistischen Wirksamkeit von Alltagsmythen, offen.1178 Wie bereits das Beispiel des Michael-Romans zeigte, steht das literarische Verfahren der permanenten Umformung einer Identitäts-›Tiefe‹ in die ›Fläche‹ der seriellen Mythen-Konstruktion für kein intermediales Zugeständnis an den Film, sondern für eine intramediale, ästhetische Weiterentwicklung des Theaters. Die Schauspieler werden zu »Zelluloid« ›plattgeschlagen‹: »Wir machen vielleicht einen Film aus ihnen. [...] Aber ein Film als Theater nicht ein Film als Film!« (160)
Mit ihrer Entwicklung einer Oberflächenästhetik grenzte sich Jelineks Autorposition nicht nur von der vertikalen, ›männlich-phallozentrischen‹ Werklogik ab. Bei ihrem Versuch, auf der Höhe der Zeit im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich als legitime Autorposition mit Autonomieanspruch präsent zu sein, d. h. als Referenzpunkt im literarischen Feld zu existieren, stieß die Autorin ihrerseits auf Grenzen. Die Grenzen der populärkulturellen Mimikry, der Strategie einer formalen Nachahmung alltagskultureller Mythen durch eine auf Kunstautonomie und Gesellschaftskritik ausgerichtete Autorposition, zeigten sich in einer Rezeption, die auf eine Ausgrenzung Jelineks aus den Mehrheitsdiskursen abzielte. Der erste symbolische Ausschluss, den Jelinek in der öffentlichen Wahrnehmung erfuhr, war politischer Art in Form der skandalisierenden Rezeption ihres Stückes »Burgtheater« (UA 1985). Dieses Stück thematisiert die verdrängte nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs am Beispiel der populären Schauspielerin Paula Wessely. Seitdem gilt Jelinek in den Kreisen, die der Kunst eine moralisch-sittsame und national-
1176 Vgl. ebd., S. 10. 1177 Degner: »Eine neue Vorstellung von Kunst«, S. 74. 1178 Ebd., S. 74 f., mit Verweis auf Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt a. M. 1993, S. 209.
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kulturelle Funktion zuordnen, als »Nestbeschmutzerin«.1179 In der Logik dieser Ausschluss-Rezeption – ähnlich derjenigen im Falle von Günter Grass’ Roman Ein weites Feld – wird am »Pol der Notabeln« die Anerkennung des literarischen Werts aufgrund der Verletzung der im nationalen Raum herrschenden bürgerlich-moralischen Werte und politischen Mehrheitsmeinungen verweigert. Zugleich bestätigt diese Grenzziehung den Zusammenhang zwischen der Anerkennung im internationalen literarischen Feld, die vor allem auf formalästhetischen Kategorien beruht, und der Diskreditierung im nationalen Feld aufgrund von inhaltlich-moralischen Kriterien.1180 Die zweite Grenzziehung, die Jelineks Versuch auslöste, eine kunstautonome und zudem gesellschaftskritische Präsenz in eine breite Öffentlichkeit zu tragen, äußerte sich im Zusammenhang mit der Rezeption ihres Lust-Romans (1989): Der Widerspruch zwischen der breiten Rezeptions-›Lust‹ am ›Skandal eines weiblichen Pornos‹ einerseits und seine strukturelle Unmöglichkeit angesichts der Abwesenheit eines ›weiblichen Begehrens‹ in den Produktionsverhältnissen andererseits, um den es Jelinek im Werk ging, wurde nicht wahrgenommen. Auch die feuilletonistisch geweckte Erwartung einer Art ›avantgardistischer Pornografie‹ in der Nachfolge von Bataille verstellte die Lektüre des Romans. Die sexuelle Gewalt wurde als Inhalt, nicht aber in ihrem sprachlichkompositorischen Ausdruck erkannt. Das Versinken in »Vordergründigkeit« zeigte der Autorin die Grenzen der Wahrnehmung und Anerkennung einer auf Kunstautonomie ausgerichteten Oberflächenästhetik in der großen Öffentlichkeit auf.1181
Einzelstudie 1: Das Raunen der Wir-Identität in Wolken.Heim. Das Dilemma einer kunstautonomen Position mit universalem, im Falle Jelineks, politisch-mythenkritischem Anspruch, die zugleich die Marginalisierung ihrer Stimme angesichts einer sektoralen, flexibel ökonomisierten und medialisierten Öffentlichkeit reflektiert, lässt sich – wie schon im Falle Klings und Jirgls – an den sprachlichen Verfahren zur Herstellung eines avantgardistischen ›Raunens‹ ablesen. Das ›raunende‹ Sprachverfahren, in dem ein autono-
1179 Vgl. Pia Janke (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österreich. Salzburg, Wien 2002. 1180 Vgl. Casanova: La République des lettres; u. oben: Erster Teil, I. 1. 1181 Entsprechend enttäuscht musste Jelinek feststellen: »›Die Lust‹ ist ein Text, den ich nie wieder schreiben werde ─ er ist in seiner sprachlichen Dichte das Äußerste, was ich kann. Und dann wurde er in diese Vordergründigkeit hineingerissen« (Elfriede Jelinek: »Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz«. Gespräch mit Peter von Becker. In: Theater heute 9 (1992), S. 1–9, hier S. 1).
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mer Universalanspruch und ein Grenz- und Positionsbewusstsein paradoxal zusammentreffen, verdichtet sich bei Jelinek in dem chorischen, die Gattungsgrenze zu einer rhythmisierten Prosa oder prosaischen Hymne überschreitenden Theatertext Wolken.Heim. (UA 1988). Hier arbeitete die Autorin erstmals mit dem Verfahren radikal umgesetzter Sprachflächen. Die Rede wird von der Person vollends abgelöst und auf dramatisches Personal oder Sprecherfiguren wird ganz verzichtet. Daraus entsteht ein monologisch-chorischer Sprachfluss, der sich aus bearbeiteten Prätexten zusammensetzt und permanent metamorphotisch verändert. Statt Dialogen weist der Theatertext eine Echostruktur in Form von Wiederholungen, Tautologien und unterschwelligen Verschiebungen und Umformungen auf. Mit diesem Echo-Verfahren, das die Sprache als ein sich selbständig entfaltendes Material ausstellt, ist dem Text durchgängig die Frage nach der Identität der Sprechinstanz eingeschrieben.1182 Die Behauptung eines kollektiven »Wir« wird unter Verwendung von Prätexten aus der deutschen Geistesgeschichte zur Thematisierung eines geistigidealistischen Nationalismus sprachlich hergestellt. Wenn Jelinek in ihren frühen Texten auf das Sprachmaterial der Populärkultur zurückgegriffen hat, so arbeitet sie hier mit sprachlichen Versatzstücken der Hochkultur, die sie in einem paratextuellen Anhang selbst ausweist: »Die verwendeten Texte sind unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen der RAF von 1973 – 1977«. Hinzu kommt der im Vorspruch erwähnte Aufsatz von Leonhard Schmeiser (»Das Gedächtnis des Bodens«), der sich auf einer metatheoretischen Ebene auf Wolken.Heim. ausgewirkt hat. Eine nähere Untersuchung des Umgangs mit den Zitaten zeigt, dass Jelinek weniger montiert und collagiert als dass sie die Prätexte zu einem neuen Text transformiert.1183 Radikalisiert wird schließlich die Konstruktion von Sprachflä-
1182 Auf die Frage nach der Identität der Sprechinstanz weist bereits der Titel hin: Wolken spielt auf Aristophanes’ Komödien Die Wolken und Die Vögel (ein Stück, aus dessen Übersetzung der deutsche Begriff »Wolkenkuckucksheim« stammt) an. Damit ist ein ›luftig-leerer‹ Zwischenraum des rhetorischen Zeichenspiels des Geistes, der Sophistik, gemeint. Heim stellt die Frage nach Herkunft, Identität und Besitz. Dazwischen steht der Punkt, gleichsam der ausgelassene »Kuckuck«, als Echostruktur und Sprung vom Zeichenspiel in die Identität, den der Text auch performativ vollzieht. Denn die Herstellung einer Wir-Identität entsteht im Text sprachperformativ aus Redundanzen und Tautologien, die zugleich Abgrenzungen markieren. 1183 Vgl. Margarete Kohlenbach: Montage und Mimikry. Zu Elfriede Jelineks Wolken.Heim. In: Kurt Bartsch, Günther Höfler (Hg.): Elfriede Jelinek (Dossier 2). Graz, Wien 1991, S. 121–153, hier S. 128. Die gelegentlich geäußerte Kritik, Jelinek werde den Originaltexten nicht gerecht, übersieht, dass es ihr um eine ›Arbeit am Mythos‹ als sprachliches Material ging. Diese Spracharbeit ist auf Dekontextualisierungen, Entstellungen und semantische Neubildungen aus. Dabei verwendet Jelinek ganz unterschiedliche Zitiertechniken, die von einem wörtlichen Zitat in eindeutig ideologiekritischer Absicht bis hin zu einer »immanente[n] Selbstverdoppelung der
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chen, die Trennung von Rede und Person, wenn scheinbar eindeutig identifizierbare Autoren von Zitaten auch andere Stimmen beinhalten: So klingt z. B. in der Stimme Hölderlins bereits seine spätere völkische Vereinnahmung wie auch die Hölderlin-Lektüre Heideggers an.1184 Der Hölderlin-Rekurs spielt in Jelineks Werk allgemein und besonders in Wolken.Heim. eine zentrale Rolle.1185 Wenn Versatzstücke u. a. aus den Oden und Hymnen wie »Der Tod fürs Vaterland«, »An die Deutschen«, »Die Heimat« oder »Wie wenn am Feiertage« verarbeitet werden, geht es Jelinek um das Ausstellen hymnisch-pathetischer Stile und Diskurselemente, die zur Mythologisierung der deutschen kulturellen Identität beitrugen. Den stärksten Eingriff nimmt sie bei den Zitaten vor, wenn sie unterschiedliche Subjekte durch ein »Wir« ersetzt, wie im folgenden Beispiel: »denn wie der Nord die Wolke des Herbsttags / Scheuchten von Ort zu Ort feindliche Geister mich fort. / […] es scheut die Kinder des Himmels / Selbst der Orkus, es rinnt, gleich den Unsterblichen selbst, / Ihnen der milde Geist von heitersinnender Stirne« (Hölderlin: Elegie, 5. Strophe). Bei Jelinek heißt es dagegen: »Wir […] scheuchen von allen Orten die anderen fort. Es rinnt uns Geist von der Stirne« (4. Abschnitt). Durch die sprachliche Umformung tritt die politische Dimension der hymnischen Identitätsherstellung hervor. Im Unterschied zu Hölderlin1186 werden Hegel, Fichte und Heidegger in Wolken.Heim. nur punktuell und weitgehend wörtlich zitiert. Diese montierten Zitate haben zunächst eine mythenund ideologiekritische Funktion, die nationalistisch-chauvinistische Denkfiguren in der deutschen Idealismus-Philosophie freizulegen. Von Hegel werden Passagen aus den Vorlesungen über die Philsophie der Geschichte (1830/31) verwendet, die orientalische und slawische Kulturen abwerten und das Germanische Reich als Krönung der Universalgeschichte preisen.1187
Sprache« reichen, bei der sich Zitat und kritischer Kommentar in einer Mimikry, die das Nachgeahmte schützen soll, überlagern (vgl. Janz: Jelinek, S. 142; u. Kohlenbach: Montage und Mimikry, S. 126). 1184 Vgl. Andrea Geier: »Schön bei sich sein und dort bleiben«. Jelineks Zitierverfahren zwischen Hermeneutik und Antihermeneutik in Wolken.Heim. und Totenauberg. In: Sabine Müller, Cathrine Theodorsen (Hg.): Elfriede Jelinek: Tradition, Politik und Zitat. Ergebnisse der Internationalen Elfriede Jelinek-Tagung 1.–3. Juni 2006 in Tromsø. Wien 2009, S. 167–186; folgende Zitate aus Wolken.Heim. mit Abschnittsnachweis direkt im Fließtext. 1185 Vgl. Dieter Burdorf: »Wohl gehen wir täglich, doch wir bleiben hier«. Zur Funktion von Hölderlin-Zitaten in Texten Elfriede Jelineks. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 21 (1990), H. 66, S. 29–36. 1186 Kohlenbach (Montage und Mimikry, S. 135) betont den Unterschied bei den Rekursen auf Hegel und Hölderlin: Letzterer stehe für ein Gegenprinzip zum »Wir«-Chauvinismus. Kohlenbach verweist auf die letzte Passage von Wolken.Heim., die Versatzstücke aus Hölderlins Ganymed und Hälfte des Lebens verarbeitet: »Und bei des Fremdlings besonderer Stimme stehen die Herden auf. Wir sehen ihn nicht, und gesellte er sich auch zu uns, im Winde klirrten die Fahnen. Bis heute wäre er namlos, ewig hinab in die Nacht verwiesen. Verstummt unter uns Lebenden. Wir aber« (21. Abschnitt). 1187 »Hiermit tritt dann das Germanische Reich, das vierte Moment der Weltgeschichte ein: dieses entspräche nun in der Vergleichung mit den Menschenaltern dem Greisenalter. Immer waren wir hier! […] Nimmer kennen wir die Länder, doch bald, in frischem Glanze, geheimnisvoll im goldenen Rauche, blüht schnellaufgewachsen, eines, das wir nicht kennen. Und wir nehmen es uns. […] Und finden außerdem im Osten die slawische Nation, die sind wir nicht!
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Auch die einmontierten kurzen wörtlichen Zitate aus Fichtes Reden an die deutsche Nation (1808) weisen deren nationalistisch-essentialistische und fremdenfeindliche Ausrichtung aus.1188 Das geschichtsphilosophische Raunen einer kollektiven »Wir«-Identität im Dienste der nationalen Bestimmung geht dann in Zitate aus Martin Heideggers Rektoratsrede Die Selbstbehauptung der deutschen Universität von 1933 über. Wenn im chorischen Sprachfluss schließlich Zitate aus Briefen von RAF-Terroristen hinzukommen, wird ein komplementärer Kontrapunkt zum nationalistisch-völkischen Chauvinismus gesetzt. Denn auch in den RAFBriefen findet sich die ideologische Rede von einer gewaltsamen Unterordnung und notwendige Opferung des Einzelnen für ein heroisches Kollektiv.
Zweifellos ist die Demontage des literarischen Selbst, des Dichters als ›Seher‹, und allgemein der Autorität des Autors und seines geistigen Eigentums, ein zentrales Kennzeichen der intertextuellen Textproduktion Jelineks. Durch die Montage wörtlicher Zitate und die transformierende Verarbeitung von Prätexten wird eine anonyme chorische Stimme hergestellt. Die an einen Zuhörer adressierte und zugleich monologisierende Chorstimme beschwört rein sprachlich – rhythmisch-komponiert und in redundanten formalen Reihungen – die Existenz einer ganz ›aus sich‹ und ›bei sich‹ seienden (deutschen) »Wir«-Identität herauf. Damit zeigt sich die abgeschlossene, sprachlich-raunende Kreisstruktur der mythischen Metasprache im Dienst einer nationalen Identität. Der Text führt die Herstellung eines (deutschen) Nationalismus als Echo-Struktur, als »sekundäres semiologisches System« 1189 vor, das in seiner rhythmisierten Form den tautologischen Zeichengehalt »Wir sind wir« variiert. Dabei zeigt sich schnell die grundlegende Dissonanz im performativen Widerspruch. Denn das sprechende »Wir« behauptet sich permanent aufs Neue über ein abwesendes und identitätsloses, rein sprachlich hergestelltes »Wir«. Das hymnisch-raunende, sich tautologisch behauptende »Wir« durchläuft in den einundzwanzig Abschnitten des Textes eine Entwicklung, die kurz skizziert sei: Im ersten, ouvertürenhaften Abschnitt erklingt das »fassungslose« Raunen des »Wir« als ungeordnete ›Geister‹-Stimmen, die sich mit den Motiven der Flüchtigkeit, der Fremde, der Reisenden und der Abwesenheit verbinden: »Dort ist nichts, aber es strotzt vor lauter Zeichen von uns«. Bald aber wandeln sich die Stimmen zu markierten Wegen und gelangen zur Existenz: »Jetzt sind wir zuhaus und
Die sind wir nicht! Ein Teil von ihr ist von der westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch aber bleibt diese ganze Masse aus unsrer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Vernunft in der Welt aufgetreten ist« (Wolken.Heim., 7. Abschnitt; vgl. Kohlenbach: Montage und Mimikry, S. 130). 1188 »[E]in Urvolk, das Volk schlechtweg« (9. Abschnitt). »In der Nation, die bis auf diesen Tag sich das Volk schlechtweg oder Deutsche nennt, ist in der neuen Zeit Ursprüngliches, wenigstens Ursprüngliches an den Tag gebrochen, und Schöpferkraft hat sich gezeigt« (10. Abschnitt). 1189 Barthes: Mythen des Alltags, S. 92.
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erheben uns«. Im zweiten Abschnitt festigt sich die Formel »Schön bei sich sein« – eine Formel, die für Jelineks nachfolgendes Werk zentral wird. Hinzu kommen die Leitmotive »Haus«, »Besitz«, »Identität« eines sich permanent abgrenzenden »Seins«. Die Stimmen des sich selbst begründenden Herrschaftsanspruches schwellen im dritten Abschnitt an (»Wir haben nicht die Einheit außer uns […] sie ist in uns selbst und bei uns selbst«). Im vierten Abschnitt wird die »aus heiligem Chaos gezeugt[e]« Herrschaft gefestigt. Die Behauptung einer geistigen Auszeichnung beruft sich auf eine sich selbst genügende Sprache als Ausdruck von Natur und Besitz (»Unser Haus, gefüllt mit unserer Sprache, die auf uns ruht wie die Natur, die uns wiegt«). Die Natur der geistigen »Wir«-Aristokratie impliziert die Verdrängung anderer, minderwertiger Menschen (»Wir sind wir und scheuchen von allen Orten die anderen fort. Es rinnt uns Geist von der Stirne«; 4). Das ›Herrenmenschen-Dasein‹, das sich auf seine geistige Bestimmung beruft, drängt – mit Hölderlin- und Heidegger-Versatzstücken – zur Tat (»Aber wir Guten, auch wir sind tatenarm und gedankenvoll! Wir! Aber kommt, wie der Strahl aus dem Gewölke kommt, aus Gedanken vielleicht, geistig und reif die Tat?«). Der Übergang vom Geist zur Tat geht Hand in Hand mit der Verdrängung und Vernichtung der ›Minderwertigen‹ und der Einnahme ihres Raums (»Wir blicken hinüber, den Nachbarn nicht fürchtend, wir treten ihm aufs Haupt«; 5). Geschichte wird zur Schicksalsbestimmung. Sie wird zur »Schlachtbank« erklärt und muss »Opfer« bringen, denn: »Wir brauchen Raum. Wir brauchen Ruhm!« Die Motive der Raum-Besetzung, der Abgrenzung von fremden Völkern und deren Vernichtung, werden im fünften Abschnitt mit einer Opfer- und Bodenmythologie als Fluch und zugleich Auftrag der Väter (»Untote«) legitimiert. Die Bodenmythologie gibt dem »Wir« eine geistige Mission, einen geschichtlichen »Endzweck« vor. Von den »Neger[n]«, die im Zustand der »Kindernation« verbleiben (= Hegel-Rekurs), setzt sich das raunende »Wir aber« ab (6), das seine Befreiung aus Fesseln und die Verwirklichung seiner höheren Bestimmung im reinigenden Zorn ankündigt. Im siebten Abschnitt geht es mit Hegel-Versatzstücken um den ›Gang‹ des deutschen Geistes durch die Geschichte, der mit dem Eintritt des Germanischen Reichs in die Weltgeschichte beginnt. Ziel ist es, das von den Untoten des Bodens geforderte Erwachen in Abgrenzung vom slawischen Osten zu verwirklichen. Abschnitt 8 kündet von der Wiederkehr des Verdrängten, von der Unruhe des Stadtgründers Kain und dem tragischen Fall der Gesunden. Dieses Drängen der Unerlösten zielt auf einen heroischen Opfertod fürs Vaterland (Hölderlin-Versatzstücke) zur Verwirklichung der Bestimmung der Deutschen als »Urvolk« (= Fichte-Versatzstück in 9; ähnlich in 10). Da es die mythisch-poetische Bestimmung der Deutschen ist, »[t]atenarm und gedankenvoll« zu sein, beschwört Abschnitt 11 »die Waffen der Worte«. Diese werden mit dem »Unten des Bodens«, mit den Alraunwurzeln, dem Raunen der unterirdischen Stimmen gekoppelt, wodurch das Thema des gespaltenen Bodens, der zwiespältigen Sprache der Tiefe zwischen Fluch und Bestimmung der Deutschen, intoniert wird (11, 12). Es folgen wörtliche Zitate aus Heideggers Rektoratsrede (»Der Wille zum Wesen der deutschen Universität ist der Wille zur Wissenschaft als Wille zum geschichtlichen geistigen Auftrag des deutschen Volkes als eines in seinem Staat sich selbst wissenden Volkes«; 13), kontrapunktisch ergänzt vom ›Raunen‹ der RAF von der einzig möglichen »Produktivkraft« im Imperialismus: der »revolutionäre[n] Gewalt, die Fähigkeit zur Gegengewalt«, die auf die Auslöschung des Individuums und auf den Sieg des Kollektivs zielt (14, 15). Dieses »Wir«-Raunen mündet erneut in Heideggers Rede von der Einheit des Dienstes an der gemeinsamen nationalen Sache (»Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst«; 16). Der 17. Abschnitt intoniert das Kaiser-Barbarossa-Motiv, indem es das »Wir« als »die Zungen des Volks, gebunden im Boden«, beschwört. In der raunenden Kunde vom Mythos der noch schlafenden, aber bald erwachenden Nation schwingt zudem die Proble-
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matik einer opportunistischen, das Handeln aufschiebenden deutschen Innerlichkeit an (»Laßt uns schlafen! Wir leben vorzugsweise in der Innerlichkeit des Gemüts und des Denkens«). Inzwischen ist der Leerlauf der rhetorisch-tautologischen Beschwörung einst wiederkehrender Helden dröhnend und penetrant (»Und sie werden es dann und nur dann, wenn wir wenn wir wenn wir dem deutschen Schicksal in seiner äußersten Not standhalten«; 18). Die Beschwörung einer sich leerlaufenden heroischen Bestimmung kippt schließlich ins Träumen, in die romantische Sehnsucht des Wanderers nach dem »Nachhaus«, »[z]u uns, wo wir wohnen« (19), nach einem ›Schlafen im Boden‹ und einem Träumen vom »Führen«, von der »Auslese der Besten« und »echte[r] Gefolgschaft« in einer mythisch aufgeschobenen Zeit des Erwachens (»Noch schlafen wir in ihm, doch bald stehen wir auf«; 20). Das raunende »Wir« verbleibt zuletzt in einem sprachlichen Zustand zwischen Ruhe und Unruhe, Sein und Nicht-Sein. Dieser mündet in ein Kleist-Zitat aus der Hermannsschlacht: »Aus Nichts ins Nichts, hart zwischen Nichts und Nichts« (21).
Die raunende Chorstimme in Wolken.Heim. beschwört einen Kollektivkörper und führt zugleich dessen sprachlichen Leerlauf und seine Ortlosigkeit vor: »Aus Nichts ins Nichts, hart zwischen Nichts und Nichts«, wie es mit Kleist im 21. Abschnitt heißt. Die gespenstisch-heroische Gruppenidentität stellt sich auf Kosten der Einzelnen her, denn der Kollektivkörper nimmt erst auf der Grundlage der Abwesenheit des konkreten, einzelnen Körpers Gestalt an. Diese ›vampiristische‹ Gestaltwerdung des (deutschen) Mythos spiegelt sich auch im literarischen Verfahren, die Prätexte ihrer ›Einzigartigkeit‹ und Autorität zu ›entkleiden‹. Die Tendenz zur gewaltsamen Assimilierung von Einzelstimmen und zur stimmlichen Vereinheitlichung steht im Kontrast zur diskursiven Lückenhaftigkeit und Widersprüchlichkeit der chorischen »Wir«-Stimmen. Das unablässige Raunen eines sich nur tautologisch konstituierenden Kollektivs produziert so ein hymnisches Pathos und daneben die leere rhetorische Sprachfigur einer nationalen Identität. Die Sprachschöpfung einer hymnisch-auratischen Identität zeigt sich in ihrem Vollzug als leere und zugleich gewaltsame formalistische Konstruktion. Ursprünglichkeit und Einheit der nationalen Identität werden von ihrer metasprachlich-mythischen Echostruktur selbst in Frage gestellt. Im Verfahren der Umformung wird das Implizite explizit: »das Dunkel der vielen Stimmen, die bereits vorgesprochen haben«.1190 Aus den Versatzstücken nationalistischen Raunens entsteht ein chorisches Sprechen, das zwar an den antiken Chor anschließt, aber keine außenstehende moralische Instanz mehr ist. Der Chor bringt vielmehr »das beschädigte Leben als Kollektivum« zum Ausdruck.1191 Die Entwicklung des chorischen Sprechens hatte einen maßgeblichen Einfluß auf das kunstautonome postdramatische
1190 Jelinek: Sinn egal. Körper zwecklos, S. 9. 1191 Dieter Heimböckel: Gewalt und Ökonomie. Elfriede Jelineks Dramaturgie(n) des beschädigten Lebens. In: Jelinek[Jahr]Buch, hg. v. Pia Janke. Wien 2011, S. 302–315, hier S. 311.
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Theater der neunziger Jahre. So ist das chorische Sprechen im Sportstück (1998) die »konsequente Fortsetzung von Jelineks Sprachflächen in ihrer intertextuellen Struktur« und in ihrer Funktion als Instrument der Reflexivität und Distanzschaffung.1192 Es wendet sich an die Zuhörer und ist zugleich anonym und auktorial. Die Sprecher sind nicht Tote als Personen, sondern subjektlose Gespensterstimmen der Vergangenheit: unstete, zwischen alter und neuer Textordnung herumirrende Zeichen, die ihre Bedeutung ›enthüllen‹ möchten.1193 Wie die sprachliche Selbstsetzung einer »Wir«-Identität finden diese Zwischentexte ihre Begründung nicht in sich selbst als ein souveränes Da-Sein, sondern nur in ihrer sprachmythischen Form als Verkettung und Vergehen. Jelineks sprachlich konstruiertes ›Raunen‹ lässt sich in dieser Hinsicht vom Pathos-Stil, der im literarischen Nobilitierungssektor gepflegt wird, unterscheiden. Während dort der hymnische Stil auf ein souveränes Werk- und Identitätsverständnis des (männlichen) Autors verweist, schwingt in Jelineks ›Raunen‹ im Avantgardekanal der Bruch, die eingeschriebene Reflexivität, sprich, die positionelle Selbstreflexion eines Universalanspruches mit. Dieser feldpositionell begründete Unterschied im Stil steht schließich auch in einer Verbindung mit unterschiedlichen Ausgestaltungen der Gedächtnisfunktion von Literatur. Denn das Gedächtnis der Literatur zielt bei den L’art pour l’art-Autorpositionen eines Handke oder Strauß auf eine Wiederherstellung des Vergangenen, Verlorenen und Zerfallenen im Medium der Sprache. Die sprachliche Wiederherstellung oder »Wiederholung« (Handke) erfolgt hier zwar nur ex negativo, aber die zerbrochenen Einzelgegenstände und Einzelwahrnehmungen verweisen symbolisch auf ein organisch oder morphologisch Ganzes.1194 Das ›Raunen‹ im Avantgardekanal ist dagegen von einer Reflexion der Zerteilung geprägt, die die Differenz zum Einheitsdenken markiert. Bereits in Thomas Klings Lyrik und in Reinhard Jirgls Prosa zeigte sich der sprachlich konstituierte Verweis auf einen ›Schreckenskern‹, der mit einer Gedächtnis-Funktion der Literatur verbunden ist. In Jelineks Wolken.Heim. wird nun mittels eines intertextuellen Verweises auf Heinrich von Kleists Hermannsschlacht der Zusammenhang zwischen differentieller ›Spur‹, Identität und Gedächtnis aufgegriffen: In Kleists Stück tritt bekanntlich in der 4. Szene des 5. Aktes eine »Alraune« auf, ein »Stammütterchen Cheruskas«, eine AlbZauberin in Wurzelgestalt, deren Name sich etymologisch aus »Gespenst« und »Raunen« zusammensetzt. Diese wird vom römischen Feldherrn Varus nach
1192 Schößler: Augen-Blicke, S. 66; vgl. Heimböckel: Gewalt und Ökonomie, S. 310. 1193 Vgl. Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen, Basel 1996, S. 209. 1194 Nach dem Vorbild der klassischen Autorposition Goethes; vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.1.
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seinem Schicksal gefragt: »Wo komm ich her? Wo bin ich? Wohin wandr’ ich?« und er erhält die verhängnisvolle Antwort: Aus Nichts [...] Ins Nichts [...] Zwei Schritt vom Grab, Quintilius Varus, / Hart zwischen Nichts und Nichts!«1195 Mit der Mythosgestalt der Alraune verbindet sich das Motiv der verdrängten und traumatisch immer wiederkehrenden Stimmen der Toten, die von der Bedrohung der ›unschuldigen‹ Gegenwart künden: Wer an der Wurzel zieht, wird das Schreien der Untoten, die Stimme des Verdrängten, hören. Wie Schmeiser in dem von Jelinek als Prätext genannten Aufsatz ausführt, verweist die Alraunwurzel auf das »Gedächtnis des Bodens«, dem eine zentrale Bedeutung für den Mythos der Deutschen und ihrer Geschichte zukommt.1196 Das »Gedächtnis des Bodens« bilden die im Boden eingelagerten Stimmen der Untoten, der deutschen Erd-Entrückten, die auf ihre Wiedergeburt warten (Barbarossa, Karl d. Gr., Wotan, Siegfried etc.) und keine Ruhe haben, bis ihre geschichtliche Bestimmung Wirklichkeit geworden ist. Es steht als geschichtsphilosophische Zeit in einem dialektischen Verhältnis zur irdischen Verkehrszeit als sozialem Zivilisationsprozess: So verläuft die deutsche Geschichte »entlang von Zeichen der Oberfläche, die auf Tiefe verweisen und deren Tiefe zu deuten bleibt« (38). Deutschland ist der Boden, der nicht vergisst und der, in seinen mahnenden Zeichen, nicht vergessen läßt (vgl. 39). Der Aufteilung der Zeit in eine zivilgeschichtliche und eine geschichtsphilosophische Zeit entspricht in der deutschen Mythologie die Teilung der Nation in Oberfläche und Tiefe: Der Versuch, beide Ebenen zu versöhnen und zur Deckung zu bringen, prägt Konzepte einer »ungewordenen Nation« Herders bis hin zur »verspäteten Nation« Plessners (vgl. ebd.). Dabei sind »Tiefe« und »Vergangenheit« untrennbar miteinander verbunden: Aus der Oberfläche der Verkehrszeit brechen immer wieder die bedrohlichen älteren Schichten der Vergangenheit – der Eruption eines Vulkans gleich – aus. Die Wiederherstellung der Ordnung kann sich nur im Durchgang durch die Gewaltformen der Vergangenheit vollziehen (vgl. 41). Das ist der Grund dafür, dass das unversöhnte »Gedächtnis des Bodens« das Heimische des Bodens in das Unheimliche des Tiefgründigen, des Unergründlichen verwandelt (vgl. 42). Hieraus erklärt sich schließlich die besondere Bedeutung der Alraunwurzel, wie sie sich insbesondere durch Ludwig Tiecks Erzählung Der Runenberg (1802) ins kollektive Gedächtnis eingeprägt hat: Der Alraun weist in die Tiefe und macht das Leben an der Oberfläche unmöglich. Er kehrt das Verhältnis von Leben am Licht und unterirdischem Tod in sein Gegenteil; das Abgestorbene, der Leichnam, rückt an die Oberfläche und erinnert dadurch an die Verwesung einstiger Herrlichkeit […]. Wortgeschichtlich ist Alraun soviel wie Alb-Rune, Geraune, Geheimnis, Rat der Alben, Elfen, jener Geister, die in den Boden, die Wurzel gebannt sind. Neben der Sehnsucht der blauen Blume und der Gefahr des beschriebenen Steins ist der Alraun die dritte Verbindungsform des Bodens, die umfassendste: […] es ist der Alraun, der dem Menschen Zugang zur Tiefe verschafft: als Sprache des Bodens (44).
1195 Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht. In: H. v. K.: Sämtliche Werke und Briefe in zwei Bänden. Hg. v. Helmut Sembdner. München 71987, Bd. 1, S. 603. 1196 Leonhard Schmeiser: Das Gedächtnis des Bodens. In: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft (1987), S. 38–56; folgende Angaben im Fließtext nach dieser Quelle.
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Der Umgang mit der Alraunwurzel gibt Auskunft über die Beziehung des Menschen zum »Gedächtnis des Bodens«. Aus dem alten Weib in Kleist Hermannsschlacht spricht die Sprache des Bodens, die mit der Sprache des fremden Eroberers unvereinbar ist. Daraus resultiert eine unversöhnliche Sprachkollision, aus der sich Jelineks literarisches ›Raunen‹ bildet. »Aus Nichts ins Nichts. Hart zwischen Nichts und Nichts« (Wolken.Heim., 21. Abschnitt). Das »Gedächtnis des Bodens« fordert ein gegenwärtiges Verhältnis zu den Heroen der Vergangenheit ein. Dieser Forderung nach dem Heldengedächtnis steht aber die ›bodenlose‹, gedächtnistötende Schrift entgegen.1197 Die Kollision eines wiedergängerischen, am Leben zu haltenden Gedächtnisbildes mit der ihr entgegenstehenden, abstrakten Schrift erinnert an Jirgls Versuch, das bildhafte, allegorische Gedächtnis der Schrift wieder freizulegen, es zu reaktivieren und ihr die verlorene Tiefendimension wiederzugeben. Im Unterschied zur Position der Ästheten und Notabeln verbleibt Jirgls Schreiben in der zirkulären Struktur der Destruktion und Negation. Jelineks Poetik der Oberfläche formt dagegen das vertikale, in die Tiefe strebende ›Raunen‹ vom »Gedächtnis des Bodens« um. Dessen Verlegung in ein flüchtiges Sein an einem Unort oder in einem Zwischenraum – »Hart zwischen Nichts und Nichts« – verweist nicht mehr auf den tragisch untergehenden, geschlagenen Kriegshelden (Quintilius Varus bei Kleist), sondern auf die (Nicht-)Existenz derjenigen, die aus dem Gedächtnisraum der Helden und ihres tragischen Untergangs verdrängt worden sind. Jelineks Streben nach ›Seichtheit‹ als ästhetische Technik, ihre Oberflächenpoetik des sprachlichen Ornaments, wendet sich gegen ein auf die Bewahrung ›eigentlicher‹ Substanz ausgerichtetes Gedächtnis.1198 Dagegen versteht sie ihr Theater als Vorbereitung, in die Zeitlichkeit einzugehen. Die Bühnenmenschen treten nicht auf, weil sie etwas sind, sondern weil das Nebensächliche an ihnen zu ihrer eigentlichen Identität wird. [… Sie] werden zum Ornament, zu Darstellern von Darstellern, in endloser Kette, und das Ornament wird auf der Bühne das Eigentliche. Und das Eigentliche wird, Platz! Zurück!, zur Zierde, zum Effekt. Ohne sich um die Wirklichkeit zu kümmern, wird der Effekt zur Realität.1199
1197 Vgl. ebd., S. 47 f. 1198 »Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. […] »Wenn der Herr Regisseur in die Ewigkeit hineingreift und etwas Zappelndes herausholt. Dann ermordet er alles, was war, und seine Inszenierung, die doch ihrerseits auf Wiederholung gegründet ist, wird zum Einzigen, das sein kann. Er verleugnet das Vergangene und zensiert gleichzeitig (Mode!) das Zukünftige, das sich nun für die nächsten Saisonen nach ihm zu richten haben wird« (Jelinek: Ich möchte seicht sein, S. 159). 1199 Ebd., S. 161.
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Der ›Hund‹ der Eigentlichkeit und des Seins, der sich über das Seiende stets erheben und verselbständigen möchte, wird in Jelineks Oberflächenästhetik ›zurückgepfiffen‹ und zum sprachlichen Ornament auf der Bühne umgeformt. Als solches verformt sich das ›Eigentliche‹ zum effet de réel (Barthes), zu einer Realität, die sich in der Struktur der Oberflächenzeichen verwirklicht. Wenn die Ästhetik einerseits durch Realitätseffekte erzielende, semiotische Mythenstrukturen geprägt ist, wird sie andererseits von der Realität der adressierten Menschen ergänzt: von den »Zivilisten«.1200 In Jelineks Theatertexten der späten achtziger Jahre und in ihrer Entwicklung eines chorischen Theaters in den neunziger Jahren treten immer seltener repräsentative Einzelne1201 oder ein »Wir« als repräsentative Gruppe oder anonyme Masse auf, sondern zunehmend wird ein kollektiver Zustand von Einzelnen, von Zivilisten dargestellt. Die Menschen als Zivilisten sind die nicht sichtbaren Opfer der männlich-heroischen, naturalisierten Kriegslogik in der Gesellschaft. Im Gegensatz zur ihr stehen die zivilen Menschen in der sozialen Zeit, die Einzelnen als Viele. Mit der Figur der Zivilisten, den zwischen dem heroischen Individuum und der amorphen Masse ›eingefalteten‹ Einzelnen als Viele, schafft Jelinek einen anonymen, nicht sichtbaren Protagonisten, »der aus der horizontalen Lage der Erniedrigten heraus die Ordnung der aufrechten Festkörper in Zweifel zieht«.1202 Auch die textuelle »Wir«-Entwicklung in Wolken.Heim., die eine tautologische Identität ineinander verschachtelter Reden generiert, schließt mit ihrem Vollzug zugleich das ›Da-Sein‹ der fremden, unheroisch-zivilen Menschen aus. So ist das Schweigen der ausgegrenzten Fremden und Opfer der (deutschen) Geschichte in den Leerstellen des sprachlichen Echo-Raumes mitinszeniert.1203 Denn das ›raunend‹ beschworene, souveräne ›Bei-sich-Sein‹ erweist sich als eine Echoinstallation in einem Gedächtnisraum, in dem das Verdrängte, das flüchtig Untote, eingelagert ist.1204 Die in Wolken.Heim. komponierte Echostruktur bildete die Grundlage für Jelineks Entwicklung eines chorischen Theaters in den neunziger Jahren. Durch sie erhalten die von der ›Weltzeit‹ des Tragischen und Erhabenen ausgeschlossenen und in die nicht-tragische ›Verkehrszeit‹ verwiesenen Zivilisten in-
1200 »Zivilisten sollen etwas auf einer Bühne sprechen! Vielleicht eine Modeschau, bei der die Frauen in ihren Kleidern Sätze sprechen. Ich möchte seicht sein!« (ebd., S. 157). 1201 »Ich und der, der ich sein soll, wir werden nicht mehr auftreten. Weder einzeln noch gemeinsam« (ebd., S. 158; vgl. auch Heimböckel: Gewalt und Ökonomie, S. 307). 1202 Vogel: Flächenkonzepte, S. 16. 1203 Vgl. Christina Schmidt: Chor der Untoten. Zu Elfriede Jelineks vielstimmigem Theatertext Wolken.Heim. In: Alexander Karschnia u. a. (Hg.): Zum Zeitvertreib. Strategien. Institutionen, Lektüren, Bilder. Bielefeld 2005, S. 223–232, hier S. 228. 1204 Vgl. Heimböckel: Gewalt und Ökonomie, S. 309.
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direkt ihre Stimme. Im horizontal strukturierten, textuellen Gedächtnis geht es um einen Umgang mit der Jetzt-Zeit, der in den ›Falten‹ ihrer alltäglichen Mythenproduktion eine ›Schuldzeit‹ der Vergangenheit freilegt. Dieses paradoxe ästhetische Verfahren der ›freilegenden Einlagerung‹ des Untoten in die Sprachflächen und nicht in die hymnisch prätendierten Sprachtiefen, hat Jelinek dann in Die Kinder der Toten radikalisiert.
Einzelstudie 2: Das zivile Gedächtnis der Untoten in Die Kinder der Toten (1995) 1995 war Österreich Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse. Elfriede Jelinek, deren Roman Die Kinder der Toten gerade erschienen war, las dort aus Prinzip nicht. Mehr noch, sie riet dem Schriftstellerkollegen H. C. Artmann, wie das Boulevardblatt »News« kolportierte, »vor den Österreich-Pavillon zu scheißen«.1205 Was war geschehen? Jörg Haider, Vorsitzender der rechtspopulistischen »Freiheitlichen Partei Österreichs« (FPÖ), die bei der Nationalratswahl Ende 1995 22 % erzielte, hatte Artmann unterstellt, sein Geld zu vertrinken und wollte ihm deshalb die staatliche Unterstützung streichen. Aus Solidarität mit Artmann gründete Jelinek ein Komitee. Einige Zeit später wurde sie dann selbst von der FPÖ durch eine Wahlplakatkampagne als »sozialistische Staatskünstlerin« diffamiert.1206 Enttäuscht musste sie feststellen, dass sich die Solidarität mit ihr sehr in Grenzen hielt. Dies alles fand in der Atmosphäre eines sich seit 1993, seit Versendung einer ersten Briefbombenserie, manifestierenden rechtsextremen Terrors in Österreich statt. Dieser erreichte einen Höhepunkt in der Ermordung von vier Roma durch eine Sprengfalle. Zugleich war 1995 auch das Jahr, in dem Österreich der EU beitrat. Unter diesen Eindrücken schrieb Jelinek das Stück Stecken, Stab und Stangl und Die Kinder der Toten, die in Österreich zum gesellschaftlichen ›Ärgernis‹ wurden. In einer Besprechung des Romans Die Kinder der Toten wurde bemängelt, das Bild der Autorin von der Vergangenheit entbehre »gänzlich jener Leidenschaft, die noch Lebert bestimmt« habe und ihre Gegenwartsdarstellung im Roman sei »so platt, als hätte die Dichterin Jelinek sie der
1205 Vgl. Mayer, Koberg: Elfriede Jelinek, S. 208. 1206 Auf dem FPÖ-Plakat war eine Geige abgebildet mit dem Text: »Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk … oder Kunst und Kultur?« Darunter stand der Zusatz: »Freiheit der Kunst statt sozialistischer Staatskünstler«. Die Diffamierung zielte in erster Linie auf Jelinek (ehemalige Geigenschülerin), die hier im ›Kartell‹ mit dem Burgtheaterdirektor Claus Peymann und drei Kulturpolitikern dargestellt wurde (vgl. Janke [Hg.]: Die Nestbeschmutzerin, S. 88–93). Die Bezeichnung als »sozialistischer Staatskünstler« erinnert an die Debatte um die »Gesinnungsästhetik« (Greiner) im »deutsch-deutschen Literaturstreit« 1990.
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unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeiterin Jelinek abgelauscht«.1207 Hans Leberts Anti-Heimatroman Die Wolfshaut – 1960 erschienen, zunächst erfolgreich, dann kaum noch wahrgenommen, 1991 neu aufgelegt und mit viel Anerkennung rezipiert – war mittlerweile zum Maßstab geworden, an dem die nachfolgenden literarischen Auseinandersetzungen mit der unbewältigten NS-Vergangenheit Österreichs, von Thomas Bernhards Frost-Roman (1963) bis zu Die Kinder der Toten (1995), gemessen wurden. Was bei der Rezeption von Jelineks Roman Schwierigkeiten bereitete, war nicht nur die fehlende »Leidenschaft«, die fehlende Empathie mit den Österreichern, an deren Stelle bei Jelinek eine sehr technisch-artifizielle Sprache und Erzählweise getreten war.1208 Der ungewisse Status von Sprecherstimme, Personen, Handlung und Zeit im Roman und die daraus resultierende »Unlesbarkeit« 1209 machten laut Literaturkritik jedes Lesevergnügen unmöglich. Auch das für so manche Leser in Österreich weiterhin monströse Thema der Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit belastete die Rezeption. Schließlich rührte das ›Ärgernis‹ des Romans offenbar auch daher, dass die Anti-Heimat-Darstellung nicht in der Nische einer avantgardistischen Literatur verblieb, sondern durch die Öffentlichkeitsarbeit ihrer Autorin auch breiteren Kreisen bekannt wurde.
Seit dem Burgtheater-Stück (1985) galt Jelinek als »Nestbeschmutzerin« und im Weiteren sogar als »sozialistische Staatskünstlerin« Österreichs. Die Gegenüberstellung der Vergangenheits- und Gegenwartsdarstellung, die Opposition von »Dichterin« und »Öffentlichkeitsarbeiterin«, die an den Vorwurf der »Gesinnungsästhetik« im deutsch-deutschen Literaturstreit erinnert,1210 lässt sich in die übergeordnete Frage nach dem Zusammenhang von Erinnerung und Politik im Schreiben Jelineks übersetzen. Schauplatz der Handlung ist die Pension »Alpenrose« in der Steiermark. Die drei Hauptfiguren sind die Philosophiestudentin Gudrun Bichler, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hat, der
1207 Die Presse, 9. 9. 1995; zit. n. Mayer, Koberg: Elfriede Jelinek, S. 208 f. Diese Argumentation ähnelt derjenigen von Reich-Ranickis Verriss des Romans Ein weites Feld von Günter Grass (vgl. oben: Zweiter Teil, II. 2.3.1.). 1208 Vgl. Sieglinde Klettenhammer: »Das Nichts, das die Natur auch ist« – Zur Destruktion des Mythos ›Natur‹ in Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten. In: Axel Goodbody (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam, Atlanta 1998, S. 317–339, hier S. 318. 1209 »Jeder Leser, der liest, wird auf die Unlesbarkeit von Jelineks Text stoßen, und ein Leser – so postulieren wir hier provokant –, der an Jelineks Text nicht scheitert, der ihn genießt und ihn versteht, liest nicht den Text, sondern liest über ihn hinweg, steigt über seine Zeichenleichen, als wären sie nicht da, als wäre der Weg frei zur Sprache und zum Sinn. Ein Text wie ›Die Kinder der Toten‹ – zweifellos Jelineks opus magnum – ist ungenießbar« (Rainer Just: Zeichenleichen – Reflexionen über das Untote im Werk Elfriede Jelineks; http://www.univie.ac.at/jelinetz; abgerufen am 15. 12. 2012); vgl. auch Ian W. Wilson: Greeting the Holocaust’s Dead? Narrative Strategies and the Undead in Elfriede Jelinek’s Die Kinder der Toten. In: Modern Austrian Literatur 39 (2006), Nr. 3/4, S. 27–104, hier S. 28 f. Wilson versteht die »Unlesbarbeit« des Romans als prinzipielle Unlesbarkeit der Allegorie bei Jelinek. 1210 Zur Doppelbestimmung österreichischer Schriftsteller als »Staatsdichter« und »Staatskritiker« vgl. Robert Menasse: Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik. Essays zum österreichischen Geist. Wien 1990.
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ehemalige Ski-Profi Edgar Gstranz, der mit seinem Sportwagen tödlich verunglückt ist, und Karin Frenzel, die bei einem Autounfall lebensgefährlich verletzt wird und später in einem Wildbach ertrinkt. Alle drei kehren als untote Zombies wieder, wobei Jelinek zahlreiche Doppelgängerfiguren in den Text einführt. Die untoten, sich verwandelnden oder verdoppelnden Protagonisten treiben Sport (Edgar), kopulieren/masturbieren, suchen die Urlaubsgäste der Pension heim, morden und begehen kannibalische Akte. Sie selbst wiederum werden heimgesucht von den massenhaften Toten des Holocaust und ihren stumm-materiellen und zugleich als »ikonische Superzeichen« fungierenden Hinterlassenschaften (Züge, Rampe, Gas, Öfen, Schornsteine, Brillen und Gebisse, Zähne, Koffer, Haare).1211 Als scheinbar apokalyptischer Abschluss des Romans wird die Touristenpension samt der umliegenden Gegend von einer Schlamm-Mure erfasst, vollständig zerstört und verschüttet. Dabei treten Unmengen an »Haar« an die Oberfläche und in den Ruinen wird eine große Menge an Toten gefunden, die bereits seit sehr langer Zeit verstorben waren.1212
Jelineks Roman ist von zahlreichen intertextuellen Verweisen auf Leberts Wolfshaut-Roman durchzogen.1213 Beide Romane thematisieren die kollektive Verdrängung der NS-Vergangenheit Österreichs und beide bringen mit Freud die Verdrängung in einen Zusammenhang mit dem Unheimlichen, mit dem »Heimlich-Heimische[n], das eine Verdrängung erfahren hat«.1214 Damit ist die innere Verbindung mit dem gewählten Genre, dem Heimat- bzw. Anti-Heimatroman, angezeigt. Dieses wird bei Jelinek radikalisiert und kombiniert mit Gattungsmerkmalen des Gespensterromans in der Tradition der gothic novel und ihren medialen Entsprechungen, dem Horror- oder Splatterfilm.1215 Eine direkte Vorlage für Jelinek war der legendäre Horrorfilm von Herk Harvey, Carnival of Souls (1962).
1211 »So zitiert die hypertrophe Verwendung des Haar-Motivs zweierlei: dessen ›reines Sein‹ als unmittelbares objet trouvé der Shoa, das ›ist‹ ohne bedeuten zu müssen, und seine Tradierung als ikonisches Superzeichen eines mit dem Grauen Schindluder treibenden Shoa-Business« (Pontzen: Pietätlose Rezeption?, S. 68). 1212 Elfriede Jelinek: Die Kinder der Toten. Reinbek b. Hamburg 1995. S. 666. Im Folgenden zitiert mit der Sigle KT und Seitenangabe. 1213 Vgl. hierzu ausführlich Pontzen: Pietätlose Rezeption? 1214 »Das Unheimliche ist also auch in diesem Falle das ehemals Heimische, Altvertraute. Die Vorsilbe ›un‹ an diesem Worte ist aber die Marke der Verdrängung […]. Es mag zutreffen, daß das Unheimliche das Heimlich-Heimische ist, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist, und daß alles Unheimliche diese Bedingung erfüllt« (Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: S. F.: Studienausgabe. Bd. IV. Frankfurt a. M. 1982, S. 241–274, hier S. 267 f.). 1215 »Und ich komme eben nicht nur aus dieser schwarzen Romantiktradition, sondern auch aus der und ich scheue ja auch die trivialste Ausformung nie, auch aus den splatter movies, aus den Horrorfilmen, aus den Gruselfilmen« (zit. n. Carola Wiemers, Michael Opitz: »Diese unstillbare Wut« – Die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. DeutschlandRadio Berlin WerkStatt, 12. 12. 2004, www.dradio.de/download/26369; abgerufen am 15. 12. 2012).
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Im Unterschied zu Lebert verzichtete aber Jelinek darauf, einen linear erzählbaren, historischen Ereigniszusammenhang zu gestalten. Die dichten intertextuellen Verhältnisse zeigen, dass der Roman »strukturell und im Anspruch auf Zukunft hin offen« komponiert ist.1216 Offen ist er, so lässt sich ergänzen, weil er den verdrängten Faschismus in ein strukturelles AussageMuster im Sinne von Barthes’ Mythos-Begriff überführt.1217 Das verdrängte und wiederkehrende ›Gespenst‹ des Faschismus, seine mythische Aussagestruktur als »sekundäres semiologisches System«,1218 füllt Jelinek immer wieder aufs Neue mit einer historisch und in der Gegenwart situierten ›Schuld-Zeit‹, die auf die Zukunft hin offen angelegt ist. Der im Roman wie auch in Jelineks gesamtem Œuvre zentrale Gegenstand ist, wie Janz betont hat, das Wiedergängertum des Faschismus – und dies nicht nur als Thema, sondern auch als ästhetische Verfahrensweise.1219 Der Erzählaufbau ist nicht-linear, lässt aber eine musikalische Kompositionsform mit Exposition (Prolog), Durchführung (Kap. 1–17), Variation (18–26), Reprise (27–35) und Coda (Epilog) erkennen.1220 Wie spätestens seit Wolken.Heim. für Jelineks Schreiben charakteristisch, wird mit »Sprachflächen« gearbeitet, die die Figuren, die im Roman selbst nicht sprechen, mittels einer assoziativen Ästhetik in einem kontinuierlich metamorphotischen sprachlichen Gestaltungsprozess erschaffen. Begleitet wird dieser von einer unzuverlässigen auktorialen Erzählstimme, einer Sprechinstanz, die sich gelegentlich in einer expliziten »Ich«- oder »Wir«-Form vernehmbar macht, aber niemals als einheitliches Subjekt zu fassen ist.1221 Durch intertextuelle Verfahren werden Subjektpositionen vorübergehend zusammengesetzt und gleich wieder
1216 Pontzen: Pietätlose Rezeption?, S. 64; vgl. auch S. 65, Anm. 61. 1217 Barthes: Mythen des Alltags, S. 85: »[D]a der Mythos eine Aussage ist, kann alles, wovon ein Diskurs Rechenschaft ablegen kann, Mythos werden. Der Mythos wird nicht durch das Objekt seiner Botschaft definiert, sondern durch die Art und Weise, wie er diese ausspricht«. 1218 Ebd., S. 92. 1219 Vgl. Marlies Janz: »Die Geschichte hat sich nach 45 entschlossen, noch einmal ganz von vorne zu beginnen …«. Elfriede Jelineks Destruktion des Mythos historischer ›Unschuld‹. In: Daniela Bartens, Paul Pechmann (Hg.): Elfriede Jelinek. Die internationale Rezeption. Dossier Extra. Wien 1997, S. 225–238, hier S. 225. 1220 Vgl. Moira Mertens: Die Ästhetik der Untoten in Elfriede Jelineks Roman »Die Kinder der Toten« (Magisterarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin). Berlin 2008, S. 129 f., siehe: http://www.univie.ac.at/jelinetz/images/b/bc/Mertens.pdf; abgerufen am 15. 12. 2012). 1221 Vgl. Ralf Schnell: Stoffwechselprozesse. Oberfläche und Tiefenstruktur in Elfriede Jelineks Roman Die Kinder der Toten. In: Eder, Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 169–179, hier S. 173. Beispiele für verschiedene Sprechinstanzen bei Sabine Kyora: Untote. Inszenierungen von Kultur und Geschlecht bei Elfriede Jelinek. In: Hanjo Berressem, Dagmar Buchwald, Heide Volkening (Hg.): Grenzüberschreibungen: »Feminismus« und »Cultural Studies«. Bielefeld 2001, S. 35–53, hier S. 49 f.
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›verflüssigt‹. Dabei treten ihre gesellschaftsstrukturellen Bedingungen und Beziehungen sprachlich in Erscheinung.1222 Die Aufhebung der Grenze zwischen Leben und Tod impliziert nicht nur eine Entleerung, Verflüssigung und Auflösung der Subjektidentitäten, sondern auch einen fließenden und springenden Zeitverlauf. So ist der Roman von Zeit-Loops einer filmischen Erzählweise geprägt: einerseits im Sinne von Zeit-Falten, die die Figuren – ähnlich wie im surrealistischen Film – plötzlich in neue Zeiträume (vor- oder zurück-)springen lassen;1223 andererseits arbeitet der Roman mit polyperspektivisch wiederholten Sequenzen und Zeitlupen nach Art von Fernseh- und Comic-Serien oder nach Art einer von Werbespots unterbrochenen Sportberichterstattung mit mehreren an der Rennstrecke aufgestellten Kameras.1224
Angesichts des Nachlebens antisemitischer, faschistischer und xenophobischer Denk- und Sprachmuster in der Gegenwart, die sich mit den Diskursen der Medien, der Konsum- und Leistungsgesellschaft und mit den Warenbeziehungen zwischen den Menschen, schließlich mit der symbolischen Gewalt in den Geschlechterbeziehungen verbinden, lässt sich Jelineks Anliegen als Ideologiekritik der nationalen Entwicklung Österreichs – und damit auch allgemein westlich-kapitalistischer Gesellschaften – vor dem Hintergrund eines unaufgearbeiteten Faschismus wie auch eines traumatischen Shoa-Gedächtnisses unter ›postmodernen‹ Verhältnissen verstehen.1225 Der Roman übt eine grund-
1222 Etwa durch die interdiskursive Verknüpfung mit Werbe-Slogans oder Fernsehserienzitaten, die zur Subjektkonstitution beitragen (gl. z. B. KT 190). 1223 Z. B. Gudruns Sprung vom Korridor der Pension in einen Container-Raum fünfzig Jahre zurück (d. h. ins Jahr 1945), in dem sie in einer verlassenen Straße vor verschlossene Läden tritt und nur noch Fußspuren der Vertriebenen (jüdischen Bewohner) im Schnee entdeckt; vgl. KT 161–163). 1224 Vgl. Mayer, Koberg: Elfriede Jelinek, S. 201. 1225 Hinter diesen unterschiedlichen Akzentsetzungen stehen zwei Richtungen in der Jelinek-Forschung: die eine, die in der Nachfolge von Marlies Janz in Jelineks Texten die Destruktion von Mythen und Ideologie betonen, und die andere, jüngere Forschungsrichtung, die die Dekonstruktion der Diskurse und die Unauflösbarkeit ästhetischer Differenz akzentuieren. Die unterschiedlichen Ausrichtungen korrespondieren mit der Rezeption des ideologiekritischen (Mythen des Alltags) und des dekonstruktivistischen Roland Barthes (S/Z etc.). Während Janz mit Bezug auf Barthes’ Trivialmythen-Konzept in Jelineks ästhetischen Verfahrensweisen das Anliegen erkennt, »die Mythologisierungen gesellschaftlicher Gewaltverhältnisse in den Sprachformen ›bürgerlicher Ideologie‹ aufzudecken und ihre Gleichzeitigkeit bzw. Ungleichzeitigkeit mit Prozessen der Demokratisierung etwa in der Massenkultur oder der ›Emanzipation‹ im Geschlechterverhältnis darzustellen« (Janz: Elfriede Jelineks Destruktion, S. 226), plädiert Annuß dafür, Jelineks Literatur als eine des traumatischen Erinnerns und der Überdeterminierung zu lesen, was die »Frage nach der Notwendigkeit und der Unmöglichkeit eines angemessenen Gedenkens« eröffne (Evelyn Annuß: Im Jenseits des Dramas. Zur Theaterästhetik Elfriede Jelineks. In: Text + Kritik, 117 (21999): Elfriede Jelinek, S. 45–50, hier S. 48; vgl. Mertens: Ästhetik der Untoten, S. 29).
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sätzliche Kritik an der Gedächtnispolitik der christlich-abendländischen Gesellschaft im Allgemeinen und des wirtschaftlich aufstrebenden Nachkriegsösterreich im Besonderen.1226 Das nicht mehr lebendige, jedoch geisterhaft die Gegenwart weiterhin prägende Gedächtnis betrifft zum einen das Verhältnis zu den massenhaft umgebrachten Opfern der NS-Diktatur. Sie wurden nicht nur um ihr Leben gebracht, sondern posthum auch um ein Gedächtnis, das von ihren eigenen Stimmen geprägt ist. Fünfzig Jahre nach Kriegsende ist der Gedächtnisraum von fremden, medial und politisch funktionalisierten Stimmen ausgefüllt. Die andere Seite des warenförmig und medial verdinglichten Verhältnisses zu den verdrängten Opfern bildet das Nachleben der faschistoiden Diskursund Denkmuster. Diese stehen wiederum in einer Kontinuität zur unterschwellig weiterhin wirksamen Denkmustern des deutschen Idealismus und Nationalismus, die bereits Gegenstand von Wolken.Heim. war. Ähnlich wie Jirgl geht auch Jelinek mit der Kritischen Theorie von einer Kontinuität der instrumentellen Vernunft, angefangen mit der Aufklärung und der Subjektphilosophie des deutschen Idealismus hin zum Faschismus mit seiner industriellen Massenvernichtung und schließlich bis zur Unterhaltungsindustrie der Gegenwart aus. Die Kontinuität zeigt sich österreichspezifisch in dem die nationale Identität prägenden Muster der historischen Unschuld (Österreich als erstes ›Opfer‹ des nationalsozialistischen Faschismus) und in der Nachkriegsentwicklung im Zeichen der mythischen Kopplung von Heimat, Natur, (Winter-)Sport und technisch modernisierter Leistungsgesellschaft.1227 Zu neuer Aktualität gelangt dieses mythische, Geschichte in Natur verwandelnde Aussagen-Konglomerat in den neunziger Jahren in Gestalt der immer mehr Wähler ansprechenden FPÖ und ihres Vorsitzenden Jörg Haider, der als Karikatur eines lokalen Politstars und Naturburschen durch den Roman geistert. Wie der Roman mit dieser unheimlichen Wiederkehr des Untoten umgeht, lässt sich seinen Erinnerungsverfahren ablesen. Deutlich ist zunächst die Frontstellung gegen ein repräsentatives Gedächtnis an Auschwitz, das angeblich im Namen der Opfer erfolgt, tatsächlich aber von einer gesellschaftlichen
1226 »Der Roman tritt mit der Behauptung auf, dass im Grunde genommen die gesamte abendländische Kultur eine Kultur des Untoten ist: die alles ergreifende und durchsetzende Fetischisierung ist die säkularisierte Form dieser Sakralisierung des eigentlich Nicht-Lebendigen« (Mertens: Ästhetik des Untoten, S. 32). 1227 Österreich ist das »Land der Berge, Land am Strome«, wie es in der Nationalhymne heißt. Jelinek widmet sich diesem Zusammenhang von Nationalbewusstsein, Umweltausbeutung und Fortschrittsgläubigkeit insbesondere in Das Werk (2002).
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Aneignung geprägt ist.1228 Die herrschende Gedenkkultur ist im wörtlichen Sinne eine Verdrängungskultur, denn der Gedächtnisraum steht in verschiedenen gesellschaftlichen Verwertungszusammenhängen. Den aussterbenden Zeitzeugen und ihren verklingenden Stimmen1229 steht ein zunehmend medial und funktional verstellter Stimmenraum gegenüber, der die Stimmen der zivilen Opfer verdrängt. Dem geschlossenen, repräsentativen Gedächtnis hält der Roman zwei unterschiedliche Erinnerungsverfahren entgegen.1230 Beide lassen sich auf den Barock als Repräsentationskultur zurückführen: Die erste Erinnerungsstruktur ist vertikaler Art, d. h. sie adaptiert die barocke Ästhetik der Wiederkehr der leiblichen Toten aus der Unterwelt in eine ihrerseits untergehenden Welt.1231 In einem Vergleich mit Benjamins Allegorie-Konzept in Ursprung des deutschen Trauerspiels liest Ralf Schnell Jelineks Roman als »Rückgewinnung der Allegorie für das Erzählen«, als »Allegorese der Welt« (254). Diese weise im Unterschied zu Benjamins Allegorie-Konzept wie auch Hegels »Furie des Verschwindens« weder eine geschichtsphilosophische noch gar messianische Tiefendimension auf, sondern sie situiere sich in einer programmatischen Ästhetik der ›Seichtheit‹, der Oberfläche. So heißt es an einer Stelle im Roman, dass die Geschichte »immer schneller rückwärts« laufe und der Katastrophenengel wate »mit in Blut eingeweichtem und vor der Kamera mit Ariel Ultra gewaschendem [sic] Gewand vorwärts« (KT 643). Weil sich Schnell aber an einer vertikalen Allegorie-Struktur der Geschichtsphilosophie orientiert, kommt er zu dem paradoxen Ergebnis einer sich in Jelineks Verfahren zeigenden »gleichsam futuristischen Vormoderne […], die in die Immanenz des literarischen Prozesses verlagert, was sie als strukturelle Katastrophe in Geschichte und Gesellschaft erkannt hat« (266).
Dem (heroisch-christologischen) allegorischen Gedächtniskonzept einer substanziell-ganzheitlichen Auferstehung der Toten steht eine horizontale Erinnerungs- und Repräsentationstechnik entgegen, die über den Begriff der »Falte« und der »Faltung«, des »Ein- und Auswickelns«, ebenfalls an den Barock an-
1228 »[D]as Wort, das keiner mehr hören mag: DER ORT IN POLEN. Oh Gott, sofort ein Kloster hineinstopfen! Eine Kirche! Eine Kapelle! Ein Dom! Nonnen!! Schulen!! Spitäler! Noch mehr Nonnen!!! Rasch die Gottesmörder mit der Gottesmutter verdrängen! Was kam danach? Memento mori: Jean A., Sarah K., Primo L. Und außerdem Der pneumatische, schnaufende Mensch, vom TV erleuchtet« (KT 632). 1229 Vgl. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1977; Sarah Kofmann: Rue Ordener, Rue Labat. Autobiographisches Fragment. Tübingen 1995; Primo Levi: Was ist ein Mensch? München 1992. 1230 Vgl. Mertens: Ästhetik der Untoten, S. 97. 1231 Vgl. zum Folgenden Ralf Schnell: »Ich möchte seicht sein« – Jelineks Allegorese der Welt: Die Kinder der Toten. In: Waltraud Wende (Hg.): Nora verläßt ihr Puppenheim. Autorinnen des zwanzigsten Jahrhunderts und ihr Beitrag zur ästhetischen Innovation. Stuttgart, Weimar 2000, S. 250–267; Nachweise im Fließtext.
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schließbar ist.1232 Mit dem Begriff der »Falte« lässt sich Jelineks Umgang mit dem semiotisch-rhetorischen Mythen-Konglomerat von deutschem Idealismus, Faschismus, Vergnügungs- und Bewusstseinsindustrie fassen: Weniger das Gedächtnis-Konzept der archäologisch-geschichtsphilosophischen Schichtung wie bei Jirgl – das »Gedächtnis des Bodens« hatte Jelinek in Wolken.Heim. radikal de(kon)struiert – als vielmehr horizontale ›Faltungsverfahren‹ prägen in dieser Perspektive Die Kinder der Toten.1233 Der Roman ist nicht nur von der »Falte« als Motiv durchzogen: angefangen bei der ›gefalteten‹ Mesusa-Grafik zu Beginn des Romans über das zentrale Motiv der »Gebirgsfalte« – in der ›Faltung‹ des Gebirges zeigt sich das mit der eigene kulturellen Identität Unvereinbare –, bis hin zum Kapitel acht, in dem das Thema der Erinnerung bzw. des Vergessens der Shoa mit Gegenständen in Gudruns Zimmer verbunden wird, die an einer »Falzstelle« abbrechen.1234 Auch erzähltechnisch ist der Roman von einem ›Faltungsverfahren‹ geprägt. Wie in Benjamins Denkbild vom eingerollten Strumpf in seiner Berliner Kindheit um 1900, das von der Identität des Erinnerungsinhalts mit seiner Erinnerungsform des Ein- und Ausrollens erzählt, ist die Erzähltechnik im Roman wesentlich über Verfahren eines ›Ein- und Ausfaltens‹ der erinnernden Weltwahrnehmung konstituiert.1235 Die Romanfiguren wie Gudrun Bichler existieren nur in Form der horizontal in die Gegenwart eingefalteten Erinnerung, ohne zeitliches oder existentielles Tiefenfundament.1236 Dabei ist signifikant, dass das Verfahren des ›Ein-‹ und ›Ausfaltens‹ von Erinnerungen und Weltwahrnehmungen in ›Zeitfalten‹ der Gegenwart, d. h. die Darstellung eines mit der Gegenwart verschachtelten Geschichtsraumes, ge-
1232 Vgl. Vogel: Flächenkonzepte, S. 17, die auf Leibniz’ bzw. Deleuze’ Konzept der »Falte« hinweist. Deleuze führt mit Blick auf Leibniz’ Monadenlehre aus: »Der Vorgang der Perzeption bildet Falten in der Seele, und die Monade ist von innen mit Falten (plis) ausgekleidet; die Materie ihrerseits ist in äußerlichen Faltungen (replis) organisiert. […] ›Die klassische Vernunft ist unter dem Schlag der Divergenzen, Unvereinbarkeiten, Unstimmigkeiten und Dissonanzen zusammengebrochen. Der Barock ist der allerletzte Versuch, eine klassische Vernunft wiederaufzurichten, indem er die Divergenzen auf ebenso viele mögliche Welten verteilt und aus den Unvereinbarkeiten ebenso viele Grenzlinien zwischen den Welten macht‹« (Gilles Deleuze: Die Falte. Leibniz und der Barock [1988]. Frankfurt a. M. 2000, Klappentext). 1233 »Statt aus der Tiefe kommen die Kinder der Toten, die die Szene in Jelineks Roman beherrschen, aus der Tiefe der Oberfläche, deren Variante, Entwicklung und Modulation sie sind. Dementsprechend kann auch der Boden, der das Geschehen trägt, nicht mehr als ein stabiler, massiver Untergrund gedacht werden, sondern als eine Tausendfältigkeit von Schichten, Stoffen und Hüllen, aus deren Bewegungen, Überlappungen und Stülpungen eine groteske und transitorische Population hervorgeht« (Vogel: Flächenkonzepte, S. 18). 1234 Vgl. KT 141–157. 1235 Vgl. Juliane Vogel: »Keine Leere der Unterbrechung« – Die Kinder der Toten oder der Schrecken der Falte. In: Modern Austrian Literature 39 (2006), Nr. 3/4, S. 15–26, hier S. 16 f. 1236 »Gudrun unterscheidet sich nicht von dem Boden, der sie eingewickelt mit sich führt« (KT 17).
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schlechtsabhängig ist:1237 Denn im Roman, in dem es an einer Stelle heißt, dass der »Geschichtsraum […] eigentlich ein Geschlechtsraum« sei (KT 266), ›falten‹, d. h. vervielfältigen und spiegeln sich die Frauen (Gudrun und Karin) in ihrer seit jeher deformierten und als ›Fremde‹ ausgegrenzten Flächen-Existenz, der die Selbstermächtigung des Subjekts nicht zuerkannt wird. Dagegen bleibt der Mann (Franz) als ruheloser Wiedergänger ganz bei sich und strebt der Weiterführung seiner noch nicht abgeschlossenen und durch den Tod vorzeitig abgebrochenen Sportler-, Macher- und Phallus-Identität nach. Die vertikale Erinnerungsstruktur der Wiederkehr der Toten scheint also im Roman tendenziell dem männlichen Prinzip der Bestätigung der Identitätseinheit vorbehalten zu sein, während die horizontale Faltung, Spiegelung und Zerteilung der Vergegenwärtigung und Reproduktion vor allem ›weiblicher‹ NichtIdentität entspricht. In ihren ›Persönlichkeitsspaltungen‹ sind die weiblichen Untoten zugleich sie selbst und eine andere, ein zur Passivität verurteiltes »Unwesen dritter Ordnung, dem etwas verkündet ist« (KT 245). Dabei korrespondiert die weibliche Nicht-Identität strukturell gesehen mit jener derjenigen, die ›nicht (mehr) bei sich‹, aber doch anwesend sind: dies gilt sowohl für die Shoa-Opfer der Vergangenheit als auch für die ausgegrenzten, sozial ›nicht existierenden‹ Fremden der Gegenwart. In der ›zombiehaften‹ Sprachfläche »Edgar Gstranz«, dem ehemaligen Ski-Star, der erfolglos versuchte, in der (FPÖ-)Partei zu reüssieren und schließlich mit dem Auto tödlich verunglückte, ist das Männlichkeitsprinzip des subjektbewussten Aktivismus unter dem Diktat der ›Zeitnahme‹, der Konkurrenz in der Verkehrszeit, allegorisiert. Edgar steht für den Sport treibenden ›Naturburschen‹-Typ Österreichs. In ihm verbindet sich die mythische Faszinationskraft des rastlos getriebenen männlichen Helden zwischen Kampf, Konkurrenz und Triebkraft einerseits und Untergang, Tod und Wiederauferstehung andererseits. Österreich erscheint als ein »Bauplatz für diese halbfertigen Leute, die sich, ohne sich mäßigen zu müssen, auf ihren Brettln in den Abgrund stürzen«, damit dieses Land »von sich reden« macht (KT, 28).1238 Das ›halbfertige‹ Subjekt versucht im Roman seine Identität durch den permanenten, leer zirkulierenden Bewegungs-, Kopulations- und Onaniedrang zu füllen (vgl. z. B. KT 329–333). Objekt des permanenten Selbstbestätigungstriebs von Edgar ist die Sprachfläche der Philosophiestudentin »Gudrun Bichler«. Sie ist eine Somnambule, ihr ›Da-Sein‹ ist schattenhaft-vampiristisch und wird wiederholt von Edgar sexuell ›gepfählt‹. Karin, die ganz unter der Herrschaft der Mutter und der verdrängten Triebnatur steht und sich mehrfach in Karin 1 und Karin 2 aufteilt, ist eine ganz und gar defizitäre, dem männlichen Prinzip unterworfene Schattenexistenz: »Karin F. ist eine Unfertige und ist es ihr Leben lang gewesen. […]: Sie ist der zweite Mensch, der, als ob er nie gewesen wäre, zugrunde ging und genau deshalb noch-immer-da-ist« (KT 350). In ihrer flüchtigen Existenz einer Oberflächen-Überblendung von Original und Kopie in einer endlosen Serie des Sterbens und Wiederaufstehens ist ein »kinematographischer Gedächtnisraum« angelegt, »in dem es von Todesarten nur so wimmelt«.1239 In diesem Punkt überschneidet sich das Dilemma der Schattenexistenz von Karin mit demjenigen der Shoa-Opfer: Ihre ›Wahrheit‹ existiert nur noch in einer flimmernden medialen (filmischen) Vermittlung, die dem ›ganz bei sich seienden‹ Subjekt diametral entgegensteht. Die »Höhle« Platons mit dem Schattenspiel der Wahrheit hat sich bei Jelinek zur Flimmerkiste des Fernsehers mit ihren Serienfiguren transformiert (vgl. KT 446–462).
1237 Vgl. Kyora: Untote, S. 266. 1238 Vgl. Klettenhammer: Destruktion des Mythos, S. 331. 1239 Inge Arteel: Der Kampf um das Bild. Elfriede Jelineks Die Kinder der Toten im Dialog mit Franz Kafka und Gilles Deleuze. In: Eder, Vogel (Hg.): Lob der Oberfläche, S. 153–167, hier S. 161.
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Abschließend stellt sich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Toten der Vergangenheit und den Untoten der Gegenwart, die schon mit der den Roman eröffnenden hebräischen Inschrift der Grafik aufgeworfen wird. Sie lautet übersetzt: »Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen«. Offenbar sind die »Kinder der Toten« nicht nur die Kinder der Opfer, sondern auch die der Täter. Der Roman suggeriert an verschiedenen Stellen, dass die Geister der in der Shoa ermordeten Opfer die Zombie-Figuren der Gegenwart, sprich, die Nachfahren der Täter, als Medium brauchen, um ihren Geist wieder mit einem Körper zu vereinen. In dieser Figur der körperlichen ›Heimsuchung‹ des Verdrängten ist sowohl das Schauerlich-Monströse als auch der Verweis auf die Möglichkeit einer Versöhnung angelegt: die Verbindung des ruhelosen Geistes der Opfer, die im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne des Gedächtnisses ihrer individuellen Gestalt beraubt worden sind, mit den getriebenen, untoten Körpern der Täterkinder, der Österreicher der Gegenwart. Allerdings ist diese paradoxe ›Auferstehung‹ der Toten im Roman wiederum gebrochen: Als Gudrun und Edgar in den Totengrund absteigen, werden sie zwar zum Medium für die vergessenen Toten, jedoch wollen diese gerade durch ihre Kleider zum Leben zurückfinden (vgl. KT 446–462). Wie oben im Zusammenhang mit Jelineks Oberflächenästhetik ausgeführt, verweist das Motiv der Kleider nicht auf eine körperlich-substanzielle Auferstehung, wie es der christliche Glaube lehrt, sondern auf eine rein medial vermittelte Auferstehung in der sprachlichen Fläche. An diesem Punkt stellt sich einmal mehr die Frage, ob Jelineks Texte Mythen destruieren oder dekonstruieren. Die dekonstruktivistische Lesart, die zu Recht betont, dass der Roman sich gegen ein repräsentatives, gesellschaftlich und politisch vereinnahmbares Erinnern der Shoa-Opfer und für das unendlich sich sprachlich und bildlich in der Horizontalen ›faltende‹ Erinnern ausspricht, scheint im Leitmotiv der »Kinder der Toten« an eine Grenze zu stoßen: Zwar sind deren Körperidentitäten in der Gegenwart ›gefaltet‹ (weibliche Nicht-Existenz) bzw. wiedergängerisch (tautologisches männliches Bei-sich-Sein), jedoch scheint der Roman im Zeichen seiner Inschrift – »Die Geister der Toten, die solange verschwunden waren, sollen kommen und ihre Kinder grüßen« – auf den Fluchtpunkt einer konkreten und zugleich flüchtigen Verkörperung der Geister der Toten zu zielen. Was kann damit gemeint sein?
Tragödien- und Erhabenheitsfähigkeit Die geschlechtsspezifische Entfaltung der Geschichte im Gegenwartsraum verläuft bei Jelinek horizontal entlang der Oberfläche, d. h. ohne geschichtsphilo-
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sophischen, transzendentalen Zeitbezug. Auf ein männlich-heroisches ›Ende der Tragödie‹ wird nicht einmal ex negativo verwiesen, wie z. B. in Müllers Philoktet oder in Jirgls Abschied von den Toten. Jelineks Erinnerung an die Untoten ist ganz in der beschleunigten Zeit des kapitalistischen Zivilisationsprozesses, der ›entfesselten Verkehrszeit der Selbsterhaltung‹, situiert.1240 Vom Standpunkt der geschichtsphilosophischen Zeit, unter deren Bestimmung die tragischen, ›geschlagenen‹ Helden stehen, zählt die beschleunigte Zeit, in der sich die Zivilisten bewegen, nicht. Sie ist gleichbedeutend mit einem zu Tragödien unfähigen Stillstand, der, mit Carl Schmitt gesprochen, keine »lebendige[ ] Erfahrung einer gemeinsamen geschichtlichen Wirklichkeit« mehr erlaubt.1241 Die soziale Verkehrszeit steht hier für die Unmöglichkeit, ein »großes Kunstwerk mit der politischen Aktualität seiner Entstehungszeit in Verbindung zu bringen«.1242 An diesem Punkt setzte Jelinek wiederum mit ihrer HeideggerKritik an, die sich von Wolken.Heim. (1988) über Totenauberg (1991) und Stecken, Stab und Stangl (1994) bis hin zu Das Werk (2003) erstreckt.1243 In letzterem webte sie kaum zu vernehmende Celan-Zitate, unter anderem aus dessen Gespräch im Gebirg (1959), ein. Die Celan-Zitate handeln davon, dass der Ausschluss der Juden (wie auch tendenziell der Frauen und der Fremden) sich im ästhetischen Erhabenheits- und Tragödienkonzept niederschlägt: Denn die Fremden, denen keine vollwertige soziale Existenz zugestanden wird, die Juden, Roma, Frauen und allgemein der Mensch als ›Massenmensch‹, sind in der abendländisch-idealistischen Tradition nicht ›erhabenheits-‹ und ›tragödienfähig‹, da ihnen der sich selbst begründende, souverän-heroische Subjektstatus nicht zuerkannt wird. So wie die Kehrseite der Vergöttlichung ›großer‹ Menschen die Geringachtung gewöhnlicher Menschen ist,1244 kann vor dem Hintergrund der Ausgeschlossenen das vollwertige, erhabene Opfer nur das ›bei sich seiende‹ heroische Subjekt sein, das mit der Sinnentleerung und iterativen Füllung der Identität ringt. Dagegen ist das Schicksal des zivilen Einzelnen – nicht als unvergleichliches Individuum, sondern als Einer unter vielen – nicht ›tragödienfähig‹. In dem entstehungsgeschichtlich mit dem Roman zusammenhängenden Stück Stecken, Stab und Stangl wird der Ausschluss der nicht-tragödi-
1240 Zur Unterscheidung von »Geschichtszeit« und »Zivilisationszeit« siehe Kaempfer: Die Zeit und die Uhren. 1241 Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel. Stuttgart 1985, S. 47. 1242 Ebd., S. 34. 1243 Vgl. Marlies Janz: Das Verschwinden des Autors. Die Celan-Zitate in Elfriede Jelineks Stück »Stecken, Stab und Stangl«. In: Celan-Jahrbuch 7 (1997/98), S. 279–292. 1244 Vgl. Norbert Elias: Mozart. Zur Soziologie eines Genies. Hg. v. Michael Schröter. Frankfurt a. M. 1991, S. 70.
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enfähigen Zivilisten als gesichts- und substanzlose ›Massenmenschen‹ – hier: vier Roma – thematisiert. Die Auratisierung des Einzeltodes und die Verdrängung des Massenmordes ziviler Einzelner sind komplementär und kennzeichnen eine innere Struktur der abendländischen symbolischen Ordnung.1245 Abschließend stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis das skizzierte Erinnerungskonzept Jelineks in Die Kinder der Toten zu dem von anderen Autoren der Gegenwartsliteratur steht, um daraufhin ihre Autorposition im Avantgardekanal genauer zu situieren. Die mythisch-zirkulären Zeit-Konzepte, mit denen Handke und Strauß im Rahmen ihrer ›Rückkehr zum Mythos‹ arbeiten, füllt Jelinek mit einer historisch konkreten ›Schuldzeit‹.1246 Dadurch wird der Mythos aus seinen naturalisierten und naturalisierenden Formen in geschichtliche und gesellschaftliche Zusammenhänge der ›Verkehrszeit‹ zurückgeführt. Auch die allegorisch-melancholische Erinnerungsarbeit der in der ruinenhaften Dingwelt aufblitzenden untergegangenen Ganzheit, wie sie für Sebalds Romane Die Ringe des Saturn (1995) und Austerlitz (2001) charakteristisch ist, muss von Jelineks Verfahren unterschieden werden. Die geschichtsphilosophisch untergegangene Tragödienfähigkeit des ›großen‹ Menschen, deren ästhetische Evokation Jirgl nochmals in der Nachfolge Heiner Müllers bzw. Carl Schmitts ex negativo durch den Blick in die ›faulenden Eingeweiden und Wunden‹ des geschundenen und geschlagenen ›Helden‹ versucht,1247 interessiert Jelinek nicht, allenfalls auf einer Metaebene als Gegenstand ihrer Mythenkritik eines in die tragische Tiefe strebenden Eigentlichkeits- und Substanz-Denkens der abendländischen Kultur. Vielmehr verfolgt sie ein Erinnerungs- und Kulturkonzept, das sich mit den Ansätzen der Cultural Studies von Raymond Williams fassen lässt. Auf der Grundlage seines umfassenden Kulturbegriff (»culture is ordinary«) hatte Williams versucht, den »Sinn des Tragischen heute«, das signifikante Leiden jenseits des bürgerlichen Individuums und seines gesellschaftlich nobilitierten Ranges zu bestimmen: »Was nicht als tragisch anerkannt wird, ist vielmehr tief im Schoß unserer Kultur verwurzelt: Krieg, Hunger, Arbeit, Verkehr, Politik«.1248
1245 »[D]er Massenmord erscheint als verdrängte Kehrseite einer Gesellschaft, die den Einzeltod auratisiert, für Pogrome hingegen keinen Ausdruck findet, diese gleichwohl ›in Heimarbeit‹ produziert« (Schößler: Augen-Blicke, S. 312; vgl. ihre ausführliche Interpretation von Stecken, Stab und Stangl, ebd., S. 57–65). 1246 Vgl. ebd., S. 312. 1247 Vgl. Jirgls programmatische Büchner-Preisrede Praemeditatio malorum – Schreiben am mitternächtigen Ort. 1248 Raymond Williams: Über den Sinn des Tragischen heute. In: R. W.: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur. Hg. v. H. Gustav Klaus. Frankfurt a. M. 1983, S. 82–112, hier S. 85.
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Der »Sinn des Tragischen heute«, nach dem Williams fragt, zielt auf die historisch-materialistische Kritik einer Gesellschaft, »in der die Eingliederung aller Menschen, als vollständig menschliche Wesen, ohne eine Veränderung der grundlegendsten Form der Beziehungen unmöglich ist«.1249 Zwar verfolgt Jelinek keinen erkennbaren Begriff einer kulturellen Revolution, wie er bei Williams anklingt, jedoch ist auch ihr Schreiben auf eine symbolische Eingliederung gerichtet. Hier zeigt sich ein utopisches Moment jenseits aller Geschichtsphilosophie. Jelineks Schreiben destruiert die Auratisierung des heroischen Individuums und tritt stattdessen für die Eingliederung der »Zivilisten« ein. Ihr chorisches Schreibverfahren1250 dient weder der Verherrlichung des Kollektivs noch der Verdammung des Massenmenschen, sondern der Darstellung des sozialen Menschen als Einem von Vielen. Ihre Sprachflächen erschaffen ephemere, metamorphotische Gruppenfiguren. Sie setzen sich aus vorübergehend unterscheidbaren Stimmen zusammen, die von einem ›tragödienfähigen‹ Geschehen der Tiefe ausgeschlossen und daher in den Oberflächen angesiedelt sind.1251 Das poststrukturalistische »Verschwinden des Autors« (Barthes, Foucault) ist bei Jelinek weniger im abstrakten Sinne einer Dekonstruktion als vielmehr im konkreten Sinne des Verschwindens der Opferstimmen als Autoren zu verstehen. Dabei geht es nicht um eine subjektkonstituierende Erinnerung, sondern um literarische Stimmen, die »sich selbst immer wieder aussparen«, weil ihnen im herrschenden Symbolsystem keine Existenz zukommt: Auch Imre Kertész schreibt »Kaddisch für ein nicht geborenes Kind« oder seinen »Roman eines Schicksallosen« [...] nicht, indem er Erinnerung sucht oder gar sich selber, sondern, im Gegenteil, um sich selbst immer wieder auszusparen, um den blinden Fleck der Erinnerung herum, der aber kein Fleck ist, sondern alles was da ist, da es drumherum ja auch nichts gibt, und gerade dieses Nichts im Nichts, dieses Kleist’sche Hart zwischen Nichts und Nichts, erfordert die größte Präzision der Beschreibung, da das Subjekt sich in ihr ja verlieren soll, längst verloren hat, ohne es noch zu wissen. Das Beschriebene, Personen wie Ereignisse, kann man im Nachhinein nicht wieder zum Vorschein bringen, sondern man muß sie, indem sie immer wieder neu geschaffen und geschrieben werden, auch immer wieder aufs neue verschwinden lassen: die manisch vollgeschriebenen und doch immer leer bleibenden Flecken in Celans Gedichten […], das Totengebet für ein Kind, das es nicht gegeben hat und nicht geben konnte […].1252
1249 Ebd., S. 112. 1250 Vgl. Annuß: Tatort Theater, S. 27. 1251 Der Ausschluss wird nochmals wiederholt und gesteigert, wenn sich die Täter selbst die Stimmen der Opfer einverleiben und sie im »Häkelwerk« herrschender Diskurse der Medien, der Politik, des Konsums und der Warenwelt deformieren und damit zum Verschwinden bringen, wie Janz anhand der Verwendung von Celan-Zitaten in Stecken, Stab und Stangl gezeigt hat (vgl. Janz: Das Verschwinden des Autors). 1252 Elfriede Jelinek: nicht bei sich und doch zu hause. In: E. J., Brigitte Landes (Hg.): Jelineks Wahl. Literarische Verwandtschaften. Bonn 1998, S. 11–22, hier S. 21.
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Jelineks Autorposition: »[A]bseits, parallel zum Herdenweg« Mit dem Kleist-Zitat als Kulminationspunkt des »Wir«-Raunens in Wolken.Heim. und ihres Schreibverfahrens allgemein lässt sich nun abschließend Jelineks Autorposition umreißen. Was in Kleists Hermannsschlacht-Stück zum Verhängnis für den römischen Eroberer wird, das Nichtverstehen des heimischen und für ihn fremden Bodens, wird bei Jelinek umfunktioniert zur ›Tugend‹ der unabschließbaren Reflexion einer paradoxalen, sich im Verlieren konstituierenden Subjekt- bzw. Autorposition. Denn in der Bestimmung »Hart zwischen Nichts und Nichts« kommt das dialektische Verhältnis sowohl zur irdisch vergänglichen, sozialen Verkehrszeit als auch zur geschichtsphilosophischen Zeit zum Ausdruck. Feldanalytisch betrachtet setzt sich Jelinek mit ihrer Oberflächenästhetik in eine Beziehung zum Bereich der Zivilisten mit seiner flüchtigen Verkehrszeit der sich aneinanderreihenden »Jetzt«-Momente – dies ist das »Nichts« auf der einen Seite. Mit ihren Verfahren der Oberflächenästhetik setzt sie sich aber zugleich in ein subversives Verhältnis zur vertikalen Zeitordnung und ihrem heroischen ›Gedächtnis des Bodens‹, dessen Tiefendimension sie ebenso als tautologisches ›Nichts‹ einer mythischen Zeichenstruktur offenlegt. Hier liegt das »Nichts« auf der anderen Seite, gleichermaßen als zweite Koordinate ihrer Autorposition. Die Stimme der Alraune, ihr sprachartistisches ›Raunen‹, »Aus Nichts ins Nichts, Hart zwischen Nichts und Nichts«, lässt sich daher als paradoxe Situierung der Autorposition Jelineks im ›raunenden‹ Avantgardekanal mit ihrem intramedialen Bezug zum Bereich der horizontalen sozialen Verkehrszeit übersetzen: Sie stellt einen kritisch-autonomen Anspruch und unterstellt sich der vertikalen, ästhetischen Zeitordnung. Zugleich steht sie in einem horizontalen Ausstauschprozess mit der sozialen Verkehrszeit der Zivilisation. Neben dem horizontal-›flächigen‹ Erinnerungskonzept, das sich gegen das heroische, auf das tragische und erhabene Subjekt ausgerichtete Gedächtnis richtet, gibt auch das Verhältnis zum Massenmenschen als Zivilisten, zum ›Einen als Viele‹, Auskunft über Jelineks Autorposition. Zwar steht sie wie Jirgl am Rande der Gesellschaft, beide halten sich ›im Abseits‹ zur Masse durch ›abseitige‹, avantgardistische Schreibtechniken. Jedoch liegt ein entscheidender Unterschied darin, dass Jelinek dem zivilen Subjekt, dem ›Einen als Viele‹, in ihrer Poetik der Oberfläche und ihrem chorischen Theater eine Stimme gibt und es damit ›tragödienfähig‹ macht. Aus diesem Grund kann sie ein anderes, nicht zivilisationskritisch und ausschließlich über Abgrenzung und Abwertung definiertes Verhältnis zur Masse1253 mit ihren Kultur- und Kommunikationsfor-
1253 »Inzwischen zieht längst das Verhalten von Massen meine viel größere Aufmerksamkeit auf sich« (Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. [1998]. Reinbek b. Hamburg 2004, S. 8); vgl. hierzu:
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men, zum Journalismus, zur Populärkultur oder zu den politischen Konflikten der Gegenwart, einnehmen. Ihre Autorposition, die sich sowohl auf eine literarische Arbeit am verdrängten ›Untoten‹ in der Gegenwart als auch auf eine politisch intervenierende Gegenwärtigkeit stützt, jagt nicht dem Gespenst des seiner Tragödie beraubten modernen, geistigen Ausnahmemenschen nach, für den exemplarisch Hamlet steht. Stattdessen bewegt sie sich »im Abseits«. Jelineks Autorposition ist geprägt von der Reflexion des strukturell begründeten Ausschlusses einer souveränen weiblichen Subjekt- bzw. Autorposition sowie der verstellten Anerkennung eines »weiblichen Werkes« 1254 in einem gesellschaftlichen Raum, dessen kulturell-symbolische Ordnung weiterhin von der männlichen Individuallogik des ›Einzigen und seines Eigentums‹ (Max Stirner) bestimmt ist, die sich im emphatischen »Werk«-Begriff verdichtet. Was aber im nationalen Kontext verweigert oder erschwert wird, ist im internationalen Raum möglich. So erhielt Jelineks Werk durch die Nobelpreisverleihung 2004 eine beträchtliche internationale Anerkennung. Zur Preisverleihung erschien Jelinek nicht persönlich – nach eigener Aussage ihrer Platzangst wegen. Durch ihre über Video ausgestrahlte Preisrede forcierte die Autorin einerseits die mediale Aufmerksamkeit für ihre Person, andererseits entzog sie sich ihr. Der aufgezeichnete Vortrag rückte die Diskursivität ihrer Rede in den Vordergrund. Der Präsenz des Autors als Person, die im flexibel medialisierten und ökonomisierten Mittelbereich und insbesondere für seine zentralen, medialisierten Konsekrationsinstanzen im Zentrum des Interesses steht, wird in Jelineks Nobelpreisrede Im Abseits das Leitparadigma der arrivierten Avantgarde, der Autor und sein Werk, entgegengehalten. Die Autorin Jelinek trat aber bezeichnender Weise nicht selbst, ›plastisch‹ auf, sondern medial vermittelt, in ›verflachter‹ Form. Mit der Videobotschaft, die auf das antike Orakel anspielt und dessen Aura zugleich in seiner technischen Reproduzierbarkeit destruiert, machte sich Jelinek selbst zum reflexiven Medium chorischen, flächigen Sprechens, wie es für ihr Theater der neunziger Jahre charakteristisch ist.
Jelineks ›technische‹ Nobelpreisrede ist eine performative und zudem metareflexive Bestimmung des literarischen Schreibens im Verhältnis zur flüchtigen Wirklichkeit. Der Umgang mit der Sprache reflektiert die Stellung der Autorin. Sie wird auf die Positionsbestimmung »Im Abseits« gebracht.1255 Michael Gamper: Phänomen ›Masse‹ und Medium ›Literatur‹. Eine Konstellation bei Goetz, Jelinek und Schleef. In: Caduff, Vedder (Hg.): Chiffre 2000, S. 123–139. 1254 »Ich merke immerzu, daß dem weiblichen Werk mit einer grundsätzlichen Verachtung begegnet wird. Das spür’ ich doch, obwohl ich mich für eine Frau so weit wie möglich durchgesetzt habe. Das kann kein Mann nachvollziehen. Es wird der Frau einfach kein Werk zugetraut. Kleineres, Kleinigkeiten ja, auch Lyrik. Aber kein Werk!« (Jelinek: »Wir leben auf einem Berg von Leichen und Schmerz«, S. 2.) 1255 Elfriede Jelinek: Im Abseits (Nobelvorlesung). In: Pia Janke: Literaturnobelpreis Elfriede Jelinek. Wien 2005, S. 227–238. Folgende Nachweise nach dieser Quelle im Text; vgl. zum Folgenden auch Konstanze Fliedl: Im Abseits. Elfriede Jelineks Nobelpreisrede. In: Françoise Ré-
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In intertextueller Anspielung auf Goethes Harzreise im Winter (1777) und Franz Schuberts Winterreise 1256 meint das »Abseits« ein Gehen ›seitwärts der gebesserten Wege‹.1257 In Fortsetzung des genieästhetischen und romantischen Motivs des Dichters als Wanderer kann der Schreibende auf dem »Weg der Wirklichkeit nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur was er aus dem Außen hineinsagt, kann aufgenommen werden, und zwar weil er Zweideutigkeiten sagt« (227). Der Dichter ist weiterhin gesellschaftlicher Außenseiter, aber gegenüber der ihn permanent mit Ausschluss und Unsichtbarkeit bedrohenden Wirklichkeit des main stream kann er sich nicht mehr im souveränen und erhabenen Akt des Schreibens als besonderes Subjekt gerieren.1258 Dieser Bruch mit der (männlichen) souveränen Genie- und Werkästhetik, die insbesondere am L’art pour l’art-Pol der arrivierten Avantgarde herrscht, ist für Jelineks Autorposition entscheidend. Das sich im derart souveränen Werk konstituierende und repräsentierende Dichter-Subjekt, der ›Einzige und sein Eigentum‹, wird bei ihr über die Dissoziation von Autorsubjekt, Sprache und Wirklichkeit transformiert. Die Sprache löst sich vom Autor und wird ›hündisch‹: »Meine Sprache wälzt sich bereits wohlig in ihrer Suhle […], sie wälzt sich auf den Rücken, ein zutrauliches Tier, das den Menschen gefallen möchte wie jede anständige Sprache, sie wälzt sich, macht die Beine breit, wahrscheinlich um sich streicheln zu lassen, warum denn sonst« (233). Vermögen und Eigentum des Autors, seine ›einzigartige‹ Spracharbeit und sein Werk, gehorchen nicht mehr dem Autor-Subjekt, sondern entfremden sich und bieten sich anderen an. Der zwischen dem im Abseits gehenden Ich und der »Herde« hin und her laufende ›Sprachhund‹ ist Metapher für eine permanente horizontale Vermittlung zwischen dem schreibenden, von Unsicherheit und Vernichtung bedrohten Autor-Subjekt und der »Masse«.1259 Die Sprache ist
tif, Johann Sonnleitner (Hg.): Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft. Würzburg 2008, S. 19–31. 1256 »Leicht ist’s, folgen dem Wagen, / Den Fortuna führt, / Wie der gemächliche Troß / Auf gebesserten Wegen / Hinter des Fürsten Einzug. // Aber abseits, wer ist’s? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn« (Goethe: Harzreise im Winter); »Was vermeid’ ich denn die Wege, / Wo die ander’n Wand’rer geh’n, / Suche mir versteckte Stege, / Durch verschneite Felsenhöh’n? // Habe ja doch nichts begangen, / Daß ich Menschen sollte scheu’n, – / Welch ein törichtes Verlangen / Treibt mich in die Wüstenei’n? // Weiser stehen auf den Straßen, / Weisen auf die Städte zu. / Und ich wandre sonder Maßen / Ohne Ruh’ und suche Ruh’. // Einen Weiser seh’ ich stehen / Unverrückt vor meinem Blick; / Eine Straße muß ich gehen, / Die noch keiner ging zurück« (Wilhelm Müller: Der Wegweiser, vertont in Franz Schuberts Winterreise; vgl. auch Jelineks Stück Winterreise [2012]). 1257 Vgl. Fliedl: Im Abseits, S. 21 f. 1258 »Die Sprache des main stream, wie in Übereinstimmung mit der Flußbedeutung des Abseits gesagt werden mag, schwemmt den Dichter nach außen, wo er aber nichts anderes anzeigen kann als diese Entfernung von ihr« (ebd., S. 23). 1259 »Ich bin fort, indem ich nicht fortgehe. Und auch dort möchte ich zur Sicherheit Schutz haben vor meiner eigenen Unsicherheit, aber auch vor der Unsicherheit des Bodens, auf dem ich stehe. Es läuft zur Sicherheit, nicht nur um mich zu behüten, meine Sprache neben mir her und kontrolliert, ob ich es auch richtig mache, ob ich es auch richtig falsch mache, die Wirklichkeit zu beschreiben, denn sie muß immer falsch beschrieben werden, sie kann nicht anders, aber so falsch, daß jeder, der sie liest oder hört, ihre Falschheit sofort bemerkt. Die lügt ja! Und dieser Hund Sprache, der mich beschützen soll, der schnappt jetzt nach mir. Mein
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kein verfügbares Eigentum des Autors, mit dem er sich von der Masse souverän absetzen könnte, sondern als Diskurs ist sie immer schon von der gesellschaftlichen Kommunikation und ihrer (Verkehrs-)Zeit durchdrungen. Im Bild des ›Hündischen‹ steht Jelineks Bestimmung der Sprache für eine in die Horizontale zielende Kontrafaktur zu Heideggers fundamentalontologischer Sprachbestimmung als ein ›Auf-den-Grund-Gehen‹.1260
Im Unterschied zum traditionellen Dichtersubjekt, das sich im Gegensatz zur Masse konstituiert, und zu seiner Genieästhetik entwickelt sich Jelineks Autorposition »als eine Wanderung eines Schreib-Ich, parallel zum, wenn auch abseits vom ›Herdenweg‹«.1261 Wie das Schreib-Ich und sein Hund, die Sprache, lässt sich Jelineks Autorposition »im Abseits«, im Avantgardekanal, aber zugleich parallel zum »Herdenweg« des Mittelbereichs und der kulturellen Massenproduktion situieren. Entsprechend lautet ihr oberflächenästhetischer ›Orakelspruch‹ im Zeitalter der ökonomisch-medialen Reproduzierbarkeit des Autors und seines Kunstwerks: Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter. Was bleibt, ist fort. Der Höhenflug wurde gestrichen. Es ist nichts und niemand eingetroffen. Und wenn doch, wider jede Vernunft, etwas, das gar nicht angekommen ist, doch ein wenig bleiben möchte, dann ist dafür das, was bleibt, das Flüchtigste, die Sprache, verschwunden. Sie hat auf ein neues Stellenangebot geantwortet. Was bleiben soll, ist immer fort. Es ist jedenfalls nicht da. Was bleibt einem also übrig. (238)
Schutz will mich beißen. Mein einziger Schutz vor dem Beschriebenwerden, die Sprache, die, umgekehrt, zum Beschreiben von etwas anderem, das nicht ich bin, da ist – dafür beschreibe ich ja soviel Papier –, mein einziger Schutz kehrt sich also gegen mich« (Im Abseits, S. 229 f.). 1260 Vgl. Heideggers Trakl-Aufsätze Die Sprache und Die Sprache im Gedicht in Martin Heidegger: Unterwegs zur Sprache. Pfullingen 1959, S. 9–33 u. S. 35–83; vgl. Fliedl: Im Abseits, S. 27. 1261 Fliedl: Im Abseits, S. 24; vgl. Im Abseits, S. 230: »Was immer geschieht, nur die Sprache geht von mir weg, ich selbst, ich bleibe weg. Die Sprache geht. Ich bleibe, aber weg. Nicht auf dem Weg«.
Der lange Weg in die Gegenwartsliteratur: Resümee Mit den vorliegenden, unter dem Titel »Der lange Weg in die Gegenwartliteratur« versammelten Studien wurde der Versuch unternommen, die LangzeitEntwicklung des literarischen Feldes in Deutschland seit den sechziger Jahren bis um 2000 und damit den Übergang von der Nachkriegs- zu einer neuen Formation der Gegenwartsliteratur zu bestimmen. Ihre zentralen Kennzeichen lassen sich nun zusammenfassen. Der in den sechziger Jahren einsetzende »lange Abschied von der Nachkriegsliteratur« (Vogt) ist vor allem von der Expansion des kulturellen (Bildungs-)Kapitals geprägt, das in Wechselwirkung mit ökonomischem und medien-symbolischem Kapital eine wichtige Funktion in der sich formierenden ›Wissensgesellschaft‹ ausübt. Dadurch entstanden neue soziale Akteure – »Symbolanalytiker« (Reich) – und neue soziale Beziehungen innerhalb einer »projektbasierten Netzwerklogik« (Boltanski u. Chiapello). Mit ihnen gingen ein »Aufplatzen des Wissens« (Knorr-Cetina), das neue soziale Verhältnisse schafft, und die zunehmende Vermischung verschiedener Handlungs- und »Diskursökonomien« (Winkler) einher. Somit veränderte sich auch das gesellschaftliche Mandat der Schriftsteller als Intellektuelle, d. h. es wurde marginalisiert, wie Christa Wolf, Günter Grass oder Peter Handke in den neunziger Jahren erfahren mussten. Die Verabschiedung der Nachkriegsliteratur bedeutete zweitens auch einen langen Abschied von einer gesamtgesellschaftlich repräsentativen literarischen Öffentlichkeit. Der sich lockernde Zusammenhang von Literatur, Politik und Moral, der für Habermas die Grundlage für die erst literarische, dann politische bürgerliche Öffentlichkeit ausmachte, zeigt sich im Hinblick auf das literarisch Feld als Zerfall oder genauer: als Reduzierung und Aufteilung des Geltungsraums einer ehemals gesamtgesellschaftlich repräsentativen literarischen Öffentlichkeit in sektorale Teilöffentlichkeiten. Mit Bourdieus Modell der Hierarchisierung symbolischer Güter in unterschiedlichen, konkurrierenden Legitimitätssphären lässt sich der ›Zerfallsprozess‹ der literarischen Öffentlichkeit genauer als Transformation der Kräfteverhältnisse zwischen der »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« (relativ-autonomes literarisches Subfeld), der »Sphäre potentieller Legitimation« (Mittelbereich der ästhetisch ambitionierten Unterhaltungsliteratur) und der »Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität« bzw. »Sphäre segmentarischer Legitimität« (Subfeld der literarischen Massenproduktion) fassen.1 Das Ein1 Vgl. Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 102–115; u. oben: Abb. 3.
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fluss- und Dominanzverhältnis im Gefüge der Legitimationssphären ist ein Indikator für die historische Entwicklung des künstlerischen bzw. literarischen Feldes. Der ›Zerfall‹ der literarischen Öffentlichkeit erweist sich in dieser Perspektive als Expansion der beiden letztgenannten Legitimitätssphären mit ihren konkurrierenden Instanzen, insbesondere der »Sphäre potentieller Legitimation« mit ihrer zentralen Legitimationsinstanz der medialen Präsentation und journalistischen Literaturkritik. Der gewachsene Einfluss dieser Urteilsinstanzen ging auf Kosten des alten, klassisch-humanistischen Repräsentationsanspruches der ersten Legitimitätssphäre »mit Anspruch auf universelle Anerkennung«, als deren zentrale Legitimationsinstanzen der literarische Kanon, die Literaturgeschichte, die akademischen Literaturwissenschaft und der Schulunterricht gelten. Die Pluralisierung der literarischen Produktion und Rezeption führte aber nicht eindimensional zur Auflösung kultureller Repräsentation, sondern hält – in einer dialektischen Wechselwirkung – das Begehren nach repräsentativer Kultur wach: einerseits in Form von traditionellen Hochkultur-Bestimmungen, Poetiken und Kanon-Debatten, andererseits in Form von neuen Repräsentationsambitionen der Populärkultur, die ihren Anspruch auf kulturelle Autorität mit der faktischen ökonomischen und symbolischen Macht des Kulturbetriebs stellt.2 Die Ausdifferenzierung der symbolischen Produktion und ihrer Legitimation bzw. Rechtfertigung ist vor allem vom »neuen Geist des Kapitalismus« geprägt, der die Künstlerkritik in die horizontal ausgerichtete »Netzwerklogik der projektbasierten Polis« (Boltanski u. Chiapello) einbindet. Dieser neue Rechtfertigungsdiskurs hat sich mit dem ›postindustriellen‹ Kulturkapitalismus entwickelt und wurde in den neunziger Jahren zur dominanten, im Managementdiskurs verdichteten Ideologie.3 Für die Entwicklung der im Sinne Habermas’ klassischen literarischen Öffentlichkeit bedeutet dieser Wandel die Ablösung der Literatur von der politischen Öffentlichkeit oder mit anderen Worten: eine Abgrenzung von der Sozialkritik, die sich insbesondere gegen die ökonomische Ausbeutung wendet. Dagegen wurde die Anbindung der Literatur an das ökonomische Kapital und an eine medialisierte »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Franck), d. h. der Siegeszug der Künstlerkritik mit ihrer Wendung gegen kulturelle Entfremdung und mit der Forderung nach Selbstverwirklichung und Authentizität, immer wichtiger. Hinsichtlich der Entwicklung des literarischen Feldes seit den sechziger Jahren übersetzt sich das dialektische Zusammenspiel zwischen der Einbindung der Künstlerkritik in allgemeine ökonomische
2 Vgl. Tenbruck: Repräsentative Kultur, S. 43. 3 Vgl. Boltanski, Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, S. 89–210 (= Teil I: »Die Genese einer neuen ideologischen Konfiguration«).
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Prozesse und der zunehmenden Ausgrenzung der Sozialkritik aus der kulturellen Produktion – wie symptomatisch am Konflikt der Autorpositionen von Enzensberger und Weiss gezeigt (s. Fallstudie 1) – in eine allmählich veränderte Reproduktionslogik des Feldes. Gegenüber der Nachkriegsliteratur ist die Gegenwartsliteratur multikausaler geworden. Im literarischen Feld der BRD gingen mit dem Verlust der symbolischen Zentralstellung der Gruppe 47 der Aufstieg einer Neuen Linken und die Durchsetzung der Künstlerkritik einher, die sich exemplarisch in Enzensbergers Ausbildung eines flexibilisierten Habitus bzw. einer Autorposition des ›Eigensinns‹ nachverfolgen lässt. Diese Position verfolgt die Doppelstrategie einer lyrischen und einer essayistischen Produktion und vollzieht eine Aufstiegsbewegung in der Vertikalen über den Habitus einer ›permanenten Häresie‹ (der ›permanent revolutionäre‹ Intellektuelle), d. h. über flexibel-normalistische Anleihen aus der ›Kulturindustrie‹. Auch Handke gewann anfänglich literarische Anerkennung über intermediale und popkulturelle Anleihen, die er aber intramedial, d. h. zur Stärkung der kunstautonomen Ausrichtung seiner Werke ummünzte. Die für die Formation der Gegenwartsliteratur zentrale Veränderung der Reproduktion des literarischen Feldes betrifft deren Verlagerung von der Vertikalen, wo im eingeschränkten Subfeld der Konflikt zwischen ›orthodoxen‹ und ›häretischen‹ Autorpositionen herrscht, in die Horizontale der synchron geltenden und sich kurzzeitig als legitim durchsetzenden Literaturformen in einem flexibel ökonomisierten und medialisierten literarischen Mittelbereich. Diese Verlagerung der Reproduktionsordnung lässt sich auch als ›Traditionsschrumpfung‹ charakterisieren, die vor allem durch den schlagartigen Einbruch der ›kurzen‹, sozialen Zeit im »1968«-Ereignis beschleunigt wurde. Während sich die Literatur in der BRD von einer gesamtgesellschaftlichen Funktion verabschiedete, emanzipierte sie sich in der DDR von staatlichen Funktionen. Die Modernisierung entstand hier aus der gescheiterten Annäherung der Literatur an den Sozialraum der Gegenwart im staatlich vorgegebenen Programm des »Bitterfelder Weges«. Die Ausprägung eines ›zweiten‹, von offiziellen Vorgaben emanzipierten Raums literarischer Produktion ab Mitte der sechziger Jahre erfolgte aus dem Bestreben, den ›sozialistischen Realismus‹ ästhetisch zu steigern, wie sich exemplarisch an Hacks’ und Müllers Antikerezeption ablesen lässt (s. Fallstudie 2). Die wachsende Konkurrenz ihrer Autorpositionen drehte sich feldstrukturell um das Verhältnis der Literatur zum Staat: Hacks’ Komödie und sein Programm einer sozialistischen Klassik zielten auf eine Stärkung des ästhetischen Pols innerhalb des ersten, offiziellen Raums; Müllers Tragödie und Entwicklung eines postdramatischen Theaters basierten auf dem antagonistischen Widerspruch zwischen der ästhetischen Differenz und der Autorität des Staates. Seine Autorposition zielte daher auf die Stärkung des
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ästhetischen Pols außerhalb des offiziellen Raums in einem relativ autonomen ›zweiten‹ Raum bzw. in einem deutsch-deutschen und auch in einem internationalen, ›postmodernen‹ Feld. Diese Ausdifferenzierung der verschiedenen, sich überlagernden Bezugssysteme – »Nationalliteratur«, »deutsch-deutsche Literatur«, »internationale Literatur«, schließlich »selbstorganisierte«, subkulturelle Literatur (vgl. Abb. 7 u. 8) – war zugleich mit einem Kampf um Öffentlichkeit verbunden, der in der Biermann-Affäre kulminierte. Die Auflösung oder zumindest Aufweichung einer homogenen literarischen Öffentlichkeit, hegemonialer Positionen, führender Gruppen, programmatisch-poetologischer Konflikte, diskursleitender Fragestellungen und dominant ästhetischer Kriterien zur Bestimmung literarischer Progression führten zu einer Pluralisierung und Flexibilisierung der Autorpositionen wie auch ihrer Legitimations- und Rechtfertigungslogik. Die Verlagerung der Reproduktionslogik auf die horizontale Achse der Arbeitsteilung und Ausdifferenzierung führte zur Expansion eines flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs, der aus den »Wechselbeziehungen von eingeschränkter und Großproduktion« hervorgeht.4 Wenn bis zur Nachkriegsliteratur der »Motor der Veränderung [...] in der Grundopposition zwischen den dominanten Positionen, die auf Bewahrung der symbolischen Ordnung aus sind, und denjenigen, die einen häretischen Bruch mit dieser Ordnung vollziehen«, bzw. in einer »dynamischen Auseinandersetzung zwischen dem Prinzip der Autonomie und demjenigen der Heteronomie« bestand,5 so ist für die neue Formation der Gegenwartsliteratur eine Verlagerung signifikant: Durch den »neuen Geist des Kapitalismus« haben sich auch im literarischen Mittelbereich autonome und heteronome Kategorien vermischt. Die ›charismatische‹ oder ›inspiratorische Ökonomie‹ und ihr materielles ›Desinteresse‹ 6 im Subfeld der eingeschränkten Produktion wurde verstärkt mit neuen symbolischen wie auch finanziellen Ökonomieformen aus dem Bereich der Alltags- und Populärkultur oder der Massenproduktion konfrontiert. Die neue Arbeitsteilung in der Produktion literarischer Güter kann an den veränderten Verhältnissen der Autorpositionen in Anlehnung an Max Webers Idealtypen im religiösen Feld festgemacht werden. Die (Re-)Produktion der ›Heilsgüter‹ und damit die feldinterne Geschichte generierten sich über den Kampf um kulturelle bzw. literarische Legitimität zwischen der in der »Sphäre potentieller Legitimation« angesiedelten Avantgarde (»Propheten«) und der in der »Legitimitätssphäre mit Anspruch auf universelle Anerkennung« situierten
4 Vgl. Bourdieu: Wechselbeziehungen von eingeschränkter Produktion und Großproduktion. 5 Jurt: Pierre Bourdieu, S. 315. 6 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 342.
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arrivierten Avantgarde (»Priester«). Zu dieser traditionellen Auseinandersetzung auf der vertikalen Herrschaftsachse zwischen den orthodoxen »Priestern«, deren Macht nach Weber auf dem regelmäßigen, organisierten Betrieb der Beeinflussung der Götter beruht, und den häretischen »Propheten«, die die Legitimität dieser Macht im Namen der außeralltäglichen charismatischen Herrschaft in Frage stellen – und stets die traditionelle Macht in die Vergangenheit verabschieden möchten, um selbst ›Epoche‹ zu machen –, kommt eine neue strukturelle Konkurrenz mit anderen Akteuren hinzu, die seit den sechziger Jahren und besonders den neunziger Jahren an Einfluss gewonnen haben: die »Magier« oder »Zauberer« im Sinne Webers.7 Diese mittlerweile im Feld die Mehrzahl ausmachenden Akteure der ›Bezwingung der Dämonen‹, d. h. der symbolischen Produktion, haben sich zunehmend vom ›regelmäßigen Kultusbetrieb‹ und seinem »Priester«-»Propheten«-Antagonismus emanzipiert. Ihre Macht besteht dagegen in der temporären Verzauberung der Einzeldinge von Fall zu Fall in der »Sphäre willkürlicher Bevorzugungen in Beziehung zur Legitimität (oder Sphäre der segmentarischen Legitimität)«. Im Unterschied zu den institutionell abgesicherten Autorpositionen der »Priester« am L’art pour l’artPol und der »Propheten«, die gegen die Routine des literarischen ›Gottesdienstes‹ aufbegehren, am Avantgardepol, treten die seit den sechziger Jahren aufstrebenden »Zauberer« im Bereich der symbolisch und ökonomisch dynamisierten Alltagskultur mit ›Heilsangeboten‹ zur Subjektkonstitution auf. Hier geht es nicht mehr um den grundlegenden Konflikt zwischen Wahrung und Umsturz der herrschenden doxa, sondern um die literarische ›Verzauberung‹ im Rhythmus der kurzen, sozialen Zeit. Das ›Reich‹ der »Zauberer« bildet der in einer neuen Dynamik und Qualität expandierte flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich zwischen dem Subfeld der relativ autonomen Produktion und dem Feld der kulturellen Großproduktion.8 Hier herrschen die »tuttologi« (Bourdieu), die Symbolproduzenten, die munter ästhetische und ökonomische Werte vermischen und eine ästhetisch zweideutige Unterhaltungsliteratur produzieren.9 Die Expansion der symbolischen wie auch ökonomischen Macht der »Zauberer« ist der zentrale Motor für den Formationswandel von der Nachkriegs- zur Gegenwartsliteratur. Aufgrund der Pluralisierungstendenzen hat Bogdal – im Anschluss an Ergebnisse der Sozialstruktur- und Mentalitätsforschung – die These von der ›Milieuförmigkeit‹ der Literatur formuliert.10 Sie steht in argumentativer Nähe zum
7 Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Zweiter Teil, V, § 2: »Zauberer – Priester«. 8 Vgl. Zweiter Teil, I. 1. 9 Vgl. Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 533; u. Hügel: Ästhetische Zweideutigkeit. 10 Bogdal: Klimawechsel.
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Befund einer »Erlebnisgesellschaft« (Schulze). Auf der Grundlage der vorausgehenden Studien zu einer feldanalytischen Literaturgeschichte kann diese These modifiziert und reformuliert werden. Homolog zu den Veränderungen im Sozialraum ist die Transformation des literarischen Feldes von einem dialektischen Zusammenspiel zweier Entwicklungen geprägt: von einer horizontalen Pluralisierung und von einer Persistenz vertikaler Hierarchisierungen, die sich insbesondere seit der zweiten Hälfte der neunziger Jahre in Form von neuen Verbürgerlichungs- und Nobilitierungstendenzen zeigen. Dieses dialektische Kräftespiel prägte vor allem die Expansion des Mittelbereichs und außerdem die Ausdifferenzierung des Bereichs literarischer Nobilitierung. Dabei dient die ›Leerform‹ einer universalen, einheitlichen kulturellen Repräsentanz nicht nur dem vom Distinktionsstreben bestimmten oberen »Exzellenz-« oder »Nobilitierungssektor«, sondern eben auch dem Mittelbereich, wo die Konkurrenz um literarische »Kontingenz-Kompetenz« (Manske) herrscht, als ›spiegelbildliches Begehren‹ (im Sinne Lacans) und als transzendente Referenz. Beide Feldbereiche ringen um Hegemonie und um die Besetzung von kultureller Autorität und Repräsentanz, wobei die Transformationsdynamik seit den sechziger Jahren eindeutig vom ökonomisierten Mittelbereich ausgeht und der hochkulturelle Bereich sich gedrängt sieht, darauf zu reagieren. Dies erfordert bei den Autoren die Ausbildung von Umstellungsstrategien, um die neuen Anforderungen der kurzen, sozialen Zeit mit den langfristig erworbenen Habitusformen der ästhetischen Zeit in Einklang zu bringen. Insgesamt ist einerseits eine im skizzierten Sinne zweiförmige, ökonomische und symbolisch-mediale Ökonomisierung der Formgebung zu beobachten. Auch im Feld der Gegenwartsliteratur geht es zunehmend um finanziellen Absatz und um symbolische Aufmerksamkeit im Takt der ›kurzen Zeit‹. Andererseits besteht die ästhetische Formgebung traditionell – wie Bourdieu gezeigt hat – aus einer Verschleierung, Verneinung und Euphemisierung der allgemeinen Zirkulation und der Konvertierbarkeit des symbolischen, respektive literarisch-ästhetischen Kapitals in ökonomisches Kapital. Der zentrale Ort der Verneinung (im Sinne Freuds) der ›ökonomischen Ökonomie‹ liegt in der ästhetischen Form, die ›auratische Einzigartigkeit‹, die ›Zeitlosigkeit des Kunstwerkes‹ und die damit verbundenen symbolischen Ideale wie ›der Einzige und sein Eigentum‹, ›Gabe ohne Gegengabe‹, ›Fest‹ oder ›Verausgabung‹ als ›Botschaft der Form‹ transportiert.11 Für die strukturellen Transformationen des literarischen Feldes nach der Nachkriegsliteratur ist nun von besonderem Interesse, wie sich das Span-
11 Vgl. Bourdieu: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, S. 185.
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nungsverhältnis zwischen der ›ökonomischen Ökonomie‹ und der Ökonomie der ästhetischen Formen gestaltet. In den vorliegenden Studien wurde daher der Schwerpunkt auf die Untersuchung der Schreibverfahren und Poetiken vorrangig im relativ autonomen Subfeld und im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich gelegt. Die analysierten Poetiken und ihre Entwicklungen, anhand derer die Relationen der Autorpositionen im literarische Feld situiert wurden, lassen sich als Umstellungsstrategien der literarischen Akteure verstehen. Die habituellen Inkorporationen hinken zumeist – insbesondere im relativ autonomen Subfeld – den medial-ökonomischen Entwicklungen hinterher, leisten ihnen aber auch aktiven oder passiven Widerstand.12 In dieser Hinsicht zeigten sich unter den Bedingungen einer gesteigerten Konkurrenz um das distinktive Neue verschiedene Varianten einer Formgebung. Wie verhält sich nun die anti-ökonomische Ökonomie des Literarischen am autonomen Pol, die ›Gabe des Werks‹, angesichts eines sowohl marktwirtschaftlich als auch medial-zeichensymbolisch seit den neunziger Jahren gesteigerten Verkehrs symbolischer Güter?
Das Feld der Gegenwartsliteratur seit den neunziger Jahren 1. Die Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs Für die Formation der Gegenwartsliteratur ist die Expansion des Mittelbereichs einer ästhetisch ambitionierten, aber ambivalenten Unterhaltungsliteratur zentral. Dieser Mittelbereich hat eine lange Entwicklungsgeschichte, die ca. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts mit Beginn der Zeitschriften- und Feuilletonliteratur einsetzte und literaturgeschichtlich z. B. in der Literatur der Neuen Sachlichkeit sichtbar wurde.13 Ab Mitte der neunziger Jahre,14 d. h. nach der endgültigen Verabschiedung der Nachkriegsliteratur im »deutsch-deutschen Literaturstreit« und der symbolischen Durchsetzung der neuen Gegenwartsliteratur – in der Prosa insbesondere in Gestalt der neuen Popliteratur und des sogenannten »Fräuleinwunders« sowie im neuen ›Theater der (prekären) Präsenz‹ 15 – hat insbesondere der Mittelbereich des literarische Feld eine neue Produktionsdynamik angenommen und ein neues Legitimationsniveau er-
12 Vgl. Bourdieu: Die feinen Unterschiede, S. 210–276. 13 Vgl. Zweiter Teil, I. 1.2. 14 Vgl. hierzu Heribert Tommek, Matteo Galli, Achim Geisenhanslüke (Hg.): Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Berlin 2015 (in Vorbereitung). 15 Vgl. I. 3.1., 3.2. u. den Exkurs.
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reicht. Durchgesetzt hat sich die sektorale Legitimität einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur, in der sich autonome und heteronome Kategorien konstitutiv vermischen. Die in die Horizontale verlagerte ›Avantgarde‹ der »Zauberer« (Weber) bedeutet eine massenhafte Umsetzung der Kernbestimmung der klassischen Avantgarde der »Propheten«: die »Überführung von Kunst in Leben« (Bürger) im »neuen Geist des Kapitalismus« (Boltanski u. Chiapello).16 Die Expansion des flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereichs beinhaltet eine Versöhnung oder Kompromissbildung zwischen Künstlerkritik und Ökonomie sowie einen gesteigerten Austausch zwischen dem Subfeld der eingeschränkten Produktion und dem der kulturellen Massenproduktion. Der durch die gesteigerte Wechselwirkung expandierende und sich in wachsendem Maße selbständig legitimierende Mittelbereich ist ein Hybridoder Kompromissbereich einer ästhetisch zweideutigen Unterhaltungsliteratur, in dem sich ein großer Teil der Autorpositionen heutzutage situieren (müssen). Dieser Mittelbereich ist von der kommerzialisierten Praxis der »tuttologi« geprägt, die die ›reine‹ Autonomie der Kunst aufheben. Hier entstehen die neuen »Symbolanalytiker« (Reich), die den traditionellen Symbolproduzenten und der Reproduktion der langen, ästhetischen Zeit (= feldautonome Geschichte) entgegenstehen. Es handelt sich bei ihnen um als Spezialisten flexibel-normalistischer Repräsentationen der kurzen, sozialen Zeit in häufig global zirkulierenden Formaten. In ihrem ›Reich‹ der alltäglichen Epiphanien und Verzauberungen herrscht eine ästhetische und ökonomische Konkurrenz: zunächst eine Konkurrenz um Präsenz in der sozialen Zeit, dann aber auch um eine ästhetische Relevanz in der ›langen Zeit‹. Der seit den sechziger Jahren und in einer neuen Qualität seit den neunziger Jahren expandierende Mittelbereich ›strahlt‹ auf das gesamte literarische Feld aus, so dass nur die etablierten ästhetischen (»Priester«) und bürgerlichen (»Notabeln«) Autorpositionen (vgl. Abb. 11) es sich aufgrund ihrer verinnerlichten (Langzeit-)Dispositionen partiell noch leisten können, seine Einflüsse zu ignorieren, wobei auch diese Ignoranz, Verneinung oder Ablehnung ex negativo auf die gewandelten Dominanzverhältnisse verweist, wie sich an den Poetiken von Botho Strauß und Peter Handke ablesen lässt.17 Die ›eigensinnig‹flexibilisierte (›Manager‹-)Autorposition, wie sie zuerst Höllerer, Enzensberger und Kluge einnahmen und dann Kracht, Kehlmann und andere in unterschiedlichen Varianten fortführten, geht dagegen offensiv mit der Expansion der ökonomischen und medialen Wertordnungen um.
16 Vgl. auch Huyssen: After the great divide. 17 Vgl. hierzu: Zweiter Teil, II. 2.1.
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Mit der Durchsetzung der sektoralen Legitimität einer ästhetisch ambivalenten Unterhaltungsliteratur seit etwa Mitte der neunziger Jahre in Form von deutschsprachigen nicht-trivialen, sondern literarischen Bestsellern zeichnen sich auch deutlich Unterschiede zwischen einem kulturellen und einem wirtschaftlichen Flügel im Mittelbereich ab. Die Hybridisierung ästhetisch-autonomer und ökonomisch-medialer (unterhaltsamer) Werte bedeutet also keine Auflösung, sondern vielmehr eine graduelle Ausdifferenzierung der Polarität zwischen hoher und populärer Literatur. Diejenigen Autorpositionen, die sich tendenziell am kulturellen Flügel des Mittelbereichs positionieren, streben nach einer ästhetischen Eigenlogik, um sich innerhalb der flexiblen Ordnungen und der Konkurrenz um Kontingenz-Kompetenz, in der sie sich bewusst, d. h. ästhetisch reflexiv, ironisch und metafiktional bewegen, abzugrenzen (z. B. bei Christian Kracht oder Daniel Kehlmann). Andere Varianten, der Kontingenzbestimmung im Mittelbereich ein Gegengewicht der ästhetischen Zeit entgegenzuhalten, sind der unbestimmte Verweis auf verlorene Subjekt- und Sinnbestimmungen (z. B. in der Literatur des »Fräuleinwunders«), der Versuch einer neuen Anbindung an eine literarisch-politische Öffentlichkeit nach dem Vorbild der Gruppe 47 (z. B. bei Juli Zeh u. Ilija Trojanow) oder ein unbestimmtes Streben nach einem »relevanten Realismus« (bei Matthias Politycki, Thomas Hettche u. a.).18 Dagegen neigen die Autorpositionen am ökonomisch-medialen Flügel des Mittelbereichs zur offensiven und affirmativen Übernahme journalistischer und massenmedialer Verfahren, wodurch sie neue, jedoch nicht mehr modernistisch-programmatische Ästhetiken ausbilden (= Kampf um die literarische doxa). Ihr Bestreben, eine distinktive Position in der horizontalen Vergleichs- und Konkurrenzordnung einzunehmen, ist durch eine permanente, oftmals an Ordnungsverfahren der Serie oder der Liste orientierte ›Verzauberung‹ der Einzeldinge und Alltagsstile auf der Höhe der sozialen Zeit mit ihren pluralisierten Wirklichkeitsbereichen und wechselnden Diskursen geprägt (z. B. bei Benjamin von Stuckrad-Barre oder Sibylle Berg). Hier dominieren Verfahren des »flexiblen Normalismus« (Link).19 Im Unterschied zur Gedächtnisfunktion der Literatur am L’art pour l’art-Pol wird dabei Erinnerung über Listen, alltagskulturelle ›Ding‹-Archivierungen oder ›Epiphanien des Alltags‹ generiert. Diese Erinnerungsformen der Gegenwartsliteratur lassen sich
18 Dieses Streben nach einer gesellschaftlichen Relevanz der Literatur scheint sich in den nach 2000 vermehrt auftretenden Familien- und Generationsromanen fortzusetzen. Gesellschaftliche und kulturelle Relevanz wird hier über chronikalische Erinnerungs- und Narrationsverfahren hergestellt. Erzählmuster der klassischen Moderne werden neubelebt (vgl. Costagli, Galli [Hg.]: Deutsche Familienromane). 19 Vgl. hierzu: Zweiter Teil, I. 3.
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als Versuche der Stabilisierung prekärer Subjekt- bzw. Autorpositionen im ›Reich der flüchtigen Zeit‹ interpretieren.
2. Die Ausdifferenzierung des Nobilitierungssektors Der Nobilitierungssektor oder der Bereich literarischer »Größe« (Heinich), dessen Positionen – wenn sie die soziale Zeit transgredieren – sich traditionell im literarischen Kanon und in den Literaturgeschichten widerspiegeln, war in der deutschen Nachkriegsliteratur noch relativ eindeutig und hegemonial bestimmt. Im westdeutschen literarischen Feld waren es vor allem die »Nonkonformisten« der Gruppe 47 und in der DDR die »kritisch-loyalen Reformsozialisten«, die die maßgeblichen »Größen« der Nachkriegsliteratur darstellten. Dieser obere Sektor literarischer Exzellenz erhebt Anspruch auf gesamtgesellschaftlich repräsentative, universelle Geltung – es handelt sich um den Bereich (potentiell) kanonischer Autoren.20 Sowohl im west- als auch im ostdeutschen literarischen Feld nahmen die meisten dieser Autoren eine Mittelposition zwischen dem ästhetischen und dem politisch-moralischen Pol ein. Gemäß Sartres Leitkonzept einer engagierten Literatur war literarische »Größe« hier mit einer öffentlichen, politisch-moralischen Funktion verbunden. Diese wurde aber zunehmend von ökonomisch-medialen Funktionen überlagert und abgelöst. Die im zweiten Teil vorgelegten Studien sprechen für eine symbolische Verfestigung des oberen, nobilitierten Sektors des literarischen Feldes im Deutschland der neunziger Jahre. Diese ›Revalorisierung‹ literarischer Exzellenz hängt allgemein mit der neuen kulturellen Identitätsbildung der erst ›verspäteten‹ und nun ›versöhnten‹ und zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Nation zusammen. Mit Fokus auf die Transformation des literarischen Feldes zeigt sich die neue Formation nobilitierter Autorpositionen zwischen einem kulturellen und einem ökonomischen bzw. bürgerlichen Pol. Bei dieser Neuausprägung spielen verschiedene Anerkennungsinstanzen ineinander: literarische, ökonomische und bürgerliche bzw. staatliche. Es lassen sich folgende Autorpositionen im Nobilitierungssektor der Gegenwartsliteratur ab Mitte der neunziger Jahre unterscheiden: a) eine kunstreligiös gestützte ästhetische Exzellenz-Position (Strauß, Handke); b) eine naturwissenschaftlich und naturgeschichtlich gestützte ästhetische Exzellenz-Position (Grünbein, Schrott, Sebald);
20 Er entspricht Bogdals »erstem Klimagang« (vgl. Bogdal: Klimawechsel, S. 19 f.).
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c) eine ökonomisch gestützte Exzellenz-Position einer ästhetischen Unterhaltungsliteratur (Kehlmann); d) eine bürgerlich gestützte ästhetische Exzellenz literarischer Notabeln (Tellkamp, Mosebach, z. T. Grünbein). Zu a) Die Ausprägung literarisch-symbolischer Exzellenz oder Größe am L’art pour l’art-Pol erfolgt – in Kontraststellung zum Mittelbereich, der wie die »Welt des Marktes« und die »Welt der Meinung« nach dem Paradigma des Leviathan von Hobbes funktioniert – auf Grundlage der Wertordnung des augustinischen »Gottesstaates«.21 Die Behauptung (im doppelten Sinne) der ›Größe‹ von Autorpositionen greift dabei auf die traditionellen Rechtfertigungsmuster der »inspiratorischen Welt« und auf die Paradigmen von Autor und auctoritas, vom ›Einzigen‹ und seines geistigen ›Eigentums‹, dem Werk, zurück. Im nunc stans der ästhetischen, kunstreligiösen Zeiterfahrung ist die soziale Zeit aufgehoben. Ein maßgebliches Modell ist hier nach wie vor das klassische, organische Werkverständnis und der Symbolbegriff Goethes. Botho Strauß’ Behauptung eines kunstreligiösen, autonomen Ortes des Autors als »Priester« einer objektiven Wahrheit gründet auf einer Abwehr des Zeitgeistes und aller ihrer Erscheinungsformen (Journalismus, Kakophonie der Diskurse, Herrschaft der »sekundären Welt« etc.). Auch Handkes Autorposition basiert auf einem kunstreligiösästhetischen Ort außerhalb der sozialen Zeit. Seine Poetik des ›Nachzeichnens‹ sprachlicher ›Urbilder‹ im Schreibakt ist jedoch an den Rändern der Stadt und ihren Zivilisationsformen angesiedelt und versucht, aus den Zwischenräumen und Übergängen die autonome ästhetische Form des Werks zu gewinnen.22 Sowohl in Strauß’ als auch in Handkes Werk wird der im Mittelbereich herrschenden temporären Gegenwart eine ästhetisch fundierte absolute Präsenz entgegengesetzt. Absolute, epiphanisch-sakrale und erhabene Augenblicksund Werterfahrungen stehen hier in Opposition zu den flüchtigen Alltagsepiphanien mit ihren flexibel-normalistischen Wertbildungen. Die Herstellung der absoluten Präsenz im Kunstwerk in der Figur der Wiederholung oder Restauration des Ur- oder Inbildes bei Handke und Strauß folgt einer zirkulären, mythischen Zeitstruktur. Zu b) Eine andere Form der Wiederherstellung und Behauptung einer literarischen Exzellenzstellung zeigt sich im neuen Auftreten der Position des poeta doctus in den neunziger Jahren. Sie stützt sich bei Durs Grünbein und Raoul Schrott auf epistemologische und metaphorische Anleihen aus den Naturwissenschaften. Im Anschluss an Enzensbergers Ausbildung eines flexibilisierten
21 Vgl. Boltanski, Thévenot: Über die Rechtfertigung, S. 120 ff. 22 Vgl. hierzu: Zweiter Teil, II. 2.1.
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Habitus äußert sich auch bei ihnen die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften als »Vorzeichen eines neuen beweglichen Denkstils«.23 Damit wird der Auflösung der Zentralstellung des (Autor-)Subjekts in ›posthumanen‹ und ›postmodernen‹ Zeiten Rechnung getragen. Zugleich erlaubt aber die poetische Anverwandlung naturwissenschaftlicher Denkfiguren den Autoren, wieder auf eine objektive, naturgeschichtliche Notwendigkeit zurückzugreifen. Dabei fungiert die Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften bei Schrott und Grünbein »als Argument für die Ausnahmestellung von Lyrik im Vergleich mit anderen Diskursformen«.24 Diese »Ausnahmestellung« wird gleichsam mit einer gefährlichen ›Expedition‹ in die verlassenen Grenzgebiete der Kultur- und Naturgeschichte begründet: bei Grünbein über die poetischen Verfahrenstechniken der ›Kälte‹ mit dem Pathos der Distanz zur Masse und ihrer sozialen Zeit – mit diesen Techniken wird das »Niemandsland zwischen Medizin und Poetik« 25 ›vermessen‹; bei Schrott über eine Poetik der ›Tropen‹ und der Metapher, die die Erfahrung des ›Erhabenen‹ über die Verbindung zwischen lyrischem Text und essayistischen Kommentar, die die ›Leere‹ der Wahrheit und Schönheit transgrediert, neu herzustellen vermag. Die ›poetologisierten Naturwissenschaften‹ oder ›vernaturwissenschaftlichten Poetiken‹ sind Umstellungsstrategien des nach Erhabenheitserfahrungen strebenden Dichters angesichts der Umstrukturierung des sozialen Raums zu einer »Wissensgesellschaft«, die traditionelle Habitus- und Ethosstrukturen und das mit ihnen verbundene symbolische Ansehen in der »Gelehrtenrepublik« zu entwerten drohen. In diesen Distinktionsstrategien liegt auch die Ursache für die Aneignung literarischer Traditionslinien und des kulturellen Erbes (sowohl im Sinne eines Werks als auch im Sinne einer geistigen Haltung), so vor allem der Antike, der Klassik, der Romantik und der Klassischen Moderne.26 Eine weitere Variante der Nobilitierung einer ästhetischen Autorposition stellt der Rückgriff auf die »Idee der Naturgeschichte« (Adorno) dar. Er steht ebenfalls für eine Rechtfertigung durch Notwendigkeit und eine die Einzelinteressen übersteigende Objektivität (das »interesselose Wohlgefallen« und das »Dynamisch-Erhabene der Natur« bei Kant). Die Entstehung einer naturgeschichtlich gestützten ästhetischen Exzellenz-Position lässt sich exemplarisch
23 Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle (»Drei Briefe«), S. 45. 24 Hoffmann: Poetologisierte Naturwissenschaften, S. 176. 25 Grünbein: Galilei vermißt Dantes Hölle (»Drei Briefe«), S. 43. 26 Die kulturellen Traditionen in der DDR und in Österreich stellten hierbei offenbar wichtige symbolische Reservoire dar. So ist zum Beispiel auffällig, dass viele Hauptvertreter moderner literarischer Erhabenheitskonzepte österreichische Autoren sind (Handke, Ransmayr, Schrott; vgl. Hoffmann: Konfigurationen des Erhabenen).
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an W. G. Sebalds Karriere zum international hochangesehenen Autor einer Gedächtnisliteratur aufzeigen. Sebalds Autorposition steht für eine ›Modernisierung‹ der ästhetischen Moderne und für ein neues emphatisches Erzählen, dessen Subjekt die »mémoire involontaire« (Proust) der »Ausgewanderten« im Schicksalszusammenhang der katastrophalen Zivilisationsgeschichte ist. Die Grundlegung Sebalds Poetik in einer »Naturgeschichte der Zerstörung«, in deren Zentrum Benjamins Allegorie-Begriff und Geschichtsthesen stehen, sichert ihr die Rückbindung an eine konkrete, an materielle und chronikalische Einzelheiten gebundene geschichtliche Erfahrung und zugleich ihre ästhetischerhabene Transzendierung hin auf ein universelles Gedächtnis und auf eine sittliche Idee. Sebalds Aufstieg zum Dichter-Amt eines neuen Ausdruckes nicht nur des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen, sondern auch des universalen der okzidentalen Katastrophengeschichte war Anfang der neunziger Jahre von polemischen Attacken auf andere Schriftsteller, insbesondere auf Repräsentanten der Nachkriegsliteratur (wie Andersch), begleitet. So hat die Poetik einer »Naturgeschichte der Zerstörung« für Sebalds Entwertung der Nachkriegsliteratur – insbesondere der der Gruppe 47 – und des von ihr repräsentierten Erinnerungsdiskurses eine wichtige Distinktionsfunktion. Nach der symbolischen Opposition zwischen »Aufbau-« und »Exilliteratur« wird eine der Doktrin des wirtschaftlichen Aufstiegs entsprechende bewusste, ›politischkorrekte‹ Erinnerungskultur abgesetzt, die in den Augen Sebalds zum einen der Tabuisierung von Opfer- und Heimatverlust-Erfahrungen und zum anderen den Einzelinteressen, d. h. der Verschleierung und Umdeutung von moralischen Verfehlungen, diente. Durchgesetzt wird dagegen eine allegorisch-moralische Gedächtnisfunktion, die die ›unwillkürliche Erinnerung‹ zum Erkenntnismedium der geschichtlichen Wahrheit und damit zum universalen Gedächtnis erhebt. Was den Zeitzeugen nicht möglich war, das Unbeschreibliche der traumatischen Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, wollte der ›Exil‹-Germanist und -Schriftsteller Sebald im Nachhinein mit seiner an die großen epischen Traditionen der Moderne anschließenden Poetik der »Naturgeschichte der Zerstörung« leisten. Mit ihr hatte er sich einen neuen Schreibraum in der ästhetischen Zeit eröffnet, der über die Gedächtnisfunktion der sozialen Zeit enthoben und damit symbolisch nobilitiert ist. Schließlich ist Sebalds Autorposition über den Anschluss an die allegorische »Urgeschichte des Bedeutens« (Adorno) universalisierbar und kann daher einen Platz im internationalen literarischen Feld einnehmen. Zu c) Die sich im flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich in den neunziger Jahren ausprägende Möglichkeit einer gemischten Spitzenposition, die sowohl auf literarischem als auch auf (aufmerksamkeits-)ökonomischem Kapital beruht, repräsentiert insbesondere Kehlmann mit seinem Ro-
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man Die Vermessung der Welt (2005). Alte Nobilitierungs- und neue Popularisierungsstrategien, klassische Bildungsreferenzen (Alexander von Humboldt, Carl Friedrich Gauß) und mediendiskursive Eloquenz sowie historisch-fantastische Erzählformen einer allgemeinen ›Naturgeschichte des Geistes‹ ergänzen sich hier. Hinzu kommt die Vernetzung in unterschiedlichen Konsekrationsinstanzen: Komplementär zu seiner Autorposition des ›Zauberers‹ vermittelt Kehlmann internationale ›Meisterwerke‹ der Weltliteratur im zweideutigen Gestus zwischen einer bildungsaristokratischen Exklusivität und einem journalistisch-unterhaltsamen ›Zugang für jedermann‹. Durch die Verbindung von literarischer Produktion als Autor und literarischem Urteil als Kritiker kann Kehlmann seine exklusive Position im Mittelbereich behaupten. Allgemein schließt die ökonomisch gestützte ästhetische Nobilitierung an dem in den achtziger Jahren aufkommenden, kommerziell erfolgreichen, zugleich ästhetisch-intertextuell ambitionierten postmodernen Roman sowie an eine neue ›Weltliteratur‹ an: vor allem an einer ökonomisch über Bestsellerformate und Intermedialität – insbes. Verfilmung – gestützte world literature der ›trade fiction‹. Diese ist zu unterscheiden von einer traditionellen, kunstautonomen Weltliteratur, die sich über formalästhetische Errungenschaften ausweist, die die Epochen der ästhetischen Zeit (literarischer Greenwich-Meridian im Sinne Casanovas) im internationalen literarischen Feld bestimmen.27 Zu d) Komplementär zum ästhetischen Widerstand gegen den Zeitgeist am L’art pour l’art-Pol steht auch die bürgerlich gestützte Nobilität für eine Persistenz ständischer Hierarchien, die nicht zuletzt vom Staat im Kontext einer neuen kulturellen Identitätsbildung der erst ›verspäteten‹ und zunehmend ›versöhnten‹ Nation gestützt wird. Diese Verbindung zeigt sich exemplarisch im »Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung«, die nach der Wiedervereinigung auf Betreiben von Spitzenpolitikern in Weimar neu gegründet wurde. Für die Sichtbarwerdung der Autorposition der literarischen Notabeln, die seit den späten neunziger Jahren im Zusammenhang mit allgemeinen Verbürgerlichungstendenzen zu beobachten ist, sind eine Repräsentation bürgerlich-moralischer Werte und eine honorable gesellschaftliche Haltung des Autors charakteristisch. Die staatlich-bürgerlich gestützte Repräsentation kultureller »Größe« verdichtete sich um 2000 im Motiv der zerstörten und wieder aufgebauten Stadt Dresden. Dresden als Symbol steht für eine einstmals – in der Nachkriegsliteratur – verdrängte und nun – in der neuen Gegenwartsliteratur – wiederhergestellte kulturelle Größe Deutschlands. Bei Grünbein, der sich vom ästhetischen Pol der Ästheten dem Pol der bürgerlichen Notabeln angenähert
27 Vgl. Casanova: La République mondiale des lettres; u. Erster Teil, I. 1. sowie Zweiter Teil, II. 3.3.
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hat, kommt in der manieristischen Form seines Porzellan-Poems die ›Sehnsucht‹ nach barocker, repräsentativer Weltkultur auf deutschem Boden zum Ausdruck. In Tellkamps Turm-Roman, der als historischer Zeitroman popularisiert und damit breitenwirksam zur legitimen Repräsentation der DDR-Geschichte erhoben wurde,28 manifestiert sich ein bürgerlicher ›Wille zum Zauberberg‹. In der Nachahmung Thomas Manns erweist sich das Streben nach einer ästhetischen und großbürgerlich-honorablen Existenz. Entsprechend zeigt sich der Wille zum Epochenroman, der Zeit- und zugleich Künstlerroman sein möchte. Im symbolischen Gehalt dieses Romans über einen an der sozialen und politischen Zeit scheiternden Künstler meldet sich ein konservatives Bildungsbürgertum zu Wort, das in der DDR in ›Nischen‹ überlebte und für sich die geistig-moralische Beharrlichkeit in der ›Zeitenwende‹ beansprucht.29 Das Begehren nach dem großen ›Epochenroman‹ – als Variante der Forderung nach dem ›Wende-‹ und ›Einheitsroman‹ – dient der Bildung einer neuen, versöhnten Identität einer sich nicht mehr ausschließlich als Täter-, sondern nun auch als Opfervolk verstehenden Nation. Verbunden ist dieses Begehren mit dem nostalgischen Phantasma einer »Wiederauferstehung« der alten, verlorengegangenen deutschen Kulturgröße im Erzählmodus des ›raunenden Imperfekts‹ in Abgrenzung zum alten ›Negativismus‹ der Nachkriegsliteratur.30
3. Der Avantgardekanal und die Behauptung des Universalanspruches im avantgardistischen ›Raunen‹ Nach 1933 hat der prinzipiell international ausgerichtete Avantgardepol im deutschen literarischen Feld seine strukturbildende Kraft verloren. Ansätze einer Neubelebung der avantgardistischen Traditionen Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre wurden schnell ›kanalisiert‹ – exemplarisch abzulesen an Enzensbergers Aufsatz »Aporien der Avantgarde« von 1962. So verblieb die abstrakte Avantgarde der Konkreten Poesie in einem Nischen-Dasein und die alltagskulturelle Popliteratur rund um Brinkmann wurde als ernstzunehmende ästhetische Avantgarde lange Zeit nicht anerkannt.
28 Angefangen bei der Vermarktung als Spiegel-Bestseller an jedem Bahnhofskiosk bis hin zur Verfilmung als Fernsehfilm, der am Tag der deutschen Einheit 2012 in den öffentlich-rechtlichen Sendern ausgestrahlt wurde. 29 Dass Tellkamp und die CDU bzw. ihr Geschichtsbild in einem wechselseitigen Auszeichnungsverhältnis stehen, zeigt sich in der Verleihung des Literaturpreises der Konrad-Adenauer-Stiftung 2009 einerseits und in Tellkamps Hommage an Helmut Kohl in der Bild-Zeitung andererseits (»Ein Turm namens Kohl. Schriftsteller Uwe Tellkamp zum 80. Geburtstag des Altkanzlers«, Bild, 3. 4. 2010). 30 Vgl. Radisch: Die Besten, S. 40 f.; u. oben: Zweiter Teil, II. 2.4.2.
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lebung‹« ablesen lässt.31 Feldanalytisch zeigt sich in Klings paradoxaler Autorposition und seinem poetischen ›Raunen‹ das Ringen um einen Aufstieg in ein repräsentatives ›Priesteramt‹ einer Kultusgemeinschaft am L’art pour l’art-Pol. Im Unterschied zum statuarisch-pontifikalen ›Priesteramt‹ (z. B. eines Stefan George) ist aber Klings ambivalente avantgardistische ›Flugbahn‹ als »Memorizer« am Fluchtpunkt des ›Säulenheiligen‹ ausgerichtet. Für diesen ist nicht nur die häretische Form in der Zeit, sondern auch das reflexive Bewusstsein um die Gefahr des Absturzes von der ›Säule‹, die sich zur Performanz-Bühne gewandelt hat, und um die Gefahr der Verwandlung des »Memorizers« in den ›Anachoreten‹ der avantgardistischen Nische konstitutiv. b) ein neoexpressionistisches ›Raunen‹, wie es in Jirgls literarischer Beschwörung einer permanenten Katastrophenzeit in der modernen Gesellschaft erklingt. Jirgls Werk präsentiert sich als mythisch überhöhte »Chronik der Deutschen«, in deren Zentrum die sprachlautliche und -rhythmische Komposition des existenziellen ›Schreis‹ der eigensinnigen Menschen steht, die sich ihrer souveränen Individuation beraubt sehen – von Nietzsches Ecce Homo über Foucaults Infame Menschen bis hin zu Agambens Homo sacer. In Jirgls Romanen und – politisch extremer – in seiner Essayistik nimmt eine in großen Teilen von Heiner Müller übernommene und weitergeführte posthumanistische und postdramatische Zivilisationskritik mit einem neoexistenzialistischen Kern (memento mori) Klanggestalt an, die ex negativo auf die stillstehende Weltzeit einer ›leerlaufenden Tragödie‹ verweist. Jirgls avantgardistische Autorposition ist eine schillernde: Sie erscheint im Gewand der klassisch-modernen Figur des poète maudit, der mit seiner eigensinnigen Ästhetik des Zerfalls, des Bösen und Hässlichen seine gesellschaftliche, häretische Außenseiterposition behauptet. Diese Rolle eines außerhalb der Gesellschaft stehenden, existentiell an ihr leidenden und zugleich ihre Chronik schreibenden Propheten, der die Endzeit des humanistischen Zeitalters predigt, konstituiert sich wesentlich über die Abgrenzung vom ›Chor der Masse‹: von der Kulturindustrie (Adorno), von den Massenmedien und der politischen Diskurs-Kakophonie. In der endzeitlichen prophetischen Schau ist das einstmals souveräne Individuum für Jirgl zur ›Beute‹ (im Sinne von Spenglers Untergang des Abendlandes) der modernen Zivilisationszeit und ihrer Disziplinierungspolitik geworden. Jirgls avantgardistisches ›Raunen‹ speist sich aus einer neoexpressionistischen Sprachsuche des in der Massengesellschaft untergehenden Subjekts oder
31 Vgl. dazu: Zweiter Teil, III. 3.1.
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des ›geschlagenen Helden‹. Der Fluchtpunkt des ehemals ›großen‹, souveränen Individuums behauptet sich in Jirgls Werk im Bewusstsein seiner zivilisatorischen Zerfallsgeschichte ex negativo: als Selbstbehauptung des ›bloßen Daseins‹ und im gestischen Schmerz-Ausdruck zwischen existenzieller Emphase (Schrei) und Stille (»O«-Chiffre). In feldanalytischer Hinsicht ist Jirgls Autorposition ambivalent: Einerseits weist sie formalästhetisch avantgardistische Merkmale einer ›postdramatischen Prosa‹ auf, andererseits ist ihr mit dem Projekt einer ›Chronik der verlorenen Heimat‹ (der Deutschen) die Tendenz zum Erzählen im Geiste eines reaktualisierten Modernismus eingeschrieben.32 c) Jelineks ›Raunen‹ in »Sprachflächen« und chorischen Formen: Dieses zielt auf die De(kon)struktion moderner Mythen des Alltags (Barthes), z. B. der nationalen und heroischen Identität des ›ganz bei sich seienden‹ »Wir« in Wolken.Heim. Dem mythisch in der deutschen Geistesgeschichte ›raunenden Gedächtnis des Bodens‹ hält sie ein sprachkonstruktivistisches ›Ziehen der Alraunwurzel‹ entgegen. Dieses ›Ziehen der Wurzel‹ formt die tiefenhermeneutische Bedeutungsproduktion in sprachlich-diskursiven Kollisionen in der horizontal-syntagmatischen Ordnung um. Jelineks ›Raunen‹ beantwortet damit die souveräne Selbstsetzung des geschlagenen, mythischheroischen Subjekts mit der Antwort, die Varus in Kleists Hermannsschlacht auf die Seinsfrage erhält: »hart zwischen Nichts zu Nichts«. Das »Nichts« der tiefenhermeneutischen Subjektkonstitution erfährt eine Umformung durch das »Nichts« der Oberflächenästhetik. Im Verfahren der ›Faltung‹ sprachlicher Subjekt- und Erinnerungsformen wird die Form so weit überdehnt, dass sie ›Risse‹ aufzeigt (z. B. Die Kinder der Toten, Das Werk). Im intertextuellen Dialog mit Celans »Gespräch im Gebirg« werden in sprachkonstruktivistischen Falten die zum Verstummen gebrachten Stimmen der Paria, der von der selbstherrlichen Natur- und Werkbeherrschung Ausgegrenzten und Toten, die in der abendländischen Kultursemantik nicht tragödienfähig sind, in neuer Form vernehmbar. Jelineks literarische Verfahren eines oberflächenästhetischen ›Raunens‹ wenden sich gegen eine Gedächtnisfunktion, die der Wiederauferstehung und Selbstbehauptung des tragisch gefallenen Helden dient, und stehen stattdessen ein für das Gedächtnis der stummen Einzelnen als Viele, als Zivilisten. Aus den horizontalen Sprachflächen, die sich ›ins Leere‹ entfalten, entwickelte Jelinek ihr Chorkonzept, das für die kunstautonome Entwicklung des postdramatischen Theaters in den neunziger Jahren eine zentrale Bedeutung hat-
32 Vgl. oben: Zweiter Teil, III. 3.2.
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te. Der Umgang mit der Massengesellschaft und ihrer Produktion von Prekarität zeigt sich hier als Arbeit mit kollektiven, aber gesellschaftlich unterscheidbaren Diskursen. Entsprechend umfasst das ›raunende‹ Chorkonzept eine Gruppenfigur von vielen, aber unterscheidbaren Körpern, die von den hörbaren Diskursen der heroischen Subjektkonstitution ausgeschlossen sind. Feldanalytisch steht Jelineks paradoxale Autorposition für eine Arbeit an der horizontalen Umformung der vertikalen Werkordnung unter Beibehaltung eines kunstautonomen Anspruches. Wie sie selbst in ihrer Nobelpreisrede reflektiert, situiert sich ihre Autorposition »im Abseits«, aber parallel zum ›Herdenweg‹ der Massenkultur. Ihr Verhältnis zur Masse und zur Gegenwart ist durch ein kunstautonomes ›Raunen‹ in Auseinandersetzung mit der kurzen, sozialen Zeit gekennzeichnet. Die Ergebnisse der Studien und damit die neue Formation der Gegenwartsliteratur lassen sich abschließend schematisch darstellen:
Abb. 12: Das Feld der neuen Formation der Gegenwartsliteratur
Die einzelnen Gattungen verteilen sich im ganzen Feld, jedoch scheinen sich für die Formation der Gegenwartsliteratur besonders relevante Schwerpunkte
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abzuzeichnen: Während die Expansion des Mittelbereichs vor allem Domäne der Prosa ist, bildete sich eine neue, horizontal ausgerichtete Avantgarde vorrangig im Bereich des Theaters aus. Eine vertikal ausgerichtete, kunstautonome Avantgarde zeigte sich in erster Linie in der Lyrik der neunziger Jahre. Entsprechend zeichnet sich auch eine Verteilung der diskursiven Themenkomplexe im Raum ab:33 Während »soziale Geschichten« vor allem im Mittelbereich zu finden sind, situieren sich die Themen »Mythos«, »Ruhm« und »Repräsentation« verstärkt im Nobilitierungssektor. Schließlich geht es im Avantgardekanal insbesondere um die Gestaltung literarischer »Erinnerung«, d. h. um einen ästhetischen Zeit-Ausdruck zwischen horizontalen »Erfahrungen« und vertikal ausgerichtetem »Gedächtnis«. Überhaupt ist die Gestaltung der Zeit, die Konfrontation zwischen ästhetischer und sozialer Zeit, ein zentraler Schlüssel für die Verteilungslogik der Autorpositionen im Feld. Bei den vorliegenden Studien zur Genese und Neuformation der Gegenwartsliteratur handelt es sich um einen ersten Versuch einer feldanalytischen Systematisierung. Daher können sich hier untersuchte Autorpositionen in späteren Studien durchaus als komplexer erweisen. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist erreicht, wenn sich die Hauptthesen zur Bestimmung der Gegenwartsliteratur – die langfristige Genese, die Verlagerung der Reproduktionsweise in die Horizontale und die drei Hauptbereiche: ökonomisierter Mittelbereich, Nobilitierungssektor und Avantgardekanal – als Analyseinstrumente zukünftig bewähren. Der nachgezeichnete ›lange Weg in die Gegenwartsliteratur‹ steht für eine Passage von der Nachkriegsliteratur hin zu einer neuen Formation der Literatur. Sie wird bestimmt und begleitet von feldstrukturellen Transformationen einerseits und habituellen Umstellungsstrategien der Akteure andererseits. So wie die Entwicklung der Sozialstruktur nicht für die Ablösung der Klassengesellschaft durch die ›Erlebnisgesellschaft‹ steht, ist dieser ›lange Weg in die Gegenwartsliteratur‹ nicht von der Einebnung des Unterschieds zwischen ›hoher‹ und ›unterhaltender‹, populärer Literatur oder von einer plötzlichen, vollständig neuen Gestalt der Gegenwartsliteratur geprägt. Vielmehr zeigt sich in der Langzeitbetrachtung eine Entwicklung der Umformung, die mit zwei, in einem dialektischen Verhältnis zueinander stehenden Bewegungen einhergeht: zum einen mit einer Dynamisierung und Flexibilisierung, einer Zunahme der ›Eigenverantwortung‹ und einem ›Aufplatzen des Wissens‹ im ökonomisierten Mittelbereich, zum anderen mit einer Bewahrung hierarchischer, ›stän-
33 In Anlehnung an die diskursiven Themenkomplexe, nach denen Schößler das Theater der neunziger Jahre ordnet (vgl. Schößler: Augen-Blicke).
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discher‹ Ordnungen des Symbolischen andererseits.34 Umsturz- und Bewahrungsstrategien stehen sich mit unterschiedlichen literarischen Repräsentationsansprüchen gegenüber: Einer neuen populärkulturellen Autorität der »Zauberer«, die auf eine anonyme Produktion in Netzwerken beruht, widerstreben die Beharrungsstrategien der »Priester«, der ästhetisch ›Einzelnen‹ mit ihrem ›Eigentum‹, dem Werk. In den Abständen zwischen den Stilen zeigen sich die Abstände der Autorpositionen zwischen ästhetischer und sozialer Zeit. Weniger das Symptom der »Gegenwärtigkeit« (Jahraus), das insbesondere für den flexibel ökonomisierten und medialisierten Mittelbereich charakteristisch ist, als die allgemeine strukturelle Anforderung, in der Auseinandersetzung mit der kurzen, sozialen Zeit ästhetisch zu überdauern, kennzeichnet langfristig die Formation der Gegenwartsliteratur nach der Nachkriegsliteratur.
34 Vgl. Vester: Die selektive Bildungsexpansion.
Abbildungsverzeichnis Abb. 1:
Das Feld der kulturellen Produktion nach Pierre Bourdieu. In: Bourdieu: Regeln der Kunst, S. 203 (© Suhrkamp) Abb. 2: Die fünf Traditionslinien der sozialen Milieus (2003) und die ständische Stufung der Bildungswege. In: Vester: Zwischen Marx und Weber, S. 177 (© Michael Vester / agis-hannover) Abb. 3: Bourdieus Modell verschiedener Legitimitätssphären kultureller Güter. In: Bourdieu: Zur Soziologie der symbolischen Formen, S. 109 (© Suhrkamp) Abb. 4: Aufstieg der Gruppe 47 im literarischen Feld bis Mitte der sechziger Jahre. Abb. 5: Der literarische Raum in der SBZ/DDR (bis 1951). Abb. 6: Der soziale Raum ›zweiter Ordnung‹ der DDR. Abb. 7: Die Ausdifferenzierung des literarischen Raumes in der DDR ab den sechziger Jahren. Abb. 8: Das literarische Feld der DDR in den achtziger Jahren. In: Huberth: Aufklärung zwischen den Zeilen, S. 101 (© Franz Huberth) Abb. 9: Der flexibel ökonomisierte und medialisierte Mittelbereich. Abb. 10: Positionen im literarischen Feld der Gegenwartsliteratur in normalistischer Perspektive. In: Parr: Normalistische Positionen und Transformationen, S. 201 (© Synchron) Abb. 11: Der Nobilitierungssektor im Feld der Gegenwartsliteratur. Abb. 12: Das Feld der neuen Formation der Gegenwartsliteratur.
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20 68 85 147 156 198 207 228
290 327 580
Literaturverzeichnis Primärliteratur Das folgende Verzeichnis enthält eine Auswahl aller in den Studien vertieft behandelten Primärtitel. Sie sind in den Fußnoten des Fließtextes kursiv (mit Kurztiteln) gesetzt. Biller, Maxim: Soviel Sinnlichkeit wie der Stadtplan von Kiel. Warum die neue deutsche Literatur nichts so nötig hat wie den Realismus (Die Weltwoche, 25. 7. 1991); wieder abgedruckt in: Andrea Köhler, Rainer Moritz (Hg.): Maulhelden und Königskinder. Zur Debatte über die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Leipzig 1998, S. 62–71. Brasch, Thomas: Vor den Vätern sterben die Söhne. Frankfurt a. M. 1977. Braun, Volker: Texte in zeitlicher Folge. Halle, Leipzig 1989 ff. Brinkmann, Rolf Dieter: Der Film in Worten. In: R. D. B., Ralf-Rainer Rygulla (Hg.): Acid. Neue amerikanische Szene. Reinbek b. Hamburg 1983, S. 381–399. Brinkmann, Rolf Dieter: Die Piloten. Köln 1968. Enzensberger, Hans Magnus: Baukasten zu einer Theorie der Medien. Frankfurt a. M. [1970] 1972. Enzensberger, Hans Magnus: Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik. Frankfurt a. M. 1967. Enzensberger, Hans Magnus: Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa. Frankfurt a. M. 2002. Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt a. M. [1962] 1965. Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten II. Poesie und Politik. Frankfurt a. M. 1984. Enzensberger, Hans Magnus: Mittelmaß und Wahn [1988]. Frankfurt a. M. 1991. Enzensberger, Hans Magnus: Museum der modernen Poesie, eingerichtet v. Hans Magnus Enzensberger [1960]. Frankfurt a. M. 1980, 2 Bde. Enzensberger, Hans Magnus: Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970. Hg. v. Rainer Barbey. Frankfurt a. M. 2007. Fühmann, Franz: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock 1983. Grass, Günter: Essays und Reden I: 1955–1969. Werkausgabe, Bd. 14. Hg. v. Volker Neuhaus u. Daniela Hermes. Göttingen 2007. Grass, Günter: Schreiben nach Auschwitz. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Frankfurt a. M. 1990. Grünbein, Durs: Antike Dispositionen. Aufsätze. Frankfurt a. M. 2005. Grünbein, Durs: Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen [2001]. Frankfurt a. M. 2003. Grünbein, Durs: Dioskurenklage. In: den sprachn das sentimentale abknöpfn. Widmungen zum 50. Geburtstag von Thomas Kling. Konzeption u. Bearbeitung Heidemarie Vahl u. Ute Langanky. Düsseldorf 2007 [unpaginiert]. Grünbein, Durs: Feldpost. In: Schreibheft 46 (1995), S. 191 f. Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989–1995. Frankfurt a. M. 1996. Grünbein, Durs: Gedichte. Bücher I–III (Grauzone morgens, Schädelbasislektion, Falten und Fallen). Frankfurt a. M. 2006. Grünbein, Durs: Nach den Satiren. Frankfurt a. M. 1999. Grünbein, Durs: Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt. Frankfurt a. M. 2005.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 109, 123, 373, 376, 382, 517, 519, 573, 578, 589, 601 Althusser, Louis 28–29, 33, 185, 589, 592 Andersch, Alfred 88, 106, 108, 127, 371, 378–379, 574, 588, 596 Bachmann, Ingeborg 79, 90, 138, 364, 372, 426, 430, 442, 465 Ball, Hugo 452, 454, 469, 489 Barthes, Roland 4, 128, 136, 280, 315, 348, 498, 507, 522, 527, 538, 544, 548–549, 557, 579, 590–591 Becher, Johannes R. 144–146, 161–162, 166, 219–220, 329, 595 Becker, Jurek 197, 378–379 Beckett, Samuel 145, 186, 300, 506 Beck, Ulrich 10, 17, 19, 77, 121, 591 Benjamin, Walter 40, 79, 95, 146, 201, 230, 244, 305, 342, 347, 373, 376–377, 480, 482, 591 Benn, Gottfried 89, 110, 359, 441, 444, 447, 451, 494–495, 499, 506–507, 598, 605 Berg, Sibylle 56, 255, 284, 286–287, 289, 292–293, 311–312, 570, 600, 606 Bernhard, Thomas 90, 129, 136, 138, 300, 372, 409, 546 Beyer, Marcel 420, 444, 452, 454, 469, 471, 474–475, 477, 495, 503, 587, 598, 607 Biermann, Wolf 153, 194–196, 198–200, 210, 391, 445, 565 Biller, Maxim 238–240, 242, 300, 585 Bobrowski, Johannes 162, 166, 197, 599 Bogdal, Klaus-Michael 15, 28, 30–31, 39, 45, 47, 57, 69–72, 74, 76–77, 80, 101, 139, 149–150, 153, 218, 286, 317, 386–387, 392, 420, 435–436, 449, 566, 571, 590, 592, 598–599, 603–604, 606, 610–611, 613–615 Böll, Heinrich 70, 81, 88–89, 101, 122, 124, 202 Boltanski, Luc 9, 16, 21–22, 31, 46, 48–49, 73, 81, 121, 123, 217, 253, 318–322, 383, 386, 392–393, 412, 562–563, 569, 572, 592–593
Bolz, Norbert 245–247, 255, 305, 343, 592, 608 Bourdieu, Pierre 9, 11–19, 21–24, 26–27, 29, 31–37, 39–40, 48–53, 57, 60, 65, 67– 68, 76, 80, 87, 93, 97, 110–111, 120, 126–128, 143, 149, 155, 162, 212, 218, 225, 243, 256, 284, 292–293, 317, 319– 320, 325–326, 357, 361, 383, 394, 414, 425, 434–435, 534, 562, 565–568, 577, 592–594, 596, 603, 606, 610–611, 614 Brasch, Thomas 196, 201–202, 585 Braun, Volker 72, 153, 161, 163–164, 167, 196–197, 199, 201, 204, 206, 209, 212, 420, 448, 585, 595, 599 Brecht, Bertolt 110, 112, 114, 144, 146–147, 150, 158, 162, 170, 172, 178–179, 184, 186, 190–191, 309, 337, 421, 437, 451, 462, 506, 595–596, 608 Brinkmann, Rolf Dieter 45, 91–92, 127–128, 245, 259–260, 262, 440, 445, 478, 576, 585, 590 Brussig, Thomas 209, 211 Bruyn, Günter de 197, 204, 206, 210, 414 Bürger, Peter 298, 432, 569, 594 Carver, Raymond 252, 265, 280 Casanova, Pascale 23, 60–65, 251, 384, 434, 535, 575, 594, 603 Celan, Paul 89, 424, 439, 442, 444, 452, 456, 495–498, 555, 557, 587, 598, 602, 605, 607 Czernin, Franz Josef 388, 431, 465–467, 471–473, 478, 501, 594–595 Deleuze, Gilles 62, 113, 117, 552–553, 590, 595 Delius, Friedrich Christian 122, 286–287, 289, 293, 610 Draesner, Ulrike 358, 454, 471, 474, 503, 597, 607 Drawert, Kurt 210, 448, 522 Düffel, John von 300, 311, 596 Endler, Adolf 164, 586 Enzensberger, Hans Magnus 42, 70, 80–81, 84, 88, 90–93, 97–117, 119–122, 125,
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Personenregister
130, 137, 140–141, 199, 242, 244–247, 254–255, 260, 289, 356–358, 432, 436, 439–440, 442, 444, 448, 451, 472–473, 496, 521, 564, 569, 572, 576, 585, 587, 592, 597, 599–601, 603, 607–608, 612, 614 Erb, Elke 203–205 Erpenbeck, Jenny 277, 279, 281, 283, 604 Fiedler, Leslie A. 127, 135–136, 258, 597 Foucault, Michel 19, 29–30, 32–33, 71, 81, 150, 185–186, 324, 368, 370, 520–521, 524, 557, 594, 597, 606, 611 Franck, Georg 47, 53, 217, 230, 323, 392, 494, 563, 597 Franck, Julia 224, 231, 279, 297 Freud, Sigmund 28–29, 336, 512, 547, 597, 603 Fühmann, Franz 167, 176, 191, 194, 206, 427, 585 George, Stefan 58, 334–335, 344, 451, 462, 469, 471, 486, 489–494, 502, 578 Goetz, Rainald 138, 260–262, 299, 308, 312, 509, 559, 598 Grass, Günter 72, 80–82, 84–85, 87–89, 92, 97–101, 106–107, 113, 119, 127, 141, 145, 197, 202, 212, 248, 257, 296, 359, 385–388, 400, 406, 410, 420, 439, 448, 535, 546, 562, 585, 609 Grünbein, Durs 42, 153, 211, 317, 356, 358– 367, 371, 389, 414–423, 425, 429–430, 438, 446, 451–453, 456–467, 470–475, 478, 480–482, 485–486, 491, 493, 501, 507–508, 523, 571–573, 575, 585, 587, 589, 594–598, 600–602, 604, 607– 609, 611, 614, 616 Habermas, Jürgen 7–8, 66–67, 70–71, 93, 212, 285, 391, 437, 562–563, 600 Hacks, Peter 42, 153, 161, 168–181, 184– 185, 187–198, 201, 337, 427–428, 564, 586, 591, 601–602, 608–609, 611, 613, 615 Handke, Peter 55, 75, 82, 90, 92, 96, 99– 100, 113, 118, 125–126, 128, 132–141, 249, 259–261, 299, 308, 311, 322, 330, 342, 344–355, 362, 372, 387, 413–414,
418, 526, 541, 556, 562, 564, 569, 571– 573, 586, 589, 592, 598, 601, 610, 613, 615–616 Händler, Ernst-Wilhelm 414 Haslinger, Josef 219 Hegel, G. W. F. 179, 536–537, 539, 600 Heidenreich, Elke 227–228 Hein, Christoph 72, 197, 199, 204, 209 Hermann, Judith 252–253, 257, 277, 279– 282, 586, 604, 613 Hermlin, Stephan 146, 158, 167, 196, 204 Hettche, Thomas 257, 293–294, 471, 570, 607 Heym, Stefan 153, 204, 206 Hilbig, Wolfgang 210, 430, 513, 522, 524 Hochhuth, Rolf 94 Höllerer, Walter 86, 88, 98, 106, 113, 443, 569, 601, 609, 614 Honneth, Axel 318, 601 Horkheimer, Max 519, 601 Illies, Florian 79, 247, 263, 267–268, 288, 586 Jameson, Frederic 16, 23–24, 46, 594, 602 Jandl, Ernst 129, 442, 526–527 Jelinek, Elfriede 55–56, 90, 138, 231, 259, 299, 301, 307–308, 315, 437–438, 487, 503, 525–561, 577, 579–580, 586, 589– 591, 594–598, 600, 602, 604–605, 607–608, 610, 612, 615–616 Jirgl, Reinhard 210, 360, 430, 438, 487, 503–526, 529, 532–533, 535, 541, 543, 550, 552, 555–556, 558, 577–579, 586– 587, 592, 594–595, 599, 603, 607, 609, 613–614 Johnson, Uwe 88–89, 113, 201–203, 598, 609 Jurt, Joseph 11, 29, 34, 39, 57, 62–64, 80– 81, 108, 124, 354, 565, 603, 607 Kafka, Franz 62, 90, 116, 145, 158, 186, 242, 346, 404, 506, 529, 553, 590, 595 Kant, Hermann 204, 209, 329 Kant, Immanuel 67, 323, 364, 371, 573, 604 Kästner, Erich 234–235, 265, 589 Kehlmann, Daniel 253, 323, 356, 385, 394, 398–410, 414, 569–570, 572, 574, 587, 589, 591, 595, 600, 607, 613, 616
Personenregister
Kirchhoff, Bodo 242 Kirsch, Sarah 161, 163, 176, 191, 195–196, 210, 414, 587 Kirsten, Wulf 161, 414 Kling, Thomas 42, 56, 359, 364, 429–430, 438, 440–442, 444, 446–448, 451– 456, 458–470, 473–503, 517, 528, 535, 541, 577–578, 585, 587, 589–590, 598– 599, 602, 604–605, 607–608, 613–614, 616 Kluge, Alexander 244–246, 254–255, 569, 591 Köhler, Barbara 454, 474, 503 Kolbe, Uwe 204, 415, 445 Kracht, Christian 56, 251, 253, 257–258, 262, 265–269, 272–276, 385, 398, 404, 569–570, 587–588, 591–592, 606, 608 Kroetz, Franz Xaver 309, 312 Kunert, Günter 153, 158, 196–197, 451 Kunze, Reiner 210
Lettau, Reinhard 99, 119, 130 Link, Jürgen 19, 25, 50, 52, 65, 74, 104, 140, 236, 254–255, 257, 272–273, 285–288, 436, 570, 598, 606, 610 Loest, Erich 210, 425 Loher, Dea 303, 307
Marcuse, Herbert 100, 123–124, 607 Maron, Monika 209–210, 277, 425 Marx, Karl 3, 33–34, 174, 307, 336, 428, 589, 607 Maurer, Georg 163, 444, 587 Mayröcker, Friederike 446, 454, 465, 477, 483, 526 Meinecke, Thomas 93, 260, 599 Mosebach, Martin 344, 414, 572 Müller, Heiner 42, 153, 161, 168–174, 176– 177, 179–191, 193–195, 197–199, 201– 203, 209, 299–300, 315, 337, 343–344, 362, 417, 423, 457, 461–462, 473, 506, 512, 514, 519, 524, 555–556, 564, 578, 587, 591, 593, 596, 601, 607–608, 610– 611, 613–615 Müller, Herta 414
619
Nadolny, Sten 242 Neumeister, Andreas 93, 250, 259–260, 598–599, 609 Neutsch, Erik 161, 197 Ortheil, Hanns-Josef 219 Ostermaier, Albert 303, 612 Papenfuß, Bert 213, 446, 448, 474, 587, 613 Politycki, Matthias 257, 286, 288–289, 293– 295, 570, 587 Pollesch, René 122, 314–315, 587, 595, 605 Radisch, Iris 72, 391, 426, 430, 576, 610 Ransmayr, Christoph 242, 342, 377, 384, 573, 601, 610 Reich-Ranicki, Marcel 138, 227, 386, 388, 409, 595, 616 Rühmkorf, Peter 234, 442, 444, 451 Runge, Erika 100, 130 Sapiro, Gisèle 15, 57–59, 84–85, 220, 324, 326, 411, 611 Schädlich, Hans Joachim 196, 210 Schleef, Einar 304, 559, 598 Schlink, Bernhard 420 Schneider, Peter 137, 140 Schrott, Raoul 317, 342, 356, 364–369, 385, 408, 421, 452, 482, 571–573, 587, 601, 605, 614 Schulze, Gerhard 10, 19, 249 Schulze, Ingo 209, 211, 282, 289, 385, 389– 391, 523, 587, 612 Schütz, Stefan 209 Schwab, Werner 301, 312 Sebald, Winfried Georg 247, 371–381, 508, 556, 571, 574, 588, 596, 605–606, 609– 612 Seghers, Anna 146–147, 165, 235 Seibt, Gustav 415 Sennett, Richard 24, 81, 121, 358, 613 Sloterdijk, Peter 112, 358, 514, 521, 613 Sontag, Susan 115, 372, 613 Strauß, Botho 75, 240, 248, 299, 306, 308, 311, 321–322, 330–345, 347, 350–353, 356, 362, 413, 461, 474, 541, 556, 569, 571–572, 587–588, 590, 593, 595, 601, 608, 610–611, 614–616
620
Personenregister
Streeruwitz, Marlene 277, 301, 308, 355 Strittmatter, Erich 161, 199, 204 Struck, Karin 137 Stuckrad-Barre, Benjamin von 79, 251, 253, 257, 262, 265–268, 271–275, 288–289, 293, 398, 570, 588, 608 Süskind, Patrick 242, 252, 323, 400
Tellkamp, Uwe 153, 211, 275, 295, 297, 317, 389–390, 414, 420, 425–429, 464, 523, 572, 576, 588, 598, 614 Trakl, Georg 441, 451, 471, 479, 485, 561 Treichel, Hans-Ulrich 219, 295, 332, 334, 614 Trojanow, Ilija 284, 295–296, 385, 570
Vester, Michael 16–20, 206, 582, 593–594, 615
Walser, Martin 72, 88–90, 97, 100–101, 106, 141, 212, 385–387, 424, 588, 592, 606, 612 Weber, Max 3, 16, 19, 26, 34, 49, 95, 150, 284, 292, 317, 393–394, 403, 405, 565– 566, 569, 596, 615 Weiss, Peter 42, 88, 90, 92, 99–100, 102– 107, 111, 113–121, 125, 131–132, 197, 245, 289, 328, 381, 564, 588, 594–595, 598–599, 601, 606, 611, 614–615 Wellershoff, Dieter 92, 127, 130, 199, 259, 289, 616 Williams, Raymond 457, 556–557, 616 Wittstock, Uwe 241–242, 278, 616 Wolf, Christa 72, 81–82, 145, 151–152, 161, 164–168, 176, 191, 193, 195–197, 199, 201, 204, 206, 208–210, 212, 242, 248, 329, 523, 562, 588, 590, 595, 599, 603 Zaimoglu, Feridun 284 Zeh, Juli 220, 295–296, 570