„... der Kurs auf die Realität“: Das epische Werk von Anna Seghers, (1935–1943) [Reprint 2021 ed.] 9783112574829, 9783112574812


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German Pages 322 [337] Year 1976

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„... der Kurs auf die Realität“: Das epische Werk von Anna Seghers, (1935–1943) [Reprint 2021 ed.]
 9783112574829, 9783112574812

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Frank Wagner

... der Kurs auf die Realität"

Literatur und Gesellschaft Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR Zentralinstitut für Literaturgeschichte

Frank Wagner

... der Kurs auf die Realität" Das epische Werk von Anna Seghers (1935-1943)

Akademie-Verlag Berlin 1978

Die Rechte für die im Dokumentenanhang abgedruckten Texte gehören Anna Seghers.

2. Auflage Erschienen im Akademie-Verlag, 108 Berlin, Leipziger Straße 3 - 4 © Akademie-Verlag Berlin 1975 Lizenznummer: 202 • 100/183/78 Satz: IV/2/14 VEB Druckerei „Gottfried Wilhelm Leibniz", 445 Gräfenhainichen/DDR Offsetnachdruck: VEB Kongreß- und Werbedruck, 9273 Oberlungwitz Bestellnummer: 752 641 3 (2150/27) • LSV 8026 Printed in G D R D D R 10,- M

Inhalt

Vorbemerkung

7

„Die Rettung". Der Prolet in der Entfremdung und im Kampf gegen sie

11

Schreibanlässe Deutsche Bergarbeiter in der Krise Epische Gliederung Die proletarische Gemeinschaft und ihr Vertrauensmann Welthistorische Thematik Methoden intensiven Figurenaufschlusses Finale, Perspektive, Impulse Neuer Umgang mit zeitgenössischer und überkommener Literatur. Schöpferische Beziehungen

80

Selbstverständigung und Diskussion: Um eine Prosa auf der Höhe der Kämpfe

94

„Das Siebte Kreuz". Antifaschistische Widerstandsaktion und Bestandsaufnahme der Menschlichkeit

114

Der Erzähler Der Held - Lernen unter Todesdrohung Alltag und Abenteuer Kräftemessen und Organisation der Menschlichkeit Das gewöhnliche Leben Menschheitsgeschichte und Episode des antifaschistischen Kampfes der Illegalen Der sozialistische Zeitgeschichtsroman

5

11 17 22 25 49 62 74

114 129 142 150 158 164 172

Die Schaffenslinie der Phantasiestücke

177

„Transit" faschisten

202

Der Wendepunkt des namenlosen Anti-

„Die Lage war in diesem ersten Kriegsjahr so verworren wie nur irgend möglich . . . " Das Obdach Ein Bruder Namenlos Ein Vierecksverhältnis Welten und Haltungen Persönlicher Entschluß und geschichtlicher Wendepunkt Erzählen, Lesen, Geschichten und Geschichte . . . .

202 205 211 220 225 237 252

Vor den großen Veränderungen

261

Abkürzungen

275

Anmerkungen

278

Dokumente

296

Zur Auswahl und Druckeinrichtung

296

Anna Seghers: Zum Schriftstellerkongreß in Madrid Anna Seghers: Wiedersehn Anna Seghers: Bodo Uhse: „Die erste Schlacht. Vom Werden und von den ersten Kämpfen des Bataillons Edgar André" [Rezension] [Brief von Anna Seghers an J. R. Becher vom 27. 3. 1939] [Anna Seghers: Vorwort zur russischen Ausgabe der „Rettung"] Personenregister

296 305

310 311 314 316

Vorbemerkung

Dieses Buch will zur Kultur des Lesens beitragen und den Zugang zum eigentlich Poetischen des Erzählens erleichtern. Es rekonstruiert ein Stück Entstehungsgeschichte von Dichtungen, weil geschichtliches Verständnis das Lesen ergiebiger macht. Das Buch verfolgt über einen Zeitraum von acht Jahren hinweg die Arbeit eines Schriftstellers und ihre Bedingungen. Es versucht nachzuzeichnen, wie sich die eigentümliche Schreibweise eines Schriftstellers herausbildet. Der Vorgang des Lernens und Arbeitens ist hier ein zurückliegendes Beispiel, an dem sich Spätere, die unter anderen Umständen leben und unter anderen Voraussetzungen lesen und schreiben, belehren können. Diese Arbeit macht sich Gedanken aus einem Seghers-Brief vom Jahre 1938 zu eigen: „Beim Schaffen eines Kunstwerkes, wie bei jeder menschlichen Aktion, ist das Maßgebende die Richtung auf die Realität, und dabei gibt es . . . keinen Stillstand." (Schriften I, S. 181*.) In ähnlichen Wendungen - zuweilen spricht sie vom „Kurs auf die Realität" - hat die Dichterin immer wieder die realistische Grundrichtung ihres Schaffens beschrieben. Sie stehen in einem Kontext, der verdeutlicht, was für Anna Seghers Realität heißt: Das Leben des Volkes, die gesellschaftlichen Kämpfe, das menschliche Ringen um den Fortschritt in der Geschichte, um die Menschwerdung des Menschen bis in die innersten Gefühle und Gedanken hinein. Die Arbeit interpretiert das Segherssche Erzählwerk, das zwischen 1935 und 1943 entsteht, und verfolgt den * Abkürzungen s. S. 275.

7

zusammenhängenden Vorgang der künstlerischen Realitätsaneignung, den Arbeitsprozeß des poetischen Bewußtmachens. Der „Kurs auf die Realität" wird also nachgezeichnet an einzelnen Kunstgebilden und am entstehenden Ensemble aller literarischen Werke. Damit folgt der Verfasser einem wissenschaftlichen Interesse, das in seiner Mitarbeit an den Thesen zum deutseben Roman im 20. Jahrhundert (Weimarer Beiträge 14 [1968] 1, S. 3 0 103), an der Geschichte der deutschen Literatur (Literaturgeschichte, Bd. 10, insbes. S. 487-558), oder auch am Beitrag Zu einigen Entwicklungsproblemen der sozialistischen Epik von 1963 bis 1968/69 (Neue Deutsche Literatur, 17 [1969], 9, insbes. S. 162-169) sichtbar wird. Nach diesen Arbeiten, die der Geschichte einer Gattung im literarischen Gesamtprozeß galten, war die Zuwendung zu einer Dichterpersönlichkeit, zu ihrer individuellen poetischen Konzeption und ihrem eigentümlichen Beitrag fürs Ganze einigermaßen folgerichtig. Vom Gesamtprozeß zurückkommend, schien es dem Verfasser möglich und geboten, sich dem Einzelnen mit einigen neuen literarhistorischen Aspekten wiederum zu nähern. Und der literaturkritische Umgang mit zeitgenössischen Arbeiten unserer DDR-Autoren ließ manches vom früheren deutlicher erkennbar werden. Die kräftigsten Anstöße, sich dabei Anna Seghers zuzuwenden, vermittelte die Diskussion über den Roman Das Vertrauen (1968) mit einigen Literaturwissenschaftlern von der Akademie der Wissenschaften der Deutschen Demokratischen Republik (Motiv Vertrauen) und mit Studenten der Humboldt-Universität zu Berlin in den Jahren 1969-1972. Erstaunlicherweise ist dieser Entwicklungsabschnitt des Exilschaffens, in dem die Künstlerin in eine hervorragende Stellung im Kollektiv der sozialistischen Schriftsteller hineinwuchs, in der sie meisterliche künstlerische Leistungen vollbrachte, in der sie konzeptionelle und methodische Neuerungen von großer Tragweite einführte, außer in einigen Gesamtdarstellungen bisher noch nicht in seiner Einheit dargestellt worden. So reiht sich die Arbeit in die Bemühungen von Sigrid Bock, Inge Diersen, Tamara Motyljowa, Friedrich Albrecht, Kurt Batt, Peter Keßler, Heinz Neugebauer und anderen ein, die Erfahrungen der bedeutendsten Erzählerin der deutschen sozialisti-

8

sehen Literatur literarhistorisch und literaturpädagogisch aufzuarbeiten. Machen wir uns bewußt, daß das Werk der Dichterin seit nunmehr einem halben Jahrhundert - von den Klassenschlachten der Weimarer Republik, dem Ringen der Antifaschisten in der Illegalität und im Exil bis zum Bau der sozialistischen Gesellschaft - den Kampf um Frieden, Demokratie und Sozialismus mitgestaltet. Das ist etwas sehr Seltenes. Versäumen wir darum nicht, das nachzuholen, was zur Aneignung des Erbes anderer sozialistischer Schriftsteller von hohem Rang, vornehmlich Brechts und Bechers, wissenschaftlich bereits geschehen ist. So wird hier eine entscheidende Strecke in der unmittelbaren Vorgeschichte der sozialistischen Literatur der Gegenwart und ein unentbehrlicher Teil der nun schon Erbe gewordenen vorrevolutionären Literatur deutscher Sprache teilweise neu zur Diskussion gestellt, Der Verfasser hofft, auf einige weniger beachtete oder behandelte Werke von Anna Seghers - so auf die Romane Die Rettung und Transit, auf die kleinere Prosa dieser Jahre und auf einige Zusammenhänge des Gesamtwerkes - so zwischen den phantastischen Erzählungen und den Arbeiten mit zeitgeschichtlichem Sujet - aufmerksam machen zu können. Unter romanhistorischen Aspekten erheischt der Typus des sozialistischen Zeitgeschichtsromans, der durch Anna Seghers seine reife Form bekommt, unsere Beachtung. Die behandelten künstlerischen Werke werden aufgefaßt als Berührungspunkte zweier heftiger „Bewegungen in einem: [der] des Autors, [der] der Wirklichkeit" (Schriften I, S. 153). In der immer neuen Begegnung zwischen künstlerischem System und geschichtlicher Wirklichkeit findet sich das literarhistorische Motiv der Arbeit. Wenn dabei mit unterschiedlicher Ausführlichkeit einigen allgemeinen und persönlichen Schaffensbedingungen in dieser für emigrierte antifaschistische Schriftsteller so schweren und zugleich künstlerisch fruchtbaren Zeit nachgegangen wird, dann mit dem Vorsatz, etwas über die künstlerische Intention, über die jeweilige Spezifik des Werkaufbaus, der Erzählweise und über deren Gründe auszumachen. Das Buch führt den Nachweis, daß es der Dichterin immer um antifaschistische, sozialistische Impulse, freilich sehr bestimmter und unterschiedlicher Art ging, und sie gerade des9

wegen „alle Gebiete des Lebens umfassen" und „die Menschen nach und nach mit sich selbst in tiefere, unbekanntere Schichten der Wirklichkeit ziehen" (ebenda, S. 197 u. 204) wollte. Aus gemeinsamen Arbeiten marxistisch-leninistischer Literarhistoriker herauswachsend, soll dieses Buch wiederum Anteil an der Lösung von Aufgaben nehmen, die vor uns allen gemeinsam stehen. Unsere Art des kollektiven Bemühens macht es schwer möglich und wohl auch überflüssig, einzelnen Weggefährten namentlich Dank abzustatten. Die literaturgeschichtlichen Vorstellungen des Verfassers haben sich in den letzten Jahren vornehmlich an der Geschichte der deutschen Literatur innerhalb einer über das Zentralinstitut für Literaturgeschichte hinausgehenden Diskussion, in der unmittelbaren Zusammenarbeit mit den Genossen Dieter Schiller, Silvia Schlenstedt und besonders mit Hans Kaufmann entwickelt, der seit mehr als zwanzig Jahren ein stets fördernder und fordernder Gesprächspartner ist. Februar 1974

Frank Wagner

„Die Rettung" Der Prolet in der Entfremdung und im Kampf gegen sie

Schreibanlässe Für das Frühjahr 1937 kündigte der Querido-Verlag, Amsterdam, eine Heimstatt der fortschrittlichen deutschen Literatur im Exil, neben Büchern von Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger und Bruno Frank auch den Roman Die Rettung von Anna Seghers an. Etwas später, aber noch im gleichen Jahre erschienen, wurde der erste Teil des Buches - Grubenunglück und Rettung aus Todesgefahr - in Heft 2/1938 der Zeitschrift Internationale Literatur, Deutsche Blätter, Moskau, und vom 6. März bis 3. April 1938 von der Deutseben Volkszeitung, Paris, in Fortsetzungen abgedruckt. Die energisch betriebene sowjetische Ausgabe in russischer Sprache erschien 1939, noch vor dem Kriege, von der Autorin mit einem besonderen Vorwort versehen.1* Für die damaligen Bedingungen rasch meldete sich die Kritik zu Wort, so die Moskauer Zeitschrift Das Wort in Heft 3/1938 mit Zwei Stimmen zu einem Werk (von Justin Steinfeld und Klara Blum) und in Heft 9/1938 die Internationale Literatur mit einer Rezension von Kurt Kersten. Der Tenor dieser zeitgenössischen Urteile blieb, daß der Roman „ . . . trotz einer gewissen Problematik zu einem der besten Werke der im Ausland lebenden deutschen Schriftsteller" gehöre (so hatte es in der kurzen redaktionellen Einführung zum Teilabdruck in der Deutschen Volkszeitung geheißen).2 Die deutsche Nachkriegskritik sah den Bergarbeiterroman eher im Vorfeld des Welterfolgs Das siebte Kreuz-3* Anders * Als Lesehilfen wurden die Ziffern, die sowohl auf Literatur- oder Quellennachweise verweisen als auch auf Sachanmerkungen, durch einen Stern gekennzeichnet.

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sowjetische Autoren, so besonders Tamara Motyljowa, die 1953 in einem Kritisch-biografischen Abriß die eigenständige Bedeutung des Werkes betonte.4 In den letzten Jahren zeichnet sich in der Literaturwissenschaft der DDR ein deutlicher Wandel ab, bis dem Roman in Friedrich Albrechts Deutsche Schriftsteller in der Entscheidung und in der Geschichte der deutschen Literatur, Band 10, geradezu eine Schlüsselposition in der Entwicklungsgeschichte der sozialistischen Erzählliteratur deutscher Sprache zuerkannt wird. 5 Gleichzeitig haben Gegner des Sozialismus und der sozialistischen Literatur dieses Buch in ihre Argumentation einbezogen.6 All das zeugt von seiner unverwüstlichen, ja zunehmenden Lebenskraft. Literaturgeschichtlich ist Die Rettung als ein bahnbrechender Beitrag zum literarischen Kampf der deutschen antifaschistischen Literatur gegen das Hitlerregime anzusehen. Der Roman ist die bis dahin tiefste epische Analyse der deutschen Arbeiterklasse in der kapitalistischen Gesellschaft. Er gehört zu jenen Leistungen, die für die deutsche sozialistische Literatur, ja für die sozialistische Weltliteratur, eine Phase der weltanschaulichen und künstlerischen Reife einleiten. Anna Seghers hat gelegentlich geäußert, Die Rettung wäre ein älterer Plan gewesen. Heute ist es schwer zu rekonstruieren (und vielleicht nicht übermäßig aussagekräftig), seit wann. 7 So viel dürfte jedoch feststehen, daß das Buch mit diesem Ansatz und mit dieser künstlerisch-weltanschaulichen Tiefe erst um diese Zeit - 1935 - zustande kommen konnte. Das politische und geistige Klima, in dem die kommunistische Schriftstellerin von 1935 bis 1937 an ihrem Bergarbeiterroman schrieb, war beeinflußt vom VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale und von der darauf folgenden Brüsseler Reichskonferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands. (Der I. Internationale Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur in Paris stand ganz im Zeichen des antifaschistischen Zusammenschlusses, der kurze Zeit später auf dem VII. Weltkongreß ausführlich begründet, diskutiert und beschlossen wurde.) Die in der politischen Konzeption der proletarischen Einheits- und Volksfront vollzogene „ . . . Anwendung der Leninschen Revolutionstheorie auf die neuen Bedingungen"8 stimu12

lierte kraftvoll die sozialistische Literaturbewegung. Denn die Ausarbeitung und die Durchsetzung dieser politischen Linie gingen Hand in Hand mit einer Belebung des marxistischleninistischen Denkens überhaupt. Das schärfte und klärte den Blick für Grundfragen der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus. Es ist offensichtlich, daß den revolutionären Schriftstellern das erneute Durchdenken der marxistisch-leninistischen Revolutionstheorie wichtige Impulse verlieh. Fragen des Verhältnisses von demokratischer und sozialistischer Umwälzung, der Verbindung von Tagesaufgaben und welthistorischer Mission, der Beziehung von revolutionärer Partei zu den proletarischen Massen und anderen Klassen und Schichten wurden erneut überprüft, vertieften und erweiterten das Traditionsbewußtsein und das Geschichtsbild. Andererseits vertiefte sich das Verständnis für den Beitrag, den die Literatur als organisierter und bewußter Teil der revolutionären Bewegung ihrer künstlerischen Spezifik nach leisten könne und zu leisten habe.9 Die sozialistische Literatur brachte damit eine Entwicklung zu einem relativen Abschluß, die mit der Gründung des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller eingesetzt hatte. Anna Seghers hat an der kollektiven Selbstverständigung der sozialistischen Schriftsteller um ein vertieftes Literaturverständnis, um das Verhältnis zum Erbe und zur zeitgenössischen bürgerlich-humanistischen Literatur sehr intensiv und wirksam teilgenommen. Für den Fortgang ihres eigenen Schaffens war dies eine ganz unerläßliche Voraussetzung.10 Namentlich ihre Rede auf dem I. Internationalen Schriftstellerkongreß zur Verteidigung der Kultur, Ende Juni 1935 in Paris, bekannt unter der Überschrift Vaterlandsliebe, ist im Hinblick auf Die Rettung höchst aufschlußreich. Die nunmehr zwei Jahre im Exil lebende Schriftstellerin bringt unverhüllt ihre Erschütterung über den Sieg der faschistischen Macht in Deutschland und deren Konsolidierung, über die Niederlage der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Diese Niederlage sei nicht nur durch physischen Terror herbeigeführt worden. Als besonders verhängnisvoll sieht sie an, daß den konterrevolutionären Feinden der Demokratie und des Sozialismus der Einbruch ins Bewußtsein der Menschen gelungen sei. Im Unterschied zu manchen bürgerlichen 13

Hitlergegnern sieht sie darin allerdings nicht ein Übel, das den Deutschen angeboren sei. Vielmehr legt sie Nachdruck auf die Erkenntnis, daß dieser Einbruch der Nazi-Demagogie ins Bewußtsein über echte Werte und Strebungen vor sich gehe, die dann mißbraucht und fehlgeleitet würden. Es gelte zu beachten, daß der Faschismus nicht lediglich repressiv wirke, sondern es vermocht habe, anziehende Vorstellungen zu entwerfen. „Was dürfen wir . . . nicht übersehen? Es ist nicht mehr, daß der Krieg nur droht, er verlockt auch." 11 Daraus wird gefolgert, den Ursachen nachzugehen und entsprechende ideologische, literarische Aufgaben für die Antifaschisten abzuleiten. Als sozialistische Schriftstellerin ist sie selbstkritisch, wenn sie es für dringlich hält, im Leben des Volkes nichts mehr zu übersehen, aber die falschen Begriffe als falsch nachzuweisen und die richtigen Lösungen der Lebensprobleme zu zeigen. Dazu zählt vor allem die Vorstellung von Heimat und Vaterland. „Wenn im Bewußtsein des heutigen Menschen der Vaterlandsbegriff längst entlarvt schien, er regenerierte sich trotzdem täglich und minütlich aus dem Sein heraus." Daran schließt sich der Gedankengang, in der Vorstellung vom Vaterland die Klassenerfahrungen des Proletariats wachzuhalten, den Klasseninhalt aufzudecken. Ist der Schriftsteller „ . . . stolz auf das Nationalgut Leuna? Er ist nicht stolz auf das Nationalgut, doch er ist stolz auf die Arbeitskraft von fünfzigtausend Arbeitern, stolz auf die Erringung dieser vom mitteldeutschen Aufstand durchbluteten Landschaft, stolz auf die Zukunft von Leuna. Fragt erst bei dem gewichtigen Wort .Vaterlandsliebe', was an eurem Land geliebt wird." 1 2 Die nationale Verantwortung, zu der sich die Rednerin hier zum ersten Male so ausdrücklich bekennt, ist mit dem Ziel eines Vaterlandes engstens verknüpft, in dem die werktätigen Menschen wirklich ihre Heimat haben und gebraucht werden. Die Aufgabe der antifaschistischen Schriftsteller sieht sie darin, dieses Ziel, das über den Kampf g e g e n den Faschismus hinausweist, sichtbar zu machen. Dies korrespondiert mit den programmatischen Ausführungen Bechers auf diesem Kongreß. 13 Ausdrücklicher jedoch als Becher nimmt sie die Erfahrungen der Massen zum Ausgangspunkt ihrer Analyse. Die Begriffe, die hier durchgearbeitet 14

werden - Vaterland, Gemeinschaft, der gebrauchte oder ungebrauchte Mensch - weisen unübersehbar auf den Bergarbeiterroman, der gleichzeitig entsteht. Die Haltung, von der die Beschlüsse der Kommunistischen Internationale und der KPD getragen waren, nämlich die der Nüchternheit und des Realismus sowie der Illusionslosigkeit14, wirkte sich tief und nachhaltig auf die sozialistischen Schriftsteller aus. Ihnen wie den andern Kommunisten wird dabei neu und scharf die Zähigkeit der Bindungen an die monopolkapitalistische Gesellschaft, die Schwere des Lösungsprozesses, die Notwendigkeit, die sozialistische Ideenwelt immer erneut zu begründen, zu beweisen, zu erhärten und [sie] unter den veränderten Bedingungen anzuwenden und dabei weiterzuentwickeln"15, zu Bewußtsein gekommen sein. Hieß das auch für Anna Seghers, Illusionen über Verlauf und Tempo der revolutionären Prozesse sowie Reste von Sektierertum gründlich zu verabschieden: Letztlich wurde sie ermutigt, die seit langem wirksame Grundlinie ihres Schaffens energisch, konsequent, mit starken, neuen Anstößen zu verfolgen. Diese Grundrichtung, die von ihr in variierenden Formulierungen gleichbleibend als Bewußtmachen der Wirklichkeit bezeichnet wird, zielt hier - zunächst - auf die Gesamtheit der deutschen Arbeiterklasse. Die Autorin hat in einem Brief an einen polnischen Studenten unlängst den für sie formell interessanten Gegensatz zwischen den Gefährten und dem Siebten Kreuz angemerkt.16 Man kann das getrost ausdehnen, wenn man feststellt, daß von einem Werk zum darauf folgenden „interessante Gegensätze" herrschen. Daran erkennt man die hartnäckige Arbeit der Autorin, die Wirklichkeit vielseitig, aus immer neuem Blickwinkel, mit immer veränderter Sehweise, erzählend zu erfassen. Nicht zuletzt hierin wird der schöpferische Charakter sichtbar. Inge Diersen urteilt in ihren Seghers-Studien - mit Blick auf das Frühwerk vom Aufstand, der Fischer von St. Barbara über die Gefährten und den Kopflohn bis zum Weg durch den Februar: „Jedes der genannten Werke ist in seiner Art ein neuer Anfang, wobei selbstverständlich die erworbenen Erfahrungen mehr oder weniger sichtbar verarbeitet werden." 17 Hier soll der „neue Anfang" betont werden, der mit der 15

Rettung gemacht wird: Hatten die Gefährten - geschrieben „ . . . vor all diesen Ereignissen, die uns alle furchtbar aufgewühlt haben"18 - Gestalten der Avantgarde entschieden ins Zentrum gestellt und die Kontinuität der internationalen revolutionären Bewegung in der Behauptung gegen die internationale Konterrevolution zum Hauptthema gemacht, so geht es nunmehr um die Masse des Proletariats. War im Weg durch den Februar die (österreichische) Arbeiterklasse im kurzen Moment des Aufstandes, der erbitterten Klassenkonfrontation im Querschnitt erfaßt worden, so stellt der ein Jahr später begonnene Bergarbeiterroman seine Gestalten in eine zähflüssige Gesellschaftskrise und organisiert das Ganze von einer Zentralgestalt aus. War, um schließlich noch einen weiteren Aspekt vergleichsweise heranzuziehen, in der Reportageerzählung Koloman Wallisch die Absicht wirksam, der Gegebenheiten des Jahres 1934 zeitlich so dicht wie möglich habhaft zu werden, wird nunmehr über die historische Zäsur des Januar 1933 zurückgegriffen und von größerer zeitlicher Distanz aus erzählt. Die Schriftstellerin sucht nach den tieferen Ursachen des heutigen Zustandes, um ihn verändern zu helfen. Die neuen Gegebenheiten, persönlich bitter erfahren als zeitweiliger Sieg der Nazis in Deutschland, der Dollfuß-Reaktion in Österreich, zugleich als Fortdauer des illegalen antifaschistischen Kampfes, als Entstehen kraftvoller Einheits- und Volksfrontbewegungen in Frankreich und Spanien, werden in ihren historischen Voraussetzungen aufgesucht. Die drängenden Fragen der revolutionären Bewegung, wie es den Nazis gelingen konnte, nicht nur in die Mittelschichten, sondern sogar in die Arbeiterklasse zu dringen, wie es möglich war, daß die Arbeiterklasse gespalten blieb und die folgenschwerste Niederlage ihrer bisherigen Geschichte erlitt, lassen die ganze Klasse in ihrem unterschiedlichen Reagieren und Reifegrad, das Ganze des Arbeiterlebens im Alltag ins Zentrum des schriftstellerischen Interesses rücken. Von diesem Gegenstand des Romans soll im folgenden die Rede sein.

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Deutsche Bergarbeiter in der Krise Der Klappentext der Amsterdamer Erstausgabe hatte für Die Rettung geworben mit dem Versprechen, daß darin das „ . . . Problem der Beziehung zwischen Führer und Geführten, zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Liebenden, zwischen Freunden" behandelt würde. „Diese elementaren Grundbeziehungen, denen jeder Mensch unterworfen ist, werden so gezeigt, wie sie in unserer aufgewühlten Zeit erlebt werden. Liebe, Todesfurcht, Mut, Kameradschaft, die ganze Erlebnisskala des heutigen Menschen wird dargestellt im Umkreis eines Mannes, der zwar sich und seine Gefährten vor der Todesgefahr, aber weder sich noch die anderen vor den Gefahren und Verwirrungen des Lebens retten kann." 19 So zutreffend solcher Fingerzeig auch war, die Werbeabsicht gegenüber einem Publikum, das größer sein sollte als der kleine und zahlungsschwache Kreis deutscher oder des Deutschen kundiger Proleten und Revolutionäre im Exil, in Österreich oder in der Tschechoslowakei ließ den Werbetexter über das Wichtigste hinweggehen: Die erwähnten Probleme und elementaren Beziehungen finden sich bei deutschen Bergarbeitern vom Einbruch der großen Krise am Ende des Jahres 1929 bis hin zum Beginn der terroristischen Diktatur der Nazis im Frühjahr 1933. Was ereignet sich? Sieben verschüttete Bergleute, unter ihnen der Häuer Bentsch, werden in letzter Stunde gerettet. Über Tag werden sie, kaum genesen, bis auf einen arbeitslos. Hunger und Not, geistige und seelische Qualen überkommen sie. Ganz verschieden werden sie damit fertig oder auch nicht. Zu Bentsch und seiner Familie kommen nacheinander zwei Logiergäste: Seine Stieftochter Katharina, die alsbald wieder weggeht; nach kurzem Liebesglück mit Bentschs Freund Sadovski stirbt sie. Ein recht unsteter junger Bursche, Lorenz, bringt andere Unruhe: Er beginnt, die bohrende Nachdenklichkeit*seines älteren Freundes auf die Politik zu lenken. Als der Junge von den Hitlerschergen eingekerkert wird, verteilt Bentsch an seiner Stelle Flugblätter. Der drohenden Verhaftung entzieht er sich durch die Flucht. Ist das, was die Handlung hauptsächlich ausmacht, damit 2

Wagner

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schon zutreffend angedeutet? Vielleicht nur insofern, als alles das, was vorhin kurzweg Krise genannt worden war, oft nur in privaten Reaktionen, in persönlichen Beziehungen sichtbar wird. Immerhin lenkt eine solche Wiedergabe der Haupthandlung, die sich aus zahlreichen Teilhandlungen zusammensetzt und durch viele Nebenhandlungen ergänzt wird, die Aufmerksamkeit des Lesers auf einige epische Sachverhalte. Danach hält es Anna Seghers 1935 bis 1937 für angebracht, über den als katastrophal empfundenen Einschnitt in die deutsche Geschichte und in ihr eigenes Leben hinweg- und zurückzublicken. Wohin? In den grauen Alltag arbeitsloser Montanproletarier, in dieses Gleichmaß dreier elender Jahre, das nicht enden will. Nicht auf gesellschaftliche Kataklysmen, auf den machtvollen Zusammenstoß voll mobilisierter Heere des Klassenkrieges läuft alles hinaus. Manche persönliche Katastrophen und einige Freuden brechen über die Menschen herein, mehr und mehr werden sie in die politischen Kämpfe hineingezogen oder -gestürzt. Aber das Beherrschende ist die langwierige und zähe Bewegung, die nur selten zur Entscheidung „hier oder dort" führt und an deren Ende der freche Sieg der SA-Stürme über eine nicht mobilisierte Arbeiterklasse steht. Wie entschieden hierbei eine Auswahl vorgenommen wurde, lehrt schon ein kurzer Rückblick in die Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Der Berliner Blutmai 1929, die Bauernunruhen in Schleswig-Holstein, die gewaltigen Streikkämpfe an der Ruhr und in Oberschlesien, der Berliner Verkehrsarbeiterstreik Ende 1932 und viele andere Ereignisse jener Zeit waren machtvolle Klassenschlachten; manche davon fanden ihren literarischen Niederschlag vor und nach 1933. Ihnen wandte sich die Erzählerin nicht zu, und sie wählte außerdem einen Schauplatz am Rande des Reiches: Die Matthiasgrube, Ort der Katastrophe, Ziel der Sehnsüchte von Arbeitslosen, die Findlinger Straße, Arbeitervorort einer Stadt, die fremd ist und in die man nur selten und zu außergewöhnlichen Zwecken gerät; Dörfer ringsum, eine weitere Arbeiterstadt, leicht durch Straßenbahn- oder Zugfahrten zu erreichen, wenn man Geld hätte. Alles ist begrenzt durch den engen Aktionsradius der Leute. Hier wird erzählt über höchst geringfügige äußere Bewegungen, über Menschen, die durch ihre 18

Arbeit, die sie erschöpft, oder durch die Arbeitslosigkeit, die sie mittel- und kraftlos macht, durch die Familie wie durch Sitten gebunden sind. Gebunden sind sie in einem umfassenderen Sinne. Das Gros der Figuren gehört der Masse des Proletariats an; und um diese Masse, um ihre Lage, um ihre Reaktionen geht es. Im Vorwort zur sowjetischen Ausgabe 1939 sagt die Autorin: „In diesem Buch werden hauptsächlich Menschen mit mangelndem Bewußtsein gezeichnet. Menschen, die noch nicht von unserer Weltanschauung, der Welt unserer Ideen durchdrungen oder davon kaum berührt sind. Sie drücken eine ganz bestimmte Periode der deutschen Geschichte aus, die Jahre der schweren Krise. In ihnen stecken die besten Kräfte des Volkes, aber sie sind nicht geweckt, sie werden nicht gebraucht." 20 Der Roman - nicht zuletzt dadurch wird er Roman — entwirft eine erhebliche, riesig erscheinende Skala proletarischer Schicksale von dem im Zentrum stehenden, voll ausgeleuchteten Bentsch, über seine Nächsten, die Frau, den Freund Sadovski, die Stieftochter Katharina, den jungen Lorenz bis zu jener Figurenperipherie des kleinen Grötsch, der Sauer, Krumrey, der Verwandten vom Dorfe. Hier ist die Welt des Industrieproletariats im kapitalistischen Deutschland jener Zeit der akuten Krise episch anwesend. Die erzählerische Mühe gilt einem Bild, das die Klasse in ihren Individuen darstellt. Das aber heißt, ihre wesentlichen Züge herauszuarbeiten, wesentliche Verhaltensweisen im und zum Kapitalismus, in und zu der eigenen Klasse aufzusuchen. Und dies in der ganzen Fülle des proletarischen Lebens. Liebschaften, Ehe, Familie, Freundschaften spielen eine große Rolle; wo man seine Pellkartoffeln abkochen kann, wo man als Exmittierter für diese Nacht unterkommt, das wächst sich zu Fragen des Überlebens aus. Den Menschen erscheint diese Art von Leben erbärmlich, nichtswürdig, den meisten fremd. Der durch die Komposition herausgearbeitete Gegensatz von Rettung aus Todesgefahr und elendem Leben spitzt sich zu der Fragestellung zu, wofür man gerettet worden ist. Die Physiognomie der Figuren ergibt sich vorwiegend aus der unterschiedlichen Art des Reagierens auf diese Lage, die Erzählung macht nachdrücklich darauf aufmerksam: Auf den 2*

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hartnäckigen Kampf von Ursula Bentsch gegen jegliche Art vom Schmutz, Unordnung und Unruhe in Küche und Familie; auf die „Ratlosigkeit" ihrer Tochter Katharina; auf Sadovskis ungebundene, manchmal gefährlich egoistische Lebenslust; auf Zumbels leere, zerstörerische Verzweiflung; auf die Wanderlust von Andreas Kreutzer, die allzu rasch in kleinbürgerlicher Sicherheit gebüßt wird; auf die Tüchtigkeit, Hilfsbereitschaft und unsagbare Verzweiflung von Janausch; auf die prächtige Josephine, die die Liebe für Sicherheit, ihren schönen Leib für die stärkste Waffe im Lebenskampf hält . . . Von hier aus, aber e r s t von hier aus wird die politische Sphäre angeleuchtet, erst i n m i t t e n des ganzen proletarischen Lebens spielen sich die politischen Kämpfe ab, die politische Selbstverständigung und das Ringen um Einfluß auf die Klasse. In genau umgekehrter Blickrichtung wie beispielsweise in Anna Seghers' Gefährten wird damit auch das Verhältnis von Klasse und revolutionärer Avantgarde, Masse und Partei verfolgt. Die epische Bezugs- und Wertungsebene des Romans Die Rettung ist das Leben der Proletariermassen in seiner Gesamtheit. Wie diese Bentsch und Sadovski, Wagner oder Malzahn auf die politischen Parteien, auf Brüning und sein katholisches Zentrum, auf Hitler und die Nazis, auf Sozialdemokraten und Kommunisten, auf deren - wie es ihnen erscheint - Bruderzwist sehen, welches Bild sie davon und von einzelnen Genossen haben, was sie ihnen zu sagen wissen und wie bzw. ob sie angesprochen werden, auf welche Weise Nachrichten über die Sowjetunion auf sie kommen: D a s ist der Weg, auf dem der Roman politisch wird, auf dem er nach dem Stellenwert der Politik und der politischen Kräfte im Leben der Arbeiterklasse fragt. Dem entspricht das Tempo der dargestellten Vorgänge. Begnügen wir uns dazu mit der Skizze des Weges von Bentsch. Der Mann, der seine ganze Energie in der Bergwerkskatastrophe für die Rettung der Verschütteten einsetzt, erweist sich wieder über Tag - , als er sich den gesellschaftlichen Verhältnissen ausgesetzt fühlt und der Massenarbeitslosigkeit anheimfällt, hilflos und unfähig. Die Kraft seiner Persönlichkeit, seine Ausstrahlung, schwindet dahin, je länger er seine Tage nutzlos verbringen muß. Aus der sensibel durchlebten Situa20

tion, immer weniger wert zu sein, dem andern und sich selbst keinen Rat wissend, schließlich im Gefühl der Verzweiflung und der Einsamkeit, tastet er seine enge und beengende Welt nach Auswegen ab. Kann man noch einmal das Leben beginnen? Sollte man ein anderes Leben anderswo versuchen und die jungen Leute auf der Wanderung in die Ferne begleiten? Immer wieder überfällt ihn der Gedanke, seine Küchentür nicht von innen, sondern von außen zuzuschließen"21. Gleich seinem Freunde Sadovski kommt er nicht von dem Gedanken los, daß ein Krieg etwas Befreiendes bereithielte. Die Stieftochter Katharina, dieses Mädchen aus der Ferne, zu dem er eine sprachlos geheimnisvolle innere Beziehung bekommt, zeigt ihm einen Ausweg: Alles hinter sich zu lassen, aufzubrechen. (So genau wird das nie gesagt, das Vage wird mit hoher Kunst vage gehalten und erst, als alles vorüber ist und Entscheidungen ganz anderer Art gefallen sind, spärlich genug gedeutet.) Katharina bringt die erste große Unruhe über ihn, der junge Lorenz die zweite. Angezogen von dem Manne, dessen Bergmannsheldentat durch die Träume geht, zieht der verletzte und arbeitslose Junghäuer in die Küche der Familie Bentsch. E r spürt die Unruhe seines älteren Freundes und fühlt etwas Eigenes davon belebt. Andererseits ist Bentsch von der Art des Gastes unwiderstehlich angezogen. Aber er weiß ihn nicht zu halten, und Lorenz fühlt sich nach manchen anderen Versuchen mehr und mehr von den Kommunisten angezogen. Als Revolutionär beginnt er, auf Bentsch zu wirken, so daß dieser in einer Entscheidungsstunde anstelle des verhafteten Jungkommunisten eine gefährliche politische Arbeit im Kampf gegen die Nazidiktatur verrichtet. Von Freunden vor den SA-Schergen gewarnt, kehrt er von einem Ausflug nicht nach Hause zurück, er wird ein Illegaler mit ungewisser Zukunft, aber gewiß, etwas getan zu haben, was ihm entspricht, und gewiß, zuverlässige Freunde und etwas Festes im Leben gefunden zu haben. Demnach handelt es sich im Falle der Zentralfigur (andere Fälle ergänzen oder kontrastieren das) um eine Entwicklung sehr langsamer, zähflüssiger Art über mehr als drei Jahre hinweg, voller hemmender und rückläufiger Momente. Im Vorwort zur sowjetischen Erstausgabe sagt die Autorin daher: 21

„Und der Held des Buches, stark, tapfer und opferbereit, zeigt sich erst nach Überwindung einer Menge Hindernisse in der Lage, sich zu uns durchzuringen."22 Die Figuren werden weder durch die Ungeduld ihres Autors noch durch die Art ihrer Umstände (in denen der Autor sie leben läßt) rasch zu politischen Entscheidungen gedrängt. Der Roman zeigt vielmehr, daß der Arbeiteralltag vielerlei Proben bereithält, „ . . . dieses gewöhnliche Leben, in dem es so viel Spannung und Abenteuer gibt, dieses Leben, das nicht weniger Mut verlangt als die Stratosphäre oder das Schlachtfeld."23 So zeigt schon diese Anlage des Romans, daß Anna Seghers den Wert des Menschen nicht a l l e i n von seiner politischen Entscheidung und Position abgelesen wissen will. Diese Anlage ist zugleich von der Unausweichlichkeit der politischen Entscheidungsfrage bestimmt. Die Antwort, die jede Figur in der Endsituation, am Beginn der faschistischen Herrschaft so oder so zu geben hat, erwächst aus der Gesamtheit der Erfahrungen des Arbeiterlebens und bildet ein Schlußurteil über das übrige Verhalten der Figur. Wir haben hier einen Vorgang echt epischer Qualität vor uns, der Hand in Hand geht mit dem genauen und umfassenden Ausmessen der Figuren und ihrer Umstände. Das bestimmt die äußere und innere Gliederung, von der nun die Rede sein soll.

Epische Gliederung Die Rettung wurde von Walter Benjamin eine „Chronik des Arbeiterlebens" genannt; das Indiz dafür waren für ihn die Zusammenkünfte der geretteten Kumpel an den Jahrestagen ihrer Rettung. In der Tat sind die Jahrestage wichtige Zäsuren, Stauungen des epischen Flusses. Die Art, wie diese Jubiläen zustande kommen, das innere und äußere Befinden des Kollegenkreises: Das stellt zwanglos immer wieder das Bild der Gruppe her, die für viele Proleten steht. Es ermöglicht Rückschau und faßt zusammen. Die regelmäßige Wiederkehr hat etwas vom Tacken eines Metronoms an sich. Der Gang der Jahre wird so gegenwärtig gehalten, aber in einer unter22

„Und der Held des Buches, stark, tapfer und opferbereit, zeigt sich erst nach Überwindung einer Menge Hindernisse in der Lage, sich zu uns durchzuringen."22 Die Figuren werden weder durch die Ungeduld ihres Autors noch durch die Art ihrer Umstände (in denen der Autor sie leben läßt) rasch zu politischen Entscheidungen gedrängt. Der Roman zeigt vielmehr, daß der Arbeiteralltag vielerlei Proben bereithält, „ . . . dieses gewöhnliche Leben, in dem es so viel Spannung und Abenteuer gibt, dieses Leben, das nicht weniger Mut verlangt als die Stratosphäre oder das Schlachtfeld."23 So zeigt schon diese Anlage des Romans, daß Anna Seghers den Wert des Menschen nicht a l l e i n von seiner politischen Entscheidung und Position abgelesen wissen will. Diese Anlage ist zugleich von der Unausweichlichkeit der politischen Entscheidungsfrage bestimmt. Die Antwort, die jede Figur in der Endsituation, am Beginn der faschistischen Herrschaft so oder so zu geben hat, erwächst aus der Gesamtheit der Erfahrungen des Arbeiterlebens und bildet ein Schlußurteil über das übrige Verhalten der Figur. Wir haben hier einen Vorgang echt epischer Qualität vor uns, der Hand in Hand geht mit dem genauen und umfassenden Ausmessen der Figuren und ihrer Umstände. Das bestimmt die äußere und innere Gliederung, von der nun die Rede sein soll.

Epische Gliederung Die Rettung wurde von Walter Benjamin eine „Chronik des Arbeiterlebens" genannt; das Indiz dafür waren für ihn die Zusammenkünfte der geretteten Kumpel an den Jahrestagen ihrer Rettung. In der Tat sind die Jahrestage wichtige Zäsuren, Stauungen des epischen Flusses. Die Art, wie diese Jubiläen zustande kommen, das innere und äußere Befinden des Kollegenkreises: Das stellt zwanglos immer wieder das Bild der Gruppe her, die für viele Proleten steht. Es ermöglicht Rückschau und faßt zusammen. Die regelmäßige Wiederkehr hat etwas vom Tacken eines Metronoms an sich. Der Gang der Jahre wird so gegenwärtig gehalten, aber in einer unter22

geordneten Erzählschicht. Die Bezeichnung Benjamins kann nicht mehr sein als ein Hinweis darauf, daß der Roman von einem mehrere Jahre beanspruchenden Vorgang in zeitlicher Reihenfolge erzählt. Das Buch ist klar und einfach gegliedert durch drei ungewöhnliche B e g e b e n h e i t e n . Der Erste Teil (I) - mit 19 Seiten kurz, für den dargestellten Zeitraum auffällig lang behandelt die Vorgänge unter Tage. Der Zweite Teil (II) enthält die ganze Handlung um Katharina: - Eintritt der Figur; die Verwicklungen, die sie stiftet, katastrophale Lösung und Ausscheiden. Der Dritte Teil (III) kann als Lorenz-Handlung bezeichnet werden, weil von Lorenz bis nahe an den Schluß heran die bestimmenden Handlungsimpulse ausgehen. Stellt man, um wenigstens einigermaßen zu präzisieren, den Bezug zu Bentsch, der Hauptfigur, und die mit ihm verbundene Haupthandlung her, müßte es ungefähr so heißen: I - Bentschs Anteil an der Rettung aus der e l e m e n t a r e n Katastrophe; II - Bentsch gerät in die s o z i a l e Katastrophe, die durch Katharina mit einer p r i v a t e n verquickt ist; III - Die Geschichte der schwierigen Freundschaft mit Lorenz, die über die eintretende p o l i t i s c h e Katastrophe hinausweist. Das Erzählen ist nicht immer an die Hauptfigur gebunden. Im II. Teil wird streckenweise der Weg von Sadovski und Katharina selbständig verfolgt. Die Bentsch-Handlung ist weit reicher als bisher angedeutet. Bei aller Vielfalt strebt die Autorin bei der Untergliederung der Teile nach Klarheit, die in der Regel aus Ereignissen gewonnen wird, welche - meist sehr unauffällig - ebenso Teilhandlungen in der Gesamthandlung auslösen wie das Gesamtgeschehen auf sich beziehen. Im I. Teil fällt das in eins, in den beiden anderen ergibt sich eine viel kompliziertere Beziehung. Dieser Kontrast ist absichtlich und episch folgerichtig: Die überschaubaren, unmittelbaren Verhältnisse im weitestgehend eingegrenzten Zustand des Grubenunglücks weichen den komplexen, aus der Unmittelbarkeit entgleitenden Verhältnissen des normalen kapitalistischen Alltags. Eine der gestalterischen Konsequenzen wird im Ausfalten eines Handlungsgeflechts gezogen, dessen Bewegungsgesetz darin besteht, daß einerseits der epische Hauptstrang mit der 23

Zentralfigur verbunden bleibt, andererseits den Seitensträngen eine relative Selbständigkeit gelassen wird, ohne daß die handlungsmäßige Verknüpfung mit dem Hauptstrang aufgegeben wird. Eine Vielfalt von Persönlichkeitsentwicklungen wird in einer bei aller Freiheit festen Figurenhierarchie entworfen. Haupthandlung und Teilhandlungen bilden eine widersprüchliche Einheit. So steht das Geschehen um das Ehepaar Zumbel (Exmittierung, solidarische Aufnahme bei Nachbarn, Verzweiflungstat Zumbels, die auch die Söhne des Gastgebers Janausch in den Tod mitreißt) für sich. Zugleich trägt es zum Gesamtbild, zum Bild der Arbeiterklasse des Romans bei, in dem es eine oder zwei individuelle Varianten zum Vergleich ausstellt, und ist außerdem mehrfach mit der Gesamthandlung um Bentsch verknüpft, die unterdessen fortschreitet. Beispielsweise macht Bentsch hier den Versuch, unorganisiert, lediglich kraft seiner Persönlichkeit, Hilfe zu bringen. Das Scheitern des Versuchs wird für ihn wichtig, weil es ihm die Unangemessenheit seiner Haltung klarmacht. Bentschs Freundschaft mit dem schrecklich betroffenen Janausch bekommt einen neuen Inhalt, er betrachtet den anderen fragender. Ursula Bentsch wiederum sieht sich in ihrem Streben bekräftigt, sich nicht einzumischen, Küche und Familie vor allem Ungemach, das von draußen kommt, zu verteidigen. Folglich wird der Roman Die Rettung nach Geschehnissen und ihrem Ablauf gegliedert, die die Gesamtheit des Lebens der Arbeiterklasse erfassen, durchdringen, ihren innigen Zusammenhang herstellen und ihre gegenseitige Bedingtheit beleuchten. Insofern kann von einem h i s t o r i s c h e n P r i n z i p der Gliederung gesprochen werden. Durch das Romangeschehen wird eine Fülle von Figuren, hauptsächlich aus der Arbeiterklasse, in Bewegung gesetzt. Dadurch vermag der Roman ein umfassendes Bild dessen zu entwerfen, wovon die Masse des Proletariats in jener Zeit beansprucht wird, womit sie sich beschäftigt, worauf und auf welche Art sie reagiert. In Kontrasten und Variationen fügen sich die Figuren zu einem differenzierten und umfassenden Bild zusammen, das als T o t a 1 b i 1 d bezeichnet werden kann. Das Gesamtgeschehen ist auf eine Haupthandlung bezogen, 24

die an den Bergmann Bentsch als Hauptfigur gebunden ist. Seine Bewegung kann als aufsteigende Linie der Persönlichkeitsentwicklung beschrieben werden, weshalb der Roman von mehreren Autoren auch als Entwicklungsroman bezeichnet wird. Das ist aber nur ungefähr richtig. Es geht vielmehr um das Bild einer repräsentativen Proletariergruppe, in der eine Figur eine herausragende und konzentrierende Stellung innehat. Diese Grundkonstellation wird klar und sorgfältig vom Ersten Teil, von der gemeinsamen Bewährung bei der Bergwerkskatastrophe an aufgebaut. Bei dem Verhältnis von Gruppe und Zentralfigur verwirklicht sich ein Aufbauprinzip des epischen Gebildes, das in der vertieften Persönlichkeitsauffassung der Autorin wurzelt und mit besonderen, aktuellen Wirkungsabsichten zusammenhängt. Es geht um eine neue Sicht des Verhältnisses von proletarischem Individuum - Kollektiv - Arbeiterklasse unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus. Dieser Frage nach der Leistung des Romans für das Menschenbild der sozialistischen Erzählliteratur soll jetzt nachgegangen werden.

Die proletarische Gemeinschaft und ihr Vertrauensmann Das epische Gruppenbild von proletarischen Menschen mit dem Bergmann Bentsch in der Mitte baut seine Gestalten ganz von ihren individuellen Erfahrungen und deren unterschiedlichen Verarbeitung her auf. Bei der Zentralgestalt wird das in seiner Totalität ausgemessen; hier entsteht die erste große epische Gestalt im Werk der Seghers. Die Besonderheit des Vermögens und des Weges von Bentsch wird dadurch evident, daß die Autorin ihn inmitten der Gruppe darstellt. Diesen umstehenden Figuren wird ein (unterschiedlich) hohes Maß von Eigenleben verliehen. Indem sie alle aufeinander reagieren und bezogen sind, erfahren wir sowohl die Gesamtheit als auch eine große Skala individuell unterschiedlicher Reaktionen des Proletariats auf die kapitalistische Krise. Der Typ Bentsch wird dadurch als eine unter mehreren Möglichkeiten sichtbar gemacht. Im Verlaufe des Ersten Teiles hat die Erzählerin das Bild 25

die an den Bergmann Bentsch als Hauptfigur gebunden ist. Seine Bewegung kann als aufsteigende Linie der Persönlichkeitsentwicklung beschrieben werden, weshalb der Roman von mehreren Autoren auch als Entwicklungsroman bezeichnet wird. Das ist aber nur ungefähr richtig. Es geht vielmehr um das Bild einer repräsentativen Proletariergruppe, in der eine Figur eine herausragende und konzentrierende Stellung innehat. Diese Grundkonstellation wird klar und sorgfältig vom Ersten Teil, von der gemeinsamen Bewährung bei der Bergwerkskatastrophe an aufgebaut. Bei dem Verhältnis von Gruppe und Zentralfigur verwirklicht sich ein Aufbauprinzip des epischen Gebildes, das in der vertieften Persönlichkeitsauffassung der Autorin wurzelt und mit besonderen, aktuellen Wirkungsabsichten zusammenhängt. Es geht um eine neue Sicht des Verhältnisses von proletarischem Individuum - Kollektiv - Arbeiterklasse unter den Bedingungen des entwickelten Kapitalismus. Dieser Frage nach der Leistung des Romans für das Menschenbild der sozialistischen Erzählliteratur soll jetzt nachgegangen werden.

Die proletarische Gemeinschaft und ihr Vertrauensmann Das epische Gruppenbild von proletarischen Menschen mit dem Bergmann Bentsch in der Mitte baut seine Gestalten ganz von ihren individuellen Erfahrungen und deren unterschiedlichen Verarbeitung her auf. Bei der Zentralgestalt wird das in seiner Totalität ausgemessen; hier entsteht die erste große epische Gestalt im Werk der Seghers. Die Besonderheit des Vermögens und des Weges von Bentsch wird dadurch evident, daß die Autorin ihn inmitten der Gruppe darstellt. Diesen umstehenden Figuren wird ein (unterschiedlich) hohes Maß von Eigenleben verliehen. Indem sie alle aufeinander reagieren und bezogen sind, erfahren wir sowohl die Gesamtheit als auch eine große Skala individuell unterschiedlicher Reaktionen des Proletariats auf die kapitalistische Krise. Der Typ Bentsch wird dadurch als eine unter mehreren Möglichkeiten sichtbar gemacht. Im Verlaufe des Ersten Teiles hat die Erzählerin das Bild 25

eines tüchtigen Arbeiters hergestellt, der von sich mit Recht denken kann, daß er etwas vermag und etwas wert ist. Er kann das, weil er die in ihn gesetzten Erwartungen der Gefährten wahrnimmt und im siegreichen Widerstreit mit entgegengesetzten eigenen Neigungen erfüllt. Er wird zum Organisator des Überlebens. Er beachtet jeden einzelnen, schenkt ihm Vertrauen und spornt ihn an zu dem Ziel, alle zu retten. Die Autorin macht das als Akt der Selbstverwirklichung kenntlich, indem sie zeigt, wie Bentsch aus der Verantwortung individuelle Kraft gewinnt und an der durch ihn geförderten kollektiven Kraft teilhat. Damit disponiert sie die Dialektik dieser proletarischen Führergestalt, die darin besteht, daß sie sowohl mit den Gefährten eins ist, als auch von ihnen Abstand halten muß. In verhaltener Weise läßt die Autorin ihre Figur bezweifeln, ob sie sich ohne die Verantwortung für alle, ohne die unterschiedlichen Anforderungen allein retten könne, und macht deutlich, daß die Neigung, die Distanz aufzugeben und mit den Kollegen eins zu werden, aller Tod wäre. „Er fühlte sich unsagbar wohl. So wie er jetzt gebettet war, lag er richtig. Nichts konnte ihn mehr von den Seinen trennen. Niemand konnte mehr sein Fleisch von dem ihren absondern. Niemand konnte mehr .Bentsch!' rufen, daß ein Ruck durch seinen Kopf ging, seine Arme und Beine, daß er aufstand und allein war. Das war endlich der Friede, den er sich immer gewünscht hatte." 24 Dieser Friede - das ist das Schwinden jener Energie, die wir zum Leben brauchen. Mit dem Widerstreit zwischen Aufgeben und Durchhalten wird ein Thema angeschlagen, das den Roman bedeutungsvoll durchziehen wird. In dieser ersten großen Szene geht es ja kurz und inhaltsschwer darum, daß die Leute noch leben, wenn die Retter von außen kommen. Aber wann kommen sie? Nur wenn die Anstrengungen von draußen und von drinnen zusammentreffen, tritt die Rettung ein. Um etwas Ereignis werden zu lassen, sind viele wirkende Faktoren nötig. Nicht auf alle haben wir Einfluß, aber tun wir alles, was von uns abhängt, damit die Stunde, wenn sie kommt, uns gerüstet findet! „ ,Ich will euch etwas sagen, versteht ihr mich? Etwas ist noch schlimmer als sterben - ' - ,Was?' - .Wenn sie uns zehn Minuten danach finden.-Wessen Hand ist das?' - Martin sagt leise: .Meine.'" 2 5

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Bentsch wird hier in einer neuen Anstrengung gezeigt, sich über die verzweifelte Situation zu erheben und sich zu einem größeren Überblick durchzuringen. Bentsch faßt auch die Retter ins Auge und vergegenwärtigt den Gefährten die Möglichkeit, daß die Rettung durch ihre eigene Schuld mißlingen könnte. Ihr Anteil ist es, durchzuhalten. Wenn sie aufgeben, machen sie die bisherigen eigenen Qualen, die Mühen der Rettungsmannschaft sinnlos. Aus diesen Gedankengängen kommt die zarte Geste der Berührung, die in ihrer Vieldeutigkeit auch die Versicherung enthält, daß man noch lebt, und das Versprechen, sich weiter zu mühen. Dieser erste, in sich relativ geschlossene Teil handelt von einer gelungenen Rettung und führt die Faktoren vor, die die Rettung ermöglichen. Insofern funktioniert er der nachfolgenden Handlung gegenüber als ein Modell. Zugleich steht er zum übrigen in Kontrast. Im Verhältnis zum sonstigen Leben im Kapitalismus wird er als eine Ausnahmesituation beschrieben.26 Die proletarische Solidarität kann hier - reduziert auf den Kampf mit der Natur - von den herrschenden Klassenverhältnissen im wesentlichen absehen und ihre Macht erweisen. All das ist im kapitalistischen Alltag anders, und der erste Teil macht darauf aufmerksam. Erst am Beginn des Zweiten Teiles wird der Hauptkonflikt der Zentralfigur durch die Ende 1929 eintretende Arbeitslosigkeit ausgelöst. Sie hat, so Anna Seghers in ihrem Vorwort von 1947, „. . . bewiesen, daß in ihr größere Gaben und Werte stecken als in den meisten ihrer Gefährten. Für einen Menschen dieser Art muß die Arbeitslosigkeit besonders hart sein, weil sie ihm gar keine Möglichkeiten bietet, seinen Wert unter Beweis zu stellen."27 Der Hauptkonflikt besteht darin, daß dieser „ . . . Mensch mit all seinen reichen Werten, mit all seiner Begabung" Zug um Zug das Bewußtsein gewinnt, „unverwertbar, ungebraucht lästig . . Z'28 zu sein, und dabei um die Auflösung des Dilemmas von Wert und Überflüssigkeit ringt. Dieter Schlenstedt hat in seinem Aufsatz Der produktive und der überflüssige Mensch. Ein Thema, der Auseinandersetzung um Gegenstand und Funktion revolutionärer Literatur» unter Bezug auf Gorki dargelegt, daß Anna Seghers da27

mit ein großes Thema des kritischen Realismus aufnimmt, dessen positiver Inhalt die Frage nach dem schöpferischen Menschen und den Lebensumständen ist, die diesem förderlich sind. Die Dichterin konnte, als sie ihr eigenes humanistisches Anliegen benannte, ebenso Dostojewski, Tschechow, Fontane oder Thomas Mann, Stendhal oder Maupassant im Auge haben: „Ob sich ein Mensch entwickeln kann nach seinem Talent und seinen Fähigkeiten oder ob er daran gehindert wird und dauernd zurückgestoßen, das ist ein wichtiger Maßstab für die Gesellschaftsordnung, in der der Mensch lebt." 30 Als sie diesen programmatischen Satz 1959 äußerte, ging sie jedoch von fortgeschrittenen gesellschaftlichen Zuständen, vom Sozialismus, von einer ästhetischen Position aus, in der die Erfahrungen von Jahrzehnten sozialistischer Literaturentwicklung wirksam waren. Der kritische Realismus fällte seinen ethischen und ästhetischen Urteilsspruch gerade über eine Gesellschaft, die die Menschen entweder daran hindert, sich nach ihren Talenten und Fähigkeiten zu entwickeln oder die diese pervertiert. Zugleich schlug sich in ihm oft ein individualistisch bleibendes Gefühl des Unbehagens, der Schwere des Lebens, das Bewußtsein der Ohnmacht und der Unfähigkeit, die Lebensbedingungen zu verändern", nieder. 31 Die kritische Komponente aufnehmend und die entwickelten Methoden der Gesellschaftsanalyse sich nach und nach aneignend, richtete die sozialistische Literatur ihr positives Programm gegen die ideologischen Bindungen an die bourgeoise Gesellschaft: Die Organisation revolutionären Selbstbewußtseins und des Zusammenschlusses zum Kampf um eine neue Gesellschaft. In diesem Sinne ist die Entfaltung menschlicher Schöpferkraft, die Entwicklung der gesellschaftlichen und individuellen Fähigkeiten das Zentrum der ästhetischen Konzeption von Anna Seghers. Denn von hier aus waren die unaufhebbaren Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, im Leben und in der Arbeit der Werktätigen aufzudecken und ihre Überwindung durch den Sozialismus als notwendig und unausweichlich aufzuweisen. So konnte im Aufdecken des Widerspruchs sogleich seine Überwindbarkeit, mithin die Perspektive zum Ausdruck kommen. „Erst mit diesem Maßstab und dieser Perspektive war es auch 28

möglich, die volle Bedeutung des Themen- und Heldenkomplexes des .überflüssigen Menschen' herauszuarbeiten, war die Möglichkeit gegeben, ihn revolutionär aufzuheben, ihn zu revolutionärer Wirkung einzusetzen."32 Die Rettung ist dabei eine entscheidende Etappe. Der Konflikt zwischen Lebensanspruch und dem Unvermögen, ihn zu erfüllen, wird von der Gestalt eines arbeitslosen Arbeiters ausgetragen. Die außergewöhnliche Situation der Arbeitslosigkeit macht dabei nur den generellen Widerspruch offenbar, der darin besteht, daß der Kapitalismus ein Proletariat und proletarische Individuen mit reich entwickelten Fähigkeiten hervorbringt, diesem Reichtum jedoch Schranken auferlegt, der Bedürfnisse unterdrückt oder fehlleitet, die Fähigkeiten nicht verwertet, vernichtet oder verfälscht. Hier gilt es zu erkennen, daß mit der Rettung die sozialistische Erzählliteratur deutscher Sprache dieses Phänomen der Entfremdung in seiner ganzen politisch-ideologischen Bedeutsamkeit erfaßt, einer umfassenden, sozial konkreten ästhetischen Analyse unterwirft und aus seiner bürgerlichen Ausweglosigkeit heraus-, an die geschichtliche Bewegung heranführt, die diese gewordenen und vergänglichen Existenzbedingungen sprengt. 33 In der Rettung ist für den Charakter des Konflikts und die Weise, wie er ausgetragen wird, zweierlei bestimmend: daß Vermögen und Lebensanspruch besonders reich und kräftig sind und daß der Mann sein Leben bisher einigermaßen erträglich fand. „Größere Gaben und Werte": Die Maßstäbe dafür holt die Seghers weder aus-entwickelteren Zuständen noch aus anderen Sphären, beispielsweise der Intellektuellen, sondern aus dem Arbeiterleben jener Jahre, in dieser Gegend. Bentsch wird aus seinem menschlichen Umfeld sichtlich hervorgehoben, nicht sosehr, weil er ein zuverlässiger und tüchtiger Arbeiter vor Ort ist - das sind andere ebenso. Bentsch hängt — wie viele seiner Kollegen - an dieser bestimmten Arbeit mehr als an einer b e l i e b i g e n Tätigkeit zum Broterwerb. Broterwerb ist für sie selbstverständlich, er schämt sich wie über eine persönliche Schuld, als er, arbeitslos geworden, so wenig zum Familienunterhalt beitragen kann und das Schuften seiner Frau, den Hunger der Familie sieht. Aber mindestens ebenso wichtig 29

ist, daß er in dieser Arbeit etwas leistet, seine Kräfte betätigt und bestätigt findet, mindestens ebenso schlimm, daß er sie dann nicht mehr betätigen und sich bestätigt finden kann. Was ihn wirklich hervortreten läßt, ist seine sensible, nachdenkliche und ebenso unruhige wie unflüchtige Art. D e r Roman läßt dies besonders auf dem Felde der menschlichen Beziehungen hervortreten und auch in seiner Beschränkung deutlich werden. Bentsch grübelt, denkt nach, aber Lesen und Lernen spielen erst sehr spät eine gewisse, das Lesen nicht einmal eine große Rolle; eigentlich strebsam ist er nicht, wirkliche Kenntnisse hat er wenige, wenn auch eine allgemeine Neugier, ein philosophisch zu nennendes breites Interesse, das aber wenig gerichtet ist. Hier waltet kein schriftstellerischer Mangel, keine untergründige Vorliebe für mürrische und beschränkte ältere Männer, für Stumpfsinn in düsterem Milieu. E s geht um eine gewaltige Sprengkraft, die frei wird, wenn der disponierte Widerspruch voll ausgetragen wird. Und das geschieht. Bentsch erfährt in dieser Zeit eine fortschreitende L e b e n s k r i s e , in der er Schritt um Schritt sowohl seine Lebensbedingungen wie sich selbst - Verhalten, Verhältnis, Befindlichkeit — zutiefst in Frage stellt. Eben dieser doppelseitige Vorgang führt in seinem umfassenden und intensiven epischen Vollzug zum Totalbild der Gestalt, ihrer Beziehungen und Umstände. Der epische Prozeß erhält seine Dynamik in erster Linie dadurch, daß die Hauptfigur mit einer Motivation ausgestattet wird, die sich folgerichtig aus ihrem historisch erworbenen Vermögen, aus der erworbenen Führerstellung und ihrem Zusammenstoß mit widrigen Umständen ergibt. Bentsch wird mit dem Drang ausgestattet, sich nicht abzufinden; die Erzählerin läßt ihn so wirken, daß die ganze proletarische Erfahrungswelt durchmessen wird, die innere Erfahrung über weite Strecken sich als Verlust offenbart, der erst sehr spät über Katastrophenpunkte in Gewinn umschlägt. Dieser Vorgang soll im folgenden skizziert werden. D i e Erzählerin will hier die nächstliegenden Reaktionen erfassen. So läßt sie nach dem Beginn der Arbeitslosigkeit eine Delegation zum Direktor der Montangesellschaft gehen, um

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die Wiederaufnahme der Arbeit zu erwirken, und sie läßt Bentsch daran teilnehmen. Die Mission scheitert, aber Bentsch hat Erfahrungen gesammelt, hat Urteile revidiert, an manchem Zweifel bekommen. Das diffuse Gefühl der Fremdheit gegenüber dem g a n z e n Milieu weicht dem Bewußtsein, daß der Direktor Gumbert ein Mensch ist, aber ganz und gar fremd. „Der sieht mich mit seinen frechen Augen doch wie ein Blinder an. Ich aber kenne diesen Mann schon durch und durch. E r fühlte sich plötzlich nicht mehr bedrängt und unsicher, sondern überlegen." 34 Das sachliche Gespräch verweist die Proleten von der einzelnen Grube auf das Gesellschaftssystem, von dem bösen oder guten Willen auf die Regierung, die - so unterstellt der Direktor - von ihnen gewählt ist. Bentsch fühlt sich auf neue Zusammenhänge verwiesen, aber seine Hilflosigkeit bleibt. Der Blick auf das Kruzifix hinter Direktor Gumberts Schulter sät Zweifel: „Bentsch kam sich vor, als ob er träume, oder als ob man sich auf eine ganz besondere, undurchschaubare Art über ihn lustig mache." 35 So listig wird das Gewahrwerden eines Widerspruchs in seinem Glauben angedeutet: Wie kann der gleiche Gott, von dem ich Hilfe erwarte, Direktor Gumbert in seinen Schwierigkeiten helfen? Die sind doch entgegengesetzt? Wichtig bleibt, daß dies bei Bentsch auf der Stufe der Ahnung, des Halbbewußten belassen wird. Die Erfahrung wird in einer Vorstellungswelt, mit einem geistigen und seelischen Instrumentarium verarbeitet, das nur wenig Distanz, aber doch Differenzierung zuläßt. Die Erzählerin geht der inneren Folgerichtigkeit mit großer Präzision nach, wenn sie zeigt, daß ihre Zentralfigur über weite Strecken sich selbst überschätzt. Gegenüber der allmächtig scheinenden Arbeitslosigkeit und der geringen momentanen Wirksamkeit kollektiven Widerstandes will Bentsch im Alleingang für vereinzelte Nöte rasche Abhilfe schaffen. So veranlaßt er, daß der Kollege Zumbel mit seiner Frau vorerst im Hause des Wirtes Aldinger wohnen bleiben kann. Dem ist kein dauerhafter Erfolg beschieden. Das Ehepaar Zumbel wird nach kurzem Aufschub exmittiert, gemeinsame Nachbarschaftshilfe muß dennoch organisiert werden - das geschieht nicht durch Bentsch. Zumbel aber sieht darin keinen Ausweg aus der Not, 31

er tötet, indem er den Gashahn aufdreht, nicht nur sich und seine Frau, sondern auch die beiden Söhne des Gastgebers Janausch. Bentsch hat zu erkennen, daß hier andere Kräfte als die seiner Persönlichkeit wirken. Die Situation, die er nach dem Willen der Autorin zu durchleben hat, verweist ihn auf die Subjektivität des andern, auf dessen vorhandene oder fehlende Kraft, darauf, ob einer in seiner Verzweiflung nur an sich oder weiter denkt. Wiederum wird hier die Erweiterung der Einsichten wie ihre Begrenztheit kenntlich gemacht und jeglicher neuer Eingriffsversuch auf etwas Nächstliegendes, gänzlich Evidentes gerichtet. Bentsch fördert die Wanderlust junger Leute, darunter des jungen Andreas Kreutzer, dem er besonders zugetan ist. Von ihm unterstützt, ziehen sie los, um in der Ferne ihr Glück zu suchen. Auch dies erweist sich nicht als Weg aus der Misere. Man, auch Bentsch, erfährt nach einiger Zeit, daß die Burschen es anderswo kaum anders getroffen haben und Andreas schon im Nachbarort die Gelegenheit wahrgenommen hat, um bei einer kleinbürgerlichen Familie und im SA-Sturm seßhaft zu werden. Die Erzählerin scheut nicht, wie wir erkennen, die epische Rekonstruktion eines banalen Vorgangs. Weil sie dabei nicht das Urteil rasch einbringt, daß das verdrießlich und vom entwickelten Klassenstandpunkt aus widerwärtig ist, sondern in und zu diesem Vorgang differenzierte Reaktionen vorführt, entfaltet sie aus ihm das unverstellte Bild der Klasse und ihrer treibenden Widersprüche. Sie läßt so ihre Zentralfigur in zahlreichen „Anfällen von Eingreifenmüssen" deren praktische Wirkungslosigkeit und historische Unangemessenheit innewerden. Zugleich läßt sie erkennen, daß ihre Gestalt ohne diese kräftige Neigung schwcrlich aus all dem herauskäme. Schließlich läßt der Roman seine Zentralfigur aus einem solchen „Anfall von Eingreifenmüssen", wie dergleichen im TransitRoman später genannt wird, zu einer geschichtsgemäßen Haltung finden. Dazu wird sie vorher in tiefe Krisen versetzt. Ihr Konflikt wird um so drückender, je mehr sie veranlaßt wird, die Wurzeln des Übels woanders als in ihrem unmittelbaren Aktions- und Erfahrungsradius in einer Welt zu suchen, 32

die vorerst nicht anders als in Bildern der Entfremdung geschaut wird, Bentsch erscheint das Leben wie ein tückischer, beweglicher Käfig . . .'