Der Große Umbau: Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow 9783412504649, 9783412503857


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Der Große Umbau: Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow
 9783412504649, 9783412503857

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Wolfgang Geierhos

Der Große Umbau

Dresdner Historische Studien Herausgeber Reiner Pommerin und Manfred Nebelin Band 12

Wolfgang Geierhos

Der Große Umbau Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow

2016 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Redaktion und Satz: Christopher Theel, Dresden Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50385-7

Geleitwort der Herausgeber

Offensichtlich gelang es dem renommierten Osteuropahistoriker Georg von Rauch, der bis in die siebziger Jahre in Kiel lehrte, seinen damaligen Studenten Wolfgang Geierhos für Russland zu interessieren und zu begeistern. Nach einem Stipendienaufenthalt in Moskau wurde Geierhos dann bei Georg von Rauch auch mit einer Arbeit zur russischen revolutionären Bewegung promoviert. Nach dem Hamburg-Leningrad-Abkommen lehrte er als erster Austauschwissenschaftler der Universität Hamburg in Leningrad. Russland ließ er auch während seines weiteren bewegten beruflichen Weges nie aus den Augen. Dieser führte ihn schließlich nach der Wiedervereinigung als Professor und Rektor an die Hochschule der sächsischen Polizei (FH) nach Rothenburg in die Oberlausitz. Die Herausgeber sind ihrem früheren Kollegen an der TU Dresden, dem Osteuropahistoriker Karl-Heinz Schlarp, dafür dankbar, dass er Herrn Kollegen Geierhos darin bestärkte, die vorliegende Arbeit in der Reihe Dresdner Historische Studien zu veröffentlichen. Sie befasst sich zunächst mit dem alternativen Denken in Russland in der Zeit Chruschtschows und Breschnews, um dann ausführlich die Vorbereitung des Wandels unter Andropow und der späteren „Mannschaft der Perestrojka“ darzustellen. Das Hauptaugenmerk des Autors gilt dem schrittweisen Abbau des Machtmonopols der KPdSU und den von Gorbatschow und anderen Führungspersönlichkeiten zu bewältigenden Herausforderungen beim „Großen Umbau“. Auf Russlands schwierigem und noch keineswegs abgeschlossenem Weg zur Demokratie werden die sich den Führungseliten in früheren Satellitenstaaten wie Polen, Ungarn, Rumänien oder der DDR stellenden Herausforderungen, welche sich durch die großen Veränderungen in der Sowjetunion ergaben, ebenfalls berücksichtigt. Da sich die dissidentische Position der Führungspersönlichkeiten im diktatorischen Sowjetsystem bei diesem Umbruch dezidiert auf die allgemeinen Menschenund Bürgerrechte berief, bietet die Arbeit schließlich ein anschauliches Beispiel für die Durchsetzung moralischer Werte in einem autoritären staatlichen System.

Dresden, im Februar 2016

Reiner Pommerin und Manfred Nebelin

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Inhalt

Geleitwort der Herausgeber ......................................................................................... 5 Vorwort ........................................................................................................................... 11 I.

Die Vorbereitung

1.

Der Gegenentwurf zum sowjetischen Modell ................................................. 017 1.1. Alternatives Denken in der Sowjetunion ............................................... 017 1.2. Reformansätze unter Chruschtschow .................................................... 027 1.3. Bewegung in der Stagnation. Die Zeit Breschnews ............................. 043 1.4. Widerstandsformen der Arbeiterschaft 0 ............................................... 77 1.5. Umweltprobleme: Hydraulische Despotie? ........................................... 85 1.6. Sowjetische Wissenschaft in internationaler Zusammenarbeit 0 ........ 97 1.7. Gorbatschows Weg .................................................................................. 119

2.

Die ersten Reformen ........................................................................................... 2.1. Andropow und die ersten Reformen. Die Nowosibirsker Studie ....................................................................... 2.2. Gorbatschows Mannschaft ..................................................................... 2.3. Georgien als Modell .................................................................................

132 132 151 161

II. Die Transformation des sowjetischen Staates 3.

Gorbatschows „Revolution von oben“ ........................................................... 3.1. Der XXVII. Parteitag der KPdSU ......................................................... 3.2. Die Perestrojka .......................................................................................... 3.3. Das Thema Stalin ..................................................................................... 3.4. Die Medien ................................................................................................ 3.5. Die Verfassungsreform ............................................................................

4.

Die „Bürde der Weltmacht“ und die Krise des Sowjetimperiums .............. 246 4.1. Das neue Denken in der Außenpolitik ................................................. 246 4.2. Von der Bipolarität zum multipolaren Weltverständnis .................... 247 4.3. Der Abschied von der Breschnew-Doktrin und die Selbstbestimmung der Nationen ............................................................ 265 4.4. Die Entstalinisierung in Polen und der DDR ...................................... 269 4.5. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ................................... 314 4.6. Die neue Weltordnung ............................................................................ 338

166 173 182 191 209 217

7

5.

Widerstände und Putsch .................................................................................... 349

6.

Die Wiedergewinnung der Geschichte ............................................................ 369

7.

Das Urteil über Gorbatschow ........................................................................... 374

8.

Das Ziel der demokratischen Gesellschaft in Russland bleibt bestehen ... 383

9.

Zusammenfassung .............................................................................................. 396

Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................................ 397 Personenregister .......................................................................................................... 414

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„So löste die monologische Kultur der ‚proletarischen Diktatur‘ die Polyphonie der demokratischen Intelligenzija ab. Kaum hatte sie sich in unserem Land gefestigt, sah es die Sowjetmacht auf die Zerstörung jeglicher Vielstimmigkeit ab. Das Land verfiel in Schweigen – nur monotone Lobhudelei, Einhelligkeit, tödliche Langeweile – im wahrsten Sinne tödlich, denn die Verordnung von Einstimmigkeit und Einhelligkeit kam einem Todesurteil für die Kultur und die Träger der Kultur gleich.“ 1 „Gorbatschow sei ihm weniger handelnd als philosophisch vorgekommen. Für ihn, den Staatspräsidenten, sei deutlich geworden, dass die Sowjetunion sich grundlegend verändert habe – es sei nicht mehr dieselbe Sowjetunion. Manchmal erscheine es ihm, als ob Gorbatschow in seine Pläne von vornherein die Folgeentwicklung eingebaut habe, als ob Gorbatschow eine klare Sicht der Zustände der sowjetischen Gesellschaft und ihrer Geschichte von Anfang an gehabt habe.“ 2 „Wenn ich auf die Dinge im Ganzen sehe und ausgehe von dem, wie das Schicksal es fügte, das mich nicht nur zum Teilnehmer einer der tiefgreifendsten Umwälzungen der Geschichte machte, sondern zu einem Menschen, der den Prozess der Erneuerung initiierte und beschleunigte, dann kann ich sagen – ist es mir gelungen. Ich klopfte an die Türen der Geschichte, und sie öffneten sich, taten sich auch für die auf, für die ich mich bemühte. Ich strebte nicht nach der Macht um der Macht willen und versuchte nicht meinen Willen für etwas durchzusetzen, für das es sich nicht lohnte.“ 3

Dmitri S. Lichatschow, Hunger und Terror. Mein Leben zwischen Oktoberrevolution und Perestroika. Ostfildern vor Stuttgart 1997, S. 40. 2 Mitterrand zu Kohl. In: Arbeitsfrühstück des Bundeskanzlers Kohl mit Staatspräsident Mitterrand. Straßburg, 9. Dezember 1989. Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 630. 3 Gorbatschow, Michail, Naedine s soboj. Moskva 2012, S. 606. 1

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Vorwort

Im Februar 1917 zwang die Duma den Zaren zur Abdankung. Russland war eine Republik. Noch im Dezember 1916 hatte Prof. Pawel Miljukow, der Vorsitzende der Partei der Konstitutionellen Demokraten, angesichts der Krise im Lande dem Zaren die berühmten Worte „Dummheit oder Verrat“ entgegen geschleudert. Jetzt war er Außenminister der Provisorischen Regierung, und Russland sah sich im Krieg an der Seite der westlichen Demokratien gegen das kaiserliche Deutschland. Nach innen sollte ein Verfassungsstaat aufgebaut werden. Als die frisch gewählten Abgeordneten sich aber zur Verfassungsgebenden Versammlung, der Konstituante, einfanden, wurden sie von den Putschisten Lenin und Trotzkij vertrieben. Aus der „Doppelherrschaft“ von Duma und Arbeiter- und Soldatenräten, den Sowjets, ging der Sowjet als Sieger hervor, in dem die Bolschewiki sich die Mehrheit erkämpften. Damit aber wurde eine Entwicklung abgebrochen, die im 19. Jahrhundert mit Ansätzen der Zemstwo-Selbstverwaltung, der Gründung der Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) 1895 begonnen und nach der Februarrevolution 1905 zur Einrichtung des Parlaments, der Duma, mit den Parteien der Liberalen, der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten), den Sozialdemokraten, den Oktobristen, den Trudowiki, dem „Progressiven Block“ und den Sozialrevolutionären geführt hatte. Die gewaltsame Integration der nationalen Republiken, denen die bolschewistische Regierung zuvor Selbständigkeit garantiert hatte, sowie der Stalinsche Terror konnten aber das Bewusstsein nationaler, demokratischer, ja sozialer Vorstellungen, die der bolschewistischen Interpretation entgegenstanden, nicht auslöschen. Das bedeutet, innerhalb der sowjetischen Gesellschaft gab es nationale Gruppen, soziale Schichten, religiöse Gemeinschaften, die die Kenntnis einer Alternative zum sowjet-sozialistischen System bewahrt hatten. Äußerten sich die alternativen Vorstellungen, insbesondere der nationalen Selbstbestimmung, am Anfang der bolschewistischen Herrschaft noch in bewaffneten Aufständen, verlagerte sich die Agitation nach Stabilisierung der Sowjetmacht in die Emigration, vor allem Paris und Berlin. Die Beherrschung aller Medien, der Zeitungen, des Buchdrucks, zunehmend des Radios durch die KPdSU vermittelte mit den Zeit den Eindruck, als handelte es sich in der Sowjetunion um eine homogene, konfliktfreie Gesellschaft. Und es schien, als wäre es der kommunistischen Erziehung gelungen, den neuen Menschen zu schaffen, der glücklich und problemfrei, quasi im Sowjetparadies, lebte und damit das höchste Stadium menschlicher Existenz erklommen hätte.

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Erst als unter Chruschtschow das Land sich allmählich öffnete und der erste Versuch gestartet wurde, mit der Stalinschen Terrorherrschaft abzurechnen, wurden außerhalb der Sowjetunion Stimmen bekannt, die von Arbeiteraufständen und nationalen Protesten berichteten. Als durch die Akkreditierung westlicher Korrespondenten in Moskau sich auch der sowjetischen Intelligenz die Möglichkeit bot, Informationen über alternative Vorstellungen zum Sowjetstaat ins Ausland zu übermitteln, wuchs allmählich die Erkenntnis, dass unter der Decke der SowjetHarmonie gewaltige geistige Bewegungen im Gange sein mussten. In der SamizdatLiteratur, in Protest-Aktionen, in Gerichtsverfahren gegen Oppositionelle, in der Praxis, unbequeme Literaten und Musiker des Landes zu verweisen, wurde die Unfähigkeit der Sowjetregierung unter Breschnew, mit alternativem Denken umzugehen, immer deutlicher. Mit der Zeit stellte sich heraus, dass das Land sich in einer Krise befand und die Machthaber nicht über die intellektuelle Kapazität verfügten, sie zu bewältigen. Über die Frage aber, in welcher Weise man auf die nicht mehr zu leugnenden Auswirkungen der Umweltzerstörung, der außenpolitischen Sackgasse, der Herausbildung mafioser Strukturen selbst innerhalb der KPdSU, den Folgen der internationalen wissenschaftlichen Vernetzung antworten sollte, bildete sich zuerst in der Wissenschaft, dann im KGB, schließlich der Partei selbst eine Opposition heraus, die am Ende die Lösung der dringenden Probleme nicht mehr in der Modifizierung der Herrschaftsmethoden, der Erneuerung des Personals, also innerhalb des Systems, sah, sondern in der Abschaffung des Systems selbst und dem Aufbau einer neuen, demokratischen, sozialen und marktwirtschaftlichen Ordnung. Wenn die Hauptthese dieses Buches also darin besteht, dass die Mannschaft, die ab 1985 sich an die Umgestaltung (Perestrojka) des Staates machte, über einen Plan verfügte, das Sowjetsystem abzuschaffen, so wird der Kritiker anführen, dass Gorbatschow selbst doch sich stets des marxistisch-leninistischen Jargons bedient habe. Diesem Einwand entgegnet Jakowlew: „Wie denn sonst? Man musste mit dem Teufel den Beelzebub austreiben. Sonst hätte man die Mannschaft nach Sibirien geschickt oder es wäre noch Schlimmeres passiert!“ Bei aller Kritik am Sowjetsystem darf nicht vergessen werden, dass es auch auf wichtigen Gebieten eine Zusammenarbeit mit dem Westen, insbesondere den USA, gab. Sie umfasste die Gebiete der Begrenzung der Atomwaffen, später der Trägersysteme, die Kooperation im Weltraum, zeigte sich in Verträgen über Energielieferungen, in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit im Club of Rome und dem Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IAASA) in Laxenburg bei Wien. Die Achtung der Welt, die sich die Sowjetarmee durch ihren unter ungeheuren Opfern errungenen Sieg über Hitler-Deutschland erworben hatte, verspielte sie leichtfertig durch die Sowjetisierung Ost-Mitteleuropas, vor allem aber durch das militärische Eingreifen in der DDR, in Ungarn, Polen und der ČSSR. Die Invasion Afghanistans und die Überdehnung des sowjetischen Ausgreifens nach Vietnam,

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Äthiopien, Angola und Mosambik zeigten die Grenzen dieser aggressiven Politik deutlich auf. Am Ende stellte sich heraus, dass der ursprüngliche hohe humanistische Anspruch im Innern in hohle Phrasen, nach außen in offene Aggression gemündet war. Nach der Invasion in die ČSSR 1968 schwand daher jede Hoffnung auf einen Wandel des Sowjetsystems. Der hohe moralische Anspruch Václav Havels, „in der Wahrheit zu leben“, erfasste auch die Nachbarn und verband sich mit den Bestrebungen in der sowjetischen Gesellschaft selbst. Es war also ein langer und schwieriger Weg von der Provisorischen Regierung 1917 zu einer demokratisch gewählten Regierung 1990. Und dieser Weg ist heute noch nicht beendet. Denn je stärker sich der russische Präsident Wladimir Putin am politischen Verhalten des 19. und der ersten achtzig Jahre des 20. Jahrhunderts orientiert, umso mehr wird der Umbruch deutlich, den Michail Gorbatschow durch sein politisches Denken und Handeln herbeigeführt hat. In der Innenpolitik sind die Verstaatlichung der Medien, die Unterordnung des Gerichtswesens und des Parlaments unter die Dominanz der Exekutive und in der Außenpolitik die Abwendung von Völkerrechtsprinzipien und Verpflichtungen innerhalb der OSZE nun die Regel geworden. Dagegen erscheinen im zeitlichen Abstand die Abkehr von einer Politik der Stärke im Verhältnis nach außen, die Verlagerung der Macht nach unten und die Wiedererrichtung der dritten Gewalt nach innen als die großen Errungenschaften der Ära Gorbatschows. Von der Zerschlagung der KPdSU und ihrer Herrschaft über den Staat, der Aufgabe der Breschnew-Doktrin, damit auch der Wieder- oder sogar Neugewinnung der Demokratie und der Selbstbestimmung in den früheren sozialistischen Staaten bis hin zum radikalen Abbau der Überrüstung, die selbst zum Unsicherheitsfaktor geworden war, schließlich zum Ansatz einer Neuen Weltfriedensordnung, die gemeinsam mit den USA errichtet werden sollte und die offen war auch für andere Mächte, erschien nicht nur ein neuer Politikstil auf der bis dahin vom Ost-West-Gegensatz bestimmten Weltbühne, es leuchteten auch hohe moralische Werte auf wie die Verantwortung für die Menschheitsprobleme, wie sie der Club of Rome formuliert hatte. Nicht nur im Russland Putins, auch im Ausland ist die Person Gorbatschows bis heute umstritten. Einige sehen in ihm den Totengräber der Sowjetunion und werfen ihm den Verlust der Weltmachtstellung vor, andere schätzen ihn als Befreier vom Joch der sowjetischen Besatzung. Das gespaltene Urteil findet sich auch bei den Deutschen. Mancher, der sein Amt in der DDR verloren hat, sieht ihn als Verräter, die anderen dagegen als Befreier vom Unterdrückungssystem der SED. Mit dem geteilten Urteil verbunden ist die Frage, woher Gorbatschow seine Ideen, seine Motivation für sein moralisches Handeln innerhalb des sozialistischen Staates erhalten hat. Das führt zur Entdeckung von alternativem Denken in der sowjetischen Gesellschaft, in den unterschiedlichen Schichten, den Arbeitern, der

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Intelligenz, insbesondere der Akademie der Wissenschaften, bis hinein in die Partei, ihr Zentralkomitee und schließlich das Politbüro. Es wurde auch durch die Entwicklungen in Polen und der Tschechoslowakei beeinflusst. Die vorliegende Arbeit stellt deshalb den Versuch dar, dieses alternative Denken in der Zeit vor Gorbatschow, d. h. in der Zeit Chruschtschows wie in der langen Ära Breschnews zu entdecken und darzustellen. Es folgen die Felder, auf denen sich das alternative Denken besonders entwickelt hat, einerseits die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit im Club of Rome und dem Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse, andererseits die Konfrontation mit der gravierenden Umweltzerstörung, die unübersehbar gebieterisch nach Lösungen verlangten und schließlich im Reaktorunglück von Tschernobyl die Schwächen des Systems bloßlegten. Die weiteren Kapitel gelten der Vorbereitung des Wandels unter Andropow und der Vorstellung der Mannschaft, die die Perestrojka seit 1985 vorantrieb. Es folgt die Umsetzung, die Schritt für Schritt das von der KPdSU beherrschte System abbaute und durch demokratische Mechanismen und Organisationen ersetzte. Bei der Führungsrolle der Sowjetunion über die Satellitenstaaten bedeutete der Wandel in der UdSSR eine ungeheure Herausforderung auch für deren Führungen. Er wurde einerseits als Unterstützung der eigenen Position erleichtert begrüßt wie in Polen und Ungarn, andererseits ohne Widerstand hingenommen wie in der Tschechoslowakei und Bulgarien, dagegen massiv bekämpft wie in Rumänien und der DDR. Am Ende der Gorbatschow-Zeit war die Mauer gefallen, Europa war wieder vereint. Die bipolare Konfrontation zwischen USA und UdSSR war beendet, sogar der gemeinsame Aufbau einer Weltordnung wurde angestrebt. Welche Chancen der Friedenssicherung bisher vertan wurden, wird heute angesichts der aufgetretenen regionalen Konflikte deutlich. In der zahlreichen Literatur über die Perestrojka ist ein Aspekt bisher nicht hinreichend bewertet worden. Es ist die dissidentische Position von Persönlichkeiten in einem diktatorischen System. Václav Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ geht auf Quellen zurück, die noch aus der Zeit vor Masaryk stammen. Aber auch Schewardnadse und Jakowlew berufen sich auf die allgemein menschlichen Werte. Der Kampf gegen den Stalinismus wird damit primär eine moralische Auseinandersetzung mit dem System, das sich sozialistisch nannte. Dabei ist die Frage nach der Methode der Durchsetzung moralischer Werte in einem autoritären System gestellt. Jakowlew nennt sie die List, mithilfe des Systems das System selbst aus den Angeln zu heben. Der Dank des Verfassers gilt Karl-Heinz Schlarp, der das Rohmanuskript kritisch durchlas und mir wertvolle Hinweise gab, Ljudmila Krawtschuk und Peter Lobers, Andrea Kosáry, Anton Sterbling und Wolfgang Wessig für wertvolle Hinweise, Rafał Gronic für das Gespräch über die polnische Einstellung zu Gorbatschow, und Barbara Krebs-Gehlen und Ulrich Kind für die Überprüfung des

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Manuskripts auf Lesbarkeit. Den Kollegen Reiner Pommerin und Manfred Nebelin danke ich für die Aufnahme meines Buches in die Reihe „Dresdner Historische Studien“. Der Dank gilt auch Christopher Theel für die Vorbereitung des Manuskripts zur Drucklegung. Das Buch gilt auch den Kollegen in Russland, die mir schon Mitte der Siebziger Jahre gesagt haben: „Im Augenblick sind wir nur im Vorzimmer der Macht, wenn wir erst an der Macht sind, werden wir alles anders machen.“ September 2015

Wolfgang Geierhos

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I.

Die Vorbereitung

1. Der Gegenentwurf zum sowjetischen Modell 1.1 Alternatives Denken in der Sowjetunion „Es ist nicht das, wofür ich gekämpft habe“, sagte Vera Figner dem amerikanischen Fotografen James Abbe im Jahr 1932, als er sie im Altersheim für ehemalige Terroristen besuchte. Hier, im früheren Scheremetjewschen Landgut Michailowskoje, wohnten die Überlebenden der Terrororganisation „Narodnaja Wolja“ (Volkswille), neben Vera Figner auch Wassilij Perowskij, der Bruder von Sofja Perowskaja, die wegen ihrer Beteiligung an der Ermordung Alexander II. gehängt worden war, und Michail Frolenko, ebenfalls Mitbegründer der „Narodnaja Wolja“. 4 Ihr Ziel war die Gründung einer Republik, die Einberufung einer konstituierenden Versammlung und die Übergabe des ganzen Landes an die Bauern gewesen. In den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte es in fast jeder Stadt des europäischen Russland solche revolutionäre Gruppen gegeben, die Keimzellen der späteren Partei der Sozialrevolutionäre. Die Versuche, „von oben“, d.h. durch Zarenerlass einen Verfassungsstaat einzurichten, wie es 1809 Graf Michail Speranskij vorgeschlagen hatte und die Dekabristen es 1825 durch einen Putsch gegen den neuen Zaren Nikolaj I. erzwingen wollten, waren an der konservativen Aristokratie gescheitert. Erst unter seinem Nachfolger Alexander II. kam es zu den überfälligen Reformen. In den Bereichen der Volksbildung und der Landesentwicklung lagen die jungen Revolutionäre damit sogar auf einer Linie mit den vom „Zar-Befreier“ Alexander II. 1864 eingeführten Zemstwo-Institutionen und Stadtdumen. Diese Einrichtungen der Selbstverwaltung bestanden aus für drei Jahre gewählten Vertretern des Adels, der Städter und der Bauern innerhalb der Kreise und Gouvernements. Ihre Aufgabe bestand darin, Dienstleistungen zu übernehmen, denen die staatliche Administration nicht mehr gewachsen war: Instandhaltung von Straßen und Brücken, Unterhaltung von Fuhr- und Postdiensten, von Einrichtungen der Fürsorge und des Gesundheitswesens, Förderung von Industrie, Handel und Landwirtschaft, Ausbau des Elementarschulwesens. Vera Figner hatte ein solches Zemstwo-Krankenhaus geleitet. Günter Stökl sieht in der Zemstwo-Bewegung am Anfang des 20. Jahrhundert „eine eigenartige, politisch nicht unwirksame Basis für

Smith, Der letzte Tanz, S. 397f.; Figner, Vera, Nacht über Rußland. Lebenserinnerungen. Berlin 1985, S. 9; Hildermeier, Manfred, Die Sozialrevolutionäre Partei Russlands. Agrarsozialismus und Modernisierung im Zarenreich (1900-1914). Köln, Wien 1978, S. 36ff.

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den russischen Liberalismus“ und Schmidt-Häuer nennt sie „eine Art Perestrojka in der Geschichte der russischen Verwaltung“. 5 Mit der zunehmenden Industrialisierung wuchs nicht nur die Arbeiterschaft, die jungen Revolutionäre erkannten in ihnen, beeinflusst vor allem durch die Ideen von Ferdinand Lassalle und die Erfahrungen der westeuropäischen Arbeiterbewegung, auch in den Arbeitern revolutionäres Potential. Es entstanden der nordrussische und der südrussische Arbeiterbund mit Verbindungen zu Westeuropa. Nach eifrigem Studium von Marx‘ Schriften fragte Vera Sassulitsch im Auftrag der bei Genf im Exil lebenden früheren Revolutionäre bei Marx selbst an, ob Russland eine Westeuropa analoge Entwicklung nehmen würde. Das sei für sie eine Frage auf Leben und Tod, denn bisher gründeten sich die Hoffnungen der früheren Narodniki (Volkstümler) allein auf die von ihnen überschätzte Landumteilungsgemeinde (obščina). Marx antwortete zwar ausweichend, indem er formulierte, werde die russische Revolution das Signal einer proletarischen Revolution im Westen, so dass beide einander ergänzten, so könne das jetzige russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen. Die Genfer Exulanten sahen sich aber in der Lage, auf der Basis der Marxschen Schriften und in Verbindung mit Friedrich Engels in London, 1883 die erste sozial-demokratische Gruppe zu gründen, die Keimzelle der Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR). 6 Der Gedanke der Selbstverwaltung, wie er der russischen Landgemeinde zugeschrieben und von den Zemstwo-Vertretern praktiziert wurde, in Genf mündete er sogar in die Gründung einer gleichnamigen Zeitschrift (Samoupravlenie), konkretisierte sich aber immer mehr, je tiefer das zaristische System in die Krise stürzte. Schließlich war es der Sprecher der Deputation von Zemstwo- und Städtevertretern, der Philosophie-Professor Fürst S. N. Trubetzkoj, der am 6. (19.) Juni 1905 vom Zaren die Einberufung gewählter Volksvertreter forderte. Am 17. (30.) Oktober gewährte Nikolaj II. schließlich seinen Untertanen in einem Manifest die Einrichtung der Duma. Auch wenn Max Weber dieses Parlament als „Scheinkonstitutionalismus“ bezeichnete, so hatte es doch zur Bildung von Parteien geführt und zur Einübung parlamentarischer Gepflogenheiten im bis dahin autokratischen System. In der Staatskrise des 1. Weltkrieges aber erwuchsen, angesichts des völligen Versagens der zaristischen Administration, den gewählten Einrichtungen der Zemstwos wie der Duma staatstragende Funktionen zu. Denn nur durch das beherzte Engagement der Zemstwo-Vertreter auf dem Lande konnte die Versorgung der Bevölkerung wie der Kriegsmaschine überhaupt aufrechterhalten werden.

Stökl, Günter, Russische Geschichte. 4. Aufl. Stuttgart 1983, S. 456 f., 547; Schmidt-Häuer, Christian, Russlands Aufruhr. Innenansichten aus einem rechtlosen Reich. München, Zürich 1993, S. 306. Graf Michail Speranskij (1772-1839), der Sohn eines Popen, persönlicher Sekretär des Kaisers, hatte bereits eine Staatsduma vorgesehen. 6 Geierhos, Vera Zasulič und die russische revolutionäre Bewegung, S. 246ff. 5

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Anna Achmatowa hat die Zeit zwischen den Revolutionen 1905 und 1917 als „das silberne Zeitalter Russlands“ bezeichnet. Russland befand sich in einer Aufbruchsstimmung, die die ganze Gesellschaft ergriffen hatte. Nicht nur die Wirtschaft blühte, durch die Stolypinschen Agrarreformen sogar die Landwirtschaft, auch die Wissenschaft und die Kunst. Beeinflusst durch die französischen Impressionisten und den Kubismus avancierte die russische Malerei zur Avantgarde in Europa. Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ von 1915 ist dafür das vielsagende Symbol. Durch die Unfähigkeit des Zaren und seiner Hofcamarilla sich den aktuellen Herausforderungen zu stellen, verschärften sich die sozialen Spannungen, die mit der Industrialisierung einhergingen; und mit der sich abzeichnenden Niederlage im Weltkrieg nahm in der Gesellschaft die Erkenntnis zu, sogar im Hochadel, dass nur durch den Thronverzicht des Zaren, wenn nicht sogar die Abschaffung der Monarchie das Land noch zu retten wäre. Es waren die konservativen Abgesandten der Duma, A. I. Gutschkow und V. V. Schulgin, die als Vertreter der Provisorischen Regierung am 2. (15.) März 1917 den Zaren zur Abdankung zwangen. Als einen Tag später auch Großfürst Michail auf den Thron verzichtete, war Russland zur Republik geworden. Ministerpräsident der Provisorischen Regierung wurde Fürst Georgij E. Lwow, der Vorsitzende des Allrussischen Verbandes der Zemstwos. Die Vertreter der Sowjets sagten der Regierung ihre Unterstützung zu unter der Bedingung der Gewährung aller demokratischen Grundrechte und Grundfreiheiten, der Einberufung einer konstituierenden Versammlung von Volksvertretern nach allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlen. Das Festhalten am Krieg einschließlich der zaristischen Kriegsziele und das Aufschieben einer Landreform führte angesichts der zusammenbrechenden Front und der Auflösung der innenpolitischen Strukturen, die Polizei wurde durch eine Miliz ersetzt, die Zemstwos durch die lokalen Sowjets entmachtet, zur Machtverschiebung hin zu den Sowjets und in ihnen zu den Bolschewiki, die Ende Oktober 1917 in einem Staatsstreich die ganze Macht an sich rissen und von Petrograd aus sich anschickten, nach einem blutigen Bürgerkrieg Russland in einen Sowjetstaat umzuwandeln. Zwar erlebte das Land einen ungeheuren Exodus, nicht nur des seiner Lebensgrundlagen beraubten Adels, auch der Intelligenz, der Mitglieder der Parteien, die die Duma getragen hatten, der Administration und des Offizierscorps, am Ende sogar der innerparteilichen Gegner der Bolschewiki wie Lew Trotzkij. Berlin nahm eine halbe Million russischer Flüchtlinge auf. Paris, London und die Vereinigten Staaten von Amerika, auch China wurden zur neuen Heimat der russischen Exulanten. 7 Viele aber blieben im Land oder kehrten aus dem Ausland zurück. Sie Russen in Berlin 1918-1933. Eine kulturelle Begegnung, hrsg. von Fritz Mierau. Weinheim, Berlin 1988; Hellebeck, Zweimal Rußland. Suche nach unbefleckter Erfahrung: der Kult der Emigration. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 22. Juni 1994, S. N 6; Saint Bris, Gonzague, Vladimir Fedorovski, Les Égéries Russes. Paris 1994; Finkel, Stuart, On the Ideological Front. The Russian Intelligentsia and the Making of the Soviet Public Sphere.New Haven und London 2007, S. 229-234; Service, Robert, Trotzki. Eine Biographie. Berlin 2012.

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bewahrten das Wissen alternativer Erfahrungen gegenüber der von der Sowjetregierung ausgegebenen Weltdeutung und ihrer monologischen Kultur. Trotz des Terrors überlebten Angehörige der Sozialrevolutionäre, der Menschewiki, der Mitglieder anderer Parteien wie der Konstitutionellen Demokraten (Kadetten). Besonders den in Berlin lebenden sozialdemokratischen Menschewiki gelang es, dauerhafte Brücken zur deutschen wie zur sowjetischen Seite zu errichten. So verfügte ihre bis 1933 in Berlin, dann in Paris erschienene Zeitung, der „Sozialistische Bote“, über ein Netz geheimer Korrespondenten in Russland. Sogar einige Angehörige des Hochadels kehrten zurück. Zu ihnen gehörte Alexej Ignatjew, geb. 1877, im Jahr 1917 Militärattaché in Paris, den Molotow ins Verteidigungsministerium holte und der 1954 starb. Oder Graf Alexej Tolstoj, 1883 geboren, der 1941 den Roman „Peter der Große“ schrieb und 1945 in Moskau starb, auch die frühere Fürstin Jelena Golizyna, geb. Scheremetjewa, starb 1992 siebenundachtzigjährig eines natürlichen Todes; ein Nachkomme der Fürsten Trubetzkoj. Nikolaj, lebt heute als Geschäftsmann in Moskau im Bewusstsein einer 600jährigen Familientradition. 8 Der Leninsche, Trotzkische und Stalinsche Terror über das Land hatten scheinbar den Sieg der Bolschewiki etabliert, der Sieg im 2. Weltkrieg die Sowjetunion zur Weltmacht katapultiert und ihr Einflussgebiet um einen ganzen Staatenkranz erweitert. Diese äußeren Erfolge führten aber zur Überschätzung der eigenen Möglichkeiten mit dem Ergebnis, dass das Sowjetsystem der Konkurrenz mit dem kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht gewachsen war. Ähnlich wie am Ende des Zarenreiches stellte sich der Sowjetunion die Frage, ob sie in der Lage war, innerhalb des Systems zu wesentlichen Reformen zu kommen, oder ob Reformen nur nach Überwindung des Sowjetsystems, das heißt der Herrschaft der KPdSU über das Land, durchgeführt werden konnten. Das aber führt zur Kernfrage: Kann es sein, dass gerade dieses Ende der Herrschaft der KPdSU über das Land und die Reintegration Russlands in das Staatensystem Ziel von Gorbatschows Politik gewesen ist? Dann aber wäre der heutige Zustand Russlands nicht das Ergebnis eines Scheiterns von Gorbatschow, sondern die größte Umwälzung eines Systems im 20. Jahrhundert nach Lenins Oktoberputsch von 1917. Die Geschichte der Sowjetunion wäre dann nichts anderes als die von 1917 bis 1991 währende Herrschaft der Bolschewiki über Russland und damit eine abgeschlossene historische Periode des – missglückten – Übergangs von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft. Dieser Ansatz setzt aber die Akzeptanz alternativen Denkens in der Sowjetunion voraus und damit die Existenz einer Mannschaft, die in der Lage gewesen ist, dieses Denken in die Tat umzusetzen, und das unter den erschwerten Bedingungen der Sowjetverfassung von 1977, die in Art. 6 den Herrschaftsanspruch der KPdSU über den Staat festgeschrieben hatte. Wichtig ist dabei vor allem, diese Ansätze unter den gegebenen Bedingungen zu erkennen und zu gewichten. Das betrifft die Sprache ebenso wie die politischen Entscheidungen. Sehr früh, im Jahr 1987, haben Christian Schmidt8

Smith, Der letzte Tanz, S. 401 f.,447ff.

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Häuer und Mária Huber schon auf solche Ansätze hingewiesen. Gegenüber den Skeptikern verweisen sie auf frühere Reformansätze: „Doch ganz aus der Luft gegriffen, wie einige Beobachter meinen, sind die Umbaupläne keineswegs. Moskaus neue Rationalität liegt darin, dass Gorbatschows Berater auf alle Denkanstöße und Reformideen der russischen und sowjetischen Geschichte zurückgreifen, die sich mit dem Selbstverständnis und den Sachzwängen des derzeit existierenden Staatswesens vereinbaren lassen. 9 Auf solche Ansätze zu Reformen weist Gorbatschow im Vortrag an der Universität Mexiko am 12. Dezember 1992 selbst hin und nennt Chruschtschow, Kosygin und Andropow. Er nennt ausdrücklich aber auch die Aktivitäten der Dissidenten: „Sie wurden unterdrückt und aus unserem Lande verbannt, aber ihre moralische Position hat bei der Entstehung der ideologischen Voraussetzungen für die Perestrojka eine nicht unwesentliche Rolle gespielt.“ Dazu kommen die außenpolitischen Faktoren. So habe der „Prager Frühling“ tiefes Nachdenken in der sowjetischen Gesellschaft ausgelöst, und der Einmarsch der Truppen des Warschauer Vertrages habe die Durchsetzung von Veränderungen auch in der Sowjetunion auf Jahre gebremst. Auch die Ostpolitik Willy Brandts habe nicht nur zur internationalen Entspannung beigetragen, sondern auch das Nachdenken über die Werte des Friedens und den Weg zu ihm, zu Demokratie und Freiheit vertieft. Dann zieht er das Fazit: „Versuche, Veränderungen herbeizuführen, wurden also unternommen. Jedoch sie alle haben letzten Endes nicht das erwartete Ergebnis gebracht. Das ist nicht verwunderlich: Alle diese Versuche berührten nicht das Wesen des Systems – die Eigentumsverhältnisse, die Machtstrukturen, das Monopol der Partei auf das politische und geistige Leben. Die Unterdrückung Andersdenkender wurde rücksichtslos fortgesetzt. Notwendig waren nicht nur Einzelmaßnahmen, und seien sie noch so gewichtig, sondern notwendig waren eine andere Politik und ein neuer politischer Weg. Die notwendige Voraussetzung für den Beginn der Veränderungen und die praktische Durchsetzung der Losung ‚So können wir nicht mehr weiterleben!‘ entstanden erst Anfang 1985. Seit jener Zeit, insbesondere seit dem April 1985, bildete sich eine neue Politik heraus, wurde ein neuer Kurs festgelegt.“ 10 Gorbatschow erwähnte auch die Dissidenten und deren moralische Position. Er sieht sie als einen Teil alternativen Denkens gegenüber den herrschenden Verhältnissen, als einen wichtigen Teil der Gesellschaft in der Sowjetunion. Das bedeutet, unter der Decke der offiziellen Propaganda haben sich vielfältigste Formen alternativer Erfahrungen und Einstellungen erhalten. Das Spektrum reicht von Mitgliedern ehemaliger Parteien, insbesondere der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, enttäuschten Bolschewiki über Angehörige unterschiedlicher Religi-

Schmidt-Häuer, Christian, Mária Huber, Russlands zweite Revolution. Chancen und Risiken der Reformpolitik Gorbatschows. München Zürich 1987, S. 28f. 10 Gorbatschow, Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit. Berlin 1993, S. 318f. 9

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onsgemeinschaften, nationaler Minderheiten bis zu alternativ denkenden Wissenschaftlern, Militärs, Gulag-Überlebenden. Sie befanden sich in der „inneren Emigration“. Auch die Familien Gorbatschows und seiner Frau Raissa waren von den gesetzlosen Übergriffen der Stalin-Zeit betroffen. So weist Afanasjew unter der Überschrift „Die wahre Geschichte wird in den Küchen erzählt“, auf alternatives Denken gegenüber der offiziellen Geschichtsversion hin, die Oral History: „Die Bevölkerung konnte diese Verdummung überstehen, indem sie ihre Geschichte von Mund zu Mund weitererzählte. Diese Parallelversion der Geschichte ist natürlich nur bruchstückhaft. Einfach deshalb, weil viele unter denen, die sie weiterreichten, vom Regime ausgelöscht wurden. Aber diese ‚Gegengeschichte‘ begnügt sich auch oft damit, das genaue Gegenteil von dem zu berichten, was die sowjetische Schule vermittelt.“ 11 Burlazki, ein Angehöriger der „Generation des XX. Parteitages“, nennt ein Beispiel für die „Gegengeschichte“, indem er selbst im Bücherschrank eines Freundes „auf die erste Ausgabe von Lenins Werken mit ausführlichen Kommentaren, die Werke Bucharins, Trotzkijs, Sinowjews, Kamenews, Rykows, Tomskis – mit einem Wort, aller Mitglieder der Leninschen Garde“ gestoßen sei und dann nächtelang gelesen habe. Er schreibt: „Nach diesen nächtlichen Lesestunden las ich mit anderen Augen noch einmal die Materialien der Prozesse gegen Oppositionelle in den Jahren 1936 bis 1938. Ich war verblüfft. Warum hatte niemand gesehen, dass das alles ungeheuerliche Lügen waren? Von Anfang bis Ende? Ich war erstaunt, dass sogar ein scharfsinniger Mensch wie Lion Feuchtwanger, der bei einem der Prozesse anwesend war, nicht in der Lage war, die Wahrheit zu erkennen, eine Wahrheit – einfach wie Wasser.“ 12 Jewgenia Ginsburg, die im Krankenhaus von Kolyma von einer ehemaligen Sozialrevolutionärin behandelt wurde, klagte noch 1970 gegenüber dem französischen Politologen K. S. Karol, als dieser von Mao schwärmte: „Sie himmeln diese chinesischen Henker genauso an, wie Romain Rolland und Feuchtwanger unsere Henker angehimmelt haben.“ 13 Es gab fast keine Familie, die durch die Stalinschen Maßnahmen nicht betroffen war. Dieses Wissen war real. Es war Bestandteil der Gesellschaft. Marshall S. Shatz zeigt die persönliche Betroffenheit am Beispiel der Dissidenten auf. So waren Solschenizyn und Kopelew unter Stalin selbst im Lager, Anatolij Lewitin-Krasnow, ein orthodox-religiöser Schriftsteller und Aktivist der Bürgerrechte, verbrachte sieben Jahre in Stalins Lager, Peter Jakir, einer der führenden Dissidenten, ist der Sohn eines Generals der roten Armee, der 1937 hingerichtet wurde. Er selbst verbrachte den größten Teil seiner Jugend im Lager. Jewtuschenkos Großvater war 1938 verhaftet worden und verschwunden, der Ehemann von Lidia Tschukowskaja, der junge Physiker Matwej P. Bronstein, wurde 1938 erschossen, und Afanassjew, Russland, S. 59. Die Forschungsgruppe für mündliche Geschichte unter Leitung von Darja Kudowaja führt diese Untersuchungen durch. 12 Burlazki, Fjodor, Chruschtschow. Ein politisches Porträt. Düsseldorf 1990, S.20. Er bezieht sich auf Lion Feuchtwangers Bericht über dessen Reise nach Moskau: „Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde. Osteuropa 2014,11-12, S. 59-80. 13 Ginsburg, Jewgenia, Gratwanderung. München 1980, S. 493 und S. 502. 11

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der Vater und der Bruder Medwedews starben im Lager. Amalriks Vater war während des Krieges wegen Kritik an Stalin verhaftet und ins Lager verschickt worden. Die Brüder Boris und Jurij Wachtin, der eine China-Experte, der andere Zytologe, die beim Ginsburg-Galanskow-Prozess demonstrierten, hatten ihren Vater in den Stalinschen Säuberungen verloren. Peter Grigorenkos Frau hatte ihren ersten Ehemann, ihre Schwester, ihren Schwager verloren und war selbst verhaftet worden. Die Mutter von Sacharows zweiter Frau, Jelena Bonner, verbrachte lange Jahre in Stalins Lager. Auch Sinjawskijs Vater war 1951 verhaftet worden. 14 „Repression und Lager sind in das individuelle und kollektive Unterbewusstsein von Millionen Menschen eingegangen. Sie prägen staatliche Praktiken und ihre Wahrnehmung in der Bevölkerung. Der in Russland verbreitete Zynismus und die Geringschätzung für das individuelle menschliche Leben speisen sich nicht zuletzt aus der unbewältigten Vergangenheit.“ 15 Und Schalamow warf die Frage auf: „Ist denn die Vernichtung des Menschen mit Hilfe des Staates etwa nicht die Kernfrage unserer Zeit, unserer Moral, die in der psychologischen Verfassung jeder Familie Spuren hinterlassen hat?“ 16 Die Unmöglichkeit, darüber offen zu sprechen, d.h. „die Unfähigkeit zu trauern“ in einem sich sozialistisch nennenden Land, wurde erst mit den noch größeren Opfern des 2. Weltkrieges in der kollektiven Trauer aufgehoben. Geblieben aber sind die später publizierten Memoiren der Betroffenen. Dazu gehören z.B. das Buch von Wolfgang Leonhards Mutter, Susanne Leonhard, die zwölf Jahre in sowjetischen Lagern verbrachte, darunter in Workuta, 17 oder Jewgenia Ginsburgs „Gratwanderung“, im Russischen bekannt als „Marschrut“, die 1937 verhaftet, 1947 – 1949 in Magadan kurz in Freiheit war und erst 1955, rehabilitiert, entlassen wurde, 18 oder Nadeschda Mandelstam, Osip Mandelstams Frau, deren Erinnerungen „Das Jahrhundert der Wölfe“ 1971 erschienen, 19 schließlich die Erinnerungen von Nikolaj Bucharins Frau Anna Larina, die sie auswendig gelernt hatte, „Nun bin ich schon weit über zwanzig“. 20 Wolfgang Ruges Bericht erinnert an das Schicksal von Susanne Leonhard, nur dass Ruges Mutter, die mit ihren Söhnen nach Moskau gekommen war, rechtzeitig ins Ausland geschickt wurde, dafür die Söhne ins Lager kamen. 21 Natürlich sind hier Solschenizyns „Archipel GULAG“ und Warlam Schalamows „Erzählungen aus Shatz, Soviet Dissent in Historical Perspective, S. 154f. Sapper, Manfred, Volker Weichsel, Andreas Huterer, Bollwerk der Hölle. In: Osteuropa 6/2007, S. 5. 16 Sapper, Bollwerk der Hölle, S. 5. 17 Leonhard, Susanne, Gestohlenes Leben. Schicksal einer politischen Emigrantin in der Sowjetunion. Frankfurt am Main 1956. 18 Ginsburg, Jewgenia, Gratwanderung. Vorwort Heinrich Böll. Nachwort Lew Kopelew und Raisa Orlowa. München, Zürich 1979. 19 Mandelstam, Nadeschda, Das Jahrhundert der Wölfe. Eine Autobiographie. Frankfurt am Main 1971.Schalamow hat 1958 Osip Mandelštam ein literarisches Denkmal gesetzt in seiner Erzählung „Cherry Brandy“. In: Osteuropa 6/2007, S. 230. 20 Bucharina, Anna Larina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen. Göttingen 1989. 21 Ruge, Wolfgang, Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion. Reinbek bei Hamburg 2012. 14 15

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Kolyma“ zu nennen. Inzwischen gibt es auch Informationen über die Täter. Nach Öffnung der Archive stieß Karl Schlögel auf Pjotr Iwanowitsch Maggo (1887 – 1941), ein dem Alkohol ergebener Tschekist lettischer Herkunft, „Mitarbeiter für besondere Aufgaben“. Er hat Bucharin am 13. März 1938 im Lefortowo-Gefängnis in Moskau erschossen. 22 Ein Beispiel für innere Emigration ist der Schriftsteller David Samojlov (19201990), eigentlich David Kaufmann. Er lebte seit 1976 in Pjarnu an der estnischen Ostseeküste und starb in Tallinn. Seine Lyrik erreichte breitere Leserschichten, er bewahrte sich aber seine Unabhängigkeit von der politischen Konjunktur. Samojlovs 2002 veröffentlichtes Tagebuch, das er seit dem 14. Lebensjahr geführt hat, vermittelt Einblick in Geist und Haltung der inneren Emigration.“ 23 In seiner Stalin-Biographie zitiert der Militärhistoriker Dmitrij Wolkogonow Dokumente aus dem Militärarchiv, aus denen hervorgeht, dass der blutige Terror von 1937/38 nicht nur „blinden, mechanischen Beifall fand, sondern auch Fassungslosigkeit, Betretenheit und manchmal auch Protest auslöste“. Und er nennt einige Beispiele und verweist auf Dokumente über Fälle, „in denen sich verschiedene Arbeiter, Bauern, Ingenieure, Schriftsteller und Wissenschaftler, deren Bewusstsein und Gewissen nicht völlig verkleistert und deformiert waren, ganz direkt oder auch allegorisch gegen Stalin geäußert hatten.“ Dieses Thema, – schreibt er im Jahr 1989 –, des „passiven, bisweilen aber auch wütenden sozialen und intellektuellen Protests ist bei uns übrigens noch nicht entsprechend untersucht worden.“ 24 Wladislaw Hedeler hat sich inzwischen mit diesem Thema intensiv beschäftigt. Er stieß auf Gefangenenstreiks in den Jahren 1950 und 1951 in einer Anzahl von Lagern, darunter weit abgelegenen wie Workuta am Nördlichen Polarkreis und Karaganda in der Staubebene des sowjetischen Zentralasien. 25 Auch Karl Schlögel listet, aus unterschiedlichen Quellen, zahlreiche Revolten in den Lagern auf: Januar 1942 in der Außenstelle Oschkurja des Lagers Ust-Usa, 1948 auf dem Bauprojekt Nr. 501 an der Eisenbahnlinie nach Salechard, 1949 im Ber-Lag. 1951 traten 500 Häftlinge des ITL-Lagers Wochruschewo auf Sachalin in den Hungerstreik, ebenso Häftlinge des Ozer-Lag. Schließlich kam es 1953 und 1954 zu einer Streikwelle: 7. Mai bis 11. August 1953 in Norilsk, letzte Juliwoche bis 1. August 1953 in Workuta und Mitte Mai bis 25. Juni 1954 in Kingir. 26 In der Folge

Schlögel, Karl, Terror und Traum. Moskau 1937. München 2008, S. 684. Kasper, Karlheinz, Leben in seiner absurden Erscheinungsform. In: Osteuropa 1/2012, S. 129f. 24 Wolkogonow, Dmitri, Triumph und Tragödie. Politisches Porträt Stalins, Band 2/2, Berlin 1990, S. 233. 25 Hedeler, Wladislaw, Widerstand im Gulag. Meuterei, Aufstand, Flucht. In: Osteuropa 6/2007, S. 353-368; Crankshaw, Edward, Rußland und Chruschtschow. Berlin 1960, S. 24. 26 Schlögel, Widerstandsformen, S. 56ff. 22 23

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kam es zu gravierenden Verbesserungen der Lager-Bedingungen. Eine bahnbrechende Arbeit über die Arbeiterproteste in der Nach-Stalin-Zeit hatte Karl Schlögel vorgelegt. 27 Eine Sonderrolle spielten die Physiker. Sie zahlten zwar ebenfalls einen hohen Blutzoll – so überlebte von den Dreißigjährigen nur die Hälfte den großen Terror des Jahres 1937, und es entstanden an den wichtigsten Ausbildungsstätten, der Physikalischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität und dem Ukrainischen Physikalisch-Technischen Institut in Charkow irreparable Zerstörungen – aber einige zeichneten sich auch durch besonderen Mut aus. Eine Sonderrolle spielten dabei die Akademiemitglieder Kapiza und Landau. So richtete allein Kapiza etwa zweihundert Briefe an die Kreml-Herrscher. Am 7. Mai 1935 schrieb er an Molotow: „Ich halte fest an der Internationalität der Wissenschaft und daran, dass wahre Wissenschaft sich ihre Unabhängigkeit von jeglichen politischen Ambitionen bewahren und abseits vom Kampf stehen muss, so stark auch die Bestrebungen sind, sie dorthin zu ziehen, und ich glaube daran, dass die wissenschaftliche Arbeit, die ich mein ganzes Leben lang geleistet habe, Besitz der gesamten Menschheit ist, wo auch immer ich sie verrichtet habe.“ 28 Nach dem Tode der jungen Kollegen Matwej Bronstein und Alexander Witt, Semjon Schubin war schon verhaftet und starb kurze Zeit später, verfasste Akademiemitglied Lew Davidowitch Landau zum 1. Mai 1938 ein Flugblatt: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch! Genossen! Die große Sache der Oktoberrevolution ist schändlich verraten. Das Land ist in Strömen von Blut und Unrat versunken. Millionen Unschuldiger wurden in Gefängnisse geworfen, und niemand weiß, wann die Reihe an ihn kommt. Die Wirtschaft verfällt. Hungersnot droht. Seht ihr denn nicht, Genossen, dass die Stalinsche Clique einen faschistischen Umsturz vollzogen hat? Von Sozialismus ist nur noch in den Blättern der vollends verlogenen Presse die Rede. In seinem blindwütigen Hass gegen den wahren Sozialismus ist Stalin mit Hitler und Mussolini vergleichbar. Um seine Macht zu sichern, ruiniert Stalin das Land und macht es zur leichten Beute des räuberischen deutschen Faschismus. Der einzige Ausweg für die Arbeiterklasse und alle Werktätigen unseres Landes ist der entschlossene Kampf gegen den Stalinschen und Hitlerschen Faschismus, der Kampf für den Sozialismus. Genossen, schließt euch zusammen! Fürchtet nicht die Henkersknechte des NKWD. Diese sind nur fähig, schutzlose Häftlinge zu foltern, ahnungslose, völlig unschuldige Menschen einzukerkern, sich des Volkseigentums zu bemächtigen und absurde Prozesse gegen fiktive Verschwörer zu inszenieren. Genossen, tretet den Reihen der Antifaschistischen Arbeiterpartei bei. Nehmt Kontakt mit ihrem Moskauer Komitee auf. Organisiert Betriebsgruppen der Antifaschistischen Arbeiterpartei. Bringt die Untergrundarbeit in Gang. Bereitet durch Agitation und Propaganda einer Massenbewegung für 27 Schlögel, Karl, Der renitente Held. Arbeiterprotest in der Sowjetunion 1953-1983. Hamburg 1984. 28 Brief Kapiza an W. M. Molotow vom 7. Mai 1935, in: Gorelik, S. 279.

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den Sozialismus den Boden. Der Stalinsche Faschismus hält sich nur aufgrund unserer mangelnden Organisiertheit an der Macht. Das Proletariat unseres Landes, das die Herrschaft des Zaren und der Kapitalisten abgeschüttelt hat, vermag auch den faschistischen Diktator und seine Clique zu stürzen. Es lebe der 1. Mai – der Kampftag für den Sozialismus! Das Moskauer Komitee der Antifaschistischen Arbeiterpartei.“ Landau und seine Kollegen waren schon Anfang 1937 zu dem Schluss gelangt, dass die Partei entartet sei, die Sowjetmacht nicht im Interesse der Werktätigen, sondern im Interesse einer kleinen herrschenden Clique handelte, dass die bestehende Regierung im Landesinteresse gestürzt und auf dem Territorium der UdSSR ein Staat geschaffen werden müsste, in dem die bäuerlichen Kollektivwirtschaften und das Staatseigentum an den Betrieben bestehen bleiben sollten, der im Übrigen aber nach dem Vorbild der bürgerlichen Demokratien aufgebaut sein müsste. 29 Landau überlebte nach einem Jahr Haft nur dadurch, dass sein Institutsleiter Kapiza am 6. April 1939 an Molotow, den Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, wieder einen Brief schrieb. Nach der Unterredung mit zwei Stellvertretern Berijas in der Sache Landau gab Kapiza folgende Bürgschaftserklärung ab: „Ich bitte, den inhaftierten Professor der Physik, Lew Davidowitsch Landau, gegen meine persönliche Bürgschaft aus der Haft zu entlassen. Ich bürge vor dem NKWD dafür, dass Landau in meinem Institut keinerlei konterrevolutionäre Tätigkeit gegen den Sowjetstaat ausüben wird, und werde alle mir zu Gebote stehenden Maßnahmen ergreifen, damit er sich auch außerhalb des Instituts in keiner Weise konterrevolutionär betätigt. Falls ich von irgendwelchen gegen die sowjetische Staatsmacht gerichteten Äußerungen Landaus Kenntnis erhalte, teile ich dies unverzüglich den Organen des NKWD mit.“ 30 Zwei Tage später wurde Landau entlassen. 1962 erhielt er den Nobel-Preis für Physik, Kapiza 1978. Wahrscheinlich aber hatte Kapiza bei Molotow und Berija Erfolg, weil er zwei Jahre zuvor bereits wegen eines anderen Kollegen sich an Stalin gewendet hatte. Es handelte sich um den Fall von Wladimir Fock, ebenfalls Mitglied der Akademie der Wissenschaften: „Die Verhaftung Focks ist ein Akt groben Umgangs mit einem Wissenschaftler, der ebenso wie der grobe Umgang mit einer Maschinerie deren Qualität ruiniert. Die Schaffenskraft Focks zu ruinieren bedeutet jedoch der gesamten internationalen Wissenschaft Schaden zuzufügen. Ein derartiger Umgang mit Fock ruft sowohl bei uns als auch bei den westlichen Wissenschaftlern eine Reaktion hervor, die beispielsweise derjenigen auf die Vertreibung Einsteins aus Deutschland ähnelt. Wissenschaftler wie Fock haben wir nicht viele, und ihrer darf sich die Wissenschaft der Sowjetunion vor der Wissenschaft der Welt rühmen; dies aber wird schwierig, wenn man ihn hinter Gitter setzt.“ 31 Gorelik, Gennadij, „Meine antisowjetische Tätigkeit“: russische Physiker unter Stalin. Braunschweig, Wiesbaden 1995, S. 210, S. 259f; „Für viele Sowjetbürger reichte es schon, den Nachnamen Bronstein zu tragen, damit der NKWD sich ihrer bemächtigte.“ Service, Trotzki, S. 622. 30 Gorelik, „Meine antisowjetische Tätigkeit“, S. 268f. 31 Brief an Stalin vom 12. Februar 1937, in: Gorelik, S. 270. 29

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Als Kapiza sich aber weigerte am sowjetischen Atomprogramm mitzuarbeiten, weil er nicht unter Berijas Aufsicht arbeiten wollte, hatte er den Bogen überspannt. Im Brief vom 25. November 1945 hatte er an Stalin geschrieben: „Berija, Malenkow, Wosnesenskij führen sich im Sonderkomitee wie Übermenschen auf, insbesondere Berija. Freilich hat er den Dirigentenstab in der Hand. Das muss nicht schlecht sein, aber gleich nach ihm muss dennoch der Wissenschaftler die erste Geige spielen. Denn die Geige gibt den Ton für das ganze Orchester an. Berija müsste als Dirigent nicht nur den Stab schwingen, sondern auch noch die Partitur verstehen. Damit steht es bei Berija schlecht.“ 32 Daraufhin wurde Kapiza von seinen wissenschaftlichen Ämtern entbunden und für sieben Jahre aus dem offiziellen sowjetischen Wissenschaftsleben verbannt. Diesmal war es Fock, der sich – vergeblich – bei Stalin für Kapiza einsetzte. Das wiederum bedeutet aber, dass wir von unserem Bild vom Sowjetstaat als homogenem Herrschaftssystem der Kommunistischen Partei über alle Facetten der „Sowjet“- Gesellschaft Abstand nehmen müssen. Die Stalin-Zeit betreffend, spricht Karl Schlögel sogar von einem fortdauernden Bürgerkrieg. Nun waren seit Lenins und Stalins Zeiten die Lager voll von alternativ Denkenden, in und außerhalb der Kommunistischen Partei, die Zahl der aus der Partei Ausgeschlossenen übertraf schon bald die der Mitglieder, doch durch Chruschtschow gab es den ersten Ansatz, aus der Falle dieses Herrschaftsverständnisses auszubrechen und in Teilbereichen alternatives Denken zuzulassen.

1.2 Reformansätze unter Chruschtschow Martin Malia sieht die vier Jahrzehnte der Sowjetgeschichte nach Stalins Tod von dem alles beherrschenden Problem bestimmt, Stalin zu begraben. Gleichzeitig habe mit dem Stalinismus die Sowjetgeschichte ihren Gipfel erreicht: „Die vier Jahrzehnte nach 1953 kennzeichnet ein langsamer, doch stetiger Niedergang.“ 33 Beide Feststellungen sind miteinander verbunden. Denn das Stalinsche System des Terrors und der Zentralisierung aller Entscheidungen konnte zwar eine gigantische Industrie aufbauen, die Folgen der selbst verschuldeten Hungerkatastrophen und den Zweiten Weltkrieg überstehen, für die Entwicklung einer modernen Industriegesellschaft, die auf Eigeninitiative, breites Angebot an Konsumgütern, liberaler Presse und internationalem Austausch angelegt ist, war es jedoch nicht geeignet. Stalins Nachfolger standen also vor dem Problem, das Sozialismus-Modell, das Stalin geschaffen hatte, so zu reformieren, dass die negativen Seiten beseitigt, das Modell als solches aber nicht infrage gestellt werden konnte. Chruschtschow erkannte dieses Dilemma sehr wohl. So musste er an zwei Fronten kämpfen. Einerseits galt es, die verbrecherischen Praktiken der Stalin-Clique offen zu legen und zu beseitigen, die Wirtschaft zu liberalisieren, andererseits musste er Sicherheiten 32 33

Brief an Stalin vom 25. November 1945, in: Gorelik, S. 271. Malia, Vollstreckter Wahn, S. 357.

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aufbauen, damit die Anhänger Stalins aus Sorge, ihre Pfründe und ihr Sozialprestige zu verlieren, nicht zum Gegenangriff übergingen und ihn seiner Stellung als Ersten Sekretär enthoben. Es gelang ihm in zwei Schritten zuerst seine Position innerhalb der Führungsgruppe zu verbessern und schließlich die Kontrahenten auszuschalten. Die wichtigste Entscheidung aber war die Entmachtung des Innenministers und KGBChefs Berija. Ihm und einer Anzahl schwerst Belasteter wurde der Prozess gemacht und alle im Dezember 1953 erschossen. Anschließend wurde die Allmacht des KGB stark beschnitten und als Gegengewicht die Führungsrolle der Partei wiederhergestellt. Ein weiterer Schritt zur Widerherstellung von Recht und Ordnung, aber auch ein Mittel im Kampf mit seinen Gegnern war die Entstalinisierung und hier als erstes die Freilassung der unschuldig Verurteilten aus den Lagern und Gefängnissen. Dadurch erwarb er sich das Vertrauen eines großen Teils der Bevölkerung. Auf dem XX. Parteitag der KPdSU ging er am 25. Februar 1956 in der berühmt gewordenen Geheimrede zum Frontalangriff über und konfrontierte die Delegierten mit ungeheuren Fakten über die Verbrechen Stalins. Im Jahr 1955 hatte Chruschtschow den Leiter des Sekretariats im Zentralkomitee, Pjotr Pospelow, damit beauftragt, Material über die Verbrechen der Vergangenheit zu sammeln. Pospelow und seine Mitarbeiter ermittelten Täter und Opfer, sie präsentierten dem Politbüro Verhörprotokolle, Todeslisten und Briefe, die die Gefolterten dem Diktator geschrieben hatten. ‚Wenn das stimmt‘, rief der stellvertretende Ministerpräsident Maxim Saburow auf einer Sitzung des Politbüros aus, ,was ist das denn noch für ein Kommunismus? Das kann man nicht vergeben.‘ Der Damm war gebrochen. Niemand konnte sich der Präsenz des Schreckens jetzt noch entziehen. 34 Der KGB, der den Physiker Landau observierte, notierte: „Am 30. November 1956 sagte Landau, auf die Regierungsmitglieder gemünzt: Wie kann man denen glauben! Wie kann man Henkersknechten trauen? Henkersknechte sind sie doch alle, gemeine Henkersknechte.“ 35 Abel Aganbegjan gibt seine eigenen Erfahrungen wieder, denn als er in den fünfziger Jahren in den Wirtschaftswissenschaften zu arbeiten begann, war er einer Reihe von älteren Ökonomen verbunden, die in den zwanziger Jahren jung gewesen waren, sich mit ernsthaften Forschungen beschäftigt hatten, dann aber verhaftet wurden, durch Gefängnisse und Zwangsarbeit gingen, erst Mitte der fünfziger Jahre nach der Entlassung sich erneut ökonomischen Problemen zuwandten. Er nennt G. Strumilin (Wirtschaftswissenschaftler und Akademiemitglied, von Stalin suspendiert – W.G.), Lew Minz, Albert Weinstein. Dann: „Unser profiliertester Fachmann für Fragen der Effizienz von Kapitalinvestitionen und volkswirtschaftliche Probleme des Bauwesens ist Viktor Krassowski. Auch er hat viele Jahre im Lager, in der Region Norilsk, zugebracht.“ 36 Aganbegjan resümiert bitter: „Über welche geistigen Kräfte und intellektuellen Methoden verfügten die Ökonomen Baberowski, Verbrannte Erde, S. 500f. Gorelik, S. 277. 36 Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 165. 34 35

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der zwanziger Jahre, dass man ihre führenden Vertreter vernichtete? Wir haben Menschen kennengelernt, die zur Zeit ihrer Verhaftung relativ jung, etwa 25 – 30 Jahre alt waren. Sie fanden, nachdem sie durch die Höllenqualen gegangen und zurückgekehrt waren, nicht einfach nur die Kraft, weiterzuleben und produktiv zu arbeiten, sondern wurden schnell zu den führenden Ökonomen des Landes und setzten uns, die jüngeren, mit ihrer unbändigen Energie, Schaffenskraft und Erkenntnistiefe in Erstaunen.“ 37 Schließlich: „Ich spreche über diese mir nahestehenden Menschen nicht nur wegen der immensen Rolle, die sie für meinen beruflichen Werdegang hatten. Wichtiger ist mir, dass der Leser versteht, welch unwiederbringlicher Verlust unserer Gesellschaft durch die Stalinschen Repressionen und den Personenkult zugefügt wurden. Aus diesen wenigen Beispielen dafür, wie Stalin und seine Umgebung mit den Wirtschaftswissenschaftlern verfuhren, ist ersichtlich, wie viel wir verloren haben, weil wir in den schwierigen dreißiger und vierziger Jahren ohne die Wissenschaftler der zwanziger Jahre auskommen mussten.“ 38 Die bitteren Erfahrungen oder Erzählungen aus der Stalinzeit lebten also in der Gegenwart der Chruschtschow- wie der Breschnew-Zeit weiter, sie waren präsent und bedeuteten eine ständige Herausforderung an das System, das dafür die Verantwortung trug. Die Frage, ob Stalin ein Systemunfall oder ein typischer Vertreter des Systems war, sozusagen die Verkörperung des inhumanen Systems selbst, blieb zu lange unbeantwortet. Die Kommission hatte u.a. festgestellt, dass von den auf dem XVII. Parteitag 1934 gewählten 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees der Partei 98 Personen, das sind siebzig Prozent, in den Jahren 1937 bis 1938 verhaftet und erschossen worden waren. Auf dem XXII. Parteitag 1961 fühlte sich Chruschtschow so stark, dass er den Delegierten auch Lenins Warnung vor Stalin aus dem Jahr 1922 vorlesen konnte: „Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen…Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist.“ 39 Es war nur konsequent, dass Chruschtschow Stalins Leichnam aus dem Lenin-Mausoleum entfernen und an der Kreml-Mauer bestatten ließ. Chruschtschow hatte die auf Stalin zugeschnittene zentralistische Parteistruktur selbst erlebt und mitgetragen. In ihr Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 163f. Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 166. 39 Chruschtschow, N. S., Kommunismus – Frieden und Glück der Völker, S. 367f. 37 38

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sah er die Gefahr des Machtmissbrauchs und bemühte sich, die Partei umzustrukturieren. Das passierte auf zwei Ebenen. Im Herbst 1962 spaltete er die Partei in eine Industriepartei und eine Agrarpartei. Darüber hinaus sollten die Funktionäre aus der zweiten Reihe des Kontrolleurs in die erste der direkten Verantwortung wechseln und die Leitung der Betriebe übernehmen. Zudem begrenzte Chruschtschow die Amtszeit für ZK- und Präsidiumsmitglieder und führte die Rotation ein. Die zweite Ebene galt dem Parteiprogramm. Nach den Programmen von 1903, als die Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki begonnen hatte, und 1919, Lenins Programm nach der Machtübernahme im Staat, sollte das neue, dritte, Parteiprogramm Abschied von der „Diktatur des Proletariats“ nehmen und den „Übergang zum Kommunismus“ festschreiben. Das heißt, die in der Marxschen Formationenlehre nicht vorhandene Übergangsperiode des Sozialismus sollte beendet sein und im Kommunismus die Theorie des Volksstaats umgesetzt werden. Das bedeutete aber die gesellschaftliche Selbstverwaltung; sie machte aber eine Kommunistische Partei obsolet. Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 sagte Chruschtschow über das Parteiprogramm: „Es ist natürlich, dass mit dem Augenblick, da der Sozialismus in unserem Land vollständig und endgültig gesiegt hatte und wir in die Periode des umfassenden Aufbaus des Kommunismus eingetreten waren, jene Bedingungen verschwanden, die die Diktatur des Proletariats notwendig gemacht hatten; ihre inneren Aufgaben waren erfüllt. Die Arbeiterklasse ist die einzige Klasse in der Geschichte, die sich nicht das Ziel setzt, ihre Herrschaft zu verewigen. Wenn die Voraussetzungen verschwinden, die ihre Diktatur ins Leben gerufen haben, wenn sich die Aufgaben erschöpfen, die die Gesellschaft nur mit ihrer Hilfe lösen konnte, vollzieht sich unter der Führung der Arbeiterklasse der Prozess des Hinüberwachsens des Staates in die Volksorganisation der Werktätigen der sozialistischen Gesellschaft. Nachdem der Sozialismus gesiegt hat und das Land in die Periode des umfassenden Aufbaus des Kommunismus eingetreten ist, hat die Arbeiterklasse der Sowjetunion aus eigener Initiative und ausgehend von den Aufgaben des Aufbaus des Kommunismus, den Staat ihrer Diktatur in den Staat des gesamten Volkes umgebildet. Das, Genossen, ist eine in der Geschichte beispiellose Tat! Bisher war der Staat immer das Instrument der Diktatur der einen oder der anderen Klasse. Bei uns ist erstmalig ein Staat entstanden, der nicht die Diktatur einer einzelnen Klasse, sondern das Instrument der ganzen Gesellschaft, des gesamten Volkes ist.“ Und: „Der Staat des gesamten Volkes – das ist eine neue Etappe in der Entwicklung des sozialistischen Staates, ein überaus wichtiger Markstein auf dem Wege des Hinüberwachsens des sozialistischen Staatswesens in die kommunistische gesellschaftliche Selbstverwaltung.“ 40 Das heißt: wenn es keinen Klassenkampf mehr gibt, ist auch keine Diktatur des Proletariats mehr nötig, verkörpert 40

Chruschtschow, N. S., Kommunismus – Frieden und Glück der Völker. Berlin 1963, S. 486ff.

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durch die Partei. Wenn der Zustand des Volksstaats erreicht ist, können die gesellschaftlichen Einheiten, die Ministerialbürokratie, die Betriebsdirektoren und Kolchosvorsitzenden, die Armeeführer aufgrund ihrer Fachkompetenz ihre Einrichtungen selbst leiten und bedürfen nicht mehr der parteilichen Anleitung auf allen Ebenen. Die Partei hätte nur noch auf der strategischen Ebene eine Funktion, für die Gesamtrichtung einer Politik. Dann ist auch die Partei „Partei des ganzen Volkes“. Dann hat es Sinn, die Opposition in die Partei zu verlagern, um die Agrargegen die Industrieinteressen organisiert auszutragen, aber auch die Partei als Machtfaktor gegenüber der Manager-Intelligenz zu schwächen, eventuell – im Kommunismus – sogar obsolet zu machen. Der Weg dahin ist die Umwandlung der Sowjets von Zustimmungsorganen gegenüber Beschlüssen des Zentralkomitees oder Politbüros (Sekretariats) zu arbeitenden Körperschaften mit Entscheidungskompetenz. Sie sollen als Räte immer mehr staatliche Funktionen wahrnehmen. Chruschtschow: „Jeder Sowjetmensch muss sich aktiv an der Verwaltung der Angelegenheiten der Gesellschaft beteiligen! Das ist unsere Losung, unsere Aufgabe. Wenn unsere Partei die Aufgabe der Entwicklung der Staatsorgane, die Umgestaltung der Sowjets der Deputierten der Werktätigen in Organe der gesellschaftlichen Selbstverwaltung an die Spitze stellt, wird sie auch wie bisher Kurs darauf nehmen, den gesellschaftlichen Organisationen immer mehr staatliche Funktionen zu übertragen.“ 41 Ein Kommentator schrieb damals, der Gedanke einer „spontanen Aktion oder Tätigkeit“ des Volkes dürfte nicht nur Stalin veranlassen, sich im Grabe umzudrehen, sondern Zehntausenden, Hunderttausenden beruflicher Funktionäre mit verbrieften Interessen an der Erhaltung des Status quo werde bei diesem Gedanken ein Frostschauer über den Rücken laufen. „Spontane Tätigkeit! Wo, bitte, soll das enden?“ 42 Es wird deutlich, dass nicht nur bei der Bevölkerung, sondern innerhalb der Partei nach Stalins Tod die Frage gestellt wurde, was denn, bei Berücksichtigung von Stalins Verbrechen, vom Sozialismus noch übrig geblieben ist. Wie weit zurück musste man denn gehen, um an die originären Quellen zu gelangen. Das führte einerseits zu großen Reformerwartungen, denen die Führung nun ausgesetzt war, und andererseits zu Enttäuschungen, wenn diese Reformen nicht weit genug gingen oder an Widerständen scheiterten. Dass in der sowjetischen Führung über den Inhalt der Sowjetideologie nachgedacht wurde, verdeutlicht ein Gespräch, das Anastas Mikojan 1954 in der DDR mit Karl Schirdewan führte. Es ging um den Disput zwischen Lenin und Kautsky. Lenin sei davon ausgegangen, dass das schwächste Glied in der Kette des Kapitalismus zerbrochen werden müsse und in dieser historischen Situation der Aufstand zu wagen sei, die revolutionäre Phase der Umwälzung der Gesellschaft begonnen werden könne. Kautsky nehme demgegenüber die Position ein, dass nur in einem 41 42

Chruschtschow, N. S., Kommunismus – Frieden und Glück der Völker, S. 367f. Crankshaw, Russland und Chruschtschow, S. 115.

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hochindustrialisierten Lande eine erfolgreiche Entwicklung des Sozialismus möglich sei, wenn vorher eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Übergang zum Sozialismus sei. Wem gebe die Geschichte nun Recht? 43 Es ging zurück zu den Quellen, zu den Wurzeln. So wurde eine fünfbändige Werkausgabe Plechanows, des „Vaters des russischen Marxismus“ aufgelegt. Burlazki wechselte damals von der Redaktion des „Kommunist“ in den Parteiapparat. Auf Veranlassung von Chruschtschow wurde ein Buch über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus begonnen. Die Leitung des Autorenkollektivs, dem auch Burlazki angehörte, hatte Otto Wilhelmowitsch Kuusinen. Inhaltlich ging es um „Die Ablösung der Diktatur des Proletariats und den Übergang zum allgemeinen Volksstaat“. Burlazki schreibt: „Otto Wilhelmowitsch und ich sprachen häufig darüber, wie sich aufgrund der neuen Ideen unser Staat und sein gesamtes politisches System verändern, wie sich die Prinzipien der Demokratie entwickeln würden. Es müssten Garantien geschaffen werden gegen ein Regime der persönlichen Macht, und neue Institutionen der gesellschaftlichen Selbstverwaltung sollten unserer Meinung nach ins Leben gerufen werden. Seit Lenins Tagen hatten sich die Grundlagen unserer staatlichen Struktur nicht geändert. Sie hatten die politischen und ideologischen Deformationen der Stalin-Zeit nicht verhindern können. Was musste also geschehen? Wie konnte das Land vor einem Rückfall in ein autoritäres Regime geschützt werden? Diese Fragen waren Gegenstand unserer Diskussionen und unseres quälenden Nachdenkens.“ 44 Es ging also um den Umbau des Staates in die Richtung, dass eine erneute Diktatur ausgeschlossen werden konnte. Im Zusammenhang mit der Vorbereitung des XXII. Parteitages und des neuen Parteiprograms wurde auch eine neue Geschichte der KPdSU erarbeitet. Leiter des Autorenkollektivs war Boris Nikolajewitsch Ponomarew, zuletzt Leiter der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU. 45 Das Ergebnis erschien 1959. Die neue Geschichte der KPdSU löste den Kurzen Lehrgang von 1938 ab. Als aber 1956 eine Anzahl Historiker, unter ihnen E. N. Burdschalow, den Kurzen Lehrgang gründlich auseinander genommen hatte, angefangen mit dem Jahr 1917, verlor dieser seine Stelle. 46 Auch die Stalin-Verfassung von 1936, auf die man sich selbst in der Stalin-Zeit nicht berufen durfte, – so sehr drifteten Anspruch und Wirklichkeit auseinander –, sollte durch eine neue Verfassung ersetzt werden. In der ehemaligen Datscha von Maxim Gorki bei Moskau erarbeitete ein Team, darunter Fedor Burlazki für Chruschtschow und die anderen Präsidiumsmitglieder im Jahr 1964 einen Entwurf. Burlazki hatte schon vorher in Artikeln sich für die Schaffung eines ständig arbeitenden Parlaments, für freie Wahlen, für die Gewaltenteilung und für Ge43 Schirdewan, Karl, Aufstand gegen Ulbricht. Berlin 1994. Mikojan (1895-1978) war 1937 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, 1964-65 Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjet (Staatspräsident) der UdSSR. 44 Burlazki, Chruschtschow, S. 52. Kuusinen war Mitglied des Präsidiums (Politbüro) der KPdSU. 45 Burlazki, Chruschtschow, S. 189. 46 Malia, Vollstreckter Wahn, S. 365.

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schworenengerichte eingesetzt. Das Staatsoberhaupt sollte direkt vom Volk gewählt werden, wichtige Entscheidungen nicht von der Partei, sondern von staatlichen Organen getroffen werden. Chruschtschow habe sehr wohlwollend auf diese Vorschläge reagiert. 47 Die Abkehr von Stalin erfasste auch den Bereich der Wirtschaft. Nicht nur, dass die Nachkriegszeit und das anspruchsvolle neue Parteiprogramm die Schwerpunktverlagerung von der Rüstungs- zur Konsumindustrie geboten, startete Chruschtschow auch den Versuch den zentralistischen Planungsapparat mit seinen inzwischen vierzig Industrieministerien zu schwächen und dessen Kompetenzen auf untere Ebenen zu verlagern. Es ist nicht zu leugnen, dass die Idee von einem Spiel der Kräfte für mehr Innovation und Beweglichkeit sorgen sollte. An Stelle der Ministerien bildete Chruschtschow nun 150 regionale Wirtschaftsräte, die Sownarchosy (Sovety narodnogo chozjajstva). Die Motoren-Traktoren-Stationen (MTS) wurden aufgelöst. Der Fünfjahrplan wurde durch einen Siebenjahrplan ersetzt. Der außerordentliche XXI. Parteitag 1959 sanktionierte die Neurungen. Durch die Erschließung von Neuland wurde die Agrarproduktion stimuliert. Letzten Endes erwiesen sich aber die Widerstände der Administration und die fehlenden Möglichkeiten marktähnlicher Mechanismen als stärker denn alle Veränderungen. Innovationsstaus waren die Folge. Die Ausnahme bildete die Rüstungsindustrie. Hier konnte die Sowjetunion mit dem ersten Sputnik 1957 die Führung in der Weltraumfahrt übernehmen. 1961 schickte sie mit Jurij Gagarin den ersten Menschen in eine Flugbahn außerhalb der Erde. Begleitet wurde die Wirtschaftsreform durch eine unter Stalin nicht gekannte Besuchsdiplomatie. Sie führte Chruschtschow nach Asien, Westeuropa, schließlich in die USA. Es kam zu einem gravierenden Abbau der Streitkräfte auf beiden Seiten. Die Neudefinition der „friedlichen Koexistenz“ zeigte Früchte. Aber Chruschtschow war andererseits doch zu tief im Stalinschen System verwurzelt, dass er nicht zuließ, wenn der sowjetische Machtbereich infrage gestellt oder nur herausgefordert wurde. Das bekamen die Ungarn und die Polen 1956 zu spüren. Immerhin arrangierte er sich mit dem Jugoslawen Tito. China hingegen beharrte auf seinen maoistischen Positionen und zieh Chruschtschow des Revisionismus. In der Kuba-Krise hatte sich Chruschtschow völlig verschätzt, auch wenn er im Gegenzug für seinen Rückzug aus Kuba den Abbau der amerikanischen Raketen aus der Türkei erhielt. Die Ambivalenz seiner Politik zeigte sich auch im Bereich der Literatur. Einerseits sorgte er dafür, dass Solschenizyns Erzählung „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch“ gedruckt wurde, Jewtuschenko sein Stalin-Gedicht unterbringen konnte, andererseits verbot er die Publikation von Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“. Das heißt: er lavierte je nach politischem Kräfteverhältnis. Malia nennt Solschenizyns Erzählung „die zweite Bombe der Chruschtschowära“. Sie sei mehr als ein Angriff auf Stalin, sie attackiere das System: „Erstmals wurde in der Sowjetunion die Institution der Lager öffentlich zum Thema gemacht und ihre 47

Burlazki, Fjodor, Chruschtschow. Ein politisches Porträt. Düsseldorf 1990, S. 276.

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Existenz, die im Westen so oft geleugnet worden war, damit vom Regime bestätigt. Mehr noch – während die Geheimrede nur Stalins Verbrechen an der Partei angeprangert hatte, lenkte Iwan Denissowitsch die Aufmerksamkeit auf das Leiden der Bevölkerung. Die Bevölkerung musste somit annehmen, dass die Entstalinisierung jetzt zu einem gesamtgesellschaftlichen Emanzipationsprozess führen sollte.“ 48 Hübner schreibt, das Interesse am Neuen bildete nun eine Voraussetzung dafür, dass gerade die Schriftsteller, die ein breites Publikum erreichten, in die Rolle von moralischen Autoritäten hineingeschoben wurden. Auf der anderen Seite sahen die Schriftsteller wie A. Solschenizyn, A. Twardowskij, Ju. Jewtuschenko, dass sie eine verantwortungsvolle Rolle in der Öffentlichkeit zu spielen begannen: „Das Interesse des Publikums an der Literatur der ‚Aufrichtigkeit‘ machte sie zu einer übergreifenden geistigen Klammer, zu einem Ersatz für ein fehlendes politisches Programm der Andersdenkenden, mit dem sie sich identifizieren konnten. Die Funktion dieser Literatur als vorpolitische Basis einer politisch relevanten Meinungsbekundung wurde z. B. bei den Dichterlesungen evident, die 1958 bis 1962 auf dem Majakowskij-Platz in Moskau stattfanden.“ 49 Als würde, wie unter Peter dem Großen, das Fenster zum Westen erneut geöffnet, erklang die Oper „Porgy and Bess“ 1955 erstmals in Leningrad und Moskau und löste Stürme der Begeisterung aus. Ein Jahr später konnten die Museen dem Andrang der Besucher kaum standhalten, als Picassos Bilder im Moskauer Puschkin-Museum und in der Ermitage in Leningrad gezeigt wurden. Eine neue Welt tat sich auf. Hemingway’s „Der alte Mann und das Meer“ wurde gedruckt, Yves Montand sang in Moskau 1956 mit großem Erfolg. 1958 gewann der junge amerikanische Pianist Van Cliburn den Tschajkowskij-Wettbewerb im Moskauer Konservatorium. (1987 spielte er im Weißen Haus in Washington vor Gorbatschow). 1962 besuchte Benny Goodman die UdSSR und gab zweiunddreißig Konzerte. 50 Alle diese Ereignisse stimulierten die Diskussion in Literatur, Musik und Malerei. Wie weit Chruschtschow vorausschaute, als er in Nowosibirsk eine Sibirische Akademie der Wissenschaften gründete, weitab von Moskau und ihrem politischen Einfluss, mit der Maßgabe alternative Forschung zu betreiben, zeigte sich nicht nur in den Nobelpreisen, die die Forscher im Laufe der Jahre erhielten, so Leonid Kantorowitsch 1973 den Nobelpreis für Ökonomie, sondern auch im Potential der Erneuerung, das zuerst Andropow, dann Gorbatschow in vollem Maße nutzten. Hildermeier charakterisiert Chruschtschows Entscheidung treffend, die dort angesiedelten Forschungszentren machten deutlich, dass sie nicht nur Altes fortsetzen, sondern dem Pulsschlag des internationalen wissenschaftlichen Lebens folgen wollten. Unterstützend wirkte dabei der Umstand, dass die sibirische Akademie eine eigene Generalversammlung und ein eigenes (von ihr gewähltes) Präsidium erhalten habe. Auf diese Weise habe sie eine weit größere Unabhängigkeit als die Leningrader Abteilung oder untergeordnete Institute genossen. Darin sei auch ein Malia, Vollstreckter Wahn, S. 383. Hübner, Die Rolle der Literatur, S. 58. 50 Zubok, Vladislav, Zhivago’s Children. The Last Russian Intelligentsia, S. 94ff. 48 49

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Unterschied der Ressortzugehörigkeit zum Ausdruck gekommen: Die ‚große‘ Akademie war eine Einrichtung der Union, die sibirische eine der RSFSR. Hildermeier macht aber darüber hinaus darauf aufmerksam, dass auch die Gesamtakademie, die im Jahr 1970 immerhin 35.000 Mitglieder umfasste, sich eine bemerkenswerte Unabhängigkeit bewahren konnte. So weigerte sie sich bis zuletzt, den Bürgerrechtler Sacharow, der längst unter Hausarrest stand, auszuschließen. 51 Als Akademiemitglied M. A. Lawrentjew dabei war, ein Beratergremium für die Regierung zusammenzustellen, wurde seine Arbeit nach Chruschtschows Ablösung jedoch eingestellt. 52 1964, Chruschtschow hatte es kommen sehen, konnte er den Angriff der Stalinisten nicht mehr abwehren. Er musste die Macht abgeben. Dass das einigermaßen zivilisiert verlief, d.h. dass er in Moskau wohnen bleiben durfte, ist auch das Ergebnis der Öffnung der Gesellschaft, die er herbeigeführt hatte. Die Menschen atmeten, nach der bleiernen Atmosphäre unter Stalin, nun freier. Ja, es existierte sogar eine kritische öffentliche Meinung, eine Dissidentenkultur entwickelte sich, zuerst vorsichtig und zögerlich, später immer mutiger. Gerade vor dem Hintergrund der Gorbatschowschen Perestrojka gewinnen die Ansätze Chruschtschows zu einer Abkehr vom Stalinismus und der Umwandlung des Sowjetstaates zu einem „Volksstaat“ an Bedeutung, wird seine persönliche Leistung mehr geschätzt, als das bis dahin der Fall gewesen ist. „Die Rede änderte alles“, schreibt Orlando Figes, sie stehe für den Moment, in dem die Partei Autorität, Einheit und den Glauben an sich selbst verloren habe. „Es war der Anfang vom Ende.“ Und das Sowjetsystem habe sich nie ganz von der durch die Rede ausgelösten Vertrauenskrise erholt. 53 Malia sieht sogar Ansätze einer Zivilgesellschaft: „ Die neue kritische Intelligenz dachte noch nicht an politische Opposition, geschweige denn Versuche, dem Regime ein Ende zu machen. Der akzeptierte Rahmen für alle, selbst für den zutiefst verbitterten Solschenizyn blieb der Reformkommunismus. Alles was man wollte, war die Wahrheit über die Vergangenheit. Die prosaische, empirische Wahrheit indes würde, schonungslos dargestellt, unweigerlich auch sichtbar machen, dass das System als Ganzes eine Lüge war, das heißt, sie würde diese ‚Lüge‘ zerstören.“ 54 Auch Viktor Frolow spricht von einem Demokratisierungsprozess, der nach dem XX. Parteitag eingesetzt hatte. Die Folgen waren augenscheinlich, die Perestrojka und die Glasnost seien nicht aus einem Vakuum heraus entstanden, sondern stellten das Ergebnis des Wirkens demokratischer Kräfte über einen langen Zeitraum dar. 55 Und der sowjetische Journalist Alexander Janow berichtet: „Nicht nur ein Wandel, sondern der Wandel kommt – so schien das allgemeine Gefühl zu sein. Etwas Grundlegendes war im Entstehen. Das alte, eingerostete Hildermeier, S. 813f. Moissejew, Nikita, Wozu die Straße, wenn sie nicht zum Tempel führt? S. 97. 53 Figes, Orlando, Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Berlin 2015, S. 302. 54 Malia, Vollstreckter Wahn, S. 383. 55 Frolow, Viktor, Damit sich das nicht wiederholt. In: Afanassjew, Juri (Hrsg.), Es gibt keine Alternative zu Perestroika, S. 507. 51 52

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Stalinistische System – unsere Schmach und Schande – zerfiel letzten Endes und war nicht mehr zu reparieren. Solcherart war der Traum von vielen von uns, die in der kurzen, aber dramatischen reformerischen Zeitspanne zwischen Terror und Stagnation lebten, die ihren Höhepunkt 1960 – 1964 erreichte. Manche mögen das als kindischen Enthusiasmus ansehen. Ich würde das ‚den Geist der Reform‘ nennen.“ 56 Auf die systemsprengende Bedeutung von Chruschtschows Anti-StalinPolitik weist Figes hin, wenn er schreibt, die Enthüllungen ließen Fragen nicht nur nach Stalin, sondern nach dem System als Ganzem aufkommen, und wer das System einmal in Zweifel gezogen habe, dachte über Alternativen nach. 57 Noch nach Chruschtschows Ablösung im Oktober 1964 kam es zu einem letzten Anlauf, seine Reformideen in die Tat umzusetzen. Kosygin gelang es auf dem Septemberplenum 1965, eine Wirtschaftsreform vorgeschlagen. Die Grundlage dieser Reform bildeten die Diskussionen, die im September 1962 um den Artikel des Charkower Professors Ewsej Grigorjewitsch Liberman – Plan, Gewinn, Prämie – geführt worden waren. Diese Ideen wurden später von Wassilij Sergejewitsch Nemtschinow, Viktor Walentinowitsch Nowoschilow und Leonid Witaljewitsch Kantorowitsch weiterentwickelt. Auch die Soziologin Tatjana Saslawskaja weist darauf hin, dass bereits 1957 auf dem Februarplenum des Zentralkomitees der KPdSU vorgeschlagen wurde, den Schwerpunkt des operativen Industriemanagements auf die Lokalebene zu verlagern. 58 In der Summe der Kommentare besteht Konsens darüber, dass Chruschtschow die Grundlagen für die Perestrojka gelegt hat. Das gilt besonders für die Wissenschaft. Hildermeier nennt es „nicht übertrieben, wenn man in der disziplinären Geisteselite des Landes nicht nur ein ‚Tauwetter‘ entdeckt, sondern geradezu ein mächtiges Aufblühen unterdrückter Triebe.“ Und er meint, vieles spreche sogar dafür, „die späten fünfziger Jahre als Hochzeit der sowjetischen Wissenschaft zu bezeichnen. Nie zuvor und nie danach konnte die UdSSR vergleichbare Errungenschaften vorweisen, die ihr auf der ganzen Welt zu Respekt, Glanz und Prestige verhalfen.“ 59 „Im Zeichen gefeierter Erfolge“, schreibt er, „und wachsender wirtschaftlich-technischer Bedeutung konnte es kaum ausbleiben, dass die Wissenschaft auch an Selbstbewusstsein gewann. Zum Artikulationsforum avancierte dabei die Akademie als Dachorganisation der bedeutendsten Forschungszentren und Vereinigung der führenden Gelehrten. In einem gemeinsamen Brief hatten renommierte Wissenschaftler in einem Brief an die Parteispitze die Rückkehr Kapizas in das Wissenschaftsleben gefordert. Landau hatte dabei als erster unterschrieben. So ist es kein Zufall, dass Kapiza 1964 eine Mitgliederversammlung nutzte, um vor einer allzu engen Bindung der Wissenschaft an staatliche Interessen zu warnen. Man erinnert sich an seinen Brief an Molotow im Jahr 1935. Der international

Yanov, Alexander, The Drama of the Soviet 1960s. A Lost Reform. Berkeley 1984, S. 95. Figes, Hundert Jahre Revolution, S. 303. 58 Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 109. 59 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 809. 56 57

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angesehene Wissenschaftler hatte, anders als Sacharow, seine Mitarbeit im hochgeheimen Projekt zum Bau der Atombombe verweigert, weil es unter Berijas Oberaufsicht stehen sollte. 60 Kapiza genoss in der sowjetischen Gesellschaft hohes Ansehen, und seine Haltung besaß Vorbildcharakter. Der Historiker Afanasjew zeigt aber auch die Grenzen der Toleranz auf, denn an den Universitäten, vor allem in Moskau und Leningrad, habe es junge Leute gegeben, die mit ihren Fragen nach der Vergangenheit die in Chruschtschows Bericht markierten Grenzen überschritten hatten. „Einige fingen an über den Charakter unseres Systems nachzudenken.“ Anregungen erhielt die Jugend auch von außen. So ermöglichten die Moskauer Weltjugendfestspiele im Juli und August 1957 die unmittelbaren Kontakte mit der Jugend außerhalb der UdSSR, insbesondere der USA. Vierunddreißigtausend ausländische Gäste trafen auf drei Millionen junge Sowjetbürger. Besonders die Kontakte zur polnischen Jugend – nach den Ereignissen 1956 – führten zu vielen Diskussionen. Eligiusz Lasota, die Herausgeberin des polnischen Literaturmagazins „Po Prostu“, die selbst am polnischen Oktober 1956 teilgenommen hatte, war dabei sehr gefragt. 61 Die Antwort des KGB ließ aber nicht lange auf sich warten. Im August 1957 nahm der Geheimdienst Mitglieder einer politischen Untergrund-Gruppe von Moskauer Professoren und Studenten fest, die von Lew Krasnopewzew geleitet wurde. Sie wurden in einem Prozess hinter verschlossenen Türen zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Als sie im Frühjahr 1958 im Lager Dubrolag ankamen, staunten sie über die große Zahl junger politischer Gefangener aus Moskau, Leningrad, Kiew und anderen führenden Universitäten der Sowjetunion. Es waren Marxisten, die den Marxismus und Leninismus vom Stalinismus reinigen wollten. 1956 betrug ihre Zahl 384, 1957 wuchs sie auf 1.964, ein Jahr später 1.416. Afanasjew schreibt: „Es wäre interessant zu wissen, was man den jungen Leuten der ‚Gruppe der Krasnopewzen‘ vorgeworfen hat. Ich habe nie Informationen erhalten. Man erzählte, sie hätten unseren ‚Sozialismus‘ mit dem gesellschaftlichen Regime verglichen, das Marx mit spitzer Zunge als ‚Kasernensozialismus‘ bezeichnet hatte.“ 62 In Leningrad gründete Valerij Ronkin, ein Student des Technologischen Instituts, das schon Plechanow im 19. Jahrhundert besucht hatte, mit Freunden eine Untergrundgruppe „Die Glocke“ (Kolokol). Vorbild war Alexander Herzens ExilZeitschrift in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Alle waren Komsomol-Mitglieder und überzeugte Marxisten. 63 Schon in den fünfziger Jahren gab es an den Hochschulen handgeschriebene literarische Studentenpublikationen. Sie hatten die Namen „Feigenblatt“ (Wilna), „Blaue Knospe“, „Frische Stimmen“, „Häresie“ (Leningrad). 1959 erschien die Untergrundzeitschrift „Sintaksis“, herausgegeben von Alexander Ginsburg. Sie hatte eine Auflage von 300 Exemplaren und druckte, Gorelik, S. 271 und 278; Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 812. Zubek, Zhivago‘s children, S. 107. 62 Afanassjew, Es gibt keine Alternative zu Perestroika, S.84. 63 Zubek, Zhivago’s Children, S. 152 ff, Anm. 103. 60 61

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neben „legalen“, vor allem junge Autoren, die bisher noch nicht offiziell gedruckt worden waren. In Ginsburgs Wohnung trafen sich Künstler, Dichter und Schriftsteller. Eine ähnliche Rolle spielte Jurij Galanskow, der 1961 die Zeitschrift „Feniks“ herausgab. Allein in Moskau erschienen in der Zeit von 1960 bis 1965 dreizehn Untergrundzeitschriften, darunter neben den genannten auch „Kokteil“, „Bumerang“ und „Sirena“. 64 Die brutale Niederschlagung der von der kommunistischen Partei getragenen Volkserhebung in Ungarn bedeutete für alle, die sich Hoffnungen auf eine Liberalisierung des Regimes in Russland machten, einen Schock, hatten sie doch geglaubt, wenn außerhalb der Sowjetunion ein höherer Grad von Flexibilität und Pluralismus erfolgreich erprobt würde, würde auch das eigene Regime ein vergleichbares Szenario akzeptieren. So identifizierte der Physiker Landau – so das KGB-Protokoll – „die Anführer mit dem ungarischen Volk und der Arbeiterklasse und kennzeichnete die stattfindenden Ereignisse als ‚ungarische Revolution‘, als sehr positives, äußerst erfreuliches Ereignis, im Verlauf dessen das Volk, der Held, für die Freiheit kämpfte.“ 65 Roy Medwedjew nennt mehrere Studentengruppen, die sich nach den Ereignissen in Ungarn 1956 gebildet hatten. Sie erklärten ihre Sympathie für die ungarischen Aufständischen und verurteilten die militärische Einmischung der Sowjetunion. Sie sprachen auf Komsomolversammlungen an der Moskauer Universität und verteilten Flugblätter. „Eine von J. Maschkow und W. Zechmister geleitete Gruppe, die der ‚jugoslawischen Richtung‘ anhing, wurde verhaftet. Dichterlesungen am Majakowskij-Denkmal in Moskau erhielten einen immer stärker oppositionellen Charakter; an ihnen nahmen W. Bukowskij, E. Kusnezow, W. Ossipow, A. Ginsburg und andere teil. I. Bokstein, einer der Teilnehmer, wurde verhaftet.“ 66 Es wird sogar die Zahl von 500.000 Sowjetbürgern genannt, die an Demonstrationen, Protestversammlungen und Streiks zwischen 1953 und 1964 teilgenommen hatten. 67 Gorbatschow erlebte als junger Komsomol-Funktionär den Widerstand: „Bei den höheren Funktionären begriff man auf Anhieb, teils intuitiv, teils durchaus bewusst, dass die Kritik an Stalin eine Kritik am System als solchem und eine Gefahr für dessen Existenz, folglich also auch für den Wohlstand der ‚Machthaber‘ bedeutete. Das wurde besonders augenfällig, als die Maßgeblichen aller Ebenen auf den ersten Versammlungen, deren Diskussionsgegenstand der XX. Parteitag Hornsky, Protest, S. 265 f.; Igrunov, V., Barbakadze, M. , E. Švardc, izd., Antologija samizdata: nepodcensurnaja literatura v SSSR 1950-1980. Tom 1: Do 1966 goda. Moskva 2005. Tismaneanu hat die Friedensbewegungen im Ostblock untersucht: Tismaneanu, Vladimir, Ed., In Search of Civil Society. Independent Peace Movements in the Soviet Bloc. New York and London 1990. 65 Gorelik, S. 276. 66 Medwedjew, Roy, Chruschtschow. Eine politische Biographie. Stuttgart, Herford 1984, S. 217f. 67 Hornsby, Robert, Protest, Reform and Repression in Khrushchev’s Soviet Union. Cambridge, UK 2013, S. 1; siehe auch: Alexeyeva, Ludmilla and Valery Chalidze, Mass Unrest in the USSR. Washington, DC 1985. 64

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war, mit der Frage konfrontiert wurden: Wo seid ihr damals gewesen?“ 68 Im Gespräch Gorbatschows mit dem Politologen Boris Slawin sind sich beide einig, dass zur Zeit Chruschtschows eben auch eine neue Generation heranwuchs, die Fragen stellte. Und er bezeichnet sich selbst als ein Mann des „Chruschtschowschen Tauwetters“. Er war überzeugt davon, dem „realen Sozialismus“ einen zweiten Atem zu geben. 69 Ende April 1956 forderten Studenten der Physikalischen Fakultät an der Moskauer Universität auf einer Komsomolsitzung ein Weißbuch über sämtliche Opfer der Stalinschen Säuberungen zu erstellen. Auch die Frage nach den moralischen Grundlagen der offiziellen Parteipolitik wurde gestellt und die feige und inkonsequente Haltung der Parteiführer der Chruschtschow-Zeit in Fragen des Personenkults kritisiert. 70 Crankshaw schrieb schon 1960, Chruschtschows große Hoffnung seien die Leute unter fünfunddreißig gewesen. Man findet sie sogar in einem Dutzend besonders strenger Kontrolle unterworfener Berufe – im Auswärtigen Dienst, in der Gerichtsbarkeit, im Journalismus, im Rundfunk, in der Wirtschaft, in vielen Zweigen der oberen Zivilbehörden, in den Streitkräften und Universitätsfakultäten. Sie wissen viel mehr über die Lebensverhältnisse außerhalb der Sowjetunion, als sie eigentlich dürften, und sie kennen die Kluft zwischen der Anmaßung des Kreml und seiner Praxis. Und sie verstecken sich nicht mehr. 71 Doch schon 1956 versuchte man der Gefahr vorzubeugen, dass mit der Politik an Stalin auch die Kritik am Sowjetsystem verbunden wurde. D.h. es wurde zurückgerudert. So wurde am 30. Juni der ZK-Beschluss ‚Über die Überwindung des Personenkults und dessen Folgen‘ gefasst, in dem auf die Verdienste und die ‚Treue Stalins zum Marxismus-Leninismus‘ sowie darauf hingewiesen wurde, dass keinerlei ‚Kult‘ die ‚Natur unserer Gesellschaftsordnung zu ändern‘ vermocht hatte. 72 Es folgte Chruschtschows Rede vor Komsomolzen gegen die Rebellion der Studenten (Prawda 10. Nov. 1956). Das Ende des Tauwetters schließlich bedeutete der geheime Brief des Zentralkomitees an alle KPdSU-Organisationen vom 19. Dezember 1956, der zur Unterdrückung aller sowjet-feindlichen Elemente aufforderte. 73 Im Ergebnis kam es zu einer hohen Zahl von Parteiausschlüssen, so 1956 über 35.000 und ein Jahr später über 36.000. 5.728 Sowjetbürger wurden in der Zeit von 1956-1964 wegen sowjetfeindlicher Handlungen zu Haft- und Lagerstrafen von 5-10 Jahren verurteilt. 74 Gorbatschow, Michail, Erinnerungen. Berlin 1995, S. 91. Neokončennaja istorija. Besedy Michaila Gorbačova s politologom Borisom Slavinym. Moskva 2001, S. 11. (Eine nicht abgeschlossene Geschichte. Gespräche Michail Gorbatschows mit dem Politologen Boris Slawin). 70 Gerstenmaier, Cornelia, Die Stimme der Stummen. Die demokratische Bewegung in der Sowjetunion. Stuttgart 1972, S. 63. 71 Crankshaw, Rußland und Chruschtschow, S. 151f. 72 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 92. 73 Hornsby, Protest, S. 111. 74 Hornsby, Protest, S. 116. 68 69

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Es gibt auch positive Stimmen zur Chruschtschow-Zeit aus den Republiken. So erkannte Mart Laar, früher Premierminister in Estland, in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre in der sowjetischen Wirtschaftspolitik eine spürbare Liberalisierung, sogar Regionalisierungstendenzen durch Sownarchos (= Sowjetskoe narodnoje chozjajstwo; dt: Sowjetischer Volkswirtschaftsbetrieb). Die Folgen stellten sich ein: Zwischen 1958 und 1961 nahm die industrielle Produktion um 70 Prozent zu. „Es gab auch Modernisierungsansätze: Gefragt waren nicht mehr gigantische Großprojekte, sondern Neuentwicklungen im Bereich der Elektrotechnik und Mechanik. Zwei Bereiche, die zusätzliche Qualifikationen erfordern. Auch die Lebensmittelindustrie entwickelte sich, und dank des Einsatzes mineralischer Düngemittel und einer besseren Technik erlebte auch die Landwirtschaft mit Hilfe der Sownarchosen eine deutliche Renaissance. 1965 wurden die Sownarchosen allerdings wieder in Frage gestellt, und so wurden fast 30 Prozent der estnischen Industriebetriebe wieder direkt den Moskauer Ministerien untergeordnet. In der Folgezeit nahm der Anteil der direkt von Moskau aus gesteuerten Betriebe noch zu.“ 75 Nach Chruschtschow Sturz verschwand sein Name aus der Öffentlichkeit. Dafür tauchte der Stalins wieder auf. Erst nach der Breschnew-Zeit und nach Tschernenkos kurzem Zwischenspiel 1984/85, lebte unter Gorbatschow die Erinnerung an Chruschtschow wieder auf, und man begann sich mit der Periode seiner Herrschaft zu beschäftigen, sah in den Reformen viele Ansätze für die neue Politik der Perestrojka. Es war die „Generation des XX. Parteitages“, die ihre Vorstellungen nun umsetzen konnte. Burlazki sieht in seiner Chruschtschow-Biographie „die Beschreibung der Menschen jener Generation, ihr Kampf, ihre Zweifel, ihre Widersprüche, ihre politische Kultur … heute von besonderem Interesse. Diese Betrachtung liefert den Schlüssel, um zu verstehen, wie der schwierige Weg zur Perestrojka erreicht wurde, welche Ziele sie verfolgt und wozu sie führen kann.“ 76 Und er schreibt 1988, im Rückblick lassen sich nun die Stärken und Schwächen Chruschtschows klar erkennen. Sein Hauptverdienst sieht er darin, dass er den Personenkult Stalins zerschmetterte. Und das, wie sich herausstellte, trotz aller hinterhältigen Versuche, das Idol an der alten Stelle wiederaufzurichten. „Folglich war der Boden tiefgenug umgepflügt worden. Folglich hatte der, der den Pflug führte, nicht umsonst gearbeitet. Die mutige Entscheidung für die Rehabilitierung, zum Teil postum, vieler Kommunisten und Parteiloser, die in der Zeit des Personenkults Opfer von Repressalien geworden waren, stellte die Prinzipien der Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Ehrenhaftigkeit im Leben von Staat und Partei wieder her. Ein mächtiger, wenn auch nicht in jeder Beziehung effektiver Schlag wurde dem Superzentralismus, Bürokratismus und dem Beamtendünkel versetzt.“ Auch die Ursprünge der 75 Laar, Mart, Estland und der Kommunismus. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2. Das schwere Erbe der Ideologie. München Zürich 2004, S. 304f. 76 Burlazki, Chruschtschow. Ein politisches Porträt. Düsseldorf 1990, S. 13f.

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KSZE-Schlussakte von Helsinki, die die Ergebnisse des zweiten Weltkrieges verankerte und neue internationale Beziehungen, die ökonomische Zusammenarbeit, den Austausch von Informationen und Ideen sowie persönliche Kontakte deklarierte, sieht er in der Epoche des Tauwetters. Diesen Standpunkt vertritt auch Baberowski. Er schreibt, nicht wenige Historiker suchten nach den historischen Ursprüngen jener Umbrüche, die mit dem Amtsantritt M. S. Gorbatschows über die Sowjetunion hereinbrachen. Der Rekurs auf die Stalin-Zeit scheint ihm aber verfehlt, denn die prägenden Erfahrungen der Perestrojka-Generation fielen in die 1950er und 1960er Jahre unseres Jahrhunderts. Mit den Begriffen des Tauwetters, der Entstalinisierung, des Samizdat und des intellektuellen Dissens sei dieser Zusammenhang angemessen beschrieben. Und er erkennt in der Ära Chruschtschow und Breschnew eine beträchtliche Ausweitung der Volksbildung, Hebung des professionellen Niveaus ganzer Berufsstände und eine bescheidene Erweiterung des Wohlstandes. „Schließlich vollzog sich in jener Zeit die Nationalisierung des Politischen in den Republiken der Sowjetunion und damit eine schrittweise Delegitimierung der kommunistischen Parteiherrschaft. In diesen Jahren sammelten die Handlungsträger der Perestrojka ihre politischen Erfahrungen. Gleichwohl wartet auch diese Geschichte noch auf ihre Historiker.“ 77 Doch die Opposition der Stalinisten, die den Machtverlust fürchteten, war noch zu stark. Während Chruschtschow den ersten Versuch ihn zu stürzen noch mithilfe der Armee abwenden konnte, fiel er dem zweiten, besser organisierten, zum Opfer. Was blieb, war die Hoffnung einer Generation, deren Väter den Stalinismus erfahren hatten, auf eine Systemveränderung hin zu mehr persönlichen Freiheiten und Sicherheit der Person vor staatlichem willkürlichem Zugriff. Jewgenia Ginsburg hat dieses Gefühl selbst erlebt, wie Lew Kopelew berichtet: „Nachdem im September 1965 Daniel und Sinjawskij verhaftet worden waren und das KGB Solschenizyns Archiv beschlagnahmt hatte, sagte Jewgenia Ginsburg: ‚Ich bin Nikita Chruschtschow nicht nur dafür dankbar, dass er uns freigelassen hat, weil ich sonst jetzt mit einer Nummer am Fuß im ewig gefrorenen Boden läge, sondern auch dafür, dass er uns von der Angst befreit hat. Fast zehn Jahre, von 1955 bis 1965, habe ich keine Angst mehr gehabt.“ 78 Und Ludmila Alexejewa beschreibt die Chruschtschow-Jahre als Inkubationszeit für die sowjetische Menschenrechtsbewegung, die sich in der Breschnew-Zeit laut zu Wort meldete, darunter Alexander Jesenin-Wolpin, Wladimir Bukowskij, Jurij Galanskow und Alexander Ginsburg. 79 So wird die Chruschtschow-Zeit durch die Re-Stalinisierung 77 Baberowski, Jörg, Das Ende der Osteuropäischen Geschichte. Bemerkungen zur Lage einer geschichtswissenschaftlichen Disziplin. In: Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion. Hrsg. von Stefan Creutzberger Ingo Manteufel, Alexander Steininger und Jutta Unser. (Bibliothek Wissenschaft und Politik Bd. 58).Köln 2000, S.39f. 78 Kopelew, Lew/Raisa Orlowa, Am Ende der Gratwanderung. In: Ginsburg, Gratwanderung, S. 498. 79 Hornsby, Protest, S. 253.

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unter Breschnew aufgewertet, damit ein Thema angeschnitten, das unter Gorbatschow erneut in Erscheinung trat. Die Brücke dazu bildete auch Chruschtschows Sohn Sergej, der seinen Vater zum „Vater der Perestrojka“ aufwertet: „Aber in der jeweiligen Einstellung zu Stalin, d.h. im Streit um seine historische Einordnung, zeigte sich nicht nur die Auseinandersetzung zwischen Reformern und Konservativen, sondern entwickelte sich auch die Auseinandersetzung um die Frage nach dem Sozialismus selbst. Auch darin war Chruschtschow als Reformer Gorbatschows großer Vorläufer.“ 80 Alexander Yanov erkennt den epochalen Charakter der Chruschtschowschen Reformen, die er als sowjetischer Journalist miterlebte, die aufgeregte Atmosphäre, „der Periode der Krise des Establishments, die aufgeladen war mit den phantastischsten Erwartungen und elektrisierend geladen mit großen Hoffnungen.“ Schon mit Blick auf 1985 schreibt Alexander Jakowlew: „Natürlich gab es seit dem XX. Parteitag (1956) viele, die wussten, was wirklich vor sich ging, die begriffen hatten, dass der Gang der Ereignisse unbedingt geändert werden müsste, die spürten, dass es unmöglich bis in alle Ewigkeit so weitergehen könnte. Diese Meinung hat sich im Laufe der Jahre immer mehr verbreitet. Vor allem unter den Intellektuellen fanden innerhalb der Partei Diskussionen in diesem Sinne statt.“ 81 Auch Lothar Kölm sieht das Ende von Chruschtschows Herrschaft auch als Beweis dafür an, „dass seine Versuche, das Gesellschaftssystem zu modernisieren, zu reformieren, bei Beibehaltung der überkommenden Strukturen nicht möglich war.“ 82 So kommt auch Roy Medwedjew in seiner Chruschtschow-Biographie zu einer positiven Würdigung, auch angesichts der Erfahrungen in der Zeit Breschnews: Bei all seinen Mängeln sieht er Chruschtschow als den einzigen Mann aus Stalins Umgebung, der fähig war, diesen Wandel einzuleiten. „Wir haben viel von Chruschtschows Fehlern gesprochen, aber während er an der Macht war, wurden in der UdSSR fast zwanzig Millionen Menschen rehabilitiert. Allein diese Tatsache wiegt alle Mängel und Versäumnisse Chruschtschows auf der Waage der Geschichte auf.“ 83 Auch wenn Chruschtschow gestürzt wurde, so war der Weg zurück zu Stalin versperrt. Georg von Rauch kommt bei der Bewertung der Chruschtschowschen Periode der sowjetischen Geschichte zu einem ähnlichen Urteil wie Medwedjew: „Aber auch der Weltkommunismus wurde in diesen Jahren Wandlungen unterworfen, die die bipolare Weltstruktur aufbrechen konnten. Ost Chruschtschow, Sergej, Nikita Chruschtschow. Marionette des KGB oder Vater der Perestroika. München 1991, S. 506. 81 Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 76. 82 Kölm, Lothar, Nikita Chruschtschow, Ein Reformer auf verlorenem Posten oder der „Wille zur Macht“. In: Bergmann, Theodor, Mario Keßler (Hg.), Ketzer im Kommunismus. Alternativen zu Stalinismus. Mainz 1993, S. 234. Siehe auch: Smith, Jeremy, Melanie Ilic, Eds., Khrushchev in the Kremlin. Policy and government in the Soviet Union, 1953-1964.London, New York 2011/2013. Die Autoren haben aber Gorbatschow nichtverstanden. 83 Medwedjew, Roy, Chruschtschow. Eine politische Biographie, S. 352. 80

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und West waren in Bewegung geraten, die starren Fronten aufgelockert, die Möglichkeiten politischer Entscheidungen erhielten einen differenzierten Charakter. Auch auf internationalem Felde war eine Rückkehr zur Illusion der ‚One World‘ von 1945, auch zu den starren Fronten des Kalten Krieges, undenkbar. Mit diesen Tatsachen mussten auch Chruschtschows Nachfolger rechnen.“ 84

1.3 Bewegung in der Stagnation. Die Zeit Breschnews Am 15. Mai 1965 fand in der Fakultät für Angewandte Mechanik und Mathematik der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) ein dem Dichter Osip Mandelstam gewidmeter Abend statt. Varlam Schalamov trug dabei seine Erzählung „Cherry Brandy“ vor unter dem Titel „Tod des Dichters“ (Smert‘ poeta). Den Abend moderierte Ilja Ėrenburg, im Saal saß Nadeschda Mandelstam. 85 Aber erst im Jahr 2006 wurde Wsewolod Petrows Erzählung „Die Manon Lescaut von Turdej“ veröffentlicht. Im hochinteressanten interpretierenden Nachwort schreibt Oleg Jurjew: „Sein Text, eine kleine Novelle, die höchstwahrscheinlich von Panowas Weggefährten angeregt wurde, blieb zu Lebzeiten des Autors unveröffentlicht. Auch nach seinem Tod musste sie beinahe drei Jahrzehnte auf das Licht der Öffentlichkeit warten, obwohl der Autor sie nie verheimlicht hatte: Er las aus ihr seinen Gästen vor, z.B. an seinen Geburtstagen, er zeigte sie einigen Bekannten. Er versuchte nur nicht, sie zu veröffentlichen. Warum? Weil er das für sinnlos hielt? Aus Ekel vor den Barbaren in den damaligen Redaktionen? Aus der klaren Erkenntnis heraus, dass diese kleine Novelle Inhalte transportierte, die mit der Sowjetliteratur nicht kompatibel waren – stilistisch, philosophisch und auch politisch?“ 86 Jurjew macht auf diese Situation der zwei nebeneinander existierenden Literaturen aufmerksam. Neben der „offiziellen“ existierte die andere Kultur, „für das breite Publikum unsichtbar. Existent war sie nur für einen sehr engen Kreis, für die Menschen, die selbst an der russischen Moderne aktiv teilgenommen hatten, d.h. aus der Epoche stammten, die in der russischen Kulturgeschichte den Namen ‚das Silberne Zeitalter‘ trägt (im engeren Sinne die Jahre 1900 bis 1910), und für die Jüngeren, die sich von der Atmosphäre dieser Epoche fasziniert und angelockt fühlten. Neben einer normalen Karriere, einem normalen Sowjetbürgerleben (Schule, Uni, Arbeitsstelle, Elend der Gemeinschaftswohnungen, Mangel an allem

Rauch, Georg von, Geschichte der Sowjetunion. 8., verb. und erw. Auflage. Stuttgart 1990, S. 535. 85 Nerler, Pavel, Kraft für das Leben und den Tod. Varlam Šalamov und die Mandel’štams. In: Osteuropa 6/2007, S. 231. 86 Jurjew, Oleg, Kriegsidylle und Liebesutopie. In: Petrow, Wsewolod, Die Manon Lescaut von Turdej. Bonn 2013, S. 107 f. Vera Panowa (1905-1973) erhielt für ihre Erzählung „Weggefährten“ (deutsch 1947) den Stalin-Preis. 84

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Essbaren und Anziehbaren, die überall spürbare Herrschaft der mit entsprechender proletarischer oder bäuerlicher Herkunft ausgestatteten Kulturaufpasser und ihrer gebildeteren Helfer) führten diese eine Art Parallelleben.“ 87 Jurjew verweist darauf, dass Wsewolod Petrow seine Novelle dem „berühmten Lyriker, Romancier und Musiker“ Michail Kusmin gewidmet hat, dessen Leningrader Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung in den 20er und 30er Jahren das Zentrum der „zweiten“, parallelen Kultur gebildet hat. Jurjew schreibt, diese ‚zweite‘ Kultur, die in der Tat aus den ‚Resten der alten Kultur‘ bestand (die sich sehr vorsichtig im Verborgenen reproduzierten, was auch einer der größten Vorwürfe der Propaganda war: Verführung sowjetischer Jugend zu fremdartigen Interessen und Geschmäckern), nahm die ‚erste‘ sehr wohl wahr! Sie konnte es sich nicht wirklich leisten, sie zu ignorieren. Aber sie nahm diese herrschende Kulturumgebung nicht als eine vollwertige Kultur wahr, sondern als eine Zivilisation von Barbaren, „die in den Ruinen der von ihnen zerstörten Prachttempel ihre primitiven Rituale betrieben.“ 88 Es ging also schon nicht mehr um Opposition innerhalb der KPdSU, sondern um alternatives Denken gegen die Politik der KPdSU, damit die Grundlagen des von der Kommunistischen Partei beherrschten Staates selbst. Dabei entstand eine paradoxe Situation, dass gerade dadurch, dass die Sowjetunion die Kontakte mit dem Westen vertiefte, die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme von Dissidenten und westlichen Journalisten zunahmen, damit auch die Opposition im Ausland bekannt wurde, sie ihre Werke publizieren konnte und von da aus, d. h. von außen, wieder politischen Druck auf die eigene Regierung ausüben konnte. Die Regierung reagierte darauf mit Verhaftung, Verbannung, mit Einweisung in psychiatrische Anstalten oder mit Ausweisung aus dem Lande. Dennoch ist erstaunlich, dass Cornelia Gerstenmaier in ihrem Buch „Die Stimme der Stummen“ schon 1972 von der „demokratischen Bewegung in der Sowjetunion“ sprach. 89 Sie zeichnet den weiten Weg auf von der Lagerliteratur über Samizdat zur „Chronik der laufenden Ereignisse“ und zeigt, welche gesellschaftlichen Gruppen und Schichten durch ihre Schriften hervortraten bzw. durch Repressalien betroffen waren. Auch im Sammelband, den Heinz Brahm im selben Jahr herausgegeben hat, ragen zwei Gruppen besonders heraus: die Literaten und die Naturwissenschaftler. Erstaunlicherweise erscheinen sogar einige Offiziere der Sowjetarmee unter der Rubrik demokratische Opposition. Über Widerstandsformen der Arbeiterschaft hat Karl Schlögel geschrieben. 90 Auch ist festzustellen, dass das militärische Engagement der Sowjetunion in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968, schließlich 1979 in Afghanistan sich in zunehmenden Protesten in der sowjetischen Gesellschaft niederschlug. Gerstenmaier schreibt sogar von illegalen Radiosendern und Streiks Jurjew, Oleg, Kriegsidylle, S. 107f. Jurjew, Oleg, Kriegsidylle, S. 108 und 110. 89 Gerstenmaier, Cornelia I., Die Stimme der Stummen. Die demokratische Bewegung in der Sowjetunion. Stuttgart 1972. 90 Schlögel, Karl, Widerstandsformen der Arbeiterschaft in der Sowjetunion (1953-1980). Berlin 1982. 87 88

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von Arbeitern bis hin zu Aufständen mit Toten. Anlass waren hier oft Preiserhöhungen bei gleichzeitiger Heraufsetzung der Arbeitsnorm. In Rostow am Don soll es sogar eine Streikzentrale gegeben haben zur Koordinierung der Aktionen in verschiedenen Städten des Donbas. 91 Der in Polen und Ungarn 1956 laut gewordene Ruf nach größerer Freiheit und geistiger Erneuerung und die durch den XX. Parteitag der KPdSU genährten Hoffnungen auf die Entstalinisierung lösten durch die militärische Niederschlagung des ungarischen Aufstandes einen Schock bei Intellektuellen und Künstlern aus. Als Reaktion darauf versammelten sich in Leningrad Studenten vor dem Winterpalast und riefen „Hände weg von Ungarn!“ In der Folge wurden 4300 Studenten von Leningrader Hochschulen relegiert. Auch in anderen Städten hefteten Studenten kritische Kommentare an die Schwarzen Bretter ihrer Hochschulen. Schließlich, schreibt Gerstenmaier, wurden zahlreiche Studenten aus Leningrad, Moskau und Kiew wegen „staatsfeindlicher Umtriebe“ in die Straflager geschickt. 1958 wurde der zwanzigjährige Student und Schriftsteller Aleksej Dobrowolskij zu drei Jahren Lagerhaft verurteilt, weil er authentische Berichte über den ungarischen Aufstand verbreitet hatte. 92 Wolfgang Eichwede datiert den Beginn der Menschenrechtsbewegung auf den 5. Dezember 1965, 18 Uhr, als sich vor dem Puschkin-Denkmal in Moskau einige Dutzend Menschen versammelten, um ihr „Treffen der Glasnost“(meeting glasnosti) abzuhalten. Auf improvisierten Plakaten wurde gegen konkrete Rechtsverletzungen protestiert und dazu aufgerufen, die „Verfassung – das Grundgesetz der UdSSR“ zu achten. 93 Auf dem Flugblatt stand: „In der Vergangenheit hat die Gesetzlosigkeit Millionen sowjetischer Bürger das Leben oder die Freiheit gekostet. Die blutige Vergangenheit mahnt uns zur Wachsamkeit in der Gegenwart.“ Darin kam sowohl die Berufung auf das Recht zum Ausdruck wie die Erinnerung und Mahnung an die völlige Rechtlosigkeit der Stalin-Zeit. Eichwede schreibt dazu: „In den Augen Jesenin-Wolpins, des Vordenkers der Aktion, sollten die Behörden nicht nur an den eigenen Normen gemessen werden. Vielmehr kam im Zitieren der Verfassung eine Hochschätzung des Rechts zum Ausdruck, die nur vor dem Hintergrund stalinistischer Willkür zu verstehen ist. Das Recht galt ihm als eigentlicher Gegenbegriff zu einer Revolution, in deren Namen immer aufs Neue Gewalt entfesselt worden war.“ 94 Arsenij Roginskij, der Vorsitzende von Memorial, Moskau, kommentiert: „In der Sowjetunion war mithin der gegenwärtige Kampf für staatsbürgerliche Freiheit untrennbar mit dem ‚Kampf um die Geschichte‘ verbunden, mit der Bewahrung und Aufarbeitung der Erinnerung an die Vergangenheit, vor allem an den Stalinschen Terror.“ 95 D. h. jede Hoffnung auf die Etablierung Gerstenmaier, Die Stimme, S. 64f. Gerstenmaier, Die Stimme, S. 62. 93 Eichwede, Wolfgang, Don Quichottes Sieg. Die Bürgerrechtler und die Revolutionen von 1989. In: Osteuropa 2-3/2009, S. 63f. 94 Eichwede, Don Quichotte, S. 64. 95 Roginskij, Arsenij, Erinnerung und Freiheit. Die Stalinismus-Diskussion in der UdSSR und Russland. In: Osteuropa 4/2011, S. 59. 91 92

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demokratischer Strukturen, insbesondere der Rechtssicherheit, begann mit der Forderung nach Offenlegung der Verbrechen Stalins. Roginskij verweist auf die systemsprengende Kraft dieser Forderung, denn sie beruhte über mehrere Jahrzehnte auf der persönlichen Erinnerung, der Erinnerung in der Familie, die auf der Lebenserfahrung der Opfer des Terrors und ihrer Angehörigen beruhte. Sie war latent und wurde als verbotenes oder halbverbotenes Wissen empfunden. Diese Erinnerung wurde nicht ‚plakatiert‘, nicht nach außen getragen, sie blieb im Kreis enger Freunde und Verwandter, und man behütete die Kinder vor ihr. Diese Erinnerung war gegenständlich, faktographisch und äußerst konkret. Eine Analyse oder ein Verstehen gab es kaum. Afanasjew nennt sie „Gegengeschichte“. Er hatte selbst die Verhaftung seines Vaters 1947 erlebt. Erst nach vier Jahren kam er wieder frei und erhielt seine Rechte zurück. 96 Und: „Verhaftung, Gefängnis, das passierte jedem. Damals wurden so viele Menschen verhaftet, dass man nach den Gründen gar nicht mehr fragte. Das gehörte zum täglichen Leben, zur natürlichen Ordnung, wie das Wetter.“ 97 Der zweite Strang bestand in der dissidentischen Reflexion – in Memoiren, deren Autoren es wagten, sie im Samizdat zu veröffentlichen, in Geschichtspublizistik, Übersetzungen westlicher Forschungsarbeiten, Romanen und Gedichten. Leider gab es zwischen diesen beiden Strängen kaum Überschneidungen – außer in der Zeit der Perestrojka.“ 98 Zehn Jahre später erhielten die Proteste bereits eine neue Dimension. Am 25. August 1968 gab es in Moskau eine Demonstration gegen die Invasion in der ČSSR. Bei dieser „Demonstration der Sieben“ wurde ein Transparent enthüllt mit der Aufschrift „Für eure und unsere Freiheit“. 99 Die Moskauer Dichterin N. Gorbanewskaja gab darüber eine Dokumentation heraus. 100 In Ljudmila Ulitzkajas Roman „Das grüne Zelt“ (deutsch 2012) setzte die Autorin den Dissidenten ein Denkmal. Als sie 1970 ihre Arbeit als Genetikerin verlor, solidarisierte sie sich mit den Dissidenten, die ihre Angst überwanden und die Willkürherrschaft des Staates und seiner Unterdrückungsorgane abzuschütteln suchten. Sie bildeten keine einheitliche Bewegung, vertraten unterschiedliche Ziele und nicht selten gegensätzliche Ansichten, aber „sie gaben uns das Verlangen nach Freiheit, das Bewusstsein ihrer Notwendigkeit zurück“, erklärte Ulitzkaja in einem Interview. 101 Die Zeiten hatte sich geändert seit dem XX. Parteitag und der sowjetischen Intervention in Ungarn. Denn nicht nur in Polen und Ungarn, auch in der Tschechoslowakei forderte besonders die Intelligenz innerhalb und außerhalb der Kommunistischen Partei die konsequente Entstalinisierung. Die Proteste gingen einher Afanassjew, S. 80 Afanassjew, S. 80. 98 Roginskij, Erinnerung , S. 59. 99 Hübner, Peter, Die Rolle der Literatur und der Literaten in der sowjetischen Opposition. In: Brahm, Opposition, S. 71; Hans, Julian, Die wahren Patrioten. In: Süddeutsche Zeitung v. 03.03.2015, S. 4. 100 Gorbanewskaja, N., Polden’. Frankfurt am Main 1970. 101 Kasper, Karlheinz, “Manuskripte brennen nicht“, S. 149, Ljudmila Ulickaja, Zelenyj šater. Moskva 2010. 96 97

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mit Überlegungen über eine andere Form des Sozialismus, hin zur Reform nicht nur einzelner Inhalte, sondern des Systems als solchem und mündeten in die Vorstellungen einer Zivilgesellschaft und die politische Transformation des Neo-Stalinismus vom Ende der 50er Jahre in die soziale Demokratie. 102 Von besonderer Bedeutung dabei war die Verwirklichung des Rechtsstaates, d. h. die Unterordnung der Partei unter das Recht und die Herbeiführung politischer Entscheidungen durch Mehrheitsmeinung und nicht durch die Diktatur einer Clique in einer Partei. 103 Indem von verschiedenen Sozialismus-Modellen gesprochen wurde, konnte das Stalinsche System präzise abgegrenzt werden, ohne dass die Kritiker den Boden des Sozialismus theoretisch verlassen mussten. So wurde von Jiři Cvekl der Neo-Stalinismus definiert: „Es ist ein politisch-ideologisches System, das, da es sich auf die Lehren von Marx und Engels beruft, den Sozialismus auf einige seiner Voraussetzungen reduziert (Soziales Eigentum über Produktionsmittel, die Rolle der Arbeiterklasse, die Diktatur des Proletariats, die Führung durch die Kommunistische Partei) und sich faktisch stützt auf die industrielle Basis einer Großproduktion vom Typ des 19. Jh..“ Der Stalinismus stelle die Interessen des Staates über die der Gesellschaft, indem er die Partei mit dem Staat verbinde und verschmelze, durch rigiden Zentralismus, durch die bürokratische Herrschaft, durch Reduzierung der demokratischen und Menschenrechte, durch das politische Monopol einer einzigen Partei und ein streng hierarchisches System von Autorität und Macht, in dem die letzte Entscheidung über jedes wichtige Detail durch wenige an der Spitze getroffen werde, ohne Beteiligung der anderen Bereiche der Gesellschaft und ohne reale Chance unabhängige Vorstellungen zu formulieren, auszudrücken und zu verteidigen. 104 Im Rückblick schreibt Ota Šik: „Wir hatten erkannt, dass das sozialistische System in seinen traditionellen Grundzügen völlig fehlgeraten war – dass die Partei, die Regierung, der Staat dem Volk fremd geworden waren; die Wirtschaft und die ganze Gesellschaft bis ad absurdum bürokratisiert waren; die Effektivität der Wirtschaft immer geringer wurde und hinter westlichen Industrieländern mehr und mehr zurückblieb; die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen beständig nicht befriedigt werden konnten; die Nichtexistenz demokratischer Wahlen und Kontrollen die unfähigsten Anpasser, die der Parteiapparat aussuchte, emporsteigen ließen; die Kultur polizeilich gegängelt und schikaniert wurde und sich nicht frei entfalten konnte; alle Zukunftsversprechungen der Novotný-Führung nur leere Phrasen waren, die am tschechoslowakischen Volk wirkungslos abprallten.“ 105 Auch das Buch von Milovan Djilas „Die neue Klasse“ zirkulierte in Prag in tschechischer Sprache. 106 Der (sowjetischen) Post-Marx-Interpretation setzte man Kusin, Vladimir V., The Intellectual Origins of the Prague Spring. The Development of Reformist Ideas in Czechoslowakia 1956 – 1967. Cambridge, UK 1971, S. 32. 103 Kusin, The Intellectual Origins, S. 35. 104 Cvekl, ‚Jaký model socialisma?‘ In: Kusin, S. 41. 105 Šik, Ota, Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen. Herford 1988, S. 9f. 106 Kusin, The Intellectual Origin, S. 42. 102

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den jungen Marx entgegen, Marx ohne Marxismus, den Autor der Ökonomischphilosophischen Manuskripte. Dazu kam der Einfluss von außen, des französischen Kommunisten Roger Garaudy, des Österreichers Ernst Fischer, des Italieners Antonio Gramsci und anderer. Von Bedeutung war die Schrift von Ivan Dubsky „Frühe Werke von Karl Marx und Friedrich Engels“ 1958. 107Und unmittelbar vor den Ereignissen von 1968 schrieb Zdeněk Mlynář seinen Essay „Einige Probleme betreffend den Charakter der Politik und den Zustand der sozialistischen Gesellschaft“. 108 Entscheidend für die Entwicklung hin zum Prager Frühling werden die Konferenzen in Liblice angesehen. Auf der ersten, der Linguistik-Konferenz vom Dezember 1960, stellte vor allem Karel Kosik seine „Dialektik des Konkreten“ vor. 109 Die zweite Konferenz wurde von der Tschechoslowakischen Gesellschaft für Literaturwissenschaft am 27. und 28. Mai 1963 durchgeführt. Hier ging es um Kafka, der seinen 80. Geburtstag gefeiert hätte. Besonders Professor Eduard Goldstücker betonte die Aktualität Kafkas auch „für uns“. 110 Die Impulse, die von diesem „Kafka-Jahr“ 1963 ausgingen, sind für die kulturelle und demokratische Entwicklung der Tschechoslowakei gar nicht hoch genug einzuschätzen. 1963 gilt als das Schlüsseljahr hin zu 1968. Über die Frage nach der tschechoslowakischen Identität, eingebettet in die europäische Geschichte und Kultur, wurde der Abstand zur Stalinistischen Interpretation von Geschichte und Gesellschaft immer größer. Und mit der Forderung nach Veränderung des ökonomischen Systems wurde die nach Wandel des politischen immer lauter. Die Sowjetarmee machte all dem – vorerst – am 21. August 1968 ein Ende. Inzwischen waren nicht nur einige mutige Stimmen laut geworden und hatten sich Gehör verschafft, zu denen vor allem das Akademiemitglied Andrej Sacharow gehörte, sondern es war auch eine Infrastruktur der gegenoffiziellen Information entstanden, die allmählich das Problembewusstsein der Bevölkerungsteile erhöhte, die an alternativen Informationen interessiert waren. Hübner nennt sie die „Kontinuität der Nonkonformen“. Der Nonkonformismus und die Opposition – schriebt er –, sind eine reale Kraft geworden, und ein langsamer, aber tiefgreifender geistiger Wandel in der sowjetischen Intelligenz sei im Gange. 111 Sehr aufschlussreich über die Stimmung innerhalb des Zentralkomitees ist der Bericht von Arbatow, seit Dezember 1967 Direktor des USA-Instituts der Akademie der Wissenschaften, dem sich die Nervosität der KPdSU-Führung mitteilte. Dubsky, Ivan, Raná tvorba Karla Marxe a Bedřicha Engelse. SNPL, Prague 1958. Mlynář, Zdeněk, Někotoré problémy charakteru politiky a státu v socialistiské společnosti. Pravnik, October 1967; Kusin, S. 47. 1980 schrieb Mlynář „Die Vorstellungen der KPTsch im Jahre 1968 zur Entwicklung des sozialistischen Systems. In: Bergmann, Theodor, Mario Keßler (Hg.), Ketzer im Kommunismus – Alternativen zum Stalinismus. Mainz 1993, S. 339-354, 109 Kosik, Karek, Dialektika Konkrétniho. ČSAV Praha 1965. 110 Kusin, S. 65. 111 Hübner, Die Rolle der Literatur, S. 66 f.; Steininger, A., Literatur und Politik in der Sowjetunion nach Stalins Tod. Wiesbaden 1965. 107 108

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„Ich erinnere mich an das Plenum des Parteikomitees der Stadt Moskau im Februar oder März 1968, an dem Breschnew teilnahm. Die Verschärfung auf den Gebieten der Ideologie und Kultur wurde dort offen proklamiert, offensichtlich unter dem Einfluss der Entwicklung in der Tschechoslowakei. Die Dissidentenbewegung ist wahrscheinlich in dieser Periode entstanden. Ein weiteres neues Wort kam zu dieser Zeit auf: podpisant (‚Unterzeichner‘); das war ein Etikett, das man Leuten aufklebte, die Briefe und Petitionen zur Verteidigung von Menschen unterzeichneten, welche verfolgt wurden, oder um zu erreichen, dass Bücher veröffentlicht wurden, die von der Zensur unterdrückt worden waren.“ In der Zeit nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei stellte er fest, dass eine erstaunlich große Anzahl von Mitgliedern der Intelligenzija, darunter Kommunisten, die er vorher als völlig orthodox angesehen hatte, seine Gefühle teilten. Und auch er sieht in der Intervention 1968 einen noch zerstörerischen Effekt als die Ereignisse in Polen und Ungarn im Jahre 1956. 112 Diese Intervention wurde als der definitive Abschied von allen Hoffnungen auf eine grundlegende Erneuerung der sozialistischen Systeme aus sich selbst heraus empfunden. Der Staatssozialismus als Perspektive war tot. 113 Das Jahr 1968 ist also, nach dem Jahr 1956, als Chruschtschow mit Stalin abrechnete, die zweite Zäsur in der Geschichte der Sowjetunion. Die KPdSU hatte die Chance verpasst, sich endgültig von Stalin abzuwenden und sich an die Spitze der Reformen zu stellen. „Hier wurde etwas vernichtet, was möglicherweise dem Sozialismus im 20. Jahrhundert eine Überlebenschance eröffnet hätte. Nach Prag war das Wort Reform ein rotes Tuch für die politische Klasse in Moskau.“ 114 Von nun an befand sie sich in der Defensive, und die Gewichte verlagerten sich hin zur Suche nach Alternativen zum System selbst. Am 25. August 1968 hatte General Petr Grigorenko auf dem Roten Platz in Moskau mit anderen Oppositionellen gegen die Intervention der Sowjetunion in die ČSSR demonstriert. In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre verlagerte sich das Gewicht der bis dahin ausschließlich literarisch hervorgetretenen Autoren hin zur Oppositionsbewegung, so W. Bukowskij, W. Batschew, W. Delone, A. Dobrowolskij, N. Gorbanewskaja, L. Gubanow, A. Jessenin-Wolpin, W. Ossipow und Ju. Wischnewskaja. Es erschienen in Moskau die Hefte „Tschu!“ (Horch!) und „Sfinksy“ (Sphinxen), dazu die SMOG-Publikationen, herausgegeben von W. Tarsis (Smelost‘, Mysl‘, Obraz, Glubina = Mut, Idee, Form, Tiefe). Seit 1968 erschien die Untergrund-Informationszeitschrift „Chronik derlaufenden Ereignisse“, die alle zwei Monate über die Verfolgung Andersdenkender in der Provinz berichtete. Die „Chronik“ wurde zum Informationsblatt der demokratischen Bewegung in der

Arbatow, Das System, S. 155ff. Eichwede, Don Quichotte, S. 64. 114 Fjodorow, Rafal P., Wohin geht Russland? Eine Nation am Scheideweg. Bonn 1993, S. 46. 112 113

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Sowjetunion. 115 Sie berichtete bis 1982 in 64 Ausgaben über Tausende von Rechtsverletzungen. 116Sie besaß sogar Informanten im ZK der KPdSU, wie sich bei einer Nachricht zu einem Stalin-Artikel zu dessen 90. Geburtstag am 21. Dezember 1969 herausstellte. 117 Wissenschaftler und Künstler traten der spürbaren Begrenzung der individuellen Freiheiten entgegen. Diese engagierten Intellektuellen kümmerten sich vor allem um Antwort auf Beschwerden, die an die Deputierten des Obersten Sowjets gerichtet waren. Sie verfassten auch Petitionen, in denen sie die Streichung von Artikeln mit politischem Charakter aus dem Strafgesetzbuch forderten. 118 Da half auch nicht, dass KGB-Chef Jurij Andropow in den 70er Jahren Regimekritiker des Landes verwies wie Alexander Solschenizyn, unter Hausarrest stellte wie Andrej Sacharow, der 1968 sein erstes Memorandum an die Parteiführung gerichtet und 1971 erneut eine Liberalisierung der Kulturpolitik gefordert hatte, 119 oder mit einem Auslandsreise-Verbot belegte wie Mstislaw Rostropowitsch, der sich in einem Brief an Breschnew für Solschenizyn eingesetzt hatte. Immerhin konnte die jüdische Bevölkerung zeitweise dem inneren Druck durch Ausreise entgehen. 120 Mstislaw Rostropowitsch, Swjatoslaw Richter und David Oistrach hatten das Silvesterkonzert 1970/71 im Moskauer Konservatorium aus Protest gegen die Behandlung Solschenizyns platzen lassen. Afanasjew spürte, dass die Ruhe in der Gesellschaft eine beunruhigende Atmosphäre der Agonie in sich barg. „Andrej Amalrik, Wladimir Bukowskij, Alexander Sinowjew, Andrej Sinjawskij, Andrej Sacharow, Alexander Solschenyzin und andere riefen es in die ganze Welt hinaus.“ 121 So erschienen 1969 in Zürich die Protestschreiben Solschenizyns an den IV. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller. So klagt er im Brief vom 16. Mai 1967: „Da ich keinen Zugang zum Rednerpodium des Kongresses habe, bitte ich den Kongress zu erörtern: Jene nicht weiter zu tolerierende Unterdrückung, der unsere Literatur Jahrzehnt um Jahrzehnt seitens der Zensur ausgesetzt ist und mit der sich der Schriftstellerverband hinfort nicht abfinden kann. Die von der Verfassung nicht vorgesehene und daher illegale, nirgends öffentlich (mit Namen) genannte Zensur lastet unter der verhüllten Bezeichnung ‚Glawlit‘ auf unserer künstlerischen Literatur und verübt an den Schriftstellern die Willkür literarischer Analphabeten.“ 122

Tarnow, Alexander von, Demokratie in der Illegalität. Die „Chronik“ der laufenden Ereignisse – Ein Untergrund-Informationsblatt der Sowjetunion. Stuttgart 1971. 116 Eichwede, S. 64. 117 Tarnow, S. 15. 118 Afanassjew, S. 171. 119 Rauch, Georg von, Geschichte der Sowjetunion. 8. Aufl. durchgesehen und ergänzt von Wolfgang Geierhos. Stuttgart 1990, S. 562. 120 Siehe dazu: Smola, Klavdia, Nonkonforme jüdische Literatur. In: Osteuropa 7/2011, S. 6180. Smola spricht von der Geburt einer jüdischen Kontrakultur in der zweiten Hälfte der 60er Jahre. 121 Afanassjew, Russland, S. 168. 122 Solschenizyn, Alexander, Von der Verantwortung des Schriftstellers. Zürich 1969, S. 29. 115

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Schmidt-Häuer und Mária Huber schreiben, Andrej Sacharows Musterprogramm, das er im März 1970 zusammen mit Roy Medwedjew und W. F. Turtschin der sowjetischen Führung empfohlen hatte, lese sich stellenweise so, als stamme es aus den heutigen (d. h. 1987) Reformvorhaben: 123 Die neuen technischen Möglichkeiten (Fotokopien, Tonbandgeräte, Untergrundsender, Telefon) erleichterten die Verbreitung von Informationen. Neben den im Inland verteilten Exemplaren der Samizdat-Literatur entstand allmählich, vermittelt auch durch in Moskau akkreditierte ausländische Journalisten, die „Tamizdat“-Literatur, d. h. im Ausland gedruckte Schriften, die ihren Weg in die Sowjetunion fanden und im Untergrund zirkulierten. Kopelew schreibt z. B.: „Wenn man die wirklichen Samisdat-Auflagen kennen würde, glaube ich, dass die ‚Marschroute‘ (von Jewgenia Ginsburg – W. G.) eine der ersten Stellen einnehmen würde. Das Manuskript kam in den Westen. 1967 brachte der italienische Verlag Mondadori das Buch gleichzeitig in Italienisch und Russisch heraus. Viele Kapitel wurden von der BBC gesendet.“ 124 Kaum war Chruschtschow gestürzt, tauchte im Laufe des Jahres 1965 das Reizwort „Stalin“ wieder in Aufsätzen, Memoiren und Reden in einem positiven Sinne auf. Nachdem Breschnew Stalin in einer Rede zum 20. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland positiv erwähnt hatte, und Gerüchte über eine bevorstehende Stalin-Rehabilitierung auf dem 23. Parteitag (März-April 1966) die Runde machten, formierte sich, auch unter dem Eindruck des Prozesses gegen Sinjawskij und Daniel, Widerstand. Am 5. Dezember 1965, dem Tag der sowjetischen Verfassung, fand eine 200-köpfige Demonstration in Moskau zugunsten der Angeklagten statt. Seitdem gab es jedes Jahr in Moskau am 5. Dezember eine Demonstration für die Einhaltung der Rechts- und Verfassungsgarantien in der UdSSR. Am 25. März 1966, dem 13. Todestag Stalins, warnten fünfundzwanzig bedeutende Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur, darunter die Schriftsteller W. Katajew, W. Nekrassow, K. Paustowskij, B. Sluzkij, K. Tschukowskij, W. Tendrjakow, die Primaballerina des Bolschoj-Balletts, Maja Plisezkaja, der Filmregisseur Michael Romm und der betagte Diplomat Iwan Majskij, und sieben Mitglieder der Akademie der Wissenschaften, darunter die Akademiker Kapiza, Sacharow und Tamm, in Briefen an Generalsekretär Breschnew und die Delegierten des XXIII. Parteitages vor den innersowjetischen und internationalen Folgen einer Stalin-Rehabilitierung. 125 Und ihre Eingabe hatte Erfolg. Die Proteste aus Anlass des Prozesses gegen Sinjawskij und Daniel erreichten eine neue Qualität der Opposition. Denn nun wurden nicht nur vor dem Prozess schon Protestschreiben an Ministerpräsident Kosygin geschickt, auch im Gerichtssaal traten Zeugen und Verteidiger zugunsten der Angeklagten auf, und nach dem Prozess bezeichneten zweiundsechzig bekannte Literaten in einem Schreiben an das Präsidium des 23. Parteitages das Urteil als ‚außerordentlich gefährlichen Schmidt-Häuer, Huber, S. 29. Kopelew/Orlowa, Am Ende der Gratwanderung, S. 498. 125 Hübner, S. 77f. 123 124

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Präzedenzfall‘. „Die Kunst entzieht sich der juristischen Formulierung“, sagte Sinjawskij in seinem Schlusswort. 126 A. Ginsburg stellte ein Weißbuch über den Prozess zusammen, das auch ins Ausland gelangte. Als schließlich auch A. Ginsburg und Ju. Galanskow im Januar 1968 der Prozess gemacht wurde, waren die Proteste noch wesentlich intensiver. Auch hier erschien eine Materialsammlung über den „Prozess der vier“ in der Sache Galanskow, Ginsburg, Dobrowolskij und Laschkowa, herausgegeben und kommentiert von Pawel Litwinow. 127 Amalrik schrieb Ende der 60er Jahre: „Nichtsdestoweniger entwickelte der ‚Samizdat‘ nach und nach ähnlich wie die ‚Kultur-Opposition‘ eine neue selbständige Kraft, die man bereits als wirkliche politische Opposition gegen das Regime verstehen konnte oder jedenfalls doch als Keim einer politischen Opposition. Sie ist eine allgemeine Bewegung, die sich selbst Demokratische Bewegung nennt. Aus folgenden Gründen kann sie als neue Etappe des Widerstands gegen das Regime und als politische Opposition angesehen werden: 1. Ohne sich die festumrissene Form einer Organisation zu geben, versteht und apostrophiert sie sich als eine Bewegung, die Führer und Aktivisten hat und sich auf eine beträchtliche Anzahl von Gesinnungsgenossen stützt. 2. Sie steckt sich ganz bewusst bestimmte Ziele und bedient sich einer bestimmten Taktik, wobei allerdings das eine wie das andere reichlich verschwommen ist. 3. Sie wünscht sich öffentlich in der Legalität zu arbeiten und bemüht sich auch um Öffentlichkeit, wodurch sie sich von den kleinen wie auch von den großen Untergrundgruppen unterscheidet.“ 128 Amalrik nennt einige Gruppen, denen geheime Prozesse gemacht wurden: Neben den Gruppen Krasnopewzew-Rendel (1956) Ossipow-Kusnezow (1961) und der Gruppe „Kolokol“ (Die Glocke, 1964) aus der Chruschtschow-Zeit, die Gruppe Dergunow (1967), den Allrussischen Sozial-Christlichen Verband zur Befreiung des Volkes (1967/68) etc. Nicht nur Turgenews Erzählung „Nakanune“ (Am Vorabend) wurde zum Vergleich mit der Situation in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts herangezogen, im Namen „Kolokol“ knüpfte man an Alexander Herzens (1812-1870) und Nikolaj Platonowitsch Ogarews (1813-1877) Schrift, die sie im Exil 1857-1867 herausgegeben hatten, an. Beide wiederum hatten sich in der Tradition der Dekabristen gesehen. Auch die literarische Kritik konnte sich auf die Tradition des 19. Jahrhunderts berufen. „Mit Rücksicht auf die Zensur musste der Kampf gegen die herrschende soziale und politische, geistige und religiöse OrdForschungsstelle Osteuropa, Samizdat. Alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa: Die 60er bis 80er Jahre. Bremen 2000, S. 204. Der CIA hatte dem KGB die Pseudonyme von Sinjawskij und Daniel (Nikolaj Arshak und Abram Terz) verraten, um in der Öffentlichkeit von den Bombardierungen Vietnams abzulenken. Jewtuschenko, Jewgenij, Der Wolfspaß. München 2002, S. 257f. 127 Forschungsstelle Osteuropa, Samizdat, S. 205; Stephan, Anke, Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen. Zürich 2005, S. 281ff. 128 Amalrik, Andrej, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Ein Essay. Zürich 1970, S. 12f. 126

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nung in Form einer alle Maße sprengenden Literaturkritik – Dobroljubows ‚Rezensionen‘ eines einzigen Werkes umfassten mitunter hundert und mehr Seiten – und in ‚figürlicher Sprache‘ (Dobroljubow) erfolgen. Man musste über Literatur und Kunst schreiben, wenn man über Politik und Gesellschaft etwas sagen wollte“, schrieb Günther Stökl. 129 Auch Marshall S. Shatz vergleicht die Situation der siebziger Jahre mit der im zaristischen Russland ein Jahrhundert früher. 130 Aber mehr noch als das zaristische Regime des 19. Jahrhunderts befand sich das bolschewistische des 20. Jahrhunderts in der Falle, geriet es doch durch die Verfolgungsmaßnahmen, die nur neue Proteste erzeugten, in die Defensive. Und die Proteste waren seit 1966 lawinenartig angewachsen. 131 Auffallend ist, dass immer mehr Naturwissenschaftler sich an den Protesten beteiligten, sie letzten Endes die Entlassung aus der Nervenheilanstalt des bekannte Biologen, Gerontologen und Genetikers Sch. Medwedjew erreichten, aber auch Nachkommen berühmter Schriftsteller, so Sergej Jesenins Sohn A. Jesenin-Wolpin, oder Litwinows Enkel Pawel Litwinow sich dabei engagierten. 132 Als Wladimir Bukowskij ausländischen Psychiatern eine Dokumentation über die Einweisungsgutachten und Behandlungsmethoden sowjetischer Psychiater mit der Bitte um fachliche Stellungnahme übersandte, 133 wurde er zu sieben Jahren Freiheitsentzug und fünf Jahren Verbannung (Maximalstrafe nach § 70 des russischen SGB) verurteilt. Für fünfzehn Monate in der Psychiatrie landete auch General Petr Grigorenko, bis er schließlich während eines Genesungsaufenthaltes im Ausland im Februar 1978 seine Ausbürgerung aus der Sowjetunion erfuhr. 134 Als asymmetrischen Dialog kann man die Form der Kommunikation bezeichnen, die sich zwischen den Dissidenten und den Führern der KPdSU entwickelte: Auf der einen Seite Protestschreiben und Demonstrationen, auf der anderen Seite Verhaftung, Verurteilung, Einweisung in die Psychiatrie, gelegentlich auch Abschiebung ins Ausland. Doch allmählich verschoben sich die Gewichte in diesem ungleichen Dialog. Da die Hoheit über alle Medien in der Hand der KPdSU lag, gaben die öffentlich im Inland wie im Ausland bekannt gewordenen Proteste nicht das wahre Ausmaß oppositionellen Denkens wieder. Auch muss man sich vor der Gefahr des Überinterpretierens der oppositionellen Stimmen hüten. Dennoch dürfen die Dissidenten als Persönlichkeiten wie in ihren Forderungen nicht zu gering bewertet werden. Ein ganz besonderes Beispiel dafür ist Lew Kopelew, der fast zehn Jahre in Lagern und Gefängnissen wegen „Mitleid mit dem Feind“ verbracht hatte. In der Zeit des politischen Tauwetters veröffentlichte er zahlreiche Artikel und Bücher und hielt Vorlesungen über deutsche Literatur. Seine Frau Orlowa Stökl, Günther, Russische Geschichte. 4., erw. Aufl. München 1983, S. 569 Soviet Dissent in Historical Perspective, S. 138ff. 131 Hübner, S. 79. 132 Medvedev, Ž., R. Medvedev, Kto sumasšedšij? London 1971. 133 Opposition. Eine neue Geisteskrankheit in der Sowjetunion? Eine Dokumentation von Wladimir Bukowskij. Hg. Von Jean-Jacques Marie. München 1971. 134 Moskovskaja gruppa sodejstvija vypolneniju Chel’sinkskich soglašenij. Obščestvo Memorial (Hg.), Dokumenty Moskovskoj chel’sinkskoj Gruppy 1976 – 1982. Moskva 2006, S. 8. 129

130Shatz,

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berichtet, dass ihn Ende der fünfziger Jahre viele ausländische Schriftsteller in seiner Moskauer Wohnung besuchten, so auch Heinrich Böll, der im September 1962 mit einer Schriftstellerdelegation nach Moskau kam. Zwischen beiden entwickelte sich eine dauerhafte Freundschaft. Die russische Übersetzung des Buchs „Und sagte kein einziges Wort“ von Heinrich Böll erschien danach mit einem Vorwort von Lew Kopelew. Die Zeit des politischen Tauwetters war jedoch bald vorüber, wie Orlowa schreibt. 1964 wurde der künftige Nobelpreisträger Joseph Brodsky wegen seiner sogenannten „parasitären Lebensweise“ verhaftet. Von da an kämpfte Lew Kopelew für Meinungsfreiheit und Menschenrechte. Er schrieb offene Briefe an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei und an die Regierung, in denen er gegen die Verfolgung Andersdenkender protestierte. Er berichtete in ausländischen Rundfunksendern über Haussuchungen, Verhaftungen und über die Schikanen. In der Sowjetunion wurden seine Briefe und Aufrufe im Samisdat („Selbstverlag“) verbreitet. So kam es, dass Kopelew im Mai 1968 aus der Partei ausgeschlossen wurde und seine Arbeit verlor. Als Begründung nannte man „ideologische Diversion“, wegen Protestschreiben gegen die Verfolgung Andersdenkender und wegen eines Interviews mit dem Titel „Ist die Rehabilitierung Stalins möglich?“ für die österreichische kommunistische Zeitschrift „Tagebuch“. Es folgte ein Veröffentlichungs- und Auftrittsverbot. Den geplanten Ausschluss aus dem Schriftstellerverband konnte der Protest Heinrich Bölls bis 1977 hinauszögern. 135 Die Neubewertung Stalins durch die Mannschaft Breschnews lag in der Luft. Mit Spannung wurde deshalb die Herausgabe des 5. Bandes der Philosophischen Enzyklopädie erwartet, der den Buchstaben „S“ enthalten musste. Der 4. Band war schon im Jahr 1967 erschienen. Endlich, 1970, erschien nun der letzte Band. Und er enthielt das Stichwort „Stalin“. Der Autor, L. Suworow, beurteilt Stalin überwiegend positiv. Auf Stalins Rolle im 2. Weltkrieg geht er nicht ein. Immerhin erwähnt er Lenins Warnung vor Stalin in seinem Testament. Dem Charakter der Enzyklopädie entsprechend konzentriert sich der Autor aber auf die theoretischen Arbeiten, erwähnt hier Positives wie den „Kurzen Lehrgang“, aber auch zahlreiche Irrtümer. Dazu gehört die Theorie der Verschärfung des Klassenkampfes nach dem Sieg des Sozialismus, die Bewertung des Verhältnisses von Basis und Überbau in der Schrift „Marxismus und Fragen der Linguistik“, die Bewertung des Eigentums der Kolchose und die Warenproduktion unter den Bedingungen der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. Am Schluss wendet sich der Autor gegen den Versuch, mit den Fehlern Stalins den Sozialismus zu diskreditieren: „Diese Versuche äußern sich sehr häufig in der Behauptung, der Personenkult sei ein zwangsläufiges Ergebnis der Entwicklung des Sozialismus, und die Ursachen für den Personenkult lägen auf dem Gebiet der sozialistischen Ökonomie und Politik, d.h. hätten ihre objektive Ursache im Sozialismus. Diese Grundlagen liegen, nach Orlowa, Marija, Lew Kopelew und sein Wuppertaler Projekt. In: Russen und Deutsche. 1000 Jahre Kunst, Geschichte und Kultur. Essays. Berlin und Moskau 2012, S. 446. 135

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Überzeugung der Ideologen des Antikommunismus und Revisionismus im antihumanistischen, ‚etatistischen‘ Charakter der sozialistischen Gesellschaft. Mit dem Ziel, den tatsächlichen Fortschritt des Sozialismus und der weltweiten revolutionären Bewegung zu entstellen, bemühen sie sich, den Sozialismus mit den Fehlern gleichzusetzen, die Stalin beging.“ 136 Viele der Themen, die die Dissidenten vertraten, tauchten in der Zeit der Perestrojka wieder auf, auch die Personen, vor allem Sacharow. Andrej Dimitrijewitsch Sacharow ist, neben Solschenizyn, der aber 1974 nach Erscheinen des „Archipel GULAG“ ausgewiesen wird 137, die zentrale Figur des oppositionellen Denkens in der Breschnew-Zeit. Ihre Bedeutung wird auch dadurch erhöht, dass beide den Nobelpreis erhielten. Solschenizyn, der Nobelpreisträger für Literatur 1970, hatte Sacharow für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen, den dieser 1975 auch erhielt. Am 31. Oktober 1970 hatte der Cellist Mstislav Rostropowitsch in einem „Offenen Brief“ an die Herausgeber der Zeitungen Prawda, Iswestija, Literaturnaja Gaseta und Sowjetkultur dagegen protestiert, dass Solschenizyn, der zu dieser Zeit bei ihm wohnte, den Nobelpreis nicht annehmen durfte. 1978 erfuhren er und seine Frau Galina Wischnewskaja, die Opernsängerin und Primadonna des Bolschoj-Theaters, in London von der Aberkennung ihrer sowjetischen Staatsbürgerschaft. 138 Nach dem erfolgreichen Protest gegen die Rehabilitierung Stalins nahm der Atomwissenschaftler nun zu aktuellen Problemen der Sowjetunion Stellung. Es folgten mehrere Memoranden an die Partei- und Staatsführung. Aus Anlass des tschechoslowakischen Frühlings 1968 schrieb Sacharow das Memorandum „Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und geistige Freiheit“. Marion Gräfin Dönhoff, die es in DIE ZEIT veröffentlichte, nannte es „das aufregendste Dokument, das seit dem Beginn der Entstalinisierung, also seit Chruschtschows epochaler Rede auf dem XX. Parteikongress, aus der Sowjetunion in den Westen gelangt ist.“ 139 – „Heute liegt der Schlüssel zu einer fortschrittlichen Entwicklung des Regierungssystems zum Wohle der Menschheit in der Freiheit des Geistes“, schrieb Sacharow. „Das ist insbesondere von den Tschechoslowaken verstanden worden, und wir müssen zweifellos ihre mutige und für das Schicksal des Sozialismus und der ganzen Menschheit wertvolle Initiative sowohl politisch als auch durch Verstärkung der wirtschaftlichen Hilfe unterstützen.“ 140 Als Akademiemitglied nahm er die Aufgabe des Wissenschaftlers, die Regierung vor Fehlentscheidungen zu warnen, ernst. Er befand sich hier in einer guten Tradition des Selbstverständnisses der Wissenschaftler. Auch der Physiker P. L. Suworow, L., STALIN. In: Filosofskaja Ėnciklopedija, t. 5. Moskva 1970, S. 124ff. Solschenizyn, Alexander, Der Archipel GULAG. Bern, München 1974. Siehe auch: Das Lager schreiben. Varlam Šalamov und die Aufarbeitung des Gulag. In: Osteuropa 6/2007. 138 Wischnewskaja, Galina, Galina. Erinnerungen einer Primadonna. 4. Aufl. München 1997, S. 465ff, 383. 139 Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle, S. 113. 140 Sacharow, Wie ich mir die Zukunft vorstelle, S. 64. 136 137

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Kapiza, Akademiemitglied, hatte schon in den dreißiger Jahren an Molotow, Schdanow, Stalin und andere Politiker eine Art pädagogische Briefe geschrieben. Unter Chruschtschow setzte er dieses Engagement fort. 1955 schrieb er ihm einen langen Brief, und 1960 verteidigte er in einem Memorandum die Grundlagenforschung. 141 Auch Iwan Chudenko sandte 1964 an Chruschtschow ein Memorandum zum General-Umbau der sowjetischen Landwirtschaft. 142 Chruschtschow hatte das nicht mehr gelesen. Heute muten Sacharows Thesen modern an, damals waren sie bahnbrechend. Er sieht die Menschheit durch die Gefahr eines Atomkrieges gefährdet und fordert deshalb systemübergreifende Zusammenarbeit und geistige Freiheit. Seine Bestandsaufnahme der Sowjetunion im Jahr 1973 hätte treffender nicht ausfallen können: „Bevor ich weitergehe, möchte ich einige Worte darüber sagen, warum mir die Verteidigung politischer Gefangener, die Verteidigung der Meinungsfreiheit so überaus wichtig erscheint. Unser Land ging sechsundfünfzig Jahre lang den Weg schwerer Erschütterungen, Leiden und Erniedrigungen, physischer Vernichtung von Millionen der Besten in moralischer und intellektueller Hinsicht, Jahrzehnte staatlicher Heuchelei und Demagogie, inneren und äußeren prinzipienlosen Anpassens an die jeweiligen Verhältnisse. Die Epoche des Terrors, als einem jeden Folter und Sonderkonferenzen drohten, als man die ergebensten Diener des Regimes einfach zur Erfüllung des Plansolls und zur Erzeugung einer Atmosphäre von Angst und Unterdrückung festnahm, ist hinter uns. Doch wir leben noch immer in der damals entstandenen geistigen Atmosphäre. Gegen die wenigen, die sich dem herrschenden Kompromisslertum nicht unterwerfen, ergreift der Staat wie früher Repressalien. Die größte und entscheidende Rolle zur Aufrechterhaltung dieser Atmosphäre innerer und äußerer Unterwerfung spielt neben gerichtlichen Repressalien die Staatsgewalt, die alle ökonomischen und sozialen Schalthebel in ihren Händen hat. Das hält mehr als alles andere Seele und Leib der meisten Menschen in unvorstellbarer Abhängigkeit.“ 143 Es ist ein anderes Verständnis von Staat und Gesellschaft, das aus Sacharows Worten spricht. Bei ihm ist der Staat nicht Beute der KPdSU, sondern es ist der Staat der Bürger, aller Bürger, und das ist das Neue. Aus der Partei spricht noch der Geist des Sich-Einmauerns, Abschottens, des Sich-Verteidigens gegen „Feinde“, die überall gesehen werden, aus Sacharow die Einsicht, dass ein solches Denken in die Sackgasse, zur Erstarrung, Stagnation und zur Unberechenbarkeit führt. Umso besorgter schreibt er an die Führer von Partei und Staat – und erhält keine Antwort. Arbatow erinnert sich an diesen Vorfall: „Im Herbst 1967 wurde er (d.h. Breschnew), glaube ich, zum ersten Mal mit den Aktivitäten Andrej Sacharows direkt

Beyrau, Dietrich, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917 bis 1985. Göttingen 1993, S. 211. 142 Yanov, The Drama of the Soviet 1960s. A Lost Reform, S. 116f. 143 Sacharow, In eigener Sache. In: Sacharow, Stellungnahme, S. 28f. 141

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konfrontiert. Das stand, soweit ich mich erinnere, in Zusammenhang mit Sacharows erstem Brief an ihn. Breschnew sagte zu, dass er Sacharow empfangen würde, delegierte aber unglücklicherweise dieses Treffen an Suslow, der die Zusage nicht einhielt. Ich bin mir nicht sicher, dass ein Treffen mit Sacharow ein positives Ergebnis gebracht hätte, was die Aufklärung der Führung angeht, oder ob es Sacharow die langen Jahre der Verfolgung erspart hätte. Aber ich hatte doch das Gefühl, dass eine Chance verpasst worden war.“ 144 Am 19. März 1970 richtet Sacharow, gemeinsam mit W. F. Turtschin und R. A. Medwedew, „Vorschläge zur Demokratisierung des öffentlichen Lebens in der Sowjetunion“ an das Zentralkomitee der KPdSU, an L. I. Breschnew, an den Ministerrat der UdSSR, an A. N. Kosygin, an das Präsidium des Obersten Sowjet der Sowjetunion, an N. W. Podgornij. 145 Darin fordert er die schrittweise Demokratisierung, ohne sie werde die Gesellschaft nicht imstande sein, die vor ihr liegenden Probleme zu lösen und sich normal zu entwickeln. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Bestandsaufnahme der Wirtschaft der Sowjetunion. Sie habe die zweite industrielle Revolution, d. h. die Computerisierung, verschlafen: „Woran liegt das? Warum haben wir es nicht nur versäumt, Bahnbrecher der zweiten industriellen Revolution zu werden, sondern uns sogar als unfähig erwiesen, in dieser Revolution mit den entwickelten kapitalistischen Ländern Schritt zu halten? Verfügt das sozialistische System etwa über schlechtere Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktionskräfte als das kapitalistische? Siegt im wirtschaftlichen Wettstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus etwa der Kapitalismus? Natürlich nicht! Die Ursache unserer Schwierigkeiten liegt nicht im sozialistischen System, sondern im Gegenteil, in jenen Besonderheiten, in jenen Umständen unseres Lebens, die dem Sozialismus entgegenwirken und ihm feindlich gesinnt sind. Diese Ursache ist in den antidemokratischen Traditionen und Normen des gesellschaftlichen Lebens zu sehen, die in der stalinistischen Ära entstanden und bis auf den heutigen Tag noch nicht endgültig ausgemerzt worden sind. Man hat sich bei uns angewöhnt, außerwirtschaftlichen Zwang, Beschränkung des Austausches von Informationen, Beschränkung der geistigen Freiheit und andere antidemokratische Auswüchse, die unter Stalin geschahen, gewissermaßen als Kostenbeitrag für den Industrialisierungsprozess zu betrachten. Man tut, als ob sie die Wirtschaft des Landes nicht ernstlich beeinflussten, obwohl sie doch die schwerstwiegenden Folgen hatten, – Folgen im politischen und militärischen Bereich, aber auch Folgen für das Schicksal breiter Bevölkerungsschichten und ganzer Völkerschaften.“ 146 Sacharow verweist also auf die Relikte des Stalinismus in der Wirtschaft wie in der Gesellschaft. Sie schränken die geistige Freiheit ein, ohne sie gibt es aber keine moderne ökonomische Entwicklung. Und wer behindert den Fortschritt? In der Antwort kommt er zum gleichen Ergebnis wie zwölf Jahre später Saslawskaja in der Nowosibirsker Studie: die Bürokratie und die Herrschaft der Partei. Sacharow Arbatow, Das System, S. 155. Sacharow, Stellungnahme, S. 59-82. 146 Sacharow, Stellungnahme, S. 65f. 144 145

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formuliert noch so: „In dem Maße, wie die wirtschaftlichen Systeme immer größer und komplexer wurden, traten Verwaltungs- und Organisationsprobleme in den Vordergrund. Diese Probleme können nicht durch einige wenige Personen, die an der Macht sind und ‚alles wissen‘, gelöst werden. Sie verlangen die schöpferische Beteiligung von Millionen von Menschen auf allen Ebenen des Wirtschaftssystems. Sie verlangen einen breiten Informations- und Ideenaustausch…Beim Informations- und Ideenaustausch jedoch stoßen wir in unserem Land auf unüberwindliche Schwierigkeiten. Die wahrheitsgetreue Information über Unzulänglichkeiten und negative Erscheinungsformen wird mit der Begründung, dass sie ‚von der feindlichen Propaganda ausgenützt werden kann‘, mit dem Schleier des Geheimnisses umgeben. Der Austausch von Informationen mit dem Ausland wird aus Angst vor dem ‚Eindringen der feindlichen Ideologie‘ eingeschränkt. Theoretische Schlussfolgerungen und praktische Anträge, die irgendjemandem zu kühn erscheinen, werden energisch und gründlichst unterbunden, ohne dass sie auch nur erörtert werden – einfach aus Angst, sie könnten ‚die Basis untergraben‘. Es herrscht ein klares Misstrauen gegenüber schöpferisch denkenden, kritischen, aktiven Persönlichkeiten.“ 147 Die Wirtschaftsreform von 1965, schreibt er, habe schon gute Ansätze gehabt, notwendig seien aber wirtschaftliche „Grundsatzentscheidungen“, d. h. eine Systemreform: „Welch konkretes Problem der Wirtschaft wir auch immer ins Auge fassen, wir kommen sehr bald zu dem Schluss, dass zu einer befriedigenden Lösung die wissenschaftliche Grundsatzentscheidung in allgemeinen Fragen der sozialistischen Wirtschaft unumgänglich ist, wie etwa die Rückkoppelung im Verwaltungssystem, die Preisbildung ohne freien Markt, die allgemeinen Planungsprinzipien und anderes.“ 148 Seine besondere Sorge gilt, berechtigterweise, der Intelligenz: „Dass die Intelligenz nach mehr Freiheit strebt, ist legitim und nur natürlich. Der Staat aber beschneidet dieses Streben durch alle möglichen Einschränkungen, durch administrativen Druck, durch Entlassungen vom Arbeitsplatz und sogar durch gerichtliche Verfahren. Das reißt eine Kluft auf; es hat gegenseitiges Misstrauen und tiefe Verständnislosigkeit zur Folge, was wiederum eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen den Partei- und Regierungskreisen und den aktivsten, das heißt, den für die Gesellschaft wichtigsten Kreisen der Intelligenz schwierig gestaltet. In den Bedingungen der gegenwärtigen Industriegesellschaft, in der die Rolle der Intelligenz ständig wächst, kann man diese Kluft nicht anders als selbstmörderisch bezeichnen.“ 149 Es ist deshalb unzulässig, Schriftsteller wegen ihrer Werke einzusperren, schreibt er. Die Demokratisierung mit ihrer Informationsfreiheit und freiem Wettbewerb solle dem geistigen Leben den schöpferischen Charakter zurückgeben und den „bürokratischen, an ein bestimmtes Ritual sich klammernden, dogmatischen, offiSacharow, Stellungnahme, S. 66f. Sacharow, Stellungnahme, S. 68. 149 Sacharow, Stellungnahme, S. 70. 147 148

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ziell-heuchlerischen und uninspirierten Lebensstil beseitigen, der sich jetzt in unserem ganzen Lebensbereich so breit gemacht hat.“ Diese Demokratisierung von oben erfordert von Partei und Regierung nicht nur einen anderen Arbeitsstil, sondern vor allem größere Öffentlichkeit, Offenlegung und die Bereitschaft, alle Probleme auf breiter Basis zu erörtern.“ 150 Es folgt ein „Musterprogramm“ von Maßnahmen, die innerhalb von vier bis fünf Jahren umgesetzt werden könnten: „Wir schlagen folgendes Musterprogramm von Maßnahmen vor, das in einem Zeitraum von vier bis fünf Jahren verwirklicht werden könnte: 1. Eine offizielle Erklärung der obersten Partei- und Regierungsorgane über die Notwendigkeit einer weiteren Demokratisierung, über Tempo und Methoden ihrer Durchführung. Veröffentlichung einer Reihe von Artikeln in der Presse, in denen die Probleme einer Demokratisierung erörtert werden. 2. Die beschränkte Verbreitung (durch Parteiorgane, Betriebe und Institutionen) von Berichten über die Lage im Lande wie auch die beschränkte Verbreitung theoretischer Arbeiten über gesellschaftliche Probleme, die man zunächst zweckmäßigerweise nicht zum Gegenstand breiter Erörterung machen sollte. Eine schrittweise erweiterte Verbreitung solcher Unterlagen bis zum vollständigen Abbau der Beschränkungen. 3. Eine auf breiter Basis angelegte Organisation von komplexen Produktionseinheiten (Firmen) mit einem hohen Grad von Selbständigkeit in Fragen der Produktionsplanung, der technologischen Entwicklung, des Einkaufs und Vertriebs sowie in Finanz- und Personalfragen. Ausdehnung dieser Rechte auf kleinere Produktionseinheiten. Wissenschaftliche Festsetzung von Form und Umfang der staatlichen Kontrolle aufgrund sorgfältiger Untersuchungen. 4. Beendigung der Störung ausländischer Radiosendungen. Freier Verkauf ausländischer Bücher und Zeitschriften. Beitritt unseres Landes zum internationalen Abkommen zum Schutz der Autorenrechte (und redaktioneller Rechte), stufenweise Erweiterung (in drei bis vier Jahren) und Erleichterung des internationalen Fremdenverkehrs in beiden Richtungen, Erleichterung des zwischenstaatlichen Schriftverkehrs sowie andere Maßnahmen zur Erweiterung internationaler Kontakte, wobei besonderes Gewicht auf die Entwicklung mit den Ländern des RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe) gelegt werden sollte. 5. Schaffung eines Instituts zur Erforschung der öffentlichen Meinung. Eine vorerst begrenzte, dann aber vollständige Veröffentlichung der Unterlagen, die das Verhalten der Bevölkerung zu den wichtigsten Fragen der Innen- und Außenpolitik aufzeigen, sowie auch anderer soziologischer Materialien. 150

Sacharow, Stellungnahme, S. 72f.

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Amnestie politischer Gefangener. Eine Resolution über die obligatorische Veröffentlichung sämtlicher stenografischer Aufzeichnungen von Gerichtsprozessen politischen Charakters. Öffentliche Kontrolle der Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten. 7. Einleitung einer Reihe von Maßnahmen, die die Arbeit der Gerichte und der Staatsanwaltschaft verbessern und deren Unabhängigkeit von der Exekutivgewalt, von lokalen Einflüssen, Vorurteilen und Verbindungen garantieren soll. 8. Abschaffung des Hinweises auf die Nationalität in Pässen und Fragebögen. Ein einheitliches Paßsystem für Stadt- und Landbevölkerung. Schrittweiser Verzicht auf das System behördlicher Eintragungen, der mit einem Ausgleich der territorialen Unterschiede in der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung verwirklicht werden soll. 9. Reformen im Unterrichtswesen. Bereitstellung größerer Geldbeträge für Grund- und Mittelschulen, Verbesserung der materiellen Situation der Lehrer, Betonung ihrer Selbständigkeit und der Eigeninitiative. 10. Annahme eines Presse- und Informationsgesetzes. Garantien, die Gründungen neuer Presseorgane durch öffentliche Organisationen und Gruppen einzelner Bürger ermöglichen. Vollständige Aufhebung der Vorzensur in allen ihren Formen. 11. Verbesserte Ausbildung der administrativen Führungskader. Einführung eines probeweisen Berufspraktikums. Verbesserte Unterweisung der Führungskader aller Ebenen, Erweiterung ihres Rechts auf Selbständigkeit und Eigeninitiative, auf Schutz ihrer Meinungsfreiheit und auf Überprüfung ihrer praktischen Bewährung. 12. Stufenweise Einführung eines neuen Wahlmodus mit Aufstellung mehrerer Kandidaten bei Wahlen in die Partei- und Sowjetorgane aller Ebenen, wobei dies auch bei indirekten Wahlen durchzuführen wäre. 13. Erweiterung der Rechte der Sowjetorgane. Erweiterung der Rechte und der Verantwortlichkeit des Obersten Sowjet der UdSSR. 14. Wiederherstellung des Rechts aller Völkerschaften, die unter Stalin gewaltsam ausgesiedelt wurden. Wiederherstellung der nationalen Autonomie der ausgesiedelten Völker und Ermöglichung der Rücksiedlung in allen Fällen, wo dies bis heute nicht erfolgt ist. 15. Maßnahmen, die darauf ausgerichtet sind, die Öffentlichkeit in der Arbeit der führenden Organe in dem Maß zu vergrößern, wie es die staatlichen Interessen erlauben. Schaffung wissenschaftlicher Konsultativausschüsse (bestehend aus hochqualifizierten Spezialisten verschiedener Fachrichtungen), die innerhalb der Führungsorgane aller Ebenen zu etablieren sind. Dieser Plan ist natürlich als Muster zu betrachten. Es ist auch klar, dass er durch einen Plan wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen ergänzt werden muss, den Fachleute ausarbeiten. Unterstreichen möchten wir, dass eine Demokratisierung

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allein die wirtschaftlichen Probleme noch längst nicht löst, sie schafft bloß die Voraussetzung für ihre Lösung. Doch ohne Schaffung dieser Voraussetzungen sind die ökonomischen und technischen Probleme nicht zu bewältigen….“ „Der vorgelegte Plan zeigt unserer Meinung nach“, schreiben die drei Autoren, „dass es durchaus möglich ist, ein Demokratisierungsprogramm durchzuführen, das für Partei und Staat annehmbar ist und das zunächst die dringendsten Erfordernisse zur Entwicklung des Landes befriedigt. Es ist selbstverständlich, dass eine breite Diskussion und tiefgreifende wissenschaftliche, soziologische, wirtschaftliche, allgemein politische Untersuchungen sowie die Alltagserfahrung wesentliche Änderungen und Ergänzungen mit sich bringen werden. Wichtig ist es jedoch, das ‚Theorem der Existenz einer Lösung‘ zu beweisen, wie die Mathematiker sagen.“ 151 Da dieser Brief ohne Antwort blieb, schrieb Sacharow am 5. März 1971, dem 18. Jahrestag von Stalins Tod, erneut ein „Memorandum“ direkt an den Generalsekretär L. I. Breschnew 152, mahnte eine Stellungnahme zu seinen Vorschlägen an, ergänzte sie durch die Mitteilung, dass er mit den Physikern W. N. Tschalidse und A. N. Twerdochlebow im November 1970 das „Komitee der Menschenrechte“ gegründet habe, sowie die Forderung, die Verwirklichung des in der sowjetischen Verfassung verbrieften Rechtes auf Austritt einer Republik aus der Union auch formal festzuschreiben. Es folgten weitere Briefe an die UNO-Menschenrechtskommission, in denen er sich für verhaftete Bürgerrechtler einsetzte, und zahlreiche Interviews, darunter im SPIEGEL vom 27. September 1973. Hier sagte er, er wolle einen Prager Frühling für die Sowjetunion, aber keinen August. 153 Am 5. Dezember 1973 erhielt er den Internationalen Preis der Menschenrechte. Die Verträge über Rüstungsbegrenzung gingen teilweise auf ihn zurück; er forderte, sie durch innere Reformen abzusichern. (Später folgte Gorbatschow seinem Rat, SDI von den Verhandlungen über Rüstungskontrolle abzukoppeln.) 154 Im Jahr 1974 trat er in den Hungerstreik. Nach Protesten gegen die Invasion der Sowjetarmee in Afghanistan wurde Sacharow am 22. Januar 1980 verhaftet und nach Gorki (heute wie früher: Nischnij Nowgorod) verbannt. Dort musste er unter Aufsicht des KGB leben. 1984 wurde auch seine Frau Jelena Bonner dorthin verbannt. Er arbeitete dort am Entwurf einer neuen Verfassung. 1986 holte Gorbatschow ihn nach Moskau zurück. Neben den oben aufgezeigten Vorschlägen sind zwei weitere von Bedeutung, die zeigen, dass er sich auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Diskussion befand, die Forderung nach einem internationalen Konsultativorgan im Rahmen der UNO, d. h. einem Forum, auf demdie globalen Themen behandelt werden sollten. Im Brief an Breschnew vom 5. März 1971 stellte er deshalb folgende, die Außenpolitik betreffende Forderungen: „3 c) Unterbreitung eines Initiativantrages zur Schaffung eines neuen internationalen Sacharow, Stellungnahme, S. 76f. 1. Memorandum A. Sacharows an L. I. Breschnew. In: Sacharow, Stellungnahme S. 83-99. 153 Sacharow, SPIEGEL-Interview. In: Sacharow, Stellungnahme, S. 144. 154 Lourie, Richard, Sacharow. Biographie. München 2003, S. 522f. 151 152

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Konsultativorgans (im Rahmen der UNO?), eines internationalen ‚Expertenrates für Fragen des Friedens und der Abrüstung, der Wirtschaftshilfe für notleidende Länder, zum Schutz der Menschenrechte und zur Bewahrung der Umwelt‘, der sich aus Fachleuten und unparteiischen Persönlichkeiten zusammensetzt. Der Status des Rates und das Verfahren, das seine Zusammensetzung bestimmt, müssen maximale Unabhängigkeit von den Interessen einzelner Staaten und Staatengruppen gewährleisten. Bei der Frage der Zusammensetzung des Rates und dessen Status ist es wahrscheinlich notwendig, die Wünsche der wichtigsten internationalen Organisationen hinsichtlich des Abschlusses eines zwischenstaatlichen Übereinkommens zu berücksichtigen. Dieses Übereinkommen soll die gesetzgebenden Körperschaften und die Regierungen der einzelnen Länder verpflichten, die Empfehlungen des ‚Expertenrates‘, die öffentlich einsehbar und überzeugend sein müssen, zu prüfen. Die Beschlüsse der nationalen Körperschaften zu diesen Empfehlungen müssen ebenfalls allgemein zugänglich sein, unabhängig davon, ob die Empfehlungen des ‚Expertenrates‘ nun angenommen oder abgelehnt wurden. 155 … 7 c) Verstärkte Maßnahmen zur Lärmbekämpfung, zum Kampf gegen Luftund Wasserverschmutzung, gegen Erosion, Versalzung bzw. Vergiftung des Bodens durch Chemikalien, Verbesserung des Schutzes der Wälder, freilebender Tiere und Haustiere, Erlass von „Verordnungen gegen Tierquälerei.“ 156 Das bedeutet, Sacharow dachte an eine Einrichtung der ‚global governance‘, also eines Expertenrates, der Empfehlungen über globale Probleme wie Umweltverschmutzung, Landwirtschaft, aber auch Abrüstung und Wirtschaftshilfe an die Regierungen wie an die Weltorganisation geben sollte. Es sind Empfehlungen und Mahnungen, wie sie zur gleichen Zeit auch der Club of Rome entwickelte und 1971 in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften in Moskau vorstellte. Gorbatschow hat diese Forderungen später in sein Reformprogramm aufgenommen. 157 Auch der Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn schrieb am 5. September 1973 einen Brief an die Sowjetführung. Nach seiner Ausbürgerung erschien er als „Offener Brief“ im Ausland. 158 Er geht davon aus, dass eine friedliche Entwicklung Russlands noch möglich ist. Das Land aber befinde sich in einer Sackgasse. Es müsse Fortschritt anders definieren, die Agrarstruktur umstellen, die Ideologie den Realitäten anpassen, die Sowjets wieder in ihre ursprüngliche Funktion einsetzen, den Nordosten des Landes erschließen. Aber auch er erhielt keine Antwort. Es ist zu einfach, aus der Erfahrung des Systemwandels unter Gorbatschow nun den Erfolg der Opposition zu konstatieren, da er offenkundig nicht zu leugnen ist. Von Bedeutung aber ist, ihn nun richtig zu gewichten. Zu lange wurde die ReSacharow, Stellungnahme, S. 92. Sacharow, Stellungnahme, S. 96. 157 Hänel, Michael, Zwischen allen Stühlen. Der Mahner und Humanist Andrej Sacharow. In: Osteuropa 2014,11-12, S. 158. 158 Solschenizyn, Alexander, Offener Brief an die sowjetische Führung (September 1973). Darmstadt und Neuwied 1974, S. 5-58. 155 156

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formfähigkeit des Sowjetsystems geleugnet, noch in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, als dass der Historiker nun umgekehrt die Rolle der Dissidenten im Reformprozeß besonders betonen könnte. Notwendig ist aber eine Differenzierung. Das betrifft die zeitliche Entwicklung, den personellen Umfang und die inhaltliche Breite der gegen-offiziellen Ansätze. Die Konzentration auf die demokratischen Forderungen grenzt faschistische und nationalistische, von monarchistischen ganz zu schweigen, aus. Dennoch ist festzuhalten, dass Forderungen nach persönlicher Freiheit, Freizügigkeit, kultureller Identität nicht isoliert vom Recht auf Austritt aus der Union gesehen werden können. „Risse im Roten Imperium“ (L’Empire Eclaté. La Révolte des Nations en URSS) 159 überschrieb Carrère d’Encausse ihr berühmtes Buch als Ausdruck der „Risse-Forschung“. (Lew Kopelew hatte schon vorgeschlagen, die Sowjetologie durch eine „Wissenschaft der Risse“ oder, wie er ironisch meinte, „Ritzologie“ zu ersetzen. 160) Dazu kamen aus den Ländern der sowjetischen Hegemonie wichtige Signale, so aus der DDR 1953, aus Ungarn und Polen 1956, aus der Tschechoslowakei 1968 und erneut aus Polen 1980, die große Auswirkungen auf die Entwicklung von Forderungen an die sowjetische Partei- und Staatsführung hatten. Auf der einen Seite versuchte die Opposition sich auf übernationale Rechtsakte abzustützen, so seit 1968 auf die auch von der Sowjetunion 1948 unterzeichnete MenschenrechtsCharta der Vereinten Nationen, 1975 auf die Schlussakte der KSZE, wie die Helsinki-Gruppe seit 1976, in der Tschechoslowakei die „Charta 77“, andererseits ist nicht zu übersehen, dass es auch einen „Marsch durch die Institutionen“ in der Sowjetunion gegeben hat, d. h. alternative Vorstellungen innerhalb der KPdSU. Der tschechoslowakische Vertreter des „Prager Frühlings“, Jiři Pelikán, liegt mit seiner Interpretation von Opposition deshalb nicht verkehrt, wenn er schreibt: „Wenn wir über die politische Opposition oder über die oppositionelle Aktivität in den Ländern des Sowjetblocks sprechen, denken wir dabei begreiflicherweise nicht an eine Opposition im westlichen Sinne des Wortes, das heißt an eine politische Tätigkeit, organisiert in Form von Parteien oder Bewegungen, die legal im Rahmen des Systems als eine Alternative zu den regierenden Parteien wirkt.“ Eine solche oppositionelle Tätigkeit existiere in den Ländern Mittel- und Osteuropas nicht, weil sie durch totalitäre Systeme sowjetischen Typs nicht zugelassen werde. Deshalb benutze die Presse zur Bezeichnung einer Aktivität, die in den Ländern des Sowjetblocks offiziell verboten und deshalb verfolgt wird, den Ausdruck ‚Dissidenz‘. Diese Bezeichnung werde jedoch von vielen, die sie betrifft, abgelehnt, weil sie als restriktiv erachtet werde: Sie beschränke die gesamte reiche Skala der Aktivitäten außerhalb des Rahmens des offiziellen Establishments auf die einfache Carrère d’Encausse, Hélène, Risse im Roten Imperium. Das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion. Wien u.a. 1979. 160 Eichwede, Wolfgang, Archipel Samizdat. In: Samizdat. Bremen 2000, S. 13; die englische Originalausgabe von Crankshaw, Edward, Risse in der Kremlmauer. Stuttgart 1953, „Russia by Daylight“ war schon 1951 in London erschienen. 159

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negative Missbilligung, obwohl im Rahmen dieser Aktivität oft Reformen und positive Maßnahmen vorgeschlagen werden und das herrschende System zu einem konstruktiven Dialog aufgefordert werde. Genau das war die Intention von Sacharow und Solschenizyn. Die Bezeichnung ‚Dissident‘ berge darüber hinaus die Gefahr, sie als ein Anzeichen irgendeiner ‚privaten Missbilligung‘ entweder eines isolierten Einzelnen oder einer Minderheit zu sehen, während diejenigen, die diese Bezeichnung betreffe, sich meist eng verbunden mit der Mehrheit der Bevölkerung fühlten, deren Ansichten und Gefühle sie in ihren Erklärungen und Werken ausdrückten. „Deshalb scheint es zutreffender zu sein, die oppositionelle Tätigkeit in den Ländern des Sowjetblocks als ‚parallele Strukturen‘ oder ‚unabhängige Aktivitäten‘ zu bezeichnen,“ schreibt er, da es sich in Wirklichkeit um eine vielseitige politische, kulturelle, ideologische und ethische Erscheinung handele, die in sich verschiedene Tätigkeitsarten umfasse, die sich ‚parallel‘ zu den vorhandenen offiziellen Strukturen abspielten, jedoch außerhalb von ihnen und von ihnen unabhängig. Ein Charakterzug dieser Gruppen, Bewegungen und Einzelpersonen der ‚unabhängigen Aktivitäten‘ beruhe darin, dass sie nicht nach Macht strebten, sondern zum unabhängigen geistigen, sozialen und politischen Leben der Gesellschaft beitrügen. Es handele sich um Leute, die sich entschieden, wie es der tschechische Schriftsteller und eine der markantesten Gestalten dieser Bewegung in der Tschechoslowakei, Václav Havel, ausdrückte, ‚in Wahrheit zu leben‘ und dementsprechend im Privatleben und in der Öffentlichkeit zu handeln. Bereits durch diese Haltung stellten sie die Grundprinzipien des sogenannten realen Sozialismus in Zweifel, der das absolute Machtmonopol und die Kontrolle über alle Bürger beanspruche. Eben aus diesem Grunde – nicht etwa, weil diese Leute oder Gruppen gegen die Gesetze ihres Landes auftreten – würden sie durch die herrschenden Regime systematisch verfolgt. 161 Und er fragt nach den Wurzeln: „An dieser Stelle müssen wir uns die Frage stellen, aus welchen Wurzeln diese ‚unabhängigen und parallelen Strukturen‘ entstehen und weshalb sie in der letzten Zeit und speziell in gewissen Ländern des Sowjetblocks so um sich greifen.“ Er sieht die ursprüngliche Ursache ihrer Entstehung im Schiffbruch der Versuche um die Reform der Systeme von innen durch die herrschende Partei, durch ihre Initiative oder wenigstens mit ihrer Billigung. Solche Versuche um die Reform ‚von oben‘ spielten sich in Ungarn, in Polen und in der Tschechoslowakei ab, in verschiedenen Formen, in verschiedenem Ausmaß und zu verschiedener Zeit. Die entscheidende Wende für die Entstehung unabhängiger Strukturen sieht er aber in der Niederschlagung des ‚Prager Frühlings‘ im August 1968 durch die sowjetische Intervention: „Der ‚Prager Frühling‘ stellte die günstigsten Bedingungen für die demokratischen Reformen ‚von oben‘ bei einer aktiven Teilnahme breiter Bevölkerungsschichten dar. Obwohl diese Bewegung durch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei geleitet wurde und nicht Pelikán, Jiři, Über die „Opposition“ in den Ländern des Sowjetblocks. In: Meyer, Thomas, Zdeněk Mlynář (Hrsg.), Die Krise des Sowjetsystems und der Westen. Köln 1986, S. 172f. 161

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gegen die strategischen oder ökonomischen Interessen der UdSSR gerichtet war, sah die sowjetische Führung in ihr eine Gefahr für den gesamten Sowjetblock und unterdrückte sie brutal. Deshalb ging ein ähnlicher Versuch um die Demokratisierung des Systems, zu dem es zwölf Jahre später in Polen kam, vor allem ‚von unten‘ aus, von der Initiative der Arbeiterklasse … Es sind parallele politische, kulturelle und ökologische Strukturen sowie die im Bereich der Friedensbewegung. Es sind in ihnen alle Schichten der Bevölkerung vertreten, in der letzten Zeit vornehmlich junge Leute.“ 162 Man kann also von Parallel-Gesellschaften in der Sowjetunion sprechen. Wolfgang Eichwede hat ihre Struktur am Beispiel des „Archipel Samizdat“ und auf der Grundlage der umfangreichen Materialien seines Bremer Instituts beschrieben. Nach der Erfahrung des „Prager Frühlings“ versuchte die demokratische Bewegung auf vielfältige Weise, vor allem durch die Samizdat-Literatur, einen „Strukturwandel durch Öffentlichkeit“ zu erreichen, wie Eichwede in Analogie zu Habermas schreibt. Es ging um den „historischen Versuch, über die Schaffung autonomer Öffentlichkeiten und die Initiierung unabhängiger Kontrollmechanismen die herrschenden Mächte in ihrem Charakter zu verändern. In einem modernen Vokabular würde man von Visionen der Zivilisierung sprechen. Und in der Tat: wenn irgendwo in dem geteilten Europa Keimformen der ‚civil society‘ existiert haben, dann waren es die diskutierenden Dissidentenzirkel in Prag oder Leningrad, in Krakau oder Budapest. In ihrem Vertrauen auf die Kraft der Öffentlichkeit und des Beispiels, der Einsicht und des Arguments waren sie ganz und gar Kinder der europäischen Aufklärung. Interessenanalyse und Machtkalkül waren nicht ihre Sache. ‚Anti-Politik‘ hieß ihre Strategie, die freilich durch das, was György Konrád die zentraleuropäische ‚Skepsis‘ nannte, nie den Sinn für Realitäten und Zivilcourage verlor.“ 163 Beyrau widmet sich den Inhalten des Diskussionen in und zwischen den meist illegalen Zeitschriften: „Ein sachlicher Punkt der Auseinandersetzungen vor allem mit Roy Medwedew scheint die Frage über die Reformfähigkeit des Systems und den Grad des notwendigen ‚Drucks von unten‘ gewesen zu sein. Gemeinsam blieb ihnen – wie auch anders gerichteten Periodika – der ‚Kampf um das Recht auf Wahlfreiheit, auf die verlorene Bedeutung des Wortes und des Gegenstandes, … auf ein ganz normales menschliches Leben.“ Er nennt das die ‚Sozialdemokratisierung‘ der Linken. 164 Pelikán, Über die „Opposition“, S.173f. Eichwede, Archipel Samizdat, S. 15; Konrád, György, Antipolitik: Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt am Main 1984. Zur „Chronik der laufenden Ereignisse“ siehe Tarnow, Alexander von, Demokratie in der Illegalität. Die „Chronik der laufenden Ereignisse – Ein Untergrund-Informationsblatt in der Sowjetunion. Stuttgart 1971. Zum Thema „Antipolitik“ siehe Dalberg, Dirk Mathias, Die nichtpolitische Politik. Stuttgart 2013; Dalberg, Dirk Mathias, Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben: Václav Havels Politikbegriff und politische Strategie in den Jahren 1969 bis 1989. Über herkömmliche, technische, nicht- und antipolitische Politik. Stuttgart 2014. 164 Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 242. 162 163

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Die Reaktion der Obrigkeit auf diese Existenz einer Parallelgesellschaft trug wesentlich zu ihrer Ausweitung bei. Durch die Prozesse, die Verbannung, die Ausweisungen verhalf sie selbst zur Publizität, durch ihre Intoleranz trieb sie viele Autoren regelrecht in die Parallel-Existenz oder ganz in den Untergrund. „Das, was das östliche Europa in diesen Jahrzehnten so faszinierend machte“, schreibt Eichwede, „waren die Gegenwelten, das Zerbrechen von Tabus, das Riskieren neuer Ideen, eigener Stile und anderer Wege.“ 165 Es war auch der Weg, aus dem „doppelten Denken“, der „habituellen Schizophrenie in sich selbst“ auszubrechen, um „in der Wahrheit zu leben“. Die Andersdenkenden begannen, wie Amalrik schreibt, sich in einem unfreien Land wie freie Menschen zu benehmen und dadurch die moralische Atmosphäre und die das Land beherrschende Tradition zu verändern.“ 166 So sieht sich auch Sacharow, der gegenüber der Bezeichnung „inakomysljaschtschie“ (Andersdenkende) für sich die Bezeichnung „wolnomysljaschtschie“ (Freidenkende) bevorzugt. 167 Alexander Daniel beschrieb sein Selbstverständnis in einem Vortrag in Moskau wie folgt: „Die Samisdatleute, die Dissidenten, die Andersdenkenden kämpften in ihrer Mehrheit nicht gegen das Regime, und wenn dies einer tat, dann war es seine persönliche Angelegenheit. Ich bin der Meinung, dass die Andersdenkenden (und der Samisdat als ihr wichtigstes Instrument) eine andere historische Aufgabe hatten, nämlich ein Testfeld für den morgigen (und jetzt schon heutigen) Tag zu sein, ein Modell für eine zukünftige freie Gesellschaft.“ 168 Dietrich Beyrau hat diese Grauzone zwischen offizieller Befindlichkeit und untergründiger Kritik in seiner empfehlenswerten Arbeit „Intelligenz und Dissens“ aufgehellt. Der Diskurs beginnt mit einer Bestandsaufnahme der damaligen Situation in der Sowjetunion. „Der Reigen wurde eröffnet mit Andrej Amalriks ‚Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?‘ (1966-67). Diese Schrift schockte mit einem Katastrophen-Szenario, dem befürchteten Ausbruch eines sowjetisch-chinesischen Krieges. Sie hielt zugleich die konkurrierenden ideologischen Strömungen im Dissens und in der Intelligenz fest. Diesem Essay folgten A. Sacharows ‚Gedanken über Fortschritt, friedliche Koexistenz und intellektuelle Freiheit‘ (1968). Roy Medwedews ‚Buch über die sozialistische Demokratie‘ (1972) revidierte die herrschenden marxistisch-leninistischen Normen und plädierte für mehr Mitbestimmung in den bestehenden Institutionen. Ebenfalls für Reformen ‚von oben‘, verbunden mit der Forderung nach dem Streikrecht – ein für den intellektuellen Dissens mit seiner Furcht vor dem ‚Volk‘ eher ungewöhnliches Ansinnen – trat der Mathematiker Juri Orlow ein, Aktivist von Amnesty International und der späteren Helsinki-Gruppe. 1975 vertiefte er seine Vorschläge in dem Essay ‚Ist ein nicht-totalitärer Sozialismus möglich?‘“. Die schärfste Absage an die bestehen-

Eichwede, Archipel Samizdat, S. 17. Beyrau, Dietrich, Die befreiende Tat des Wortes. In: Samizdat. Bremen 2000, S. 31. 167 Sacharow, Stellungnahme, S. 21. 168 Daniel, Alexander, Die Geschichte des Samisdat. In: Stasi, KGB und Literatur, S. 156. 165 166

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den politischen Verhältnisse, an den Sozialismus, an den „megalomanischen Industrialismus wie an die Tradition westlicher Aufklärung überhaupt“ kam von Solschenizyn, dessen slawophile Gedanken hier durchbrechen. In seinem ‚Fastenbrief‘, seinem ‚Offenen Brief an die sowjetische Führung‘ (1973) und dem von ihm und seinem Freundeskreis herausgegebenen Sammelband ‚Aus den Schollen hervor‘ (1974) rechnete er auch mit der teils feigen, teils kompromissbereiten Haltung der neuen Bildungsschichten (obrasowanschtschina) ab und hielt ihr, unter Berufung auf die Autoren der ‚Wechi‘, 169 das Ideal ‚wahrer Intelligenz‘ vor. Solschenizyn polarisierte und rief Gegenreaktionen hervor. So war die von R. Medwedew herausgegebene Zeitschrift ,Das XX. Jahrhundert‘ zu einem erheblichen Teil der Auseinandersetzung mit Solschenizyn gewidmet, so in einem Gegenmanifest, als ‚Selbstbesinnung‘ (1975) betitelt. Nach Beyrau wurde damit deutlich, „dass unter der Decke vermeintlich uniformen Denkens in der Sowjetunion sehr unterschiedliche ideologische und politische Strömungen verbreitet waren. Der Samisdat formulierte zumeist nur schärfer und polemischer, was – verhalten und mit Kotaus vor der Partei und dem Leninismus – auch im periodischen Schrifttum zu lesen war.“ 170 Eine interessante Einschätzung der Dissidentenbewegung gibt auch Alexander Sinowjew, der ihr selbst angehörte und 1978 die Sowjetunion verlassen hatte. Er listet drei Arten von Opposition in der Sowjetunion auf. Als erste nennt er den Antistalinismus, der sogar auf der höchsten Ebene der Parteiorganisationen geführt wurde. Im Ergebnis, schreibt er, sei dieser Kampf zwar von Menschen begonnen und geführt worden, die Opfer des Regimes geworden waren, in den Genuss seiner Früchte seien aber die Herren dieses Systems gekommen. Als zweite Form der Opposition definiert er den Liberalismus der Chruschtschow-Ära: „In dieser Ära begannen in allen wichtigen Lebensbereichen der sowjetischen Gesellschaft Menschen eines bestimmten Typs sich aktiv zu betätigen, Personen, die sich von ihren Vorgängern und Konkurrenten durch bessere Bildung, ‚große‘ Fähigkeiten und Initiative, freieres Gehaben und ideologische Toleranz unterschieden. Diese Leute behielten ihre Ziele zwar im Auge (Karriere, Annehmlichkeiten des täglichen Lebens, Befriedigung der Eitelkeit), brachten aber doch dem Land die bekannte Milderung der Lebensweise sowie eine Neigung zu westeuropäischen Kultur- und Lebensformen. Sie stimulierten die Kritik am kommunistischen System und beteiligten sich aktiv an ihr. Zugleich blieben sie aber diesem System gegenüber völlig loyal und traten in seinem Namen und in seinem Interesse auf. Sie waren nur darum besorgt, ihre Situation innerhalb dieses Systems so weit wie möglich zu verbessern und das System selbst bequemer für ihre persönliche Existenz zu machen.“ 171 Vechi. Wegzeichen. Zur Krise der russischen Intelligenz. Frankfurt am Main 1990; Schlögel, Karl, Überdetermination und Selbstbestimmung. Die Intelligencija-Diskussion sowjetischer Dissidenten in den 70er Jahren. Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien 1982/23. 170 Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 239 f. Dort auch weiterführende Literatur. 171 Sinowjew, Alexander, Ohne Illusionen, S. 96. 169

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Und er kommt zur dritten Form der Opposition. Als diese sieht er die Dissidentenbewegung: „Ich halte dieses Phänomen für das bedeutendste in der sozialen Geschichte der Sowjetunion, und zwar in dem Sinn, dass sie vor der ganzen Welt mit entschlossener Lautstärke die Frage nach dem Wesen der kommunistischen Gesellschaft gestellt und erstmals in der Geschichte ein Beispiel für eine Opposition gegen dieses System als Ganzes geliefert hat.“ 172 Sie habe immer deutlicher eine ideologische Einheit gewonnen, indem sie die einheitliche Form eines Kampfes um die bürgerlichen Freiheiten, um die Menschenrechte angenommen habe. „Und obwohl sich diese Form des Kampfes nach allem zu urteilen spontan einstellte, bringt sie das Wesentliche der Bewegung zum Ausdruck: den Protest gegen die Unterdrückung und Versklavung des Individuums in der kommunistischen Gesellschaft – des Individuums, wie es sich im Geist der besten Errungenschaften der westeuropäischen Demokratie versteht. Und da die bürgerlichen Freiheiten (die Menschenrechte) untrennbar mit besagter Auffassung des Individuums verbunden sind, da sie etwas darstellen, das keineswegs aus den Grundlagen des kommunistischen Systems hervorgehen kann, sondern mit diesen sogar in einem gewissen Widerspruch steht, ist die Dissidentenbewegung nicht gegen einzelne Unzulänglichkeiten dieses Systems gerichtet, sondern gegen dessen Grundlagen selbst.“ 173 Als ab 1986 sich die staatliche Medienlandschaft öffnete, erschienen die bis dahin illegal erschienenen Zeitschriften nun offiziell. Zahllose, informell genannte Gruppen gaben eigene Zeitschriften heraus, sodass allein in Moskau und Leningrad im Jahr 1988 über 35 derartige Zeitschriften existierten, und ein Jahr später wurden schon 320 solcher Periodika gezählt. 174 So lässt sich mit Afanassjew feststellen, dass die Verhärtung des Regimes unter Breschnew uns nicht daran hindern dürfe, hinter dem Autoritarismus zu entdecken, dass sich das soziale und politische Denken gerade in diesen Jahren entwickelt habe. „Man sah die linken demokratischen Strömungen, die seit dem Ende der NEP verschwunden waren, neu entstehen. Man erlebte eine wahre Wiedergeburt rechter Strömungen, die seit 1921 zerschlagen und vernichtet waren: die verschiedenen neoslawophilen Tendenzen, die mit der Wiederentdeckung unseres ländlichen und christlichen Erbes entstanden und sich um die literarische Bewegung ‚bäuerliche Schriftsteller‘ scharten; den russischen Nationalismus, der auf einem Überschwang nationaler Macht und der Kontinuität des Staates beruhte; schließlich den demokratischen Liberalismus, der sich, obwohl er Ende der 60er Jahre mit der Ablösung Twardowskijs als Chefredakteur des ‚Nowij Mir‘ seine politische Plattform verloren hatte, in den Universitäten, Verlagshäusern, Zeitschriftenredaktionen bis hinein in bestimmte Sektionen der Akademie der Wissenschaften, wie der Sektion Sibirien, weiterentwickelte. Eine solche Situation wäre unter Stalin überhaupt nicht vorstellbar gewesen und auch nicht unter Chruschtschow, Sinowjew, Alexander, Ohne Illusionen, S. 97. Sinowjew, Alexander, Ohne Illusionen, S. 99. 174 Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 255. 172 173

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als man von der Rückkehr zum ‚wahren Marxismus – Leninismus‘ besessen war.“ 175 Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy sprach das Thema der Literatur unter der Diktatur für sein Land an, als er gefragt wurde, ob er Solschenizyns Archipel Gulag gelesen habe: „Selbstverständlich, so wie George Orwells 1984 und Arthur Koestlers Sonnenfinsternis. Es waren wichtige Bücher, nicht literarisch, aber moralisch. Literatur ist in einer Diktatur ja viel wichtiger als in einer Demokratie. Sie kann über die verlorene Freiheit zwar nicht sprechen, aber schweigen; sie schafft die Möglichkeit, über etwas nicht zu sprechen.“ 176 Über versteckte Anspielungen schreibt auch Laurynas Katkus. Er sieht die spätsowjetische Gesellschaft durch akute Spannungen und Widersprüche gekennzeichnet: „Das idealisierte offizielle Selbstbild kollidierte mit der unterdrückten Realität von Gewalt und Repressionen, die absurden Formeln und Rituale des öffentlichen Lebens mit den kreativen Überlebenstechniken der einfachen Leute. Mimikry und Schizophrenie, deren verschiedene Formen Czeslaw Milosz in seiner Studie Verführtes Denken unter der Überschrift ‚Ketman‘ analysiert, gehörten für die meisten Bürger zum Alltag. Eines der besten Mittel zur Darstellung einer solchen Situation ist die Groteske: Sie zeigt das Furchteinflößende dieser Welt und übersteigert es gleichzeitig satirisch.“ 177 Dabei wird die Bildsprache der offiziellen Kultur zum Schein übernommen. Katkus zitiert den Literaturwissenschaftler Peter Fuß, der diese Strategie für ein konstitutives Merkmal des Grotesken hält. 178 Es sei Teil jener Ordnung, deren (immanente) Dekomposition es betreibe. 179 Katkus nennt als Beispiele nicht nur Bulgakows Meister und Margarita, sondern auch Wenedikt Jerofejews Moskva-Petuški 180, die Mala Apokalipsa des polnischen Schriftstellers und Filmemachers Tadeusz Konwicki 181 und Vilniaus Pokeris (Vilnius Poker) des litauischen Autors Ričardas Gavelis. 182 Katkus schreibt: „Jerofejews Roman, entstanden 1970, zirkulierte vor seinem Erschienen im Westen bereits über längere Zeit im Samizdat. Offiziell erschien es in der Sowjetunion erst in den späten 1980er Jahren, kurioserweise in einer Zeitschrift zu Fragen der Enthaltsamkeitspolitik. Konwickis Apokalipsa war eines der ersten im sozialistischen Polen entstandenen Werke, das bewusst für den Untergrund geschrieben wurde. Gavelis arbeitete seit Anfang der 1980er Jahre heimlich an seinem opus magnum; als er es 1987 fertigstellte, war die Perestrojka in der Sowjetunion weit genug fortgeschritten, dass eine Afanassjew, Russland, S. 173 f. Hier erkennt er freilich nicht die taktische Seite dieser Finesse, da doch nur auf diese Weise, d.h. mit Berufung auf den „wahren Marx und den wahren Lenin“ sich Veränderungen begründen ließen. 176 Cammann, Alexander, „Die Diktatur war schlampig“, S. 45. 177 Katkus, Laurynas, Komische Agonie. Das Groteske in der spätsozialistischen Literatur. In: Osteuropa 9/2012, S. 87. 178 Fuß, Peter, Das Groteske: ein Medium des kulturellen Wandels. Köln 2001, S. 14. 179 Katkus, Komische Agonie, S. 88. 180 Jerofejew, Wenedikt, Die Reise nach Petuschki. München 1987. 181 Konwicki, Tadeusz, Die polnische Apokalypse. Frankfurt/Main 1982. 182 Gavelis, Ričardas, Vilniaus Pokeris. Vilnius 1989. 175

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Publikation realistisch schien. Aus heutiger Perspektive ist Vilnius Pokeris eines der außergewöhnlichsten ‚für die Schublade‘ konzipierten Werke der litauischen Literatur.“ 183 Auch Alexander Jakowlew schreibt über das „Schreiben zwischen den Zeilen“: Man müsse die Schwächen eines Systems gut kennen, um sie als Vorzüge auszuweisen, seine Niederlagen auch, um sie als Siege darzustellen, seine Ruinen, um sie als Meisterwerke der Baukunst in den Himmel zu heben. Die sowjetische Zeit ließ den Scharfsinn zwischen den Zeilen, die Anekdoten und Witze geradezu erblühen. Und er nennt ein Beispiel: „Ich erinnere mich, wie Kiritschenko mich einmal aufsuchte – er war zuständig für den Sektor Zeitschriften – und mir empört meldete, dass die Zeitschrift Novy Mir einen Artikel über die Aufmärsche von Halbwüchsigen im Italien Mussolinis veröffentlichte. Na und? Fragte ich zurück. Der Artikel handelt doch von uns – das sind unsere Pionierparaden. Stimmt da was nicht? – Nein, das ist es ja gerade. – Warum die Aufregung? – Diese Anspielung! Der Aufsatz handelte tatsächlich von uns. Man mag es wenden, wie man will, was zwischen den Zeilen stand, wurde eine Zuflucht der List für die denkende Intelligenzija und die innere Emigration – man entwickelte diese bis zur höchsten Meisterschaft.“ 184 Annelore Engel-Braunschmidt weist darauf hin, dass sogar Artikel über Nabokow in sowjetischen Zeitschriften erschienen sind: Die im Westen erschienenen Ausgaben brisanter Werke russischer Autoren seien stets in die russische Heimat gelangt und dort gelesen worden. Einem Kreis von Spezialisten und Insidern waren sie bekannt. „Nur so ist es auch zu erklären, dass Michail Ju. Lotman 1979 an abgelegener Stelle einen Artikel mit der Überschrift ‚Einige Bemerkungen zur Poesie und Poetik F.K. Godunow-Tscherdynzews‘ veröffentlichte, den Eingeweihte ohne weiteres als Beitrag zur Nabokov-Forschung ausmachten. 185 Es ist dies die erste wissenschaftliche Untersuchung über ein Werk des russisch-amerikanischen Dichters, der nun auch von den Russen als der ihre reklamiert wird. Allerdings kommt der Name Nabokows nicht ein einziges Mal darin vor – ein Fall von ‚äsopischer Sprache‘ in der Wissenschaft. Godunov-Tscherdynzew ist eine fiktive Gestalt, er ist dichtender Held in Nabokows letztem in russischer Sprache geschriebenen Roman ‚Die Gabe‘ (Dar, 1937).“ 186 Katkus verweist auf Walter Benjamins Diktum: „Jede Epoche träumt ja nicht nur die nächste, sondern träumend drängt sie auf das Erwachen hin. Sie trägt ihr Ende in sich und entfaltet es – wie schon Hegel erkannt hat – mit List. Mit der Erschütterung der Warenwirtschaft begannen wir, die Monumente der Bourgeoisie

Katkus, Komische Agonie, S. 89. Jakowlew, Abgründe, S. 563f. 185 Lotman, M., Nekotorye zamečanija o poėzii i poėtike F.K. Godunova-Čerdynceva. In: Vtoričnye modelirujuščie sistemy. Tartu 1979, S. 45-48. 186 Engel-Braunschmidt, Annelore, Glasnost‘ – Vollender literarischer Perestrojka. In: Reißner, Eberhard (Hrsg.), Perestrojka und Literatur. (Osteuropaforschung Band 27), Berlin 1990, S. 48. 183 184

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als Ruinen zu erkennen, noch ehe sie zerfallen sind.“ 187 Und er sieht dieses Erwachen auch in der Literatur: „Jerofejew, Konwicki und Gavelis, deren Romane sich auf ingeniöse Weise der thematischen und kompositorischen Traditionen des Grotesken bedienen, haben die sowjetischen Monumente noch vor deren Zusammenbruch als Ruinen gezeigt, sie haben konsequent einen deliranten, betrunkenen, tödlichen und zugleich irrwitzig komischen Traum vom Ende ihrer Epoche geträumt.“ 188 Auf die Rolle des Komischen im Untergrund weist auch der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkiw hin, nämlich einen illegalen Witze-Wettbewerb, an dem im August auf der Krim sich 25 Intellektuelle jede Nacht Witze um die Wette erzählten. „Die Witze enthielten die Wahrheit, die sich die Leute draußen in der offiziellen Welt nicht zu sagen trauten…Meine Generation lachte über das Sowjetsystem, wir dachten, man braucht nicht zu handeln, weil es von selbst kaputtgehen würde.“ 189 Die Musik spielt hier eine Sonderrolle. Hier stießen die polnischen Komponisten auch für ihre russischen Kollegen das Fenster zum Westen auf. So schreibt Wladimir Tarnopolskij: „In den bleiernen 1970er Jahren unter Leonid Breschnew besaßen Polen im Allgemeinen und Lutoslawski 190 im Besonderen für uns Sowjetrussen eine außerordentliche Strahlkraft. Warschau, wo seit 1956 jedes Jahr das bewusst antistalinistische Festival für Neue Musik, der Warschauer Herbst stattfand, war damals ein Fenster zum Westen…Beim Warschauer Herbst erklangen schon 1958 und 1959 Werke von Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono und John Cage.“ Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Sowjetunion: „Die Musik von Lutoslawski wurde in Moskau zu einem Symbol der Freiheit und zugleich strenger intellektueller Disziplin. ‚Westliche‘ Neuerer und ‚slawophile‘ Musiker begeisterten sich gleichermaßen für ihn. Alfred Schnittke und Sofija Gubajdulina experimentierten mit der kontrollierten Aleatorik, doch auch der bodenständige Jurij Butzko widmete Lutoslawski eine vorzügliche analytische Arbeit.“ 191 So machte der Warschauer Herbst der Sowjetunion die Vorreiterrolle streitig. „Nicht die Sowjetunion, das Vaterland der Werktätigen, sondern der Satellitenstaat Polen stand auf diesem Gebiet an der Spitze der Entwicklung. Den Kulturfunktionären der Sowjetunion war das Warschauer Festival deshalb ein Dorn im Auge. Im günstigsten Fall

Benjamin, Walter, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt/Main 1977, S. 184. 188 Katkus, Komische Agonie, S. 96. 189 Koelbl, Herlinde, “Ich bin ein schwarzer Optimist“. Der Schriftsteller Andrej Kurkiw nahm zu Sowjetzeiten anWitze-Erzähl-Wettbewerben teil. In: Zeit-Magazin Nr.52 v.19.12.2012, S. 62. 190 Witold Lutoslawski (1913-1994) gilt als “Klassiker der Avantgarde“. 191 Tarnopol‘skij, Vladimir, “Ein Symbol der Freiheit“. Lutoslawskis Einfluss auf die Sowjetunion. In: Osteuropa11-12/2012, S. 143f. 187

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druckte das offizielle Organ des sowjetischen Komponistenverbands, die Zeitschrift Sovetskaja muzyka, freundlich klingende Rezensionen, die die brüderlichen Verbindungen zwischen Polen und der Sowjetunion hervorhoben.“ 192 Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte 1975 in Helsinki hatte sich auch die Sowjetunion auf die im Korb 3 formulierten Rechte auf Information, Reisefreiheit, Wirtschafts- und Wissenschaftsbeziehungen mit dem Ausland festgelegt und konnte damit unter Druck gesetzt werden. So meldete sich am 12. Mai 1976 in Moskau die erste Helsinki-Gruppe zu Wort; es folgten Initiativen in Kiew, Vilnius, Tiflis und Jerewan. 193 Aus einer Konferenz der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften zum 50. Jahrestag der Februar-Revolution 1917 entstanden, erschienen in den 70er Jahren die Arbeiten renommierter Historiker über das „Ende der Selbstherrschaft“. 194 Wie schon vor der Revolution von 1905, als die russischen Historiker sich intensiv mit der Geschichte der Französischen Revolution befassten und Turgenews Werk „Na kanune“ (Am Vorabend) als Ankündigung tiefgreifender Veränderungen in der russischen Gesellschaft empfunden wurde, gab es in den 70er Jahren auch die Ahnung von kommenden Veränderungen. Zu den Autoren gehörten Wladimir Maximow, Alexander Solschenizyn und Valentin Rasputin. Dem internationalistischen Marxismus setzten sie das russische Dorf entgegen, so ganz Neoslawophile. Als Breschnew am 10. November 1982 starb, hatten sich die Probleme gravierend angestaut. Die Breschnewsche Mannschaft hatte noch versucht, den Unmut der Bevölkerung durch Großprojekte wie die Bajkal-Amur-Magistrale und den Bau der Druschba-Pipeline Orenburg-Westgrenze Tschechoslowakei zu besänftigen. In ihrer Erlösungssehnsucht hatten die Machthaber im Kreml ganz auf das kompensatorische Potential eines auf die lichte Zukunft ausgerichteten Technikkults vertraut. „Sie investierten ökonomisches Kapital, um das für den Fortbestand des Systems notwendige Mindestmaß an politischem Kapital zu erwirtschaften. Ohne grandiose Infrastrukturbauten, so formulierten es Parteifunktionäre, gäbe es hierzulande überhaupt keinen Idealismus mehr.“ 195 Das außenpolitische Engagement in Angola, Mosambik, schließlich in Afghanistan, vorangetrieben durch die Strategien des „Kräfteverhältnisses in der Welt“ 196 und die „Sozialistische Orientierung der Entwicklungsländer“, durch die das Gleichgewicht zwischen Ost und West zugunsten der sozialistischen Länder verändert werden sollte, mündeten aber in die Sackgasse der Sprachlosigkeit und der Wiederaufnahme des Wettrüstens. Es Ritter, Rüdiger, Heißhunger auf Neue Musik. Das Ende des Stalinismus und der Warschauer Herbst. In: Osteuropa 11-12/2012, S.95. 193 Eichwede, S. 65. 194 Sverženie samoderžavija.. Sbornik Statej. Moskva 1970. (AdW. Hist. Institut); Zajončkovskij, P. A., Rossijskoesamoderžavie v konce XIX stoletija. (Političeskaja reakcija 80-ch – načala 90-ch godov). Moskva 1970; Troickij , N. A., Carizm pod sudom progressivnoj obščestvennosti. 18661895 gg. Moskva 1979. 195 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 559. 196 Geierhos, Wolfgang, Das Kräfteverhältnis. Die neue Globalstrategie der Sowjetunion. (Schriften der Ost-Akademie Lüneburg, Bd. 4).Lüneburg 1980, S. 295. 192

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vernichtete damit den außenpolitischen Spielraum, den sich die Sowjetunion in den 70er Jahren verschafft hatte. Auch die Beziehungen zur VR China lagen auf Eis. Dazu kamen die nationalen Spannungen im Innern 197 wie das Aufkommen der Gewerkschaft „Solidarność“ in der Volksrepublik Polen mit der Folge der Verhängung des Kriegsrechts als letztem Mittel einer nationalen Lösung des Problems unter den Bedingungen der Breschnew-Doktrin. So fällt trotz der Verbesserungen auf den Gebieten von Korb 3 der Helsinki-Konferenz die Bilanz der BreschnewZeit verheerend aus. Welcher Druck sich angestaut hatte, zeigte sich, als die Möglichkeit der freien Meinungsäußerung plötzlich gegeben war. So gründete Lew Timofejew, Dissident der siebziger Jahre, 1986 das nichtoffizielle Bulletin „Glasnost“. 198 Und zwischen 1987 und 1989 ergoss sich ein Strom von bis dahin verbotenen Themen auf die Seiten der Presse. Dieser Strom speiste sich sowohl aus der tabuisierten familiären Erinnerung als auch aus der dissidentischen Reflexion. Unter den Problemen, die damals landesweit heftig diskutiert wurden, auch auf Kundgebungen mit Tausenden von Teilnehmern, spielten historische Fragestellungen eine Schlüsselrolle, schreibt Roginskij. Ihm schien, als sei zumindest in Bezug auf den Stalinismus ein nationaler Konsens bereits erreicht oder stehe unmittelbar bevor. „Dass die Staatsmacht mitnichten heilig und die UdSSR keineswegs eine belagerte Festung sei, dass Russland keine Eroberung von außen drohe und kein ‚Sonderweg‘ zustehe (sondern dass es im Gegenteil den gleichen Weg demokratischer Entwicklung beschreite wie die anderen europäischen Länder auch), und schließlich, dass der sowjetische Terror durch nichts zu rechtfertigen sei, war damals vielleicht nicht die allgemeine, so doch die vorherrschende Auffassung.“ Burlazki, der mit Chruschtschow viele Hoffnungen auf eine Systemänderung verbunden hatte, bezeichnete die Breschnew-Zeit als „das Doppeljahrzehnt der versäumten Möglichkeiten. Die technologische Revolution zog an uns vorüber. Man bemerkte sie nicht einmal und faselte weiter vom wissenschaftlich-technischen Fortschritt. In dieser Zeit stieg Japan zum zweitstärksten Industriestaat der Welt auf. Südkorea trat in Japans Fußstapfen, und Brasilien wurde zu einem der neuen Zentren industrieller Macht. In der Tat, wir erreichten die militärische Parität mit dem größten Industriestaat der modernen Welt. Aber zu welchem Preis? Zu dem eines immer größer werdenden technologischen Rückstands auf allen anderen Gebieten der Wirtschaft, einer weiteren Zerstörung der Landwirtschaft und einer Stagnation des ohnehin niedrigen Lebensstandards des Volks.“ Von Interesse ist die Beobachtung des Journalisten Gerd Ruge, der nach seiner Korrespondententätigkeit in China und einem Jahr Aufenthalt an der HarvardUniversität Ende 1977 wieder an seinen früheren Wirkungsort Sowjetunion zurückkehrte. Ihm kam es vor, als schien dieses Land „in eine Art Halbschlaf gefallen Carrère d’Encausse, Risse im Roten Imperium. Das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion. Wien-München-Zürich-Innsbruck 1979. 198 Afanassjew, Russland, S. 124. 197

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zu sein, ein Zustand, mit dem der alte Generalsekretär Breschnew und die Mehrheit der Parteiführung offenbar ganz zufrieden waren.“ Es ist gerade der Vergleich mit China, der ihn die sonderbare Situation in der UdSSR besonders spüren lässt: „Dramatische Spannungen, wie ich sie in China erlebt hatte, waren zu Lebzeiten dieser alten Funktionäre nicht zu erwarten. Während es in Peking Mitte der siebziger Jahre harte Zusammenstöße und Auseinandersetzungen gegeben hatte, lebten die Russen in einer Phase der Stagnation, die allerdings, so fanden viele, auch ihr Gutes hatte. Die sowjetische Propaganda hatte die brutale Politik der chinesischen Kommunisten dramatisiert und der Bevölkerung damit so viel Angst eingeflößt, dass viele mit den mäßigen Verbesserungen im eigenen Land zufrieden schienen oder sich jedenfalls dem gewaltigen Apparat des Polizeistaates ohne Widerstand unterordneten.“ 199 Es waren die Erscheinungen einer Staatskrise, die dem von außen kommenden Beobachter auffielen. Sie bildeten das äußere Zeichen für die inhaltliche Aushöhlung dessen, was man das Selbstverständnis des sozialistischen Staates nennen kann, seinen Gründungsmythos. Als „hohlen Riesen“ beschrieb ihn Bialer. 200 Die Zustimmung der Bevölkerung kam dem Staat immer mehr abhanden. Wurde auch die ökonomische Lage von Krisenerscheinungen ergriffen, besonders wenn sich die Folgen von Fehlentscheidungen einstellten, hielt nichts mehr die Bürger der Sowjetunion davon ab, angesichts der offenkundigen Widerstands der Parteiführung gegen jede Reform des Systems, die Lösung nur in einem Systemwechsel zu suchen. Damit aber war der Sowjetführung der Boden unter den Füßen weggezogen. Die Soziologin Saslawskaja beobachtete in dieser Stagnationsperiode eine gravierende „Entstellung des Wesens des Sozialismus“: „Die Grundsätze des Familienlebens gerieten ins Wanken; die Scheidungsraten stiegen um vieles schneller als die Heiratszahlen. Dementsprechend wuchs die Zahl der ‚unvollständigen Familien‘, die gewöhnlich aus der Mutter und den Kindern, ohne Vater, bestanden. Alkoholismus griff nun nicht mehr nur bei Männern, sondern auch unter den Frauen um sich. Bei der Jugend kam der Drogenmissbrauch auf. Die Geburtenrate fiel, während die Sterberaten anstiegen; auch die Lebenserwartung der Bevölkerung, besonders die der Männer, verkürzte sich. Es war eine verstärkte Kinder- und Erwachsenenkriminalität zu verzeichnen; die Fälle von psychischen Erkrankungen und Selbstmord mehrten sich.“ Dazu kamen die Defizite der Information. Der Umfang der veröffentlichten statistischen Daten aus der Wirtschaft und vor allem dem Sozialwesen verringerte sich unaufhaltsam. So wurden die jeweiligen Ergebnisse der Gesamtsowjetischen Volkszählung 1959 in einigen Dutzend Bänden, 1970 in nur fünf und 1979 in nur einem Band veröffentlicht. Aus den statistischen Handbüchern und der wissenschaftlichen Literatur verschwanden Daten über GeRuge, Gerd, Unterwegs. Politische Erinnerungen. Berlin 2013, S. 261. Bialer, Seweryn, Der hohle Riese. Düsseldorf/Wien/New York 1987; Geierhos, Wolfgang, Die Oktoberrevolution als zyklische Systemtransformation, S. 87. 199 200

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burten- und Sterberate und die Lebenserwartung der Bevölkerung. Zum ‚Staatsgeheimnis‘ wurden praktisch offenkundige Informationen über die Migrationsbewegungen zwischen Stadt und Land, einzelnen Unionsrepubliken und Regionen. Sie zieht das Fazit: „Die Soziologie mit ihrer Funktion, der Gesellschaftspolitik ein Feedback zu sichern und Regierende und Regierte über die tatsächlichen Vorgänge zu informieren, war unter diesen Umständen nicht nötig, mehr noch, sie war gefährlich und unerwünscht.“ Im Resümee seiner Arbeit über „Intelligenz und Dissens“ schreibt Beyrau im Blick auf alternatives Denken in den 70er und 80er Jahren, es habe in der Natur des intellektuellen und moralischen Protestes gelegen, dass er in grundsätzlicher Kritik stecken bleiben musste, ohne konkrete Schritte zur Veränderung zu benennen. Es müsse einer Geistes-, Ideologie- und einer Geschichte wissenschaftlicher Disziplinen überlassen bleiben zu erforschen, in welchem Maße das ‚andere Denken‘ Teil eines sich allmählich vollziehenden allgemeinen Paradigmenwechsels in den gebildeten Schichten gewesen ist oder in welchem Umfang dieser diesen Wandel angestoßen hat. Diese Funktion dürfte in den einzelnen Bereichen sehr unterschiedlich zu bemessen sein: Seine Impuls gebende Bedeutung in der Belletristik, die zugleich öffentliche Maßstäbe setzte, war zweifellos ungleich größer als in den meisten wissenschaftlichen – auch den geisteswissenschaftlichen – Disziplinen. Auf der Ebene allgemeiner Normen formulierte der Sam- und Tamisdat auf jeden Fall schärfer und kompromissloser als das kontrollierte Schrifttum. Hier wäre besonders auf die Abwendung von den Maßstäben des Klassenkampfes und die Hinwendung zu universalistischen Werten zu verweisen, Prozesse, die mit dem Funktionswandel des Marxismus-Leninismus zur ‚Reichsideologie‘, seiner Ritualisierung und inhaltlichen Entleerung zu tun hatten. In den Diskussionen um die sozialistische Industrialisierung und die sie begleitenden kulturellen Zerstörungen (und Wandlungen) habe der Dissens offenbar erste Anstöße gegeben. „Auch das Problem der imperialen Struktur der Sowjetunion und die Entdeckung ‚nationaler‘ Werte und der Religion wurden im inoffiziellen Schrifttum schärfer zur Debatte gestellt als dies – aus naheliegenden Gründen – in den ‚dicken‘ Zeitschriften möglich war. Die ‚kulturökologischen‘ Bewegungen seit den achtziger Jahren mit ihren teils kulturell-restaurativen, teils ökologischen Bestrebungen scheinen ihren intellektuellen Ursprung in den Debatten um das ‚Russische‘ im Sowjetimperium gehabt zu haben. Vergleichsweise früh wurden im Dissens die politischen Implikationen der Planwirtschaft mit der ihr inhärenten Neigung zur kontraproduktiven Machtakkumulation zum Thema gemacht und dabei die Reformfähigkeit des Systems relativ gering eingeschätzt. Ganz dem offiziellen Schriften-Kreislauf vorbehalten blieb die Bedeutung der repressiven Aspekte des Post-Stalinschen Regimes, welche die Dissidenten hautnah an sich erfuhren. Sie wurden so Zeugen einer moralischen Auszehrung des sowjetischen Systems. Dass die politische Klasse mit dem geballten Wissen der professionellen Intelligenz, die dem Regime verhaftet war, blind und hilflos den inneren Gefährdungen und dem Verfall gegenüberstand, war die Nemesis eines Machtwahns. Er hatte die Bürger im Allgemeinen und die

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Intelligenz im Besonderen so bevormundet, eingehegt und demoralisiert, dass alle Warnsignale ungehört verhallten.“ 201 Und Eduard Pestel stellte schon angesichts der Perestrojka-Ansätze die Erscheinungen der späten Breschnew-Jahre in einen allgemeineren Zusammenhang, wenn er feststellt, dass immer dann Krisen entstanden, „wenn nach ruhigen Zeitläuften sich ein Wandel in einer der Schlüsselkomponenten der Gesellschaftsordnung (das sind: 1. ein System von Verhaltensnormen, 2. die politische Gouvernanz, d.h. die Totalität der politischen Institutionen, ihrer Arbeitsweisen und Aktivitäten, und 3. das Wirtschaftssystem) anbahnte, während die anderen sich solcher Veränderung beharrlich widersetzten und dabei häufig ihre Legitimität einbüßten. Solche Krisen dauerten gewöhnlich lange Zeit, bevor die dominierenden Werte und Normen sich in einer Gesellschaft zu wandeln beginnen, und führten schließlich zu lang anhaltenden Konflikten mit der vorherrschenden Gouvernanz.“ Unter den gesellschaftlichen Schlüsselkomponenten ist das Wirtschaftssystem jene, deren Wandel sich im allgemeinen am einfachsten herbeiführen lasse, zum Beispiel der Übergang von freier zu sozialer Marktwirtschaft, was ja nur eine Verschiebung auf mehr sozial orientierte Werte hin erfordere, deren Akzeptanz für die Mehrzahl der Menschen ohnehin keine Schwierigkeit bedeutete. Wenn jedoch, wie gegenwärtig in China und vielleicht auch in der Sowjetunion, eine Liberalisierung des Wirtschaftssystems in die Wege geleitet werde, hingegen die zentralistische kommunistische Gouvernanz beibehalten werde, dann komme Sand ins Getriebe der Gesellschaftsordnung und mindere ihre Leistungsfähigkeit. „Dem Wandel des politischen Systems wird stets ein größerer Widerstand entgegengesetzt, weil dies einen Wandel im System der Werte und Normen voraussetzt“, schreibt Pestel. „Bis die Machthabenden sich eingestehen, dass ‚nicht-offizielle‘, latent in der Gesellschaft dominante Werte und Normen eine Änderung der Gouvernanz erforderlich machen, durch welche diese beiden Schlüsselkomponenten der Gesellschaftsordnung in Einklang gebracht werden können, braucht es zumindest lange Zeit, obwohl dies in der Regel der einzige auf Dauer gangbare Weg ist, die Qualität der Gesellschaftsordnung zu erhöhen“ 202. Fasst man alle Bewertungen der Breschnew-Zeit zusammen, ist ihnen gemeinsam, dass sie einen Werteverfall feststellen, eine moralische Krise, das heißt, das System hat seine Legitimation verloren. Und diese Feststellung ist allgemein, sie wird von fast allen Schichten der Gesellschaft geteilt. Sie ist nicht nur bei der Akademie der Wissenschaften angekommen, sondern, wie sich zeigen wird, auch in den Führungen der KPdSU und der anderen von ihr abhängigen Parteien in den sozialistischen Ländern.

Beyrau, Intelligenz und Dissens, S. 266 f. Pestel, Eduard, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 116 f. Pestel stützt sich, wie er schreibt, auf B.Hawrylyshyns Bericht an den Club of Rome „Wegweiser in die Zukunft“. Frankfurt am Main 1982. 201 202

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1.4 Widerstandsformen der Arbeiterschaft Arbeiter-Opposition in einem Land, das sich als System bezeichnet, in dem Arbeiter und Bauern die Macht innehaben, wenn auch „unter Führung ihrer marxistischleninistischen Partei“, ist das möglich? Diese Frage hatte sich auch Karl Schlögel gestellt, nachdem es einige Hinweise auf Arbeiterunruhen gegeben hatte. Am Ende seiner Recherchen stand aber die erste große Untersuchung über dieses Phänomen. 203Die Bolschewiki hatten den Staat okkupiert und die Opposition ausgeschaltet. Alle gesellschaftlichen Einrichtungen wurden von der KPdSU geleitet. Das galt auch für die Gewerkschaften mit 113 Millionen Mitgliedern in 30 Branchengewerkschaften. Neben der Betriebsparteiorganisation und dem Direktor war die Gewerkschaftsvertretung vorrangig für die Planerfüllung zuständig. Andererseits verfügte sie über Ferienheime, Clubs und Fortbildungsveranstaltungen, über deren Zuteilung sich auch Einfluss auf die Arbeitsdisziplin ausüben ließ. Ein Streikrecht existierte nicht. Die Sowjetunion brachte unter Stalin aber auch besondere soziale Veränderungen hervor. Nachdem im Bürgerkrieg und den folgenden Säuberungen die zahlenmäßig an sich geringen Arbeiter mit ihrem spezifischen Selbstbewusstsein vernichtet worden waren, entstand in der forcierten Industrialisierung und durch die Landflucht eine neue Schicht der Gesellschaft. Schlögel zitiert hier treffend A. Amalrik: „Die ‚Proletarisierung‘ des Dorfes schuf eine ‚seltsame Klasse‘ mit schizophrenem Bewusstsein – weder Bauern noch Arbeiter, sondern Eigentümer einer Zwergwirtschaft und zugleich Tagelöhner eines gigantischen anonymen Betriebes. Als was sich diese Masse selbst versteht und was sie erstrebt, ist, so scheint es mir, niemandem bekannt. Weiter brachte der kolossale Fluss der Bauernmassen aus dem Dorf in die Stadt einen neuen Typ des Städters hervor: einen seinem alten Milieu, seinen alten Lebensgewohnheiten und seiner Kultur entrissenen Menschen, der sich nur sehr mühsam an die neuen Lebensumstände gewöhnt, sich darin äußerst ungemütlich fühlt und zugleich eingeschüchtert und aggressiv ist. Auch ist es völlig unersichtlich, welcher sozialen Schicht er sich selbst zurechnet.“ 204 Schlögel sieht die Fabriken als Schmelztiegel, die Baustellen und Fabriken als vorläufiger Endpunkt einer gewaltigen Wanderungsbewegung, die Millionen von Menschen erfasst hatte. Nach dem Jahrzehnt von Krieg und Bürgerkrieg ging eine zweite Wanderungswelle über das Land hinweg. Die Zerschlagung der funktionierenden bäuerlichen Betriebe durch die sogenannte Kollektivierung der Landwirtschaft, die ja gerade das Kollektive, das Gemeinschaftliche der alten Agrarstruktur durch die Verstaatlichung zerstörte, trieb die Dorfbewohner in weiten Teilen des europäischen Russland, der Ukraine, des nördlichen Kaukasus und des Wolgagebietes in die Hungersnot. Die Stadt bot sich als Ausweg an, „denn hier fanden sich Schlögel, Karl, Widerstandsformen der Arbeiterschaft in der Sowjetunion (1953-1980). Berlin 1982. 204 Schlögel, Widerstandsformen, S. 227; Amalrik, Andrej, Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben? Zürich 1970, S. 44 und 42. 203

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Lebensmittel, die den Bauern weggenommen worden waren, hier konnte man untertauchen und der Verfolgung entgehen, hier konnte man vielleicht einen Weg finden hinein in eine zivilisierte Welt, in der es Schulen, Ausbildung, Radios und Wohnung gab. Die anschwellenden Bevölkerungszahlen Moskaus, die aus allen Nähten platzenden Behausungen im Proletarischen Rayon, die chaotisch überfüllten Baustellen und Werkshallen der neu errichteten Fabriken sind Produkte dieser ‚Flugsandgesellschaft‘ 205, die alle festen Strukturen unter sich zu begraben drohte, die alle institutionellen Netzwerke überrannte oder unterminierte, die eingespielte Hierarchien untergrub und noch vorhandene Routinen zerfallen ließ. Wie sollte aus einer derart wild und willkürlich zusammengewürfelten Masse auf einmal eine eingespielte Belegschaft werden, die den Rhythmus und der Ordnung des Produktionsablaufs gehorchen und zu einem ‚Arbeitskörper‘ verschmelzen würde? 206 Danach musste die Sowjetgesellschaft noch durch den Zweiten Weltkrieg hindurch, mit Heimatverlust, Kriegsgefangenschaft und Neubeginn, um endlich ruhiger und, nach Stalins Tod, ohne Angst vor willkürlichem Terror sich zu erholen und zu stabilisieren. R. Medwedjew verweist auf die paradoxe Situation, dass Stalin während der ganzen Phase seiner Alleinherrschaft außerordentlich beliebt war: „Je länger dieser Tyrann die UdSSR beherrschte und kaltblütig Millionen Menschen vernichtete, desto mehr scheint die Mehrheit der Bevölkerung ihn geschätzt, ihn geliebt zu haben. Diese Gefühle erreichten im letzten Jahr seines Lebens ihren Höhepunkt.“ 207 Das Fundament des stalinistischen Systems, schreibt Schlögel, waren die ‚irregeführten Massen‘, und er stützt sich wieder auf Medwedjew, der die wichtigsten Momente dafür aufzählt: Alphabetisierung, Bedürfnis nach einer neuen Ideologie und Weltanschauung, die Stärke der ‚Stalinistischen Popularisierung/Vulgarisierung des Marxismus und die Vereinfachung komplizierter gesellschaftlicher Zusammenhänge in einer geschlossenen Doktrin und Politik; die Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs; das auf die Massenqualifikation ausgerichtete Erziehungssystem etc. Und er kommt zum Schluss: „In den dreißiger Jahren war der Stalinkult am stärksten unter Arbeitern verbreitet, besonders unter Arbeitern, die Parteimitglieder waren, und auch bei der jungen Intelligenz, soweit sie von Arbeitern und Bauern abstammte.“ 208 So wundert es nicht, dass erst nach Stalins Tod Nachrichten von Streikwellen und Revolten in den Zwangsarbeitslagern die Öffentlichkeit erreichten. Die Revolten in den Zwangsarbeitslagern mit ihrem Höhepunkt im Jahr 1953 sind „offensichtlich die ersten Manifestationen von Arbeiterprotesten nach der Konsolidierung des Stalinismus.“ 209 Lewin, Moshe, The Making of the Soviet System. Essays in The Social History of Interwar Russia. New York 1985. 206 Schlögel, Karl, Terror und Traum. Moskau 11937. München 2008, S. 541. 207 Medvedev, Roy A., Die Wahrheit ist unsere Stärke. Geschichte und Folgen des Stalinismus. Frankfurt/M. 1973, S. 400; Schlögel, Widerstandsformen, S. 227. 208 Medvedev, Die Wahrheit, S. 476 und 429; Schlögel, Widerstandsformen, S. 227f. 209 Schlögel, Widerstandsformen, S. 39. 205

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Die Zwangsarbeitslager sind aber integraler Bestandteil des Arbeitssystems der stalinistischen Sowjetunion. Die Arbeitsleistung im Bergbau, beim Kanalbau oder in der Holzgewinnung ist dabei unabhängig von der oft sehr bunten sozialen Zusammensetzung der Verurteilten zu sehen. Andererseits kommt aus der unmittelbaren Zusammenarbeit im Lager von Arbeitern mit allen anderen Schichten der Bevölkerung, auch den Führungsschichten, ein Anstoß zur Artikulierung der Arbeits- und Lebensbedingungen und Forderungen nach ihrer Verbesserung. So sieht Schlögel in Widerstandsaktionen in den Lagern eine entscheidende subjektive Kraft für die Desintegration des Stalinschen Systems und für die Freisetzung jener Kräfte, die für die folgende Liberalisierung von Bedeutung wurden. So sieht er bei der Periodisierung der sowjetischen Entwicklung die Revolten in einer Übergangsposition: „Zum einen gehört sie noch ganz dem Stalinismus an, zum anderen ist sie Ferment der nach Stalinschen Entwicklung.“ 210 Die Nach-Stalin-Zeit kann nun nicht als Rückkehr zu den vorstalinschen Normen und Lebensformen aufgefasst werden, „sondern als Anpassung der politischen, ökonomischen, ideologischen etc. Formen an die soziale Transformation bei gleichzeitiger Perpetuierung wesentlicher Strukturelemente, die dem Stalinismus eigentümlich waren.“ 211 Dazu gehört der Ausbau eines KonfliktschlichtungsApparates, d. h. das System akzeptiert die Existenz von Konflikten und schafft Institutionen zu ihrer Lösung. Solche Formen der Unzufriedenheit sind: der Arbeitsplatzwechsel als Massenerscheinung, die Verletzung der Arbeits- und gesellschaftlichen Disziplin, die Formulierung von Kritik- und Beschwerdebriefen an die Behörden, bestimmte Formen gesellschaftlich abweichenden Verhaltens wie Diebstahl an öffentlichem Eigentum, Hooliganismus, Alkoholismus. Davon zu unterscheiden sind jene spontanen Manifestationen von Arbeiterunzufriedenheit, die deutlich die Toleranzgrenze des Systems überschritten haben und damit gesellschaftlichen Sanktionen verfallen. 212 Schlögel sah die Zunahme solcher Konflikte voraus. Die unbefriedigende Konfliktlösung durch die dafür vorgesehenen Institutionen einschließlich der offiziellen Gewerkschaften ist wohl der Anlass dafür, dass sich Initiativen zur Gründung „Freier Gewerkschaften“ gebildet haben. Schlögel spricht von einer Experimentierphase und macht dabei zünftlerische, trade-unionistische, aber auch politische Elemente aus. Er sieht in diesen Gewerkschaftsinitiativen „einen nicht hintergehbaren Punkt, ein neues gesellschaftliches Bedürfnis.“ 213 Seit den 70er Jahren bahnte sich eine Verbindung des intellektuellen Dissens mit den Arbeiterprotesten an, die ihren Ausdruck in der Thematisierung des Zusammenhangs vom Kampf für Bürgerrechte und Einsatz für soziale und materielle Belange fand. Aber auch außerhalb der Lager kam es zu Arbeitsniederlegungen, so im November 1956 in der Kaganowitsch-Fabrik in Moskau; im Winter 1956 und 1957 Schlögel, Widerstandsformen, S. 40. Schlögel, Widerstandsformen, S. 40f. 212 Schlögel, Widerstandsformen, S. 41. 213 Schlögel, Widerstandsformen, S. 42. 210 211

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streikten die Arbeiter in verschiedenen Städten im Donbass, 1957 in Leningrad, Magnitogorsk, 1959 in Woronesch und in der Kleistadt Torschok, auch in TemirTau in Kazachstan, Stalinsk, Meschduretschensk und Lemerowo, 1960 in Riga, im Leningrader Kirow-Werk und der Fabrik „Krasnyj treugol’nik“, Stalingrad. Als „Komplex des Jahres 1956“ nennt Schewardnadse die Erfahrung, die seine Generation ihr ganzes Leben trug, dass Chruschtschow am 9. März 1956 in Tiflis bei einer Großdemonstration auf die Bürger hatte schießen lassen (22 Tote) und Panzer rollten. 214 1961 bis 1963 kam es zu einer regelrechten Welle von Arbeitsniederlegungen 215 in Moskau, Murmansk, Archangelsk, Jaroslawl, Gorkij, Odessa, Krasnodar, Kirowgrad, Kriwoj Rog, Aleksandrow, Murom, Iwanowo, Minsk. Auslöser waren Lebensmittelknappheit, Preiserhöhungen, Entlassungen von Arbeitern. Am 1. Juni 1962 kam es in Nowotscherkassk zu einem Volksaufstand. Es gab 80 Tote und 250 Verwundete. Darüber berichtet Jakowlew detailliert: „In der ersten Jahreshälfte hatte die Administration des E-Lok-Werkes von Nowotscherkassk die Arbeitsnormen mehrfach überprüft, was zur Folge hatte, dass der Lohn für viele Arbeiter um bis zu 30 Prozent sank. Am Morgen des 1. Juni versammelten sich die Arbeiter gruppenweise im Fabrikhof, um die Entscheidung der Regierung über die erhöhten Einzelhandelspreise für Fleisch- und Milchprodukte zu diskutieren. Zur Sprache kamen auch die unnormalen Arbeitsbedingungen, der Mangel an Sicherheitstechnik im Werk, die schlechten Lebensverhältnisse und die niedrigen Löhne. Auf Verlangen der Versammelten erschien der Direktor des Betriebs. Nichts deutete auf einen Ausbruch von Unruhen hin. Doch der Direktor demonstrierte seinen Hochmut. Als die Arbeiter ihn fragten, wie sie jetzt weiter leben sollten, erwiderte er zynisch: Wenn Ihr kein Geld für Brot habt, dann fresst halt Brötchen mit Geschlinge! Der Satz war der Funke des Wutausbruchs unter den Demonstranten, die sich formierten und durch die Straßen der Stadt zogen. Schon zu Mittag des 1. Juni traf Kirilenko, Mitglied des ZK-Präsidiums, in Rostow am Don ein, und haute gehörig auf die Pauke. Er las dem Kommandeur des Militärbezirks, General Plijew, und dem Chef der Politverwaltung, General Iwaschtschenko, die Leviten, weil sie nichts unternahmen. Kirilenko forderte sie auf, unverzüglich Truppen nach Nowotscherkassk zu entsenden, damit das Rowdytum unterbunden wird. Chruschtschow gab dazu seine Zustimmung. Noch am selben Tage begab sich Kirilenko mit Plijew und Iwaschtschenko nach Nowotscherkassk. Mikojan, Koslow, Scheljepin, Poljanski sowie die Chefs der KGB-Zentralorgane und das Kommando der Inneren Truppenverbände des Innenministeriums flogen mit ein. Militäreinheiten und Truppen des Innenministeriums rückten der Stadt näher. Den obersten Machthabern saß der Schreck in den Gliedern. Am nächsten Morgen schlossen sich die Arbeiter der Maschinenfabrik für die Erdölindustrie und anderer Betriebe den Forderungen der E-Lok-Erbauer an. Die unbewaffneten Menschen 214 215

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Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 60. Schlögel, Widerstandsformen, S. 131.

bewegten sich in einer Kolonne zum Zentrum der Stadt. Sie demonstrierten friedlich, trugen rote Fahnen, Transparente mit dem Porträt von Lenin und Blumen mit sich. Viele Frauen und Kinder waren dabei. Als sich die Menge dem Gebäude des Parteistadtkomitees auf vier bis fünf Kilometer genähert hatte – dort befanden sich Koslow, Kirilenko und Mikojan und hielten Chruschtschow auf dem Laufenden –, da baten diese den Generalsekretär um die Erlaubnis, die Demonstration gewaltsam aufzulösen. Die Arbeiter näherten sich samt Familien, Frauen und Kindern dem Gorkom-Gebäude (Stadtverwaltung) auf etwa fünfzig bis hundert Meter. Die Versammlung begann mit den ersten Rednern, die eine Erhöhung der Löhne und die Senkung der Lebensmittelpreise verlangten. Zur Antwort wurde der Befehl erteilt, das Feuer zu eröffnen. Schüsse fielen. Zwanzig Menschen, darunter zwei Frauen, wurden erschossen. In die städtischen Krankenhäuser wurden 87 Verwundete eingeliefert, drei von ihnen erlagen später ihren Verletzungen. Massenhafte Festnahmen der Anstifter der Unruhen setzten ein…Insgesamt verurteilte man 116 Menschen, sieben von ihnen zum Tod durch Erschießen. Viele erhielten lange Freiheitsstrafen – von 10 bis 15 Jahren. Die Machthaber unternahmen alles, um das Geschehene zu vertuschen, dazu gehörte die Ermordung von einigen Dutzend Menschen. Die Leichname wurden insgeheim auf verschiedenen Friedhöfen des Gebiets Rostow bestattet. Die Zeitungen enthielten kein einziges Wort über die Ereignisse in Nowotscherkassk. Erst am 6. Juni erwähnte die Zeitung Prawda die Stadt mit Namen und teilte mit, dort hätten die ‚Werktätigen die Erhöhung der Ankaufs- und Verkaufspreise auf Fleisch und Butter richtig eingeschätzt‘. Natürlich richtig! Die Prawda hatte nie das Gespür für Humor. In derselben Veröffentlichung rühmte man die Arbeitsbegeisterung der Menschen von Nowotscherkassk.“ 216 Gawriil Popow, seit 1990 Vorsitzender des Moskauer Stadtsowjet, der aus Nowotscherkassk stammt, interpretiert das Schießen auf die demonstrierenden Arbeiter als gezielten Schachzug seiner Gegner, Chruschtschows Kurs der Machtverlagerung nach unten zu diskreditieren. Chruschtschows Schwiegersohn und Chefredakteur der Regierungszeitung „Iswestija“, Adschubej, sieht, dass gerade in Nowotscherkassk der Versuch der Massen, die ursprüngliche Variante von Chruschtschows Reformen zu verteidigen und ihr Recht auf Teilnahme an den Umgestaltungen zu behaupten, beerdigt und dem Militärgericht überantwortet wurde. Und er fordert im Jahr 1990, die Volksdeputierten sollten eine Kommission zur Überprüfung des Falls von Nowotscherkassk berufen, „um endlich die erschossenen Arbeiter zu rehabilitieren und einen Beschluss über ein Denkmal in Nowotscherkassk anzunehmen. Auf diesem Denkmal sollten die Namen der Gefallenen und die Namen jener Offiziere stehen, die sich geopfert haben, um ein noch größeres Gemetzel zu verhindern, die sich geweigert haben, den Panzern den Befehl zu geben, gegen Demonstranten vorzugehen.“ 217 Jakowlew, Abgründe, S. 316f. Adschubej, Alexej, Gestürzte Hoffnung. Meine Erinnerungen an Chruschtschow. Berlin 1990, S. 388f. 216 217

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1964 ging die Anzahl der Streiks etwas zurück, aber in den folgenden Jahren kam es erneut zu Arbeitsniederlegungen; 1972 kam es in Dnepropetrowsk zu Toten und Verwundeten. Gorbatschow schreibt, sein Schwager Schenja habe ein Roman-Manuskript fertiggestellt gehabt über ein Grubenunglück, den Tod von Kumpeln und die Erschießung von demonstrierenden Arbeitern. Er habe das selbst gelesen. 218 1977-79 und 1980 folgten in zahlreichen Städten Streiks. Sie waren oft erfolgreich: Direktoren wurden abgesetzt, Normerhöhungen zurückgenommen, Lohn-Kürzungen aufgehoben, die Lebensmittelversorgung verbessert. Es gab aber auch zahlreiche Verurteilungen. Gelegentlich wurden, wie im Mai 1969, auch Forderungen laut wie „Alle Macht den Räten!“ 219 Es gibt Verbindungen zwischen Revolten in den Lagern und Arbeitsniederlegungen in Fabriken. Vor allem aber gibt es Personen, von denen die Idee einer selbständigen Interessenvertretung der Arbeiter ausgeht. Einer von ihnen ist V. Klebanow, Jahrgang 1932, andere sind A. Nikitin, Jahrgang 1940 und E. B. Nikolajew. Alle waren dadurch aufgefallen, dass sie sich für ihre Arbeitskollegen eingesetzt hatten, zuerst gegenüber den Betriebsdirektoren, dann in Schreiben an das ZK der KPdSU. Schließlich suchten sie den Kontakt zu ausländischen Korrespondenten (Washington Post), ILO (International Labor Organisation, Genf), IBFG (Internationaler Bund der Freien Gewerkschaften, Brüssel), zum amerikanischen Gewerkschaftsverband APL-CIO. Schließlich wurden am 28.10.1978 in der Wohnung von M. Morozow in Moskau Vertreter westlicher Zeitungen über die Gründung der „Freien Interprofessionellen Vereinigung der Werktätigen (SMOT) informiert. In zehn Gruppen umfasste SMOT 150-200 Mitglieder. In einer von A. Najdenowitsch und L. Agapowa und weiteren 419 Personen unterzeichneten Erklärung wird Kritik am sowjetischen System geübt: In der Sowjetunion herrschten soziale Gegensätze, wie sie in keiner des bisher existierenden Gesellschaften aufgetreten seien; sie drückten sich in Rechtsungleichheit und unterschiedlichem Lebensstandard aus. Überstunden, Nachtarbeit, schlechte Arbeitsbedingungen werden konkretisiert. SMOT fordert das Streikrecht. In der Arbeiterklasse wachse das Gefühl der Ausweglosigkeit und des Zynismus angesichts der Willkür der Behörden und Vorgesetzten bei der Vergabe von Prämien, Urlaub, Wohnungen und Reisen. SMOT verlangt die Abschaffung des Pass-Systems, die Beseitigung der Zwangsarbeit in den Lagern und der zwangsweisen Zuteilung von Arbeit aufgrund des Gesetzes gegen Schmarotzertum (tunejadstvo). Es bestehe in der UdSSR zwar Arbeitskräftemangel, er sei aber nicht dadurch verursacht, dass die eine oder andere Frau nicht berufstätig sei, sondern darin, dass Millionen von arbeitsfähigen Männern unter Waffen stünden, in Osteuropa als Besatzungstruppen eingesetzt seien oder im Apparat der Überwachung, Bespitzelung und Zensur auf Kosten der Bevölkerung lebten. 220 Die Gorbačev, Michail, Naedine na soboj, S. 115. Schlögel, Widerstandsformen, S. 137. 220 Schlögel, Widerstandsformen, S. 173f. 218 219

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Gründungserklärung war von L. Agapowa, V. Borisow, L. Wolochonskij, A. Iwantschenko, E. Nikolaew, V. Nowodworskaja, V. Skwirskij und A. Jakorewa unterzeichnet worden. Im Brief an den IBFG vom 28. Oktober 1978 wird auf die spezifischen Bedingungen verwiesen, unter denen sich gewerkschaftliche Aktivitäten in der UdSSR entwickeln können: „Die Gewerkschaftsbewegung ist unter den Bedingungen eines totalitären Staates gezwungen, die Formen der Föderation von autonomen Gewerkschaftsgruppen anzunehmen, die ihre Vertreter in ein Koordinationszentrum entsenden – den Vertreter-Rat, der das Leitungsorgan von SMOT darstellt.“ 221 Ebenfalls wurde eine Solidaritätsadresse an die streikenden polnischen Arbeiter bzw. die Gewerkschaft „Solidarność“ geschickt und vor einer ausländischen Intervention in Polen gewarnt. Darüber hinaus schlug SMOT die Bildung einer „ständig arbeitenden vereinigten Kommission freier Gewerkschaften der sozialistischen Länder“ vor, an der sich Vertreter der polnischen unabhängigen Gewerkschaften, das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR), Vertreter unabhängiger Gewerkschaftsgruppen aus Ungarn, Jugoslawien, aber auch solchen Gruppierungen wie der „Charta 77“ und Vertreter der Menschenrechtsbewegung in der DDR, Bulgarien, Rumänien beteiligen sollten. 222 Wie schon bei den Ereignissen in Ungarn 1956 und der ČSSR 1968, als die sowjetische Intervention von vielen Bürgern der UdSSR missbilligt wurde, führten auch die Ereignisse in Polen zu Solidaritätsbekundungen auch außerhalb von SMOT. So gründete sich das „Russische Hilfskomitee für die polnischen Arbeiter“ (Russkij komitet pomošči pol’skich rabočich, RKPPR). Im Aufruf des Komites heißt es: „Liebe polnische Freunde! Im Namen des größten Teils des russischen Volkes, dessen Stimme angeblich durch die Losungen der Partei verkörpert wird, begrüßen wir euren gerechten Kampf für eure Rechte. Wie 63 Jahre zuvor die Revolution in Russland die weltweite Arbeiterbewegung begeisterte, so muss auch eure Bewegung einen mächtigen Anstoß im Kampf für Demokratie in den ‚sozialistischen‘ Ländern geben. Wir sind sicher, dass die Tätigkeit der Gewerkschaft ‚Solidarność‘ die wahren Hoffnungen der polnischen Werktätigen widerspiegelt und dass ihr unter der Leitung dieser Gewerkschaft eine Besserung der Lage in Polen erreichen werdet. Wir werden alles in unseren Kräften stehende tun, damit eure Bewegung breite Unterstützung in der UdSSR finden wird. Wir hoffen, dass die russische Arbeiterklasse, ihren kämpferischen Traditionen treu und ermutigt durch euer Beispiel, die geballte Faust der proletarischen Einheit erheben wird. Wir folgen mit großer Aufmerksamkeit der Entwicklung der polnischen Arbeiterbewegung und sind eures baldigen Sieges gewiss, Freunde! Solidarität mit ‚Solidarność‘!“ 223 Die Antwort blieb nicht aus. So ging vom 1. Kongress der Solidarność vom 8. September 1981 die Einladung an die Arbeiter der Lichatschew-Automobilfabrik Schlögel, Widerstandsformen, S. 174. Schlögel, Widerstandsformen, S. 179f. 223 Schlögel, Widerstandsformen, S. 193. 221 222

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in Moskau, sich selbst ein Bild der Art der Tätigkeit der neuen Gewerkschaft zu machen. 224 Die KPdSU reagierte auf die zunehmende öffentliche Wahrnehmung der Gewerkschaftsdiskussion einerseits dadurch, dass sie die Vertreter mit Sanktionen belegte, vor Gericht zitierte und verurteilte, in psychiatrische Kliniken einwies oder in die Emigration schickte. So befanden sich Ende der Breschnew-Zeit etwa 400-500 systemkritische Sowjetbürger in der Emigration, dazu kamen zehntausende Angehörige mosaischen Glaubens, die emigriert waren. Breschnew kritisierte aber auf dem XXVI. Parteitag der KPdSU auch die Vertreter der offiziellen Gewerkschaften; sie sollten sich mehr für Arbeitsschutz und die Einhaltung der Kollektivverträge einsetzen. Auf diese Weise war in der Sowjetunion eine Gewerkschaftsdiskussion entstanden, die sich nicht nur auf die auch von der UdSSR ratifizierte Konvention der Freiheit der Assoziation und Verteidigung des Rechts auf Organisation, verabschiedet von der ILO am 9. Juli 1948, stützte, sondern auch Eingang in die Parteiführung gefunden hatte. Angesichts dieser politischen Wirkung stellt sich die Frage nach der Verbindung von Dissidenten und nicht systemkonformen Arbeitern bzw. ihrer Interessenvertreter. So hatten sich einige der in SMOT engagierten Arbeitervertreter mit den verfolgten Dissidenten solidarisch erklärt. Serwij z.B. forderte die Behörden auf, die Verfolgung von Sacharow, Moroz und Dzjuba einzustellen, und Ewgrafow appellierte an die sozialistischen und kommunistischen Parteien Westeuropas, sich für die sowjetischen Dissidenten einzusetzen. Kukobaka hatte mehrmals versucht, mit Sacharow Kontakt aufzunehmen. 225 Aber auch die Dissidenten suchten die Verbindung zu den nicht systemkonformen Arbeitern. So informierte Sacharow seinerseits über die Verurteilung M. Kukobakas, oder V. Nekipelow intervenierte zugunsten E. Buzinnikows. 226 Schlögel zitiert aus dem Schreiben V. Nekipelows: „Wenn früher die moralische Bewegung zur Verteidigung der Menschenrechte in unserem Land, für die Befreiung der Seele und des Denkens von der geistigen Tyrannei des Staates und seiner Ideologie im grundlegenden Selbstverständnis der Intelligenz begründet war, dann beginnt sie sich jetzt auszuweiten, indem sie schrittweise alle Schichten unserer Gesellschaft erfasst.“ 227 Als weiteres Beispiel für die Verbindung von Forderungen nach Menschenrechten und Arbeiterrechten zitiert Schlögel aus der Stellungnahme der Moskauer Helsinki-Gruppe zur Verurteilung des SMOT-Gründungsmitglieds L. Wolochonskij. Darin heißt es u.a.: „Das Fehlen grundlegender Menschenrechte und Freiheiten ist untrennbar verknüpft mit der sozial-ökonomischen Ungerechtigkeit. Die Arbeiterrechte sowie die sozial-ökonomischen Rechte und die soziale Schlögel, Widerstandsformen, S. 245. Schlögel, Widerstandsformen, S. 188. 226 Brief A. Sacharows an die Gewerkschaften aller Länder, den Vorsitzenden der AFL-CIO G. Meany und Amnesty International zur Verurteilung M. Kukobakas, Archiv Samizdata Nr. 3688; Nekipelov, V., An die Arbeiter des westdeutschen Chemiekonzerns IG-Farben und die internationale Organisation Amnesty International, Archiv Samizdata Nr. 3393; Schlögel, Widerstandsformen, S. 238. 227 Schlögel, Widerstandsformen, S. 239. 224 225

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Gerechtigkeit können nur verwirklicht werden, wenn Vereinigungen der Werktätigen existieren, die, frei und unabhängig von der regierenden Partei und vom Staat, für deren Verwirklichung kämpfen können.“ 228 In der Kontaktaufnahme zu in Moskau akkreditierten Journalisten wie zur polnischen Gewerkschaft ‚Solidarność‘ ist aber eine neue Qualität der Selbstfindung entstanden, nach innen in die sich herausbildende Organisation hinein wie nach außen gegenüber den Repräsentanten der Partei. Gerade durch Arbeitervertreter wurde das System in seinem Grundverständnis herausgefordert. Es wurden die ideologischen Phrasen mit der Realität konfrontiert, eine völlig unmarxistische Übung, aber eine erfolgreiche. Und es gab noch andere Baustellen, zum Beispiel den Umweltschutz. Im Laufe der Jahrzehnte entwickelte sich in der Sowjetunion (wie auch in den anderen industriell entwickelten sozialistischen Staaten) angesichts der zunehmenden Umweltschäden wie der Folgen für die Volksgesundheit ein kritisches Bewusstsein, das die Planungskompetenz des Partei- und Staatsapparates infrage stellte. Das ging an die Substanz der Herrschaft der KPdSU.

1.5 Die Umweltprobleme: Hydraulische Despotie? „Sozialismus, das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“ Vom Kreml aus ging der Blick auf diesen Ausspruch Lenins, der das Kraftwerk auf der anderen Seite der Moskwa zierte. Aber die stromerzeugenden Großbauten sind mehr mit Stalins Namen verbunden. In Kujbyschew, bei Stalingrad, bei Nowosibirsk und Bratsk entstanden die damals (Eröffnung 1958 bis 1967) größten Wasserkraftwerke der Welt. Sie veränderten die Landschaft gravierend. So hatte der Kujbyschewer Staudamm eine Länge von 1686 Metern; er ließ den Wasserspiegel der Wolga um 27 Meter steigen und staute den Fluss auf einer Länge von 600 km. 229 Besonders für die mittelasiatischen Republiken waren Sozialismus und Elektrifizierung identisch. Die nicht nur die Sowjetunion erfasste Fortschrittsideologie wich zu Beginn der 70er Jahre einer ersten Ernüchterung, als der Club of Rome die „Grenzen des Wachstums“ prophezeite und ein Umdenken einforderte. Die Konfrontation mit den global benannten Problemen des Klimawandels und der Umweltverschmutzung richtete auch in der Sowjetunion den Blick auf die nicht mehr zu leugnenden Folgen einer eindimensionalen Industrialisierung. Da die Verantwortung aber nicht auf eine „Industriepartei“ oder „Kapitalinteressen“ abgeschoben werden konnte und sich herausstellte, dass die Umweltschäden immense ökologische und gesundheitliche Kosten verursachten, erhielten sie gesamtgesellschaftliche Relevanz. Durch die offensichtlichen Tatbestände und die sie auslösenden Proteste be228 229

Schlögel, Widerstandsformen, S. 239. Gestwa, Klaus, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. München 2010, S. 29.

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deuteten die Umweltprobleme eine immer größere Herausforderung für die Problemlösungskompetenz des Staates, damit für das System der KPdSU-Herrschaft selbst. Es ging also nicht nur um die Alternative Umweltschutz oder Wirtschaftswachstum. 230 Die Wasserqualität der Flüsse sank rapide, sogar der Bajkalsee war zeitweise bedroht, der Aralsee fast ausgetrocknet, die Karabugas-Bucht verschlammt – allein 1985 sank der Wasserspiegel des Kaspischen Meeres um 3,5 Meter 231 – und in Usbekistan bedrohte die sich wieder ausbreitende Salzwüste die Monokultur der Baumwollfelder. Valentin Rasputin 232,Dschingis Ajtmatow 233 u. a. gaben den Umweltproblemen literarische Qualität. Natürlich war die Sowjetunion auch von der Luftverschmutzung betroffen. Die Lebenserwartung der Bevölkerung sank rapide. D.h., im Ergebnis wurde die Lücke zwischen dem Anspruch, das fortschrittlichere Gesellschaftsmodell im Vergleich zum Kapitalismus zu besitzen, und der erfahrenen Realität immer größer. Auch Schewardnadse wurde mit den Umweltschäden konfrontiert, wie er schreibt: „Man könnte mir unschwer vorhalten, dies alles sei eine Art intellektueller Spielerei, und dabei nicht einmal eine besonders versierte, hätte ich nicht das sterbende Schwarze Meer, die Wüste auf dem ehemaligen Grund des Aralsees vor Augen. Wüsste ich nicht, dass diese ökologische Katastrophe ein ganzes Volk an den Rand des Elends und des Aussterbens gebracht hat. Wüsste ich nicht um die reale Gefahr, die eine ausgedehnte Region an der Wolga mit dem Untergang bedroht. Ich selbst hatte mich mit dem Dilemma herumzuschlagen, dass das Ferrolegierungswerk der Stadt Sestafoni, das mit giftigen Emissionen Westgeorgien verseuchte, wegen der besonderen Wichtigkeit seiner Erzeugnisse für die Interessen des Staates‘ nicht stillgelegt werden durfte, aber die Gesundheit, das Leben und die Zukunft der Kinder, die mit grauenerregenden Verunstaltungen zur Welt kamen, ruinierte.“ 234 Ein weiteres Beispiel ist das Projekt, Wasser aus dem Ob beim Zusammenfluss mit dem Irtysch zu entnehmen und es durch die Niederungen von Syr-Darja und Amu-Darja durch einen 2.200 km langen Kanal in die Wüsten Kasachstans und Mittelasiens umzuleiten, um die Verdunstung des Aral-Sees aufzuhalten. Als die Sowjetführung in den 70er Jahren, nachdem inzwischen 10 Mrd. Rubel in Planung und Erprobungsarbeiten investiert wurden waren, das Projekt „Umleitung“ in die Tat umsetzen wollte, bildete sich eine immer breiter werdende Front von Gegnern gegenüber dem „ökologischen Kriegskommunismus“. Gestwa schreibt: „Vielen galt die Auseinandersetzung um das Flussumleitungsprojekt als die entscheidende Kraftprobe der sowjetischen Gesellschaft bei der Überwindung völlig überholter, DeBardeleben, Joan, Umweltschutz versus Wirtschaftswachstum: Aus der Sicht der DDR und der UdSSR. In: Deutsche Studien 90, Juni 1985, S. 109-130. 231 Pestel, Eduard, jenseits der Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome. Stuttgart 1988, S. 192. 232 Rasputin, Valentin, Proščanie s Materoj 1976. Deutsch: Abschied von Matjora. 4. Aufl. Berlin (DDR) 1979; Poschar 1985. Deutsch: Der Brand. Berlin (DDR) und Müchen1987. 233 Ajtmatow, Dschingis Torekulovitsch, Placha 1986. Deutsch: Der Richtplatz. Zürich 1987. 234 Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 306. 230

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wissenschaftlicher, voluntaristischer Formen der Wirtschaftsführung. Der Chefredakteur des einflussreichen literarischen Journals Nowyj Mir, Sergej P. Zalygin, meinte später sogar rückblickend, dass in dieser heftigen Debatte die öffentliche Meinung in der Sowjetunion endlich ‚Bürgerrecht erlangt‘ hätte.“ 235 Ein wissenschaftliches Gutachten des Sowjetischen Staatskomitees für Planungswesen enthüllte die sozioökonomische und technologische Haltlosigkeit des Projekts. Es wurde festgestellt, dass seine Realisierung nicht nur der sibirischen Natur nicht wiedergutzumachende Schäden zugefügt, sondern auch kaum zur Lösung der in der Tat gravierenden Probleme in Mittelasien beigetragen hätte. Die Arbeit am sogenannten Davidov-Plan wurde rechtzeitig unterbrochen, und die Öffentlichkeit konnte erleichtert aufatmen. 236 Eduard Pestel schreibt erklärend dazu: „Die nunmehr laut gewordene Sorge um die sowjetischen Pläne rührt daher, dass das in das arktische Meer fließende Süßwasser leichter als das Salzwasser des Meeres ist und daher auf einer Schicht wärmeren, aus dem Atlantik kommenden Salzwassers schwimmt. Das Süßwasser hat damit die Wirkung, die polare Eisdecke vom warmen atlantischen Wasser abzuschirmen. Würde diese Isolierung infolge der Umleitung der Flüsse nach Süden und wegen des somit geringeren Süßwasserzuflusses ins arktische Meer geschwächt werden, dann würde ein teilweises Schmelzen der Eisdecke eintreten, was wiederum zu einer Erwärmung der nördlichen Hemisphäre um einige Grad führen könnte. Dies würde dann unter anderem Veränderungen in der Menge und Verteilung von Niederschlägen verursachen und damit in den südlichen Teilen Russlands, also in den heutigen Kornkammern der Sowjetunion, wegen dann dort mangelnden Regens dauernde Missernten zur Folge haben können. Es werden hier also die gleichen Konsequenzen befürchtet wie beim weiteren Anstieg des CO²-Gehalts in der Atmosphäre.“ 237 Das dramatische Geschehen um die Reinhaltung des Bajkalsees und der Widerstand gegen die Flussumleitung öffneten der Bevölkerung die Augen auch für die zahlreichen kleineren und größeren ökologischen Katastrophen in ihrem Umfeld. Das zeigte sich bei der öffentlichen Diskussion der neuen Verfassung 1977, als die Sowjetbürger in vielen Leserbriefen nachdrücklich ein ökologisches Umdenken forderten. Zwei Artikel sind dem Umweltschutz gewidmet: „Artikel 18: Im Interesse der heutigen und kommender Generationen werden in der UdSSR die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz und zur wissenschaftlich begründeten, rationellen Nutzung des Bodens und der Bodenschätze, der Wasserressourcen, der Pflanzen- und Tierwelt, zur Reinhaltung der Luft und des Wassers, zur Gewährleistung der Reproduktion der Naturreichtümer und zur Verbesserung der Umwelt des Menschen getroffen. … Artikel 67: Die Bürger der UdSSR sind verpflichtet, die Natur und ihre Reichtümer zu schützen.“ Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 541. Saslawskaja, Tatjana, Die Gorbatschow-Strategie. Wirtschafts- und Sozialpolitik in der UdSSR. Wien 1989, S. 76. 237 Pestel, Eduard, jenseits der Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome. Stuttgart 1988, S. 192 f. 235 236

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Aber es gab in der UdSSR kein Verfassungsgericht, vor dem staatliche Stellen, gesellschaftliche Organisationen oder Bürger gegen die Verletzung der Verfassung hätten klagen können. Umso größere Bedeutung erhielt deshalb die Öffentlichkeit, d. h. die aufgeklärten Medien und die Literatur. „So löste die ‚Rettung des Bajkal vor dem Umkippen‘ wie kein anderes Umweltproblem in der Sowjetunion eine Pressekampagne aus, die von allen Tageszeitungen über Jahrzehnte geführt wurde“, schreibt Gundula Bahro. „Diese Diskussion, die lokale Umweltschützer, Wissenschaftler und Schriftsteller zusammenführte, war gleichzeitig ein gesellschaftspolitischer Affront gegen das Ministerium für Zellulosewirtschaft. Einmal angelaufen, ließ sich dieser Meinungsaustausch nicht stoppen, und aus den Reportagen in den Zeitungen tritt ein realistisches Bild der Zustände hervor, gegen welche sich die von den Regierungsstellen mit großem Propagandaaufwand betriebenen Umweltschutzmaßnahmen letztlich in ihrer Effektivität als ‚Potemkin’sche Dörfer‘ erweisen.“ 238 Als die „Komsomolskaja Prawda“die Rubrik „Mensch und Natur“ (čelovek i priroda) einführte, gingen bei der Redaktion tausende von Leserbriefen ein. Bahro zitiert aus der Ausgabe vom 29. März 1975: „Der Arzt Sidorenko meint, das Problem Ökologie stehe nach wie vor auf der Tagesordnung. Langwierige Schäden an der Natur seien zu wenig beachtet worden. Erst in den letzten Jahren hätte weltweit ein ‚Boom‘ gesellschaftlichen Interesses an den Störungen im biologischen Gleichgewicht eingesetzt. Der beschwichtigende Charakter der öffentlichen Kampagne hänge deshalb mit der ausgelösten Panik zusammen. Die Hauptverursacher der Umweltverschmutzung seien Kraftwerke, Buntmetallurgie, Erdölgewinnung und die Autos. Ein Leser glaubt, dass die Vorstellung davon, dass die Abwasserreinigung zu teuer werden würde, irreal sei. Die Veröffentlichung schließt mit einem Ruf nach internationalen ökologischen Projekten und der Einführung des Faches ‚Ökologie‘ in der Schule.“ 239 Anfang der 80er Jahre geißelte der Schriftsteller Daniil Granin eindringlich die „Konsumenteneinstellung zur Natur“ und die „Überheblichkeit“ des modernen Menschen, der sich als „Bezwinger der Natur“ aufspielte. Sein Kollege G. I. Resnitschenko forderte sogar einen „ökologischen Pazifismus“ und ein energisches Vorgehen „gegen den kriegerischen Angriff auf die Natur“. Der stalinistische Feldzug gegen die Natur müsse nun dem beherzten Einsatz für den Umweltschutz weichen. Statt in den Kampf gegen die Flüsse, Berge, Winde und Wüsten zu ziehen, habe der moderne Mensch mit der Natur in Frieden zu leben. Die Sowjetgesellschaft, so der Wirtschaftswissenschaftler P. G. Oldak, sei in ihrer Entwicklung an der Grenzlinie angelangt, hinter der eine neue Denkweise und eine neue Lebensweise notwendig würden. 240 Auch Boris Laskorin, Philosoph und Mitglied der Akademie der Wissenschaften, hatte davon gesprochen, dass „sich eine Wende Bahro, Umwelt- und Tierschutz in der modernen russischen Literatur, S. 206. Ėkologija – neizbežen li krisis? In: Komsomol’skaja Pravda 29.03.1975, zit. bei Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 216. 240 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 541f. 238 239

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von der Idee der absoluten Herrschaft über die Natur zur Idee des Verhältnisses zwischen Gesellschaft und Natur als eines zwischen…ebenbürtigen Partnern vollzieht.“ 241 Zwar, schreibt Gestwa, dürfe der Grad der Mobilisierung der Gesellschaft in Umweltfragen vor 1986, d.h. vor Tschernobyl, nicht überschätzt werden, dennoch sei das ‚Ökosyndrom‘ in der Sowjetgesellschaft zum Symptom für einen grundlegenden Wertewandel und die zunehmende ideologische Verschlissenheit des Sowjetkommunismus geworden. „Es umfasste ein Konglomerat unterschiedlicher Stimmungen, so den Protest gegen die Anonymität in den unwirtlich gewordenen Industriezentren, den Aufruf zur Wiederentdeckung der ‚reinen Natur‘, die Klage über Identitäts- und Geschichtsverlust und die Forderung nach einer ‚ganzheitlichen‘ Weltanschauung und Lebensweise.“ 242 Drei unterschiedliche Richtungen lassen sich ausmachen. Gestwa nennt sie die „Utilitaristen“, bestehend aus Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, ökologisch aufgeklärten Staatsbediensteten und enttäuschten Ingenieuren. „Ihr ökologischer Protest zielte darauf, das Sowjetsystem durch längst überfällige Reformen den neuen Herausforderungen der Zeit besser anzupassen.“ Sie stellten „weder das Wachstumsparadigma noch die Führungsrolle der Partei in Frage und äußerten ihre Kritik im Rahmen des politisch Erlaubten und der vorgegebenen Strukturen … Erst, als während der Perestrojka immer deutlicher wurde, dass die Fundamente des Sowjetstaats hoffnungslos verrottet waren, gelangten viele zur Einsicht, dass sich das überkommene politische System nicht reformieren ließ.“ 243 Die zweite Gruppe nennt er die „Populisten“. Sie rekrutierten sich aus den literarischen und philosophisch-sozialwissenschaftlichen Milieus; sie wollten bei der Projektierung von Großprojekten die Betroffenen mit einbeziehen, denn Fortschritt hänge weniger von der modernen Technologie, sondern vor allem vom menschlichen Faktor ab. Und an die Stelle des Strebens nach schrankenloser Naturbeherrschung müsse die Harmonie von Mensch und Natur treten. Eine gewisse Kritik an der „wissenschaftlich-technischen Revolution“ ist auszumachen. Die dritte Gruppe nennt er die „Nationalisten“. Ihnen diente die Natur als spirituelle Wärmequelle. „Nicht mehr die Fabrik und das Kraftwerk als Tempel der Maschinen und des Fortschritts, sondern der Wald, der See und die Weite des von Menschenhand weitgehend unberührten Landes erschienen als Heiligtümer der Ganzheit und Ursprünglichkeit. … Im Namen verschandelter Natur setzen die ‚Nationalisten‘ Technik und Industrie auf die Anklagebank. Ihr Konzept vom Umweltschutz besaß einen starken konservativ-nationalen Einschlag. Es war von Emotionalität und Naturromantik gekennzeichnet.“ 244 Die herausragenden Fürsprecher dieser Gruppe der sogenannten Dorfschriftsteller (derevenščiki) waren Laskorin, Boris, Die Entwicklung der Produktion und der Umweltschutz. In: Umweltschutz und Gesellschaft. Moskau 1983, S. 75. 242 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 543. 243 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 543f. 244 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 545. 241

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Vasilij Below, Viktor Astafjew, Vladimir Solouchin, Vladimir Tschiwilichin und Valentin Rasputin. Sie hatten in Sibirien den Einfall der industriellen Moderne in die traditionelle ländliche Welt erlebt. In ihren Werken ziehen sie gegen die Moskauer Planungsstrategen ins Feld, die im Namen des Kommunismus die russische Kultur nivelliert und ausgerottet hatten. Sie initiierten die Rückbesinnung auf die nationale Kulturtradition. „Statt von Beschleunigung und Aufbruch sprachen sie von Bodenständigkeit und Rückkehr. Das in der spätsowjetischen Dorfprosa entworfene Idealbild war keineswegs mehr die kommunistische Industriegesellschaft“, schreibt Gestwa. „Der durch seine Schönheit beeindruckende Bajkalsee, die mächtigen Flüsse und die weiten Wälder Sibiriens dominierten das Bild einer von der Industrie noch unberührten, heilen Landschaft. Als Insel der ursprünglichen Natur bot sie den Sowjetmenschen die Möglichkeit, die unerträgliche Entfremdung und Heimatlosigkeit zu überwinden und zu ihren eigentlichen Wurzeln zurückzufinden. Den enttäuschten, mit der Welt zerstrittenen literarischen Helden bringt die Wanderung in der metaphysisch offenen Landschaft eine innere Erneuerung. Das Erleben der Elemente und der Schönheit der Natur sollten helfen, die eigene Machtlosigkeit zu kompensieren und zu idealisieren. In der dichotomischen Wirklichkeitswahrnehmung der Dorfschriftsteller erschienen Großbauten, Fabriken und Städte als Orte, an denen sich die Industriezivilisation mit Beton, Stein und Eisen wie ein Krebsgeschwür in der russischen Landschaft festgesetzt hatte, um den Gesellschaftskörper mit dem Gift der Moderne zu durchsetzen.“ 245 So in Rasputins „Der Brand“. Es handelt sich bei den Dorfschriftstellern nicht um Dissidenten im herkömmlichen Sinne, worauf Gestwa ausdrücklich hinweist, andererseits standen sie quer zum Fortschrittswahn der KPdSU. Das wird besonders deutlich in ihrem Engagement für die Wiederentdeckung des alten russischen Dorfes als jenen sozialen Raum, der im Zuge der Kollektivierung und Industrialisierung erbarmungslos verwüstet worden war. „Mit einer ‚Ökologie der Kultur‘, wie Dmitrij Lichatschew sagte, galt es, die Zerstörung unersetzlicher Denkmäler altrussischen Kulturlebens und historisch wertvoller Bausubstanz zu verhindern. In der Auseinandersetzung um die Flussumleitung prägte Vasilij Below 1986 die eingängige Metapher vom ‚Fluss der Vergesslichkeit‘, um zu betonen, dass die gestauten und umgeleiteten Flüsse nicht nur hunderte von Dörfern und zahllose Familien, sondern auch die nationale Identität der Russen zerstörten.“ 246 In Armenien war es Hrant Matewosjan, der sich daran machte, das aussterbende Dorf, die Dorfgemeinde durch sein schriftstellerisches Werk gegen den Prozess der Industrialisierung zu retten. 247 Die russische Dorfprosa entwickelt sich seit 1966 somit zum wichtigsten Zweig der sowjetischen Literatur und zugleich der Ökologiedebatte, die erst in den siebziger Jahren voll einsetzt. „Heute bietet sie den Rahmen für eine ökologistische Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 546f. Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 547. 247 Bayardyan, Hrach, Postsowjetisch werden, S. 401. 245 246

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Zivilisationskritik, die Hand in Hand geht mit der Verteidigung überlieferter kultureller Identität. Sie spricht dem russischen Dorf, seinen Menschen und ihren eigenen Traditionen, der Landschaft, die es umgibt, höchsten Wert zu und grenzt es betont von der städtischen Zivilisation und den Urbanisierungsfolgen ab“, schreibt Gundula Bahro. 248 Sie sieht diese Literatur zu recht eng verbunden mit dem Vordringen einer slawophil-fundamentalistischen Strömung, die auf die Verherrlichung der russischen Erde abziele, aber sie stellt auch fest, die neue Generation von Schriftstellern in den siebziger Jahren klage nicht allein über die vielen Verfehlungen, sondern suche auch danach, eine neue ethische Verbindung zwischen Mensch und Natur zu gewinnen. Bei Solouchin, Rasputin, Salygin, Granin, Astafjew und Ajtmatow sei die Natur in der Position des Partners oder sogar des Richters über den Menschen erhoben worden. Und ohne die ökologische Fragestellung komme heute kaum noch ein ernstzunehmendes Werk sowjetischer Literatur aus. 249So äußerte Valentin Rasputin in einem Gespräch mit Moskauer Studenten seine ökologischen Bedenken: „Vor allem beunruhigt mich, wie auch alle anderen, das Schicksal des Bajkal. Schon heute ist Süßwasser eine ungeheure Kostbarkeit. Der Bajkal ist ein Süßwasserreservoir von Weltbedeutung. Dieses Wasser zu behüten ist unsere größte Aufgabe. Wenn wir nicht ökonomische Umsicht walten lassen, werden uns das unsere Nachkommen nicht verzeihen. Die Beschlüsse, die jetzt zur Rettung des Bajkals und der Natur überhaupt gefasst werden, sind sehr wichtig. Schade, dass es sie nicht schon früher, vor zwanzig, dreißig Jahren gegeben hat.“ Und: „Sibirien ist nicht denkbar ohne die majestätische Angara – auch um diesen Fluss müssen wir ständig Sorge tragen. Der sibirische Wald bedarf ebenfalls der sorgsamen Hege und Pflege. Kurz, all das sind Probleme des Umweltschutzes, Fragen von gesamtstaatlicher Bedeutung, die das ganze Volk betreffen. Der Schriftsteller kann nicht gleichgültig an etwas vorübergehen, was alle bewegt. Das ist seine Pflicht als Staatsbürger und Literat.“ 250 Auf dem 8. Kongress der sowjetischen Schriftsteller Ende Juni 1986 in Moskau sprach Rasputin auch über die beiden Wasser-Projekte, und er appellierte an das Politbüro, an Gorbatschow persönlich, diese Vorhaben einzustellen. 251 Ausführlich ging auch Anatolij Iwanow auf das Thema Ökologie ein: „Oder nehmen wir das Thema der staatsbürgerlichen Verantwortung für die ökologische Situation im Lande. In das Dickicht dieser schmerzlichen Probleme dringen der Kasache Nurpeisow (Roman ‚Die Pflicht‘) 252, der Litauer Avyžius (Roman ‚Degimai‘) 253 und viele russische Schriftsteller kühn ein – Salygin, Astafjew, RaspuBahro, Gundula, Umwelt- und Tierschutz in der modernen russischen Literatur, S. 176. Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 176. 250 Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 156. 251 Literatur und Perestrojka. Die Diskussion auf dem sowjetischen Schriftstellerkongress. (Kleine Bibliothek 477). Köln 1987, S. 196. 252 Nurpeisow, Abdižamil, geb. 1924. Der sterbende See. Berlin und Weimar 1988. 253 Avyžius, Jonas, 1922-1999. Zeit der verödeten Höfe, Berlin 1974. 248 249

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tin, Below, Nossow … Diese und viele andere Schriftsteller analysieren den komplizierten Komplex der Ursachen, die ökologische Katastrophen, etwa im Aralsee, hervorrufen und eine alarmierende Situation des Baikalsees und in anderen Gegenden bewirken, sie wenden sich jenen verhängnisvollen ökonomischen und moralischen Auswirkungen zu, die daraus resultieren, dass riesige Steppengewässer und einst wasserreiche Ströme immer ärmer und seichter werden, dass in vielen Regionen des Landes die Natur zerstört wird. Der Zorn der Helden jener Bücher, die aus der Feder dieser Autoren stammen, richtet sich gegen Verantwortungslosigkeit und Misswirtschaft, gegen Raubbau und Verschwendung, gegen eine kopflose Jagd nach augenblicklichen und oft imaginären Vorteilen, die bittere Enttäuschungen und gewaltigen volkswirtschaftlichen Schaden nach sich ziehen.“ 254 Über Rasputins Werk „Abschied von Matjora“ schreibt Bahro, in dem Roman gebe es mehr philosophische Fragen und Betrachtungen als einfache Antworten. Rasputin artikuliere so etwas wie ein weit verbreitetes geheimes Schuldgefühl gegenüber den Menschen, die durch die moderne Technik aus ihrem Althergebrachten vertrieben werden. Sein Buch werfe die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur in einer für die Sowjetunion ungewohnten, anthropologisch überhöhten Sicht auf. Es nehme nicht wunder, dass der Roman in der sowjetischen Literaturkritik und auch in der DDR nicht einhellig begrüßt worden sei. 255 Während seiner Sibirien-Reise notiert Dieter Knötzsch, der Leiter der bundesdeutschen Diplomatenschule in Moskau, in sein Tagebuch am 4. Mai 1989: „Sibirien von 1989 ist nicht mehr das, was wir vor genau 20 Jahren einmal kennengelernt hatten. Die optimistischen Superlative von den Schätzen und der Zukunft des Landes hört man kaum noch. Das unbegrenzte Vertrauen in wirtschaftliches Wachstum ist verschwunden; die Lieder von den ruhmreichen Großbauten des Sozialismus, den großen Staudämmen von Bratsk und Krasnojarsk (den ‚KilowattTempeln‘ Jewtuschenkos) werden nur noch gedämpft gesungen; die grandiosen, größenwahnsinnigen Pläne der Umleitung der sibirischen Flüsse sind, nicht ohne Widerstand aus Moskau, begraben.“ 256 Klaus Gestwa hat sich dem Thema der „hydraulischen Despotie“ und seiner Ausformung im „hydrotechnischen Archipel Gulag, 1931-1958“, d. h. den Grundlagen für die Planungsmacht der siebziger Jahre, intensiv gewidmet. 257 2010 erschien seine beispielgebende Arbeit „Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948-1967“ 258. Am Ende ist die Euphorie über Großprojekte verschwunden. Als der Bau der Bajkal-Amur-Magistrale abgeschlossen ist, einer Eisenbahnlinie, die durch 3000 Kilometer Wildnis vom Bajkalsee zur Mündung des Amur in den Pazifischen Ozean führt, geht das Literatur und perestrojka, S. 230f. Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 162. 256 Knötzsch, Dieter, Fünf Jahre Perestrojka. Ein Moskauer Tagebuch. Frankfurt am Main 1991. 257 Gestwa, Klaus, Auf Wasser und Blut gebaut. Der hydrotechnische Archipel Gulag, 19311958. In: Osteuropa 6/2007, S. 239-266. 258 Gestwa, Klaus, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948-1967. München 2010. 254 255

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sehr nüchtern vor sich, geradezu wortlos im Vergleich mit den Hymnen am Beginn dieses Paradeprojektes vor mehr als zehn Jahren. Das Thema Ökologie war längst zum Politikum geworden. So fand der Deutsche Knötzsch in keinem Teil des Landes so viel Umweltbewusstsein wie in Sibirien. „Die schädlichen Auswirkungen der Staudämme werden in öffentlichen Versammlungen leidenschaftlich diskutiert, so vor den Wahlen im März. Die Verschmutzung des großen ‚herrlichen Bajkal‘ durch die Aluminiumwerke in Bratsk und Irkutsk schmerzt die Menschen geradezu. Sie vermissen die wahren sibirischen Winter, es wird ihnen zu warm, und sie machen die industrielle Produktion dafür verantwortlich. Gerade hier, wo es auf einige Hektar Wald mehr oder weniger nicht anzukommen scheint, gibt es die meisten ökologischen Bürgerinitiativen.“ 259 Auch die Gebiete am Rande der Sowjetunion waren von Umweltschäden schwer betroffen. Die Nachfolgestaaten waren deshalb mit einem schweren Erbe konfrontiert. So schreibt der frühere estnische Premierminister Mart Laar über die Umweltprobleme seines Landes in der Breschnew-Zeit: „Die unter der sowjetischen Besatzung angewandte Fördertechnik (von Phosphorit – W.G.) arbeitete mit hohen Materialverlusten. 1989 schätzte man diese Verluste auf 1000 Milliarden Rubel. Die übrigen in Estland geförderten Rohstoffe werden hauptsächlich in der Bauindustrie verwendet. Die Staubabgase der Zementfabrik von Kunda färbten den Ort einheitlich grau und machten ihn unbewohnbar.“ Die Bestandsaufnahme enthüllt die ganze Katastrophe: „Die Raubwirtschaft der Sowjetunion führte zu schweren Umweltschäden. Nur 61 Prozent des Brauchwassers wurden mehr oder weniger normgerecht aufbereitet, 30 Prozent nur ungenügend und die restlichen 9 Prozent, d.h. 130.000 m³ pro Tag, überhaupt nicht. 1987 entsprachen nur 62 Prozent der für die Speicherung der Agrar-Düngemittel vorgesehenen Behälter (Silos usw.) den Normvorschriften. Die Missachtung der Umweltnormen ging vor allem auf Kosten der Wasserqualität. 150 estnische Seen und die meisten Flüsse waren 1987 stark verseucht. Der Phenolgehalt des Flusses Purtse erreichte das 780fache des zulässigen Höchstwertes. Auch der Nitratgehalt in den estnischen Flüssen war 20mal so hoch wie der gesetzliche Höchstwert. Die Küsten waren ebenfalls stark belastet. Über viele bis dahin beliebte Seebäder musste man ein Badeverbot verhängen. Die Menge der Kolibakterien am Strand von Pärnu erreichte das 5.000fache des zulässigen Höchstwertes. Auch das Grundwasser war betroffen: rund zehn Prozent waren hochgradig verseucht, und weitere 30 Prozent waren schwer belastet.“ D. S. Ahlander, der für Leningrad und die baltischen Republiken zuständige schwedische Generalkonsul, schrieb an seine Regierung folgenden Bericht: „Das Maß an Umweltzerstörung ist hier so groß, dass man ohne weiteres von einem Verbrechen gegen die Natur sprechen kann. Die Art und Weise, wie hier die Natur nach Plan zerstört wurde, ist für uns unvorstellbar. Auf Beschluss Moskaus wurde der gesamte Nordosten Estlands in eine einzige Grubenlandschaft verwandelt. Sie lieferte den für die Wärmeversorgung Leningrads notwendigen Ölschiefer und den 259

Knötzsch, Dieter, Fünf Jahre Perestroika, S. 114ff.

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Phosphorit für die chemische Düngung. Die ganze Region ist mit einer Staubschicht überzogen. Am Himmel stehen Rauchwolken, und die Bäume sind halbtot. Die Gesichter der Menschen sind aschgrau, und das verseuchte Wasser der Flüsse und Bäche ist gelb, violett oder schwarz.“ 260 Am Ende der Sowjetunion warnten Wissenschaftler, Schriftsteller und Filmemacher, dass angesichts der zerstörerischen Auswirkungen der rücksichtslosen Industrialisierung das beschleunigte Wirtschaftswachstum nicht mehr unreflektiert als Königsweg zur Vervollkommnung des Menschen verklärt werden dürfe. Die moderne Technik habe keineswegs die Voraussetzung für den Übergang zum Kommunismus geschaffen. „Der über Jahrzehnte propagierte Wertekatalog der technikgläubigen Sowjetgesellschaft geriet zunehmend ins Wanken, so dass der sowjetische Parteistaat schließlich in den Jahren der Perestrojka im Strudel um sich greifender Krisen unterging“, schreibt Gestwa. „Die Moskauer Fortschrittsprediger und selbsternannten ‚Herren über die Natur‘ fanden sich in den Niederungen gesellschaftlicher Nöte, ökonomischer Fehlschläge und ökologischer Katastrophen wieder. An diesem furios-fatalen Ende sowjetischer Geschichte zeigt sich, dass sich im 20. Jahrhundert Superdämme und Riesenkraftwerke im Kontext kraftvoller politischer Wunsch- und Sehnsuchtspotentiale entfalteten. Sie produzierten zunächst den für den Systemerhalt wichtigen kulturellen Treibstoff, um später mit ihren hohen Kosten und desaströsen Nebenfolgen gefährliche Krisen heraufzubeschwören.“ 261 Im Ergebnis hatte die Sowjetunion, statt Stabilität zu gewinnen, ihre Fragilität eingefroren. „Sie lebte in einer stabilen Krise, in der sich grundlegende Reformen zwar als unmöglich erwiesen, jedoch eine gewisse Bestandsgarantie gegeben war.“ 262 Das änderte sich schnell unter den Bedingungen der Perestrojka. Die Umweltbewegung mutierte zu einem politischen Protest und zeigte ihre systemsprengende Kraft. 1988 hatte sich das „Komitee zur Rettung der Wolga“ gegründet, nun entstanden auch an anderen Flüssen und Binnenseen Bürgerorganisationen, „die nicht nur der Gewässerverschmutzung Einhalt gebieten wollten“, sondern deren Mitglieder auch die Idee äußerten, „den ursprünglichen Zustand der Flüsse und Seen durch die Demontage der Flusskraftwerke und Bewässerungssysteme wiederherzustellen.“ Gestwa sieht in diesen Rettungskomitees ein eigenartiges Laboratorium gesellschaftlicher Veränderungen. „Sie dienten der Sowjetgesellschaft dazu, sich unabhängig zu organisieren und demokratische Verhaltensweisen einzuüben. Im Vergleich zu den westlichen Industrienationen, in denen die Zivilgesellschaft schon seit langem existierte, stellten die sowjetischen Umweltbewegungen einen politischen Dammbruch dar. … Sie leiteten das Ende eines politischen Systems

Laar, Mart, Estland und der Kommunismus. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2, S. 302f. 261 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 47. 262 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 564. 260

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ein, dessen Führung jahrzehntelang gemeint hatte, Natur und Gesellschaft nach ihren Wünschen diktatorisch führen und zentralistisch gestalten zu können.“ 263 Das hohe politische Potential der Versäumnisse auf dem Gebiet des Umweltschutzes offenbarte sich schließlich in der Systemtransformation. Sehr lange hatten viele Protagonisten des Umweltschutzgedankens, schreibt Gestwa, gehofft, die Lösung drängender Umweltprobleme führte einen einschneidenden ökonomischen, administrativen und moralischen Wandel herbei, dass sich das Sowjetsystem den neuen Herausforderungen erfolgreich stellen und zum „ökologischen Ideal“ einer modernen Industriegesellschaft werden könnte. Aber Gestwa musste feststellen: „Je lädierter die Moskauer Konzepte von Moderne und Sozialismus im weiteren Verlauf jedoch wurden, desto mehr erweiterte die sowjetische Umweltdebatte das Spektrum des politisch Erlaubten und ließ schließlich sogar Ansichten zu, die das marxistisch-leninistische Fortschrittsaxiom anzweifelten und einem aggressiven Öko-Nationalismus den Weg bereiteten.“ 264 Aus der Kritik am ungenügenden Umweltschutz entwickelte sich auf diese Weise eine Fundamentalkritik am Sowjetsystem. Denn „den ökologisch sensibilisierten Milieus in Wissenschaft und Kultur dämmerte immer mehr, dass der Sowjetmensch mittels moderner Wissenschaft und Technik nicht nur Wüsten in Oasen verwandelt, sondern anstelle einstiger Oasen Wüsten hinterlässt.“ 265 Die fortgesetzten Routinepraktiken der sowjetischen Kommandowirtschaft, so Gestwa, hatten zur Folge, dass es nicht gelang, einen effizienten Umweltschutz durchzusetzen. Allzu oft erwies sich die Moskauer Umweltpolitik nur als symbolische Problembewältigung. Die Produktionszuwächse gingen darum in ein „quantitatives Vernichtungswachstum“ und einen „Selbstvernichtungsfortschritt“ über. Das ökonomische und ökologische Fiasko nahm seinen Lauf. In der Perestrojka räumten die neuen Direktoren von Gidroprojekt schließlich ein, dass ihre Vorgänger in riskanter Eile und ohne sorgfältige Analyse der Sozial- und Umweltverträglichkeit den Bau von Plangiganten realisiert hätten. Die Bedürfnisse der Menschen und der Naturschutz seien deshalb der pathologischen Ignoranz wachstumsbesessener Hydroenergetiker zum Opfer gefallen. Die neue Institutsleitung gelobe nun die seit langem überfällige Ökologisierung und Humanisierung ihrer Projekte. Man kann auch sagen, in der Sowjetunion erhielt die Ökologiebewegung die Qualität gesellschaftlicher Kritik, die in anderen Bereichen so nicht möglich war. Sie wurde dadurch zum Symbol für Protest. Tatsache bleibt, dass die planwirtschaftlich verfassten Systeme, entgegen dem Augenschein und ihrem eigenen Anspruch, weniger flexibel auf Umweltprobleme reagierten und sich kaum in der Lage zeigten, lebensweltliche Verluste und wachsende Schadstoffbelastungen durch hohen Wohlstand zu kompensieren. Gegen Ende der 70er Jahre begann sich deshalb ihre existenzgefährdende WirtschaftsGestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 551f. Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 553. 265 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 553. 263 264

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schwäche immer stärker auszuwirken, als ihre grundsätzlichen Defekte und Ineffizienzen nicht mehr mittels leicht zu realisierender extensiver Wachstumspotentiale verdeckt werden konnten. Und zu einer extensiven Entwicklung, die Impulse des sich beschleunigenden wissenschaftlich-technischen Fortschritts wirksam umsetzte, war das Sowjetsystem unfähig. Entgegen den Erwartungen der Parteiführer „war der Motor der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung so konstruiert, dass er, anstatt zu beschleunigen, immer mehr an Geschwindigkeit verlor, sobald der Wagen eine bestimmte Strecke gefahren war und der Fahrer das Gaspedal drückte. Seine Dynamik schloss den Mechanismus seines eigenen Verschleißes mit ein.“ 266 Gestwa kann nur festhalten: „Der erste sozialistische Staat auf Erden hatte den Anschluss an die ‚Modernisierung der Moderne‘ verloren und geriet deshalb immer tiefer in den Strudel der Entmodernisierung. Seine greisen Parteiführer waren längst dazu übergegangen, vorhandene Ressourcen zu ‚verwirtschaften‘ und Entwicklungspotentiale zu verspielen.“ Und: „Ohne Privateigentum an Land und Wasser und ohne partizipatorische Entscheidungsprozesse, die den Betroffenen die Möglichkeit eingeräumt hätten, Sozial- und Umweltverträglichkeit einzufordern, gab es nur wenig Sand im Getriebe der sowjetischen Fortschrittsmaschinerie.“ Im historischen Rückblick auf das 20. Jahrhundert, bilanziert Gestwa, erscheint der erste sozialistische Staat auf Erden als eindrucksvoller Beweis dafür, dass sich besonders Industrienationen mit einer zentralisierten Kommandowirtschaft und einem diktatorisch-autoritären Regime durch „ökologische Ignoranz und Amoralität“ und ein großes Zerstörungspotential auszeichnen. Dem Sowjetsystem fehlte es einfach an Kontrollmechanismen, Hemmschwellen und materiellen Anreizen, die der Verschwendung von Ressourcen einen Riegel vorschoben oder ihr zumindest Einhalt geboten. Zu diesem Ergebnis kommt auch Rosenbladt, wenn sie schreibt: „In den ‚protosozialistischen‘ Staaten regiert eine verkrustete Bürokratie, die oft genug versucht, das Bestehende mit marxistisch-leninistischen Leerformeln zu rechtfertigen. Deshalb ist die östliche Ökologiebewegung auch eine gesellschaftliche Bewegung. Östliche Umweltschützer fordern einen ‚anderen‘ Staat, einen mit mehr Mitsprache, mehr Demokratie, mehr Bürgerbeteiligung was nicht heißt einen – kapitalistischen – Staat.“ 267 So liegt im Ökologie-Problem, wie die westlichen Industriestaaten es auch erfahren haben, eine hohe politische Brisanz. Am Ende der BreschnewZeit sprachValentin Rasputin in einem Interview für die schwedische Presse, das auch in der „Russkaja Mysl“ erschien, dieses Thema an: „Unser Volk ist äußerst erschöpft und gequält. Mir scheint, dass die Russen nicht besser, sondern schlechter leben als die anderen Völker…Im Übrigen sehe ich optimistisch in die Zukunft…ich weiß, dass viele unser Volk verachten wegen des Alkoholismus, Diebstahls und Schmutzes. Aber das Volk ist im Grunde rein. Natürlich haben die Recht, die sagen, dass die Menschen jetzt passiv sind, aber dazu haben wir sie doch gebracht. Die Schriftsteller beginnen, ehrlicher zu sein, hören auf, sich selbst zu 266 267

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Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 565. Rosenbladt, Sabine, Der Osten ist grün? S. 190.

zensieren. Die Furcht, das auszusprechen, was man denkt, hat in unserer Generation viel Schaden angerichtet…Für das Wichtigste in der sowjetischen Literatur der letzten Jahre halte ich, dass die Menschen begonnen haben, sich mit Sittlichem zu befassen, der Suche nach dem Platz des Menschen in Leben.“ 268 Gundula Bahro interpretiert die Freiräume der ökologisch engagierten Schriftsteller wohl richtig, wenn sie schreibt, Valentin Raputins und Viktor Astafjews unübliche Betrachtungen werden allem Anschein nach von Sympathisanten aus dem Staats- und Parteiapparat gedeckt. Und dass sich solche Autoren entfalten könnten, sei aufschlussreicher als die Kritik an ihnen. „Offenbar liegt die Ökologieproblematik auch in der Sowjetunion quer zu den überlieferten Strukturen.“ 269

1.6 Sowjetische Wissenschaft in internationaler Zusammenarbeit Bei dieser Auflistung der Probleme im Umgang mit der Umwelt und den, siehe Bajkal-See, teilweise erzielten Korrekturen überrascht die Tatsache, dass auf der internationalen Ebene des wissenschaftlichen Austausches positive Ergebnisse erzielt worden sind. So erfolgte nach dem „Richta-Report“, der 1966 in Prag erschienen war, 270 eine intensive Auseinandersetzung mit den Thesen des Club of Rome, die schließlich zur Gründung des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien und zur Mitgliedschaft im Club of Rome führte. 271 Den Beginn dieser internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit sieht der erste Direktor des IIASA, der Harvard-Professor Howard Raiffa, in einer Rede des amerikanischen Präsidenten Lyndon Johnson 1966, d.h. mitten im Kalten Krieg. Der amerikanische Präsident hatte, beraten von McGeorge Bundy, der schon J. F. Kennedy beraten hatte, die Zusammenarbeit von sowjetischen und amerikanischen Wissenschaftlern vorgeschlagen. Gegenstand der Kooperation sollten die Probleme der modernen Gesellschaften sein: Energie, Meeresforschung, Umwelt, Gesundheit. Dieser Ansatz stieß bei Dschermen Gwischiani, dem stellvertretenden Minister des Staatskomitees für Wissenschaft und Technologie, auf offene Ohren. Gwischiani war der Schwiegersohn von Ministerpräsident Kossygin. Im Juni 1969 traf man sich in Moskau. Dort einigte man sich darauf, dass die Arbeitssprache Englisch sein würde, dass der Direktor aus den USA käme und der Leiter des Exekutivrates aus der Sowjetunion. Nach einigen Irritationen wurde schließlich im Oktober 1972 in London das Gründungsdokument des Russkaja Mysl‘ 17.06.1982; zit. Bei Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 163. Bahro, Umwelt- und Tierschutz, S. 163. 270 Skirke, Ulf, Planvoller Fortschritt? Ein Rückblick auf den „Richta-Report“ des Prager Frühlings. In: Technologie und Politik 2. Reinbek bei Hamburg 1975, S. 185-192. 271 Geierhos, Wolfgang, Die Sowjetunion und der Club of Rome. In: Deutsche Studien 67/1979, S. 213-230. Zur Rezeption in Deutschland siehe: Hahn, Friedemann, Von Unsinn bis Untergang: Rezeption des Club of Rome und der Grenzen des Wachstums in der Bundesrepublik der frühen 1970er Jahre. Diss. 2005/2006. Hier S. 136 auch der Hinweis auf die Rezeption in der Sowjetunion. 268 269

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IIASA von den Vertretern der USA, der Sowjetunion und zehn weiterer Länder unterzeichnet. Zu diesen gehörten auch die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik. Sitz des Instituts wurde das Sommerschloss Maria Theresias in Laxenburg bei Wien. Mit Aurelio Peccei, dem Präsidenten des Club of Rome, wurde die Vereinbarung getroffen, dass sich der Club of Rome mehr auf die Modellierung globaler Probleme konzentrieren sollte, das IIASA auf konkrete Forschungsthemen. 272 In genau diesem Zusammenhang ist die Konferenz vom Sommer 1971 in Moskau, auf der Denis Meadows als Mitglied des Club of Rome vor Mitgliedern der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften sein Modell „Grenzen des Wachstums“ vorstellte, von großer Bedeutung für die Beschäftigung mit den globalen Problemen des Klimaschutzes, der Ressourcen, der Ernährung und des Umweltschutzes. Die Tatsache der globalen Betroffenheit durch die vom Club of Rome benannten Probleme erlaubte die Kooperation über die Systemgrenzen hinweg und ebnete den Weg zur Rüstungsbegrenzung. 273 Denn faktisch widerlegten die in der Sowjetunion auftretenden gravierenden Umweltprobleme den Anspruch der KPdSU, durch das Instrument der Planwirtschaft negative Auswirkungen auf die Umwelt zu beherrschen und insgesamt das fortschrittlichere Gesellschaftsmodell zu besitzen. Aber diese Problematik verdient eine detaillierte Darstellung: Das Exekutiv-Komitee des Club of Rome hatte Dennis Meadows vom MIT (Massachusetts Institute of Technology) und sein Team ersucht, eine Studie über die Grenzen des Wachstums in globalem Maßstab zu erstellen. In der „Kritischen Würdigung“ schrieb das Komitee: „1. Wir wollten die Grenzen unsers Weltsystems und die Zwänge, die es dem Menschen auferlegt und die seine Aktivitäten lenken, genauer kennenlernen. Stärker als je zuvor tendiert die Menschheit gegenwärtig zu beschleunigtem Wachstum der Bevölkerung, rascherer Nutzung von Boden, Steigerung von Produktion, Verbrauch und Erzeugung von Schadstoffen. Man nimmt dabei kurzerhand an, dass der natürliche Lebensraum dies zulasse oder dass Wissenschaft und Technik alle etwaigen Hindernisse überwinden könnten. Wir wollten wissen, bis zu welchem Grad diese Haltung mit den Gegebenheiten auf unserem begrenzten Planeten und den grundlegenden Notwendigkeiten unserer menschlichen Gemeinschaft vereinbar ist – von der Milderung sozialer und politischer Spannungen bis zur Verbesserung der Lebensqualität für alle. 2. Wir wollten dazu beitragen, die beherrschenden Kräfte und die zwischen ihnen wirkenden Beziehungen klar herauszuarbeiten, die auf lange Sicht unser Weltsystem beeinflussen. Das kann nach unserer Meinung nicht erreicht werden, wenn man sich auf nationale Komplexe und Kurzzeit-Analysen beschränkt. Unser Forschungsziel sollte keine Futurologie sein, sondern eine Analyse herrschender Tendenzen und History of IIASA. http://www.iiasa.ac.at/docs/history.html. Siehe: Timofejew, Timur, soziale Aspekte der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Umwelt. In: Gesellschaftswissenschaften (AdW Moskau) 1/1976, S.39-53; Sagladin, Wadim, Iwan Frolow, Die Menschheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends. In: Gesellschaftswissenschaften (AdW Moskau) 4/1986, S. 224-238. 272 273

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ihrer gegenwärtigen Wechselwirkungen sowie der möglichen Folgen. Wir wollten vor weltweiten Krisenzuständen warnen, die entstehen können, wenn diese Tendenzen anhalten, und Wege zu Veränderungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet aufzeigen, die derartige Krisen verhindern könnten.“ 274 Noch vor der Veröffentlichung des Berichtes wurde er auf zwei Konferenzen zur Diskussion gestellt, in Rio de Janeiro und in Moskau. Pestel schreibt, dort gab es zwar viele Fragen, aber keine grundsätzlichen Meinungsverschiedenheiten über die Ausblicke, die sie eröffneten. 275 Der Moskauer Konferenz, die fast ausschließlich von Naturwissenschaftlern bestritten wurde, lag die Absicht zugrunde, eine einheitliche Position der sowjetischen Wissenschaft zu den Prognosen des Club of Rome zu erarbeiten. Vor allem in den Beiträgen der Akademiemitglieder Kapiza, Fedorow und Budyko wird deutlich, dass ihre Analyse von Meadows` Weltmodell genau die gleichen Schwächen aufdeckt, die auch im Westen auffielen: keine regionale Untergliederung, keine soziologische Analyse, keine Alternativen. Kapiza möchte die globalen Probleme unter drei Aspekten betrachtet wissen: 1. Dem technisch-ökonomischen Aspekt, der mit der Erschöpfung der natürlichen Ressourcen der Erde verbunden ist, 2. dem ökologischen Aspekt, der mit dem biologischen Gleichgewicht zwischen Mensch und lebender Natur angesichts der globalen Umweltverschmutzung zusammenhängt, 3. dem sozialpolitischen Aspekt, nämlich der Notwendigkeit, diese Probleme im Maßstab der gesamten Menschheit zu lösen. Die Modelle von Forrester und Meadows werden ausdrücklich als diejenigen Modelle genannt, die mit Hilfe der modernen Rechentechnik und unter Verwendung globaler statistischer Daten zu den interessantesten und überzeugendsten Ergebnissen gelangt sind, d. h. die sowjetischen Wissenschaftler müssen mit ähnlichen Methoden arbeiten. 276 Die Ökologie muss zu einer zentralen biologischen Wissenschaft werden, deren Hauptaufgabe es sein muss, diejenigen Gleichgewichte zu erforschen, die bei Ausnutzung der Natur in den modernen industriellen und agrarischen Prozessen möglich sind. Als schwierigstes Problem gestaltet sich der sozialpolitische Aspekt, nämlich die Schaffung derjenigen sozialen Bedingungen, „unter denen sich Technik und Industrie auf wissenschaftlicher Grundlage so entwickeln können, dass das Gleichgewicht der Zivilisation gesichert bleibt und keine Katastrophe heraufbeschworen wird“. Dafür wird es notwendig sein, meinte Kapiza, in nächster Zukunft eine autoritative internationale Organisation zur Kontrolle der globalen Probleme zu schaffen. Die politische Konsequenz liegt für ihn auf der Hand: „Die Notwendigkeit, globale Probleme im internationalen Maßstab zu lösen, wird sich günstig auf die Lösung des Problems der friedlichen Koexistenz und die Abrüstung ausüben“, denn „diese Probleme sind für die Kritische Würdigung durch den Club of Rome. In: Meadows, Dennis, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. 17. Aufl. Stuttgart 2000, S. 165. 275 Pestel, Eduard, Jenseits der Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome. Stuttgart 1988, S. 36. 276 Geierhos, Wolfgang, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 215. 274

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Menschheit außerordentlich wichtig, und für ihre Lösung müssen die Kräfte aller Länder eingesetzt werden.“ Budyko unterstützt Kapiza vor allem darin, dass er auf die großen Erfahrungen des MIT verweist und ausdrücklich davor warnt, auf Meadows‘ Herangehen an die Untersuchung von Problemen der globalen Ökologie nur deshalb zu verzichten, weil die amerikanischen Autoren eine Reihe von Fehlern begangen haben. Der Akademie der Wissenschaften schlägt er vor, die Frage der Organisierung von Forschungen zur globalen Ökologie zu prüfen und Arbeiten zu publizieren, die die Methode der numerischen Modellierung natürlicher Bedingungen der Zukunft und die Perspektiven ihrer Anwendung im Detail analysieren. Fedorow vertritt die Ansicht, Fortschritt in geregelten Bahnen zu entwickeln: „Wachstum der Bevölkerungszahl, des Konsums und der Produktion ist möglich, jedoch nur in sorgfältig geregelter Form“, führt er aus, und hier komme der planwirtschaftlich geleiteten Sowjetunion natürlich Modellcharakter zu. Naturgemäß weisen gerade die Wissenschaftler, die sich mit der Wissenschaft in den kapitalistischen Ländern beschäftigen, auf die Notwendigkeit des Austausches hin. So auch Chozin vom USA- und Kanada-Institut der AdW, der als eine wesentliche sozialpolitische Folge des gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Fortschritts die Entstehung neuer Richtungen der „technologischen“ Diplomatie bezeichnet, d. h. den wissenschaftlichen Austausch auf den relativ jungen Gebieten der Ausnutzung der Atomenergie, der Aneignung des kosmischen Raumes und der Erkundung und Nutzung der Meeresressourcen. Diese Erfahrungen müssten auch in ein globales Modell der Zusammenarbeit eingebracht werden. Den philosophischen Ansatz bringt Rytschkow ein, wenn er fordert, wir sollten endlich von den immer noch dominierenden Vorstellungen über die Entwicklung der Menschheit als Prozess der weiteren „Unterwerfung“, „Umgestaltung“ und „Verbesserung“ der Natur, der Schaffung einer „Biotechnosphäre“ usw., also vom extensiven Typ der Entwicklung des Lebens, übergehen zur philosophischen, psychologischen, ethisch-ästhetischen und naturwissenschaftlichen Analyse der Möglichkeit eines stationären Zustandes der Menschheit im System der Natur, zu einem intensiven Entwicklungstyp der menschlichen Form des Lebens. Denn wie die kapitalistischen, so können auch die entwickelten sozialistischen Länder mit einer ökologischen Krise konfrontiert werden, wenn die wissenschaftliche Untersuchung und philosophische Reflexion der Beziehungen von Natur und Gesellschaft hinter dem Tempo der ökonomischen und kulturellen Entwicklung dieser Länder zurückbleiben. Eine fundamentale Neuorientierung der sowjetischen wissenschaftlichen Disziplinen wurde damit eingeleitet. 277 Das nächste Round-table-Gespräch vom 25. April 1973 suchte schon nach einer wissenschaftlichen Methode zur Erfassung globaler Probleme. Ausgehend von der „Zusammenarbeit der Natur- und Gesellschaftswissenschaften in der aktuellen Etappe“ wurde das Gespräch durch M. T. Iowtschuk von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der KPdSU (AON) um die politische Diskussion erweitert. Die Frage, 277

Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 217.

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ob die Sowjetunion auf die wissenschaftlichen Anforderungen der Zukunft durch qualifizierte Kräfte vorbereitet ist, muss der Kybernetiker A. I. Berg aber verneinen und fordert deshalb, entsprechend den Erfahrungen in vielen entwickelten Ländern, auch für die Sowjetunion eine kybernetische Pädagogik. Fedosejew verweist dagegen auf die Anstrengungen der Sowjetunion zur Ausbildung besonders qualifizierter Berufe und erwartet von der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR), d. h. der Einführung des Computers in den Produktions- und Dienstleistungsprozess, eine intensive Annäherung der Natur- und Sozialwissenschaften. Besonders an den Nahtstellen sollen Entdeckungen zur Synthese von naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen führen. „Beim ständigen Vordringen quantitativer und experimenteller Methoden in die Gesellschaftswissenschaften erkennen wir“, meint Fedosejew, „dass die sozialen Systeme ein höheres Niveau der Organisation, größere Komplexität, Flexibilität, umfassende dialektische Beziehungen, verglichen mit physikalischen, chemischen und biologischen Systemen besitzen. Das verlangt eine sorgfältige Berücksichtigung der Spezifik der sozialen Form menschlichen Seins durch Erarbeitung wissenschaftlich fundierter sozialer Prognosen und Perspektiven der gesellschaftlichen Entwicklung.“ 278 Die Alternative „entweder Fortschritt von Wissenschaft und Technik oder Fortschritt des Menschen“ wird ebenso abgelehnt wie eine einseitige Einengung auf die Probleme „Mensch und Natur, Mensch und Technik, Rationalisierung des Lebens und Freiheit der Persönlichkeit“ usw., denn die neuen Probleme verlangen ein komplexes, systematisches Herangehen. Nur damit können sämtliche Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in den Bereichen der Produktion, der Ökonomie, des Sozialen, der Natur und des Menschen weit vorausschauend erfasst werden. Die Einheit von wissenschaftlich-technischem, sozialem und moralischem Fortschritt wird hier Toynbees Theorie vom Auseinanderklaffen von technischem Fortschritt und progressiver Entwicklung von Moral und geistiger Entwicklung entgegengesetzt. Die Beschäftigung mit den Modellen des Club of Rome ging weiter. Sie schlug sich in Diskussionen auf dem XV. Weltkongress der Philosophie in Varna (September 1973) nieder, als die pessimistischen, antitechnischen Bestrebungen der westlichen Philosophen von ihren sozialistischen Kollegen zurückgewiesen wurden, erfasste die Kollegen anderer sozialistischer Akademien, so in der Konferenz über „Aktuelle globale Probleme“ in Prag (Ende 1973) und führte im Januar 1974 in Dubna zur Konferenz über das Problem der normativen Prognostizierung der Gesellschaftsentwicklung. Diese Konferenz führte neben der Erkenntnis, dass die

Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 218. Siehe auch: Prigogine, Ilya/Isabelle Stengers, Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens. 5. erw. Aufl. München 1986; Nicolis, Grégoire/Ilya Prigogine. Die Erforschung des Komplexen. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Naturwissenschaften. München 1987. 278

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ganze aktive Vernunft des Menschen eingesetzt werden müsse, um die ökologischen Probleme im Laufe der künftigen Wissenschaftsentwicklung in den Griff zu bekommen, zur Bildung des Begriffes „Soziobiogeosystem“. 279 Gleichzeitig wurden die Arbeiten von Forrester, Mesarović/Pestel, Commoner ins Russische übertragen, Meadows‘ „Grenzen des Wachstums“ ausführlich vorgestellt, dazu auch die andere westliche relevante Literatur diskutiert, damit der erste Schritt getan, um einer breiteren Öffentlichkeit die Auseinandersetzung mit den Problemen des industriellen Wachstums zu ermöglichen. Auch der Chefredakteur der „Voprosy filosofii“ (Fragen der Philosophie), Frolow, war nicht untätig geblieben und hatte einen neuen Vorstoß zum „Begreifen“ der globalen Probleme unternommen. Das Round-table-Gespräch vom 26. und 27. Februar 1974 knüpfte dabei ausdrücklich an das vom November 1972 an, konzentrierte sich jetzt aber auf die Untersuchung der sozial-philosophischen und ideologischen Aspekte. Zugleich erweiterte er den Diskussionskreis durch Journalisten, um auch die Populisatoren mit dem komplizierten Themenkreis vertraut zu machen. Wie sehr sich die Wissenschaftler als Vorreiter für ein neues Denken verstanden, wird aus Oldaks Beitrag deutlich, der ein time-lag (Zeitverschiebung) feststellt zwischen dem Prozess der Anhäufung von Wissen und seiner Integration. Medunins Drängen dagegen nach einer globalen Ökologie und zur ökologischen Revolution fängt Gwischiani auf, indem er sich entschieden gegen eine Trennung von Wirtschaftswachstum und sozialer Entwicklung wendet. Verzicht auf Wachstum, wie es Meadows fordert, hält er für Utopie: „Nur ökonomisches Wachstum ergibt die realen Bedingungen zur Verbesserung der Lebensqualität.“ Die Beantwortung der Frage aber, wie das einzelne Unternehmen die Interessen der Gesellschaft studieren solle, unter welchen Bedingungen das ökonomische Wachstum den Interessen der Gesellschaft, dem allgemeinen Wohl entsprechen könne, erfordere eine grundlegende philosophische und soziologische Analyse der Struktur und Dynamik der menschlichen Bedürfnisse. Gwischiani spricht aus eigener Erfahrung als Leiter des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien, als er mit Meadows zusammenarbeitete, wenn er fordert, ungeachtet der unterschiedlichen Systeme sei, bei ähnlichen Abhängigkeiten und der Notwendigkeit, zu globalen Lösungen zu kommen, die Verbesserung des politischen Klimas unbedingt notwendig, Entspannungspolitik zwingend. Die in Laxenburg gefundene Form der Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Länder, Vertretern unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen ist aus seiner Erfahrung heraus nämlich viel bedeutender, produktiver und zielgerichteter als die traditionelle Form der Wissenschaftsorganisation, der Austausch wissenschaftlicher Informationen oder die Abhaltung internationaler Symposien oder Konferenzen. Die Arbeiten des sowjetischen Wissenschaftlers A. A. Lesow über die „Komplexe Untersuchung der Wasserreserven“, von Häfele aus der Bundesrepublik Deutschland über „Energie und 279

Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 218.

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Energieressourcen“ und das Projekt über Rechensysteme seien nämlich für alle Länder der Welt von Bedeutung. Die eigenen Forschungen stießen aber auch an systemimmanente Grenzen. Bei den Experimenten zur globalen Modellierung, die am Zentralen MathematischÖkonomischen Institut und am Rechenzentrum der AdW, sowie in der Hauptverwaltung für hydrometeorologische Dienste beim Ministerrat der UdSSR durchgeführt wurden, traten nämlich Probleme auf: Unzureichende und nicht gesicherte statistische Daten, Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Beziehungen zwischen den einzelnen Faktoren und beim Übergang von partiellen quantitativen Kennziffern zu synthetischen Messgrößen, sich widersprechende Kriterien bei der Bestimmung der Prioritäten bei Investitionen, wenn Mangel an Ressourcen besteht usw. Diese Mängel beeinträchtigten die Zuverlässigkeit derart, dass sich die Anwendung globaler Modelle vorerst darauf beschränken musste, allgemein die Grundtendenzen des Verhaltens modellierter Systeme zu prognostizieren. Und die volkswirtschaftliche Anwendung schien unter diesen Bedingungen noch kaum möglich. Interessant ist der Versuch, die Modellierung in die Soziologie zu integrieren. Denn gerade die Definition der „entwickelten sozialistischen Gesellschaft“ verlangte auch langfristige soziologische Prognosen, insbesondere, wenn sie die Bedürfnisse der Gesellschaft mit den ökologischen Restriktionen in Einklang bringen wollte. Diese konnten aber mit den herkömmlichen Methoden der Soziologie nicht erstellt werden. Die sowjetischen Wissenschaftler vollzogen damit einen Erkenntnisprozess nach, den Forrester seinen Landsleuten auch unter Schwierigkeiten nahebringen musste. Denn auch er begann mit der Frage: „Welche Berechtigung aber gibt es dafür, Gesetze zu Änderungen von Sozialsystemen zu erlassen, wenn man diese nicht einmal zu modellieren vermag?“ 280 Mit Hilfe der Systemdynamik (System Dynamics) gelang es ihm aber, das intuitionswidrige Verhalten sozialer Systeme aufzuzeigen. Die globale Modellierung nun erscheint auch bei Dschermen Gwischiani geeignet, Hilfestellung zu leisten bei der Formung einer „konkreten, wissenschaftlich begründeten Vorstellung von den eventuellen Grundtendenzen der Menschheitsentwicklung in den nächsten 50 – 100 Jahren“ und bei der Suche nach effektiven Verfahren für eine zielgerichtete Einwirkung auf diese Entwicklung. 281 Um aber eine komplexe Systemanalyse der soziologischen Probleme auf allen Ebenen bis hin zur globalen durchführen zu können, bedürfe es der gemeinsamen Arbeit von Gesellschafts-, Natur- und technischen Wissenschaften. Deren Ergebnisse müssten auch in der Verwaltungssprache formuliert sein und ein exaktes Bild der modernen Gesellschaft vermitteln, dazu Alternativen aufzeigen, um Entscheidungshilfe zu geben. Diese Ergebnisse könnten aber nur durch die Anwendung neuer Forrester; Jay W., Das intuitionswidrige Verhalten sozialer Systeme. In: Dennis I. und Donella H. Meadows, Das globale Gleichgewicht. Modellstudien zur Wachstumskrise. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 15. 281 Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 222. Sie auch: Gwischiani, Dshermen, Systemcharakter der Globalmodellierung. In: AdW (Hg.), Das Jahr 2000: Globale Probleme und Zukunft der Menschheit, S. 72-92, insb. Anm. 2. 280

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Forschungsmethoden erzielt werden. Gwischiani weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass die globale Modellierung mittels formaler, mathematischer Methoden bisher nur ungenügende Beachtung fand. Bevor er zur Entwicklung eines eigenen Modells kommt, stellt er die bisher erschienenen Weltmodelle vor und wertet sie aus. Auf Sympathien trifft dabei das Tinbergen-Projekt (Reshaping the International Order, 1976) 282, das auf der Suche nach neuen Formen der internationalen Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Politik durch Abbau von Disproportionen einen humanen Sozialismus ansteuert. Ähnlich günstige Aufnahme findet das Leontieff-Projekt (Die Zukunft der Weltwirtschaft, 1976) 283, in dem weitgehende soziale, politische und strukturell-organisatorische Veränderungen in den Entwicklungsländern gekoppelt werden sollen mit einer wesentlichen Wandlung der Weltwirtschaftsordnung. Zwar arbeitete die Sowjetunion im IIASA mit den westlichen Wissenschaftlern zusammen, aber der Einladung, in Rotterdam von 1974-76 am RIO-Projekt (Reshaping the International Order) mitzuarbeiten, erteilte sie noch wenige Tage vor Beginn eine Absage. So nahmen aus den sozialistischen Staaten nur Sukhamoy Chakravarty aus Polen und Silviu Brucan aus Bulgarien teil. 284 Aber Gwischiani machte sich nun daran, eine eigene sowjetische soziologische Methode zur globalen Modellierung zu entwickeln. Auch er geht von einer in viele Ebenen gegliederten Vorstellung von der Entwicklung der Welt aus, unterteilt auf der oberen Ebene die Prozesse der globalen Entwicklung als in einer Vielzahl von Regionen und Ländern sich ereignend, die durch zahlreiche Beziehungen verflochten sind. Die Dynamik dieser Wechselwirkung kann durch Szenarios beschrieben werden, die wieder die verschiedenen Entwicklungsaspekte (kulturelle, politische, soziale, ökonomische usw.) umfassen. Die spezifischen Merkmale zur Charakterisierung der einzelnen Elemente (Region, Land) sind bei Gwischiani freilich anders bestimmt als bei Pestel/Mesarović: geographische Lage, Zentralisierungsgrad der wirtschaftlichen Leitung (galt in der Sowjetunion unter Breschnew als Kriterium für den Sozialisierungsgrad eines Landes), Stand der ökonomischen Entwicklung, Vorräte an Naturschätzen, Bevölkerungsdichte, Grad der sozialen Homogenität, Typ der herrschenden Ideologie und Kultur usw. Auf der folgenden, innerregionalen Ebene beschreibt er die Grundelemente: Bevölkerung (demographische Struktur, geistige und materielle Bedürfnisse, Bildung, Gesundheitsfürsorge, soziale Sicherheit, Arbeitsaktivität, sozialpolitisches Bewusstsein, ethische Normen), Industrieproduktion, Nahrungsmittelproduktion, Vorräte an Naturschätzen, der „wissenschaftlich-technische Fortschritt“, d.h. der Grad der Technologisierung der Wirtschaft, die unmittelbare Umwelt, dazu die staatlichen Programme als Spezifikum des Leitungssystems, die sozialen Prozesse Tinbergen, J. u.a., Reshaping the International Order. The Club of Rome.Report from Tokyo. New York 1976. 283 Leontieff, Wassily W., u.a., Die Zukunft der Weltwirtschaft. München 1976. 284Moll, Peter, From Scarcity to Sustainability. Futures Studies and the Environment: the Role of the Club of Rome. Frankfurt am Main 1991, S. 187. 282

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als Bedingung für eine stabile Sozialstruktur, Arbeitsethos der Bevölkerung, damit Funktionieren der Wirtschaft, Mechanismus der Leitung je nach sozialistischen, kapitalistischen oder gemischten Wirtschaftssystemen (Entwicklungsländer). Ein solches System lässt sich als mathematisches Modell darstellen. Der nicht formalisierte Teil der Prozesse kann durch Szenarios beschrieben werden, mit deren Hilfe unterschiedliche Entwicklungskonzeptionen modelliert werden können. Wie das funktioniert, haben die sowjetischen Wissenschaftler gemeinsam mit Vertretern des Club of Rome am Modell von Pestel/Mesarović bei der Moskauer Konferenz 1977 erfolgreich praktiziert. Dabei zeigte sich, dass die Rolle des Menschen als Subjekt der Entscheidung in der Dialogsituation mit dem Computer nicht nur nicht abnimmt, sondern sogar steigt. „Da der Dialog“, so Gwischiani, „viele Unklarheiten informativen Charakters beseitigt, stimuliert er die begründetere Entscheidung selbst“ 285. Ihm ist dabei völlig klar, „dass die globale Modellierung zu einem Bereich heftigen ideologischen Kampfes werden muss, da sie mit der Herausbildung einer mehr oder minder konkreten Vorstellung von der Zukunft der Menschheit verknüpft ist“. Ein globales Modell, das sich zu einer fruchtbaren Analyse der sozialen Evolution der Menschheit eignet, lässt sich nur, so Gwischiani, durch philosophischsoziologische Postulate aufbauen, die es in die Lage versetzen, die Basisprobleme der Gegenwart – Erhaltung des Friedens, Beschleunigung des sozialen Fortschritts (steht für die Entwicklung in Richtung Marxismus-Leninismus), Beseitigung des Elends und aller Formen der sozialen Ungleichheit – konstruktiv zu lösen. Diese Postulate sind für die sowjetischen Wissenschaftler durch das sowjetische System des Sozialismus vorgegeben. Das dem historischen Prozess immanente Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung ist, nach Marx, „der Mensch in seiner Totalität“. Er verwirklicht sich im „absoluten Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen ohne andere Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung, d. h. der Entwicklung aller menschlichen Kräfte als solcher, nicht gemessen an einem vorgegebenen Maßstab, zum Selbstzweck macht“ 286. Die Bedingungen dafür, materielle, soziale und kulturelle, werden durch die Totalität der Gesellschaft, das Harmonische ihrer Tätigkeitsstruktur, geschaffen. Auch Sagladin und Frolow gehen auf Marx zurück, wenn sie die Ziele der neuen, sozialistischen Gesellschaft darin sehen, die Bedingungen für eine freie und allseitige Entwicklung des Menschen als „Selbstzweck“ der Geschichte zu gewährleisten und daraus die Aufgabe ableiten, Tendenzen abzuwenden, die die Existenz der Menschheit bedrohen. Da die Probleme, die der Club of Rome aufgezeigt hat, in ihren Auswirkungen und ihrer Aktualität die ganze Menschheit betreffen, können sie auch nur durch globale Zusammenarbeit gelöst werden. Da die Beseitigung oder zumindest die Reduzierung der globalen Probleme der Menschheit eine ein-

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Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 224. Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 226.

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heitliche Strategie erfordert, ist eine internationale, systemübergreifende Zusammenarbeit auch nach sowjetischen Vorstellungen unbedingt notwendig, sie wiederum nur unter den Bedingungen der Entspannungspolitik möglich. In dieser Phase begann auch das Engagement der Sowjetunion auf der internationalen Ebene für die Belange des Umweltschutzes. Über die Organisationen FAO und UNESCO arbeitet sie im Spezialkomitee für Umweltfragen UNEP (seit 1972) aktiv mit. Der 5. Juni 1973 wurde zum internationalen Tag für den Schutz der Biosphäre eingeführt. Er entspricht den sowjetisch-amerikanischen Verträgen zur Freihaltung des Kosmos von Massenvernichtungswaffen. Neben internationalen Lösungen müssen sich die politischen Folgen aber auch in konkreten Maßnahmen im Bereich der Planung der Volkswirtschaft niederschlagen. Die ökologischen Forderungen müssten langfristig in den auf Wachstum eingestellten Industrialisierungsplänen Berücksichtigung finden. Dabei wird das Problem erörtert, ob die sozialistischen Gesellschaften doch nicht die ganze Phase der Industrialisierung nach westeuropäischem, nordamerikanischem und japanischem Muster durchlaufen sollen, sondern auf einer Stufe etwas unterhalb der westlichen noch funktionierenden Konsumgesellschaft verharrend, jetzt schon das stabile Niveau anstreben, auf das sich die westliche Konsumgesellschaft wahrscheinlich wird zurückziehen müssen, sollen die vom Club of Rome erkannten Katastrophen abgewendet werden. Diese Einsicht verlangt von Marxisten eine kritische Revision der bisherigen Zielsetzung, der Kommunismus werde alle Bedürfnisse der Menschen befriedigen. 287 Auf jeden Fall müssen die bisherigen Ziele der kommunistischen Gesellschaft, die an denen der kapitalistischen orientiert sind, geändert werden. Aber auch dieses Ziel ist für die sowjet-sozialistischen Gesellschaften allein nicht lösbar, sondern nur durch internationale Kooperation zu erreichen. Die langfristigen Verträge über Energielieferungen bedeuten neben der Sicherung der Energieversorgung auch einen Schritt in diese Richtung. Das ist genau im Sinne von Pestel und Mesarović, die schrieben: „Die Welt muss jetzt zu einem kooperierenden globalen System zusammenwachsen, oder sie wird durch Hass und Konflikt, Krieg und Zerstörung vollends zerrissen werden.“ Das Wort Fortschritt wird einen neuen Inhalt erhalten müssen. 288 In der „Kritischen Würdigung“ der „Grenzen des Wachstums“ schreibt das Exekutiv-Komitee: „Der Grundgedanke einer Gesellschaft im wirtschaftlichen und ökologischen Gleichgewicht ist scheinbar leicht zu erfassen; doch ist unsere heutige Wirklichkeit davon so weit entfernt, dass praktisch eine geistige Umwälzung kopernikanischen Ausmaßes für die Umsetzung unserer Vorstellungen in praktische Handlungen erforderlich sein dürfte. Wir können von einem praktischen Beginn überhaupt erst dann reden, wenn die Botschaft der Grenzen des Wachstums von einer großen Zahl von Wissenschaftlern, Politikern und auch von

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Siehe: Harich, Kommunismus ohne Wachstum? S. 178f. Geierhos, Die Sowjetunion und der Club of Rome, S. 228.

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der Bevölkerung in vielen Ländern akzeptiert und als äußerst dringlich anerkannt ist.“ 289 Das Denken in den Kategorien des Gleichgewichts und der Nachhaltigkeit forderte das sozialistische Wirtschaftssystem also genau so heraus wie das kapitalistische. Es zwang beide Systeme zur Neudefinition von Fortschritt, zum sparsameren Umgang mit – endlichen – Ressourcen und führte zur Erkenntnis, dass diese Probleme, insbesondere der Klimawandel, die Veränderung der Biosphäre nur durch Kooperation gelöst werden können. Die Sowjetische Akademie der Wissenschaften verwies sehr dezidiert auf dieses Problem. So mahnte Akademiemitglied P. Kapiza 1975, „soziale Bedingungen zu schaffen, die eine …Entwicklung von Wissenschaft, Technik und Technologie garantierten, die das Gleichgewicht von Zivilisation und Natur nicht verletzte und die Menschheit nicht durch Katastrophen bedrohe.“ 290 Der soziale Aspekt und die Frage der Modellierung bestimmten auch das Thema eines internationalen Seminars, das die Akademie der Wissenschaften im Juni 1976 im Rahmen des UNESCO-Projekts „Weltmodelle: das Bild der Gesellschaft und des Menschen“ in Moskau durchführte: „Die sozialen Aspekte der ökonomischen und kulturellen Entwicklung und die Herausbildung sozialer und kultureller Indikatoren“. Die Wissenschaftler erhofften sich damit, „die Perspektiven des sozialen und kulturellen Wachstums fundierter zu prognostizieren sowie diese Indikatoren für die Erarbeitung von Modellen der gesellschaftlichen Entwicklung auf regionaler, branchenmäßiger und globaler Ebene zu nutzen“. 291 Nachdem Jay Forresters Modellierung und Computersimulation Eingang in die Hochrechnungen des Club of Rome gefunden hatten, war die Planwirtschaft besonders gefordert, ihre Kompatibilität mit der modernen Forschung unter Beweis zu stellen. Seitdem ist ein großes Interesse der sowjetischen Wissenschaftler an den Themen, Methoden, Modellen und Ergebnissen der vom Club of Rome initiierten Arbeiten zu erkennen. Nicht nur Iwan Frolow, der Chefredakteur der „Voprosy filosofii“ (Fragen der Philosophie) hat sich durch Konferenzen und Berichte zu den Themen des Club of Rome große Verdienste erworben, mit Dschermen M. Gwischiani wurde ein sowjetischer Wissenschaftler 1972 Leiter des Exekutivrates des Internationalen Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien. 292 1982 schließlich wurde er in den Club of Rome kooptiert, es folgten 1987 der Schriftsteller Dschingis Ajtmatow und ein Jahr später Ewgenij Primakow, Kritische Würdigung, S. 175. Metodologičeskie aspekty issledovanija biosfery. Moskva 1975. Rezension in: Gesellschaftswissenschaften (AdW Moskau) 2/1977, S. 281. 291 Indikatoren der sozialen und kulturellen Entwicklung. In: Gesellschaftswissenschaften (AdW Moskau) 2/1977, S. 257ff. 292 Gwischiani, Dschermen M. (1928 – 2003), geb.in Akhaltsika/Georgien, Dr. phil. et h.c., seit 1965 stv. Vorsitzender des Staatskomitees für Wissenschaft und Technik, war auch Mitglied der deutsch-sowjetischen Kommission für technische, wissenschaftliche und wirtschaftliche Zusammenarbeit und besuchte in dieser Funktion die Bundesrepublik 1971. War als Mitglied des Club of Rome 1988 in Hannover. 289 290

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Direktor des IMEMO (Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen) der AdW, Moskau. G. Schachnasarow unternahm 1982 unter dem Titel „Die Zukunft der Menschheit“ 293 den Versuch, „die prognostische Kraft des Marxismus-Leninismus“ zu retten. Vor allem in seinem zuvor im Jahr 1981 erschienenen Buch „Die künftige Weltordnung“ 294 setzte er sich detailliert mit den Arbeiten des Club of Rome (eigentlich „an den Club of Rome“) auseinander. Gestützt auf Gwischiani schreibt er, die Stärke der Arbeiten liege mehr in der Problemstellung, nicht in der Entwicklung von Lösungen. Man müsse sie deshalb auf ein solides Fundament einer wissenschaftlichen Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung stellen. Dann wird er präziser: „Die Rede ist vom marxistischen Projekt der Zukunft, das, versteht sich, das gesamte Material auswertet, das die westliche Wissenschaft zusammengetragen hat. Der Kern der Sache besteht darin, dass man, nachdem man alle gefundenen Angaben über die Berechnungen, die sich mit den Lebensgrundlagen, den Ressourcen, dem ,Zusammenbruchʼ, der Ökologie, der Ethik befassen, zusammengetragen hat, sie auf eine andere Ebene überträgt, sie in ein anderes theoretisches System umschreibt.“ 295 Er meint natürlich das marxistisch-leninistische. 1983 zog die Akademie der Wissenschaft in einem Unionssymposium „Der Marxismus-Leninismus und die globalen Probleme der Gegenwart“ eine Bilanz der bisherigen Arbeiten und beriet über die künftige Forschungsarbeit. 296 Die Akademiemitglieder lavierten dabei noch zwischen dem Vokabular des Klassenkampfes und der systemübergreifenden Notwendigkeit der Kooperation über die Systemgrenzen hinweg. Im Einführungsvortrag sagte Wadim Sagladin, der Vorsitzende der Sektion „Globale Probleme der modernen Zivilisation“ des wissenschaftlichen Rats beim Präsidium der AdW der UdSSR für philosophische und soziale Probleme der Wissenschaft und Technik: „Die stürmische Entwicklung der wissenschaftlich-technischen Revolution hat dazu geführt, dass das natürliche Gleichgewicht in vielen Regionen unseres Landes gewissermaßen gestört wurde und sich die Gesamtheit der Widersprüche, die unter dem Terminus ‚ökologische Probleme‘ zusammengefasst werden, zugespitzt hat.“ 297 Und er verweist auf das neue Parteiprogramm, in dem es heiße, die harmonischen Wechselbeziehungen von Gesellschaft und Natur, von Mensch und Umwelt gewännen immer mehr an Bedeutung. Schon in den siebziger Jahren hatte er, gemeinsam mit Iwan Frolow, über die globalen Probleme geschrieben. Die Ergebnisse des Symposiums fanden nun Eingang in seine, 1985 in deutscher Spracheerschienenen Arbeit „Realer Sozialismus: FrieSchachnasarow, G. Ch., Die Zukunft der Menschheit. Leipzig, Jena, Berlin 1982. Schachnazarow, G. Ch., Grjaduščij miroporjadok. O tendencijach i perspektivach meždunarodnych otnošenij. Moskva 1981. 295 Schachnazarow, Grjaduščij miroporjadok, S. 249. 296 Das Jahr 2000: Globale Probleme und Zukunft der Menschheit. Hg: AdW der UdSSR. Moskau 1986. 297 Sagladin, Wadim, Globale Probleme und sozialer Fortschritt der Menschheit. In: Das Jahr 2000, S. 8. 293 294

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den und gesellschaftlicher Fortschritt. Die historische Rolle der sozialistischen Gesellschaft“: „Hier muss z.B. ein gewisses Zurückbleiben der Wissenschaft in den sozialistischen Ländern bei der Erarbeitung globaler Probleme als spezifisches und kompliziertes Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis, der Perspektiven ihrer Entwicklung, der Wege zu ihrer Lösung, bei der Erarbeitung der für die Politik notwendigen Empfehlungen erwähnt werden.“ 298 Obwohl in den Dokumenten der XXIV, XXV. und XXVI. Parteitage sich Positionen zu den globalen Problemen fänden, hätten einige sowjetischen Wissenschaftler die Bedeutung dieser Probleme unterschätzt. Quasi entschuldigend schreibt er: „Eine besonders wichtige Bedeutung unter den subjektiven Faktoren, die für den Sozialismus die Lösung globaler Probleme erschwerten, haben natürlich Momente praktisch-politischen Charakters … So begünstigten bis in die gar nicht so ferne Vergangenheit der Reichtum und die Vielseitigkeit der Naturressourcen unseres Landes, seine riesigen Weiten und seine relativ geringe Bevölkerungsdichte eine gewisse Sorglosigkeit im Verhältnis zur Natur. 299 Später wurde diese Sorglosigkeit im Großen und Ganzen überwunden“, - meint er, um dann zu kritisieren: „Obwohl es heute in unserem Lande ein ganzes System von Gesetzen und Regierungsverordnungen gibt, die auf die Lösung globaler, vor allem ökologischer Probleme gerichtet sind, und obwohl schon mehr als 15 Jahre lang die sowjetischen Fünfjahrpläne spezielle Aufgabenstellungen enthalten, die die Lösung verschiedener Aspekte dieser Probleme betreffen, lässt die Verwirklichung dieser Aufgaben (wie insbesondere auf den Tagungen des Obersten Sowjets der UdSSR im November 1980 und im November 1981 hervorgehoben wurde) in einer Reihe von Fällen zu wünschen übrig. Es wird bei weitem nicht alles Notwendige und Mögliche bei der Ökologisierung der Industrieproduktion getan. Die Erarbeitung großer volkswirtschaftlicher Projekte wird nicht immer von der notwendigen Prognose der Folgen der technologischen Umgestaltungen begleitet, und erarbeitete Prognosen finden manchmal ungenügende Aufmerksamkeit…Es handelt sich darum, dass die Erforschung und Lösung eines Komplexes von Problemen, die mit den Widersprüchen der heutigen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Entwicklung der Menschheit verbunden sind, das Neue und Extraordinäre dieser Probleme bestimmte Veränderungen des Bewusstseins, der Art und Weise und der Methoden des Denkens, ein Brechen mit alten, überholten Vorstellungen erfordern. Solche Veränderungen, solche Umbrüche, erfordern jedoch eine gewisse Zeit und nicht geringe Anstrengungen.“ 300 Sagladin, V.V., I. Frolow, Global’nye problemy sovremennosti. In: Kommunist 1976, Nr. 16; dies., Global’nye problemy i buduščee čelevečestvo. In: Kommunist 1979, Nr. 7; dies., Globale Probleme der Gegenwart: Wissenschaftliche und soziale Aspekte. Moskau 1981; Sagladin, Wadim, Realer Sozialismus. Frieden und gesellschaftlicher Fortschritt. Die historische Rolle der sozialistischen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1985, S. 178. 299 Sagladin beruft sich dabei auf: Fedorow, E. K., Die Ökologische Krise und der soziale Fortschritt. Moskau 1977, Kapitel 9 (russ.). 300 Sagladin, Realer Sozialismus, S. 179f. 298

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Erneut setzt sich Iwan Frolow 1987, d. h. in der Zeit der Perestrojka, mit der Forschung über globale Probleme auseinander. 301 Die Arbeit des Gründers des Club of Rome, Aurelio Peccei, „100 Seiten für die Zukunft“ war auch ins Russische übersetzt worden. 302 Rudolph Bahro profitierte davon: „Ich habe den ‚Club of Rome‘ ursprünglich aus Übersetzungen sowjetischer Texte kennengelernt.“ 303 Frolow kommentiert: „Er (Peccei-W.G.) verzichtet schließlich auch auf politische Lösungen aufgrund der Realitäten in der Welt von heute. Seiner Meinung nach gehöre eben der überholte und inadäquate Charakter der politischen und sozialen Organisationen der modernen Welt zu den Hauptfaktoren, die zum Verfall der Menschheit führten. Peccei sieht insbesondere in dem Souveränitätsprinzip eines der Hindernisse auf dem Wege zur ‚kollektiven Rettung der Menschheit‘. Wo liegt der Ausweg? Peccei ist der Auffassung, dass allen Handlungen folgende drei Grundsatzforderungen zugrunde gelegt werden sollen: 1. Die Verwirklichung einer globalen Politik und Strategie; 2. Das Bestreben, die Welt lenkbar zu machen; 3. Die Welt lenken lernen, das heißt, sich selbst lenken lernen. Die 80er Jahre, meint er, wären entscheidend und für die zukünftige Geschichte der Menschheit bestimmend.“ 304 Und Frolow fährt fort: „In dieser Form klingt das alles selbstverständlich recht abstrakt. Im Folgenden aber auf die Notwendigkeit, die Welt lenkbar zu machen, eingehend, stellt Peccei fest, dass dem vor allem die spannungsvollen Beziehungen zwischen Ost und West wie auch das strukturelle Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd im Wege stünden. Seiner Meinung nach ist heute die Entspannung bzw. die einfache Stabilisierung der Beziehungen zwischen Ost und West ungenügend, vielmehr wäre eine aktive Zusammenarbeit zwischen Ost und West notwendig und möglich. Auf diesem Gebiet müsse man bereits in den nächsten drei bis vier Jahren beträchtliche Anstrengungen unternehmen, und es wäre unzulässig, die Zusammenarbeit zwischen Ost und West erst gegen Ende des laufenden Jahrhunderts auszubauen. Dem kann man nur zustimmen.“ 305 Und Frolow geht noch weiter und konzediert, dass mehrere im Westen erschienene Abhandlungen über die Spezialaspekte der globalen Probleme (vor allem über die wissenschaftlich-technischen und technologischen Aspekte) recht viel Interessantes enthalten. Solche Abhandlungen stammten ja in der Regel von den bedeutendsten Wissenschaftlern der Gegenwart, die die Wissenschaft bereits um überaus wichtige Werke bereichert haben. Die Marxisten dürften das nicht unterschätzen. Man müsse im Gegenteil die erwähnten Ergebnisse vom Standpunkt unserer Me-

Frolow, I. T., Socializm i progress čelovečestva. Globalnye problemy civilisacii. Moskva 1987; deutsch: Globale Probleme der Zivilisation. Düsseldorf 1988. 302 Peccei, A., Čelovečeskie kačestva (Menschliche Eigenschaften). Moskva 1980. 303 Rosenbladt, Der Osten ist grün? S. 187. 304 Frolow, Globale Probleme, S. 55. 305 Frolow, Globale Probleme, S. 56. 301

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thodologie kritisch umarbeiten und sie bei der Suche nach Lösungen für die globalen Probleme nutzen. Letzteres beziehe sich insbesondere auch auf einige vom Club of Rome ausgearbeitete Modelle. 306 Weiter führt er an, da es nicht möglich sei neue Probleme mit traditionellen, in der historischen Praxis bewährten Methoden und Mitteln zu lösen, stehe zur Zeit mit aller Schärfe die Aufgabe vor uns, ein unkonventionelles und dem Wesen dieser Probleme entsprechendes Herangehen an sie auszuarbeiten. Die Welt habe erkannt, dass globale Widersprüche nicht durch vereinzelte und unkoordinierte Handlungen von Ländern oder Ländergruppen überwunden werden könnten und dass man eine einheitliche Strategie für die gesamte Menschheit entwickeln und gewährleisten müsse. 307 Dann ergänzt er optimistisch: „Die Entwicklung der Wissenschaft, der Fortschritt der Produktion und die Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit werden aber zugleich zur Lösung einiger heute bestehender bzw. künftiger globaler Probleme beitragen, so dass ihre Zahl in gewisser Weise auch abnehmen wird. Dieser Prozess wird sich also widerspruchsvoll gestalten. Er wird offensichtlich im Vergleich zu heute ein bedeutender Schritt vorwärts sein, weil bis jetzt die globalen Probleme eindeutig zunahmen, sich vertieften und verschärften. Erst in letzter Zeit begann die Menschheit – das bezieht sich auf die sozialistischen Länder – mit ihrer komplexen Untersuchung. Die auf diesem Gebiet bereits gesammelten Erfahrungen besagen, dass man Wege zur Verringerung und Abschwächung dieser Probleme finden kann. Auf jeden Fall ist es überaus wichtig, Probleme, die globalen Charakter annehmen können, rechtzeitig zu erkennen sowie ebenfalls zur rechten Zeit eine Antwort der Gesellschaft auf die in diesem Zusammenhang entstehenden Fragen auszuarbeiten. Diese Feststellung drängt sich insbesondere deshalb auf, weil noch vor relativ kurzer Zeit die Menschheit in der Regel zu spät erkannte, wie ernst es um die globalen Probleme steht und dass man sich schnellstens an ihre Lösung machen muss. Das gilt bedauerlicherweise auch für die Wissenschaftler der sozialistischen Länder.“ 308 Und er kritisiert die sozialistische Gesellschaft, insbesondere ihren Umgang mit ökologischen Problemen: „Auch die subjektiven Faktoren, die im Sozialismus die Lösung globaler Probleme erschweren, sind recht verschieden. Ihre Bedeutung ist ebenfalls unterschiedlich. So wird bei weitem nicht alles Notwendige, geschweige denn Mögliche für eine umweltfreundliche Gestaltung der Industrieproduktion getan. Die Planung volkswirtschaftlicher Großvorhaben geht nicht immer mit einer adäquaten Prognostizierung der Folgen technologischer Umgestaltungen einher. Richtige Prognosen aber werden mitunter ungenügend berücksichtigt. In vielen Fällen bleiben solche Probleme wie die Verwertung von Abfällen, die Rekultivierung des Bodens und die biologische Reinigung von Nutzwasser sowohl von den Projektanten als auch von den Verantwortlichen in der Produktion unbeachtet.“ Frolow, Globale Probleme, S. 57. Frolow, Globale Probleme, S. 70. 308 Frolow, Globale Probleme, S. 87. 306 307

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Wie schon Sagladin zählt er den Katalog der Versäumnisse auf und fordert zu ihrer Bewältigung „eine gewisse Umgestaltung des Bewusstseins, eine neue Denkweise und die Liquidierung alter, festgefügter Begriffe. Eine solche Umgestaltung bedarf aber einer gewissen Zeit und großer Anstrengungen. Auf diesem Wege erwarten uns ganz erhebliche Schwierigkeiten, deren Überwindung Aufgabe der sozialistischen Gesellschaft an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert sein wird.“ 309 Die politischen Konsequenzen ergeben sich von selbst: „Gleichzeitig gehen wir davon aus, dass die Wirklichkeit unserer Tage wie auch die Zukunft von der Existenz zweier sozialer Systeme, des Sozialismus und des Kapitalismus, geprägt sein wird. Die friedliche Koexistenz von Staaten, die diesen Systemen angehören, ist die Bedingung für die (zumindest teilweise) Lösung bzw. Abschwächung vieler akuter Probleme der Gegenwart und Zukunft. Internationale Zusammenarbeit ist das einzig wirksame Mittel dazu.“ 310 Und nun folgt eine Absage an Chruschtschows Prognose von 1961: „Auch bei der Darstellung der sozialistischen Zukunft sind die Marxisten weit davon entfernt, diese nur in rosigem Licht zu schildern und detaillierte ‚optimistische Utopien‘ zu dichten. Friedrich Engels betonte: „Wir sind Evolutionisten, wir haben nicht die Absicht, der Menschheit endgültige Gesetze zu diktieren. Vorgefasste Meinungen in Bezug auf die Organisation der zukünftigen Gesellschaft im Einzelnen? Davon werden sie bei uns keine Spur finden.“ 311 Über die auch dem Sozialismus immanenten Widersprüche schrieb auch Akademiemitglied Moisejew, in letzter Zeit aber gewinne eine neue Art von Widersprüchen, die noch vor relativ kurzer Zeit keine Rolle gespielt hatten, nämlich die Widersprüche zwischen NATUR und MENSCH, immer mehr an Bedeutung. Diese Art von Widersprüchen haben die Gesellschaftswissenschaftler früher nicht untersucht. Damit befassten sich bestenfalls Naturkundler. Nun rücke aber das Problem des Überlebens der Menschheit immer mehr in den Vordergrund, das viele gewohnte Dinge mit ganz anderen Augen betrachten und mit den herkömmlichen Methoden sich gar nicht lösen lasse. Es sei vor allem bemerkt, dass dieses Problem globaler Natur sei, es betreffe alle Menschen der Erde, alle Länder und Kontinente, alle Klassen – sowohl die Unternehmer als auch die Arbeiter –, alle Staaten, die industriell entwickelten wie die rückständigen, die Länder, die den sozialistischen Weg gehen, und die, die auf dem Prinzip des freien Unternehmertums basierten. Diese Umstände sprächen dafür, dass alle Bewohner unseres Planeten ein gewisses gemeinsames Interesse, ein gemeinsames Ziel hätten. Er sieht deutlich die Konsequenzen: „Allmählich kristallisiert sich eine planetare Gemeinschaft heraus. Das bedeutet aber seinerseits, dass die Widersprüche aufgehört haben, streng antagonistisch zu sein, denn die Interessen und Ziele der Menschen haben jetzt Frolow, Globale Probleme, S. 92. Frolow, Globale Probleme, S. 92. 311 Frolow, Globale Probleme, S. 92. 309 310

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viel Gemeinsames. Wie die Wissenschaft lehrt, kann man in diesem Falle die Lösung der Widersprüche auf dem Wege der Kompromisse suchen. Ist das etwa nicht die bestimmende Position des neuen Denkens? Von der Höhe dieser Position aus bieten sich den Blicken ganz neue Ufer, die wir früher nicht einmal erahnten.“ 312 Das Denken in den Kategorien des Club of Rome war auch Gorbatschow vertraut, besonders schätzte er den Vorsitzenden der deutschen Sektion des Club of Rome, Prof. Eduard Pestel aus Hannover, ein Nachkomme des als Dekabrist in St. Petersburg 1826 hingerichteten Pawel Pestel‘.(Die Dekabristen, vor allem Angehörige des Hochadels, forderten vom Zaren eine Konstitution). In seinem Buch „Jenseits der Grenzen des Wachstums“, das 1988 erschienen ist, 313 schreibt Pestel auch über seine Kontakte zu Gorbatschow. Im Kapitel „Von der nuklearen Abschreckung zu einem Frieden ohne Furcht“ erzählt er, wie er Mitte der 70er Jahre im idyllischen Badeort Suchumi am Schwarzen Meer bei der Diskussion von westlichen Wissenschaftlern mit Mitgliedern der sowjetischen Akademie der Wissenschaften vor einer vollständigen atomaren Abrüstung warnte, solange die politischen Voraussetzungen gegenseitigen Vertrauens und des Konsenses in lebenswichtigen Fragen fehlten. Und er verwies auf das „Dritte Reich“. Insofern schien ihm die damalige Situation noch nicht reif zu sein für eine dauerhafte Abschaffung der nuklearen Abschreckung durch vollständige nukleare Abrüstung, „obwohl Reagan wie auch Gorbatschow es mit ihren gegenwärtigen Bemühungen ernst meinen mögen, das über den Häuptern der Menschen in Ost und West schwebende Damoklesschwert zu beseitigen. Ich bin davon überzeugt, dass sie ehrlich und redlich dieses Ziel verfolgen, weil jeder Staatsmann es als höchst belastend empfinden muss, sich auf die Entscheidungen eines potentiellen Gegners verlassen zu müssen.“ 314 Und er zitiert den amerikanischen Militärtheoretiker Bernard Brodie: „Es ist ein eigenartiges Paradoxon unserer Zeit, dass einer der wichtigsten Faktoren, die dazu beitragen, dass die Abschreckung wirklich funktioniert, ja sogar gut funktioniert, die geheime Furcht in den Köpfen der Entscheidungsträger ist, dass sie bei einer massiven Konfrontationskrise versagen könnte.“ 315 Und er führt weiter aus: „Im Gegensatz zu ihren Vorgängern, die in der vor-nuklearen Ära ihre Völker in den Krieg führten, können die heutigen Machthaber bei Ausbruch eines unbegrenzten Atomkriegs ihr eigenes Ende voraussehen, seien sie später Sieger oder Besiegte. Diese Einsicht ist sicherlich eine große Stütze für ihre Entschlossenheit, einen solchen Krieg zu vermeiden. In dieser und natürlich auch anderer Hinsicht verleitet das Gleichgewicht des Schreckens der gegenwärtigen politischen Situation eine größere Stabilität als das ‚Gleichgewicht der Macht‘ während des Jahrhunderts vor dem Ersten Weltkrieg. Aber das Versagen der nuklearen Abschreckung würde so unendlich viel größere Vernichtung, Tod und Elend zur Folge haben, dass die Moisseew, Nikita, Wozu die Straße, wenn sie nicht zum Tempel führt? S. 83. Pestel, Eduard, Jenseits der Grenzen des Wachstums. Bericht an den Club of Rome. Stuttgart 1988. 314 Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 87. 315 Carnesale, A. u.a., Living with Nuclear Weapons. Report by the Harvard Nuclear Study Group. Bantam Books, Inc. New York 1983. 312 313

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Schaffung politischer Bedingungen, unter denen auf nukleare Abschreckung zur Wahrung des Friedens verzichtet werden kann, die allerhöchste Priorität auf der Tagesordnung der Machtblöcke in Ost und West eingeräumt werden muss.“ 316 Die Menschheit werde nicht überleben, schrieb er damals, wenn es ihr nicht gelinge, angesichts der technischen Entwicklung einen grundlegenden Wandel in unserem Verhalten zur Befriedigung unseres Sicherheitsbedürfnisses herbeizuführen. Dies erfordere vor allem einen drastischen Wandel in den Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Sowjetunion als den beiden Weltmächten, auf deren Schultern die größte Verantwortung für die Sicherheit und das Überleben der Menschen auf unserem Planeten ruhe. Resignierend schrieb er weiter: „Aber ihre gegenseitigen Beziehungen werden sich nicht grundlegend ändern, solange ihre Führer an jener Weltsicht festhalten, die bisher die Geschichte beherrscht hat und die leider auch bei den meisten Regierungen in den anderen Teilen der Welt heute noch vorherrscht.“ 317 Deshalb fordert er: „Nur Taten zählen, aber dies müssen Taten seien, die eindrucksvoll demonstrieren, dass Mut und Vertrauen dabei sind, Furcht und Misstrauen zu überwinden.“ Und er schreibt (1987): „Ist die kürzlich von Gorbatschow unternommene Initiative ein erstes Zeichen dafür, dass sich in der Weltsicht führender Politiker ein solch profunder Wertewandel anbahnt? Dieser Schritt Gorbatschows wird allerdings nur ein kurzlebiges Strohfeuer entfachen, wenn man ihm im Westen mit misstrauischem Gezänk begegnet, statt ihn in einem selbstbewussten Aufeinander zugehen offenen Sinnes zu erwidern.“ Enttäuscht konstatiert er, leider könne man an einen solchen Sinneswandel kaum glauben, wenn man sich daran erinnere, dass auch Gorbatschows Vorschlag im Juli 1987, mit den Vereinigten Staaten hinsichtlich einer Beendigung des bereits seit 1980 währenden Krieges zwischen Iran und Irak eng zusammenzuarbeiten, postwendend mit dem formalistischen Hinweis zurückgewiesen wurde, hierfür seien die Vereinten Nationen das richtige Forum. Dabei wisse man ja auch im Weißen Haus, wie ineffektiv die Institution der Vereinten Nationen bei der Bewältigung solcher Aufgaben sei. Hier sei wieder eine Chance vertan worden, durch unmittelbare Zusammenarbeit auf einem militärisch wie politisch sensitiven Gebiet einige Schritte zum Abbau des gegenseitigen Misstrauens zwischen den USA und der Sowjetunion zu versuchen. 318 Misstrauen könne aber nur allmählich abgebaut werden, und das würde, schreibt er, „am wirkungsvollsten dadurch geschehen, dass sich beide Großmächte – je eher, desto besser – auf den gemeinsamen Lernprozess einlassen, ein äußerst bedeutsames Weltproblem durch längerfristige Zusammenarbeit Schritt für Schritt zu lösen.“ Die dabei gewonnene Erfahrung könnte dann dazu dienen, „die Vorurteile zu überwinden, die dem heutigen gegenseitigen Misstrauen zugrunde liegen.“ 319 Und: „Die Beseitigung des gegenwärtigen profunden Misstrauens ist Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 88. Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 90. 318 Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 96. 319 Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 101. 316 317

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gleichermaßen eine Vorbedingung für den dauerhaften Frieden wie für weiteres Wachstum.“ Es blieb nicht bei den theoretischen Erörterungen. Der Club of Rome griff in die Sicherheitspolitik ein. Pestel schreibt: „Aufgrund dieser Vorstellungen haben Alexander King als Präsident des Club of Rome und ich als Mitglied des Exekutivkomitees im Herbst 1985 – vor dem Genfer ‚Gipfel‘ – Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow einen Vorschlag unterbreitet, der den Titel trägt: ‚Initiative des Club of Rome, die Waffenlieferungen der Industrieländer, insbesondere der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, an Nationen der Dritten Welt zu unterbinden‘. Einige Passagen dieses Vorschlags sollen im Folgenden zitiert werden: Ein wirklicher Durchbruch ist vonnöten, um einen neuen Ausgangspunkt für konstruktive friedenssichernde Zusammenarbeit zu finden. Es ist verständlich, dass weder die Vereinigten Staaten noch die Sowjetunion dazu bereit sind, einen großen Schritt zu unternehmen, der in ihren Augen ihre eigene Sicherheit gefährden könnte. Es existiert allerdings ein bedeutsames Feld, auf dem beide Nationen zusammenwirken können und wo beide ihre Freunde und Alliierten veranlassen könnten mitzumachen, ohne ihre nationale Sicherheit zu gefährden – nämlich auf dem Gebiet der Waffenlieferungen an Länder der Dritten Welt. … Es ist daher für die beiden Großmächte höchste Zeit, eine Führungsrolle in der Unterbindung dieses unmoralischen, politisch unklugen und destruktiven Waffenhandels mit der Dritten Welt zu übernehmen. Wegen der Macht, über die sie verfügen, dürften sie auch in der Lage sein, den vollständigen Verzicht auf Waffenverkäufe von dritter Seite notfalls zu erzwingen. … In welcher Weise würde eine solche Kooperation einen Beitrag zu der Herstellung gegenseitigen Vertrauens zwischen den Großmächten leisten? Im Westen meint man in den Waffenlieferungen der Sowjetunion an die Entwicklungsländer ein Mittel zu sehen, dort auf gewaltsamem Wege eine kommunistische Herrschaft zu errichten und Militärbasen gegen die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten zu gewinnen. Indem die Sowjetunion die Versorgung mit militärischen Gütern usw. einstellte, würde sie ein deutliches Zeichen dafür setzen, dass sie nicht mehr die Absicht verfolgt, die Weltrevolution auf militärischem Wege vorzubereiten. Damit würde die Sowjetunion eine der Hauptursachen für Amerikas Befürchtungen ihr gegenüber abbauen. Auf der anderen Seite glaubt die Sowjetunion, dass die Vereinigten Staaten ständig versuchen, sie einzukreisen und ihre eigene Vormachtstellung in allen Teilen der Welt zu erhalten, indem sie der Sowjetunion jegliche neuen Stützpunkte vorzuenthalten trachten, welche diese über die Beseitigung von korrupten Regierungen und Militärdiktaturen durch ‚Volksbewegungen‘ erringen könnte. Es würden also Misstrauen und Argwohn in hohem Masse abgebaut werden, wenn beide Mächte gemeinsam diesem höchst unmoralischen Waffenhandel ein Ende bereiteten, der ohnehin langfristig für beide sich als kontraproduktiv erweisen dürfte, ja schon erwiesen hat.“ 320 Interessant ist die Reaktion der beiden Staatsmänner zu diesem Zeitpunkt. Gorbatschow nämlich antwortete mit einem längeren persönlichen Schreiben, das auch in der Iswestija abgedruckt wurde: „Die Probleme von Krieg und Frieden 320

Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 102f.

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nehmen unter den modernen internationalen Problemen zweifellos den erstrangigen Platz ein, weil sie mit der Erhaltung der menschlichen Zivilisation und des Lebens auf der Erde in direktem Zusammenhang stehen.“ 321 Während Gorbatschow die Diskussion in der Folgezeit über die Pariser Botschaft der Sowjetunion fortsetzte, um praktische Schritte zu erörtern, die hier ergriffen werden könnten, bestand die erste Antwort von Seiten der Reagan-Administration in einem sehr kurzen Schreiben das damaligen Sicherheitsberaters McFarlane. Enttäuscht schreibt Pestel: „Anscheinend hatte Präsident Reagan unser Memorandum überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Nachdem wir unter Hinweis auf Gorbatschows Schreiben auf inhaltsreichere Antwort gedrängt hatten, erreichte uns schließlich ein Brief des Unterstaatssekretärs für Sicherheit, Beistand, Wissenschaft und Technologie, der uns lediglich auf Präsident Reagans Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 24. Oktober 1985 verwies. Beide amerikanischen Briefe waren allerdings nicht an uns persönlich adressiert wie das Schreiben von Gorbatschow, sondern an einen meiner Freunde in der National Academy of Engineering in Washington, den ich für die Übermittlung des Schreibens an Präsident Reagan in Anspruch genommen hatte. Übrigens hatte ich für die Übergabe des Schreibens an Gorbatschow auch einen sowjetischen Freund in der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften gebeten.“ 322 Er schreibt 1987, sie würden ihre Bemühungen um dieses Problem nicht aufgeben, denn „der Geist gemeinsamer Verantwortung der Weltmächte würde gestärkt. Die Erfahrung, eine bedeutsame Aufgabe zum Wohle der Menschheit gemeinsam bewältigt zu haben und dies über einen Zeitraum von, sagen wir, zehn Jahren hinweg, hätte dann dazu beigetragen, an die Stelle des alten, eingefleischten Misstrauens gegenseitiges Vertrauen zu setzen, zumindest eine für das Durchhalten einer aktiven Zusammenarbeit ausreichende Vertrauensbasis als Vorbedingung für die Schaffung eines Friedens ohne die Krücken der nuklearen Abschreckung.“ 323 Peter Moll, der eine detailreiche, auf Interviews gestützte Arbeit über den Club of Rome geschrieben hat, ordnet das Schreiben von King und Pestel zwar der Vorbereitung des Gipfels in Reykjavik vom 11.-12. Oktober 1986 zu, während Pestel selbst es mit dem Genfer Gipfel in Zusammenhang bringt, die Folgen aber beschreibt Moll interessant. So habe Gorbatschow an King einen weiteren substantiellen Brief geschrieben und diese Kommunikation über das Fernsehen mitgeteilt. Als King einige Monate später Warschau besuchte, gab er dort 37 Interviews für das Fernsehen, das Radio und die Presse über Details der Kommunikation mit Gorbatschow. 324 Aber es gab noch eine andere Verbindung. Im Mai 1986 schlug der Sowjetische Schriftstellerverband in einem Schreiben an King in Paris und Frederico Mayor, ebenfalls Mitglied des Club of Rome und früher Generalsekretär der UNESCO, Isvestija 26. Oktober 1985; Gwischiani, Systemcharakter der Globalisierung, S. 87. Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 104. 323 Pestel, Jenseits der Grenzen des Wachstums, S. 104f. 324 Moll, From Scarcity to Sustainability, S. 235. 321 322

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ein Treffen mit Gorbatschow vor, wieder über die Pariser Botschaft der UdSSR. Dazu besuchte Dschingis Ajtmatow King in dessen Pariser Wohnung und startete eine private Initiative für einen Kulturaustausch mit dem Club of Rome, Schriftstellern und Künstlern. Als Ergebnis traf man sich am See Issyk-Kul bei Frunze, Kirgisien, vom 13. bis 17. Oktober 1986. Unter den Gästen fanden sich Augusto Forti (WAAS, World Academy of Arts & Science), der äthiopische Maler Afewerk Tekle, Alexander King, Frederico Mayor, der indische Musiker Narayana Menon, Claude Simon, James Baldwin, der türkische Schriftsteller Yasar Kemal, Arthur Miller, Lisandro Orterovon Cuba, Alvin Toffler, Peter Ustinow und viele andere, insbesondere Mitglieder der Sowjetischen Akademie und des Schriftstellerverbandes. King beschreibt das Treffen als sehr freundlich und überhaupt nicht tendenziös oder politisch. Die Teilnehmer verständigten sich aber auf ein Statement über internationale Zusammenarbeit und akzeptierten die besondere Rolle der kreativen Community in diesem Prozess. Dieses Statement wurde an Gorbatschow und Reagan geschickt. Es enthielt den Vorschlag, ein internationales Forum von Künstlern und Schriftstellern für den kulturellen Austausch und die Zusammenarbeit für Frieden und Entwicklung zu schaffen. Gorbatschow antwortete sofort und lud alle in den Kreml ein. Das Treffen fand am 20. Oktober 1986 statt. Unter anderem sagte Gorbatschow King persönliche Unterstützung für den Club of Rome zu und bat ihn sich dem Problem der jugendlichen strukturellen Arbeitslosigkeit zuzuwenden, auch der versteckten Arbeitslosigkeit, mit der die Sowjetunion es auch zu tun habe. Unter Leitung des früheren Präsidenten der Österreichischen Sparkasse, Karl Vak, machte sich die österreichische Sektion des Club of Rome an die Untersuchung dieses Problems. 325 Im Interview mit Boris Slawin Ende der neunziger Jahre kam Gorbatschow auf das Thema „Club of Rome“ erneut zu sprechen: „In diesem Sinne kann Sozialismus, scheint mir, als Orientierung auf die Zukunft in sehr kurzer Zeit gefordert sein, und, vor allem, unter dem Einfluss neuer globaler Herausforderungen. Auch der Ökologie, und anderer. In der Welt ist alles miteinander verbunden und abhängig. Und die Informationsprozesse und die demographischen Entwicklungen fordern heute die Regulierung und Solidarität. Vor allem Solidarität nicht nur innerhalb der einzelnen Gesellschaft, sondern Solidarität zwischen reichen und armen Ländern, Entwicklungsländern und entwickelten. Das ist sehr wichtig. Man kann sagen, dass Gorbatschow sich wieder auf irgendeine Sache stürzt. Nein, ich denke, wir sind mindestens ein Vierteljahrhundert zu spät dran. Der ‚Club of Rome‘ sagte das schon vor 25 Jahren.“ 326 Moshe Lewin machte früh auf die systemsprengende Bedeutung dieser wissenschaftlichen Zusammenarbeit für die sowjetischen Wissenschaftler aufmerksam: Die Systemanalyse, ein noch ziemlich junges, aber bereits gut etabliertes Gebiet, Moll, From Scarcity to Sustainability, S. 236f. Neokončennaja istorija.Besedy Michaila Gorbačeva s politologom Borisom Slavinym.Moskva 2001, S. 36. 325 326

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das von einem mächtigen Institut der Akademie der Wissenschaften geleitet werde, habe alle Sozialwissenschaften befruchtet. Sie propagierte nicht nur den Wert systemischer Methoden, sondern gab ihren Nachbardisziplinen auch nützliche theoretische Hilfsmittel an die Hand. Außerdem bediene sich die Systemanalyse einer Sprache, die vom konventionellen ideologischen Jargon weitgehend frei bleibe. So konnten die Forscher und Theoretiker dieses Gebiets Probleme bearbeiten, vor denen sich andere noch scheuten. Z. B. könne ein Systemanalytiker bei der Darstellung unterschiedlicher Systeme offen, direkt und ohne viele Umschweife erklären, dass es in sozialen Systemen zwar Gesetze gebe, dass diese aber, wie in den Naturwissenschaften, begriffliche Ausnahmen zulassen – eine dem starren offiziellen Dogma ziemlich fremde Vorstellung.“ Diese Zurückweisung mechanischer Konzeptionen der vergangenen Ära nennt er nur als Beispiel dafür, wie Systemtheorie dazu beitrage, dicke dogmatische Ablagerungen, die ernsthaftes Denken lange Zeit unmöglich machten, zu durchbrechen oder gar zu beseitigen. Wichtiger noch, die neue Methode fördere eine völlig andere ontologische Konzeption: Die Arbeit der Systemanalytiker bringe eine viel komplexere Welt mit sich, der man nur mit unermüdlichen intellektuellen Anstrengungen beikommen könne. 327 Für Gorbatschow lieferten die Forschungen des Club of Rome deshalb wichtige Argumente zur Überwindung des Block-Denkens und waren damit ebenfalls Auslöser des „Neuen Denkens“, das er forderte. Dieses Denken überwand die Spaltung der Welt in Ost und West und reintegrierte die Sowjetunion in die eine Welt. Die Warnungen des Club of Rome vor Grenzen des Wachstums, später die Forderungen nach organischem Wachstum, die das Thema der Nachhaltigkeit aufgriffen, aber auch all die anderen globalen Studien der Brandt-Kommission, der Brundtland-Kommission „Our Common Future“ 1987 und Jimmy Carters Bericht „Global 2000“ stellten die sowjetischen Wissenschaftler, die Ideologen der Kommunistischen Parteien wie die Politiker auch der sozialistischen Länder vor immense Herausforderungen. Am Ende waren sie als sozialistische Systeme diesen Herausforderungen nicht gewachsen. 1993 werden Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse Ehrenmitglieder des Club of Rome. In seinem „Brief an die Nachwelt“, der die „künftigen Führungspersönlichkeiten unseres Landes zum Nachdenken anregen“ will, geht Schewardnadse auf die globalen Probleme ein und fordert: „Ein wissenschaftlich, wirtschaftlich und finanziell begründetes Weltprogramm muss erstellt werden. Die Lebensweise muss sich ändern. Die Entfremdung von der Natur muss durch das Erlebnis des Einsseins mit der Natur ersetzt werden. Wir haben vergessen, was unsere Vorfahren gewusst haben, und wir müssen das Verlorene wiederfinden.“ 328

Lewin, Gorbatschows neue Politik, S. 81. Lewin beruft sich auf: Katsura, A. V., Artikel in: Sistemnye Issledovanija: metodologičeskie problemy. Ežegodnik 1985, Hrsg. D. N. Gvishiani. Moskau 1986. 328 Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 81. 327

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1.7 Gorbatschows Weg Die Kernfrage lautet: Gibt es bei Gorbatschow ein Saulus/Paulus-Erlebnis oder reifte der Zweifel an der Richtigkeit des vorhandenen Systems allmählich heran und entwickelte sich am Ende zur Bereitschaft zur Revolution? Natürlich sind Gorbatschows Memoiren auch aus dem Blick zurück auf die gelungenen Veränderungen geschrieben, sie erhalten aber dennoch zahlreiche Hinweise auf einen zuerst kritischen, später sehr distanzierten Standpunkt gegenüber den Führern an der Spitze der KPdSU und den Unionsrepubliken wie der Sowjetunion selbst. Zwar waren divergierende Positionen in der Frage der Wirtschaftsverwaltung von Breschnew und Kosygin bekannt, - Breschnew hatte schließlich Kosygins Reformen von 1965 ausgebremst, erstaunlich aber ist, dass Kosygin, Andropow und Kulakow Gorbatschow förderten, ihn schließlich zum ZK-Sekretär und ins Politbüro erhoben, obwohl sie wussten, dass er eigene Positionen vertrat. Oder förderten sie ihn gerade deshalb, weil er mutiger und kraftvoller an die Problemlösungen heranging als die im Kampf mit der Bürokratie ermüdeten alten Herren? Natürlich spielten auch die Machtverhältnisse innerhalb des Politbüros eine Rolle, aber schließlich war es Andropow in seiner Funktion als Generalsekretär der KPdSU, der Gorbatschow schon in die Rolle des Kronprinzen hineindrückte – und der mit den ersten Reformen begann. Gorbatschow selbst stellt sich auch die Frage, ab welchem Zeitpunkt er denn alternativ zum bestehenden System gedacht hat und sucht nach Antworten. Dabei kokettiert er selbst mit dem Begriff des „Dissidenten“. So erinnert er sich an ein Gespräch mit dem Schriftsteller Beljajew, der mit ihm an der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) studiert hatte. Nach dessen Erinnerung war Gorbatschow damals kein Dissident gewesen. Gorbatschow bestätigt das, ergänzt aber, dass schon damals eine kritische Einstellung zum Studium in ihm erwuchs: „Ich kannte nicht das reale Leben und dieses und jenes von dem, was in der Stalin-Herrschaft verlangt wurde. Wahrscheinlich ging das nicht nur mir so, sondern vielen. Wir waren keine Dissidenten im strengen Sinne des Wortes. Wir waren aber höchst wahrscheinlich ‚Revisionisten‘ – Anhänger der Erneuerung des ‚realen‘ Sozialismus.“ 329 Dennoch überstand er ein Verfahren vor der Moskauer Parteiorganisation wegen kritischer Äußerungen zum Vortrag über Stalins „Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR“ nur wegen seiner bäuerlichen Herkunft. Immerhin war er stellvertretender Sekretär der Komsomol-Organisation für Ideologie an der Juristischen Fakultät der MGU. Auch die Prozesse gegen die Schriftsteller Ilja Ilf und Jewgenij Petrow (Gorbatschow nennt die Hauptfigur ihres Romans „Die zwölf Stühle“, Ostap Bender) und die „Ärzte-Verschwörung“ als von Stalin inszenierte Veranstaltungen blieben nicht ohne Eindruck auf den jungen Studenten. Ein Thema aber regte ihn besonders auf, das er aus eigener Anschauung kannte: die Lage der Bauern. Sie waren Sklaven. Sie besaßen keinen Pass, durften Gorbačev, Naedine, S. 83. Siehe auch: Geierhos, Wolfgang, Michail Gorbatschows Weg zur demokratischen Gesellschaft. In: Rothenburger Beiträge, Band 65, 2013, S. 161-182. 329

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nicht frei reisen, auch war die Abgabepflicht absurd. „Das Stalinsche Regime“ – schreibt Gorbatschow – „verfuhr mit den Bauern wie mit den Gutsbesitzern. Nicht zufällig entstand gerade bei denen, die aus dem Dorf kamen, mehr als bei denen aus der Stadt, der Zweifel über die Rechtmäßigkeit der bestehenden Ordnung. Solche Vorstellungen von ‚Kollektivierung‘, ‚Kolchos-Verfassung‘ waren für mich, im Unterschied zu meinen städtischen Mitstudenten, nicht nur Theorie, sondern Realität, und ich wusste aus meinem Leben, wie viel Ungerechtigkeit in der Kollektivierung und in der Kolchos-Verfassung bestanden.“ 330 Als er 1952 in die Partei aufgenommen wurde, war er mit der Frage repressiver Maßnahmen konfrontiert. Was sollte er im Fragebogen darüber schreiben, dass sein Großvater Pantelej ohne Gerichtsverfahren 14 Monate absaß und auch der Großvater Andrej ohne jedes Gericht nach Sibirien geschickt worden war? Diese Geschichten beschäftigten ihn auch später noch lange. Stalin begegnete er erstmals auf dem Totenbett. „Was wird nun aus uns?“ gibt er die Frage seines tschechischen Freundes Zdenek Mlynář wieder. Von der juristischen Rehabilitierung der Stalin-Opfer, die unter Chruschtschow begann, wurden die Absolventen der Juristischen Fakultät wegen mangelnder Lebenserfahrung ausgeschlossen. Aber die Wirkung von Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag erlebte er mit. Teilweise glaubten die Menschen nicht, schreibt er, dass Stalin von den Verbrechen gewusst hatte. Immerhin kehrten viele Völker, die nach Sibirien umgesiedelt worden waren, wieder in ihre Heimat zurück, wo sie nicht immer freundlich aufgenommen wurden: die Balkarer, die Inguscher, die Tschetschenen, Kalmyken, Krimtataren. In seinem Verantwortungsbereich Stawropol konnte Gorbatschow gut mit den Kalmyken zusammenarbeiten. Er selbst erfuhr den XX. Parteitag als den Beginn der Neubewertung der Innen- wie der Außenpolitik, der Interpretation der historischen Fakten. Freilich verlief dieser Prozess widersprüchlich und sehr schmerzhaft. Er schreibt: „Wenn unter Chruschtschow in dieser oder jener Form der Kampf mit den Nachfahren des Personenkultes fortgesetzt wurde, so begann unter Breschnew seine Wiederbelebung, bildete sich die Ideologie des Post-Stalinismus heraus. Man erhöhte Stalin erneut. Und obwohl unter dem Einfluss des XX. Parteitages sich die ‚Generation der Sechziger Jahre‘ herausbildete, der besondere Erfolge bei der Entwicklung unserer Gesellschaft zukommen, so wurde doch der Prozess der Erneuerung, der Demokratisierung, des Eintretens in eine neue Politik ausgebremst.“ 331 1960 wurde er von Nikolaj Iljitsch Beljajew, dem Ersten Sekretär des ZK der KPdSU Kasachstans (1957-1960 Politbüro-Mitglied), über die dramatischen Ereignisse in Temurtau informiert, wo als Antwort auf die Unzufriedenheit und Unruhen der Arbeiter Militär und Panzer eingesetzt worden waren. Gorbatschow nahm am XXII. Parteitag teil und erlebte somit Chruschtschows Anstrengungen den Weg der Entstalinisierung fortzusetzen. Bei allen Schwächen schreibt er Chruschtschow doch eine herausragende Bedeutung für die Geschichte 330 331

Gorbačev, Naedine, S. 80. Gorbačev, Naedine, S. 131.

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und die große Politik zu: „Die Kritik an Stalin, die sein persönliches Regime verkörpert, zeigte nicht nur den schwierigen Zustand unserer Gesellschaft als Ganzes, den verdorbenen Charakter des politischen Kampfes, der daraus hervorging, sondern auch das Fehlen der elementaren Gesetzmäßigkeit. Diese Kritik diskreditierte moralisch Tag und Nacht den totalitären Charakter der sowjetischen Ordnung, erzeugte den Wunsch nach einer Reform, gab den Impuls für die Entwicklung der Prozesse sowohl auf dem Gebiet der Politik wie der Ökonomie wie im Geistesleben. Vor allem muss man das Chruschtschow zugutehalten, dass er das unterstützte.“ Und er schreibt weiter: „In der Entlarvung Stalins zeigte sich die widersprüchliche Rolle Chruschtschows sehr deutlich – einerseits die Kühnheit und der Mut, die Bestimmtheit, die Bereitschaft gegen den Strom zu schwimmen, aber andererseits – die Begrenztheit des politischen Denkens in den Rahmen der Stereotypen, die Ungenügendheit und der Unwille, die tieferen Ursachen der Erscheinungen offen zu legen, gegen die er den Kampf führte.“ Und er kommt zum Kern: „Chruschtschow konnte in die Analyse der Ursachen des Totalitarismus nicht eindringen, und er konnte es wahrscheinlich nicht, weil es für ihn die Überwindung der Dogmen bedeutet hätte, die für ihn das Symbol der Wahrheit darstellten. Und dennoch hätte Chruschtschow meiner Ansicht nach mit seinen Ansichten und Vorhaben wesentlich weiter gehen können, wenn ihn nicht die Verhältnisse gehindert hätten, in denen er handeln musste.“ 332 Es klingt schon die Reflexion der eigenen Erfahrung durch, wenn er über Chruschtschow resümierend schreibt, bei aller Gegensätzlichkeit seiner Natur stellte sich Chruschtschow ihm als ein Handelnder dar, der der Hauptlinie seines Handelns außerordentlich treu blieb. „Chruschtschow konnte natürlich die führende Rolle der Partei nicht angreifen, er konnte sie nur modernisieren, ihr Monopol über alle und alles schwächen. Dennoch stieß er auf den mächtigsten Widerstand, der ihn letzten Endes selbst in die Niederlage führte. Indem ich darüber spreche, denke ich, indem ich nach vorn schaue, dass wir in den Jahren der Perestrojka nicht alles aus der Erfahrung Chruschtschows gelernt haben. Argumente zur Abberufung Chruschtschows gab es genug, um den ‚Machtverlust‘ von 1964 zu rechtfertigen. Aber hinter den Worten vom ‚Wohle des Volkes‘ stand vor allem der Wunsch der Partei-‚Generale‘ und –‚Offiziere‘ ihre Macht zu erhalten. Das ZK der KPdSU, das ihn 1957 im Kampf gegen die Antiparteigruppe gestützt hatte, stürzte ihn im Oktober 1964. Zusammenfassend kann ich sagen: Die Hauptbesonderheit der Chruschtschowschen Periode im Ganzen besteht darin, dass Nikita Sergejewitsch veranlasste ein System auszuarbeiten, das genau diese Methoden benutzte. Aber das System nahm seine Neuerungen nicht an, schlimmer noch, es leistete Widerstand…Damit aber war der erste Schritt getan zur Demontage des totalitären Regimes, war der erste Versuch unternommen worden, unsere Gesellschaft zur Demokratie zu führen.“ 333 Damit spricht er klar sein eigenes Ziel an: die Demokratie. Das heißt, Gorbatschow sieht sich ganz in der Tradition 332 333

Gorbačev, Naedine, S. 145. Gorbačev, Naedine, S. 146.

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Chruschtschows, das alte System (Stalins) aufzubrechen. Hier begann die Suche nach dem „demokratischen Sozialismus“. Wenn die Ursachen für die zentralistische Struktur der Partei bei Stalin und Lenin lagen, galt es, zu den Anfängen des russischen Marxismus zurückzukehren. Nach dem XXII. Parteitag 1961 bestellte Gorbatschow sich die fünf Bände Plechanows, des „Vaters des russischen Marxismus“. 334 Sie waren 1956-1958 erschienen. Das war auch ein Ergebnis des XX. Parteitages. Nach Plechanows Tod 1918 waren die gesammelten Werke in den Jahren 1922-1927 herausgegeben worden. 335 Georgij Valentinovitsch Plechanow hatte mit Pawel Axelrod, Vera Sassulitsch, Lew Dejtsch und Vasilij Ignatow in Genf am 25. September 1883 die erste russische sozialdemokratische Gruppe gegründet. 336 Vera Sassulitsch hatte in ihrem Brief an Marx vom Februar 1881 gefragt, ob in Russland die sozialistische Revolution sich auf die Landgemeinde stützen oder Entwicklungen wie in Westeuropa abwarten sollte. Darauf hatte Marx hinhaltend geantwortet, im Kern aber eine Westeuropa analoge Entwicklung des Kapitalismus als Voraussetzung einer sozialistischen Revolution postuliert. 337 Vera Sassulitsch war 1905 nach St. Petersburg zurückgekehrt, Plechanow am 1. April 1917. Es ist bezeichnend, dass der Bericht über Plechanows letztes Lebensjahr erst 1991 erschienen ist. 338 Wenn Gorbatschow also ausdrücklich erwähnt, dass er Plechanows Werke gekauft hat, bedeutet das, dass er zurückgehen wollte zu den Quellen, der Zeit vor der Leninschen zentralistischen und konspirativen Struktur der Partei, zur Russischen Sozial-Demokratie. Der XXII. Parteitag 1961 mit seiner erneut scharfen Kritik an Stalin und der Verabschiedung eines neuen Parteiprogramms der KPdSU veranlasste Gorbatschow nach Alternativen zu suchen und bestärkte ihn in seiner kritischen Betrachtung der Herrschaftsform der Partei wie der von ihr bestimmten Realität. Von diesem Zeitpunkt an zeichnen sich zwei Linien ab. Die erste verfestigte sich nach Chruschtschows Sturz 1964 und der Restalinisierung. Sie brachte die Erfahrung der Änderungsverweigerung mit sich, der Stagnation. Sie äußerte sich im Erleben vom Vernichten, Totlaufen vieler Reformansätze und des immer stärkeren Hineinsteuern in eine Sackgasse. Diese Erfahrung führte zur dringenden Erkenntnis der Notwendigkeit einer Systemveränderung. Diese bildete die zweite Linie. Sie führte zu den Fragen, wie tiefgreifend die Veränderungen sein sollten und, genauso wichtig, auf welche Weise Reformen durchgeführt werden könnten. Die Antwort bedeutete auch eine Generationenfrage. Die Generation Breschnews Gorbačev, Naedine, S. 164. Plechanov, G. V., Izbrannye filosofskie proizvedenija. V pjati tomach. Moskva 1956-1958 g. Izd. Akademija Nauk SSSR, Institut filosofii. 335 Plechanov, G. V., Sočinenija. Tom I-XXIV. Moskva-Leningrad 1922-1927. Pod red. D. Rjazanova. 336 Geierhos, Wolfgang, Vera Zasulič und die russische revolutionäre Bewegung. München 1977, S. 255. 337 Geierhos, Vera Zasulič, S. 170-191. 338 God na rodine. Iz vospominanij Rozalii Plechanovoj. In: Dialog 1991, 8-15. 334

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hatte den Zweiten Weltkrieg siegreich beendet, die UdSSR danach wieder aufgebaut und aus der errungenen internationalen Position die Großmachtrolle abgeleitet. Die Aufwertung Stalins war zum Symbol dieses Selbstverständnisses geworden. Andererseits war unter Chruschtschow eine neue Generation herangewachsen, die nun, nach Krieg und Stalins Terror, freier ihre Zukunft planen konnte und in Chruschtschow einen Führer erlebte, der, bei allen negativen Eigenschaften, grundlegende Reformen in Richtung eines Abbaus, zumindest der Schwächung der parteilichen Zwänge und hin zu Ansätzen der Selbstverwaltung in die Wege leitete. Gegenüber der Ideologie des Klassenkampfes hatte er auf internationaler Ebene die Idee der friedlichen Koexistenz ausgebaut und in Treffen mit dem amerikanischen Präsidenten Kennedy auch umgesetzt. Für die Rückschläge war der Westen nicht ganz unschuldig. Wie tief diese Erfahrungen die unter Chruschtschow heranwachsende Generation geprägt hatte, zeigte sich später, als Gorbatschow und seine Mannschaft ihre Reformschritte stets mit Chruschtschows Erfahrung verglichen – bis zur Befürchtung des Machtverlustes, wie er Chruschtschow zugestoßen war. Gorbatschow nennt das „häretische Gedanken“. 339 Zur Stützung seiner „häretischen Gedanken“ nennt er zahlreiche Beispiele aus eigener Erfahrung, in denen orthodoxes, engstirniges oder machtbesessenes Handeln der Parteivertreter alternatives Denken unterdrückte, bestrafte, oder, wie im Falle des Prager Frühlings – militärisch zu vernichten versuchte. So schreibt er, dass er als Erster Sekretär des Stadtparteikomitees zwar sehr selbständig handeln konnte, andererseits er für den Bau einer Toilette bis nach Moskau zur Staatlichen Plankommission der Russischen Föderation gehen musste. 340 Ebenso erlebte er die Absetzung eines energischen, engagierten Leiters eines Landwirtschaftsbereiches, angeklagt wegen großer Fehler in prinzipiellen politischen Fragen. Er hatte versucht, den Staatsplan aufzuweichen, indem er den Kolchosen mehr Rechte gab, über ihre Produkte und deren Verkauf zu entscheiden. Kurze Zeit später verlor ein Dozent seine Stelle auf Druck aus Moskau, weil er in einem Buch Ideen vertreten hatte aus der Chruschtschow-Zeit, die, wie Gorbatschow schreibt, erst fünfzehn Jahre später zu Beginn der Perestrojka umgesetzt werden konnten. 341 Auch verurteilt er die Invasion in die ČSSR 1968. Es habe in der UdSSR damals zwar viele Gegner dieses Einmarsches gegeben, aber keine Massenproteste. Als er ein Jahr später aber selbst in die ČSSR reiste, habe er erstmals die tiefe Verletzung der tschechischen und slowakischen Brüder gefühlt. Je höher er auf der Leiter der Parteiämter hinaufstieg, umso mehr wurde er mit den strukturellen Mängeln des Systems konfrontiert, mit den Eigenheiten der Kommandowirtschaft und des bürokratisch zentralisierten Staates. So musste man für jede noch so kleine Frage zu Gosplan, der Staatsplan-Behörde, die Zustimmung von über zehn Ministerien und Verwaltungen einholen, dazu hunderten von Gorbačev, Naedine, S. 198. Gorbačev, Naedine, S. 162. 341 Gorbačev, Naedine, S. 170,171. 339 340

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Beamten. Unendliche Dienstreisen in die Hauptstadt, Treffen, Gespräche, und die Angelegenheit durch die unterschiedlichen Systeme der Verwaltung schleusen. „Wir spürten fast physisch, dass die Gesellschaft ihre Energie verlor“, schreibt er, „man muss handeln, aber Du bist an den Händen gebunden durch bemooste Dogmen und Instruktionen.“ 342 Das Fatale: „Auf allen Stufen der Macht sah man die Zeichen der Krankheit unserer Ökonomie, aber riskierte nichts.“ 343 Immer klarer aber rückte, zum Ende der Breschnew-Zeit, die Frage nach der Systemveränderung ins Zentrum. So gibt Gorbatschow ein Gespräch wieder, das er mit Vladimir Iwanovitsch Degtjarew, Mitglied des Politbüros des ZK der KP der Ukraine, auf dem Territorium des Moskauer Kreml hatte: „Höre, Michail, wozu das alles – die Sowjets, die Exekutivkomitees, die zahllosen Unions- und Republikbehörden? Wo doch alles im ZK entschieden wird, in den Republik- und Bezirkskomitees der Partei. Man muss ihnen die ganze Macht geben und die übrigen Strukturen liquidieren. Ich teilte das Pathos der Entrüstung über die Sperrigkeit des Verwaltungssystems: Neue Strukturen schossen wie Giftpilze aus dem Boden, die Lösung der einfachsten Probleme verwandelte sich in einen Leidensweg. Dennoch schienen mir die Mitteilungen Degtjarews zu radikal. Aber was ist zu tun, wandte ich ein, dass sowohl das ZK wie die Bezirkskomitees ihre Macht nicht vom ganzen Volk erhalten? Das bedeutet, sie usurpieren sie. Das ist die Diktatur der Partei. Wenn wir die Sowjets liquidieren, bleibt die Frage nach der Wahl der Parteiorgane durch das Volk. Wie ist das möglich?“ 344 Diese Fragen betrafen das Selbstverständnis des sowjetischen Staates. Wenn, anders als unter Stalin, der Bevölkerungsteile von Wahlen ausgeschlossen hatte, sich die Sowjetunion als „Staat des ganzen Volkes“ bezeichnete, stellte sich zwangsläufig die Frage nach der Weiterexistenz der KPdSU. Denn, wenn das ganze Volk hinter dem Sowjetsystem steht, können seine Vertreter auch direkt in die Räte (Sowjets) gewählt werden und benötigen die Vormundschaft der Partei nicht mehr. Diese Überlegungen vom „Volksstaat“ hatte auch Chruschtschow. Sie stellten sich aber zwangsläufig ein, je entwickelter die Sowjetgesellschaft sich selbst begriff. Dabei kristallisierte sich ein Gegner jeglicher Reform heraus, vor dem schon Lenin gewarnt hatte: die bürokratische Herrschaft. Es ist bezeichnend, dass diese Überlegungen Eingang ins Zentralkomitee der KPdSU gefunden hatten. In der Nowosibirsker Studie hat diese Bestandsaufnahme nicht nur ihre wissenschaftliche Begründung erfahren, sondern wurde Grundlage für Veränderungen, die vom Politbüro selbst ausgingen. Gorbatschow aber stand als ZK-Mitglied, später sogar als ZK-Sekretär vor der Aufgabe, Veränderungen im Rahmen des bestehenden Systems zu versuchen. Wie eng dieser Rahmen war, hatte er in einem Gespräch mit Ministerpräsident Kosygin selbst dargelegt: „Auf meinen Schultern als ZK-Mitglied, Abgeordneter des Obersten Sowjet, lastet eine riesige Verantwortung, - sagte er. – Doch habe ich weder Gorbačev, Naedine, S. 207. Gorbačev, Naedine, S. 202. 344 Gorbačev, Naedine, S. 208. 342 343

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das Recht noch die finanziellen Möglichkeiten selbst die einfachsten Probleme zu lösen. Der Hauptteil der Steuern aus den Unternehmen und der Bevölkerung geht ins Zentrum. Ich kann im Rahmen des feststehenden Fonds des erarbeiteten Lohns nichts verändern, sagen wir, den Stellenplan, einige vernünftige Arbeiter auf einen guten Arbeitslohn bringen, stattdessen unterhalte ich fünfzehn Niedriglöhner, aus denen ich keine gute Gruppe bilden kann. Und so errichtete Moskau überall feste Rahmen. Letzten Endes führt das dazu, dass der Apparat der Verwaltung immer inkompetenter wird, - so sagte ich das sehr emotional. Alexej Nikolajewitsch hörte schweigend zu, belächelte manchmal meinen Eifer, aber eine besondere Bereitschaft sich diesem Thema zu nähern bekundete er nicht. Kosygin konnte allgemein auf besondere Art schweigen. Ich sah, dass er meine Meinung teilte, und auch, wenn ich kein Wort als Antwort hörte, war ich ihm doch dankbar für sein Verständnis.“ 345 Gorbatschow kam auf dieses Thema aber wiederholt zurück. Es packte ihn mehr und mehr, wie er schreibt. Er war als junger Reformer bei Kosygin, Andropow und seinem Förderer Kulakow bekannt. Sie hatten ja nicht nur Ideen von Veränderungen, sondern waren, wie Kosygin 1965, bereits mit eigenen Reformvorschlägen gescheitert. Dennoch gab es neue Anstöße. So schlug Kulakow im Herbst 1977 Gorbatschow vor, für das Politbüro ein Papier über Probleme der Agrarpolitik zu verfassen. Am 1. Januar 1978 übergab Gorbatschow Kulakow daraufhin eine Studie von 78 Seiten über die Lage der Landwirtschaft. Überarbeitet und auf 54 Seiten gekürzt, ging sie an die Kommission des ZK. 346Kosygin nannte das Papier „eine Bombe“. Warum war es so brisant? An konkreten Beispielen legte Gorbatschow dar, in welcher Weise und in welchem Ausmaß es zu gravierenden Disproportionen zwischen Landwirtschaft und Industrieproduktion gekommen war. Ausgangspunkt ist der ZK-Beschluss von 1965, als noch von Chruschtschow angeregte Maßnahmen zur Verbesserung der Situation auf dem Lande von Kosygin durchgesetzt worden waren. Inzwischen hatte sich die Lage aber wesentlich zuungunsten der Landwirtschaft verändert. So konnten zwar die Hektarerträge bei Getreide gesteigert und der Arbeitsaufwand bei Sowchosen und Kolchosen verringert werden, nicht zuletzt durch den Einsatz von Maschinen. Gleichzeitig stiegen aber die Preise für Landwirtschaftsmaschinen um ein Vielfaches, während die Preise für landwirtschaftliche Produkte nur in bescheidenem Maße angehoben worden waren. Das galt auch für die Viehwirtschaft. Im Ergebnis arbeitete deshalb eine große Zahl landwirtschaftlicher Betriebe mit Verlust. Gorbatschow sieht die Ursachen darin, dass die einheitliche Planung ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen regionalen Bedingungen von Moskau verordnet wurde, dazu mehrere Pläne zur Erfassung landwirtschaftlicher Erzeugnisse Gorbačev, Naedine, S. 212. Maßnahmen zur konsequenten Verwirklichung der Agrarpolitik der KPdSU in der gegenwärtigen Etappe. In: Gorbatschow, Michail, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 1. Berlin 1987, S. 197-218. 345 346

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gleichzeitig festgesetzt wurden, vor allem aber, dass die nach 1965 noch eingeführten Stimuli und die wirtschaftliche Rechnungsführung untergraben worden waren. „Es verringerte das Interesse der Arbeitskollektive an der Steigerung der Produktion und der Erfassung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse.“ Deshalb fordert er: „Die Hauptsache, das Wichtigste besteht unseres Erachtens darin, dass der Mechanismus der ökonomischen Stimulierung der landwirtschaftlichen Produktion wiederhergestellt wird, wobei die gesamtstaatlichen Interessen mit denen der Kollektive und der einzelnen Werktätigen in der Landwirtschaft in Einklang stehen müssen, sowie darin, dass die ökonomischen Beziehungen zwischen der Landwirtschaft und den anderen Bereichen der Volkswirtschaft in Ordnung gebracht werden.“ 347 Das heißt, er forderte nicht weniger als einen Umbau in der gesamten Planung der Volkswirtschaft. Dazu forderte er, zu einer „streng wissenschaftlichen Planung“ überzugehen und sich auf einen einzigen Plan zu konzentrieren. Die darin festgelegten Preise müssten aber alle Faktoren berücksichtigen, insbesondere die Investitionen, die einen Preis objektiv begründeten. Aber auch die Infrastruktur müsse verbessert werden: neue Ställe errichtet, die alten erneuert, die medizinische Versorgung der Landbevölkerung verbessert, Kultureinrichtungen gebaut werden. Sodann forderte er, die Düngemittelversorgung zu verbessern und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu gestalten. Das gelte auch für die Futterversorgung. Dann geht er auf die Transportmittel ein: „Mit den Fahrzeugkolonnen, die dem Ministerium für Kraftverkehr, der Vereinigung Landwirtschaftstransport und der Vereinigung Landtechnik der RSFSR unterstehen, lässt sich das Problem nicht lösen, denn sie sind auf Ferntransporte eingestellt. Jede dieser Einrichtungen misst ihre Arbeit nicht am Endergebnis der landwirtschaftlichen Produktion, sondern in Tonnenkilometern. Da technologische Arbeiten in Kolchosen und Sowchosen wenig Transportkilometer bringen, sind die Kraftfahrer und die Leiter der Transportbetriebe an Arbeiten für die Landwirtschaft nicht interessiert, und wenn sie schon zusagen, dann verlangen sie unbedingt von den Leitern der Kolchose und Sowchose, dass sie in die entsprechenden Papiere mehr Frachten und größere Entfernungen eintragen, das heißt, drängen sie zu falschen Angaben erheblichen Umfangs. Die Leiter der Kolchose und Sowchose sprechen das ganz offen aus. Wenn die Landwirtschaftsbetriebe mit den nötigen Transportmitteln versorgt würden, könnte der dringende Bedarf der Kolchose und Sowchose gedeckt und eine große Anzahl Radtraktoren frei werden, die jetzt notgedrungen zu Transportarbeiten auf den Feldern dienen.“ 348 Zum Schluss aber kommt er zu „Fragen der Leitung und der Spezialisierung der Produktion“. Angesichts einer „unglaublichen Bürokratie“ fordert er, sogar gestützt auf den XXV. Parteitag 1976, „die demokratischen Grundsätze, die örtliche Initiative zu entwickeln, die oberen Leitungsebenen von unwesentlichen Aufgaben zu befreien, Operativität und Flexibilität bei der Entscheidungsfindung zu 347 348

Maßnahmen, S. 201. Maßnahmen, S. 213.

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gewährleisten.“ – „Meines Erachtens, - fordert er, - sollte man den Betrieben und Vereinigungen bei der Lösung verschiedener Produktions- und Finanzfragen mehr Selbständigkeit einräumen.“ Auf der anderen Seite muss „die Leistungsfähigkeit der zentralen Organe vor allem darauf gerichtet sein, für Planung und ökonomische Stimulierung effektive Formen zu finden, die bei den Kolchosen und Sowchosen größeres Interesse an der Steigerung der Produktion und der Verbesserung der Erzeugnisqualität wecken“. 349 Hier erkennt man schon klar die Sprache der Reformen in der Zeit der Perestrojka. Aber was ist aus dem Papier geworden? Gorbatschow schreibt, er habe es auf dem ZK-Plenum im Juli 1978 vorgetragen, danach ging es ins Archiv, und zwar in die Filiale des ZK der KPdSU in Tschita, sozusagen „in die sibirische Verbannung“. 350 Das war 1978. Zum Glück für Gorbatschow verschwand das Papier einfach. Das war die moderate Form der Reaktion des administrativen Systems auf eine Herausforderung nach Veränderung. Denn die Schlüsselworte „Interessiertheit, Stimulierung, wirtschaftliche Rechnungsführung, Selbständigkeit der Betriebe, Flexibilität, Befreiung der Bürokratie von unwesentlichen Aufgaben“ zielten auf das aktuelle Planungssystem und die Dominanz der Administration über die Wirtschaft und Gesellschaft. Von nun an ist zu beobachten, dass Gorbatschow und diejenigen, die ihn unterstützten, vorsichtiger zu Werke gingen. Jetzt wurde die Parteilinie betont und die Kontinuität der Beschlüsse. So beginnt Gorbatschows Artikel „Aktuelle Fragen der Landwirtschaft und ihrer Effektivität“ aus dem Jahr 1980: „Die Kommunistische Partei der Sowjetunion hat auf der Grundlage der marxistisch-leninistischen Lehre den gegenwärtigen politischen Kurs erarbeitet, der mit den objektiven Erfordernissen des entwickelten Sozialismus und den Aufgaben zur beständigen Hebung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes übereinstimmt, und verfolgt ihn konsequent.“ 351 Oder ein Jahr später: „Ein Hauptergebnis des XXVI. Parteitages der KPdSU ist die Weiterentwicklung der Wirtschaftsstrategie der Partei für die gegenwärtige Etappe des Aufbaus des Kommunismus. Dabei wird die Kontinuität des Kurses gewahrt, den der XXIV. und der XXV. Parteitag festgelegt haben.“ 352 Im Verlaufe der Artikel erscheinen aber doch alternative Ansätze. Sie betreffen die Nebenwirtschaften: „Hauptlieferant tierischer und pflanzlicher Erzeugnisse waren und bleiben, besonders bei der Marktproduktion, die Kolchose und Sowchose. Zugleich misst die Partei den individuellen Nebenwirtschaften von Kolchosbauern, Arbeitern und Angestellten große Bedeutung für die Erweiterung der Ressourcen und landwirtschaftlichen Erzeugnisse bei. In diesem Zusammenhang wurden in jüngster Zeit Maßnahmen getroffen, um die Bevölkerung bei der Aufzucht von Maßnahmen, S. 217. Gorbačev, Naedine, S. 251. 351 Aktuelle Fragen der Landwirtschaft und ihrer Effektivität.(In: Kommunist Nr. 11,1980).In: Gorbatschow, Michail, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 1, S. 257. 352 Der XXVI. Parteitag der KPdSU und die Agrarpolitik der Partei. 21. April 1981. In: Gorbatschow, Michail, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 1, S. 285. 349 350

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Vieh und Geflügel stärker zu unterstützen.“ 353 Das bedeutet, neben den etablierten landwirtschaftlichen Produktionsformen Sowchos und Kolchose wurde ein dritter Zweig, die Privatwirtschaft, gefördert. Auch tauchen die Begriffe der „materiellen Interessiertheit der Werktätigen, die Rentabilität der Produktion, die Stimulierung, die wirtschaftliche Rechnungsführung“ wieder auf. 354Weiter fordert er die „stärkere Abhängigkeit der Entlohnung von den Endergebnissen.“ 355 Und direkt gegen Planvorgaben: „Manche Fachleute zeigen sich in Diskussionen unzufrieden mit dem Stand des Acker- und Pflanzenbaus in ihren Betrieben, kritisieren das Ackerflächenverhältnis, die Fruchtfolgen, die Bodenbearbeitungsmethoden usw. und sagen, dass sie ihre Vorstellungen nicht verwirklichen können, weil sie nicht das nötige Verständnis und die gebührende Unterstützung für ihre Arbeit finden. Dann muss diesen Fachleuten doch wohl irgendjemand ein Bodennutzungssystem, ein Ackerflächenverhältnis vorschreiben. In dieser Hinsicht darf es keine Unklarheiten geben. Man muss davon ausgehen, dass dasjenige Bodennutzungssystem, diejenigen Fruchtfolgen, dasjenige Ackerflächenverhältnis und dasjenige Bodenbearbeitungssystem praktische Unterstützung verdienen, die unter den jeweiligen Bedingungen die besten Endergebnisse und die gute Erfüllung der Staatspläne gewährleisten. Das entscheidende Wort haben dabei die Fachleute und die Landwirtschaftswissenschaft zu sprechen. Deren Vorschläge und Schlussfolgerungen sollten die Mitarbeiter des Partei- und Staatsapparates nach unserem Dafürhalten stärker beachten.“ 356 Nach dem XXVI. Parteitag 1981 und dem anschließenden ZK-Plenum fordert er erneut, „die Planung und Stimulierung der Produktion zu vervollkommnen und die Arbeit der Kolchose und Sowchose fester auf die Prinzipien der wirtschaftlichen Rechnungsführung zu gründen“, „die materielle Stimulierung der Werktätigen in der Landwirtschaft stärker mit dem Endergebnis und insbesondere mit der Verbesserung der qualitativen Kennziffern zu verbinden“. Jetzt komme es darauf an, „dass jeder Kolchos und jeder Sowchos mit den ökonomischen Hebeln…arbeite. Bei den individuellen Nebenwirtschaften sollen „die Interessen des Staates und der Kolchos- und Sowchos Produktion mit den persönlichen Interessen der Kolchosbauern, Arbeiter und Angestellten glücklich in Einklang gebracht werden.“ 357 Es blieb nicht bei Ankündigungen. Die Verschlechterung der internationalen Lage durch den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan an Weihnachten 1979 verlieh Gorbatschows Forderungen nach Revision der Agrarpolitik plötzlich mehr Gewicht. Denn der Westen stellte die Agrarlieferungen an die Sowjetunion ein, und die sowjetische Führung sah sich mit einem gravierenden Versorgungsproblem konfrontiert. Nun stellte sich Breschnew selbst vor Gorbatschow, der Aktuelle Fragen, S. 265. Aktuelle Fragen, S. 272. 355 Kurs der Intensivierung und der Effektivität. Rede auf der Unionskonferenz für Agronomie. 24. Dez. 1980. In: Gorbatschow, Ausgewählte, Bd. 1, S. 278. 356 Kurs der Intensivierung, S. 280f. 357 Der XXVI. Parteitag der KPdSU und die Agrarpolitik der Partei, S. 300. 353 354

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nun sein Organisationstalent entfalten konnte. Es wurde ein Politbürobeschluss gefasst, die Staatliche Plankommission, die Ministerien und wissenschaftlichen Institutionen zur Ausarbeitung eines Lebensmittelprogramms zu beauftragen. Die Analyse von fünfhundert Versuchsbetrieben hatte gezeigt, dass die Sowjetunion sehr wohl den Ertrag von Getreide steigern konnte, wenn die Betriebe mit den nötigen Mitteln versorgt und die Selbständigkeit in Produktion und Vertrieb erhielten. Eine neue Agrarpolitik war also erforderlich. Gorbatschow schreibt, es galt vor allem, „die abwertende Betrachtung der Landwirtschaft zu durchbrechen. Die verbreitete Lüge bestand in der Behauptung, die Landwirtschaft sei ein hoffnungsloser, verlustbringender Wirtschaftszweig, der unermessliche Ressourcen verschlinge und kaum etwas einbringe“. 358 Aber eine Kommission kam schließlich zum Ergebnis, dass die Landwirtschaft ca. 28 Prozent des Nationaleinkommens erbrachte und mehr als zwei Drittel des Warenumsatzes im staatlichen und genossenschaftlichen Handel Produkte der Landwirtschaft oder Waren, die aus landwirtschaftlichen Rohstoffen hergestellt waren, darstellten. Schließlich beschloss der XXVI. Parteitag 1981 ein Lebensmittelprogramm. „Nach dem Beschluss des Parteitags zum Lebensmittelprogramm“, schreibt Gorbatschow, „musste unverzüglich der Kampf aufgenommen werden, um diese extrem wichtige Aufgabe zu lösen. Ich traf mich viel mit Wissenschaftlern, Koryphäen des Agrarsektors, Kolchosvorsitzenden, Sowchos Direktoren, Agronomen und anderen Fachleuten. Nach gründlichen Diskussionen bildete sich die Meinung heraus, im Zentrum der Aufmerksamkeit des Lebensmittelprogramms müsse der Mensch stehen, der mit der Erde arbeitet und lebt, also der Bauer. Später kam ich zu der sicheren Überzeugung“, fügt er an, „was in den Jahren der Kollektivierung geschehen war, ließ sich in den Folgejahren auf keine Weise wiedergutmachen. Einen Teil der Bauernschaft, und zwar den fähigsten, hatte man einfach ausgerottet. Man nannte sie ‚Kulaken‘, Ausbeuter und belegte sie mit den letzten Schimpfnamen. Millionen Menschen wurden von ihrem Land verjagt. Andere trieb man mit Gewalt in die Kolchose, indem man ihr Vieh, ihr Inventar, all das, wofür der Bauer lebte, vergesellschaftete.“ 359 Es ging also auch um die Korrektur der Stalinschen Vernichtung der nach der Stolypinschen Agrarreform 1911 entstandenen erfolgreichen landwirtschaftlichen Betriebe. Gorbatschow beklagt die Zerschlagung des agroindustriellen Komplexes, der noch unter Chruschtschow die Bereiche landwirtschaftliche Produktion, Landmaschinen und Verarbeitung der Produkte in sich vereint hatte. Jetzt waren die Bereiche unterschiedlichen ZK-Abteilungen und Ministerien unterstellt, was zu „entsetzlichem Gerangel“ und Vergeudung von Mitteln führte. „Als ich in diese Dinge nicht mehr nur im Rahmen einer Region, sondern des ganzen Landes Einblick erhielt“, schreibt er, „sah ich die wahren Ausmaße des Durcheinanders, der Verzerrungen und falschen Proportionen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bekam ich, 358 359

Gorbatschow, Michail, Alles zu seiner Zeit. Mein Leben. Hamburg 2013, S. 247. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 249.

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ehrlich gesagt, Angst. Man konnte sich eigentlich nur wundern, dass das System noch nicht zusammengebrochen war. Das hatten wohl nur das ZK der KPdSU und das Politbüro, überhaupt der Parteimechanismus verhindert.“ 360 Am 24. Mai 1982 nahm das Plenum des ZK Breschnews Referat „Über das Lebensmittelprogramm der UdSSR bis 1990 und die Maßnahmen zu seiner Umsetzung“ entgegen. Sowohl das Programm selbst wie das Paket aus sechs Erlassen zu Einzelfragen des Agroindustriellen Komplexes wurden angenommen. Es war ein weiterer Versuch, schreibt Gorbatschow, „das System in einer solch lebenswichtigen Frage wie der Lebensmittelversorgung auf Vordermann zu bringen.“ Und es gelang. Am 10. November 1982 starb Breschnew. In der Rückschau schreibt Gorbatschow, das Wichtigste an der Breschnew-Ära sei die Tatsache gewesen, dass die Führung die Herausforderungen ihrer Zeit ignorierte. Während sie an alten Dogmen und Vorstellungen festhielt, übersah sie den Eintritt tiefgreifender Wandlungen in Wissenschaft und Technik, in den Lebensbedingungen und der Tätigkeit der Menschen, Länder und Regionen, ja der ganzen Weltgemeinschaft, Wandlungen, die den Anbruch einer neuen Zivilisation bedeuteten. „Dadurch, dass jegliche Änderungen bei uns blockiert waren, landete unser Land in einer Sackgasse und war zu langer Rückständigkeit und einer tiefen gesellschaftlichen Krise verurteilt.“ 361 Die Ursachen für das Hineinsteuern in die Krise sieht er vor allem darin, dass Breschnew sich dagegen sperrte, die „Allmacht der Partei- und Staatsbürokratie zu schwächen“, wie Chruschtschow es versucht hatte. So sieht Gorbatschow in der Breschnew-Ära „nichts anderes als eine konservative Reaktion auf Chruschtschows Versuch, das autoritäre Modell des Landes zu reformieren“. – „Denn Breschnew kannte die Neigungen der Partei- und Staatselite und des militärindustriellen Komplexes gut, stützte sich auf sie und nutzte ihre unbegrenzte Loyalität, um im Grunde eine harte neostalinistische Linie zu verfolgen.“ 362 Mit dem Lebensmittelprogramm, für das er die Rückendeckung Breschnews und sogar Ustinows gewonnen hatte, hatte Gorbatschow bewiesen, dass er in der Lage war, seine Vorstellungen von einer Systemveränderung im Bereich der Landwirtschaft, für den er als ZK-Sekretär zuständig war, umzusetzen. Er hatte gezeigt, dass er die Spielregeln des bürokratischen Systems beherrschte und innerhalb des Systems sehr geschickt, gelegentlich auch mit Druck, ein politisches Ziel erreichen konnte. Das Ergebnis verschaffte ihm von allen Seiten Respekt und Anerkennung, natürlich auch Gegner. So hörte auch Gerd Ruge den Namen Gorbatschow zum ersten Mal im Gespräch mit einem Mitglied der Akademie der Wissenschaften, dessen zweihundertseitige Studie über die Probleme der sowjetischen und internationalen Öl- und Erdgasproduktion vom Institutsleiter gerade auf magere achtzig Seiten gekürzt worden war. Die Begründung lautete, es sei doch nutzlos, derartige Überlegungen Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 250f. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 276. 362 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 275. 360 361

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zur Debatte zu stellen; das Institut werde Schwierigkeiten bekommen, weil eine solch kritische Darstellung die zuständigen Parteifunktionäre verärgern würde: „Wenn überhaupt, dann liest das höchstens dieser Gorbatschow.“ 363 Karl Schlögel nennt diese Zeit die „Zeit der Inkubation“, „der Akkumulation der Kräfte der Gegengesellschaft, der Gegenöffentlichkeit, eben der Bildung der neuen Elite“. Sie ist aus der „sogenannten Zeit der Stagnation“ hervorgegangen. Die neue Wirklichkeit ist durch sozialen Aufstieg, Gruppendifferenzierung, Wachstum der Ansprüche, Verstädterung, Individualisierung geprägt, durch die Freiheit von Krieg und Hunger nach 1945, d.h. „durch eine Wirklichkeit, die zu komplex geworden war, als dass sie sich noch hätte kommandieren lassen.“ Es bildeten sich innerhalb der einen Partei bereits rivalisierende Strömungen heraus. Und er kritisiert die westlichen Beobachter: „Man redete noch vom Totalitarismus, als die Zensur schon aus dem Tritt geraten war und sich eine Öffentlichkeit etablierte, die zwar verboten, aber dennoch einflussreicher war als die erlaubte. Wie gebannt analysierte man die Kommuniqués, während der entscheidende Text schon ganz woanders geschrieben wurde. Man blickte aufs Zentrum, wo die Peripherie sich längst regte. Man war ganz und gar von den Haupt- und Staatsaktionen okkupiert, während das wirklich Neue – die ‚Gesellschaftsbildung‘ – kaum wahrgenommen wurde.“ Dann bringt er die Kritik auf den Punkt: „Die macht- und ideologiefixierte Sowjetologie hat zum Begreifen des Endes so wenig beigetragen wie eine gewisse linke Sozialismus-Anhänglichkeit. Sie bestätigten allenfalls ein Ende, das von selbst gekommen ist, und erklärten nicht, dass etwas geschehen ist, was in einer ‚totalitären Gesellschaft‘ theoretisch hätte gar nicht geschehen dürfen: das Heranwachsen einer Elite zuweilen im Zentrum der Staatsklasse selbst -, die das Ende selbst herbeigeführt und einen anderen Anfang ermöglicht hat.“ 364

363 364

Ruge, Gerd, Unterwegs, S. 264f. Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, S. 150ff.

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2. Die ersten Reformen 2.1 Andropow und die ersten Reformen. Die Nowosibirsker Studie Mit Jurij Wladimirowitsch Andropow kam die Wende. Es war eine Wende von der Fiktion hin zur Realität. Dusko Doder, in dieser Zeit Korrespondent der „Washington Post“ in Moskau, notierte: „Was Andropow den Menschen sagte, hatte kaum Neuigkeitswert – sie erlebten im Alltag am eigenen Leib die Kluft zwischen Anspruch und Realität. Völlig neu war, dass der Kreml-Chef mit minimaler ideologischer Beschönigung sprach – er bekräftigte seine Hingabe zum Sozialismus, stellte jedoch feinfühlig, aber unmissverständlich die überkommene politische Linie in Frage.“ Viele der von der Partei genannten Ziele hätten ‚den Test der Zeit‘ nicht bestanden. Viele verehrte Ziele seien ganz einfach ungerechtfertigt, und einige enthielten ‚Elemente einer Trennung von der Realität‘. Offen gesagt, so Andropow, haben wir bis heute die Gesellschaft, in der wir leben und arbeiten, noch nicht richtig studiert, und wir haben bis jetzt noch nicht die Gesetze vollends erkannt, die ihre Entwicklung, besonders der Wirtschaft, beeinflussen. Daher sind wir jetzt gezwungen, sozusagen empirisch zu handeln, d.h. in einer ziemlich irrationalen Weise des Versuchs und Irrtums. „Für eine kommunistische Elite, die die Zukunft kennen sollte und die das Land nach den ‚wissenschaftlichen Prinzipien‘ des Marxismus-Leninismus regierte, waren dies schwindelerregende Eingeständnisse“, schreibt Doder. „Nach fünfundsechzig Jahren Sowjetmacht erzählte ein Kreml-Chef dem Volk, dass die Versprechen nicht eingehalten werden konnten, dass die Wirtschaft und Gesellschaft ernsthaft geschwächt waren und dass diese Schwäche ihre Ursache größtenteils darin hatte, dass es an einem rationalen Verständnis beider und daher einer rationalen Linie fehlen würde.“ 365 Andropow wusste also, dass die Sowjetunion mit dem bestehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen System nicht überleben würde, dass Reformen unausweichlich waren. Er kannte aber auch die durch die Breschnew-Zeit gepflegte Mentalität seiner Landsleute, die nach dem Schock der Stalin-Zeit Ruhe und Stabilität gesucht hatten und daher keine große Bereitschaft zu Veränderungen aufwiesen. Andererseits war der Bevölkerung auch bewusst, dass sich etwas verändern müsste, war die Sowjetunion doch außenpolitisch in eine Sackgasse geraten, lahmte das Wirtschaftswachstum, blühte die Korruption bis in die höchsten Kreise, war das Militär beunruhigt über die neuen Herausforderungen durch die USA. So vermied Andropow anfangs den Begriff „Reform“ und ersetzte ihn durch „Experiment“. Der Begriff „Reform“ im Zusammenhang mit wirtschaftspolitischen Veränderungen tauchte erstmals in der „Prawda“ vom 26. Dezember 1983 auf. Doder, Machtkampf im Kreml, S. 165f. Andropows Rede zum 112. Geburtstag Lenins zitiert auch Gorbatschow, Naedine s soboj, S. 289.

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Nun schlug das Pendel zurück. In Anlehnung an Chruschtschows Ansätze schlug Andropow Maßnahmen der Liberalisierung, der Verlagerung der Entscheidung nach unten vor. So, dass „die Unabhängigkeit der Genossenschaften und Unternehmen, der Kolchosen und Sowchosen gesteigert werden müsse“. Diese Richtung ging noch auf die Vorschläge von Jewsej Liberman zurück, der sich vor fünfundzwanzig Jahren schon dafür eingesetzt hatte, die Konsumgüterindustrie als Leistungsanreiz für eine wirtschaftliche Effizienz zu fördern, die Produktion zu erhöhen, den Konsum zu steigern und das Land in das High-Tech-Zeitalter zu führen. Das ging aber nur durch aktive Beteiligung des Volkes. Das aber bedeutete den Abgesang auf den Kasernensozialismus und Impulsgebung von unten, von der Basis, damit nichts anderes als eine Systemveränderung. Seine Hoffnung galt deshalb der jungen Generation, die weder Stalin noch den 2. Weltkrieg erlebt hatte. In seiner Zeit als ZK-Sekretär unter Chruschtschow und Breschnew hatte er die Gefahren gesehen, mit denen ein Staatschef konfrontiert wird, wenn er versucht radikale Veränderungen durchzuführen. Andropows ersten Maßnahmen galten deshalb der Verjüngung der Führung – viele Politbüromitglieder hatten das achtzigste Lebensjahr überschritten und waren ihren Aufgaben nicht mehr gewachsen. Schon in seiner Zeit als ZK-Sekretär hatte er ein Team von „Ratgebern“ um sich versammelt, die zu den intelligentesten und fähigsten Menschen im Lande zählten. Doder schreibt: „Außer dass sie alle der Intelligenzija angehörten, teilten sie ihre Abneigung gegen Stalin und seine blutrünstige Herrschaft, oder wie einer sich einmal privat ausdrückte: ‚Wir sind alle Kinder des 20. Parteitags‘. Dies bedeutete im sowjetischen Kontext, dass sie nicht so dogmatisch, sondern eher etwas reformerisch eingestellt waren. Sein Team wurde ein Kremlstab von Redeschreibern, Analytikern und Männern mit Ideen. Unter ihnen waren Lew Tolchunow, der später der verantwortliche Redakteur der Iswestija wurde und der so weit aufstieg, eine der Kammern des Obersten Sowjet zu leiten, Georgij Schachnasarow, ein bekannter Schriftsteller, der im ZK ein ranghoher Funktionär wurde, Fjodor Burlatzkij, ein führender Politikwissenschaftler und Journalist, Oleg Bogomolow, heute der Direktor des Instituts für Wirtschaft im Sozialistischen Weltsystem, der Sinologe Lew Deljusin, der frühere Peking-Korrespondent der Parteizeitung Prawda und jetzt am Institut für Orientalische Studien, und Georgij Arbatow, Leiter des Instituts für die USA und Kanada.“ 366 Darüber schreibt auch Arbatow selbst: „Die Tatsache, dass Andropow als Sekretär des Zentralkomitees eine solche Gruppe von intelligenten und relativ unabhängig denkenden Menschen um sich versammelt hatte, war sehr wichtig. Dies war der erste unter den mehr oder weniger massiven Durchbrüchen der Intellektuellen durch die ‚eiserne Wand‘ der Partei-Apparatschiks, wenn auch die Intellektuellen immer noch lediglich als Berater dienten.“ 367 Die in Prag erscheinende Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus“ bildete ein Forum dieser alternativ Denkenden. Anatolij Tschernjajew und 366 367

Doder, Machtkampf im Kreml, S. 194. Arbatow, Das System, S. 106.

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Georgij Ch. Schachnasarow, die der Redaktion angehörten, wurden später Gorbatschows Assistenten. Die Männer um die Redaktion halfen, eine intellektuelle Brücke vom XX. Parteitag zur Perestrojka zu bauen, über den Abgrund der Stagnation hinweg. 368 Arbatow, der dem Beraterkreis Andropows angehörte, nennt diese Gruppe im ZK „eine der großartigen Oasen kreativen Denkens“. Er schreibt: „Andropow bekam so viele Informationen, weil er die folgende Regel von Beginn an aufstellte und von Zeit zu Zeit wiederholte: ‚In diesem Raum könnt ihr absolut offen sprechen – versteckt eure Meinungen nicht. Wenn ihr aus der Tür tretet, ist das eine andere Sache. Dann müsst ihr euch an die allgemeinen Regeln halten!“ Hier wurden die Keime für die Perestrojka gelegt. 369 Das galt auch für das Amerika- und Kanada-Institut der Akademie der Wissenschaften, nachdem Arbatow dessen Direktor geworden war. Darüber schreibt er: „Es war schwer genug für das Institut, als eine Zuflucht pragmatischen Expertentums und neuen Denkens in der Periode der Stagnation zu überleben.“ 370 Es geht um das Aufbrechen des doktrinären Denkens. Das galt auch für die Beziehungen zu den anderen sozialistischen Staaten. Andropow und seine Beratergruppe trugen zur Auflockerung der harten Linie in den Beziehungen zu den Ländern von Ost- und Zentraleuropa bei, schreibt Arbatow. „Damit meine ich die Annahme, dass unser Land das Recht habe, die Länder der sozialistischen Gemeinschaft durch eine Art Kommandopolitik zu beherrschen und sie zu zwingen, unserem Beispiel zu folgen. Diese Überzeugung war Teil der politischen Philosophie vieler Parteiarbeiter, und sie blieb selbst Mitte der sechziger Jahre, selbst nach dem XX. Parteitag Teil dieser Philosophie – besonders unter jenen, die im Apparat arbeiteten. Wir versuchten, eine alternative politische Linie zu entwickeln: Respekt für die anderen sozialistischen Länder und ihre Erfahrung, Toleranz gegenüber ihren Abweichungen von der Politik in unserem Lande, Verständnis für die Notwendigkeit, Beziehungen aufzubauen, die auf gegenseitigen politischen und ökonomischen Interessen beruhten – alles innerhalb gewisser Grenzen natürlich.“ Er muss aber einräumen, dass die Ereignisse in der Tschechoslowakei diese Grenzen sehr eng zogen. Aber gerade vor dem Hintergrund dieser Erfahrung schreibt er: „Welches waren die Grenzen? Wie weit konnte man sie zurückschieben? Eine ganze Weile war die Diskussion dieser Frage das Hauptschlachtfeld, auf dem gegensätzliche Ideen und opponierende Politiker einander ins Gehege gerieten. Wir versuchten, die Grenzen, die uns die sogenannten sozialistischen Prinzipien aufzwangen, so großzügig wie möglich zu interpretieren. Unser Hauptmotiv war sehr pragmatisch. Wir begriffen, dass eine exzessive Kontrolle der sozialistischen Länder neue Explosionen wahrscheinlicher machte, und wir verstanden, dass eine Auf-

Arbatow, Das System, S. 96. Arbatow, Das System, S. 110. 370 Arbatow, Das System, S. 354. 368 369

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lockerung der ‚Prinzipien‘ mehr Flexibilität und Spielraum auch bei uns in der Sowjetunion bedeuten würde.“ 371 Hier stößt man auf das Motiv, in den anderen sozialistischen Ländern Experimente und Freiräume zuzulassen: Die Reformer erhofften sich Rückwirkungen auf die Sowjetunion selbst. Auch die realistischere Ausrichtung der sowjetischen Außenpolitik gegenüber dem Westen durch den ZK-Apparat sieht er als Erfolg der Beratergruppe: „Wir hatten Anteil daran“, schreibt er, „dass ein neues Konzept friedlicher Koexistenz mit dem Westen entstand – nicht als reine Propaganda, sondern als eine realistische Möglichkeit und sogar als eine Notwendigkeit.“ 372 Im Erscheinen von Schlüsselwörtern wie “Personenkult“, „XX. Parteitag“ und „Friedliche Koexistenz“ in offiziellen Dokumenten versuchten sie die offizielle Politik in neue Bahnen zu lenken. Die „Kaderfrage“ wurde gezielt angegangen. Hunderte von Funktionären wurden in den Ruhestand versetzt oder degradiert –„die meisten von ihnen mit einem gesichtswahrenden Ausdruck der Kremldankbarkeit – wie Dinosaurier, die aus ihren Höhlen getrieben werden“. 373 Dazu lief eine Anti-Korruptionswelle, der wöchentlich zahlreiche Funktionäre zum Opfer fielen. Doder sieht in ihr einen Kampf zwischen den zwei Generationen und ihren komplexen Interessen: zwischen dem orthodoxen, dogmatischen Teil der Partei mit seinem riesigen Apparat von Bürokraten, Provinzfunktionären und ihren Anhängern und den reformerischen Elementen der Partei; zwischen dem Breschnew-Establishment, das über eine starke regionale Machtbasis verfügte, und Andropows Männern, die jünger waren und keine ähnlichen regionalen Machtbasen aufweisen konnten, denen aber in Moskau wichtige Positionen zugeteilt wurden und die vom KGB und der militärischen Befehlsgewalt unterstützt wurden. „Da er diese jungen Männer aus den Provinzen in die Entscheidungszentrale des Kreml holte, gab Andropow seiner Administration nicht nur einen Energieschub, sondern legte auch den Grundstein für die künftige Parteiführung – Michail Gorbatschow und sein Team. Andropow setzte auf die neue Generation und gebrauchte das KGB, um loyale und energische Frauen und Männer im ganzen Land zu gewinnen, die auf Führungspositionen vorbereitet werden konnten.“ 374 Noch im Jahr 1983 wurde durch Kooptationen für das Politbüro die Macht der alten Garde gebrochen, damit der Weg für Gorbatschow frei. Das Durchschnittsalter der Politbüromitglieder wurde nach Andropows Hausputz auf 67 Jahre gesenkt. Dann ging es an die Reform der Wirtschaft. Im April 1983fand in Nowosibirsk 375 eine wichtige Unionskonferenz über Wirtschaft statt. An ihr nahmen 132 führende Fachleute aus 26 Forschungsinstitutionen teil – Soziologen, Ökonomen, Arbatow, Das System, S. 109. Arbatow, Das System, S. 109. 373 Doder, Machtkampf im Kreml, S. 216. 374 Doder, Machtkampf im Kreml, S. 223. 375 In der Zeitschrift „Osteuropa“ war offen geblieben, an welchem Ort die Konferenz stattgefunden hatte. Saslawskaja selbst nennt Nowosibirsk als Veranstaltungsort. Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 70. 371 372

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Philosophen, Juristen, Psychologen, Historiker, Geographen und Mathematiker, die auf dem Gebiet der Modellformulierung für sozio-ökonomische Prozesse arbeiteten. 376 Grundlage der Diskussion bildeten Studien, die zuvor in Auftrag gegeben worden waren. Das Hauptreferat hielt Tatjana Saslawskaja, die Leiterin der Abteilung für soziale Probleme am Institut für Wirtschaft und Organisation der Industrieproduktion der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften. Ihr Thema lautete „Die Probleme der Vervollkommnung der sozialistischen Produktionsverhältnisse und die Aufgaben einer Wirtschaftssoziologie“. Durch den Korrespondenten Doder wurde diese Studie im Westen als „Nowosibirsker Studie“ bekannt. Nach ihrem Erschienen in der „Washington Post“ am 4. August 1983 erschien sie auch in der „Frankfurter Rundschau“ und schließlich in der Zeitschrift „Osteuropa“. 377 Sie stellt ein Schlüsseldokument für die Perestrojka dar. In der Bestandsaufnahme stellt die Autorin ein in den letzten zwölf bis fünfzehn Jahren ständig sich verringerndes Nationaleinkommen fest. Im laufenden 11. Planjahrfünft liege es bei 2,5 Prozent, bei 0,8 Prozent Bevölkerungswachstum. Die Ursachen im Investitionsbereich, im Transportwesen, der schlechten Arbeitsdisziplin benennt sie aber nur als Teilaspekte, „während sich die ökonomischen Kennzahlen in den meisten Produktionsbereichen und -regionen verschlechtern“. Folglich liege diesem Phänomen eine allgemeinere Ursache zugrunde, schreibt sie und kommt zum Ergebnis: „Unserer Meinung nach besteht sie im Zurückbleiben des Systems der Produktionsverhältnisse und des sie widerspiegelnden Mechanismus der staatlichen Wirtschaftslenkung hinter dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte, konkreter, in der Unfähigkeit dieses Systems, eine vollständige und genügend effiziente Nutzung des materiellen und intellektuellen Potentials der Gesellschaft zu gewährleisten.“ 378 Das ist der Kernsatz. Er beinhaltet, dass das gesamte Leitungssystem der Sowjetunion nicht mehr in der Lage ist, mit der komplizierter gewordenen Form der Produktion, ja der Gesellschaft überhaupt Schritt zu halten, geschweige denn beide zu steuern. Dann kommt sie zu den Ursachen: „Die Grundzüge des bestehenden Systems staatlicher Wirtschaftslenkung (und folglich der durch dieses bewirkten Produktionsverhältnisse) der UdSSR entstanden vor etwa fünf Jahrzehnten. Seitdem wurde dieses System mehrmals verbessert, erneuert und vervollkommnet; niemals aber wurde es einer qualitativen Veränderung unterzogen, welche die grundsätzlichen Wandlungen im Zustand der Produktivkräfte widergespiegelt hätte.“ 379 In den Lehrbüchern und Handbüchern findet man dieses aktuelle System der Wirtschaftsleitung dargestellt. Dann beschreibt sie die wichtigsten Elemente dieser veralteten Vorstellungen: 1. Die sozialistischen ProŠapošnikov, Social’nyj mechanizm razvitija ėkonomiki (Der soziale Entwicklungsmechanismus der Wirtschaft). In: Obščestvennye nauki, 6/1983, S. 209-212. In: Osteuropa 3/84, S. A 119-A 123. 377 Die Nowosibirsker Studie. In: Osteuropa 4/84, S. A 1- A 25. Übersetzung aus Archiv Samizdata Nr.5042. In: Materialy Samizdata, vypusk Nr. 35/83. 26.8.1983. 378 Die Nowosibirsker Studie, S. A 4. 379 Die Nowosibirsker Studie, S. A 5. 376

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duktionsverhältnisse eilen der Entwicklung der Produktivkräfte voraus, was Widersprüche zwischen ihnen ausschließt. 2. Im Sozialismus gibt es keine tiefen, geschweige denn antagonistischen Widersprüche zwischen persönlichen, kollektiven und gesellschaftlichen Interessen, ebenso wenig zwischen den Interessen verschiedener Klassen und gesellschaftlichen Gruppen. 3. Die Arbeit der Beschäftigten in der sozialistischen Produktion hat unmittelbar gesellschaftlichen Charakter. 4. Daraus folgt dann, es sei nicht unerlässlich, die Notwendigkeit individuellen Aufwands für die Warenproduktion durch den Marktmechanismus bestätigen zu lassen …, d.h. dass die Ware-Geld-Beziehung kein organischer Bestandteil einer sozialistischen Wirtschaft sei. 5. Die gesellschaftliche Produktion hat gegenüber allen Arten formal nicht geregelter privater und kollektiver Arbeit absoluten sozial-ökonomischen Vorrang: eine „Konkurrenz“ um Arbeit, Arbeitszeit, materielle Produktionsressourcen und Absatzmärkte zwischen den gesellschaftlichen und den privaten Sektoren der sozialistischen Wirtschaft ist praktisch unmöglich. 6. Die in der sozialistischen Produktion Beschäftigten sind als „Träger der Arbeitskraft“, als Arbeitskräftepotential, Objekt der zentralisierten Leitung „von oben“ anzusehen. Als Ressourcen sind sie von Natur aus passiv, da sie nicht in Aktion treten, sondern „genutzt“ werden, sie agieren nicht, sondern „funktionieren“, sie wechseln den Arbeitsplatz nicht, sondern werden „verteilt“ und „umverteilt“, da von Menschen in der Eigenschaft als „Arbeitskräftepotential“ keine Aktivität wie beispielsweise die Teilnahme an der Leitung, schöpferische Initiative oder der Kampf für eigenständige Ideen erwartet wird. 7. In der wirtschaftlichen Aktivität der Menschen sind materielle Bedürfnisse, Stimuli und Motive absolut dominant (im Gegensatz zur tatsächlichen Kompliziertheit ihrer Motivation, besonders der wichtigen Rolle sozialer und geistiger Motive). 380 Es ist die traditionelle Prosa aus den Lehrbüchern. Aber, schreibt sie, diese Vorstellungen entsprachen, wie das ganze darauf beruhende System, einer zentralisierten, überwiegend administrativen Wirtschaftsführung, im Wesentlichen dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte der sowjetischen Gesellschaft in den 30er Jahren, als die Großproduktion gerade im Entstehen war und noch von oben geregelt werden konnte. Dazu kam der überwiegende Teil der Arbeiter vom Lande und war bequem zu steuern, teilweise durch „kriegsrechtsähnliche Maßnahmen“, d.h. Gefängnis und Lager für Verspätung und Fernbleiben vom Arbeitsplatz. Seit dieser Zeit sind jedoch Jahrzehnte vergangen und die politische und ökonomische Situation der sowjetischen Gesellschaft hat sich grundlegend verändert. „Der gegenwärtige Zustand der Produktivkräfte unterscheidet sich vom dem der 1930er Jahre nicht nur quantitativ (in der Größenordnung), sondern auch qualitativ (um viele ‚Dimensionen‘ und ‚Generationen‘). Die Branchen-, die Verwaltungsund die Territorialstruktur der Volkswirtschaft sind um vieles komplizierter geworden, die Anzahl der Zwischeninstanzen ist kolossal gewachsen, noch mehr haben die technologischen, ökonomischen und sozialen Beziehungen zugenommen. Die Struktur der Volkswirtschaft ist schon längst so kompliziert geworden, dass man 380

Die Nowosibirsker Studie, S. A 6.

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sie nicht mehr von einem einzigen Zentrum aus effektiv lenken kann. Die während der letzten Fünfjahrpläne aufgetretene und sich unaufhaltsam verstärkende Vertiefung regionaler, branchenbezogener und ökonomischer Disproportionen in der Volkswirtschaft der UdSSR bezeugt klarer als irgendetwas anderes, dass die Möglichkeiten der zentral-administrativen Wirtschaftsführung erschöpft sind, dass es notwendig ist, aktiver ‚automatische‘ Regulatoren in Verbindung mit dem Ausbau von Marktbeziehungen für die Sicherstellung einer gleichgewichtigen Produktion zu nutzen. Unter diesen Bedingungen erweisen diejenigen Wissenschaftler, die auf der These vom unmittelbar gesellschaftlichen Charakter der sozialistischen WareGeld-Beziehungen beharren, der Gesellschaft einen schlechten Dienst.“ 381 Diese Bestandsaufnahme bedeutet in sich schon die Forderung nach einer radikalen Reform des Gesamtsystems der Leitung der Volkswirtschaft. Aber auch der Arbeiter habe sich gewandelt, gibt sie zu bedenken. Sein Bildungs- und Kulturniveau, seine Interessen, sein Selbstbewusstsein sind enorm gestiegen. Aber auch seine Bedürfnisse haben sich verändert. Er ist also wesentlich schwieriger zu lenken als in den 30er Jahren. Dazu haben sich die Anforderungen an die Arbeiter verändert durch die moderne Technologie. Die modernen technologischen Systeme verstärken das subjektive Verantwortungsgefühl des Arbeiters. Dem gegenüber erweist sich das überkommene System der zentralen Leitung als ineffektiv und unfähig, das Verhalten höher entwickelter und wirtschaftlich freier Arbeiter zu regulieren. „Es ist nicht in der Lage, eine hinreichend effiziente Nutzung des physischen und intellektuellen Potentials der Arbeiter, ein hohes Niveau der Arbeits-, Produktions- und Plandisziplin, eine gute Arbeitsqualität, eine effiziente Nutzung der Technik ebenso wie eine positive Einstellung der Betriebsleiter, Buchhalter, der materiell-technischen Zulieferer u.a. zu gewährleisten.“ 382 Diese „Nowosibirsker Studie stellte der UdSSR ein vernichtendes Urteil aus. Die Soziologin Tatjana Saslawskaja beschrieb die Tatsache, dass das System der Parteiherrschaft über den Staat und die von Lenin und Stalin erzwungene zentrale Lenkung des Staates, insbesondere der Wirtschaft, den Anforderungen einer hochmodernen Technologie und der damit verbundenen gesellschaftlichen Diversifizierung nicht mehr gewachsen waren. Anstatt die ökonomischen Prozesse zu steuern, wie das in der Anfangszeit der verschärften Industrialisierung noch möglich gewesen war, erwiesen sich jetzt die Produktionsverhältnisse, das heißt das Leitungssystem selbst, als größtes Hindernis und Hemmschuh für die Fortentwicklung der Produktivkräfte. Die Bürokratie und die Partei, hieß das, behindern den Fortschritt. Das heißt aber, die Sowjetunion kam nicht nur an einem Umbau ihres gesamten ökonomischen Lenkungssystems nicht vorbei, das System insgesamt musste verändert werden. Sie fordert, vom administrativen auf ein ökonomisches Lenkungssystem umzustellen. Dann ist von den Interessen der Einzelnen auszugehen, deren Verhalten durch Stimuli zu motivieren. Manches müsse vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Am Schulsystem, das kränkelte, da die Lehrerinnen 381 382

Die Nowosibirsker Studie, S. A 7. Die Nowosibirsker Studie, S. A 9.

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zu den am schlechtesten bezahlten Berufen gehörten, machte Saslawskaja das fest, und an der Erscheinung, dass 14 Prozent der Arbeiter ein Ingenieurstudium abgeschlossen hatten, aber in ihrem alten Beruf verblieben, da sie sonst nur noch die Hälfte verdient hätten. Und sie fordert die Einrichtung eines neuen Wissenschaftszweiges, der Wirtschaftssoziologie. Ihr Forschungsgegenstand solle die Wechselwirkung zwischen der Wirtschafts- und der Sozialsphäre der Gesellschaft sein, zwischen den ökonomischen und sozialen Prozessen, darunter einer Darlegung der ökonomischen Bedingungen zur Durchsetzung sozialer Ziele, einer Analyse der sozialen Faktoren der Wirtschaftsentwicklung und der Prognose ihrer sozialen Ergebnisse. Deren wissenschaftliche Aufgaben beschreibt sie wie folgt: 1. Untersuchung der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, d.h. die Bestimmung der Gesellschaftsgruppen, die sich in ihrer wirtschaftlichen Lage, ihrer Stellung und ihrer Rolle in der Wirtschaftsentwicklung sowie in der Höhe und den Quellen ihrer Einkünfte wesentlich unterscheiden. Im Vergleich zur sozialen ist die ökonomische Struktur der Gesellschaft konkreter; sie erfasst die Gruppen nicht nur nach Klassenzugehörigkeit, sondern auch nach regionaler Zugehörigkeit, Branche, Beruf, Dienststellung, Einkommen u.a. Voraussetzung einer solchen Analyse ist die Erforschung des quantitativen ‚Volumens‘, der sozialökonomischen Situation sowie der Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen Beschäftigtengruppen. 2. Die Erforschung des gesellschaftlichen Bewusstseins der ökonomischen Gruppen – ihrer Wertvorstellungen, Bedürfnisse, Interessen, Handlungsmotivation. Eine soziale Typologie der Mitglieder der Gesellschaft nach Verhaltensformen und -motiven im ökonomischen Bereich. Die Klärung der wichtigsten Faktoren, die die verschiedenen Sozialtypen herausbilden, Möglichkeiten und Wege zur Lenkung dieses Prozesses. 3. Die Analyse der konkreten Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Wirtschaftsgruppen im Bereich der gesellschaftlichen Produktion, in persönlicher und häuslicher Wirtschaft, im Bildungsbereich, bei der Distribution und im Austausch. Die Klärung der Abhängigkeit von Verhaltensformen von den sozialen Eigenschaften der Subjekte (Arbeiter, Verbraucher usw.) einerseits und von den sozialökonomischen Bedingungen ihrer Tätigkeit, d.h. von den Besonderheiten des bestehenden Wirtschaftsmechanismus andererseits. 4. Die Untersuchung der Formen, Bedingungen und Resultate der Wechselbeziehungen zwischen den Leitungsorganen der Wirtschaft und den ökonomischen Gruppen. Die Analyse der Praxis staatlicher Wirtschaftsregulierung und des Gruppenverhaltens, ihrer Reaktionen auf staatliche Eingriffe, ihrer Verhaltensänderungen bei Wandlungen in der Wirtschafts- und Arbeitsgesetzgebung, in den ökonomischen Regulatoren usw. 5. Ausarbeitung und Begründung von Informationsformen zwischen den Interessen der ökonomischen Gruppen untereinander und den Interessen der Gesellschaft. Erarbeitung von Möglichkeiten einer vollständigeren und effizienteren Nutzung des Faktors Mensch in der Produktion in allen Bereichen und auf allen Ebenen des Wirtschaftssystems. Falls möglich, Experimente zur Erprobung progressiver Formen der sozialen und ökonomischen Beziehungen. 6. Ge-

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meinsam mit anderen Wissenschaftsdisziplinen (Politökonomie, Rechtswissenschaft, Sozialpsychologie, Kybernetik) die Erarbeitung, Begründung und praktische Erprobung eines Gesamt-‚Modells‘ des sozialen Mechanismus der Wirtschaftsentwicklung, das auf einem Wirtschaftsmechanismus mit effektiver Rückkoppelung basiert, sowie … eine Produktionsentwicklung und die Entstehung eines wirklich sozialistischen Arbeitertypus gewährleistet. 383 Zur Bewertung der Studie sei hier die Autorin selbst zitiert: „Im Rahmen des gemeinsamen kritischen Umdenkungsprozesses muss auch der Bericht, den ich 1983 in Nowosibirsk auf dem Seminar ‚Soziale Mechanismen der Wirtschaftsentwicklung‘ vorgelegt habe, als Beitrag zur Suche nach Auswegen aus der gegenwärtigen Lage angesehen werden. In diesem Bericht, der später auf mir unbekannten Wegen in den Westen gelangte und meinen Namen dort bekanntmachte, versuchte ich offen die wirtschaftlichen Prozesse in der Sowjetunion einzuschätzen, ihre sozialen Wurzeln freizulegen und ein konstruktives Aktionsprogramm vorzuschlagen. Dieses Seminar, das an die hundert interessanter und fortschrittlich denkender Wissenschaftler als Teilnehmer zählte, entwickelte sich zu einer richtiggehenden Sternstunde der Gedanken, die von uns selbst, angesichts der Tatsache, dass noch immer die Stagnationsperiode herrschte, fast wie ein Wunder aufgenommen wurde. Doch vielleicht zeigte dieses Seminar besser als alles andere, dass eine neue Ära vor der Tür stand.“ 384 Noch nie zuvor war das sowjetische Staatsmodell so radikal kritisiert worden wie von der Nowosibirsker Soziologin. Dass ihre Kritik mit Andropow abgestimmt war, zeigt sich in den darauf folgenden Maßnahmen. Denn es kam zu ersten strukturellen Veränderungen. „Über Widersprüche in der Entwicklung des Erziehungssystems“ hatte der stellvertretende Bildungsminister V. N. Jagodin schon im April 1982 geschrieben. 385 Analog zur Bestandsaufnahme der ökonomischen Situation durch Saslawskaja sah Jagodin die Ursache für die Krisenerscheinungen im Bildungswesen im Grundwiderspruch zwischen dem zurückgebliebenen und statischen Charakter des Bildungswesens und den dynamischen Bedürfnissen der wissenschaftlich-technischen und sozio-ökonomischen Entwicklung. 386 Der Bildungsminister wurde abgelöst, auf der ZK-Tagung vom 14. und 15. Juni 1983 eine Reform des Schulsystems beschlossen, im Dezember ging der erste Entwurf von Reformrichtlinien an das Politbüro. Er wurde nach Veröffentlichung in „Prawda“ und „Iswestija“ zur Diskussion freigegeben und mündete am 12. April 1984 in den Beschluss des Obersten Sowjet über „Die Hauptrichtungen der Reform der allgemeinbildenden Schule und der Berufsschule in der UdSSR“. Bis 1990 sollte die Umgestaltung abgeschlossen sein. Ab 1. September 1984 wurden die Lehrergehälter um 30-35 Prozent angehoben und stärker Die Nowosibirsker Studie, S. A 24f. Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 70f. 385 Jagodin, V.N., O protivorečiach v razvitii sistemy prosveščenija. In: Sovetskaja pedagogika 4, 1982, S. 52-58. 386 Anweiler, Oskar, Die sowjetische Schul- und Bildungsreform von 1984. In: Osteuropa 11/12, 1984, S. 842. 383 384

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differenziert. 387 Zwar vermied Andropow – noch – den Begriff der Reform und sprach, wie schon Saslawskaja, eher von der „Vervollkommnung der Produktionsverhältnisse“ und „der Verbesserung des Wirtschaftsmechanismus“, aber er startete den Modellversuch zur selbständigen Leitung der Betriebe. Ab 1. Januar 1984 sollten hunderte von Unternehmen in zwei Unions- und drei Republikministerien (Ukraine, Weißrussland und Litauen) ein Experiment starten, den rationellsten Weg zur intensiven Entwicklung zu finden. Dieser Modellversuch sollte nach seiner Auswertung über den 12. Fünfjahresplan 1986-1990 allgemein in die sowjetische Wirtschaft eingeführt werden. Drakonische Strafen drohten nun für mangelnde Disziplin am Arbeitsplatz. In der Tat konnte schon im ersten Halbjahr 1983 das sinkende Wirtschaftswachstum von 2,8 Prozent 1982 gestoppt und 4 Prozent, mehr als im Plan vorgesehen, erzielt werden, das für das gesamte Jahr 1983 schließlich 3 Prozent betrug. Auch die Landwirtschaft konnte eine gute Ernte einfahren. Gestützt auf diese Erfolge übernahm das Zentralkomitee am 27. Dezember die Aufgabe, ein „Programm zur komplexen Vervollkommnung des gesamten Leitungsmechanismus“ auszuarbeiten, nichts Geringeres als die völlige Reorganisation des gesamten Wirtschaftssystems. Das Ergebnis sollte auch in das neue Parteiprogramm aufgenommen werden. 388 Als Diskussionsforum wurde im April 1983 das neue Magazin „Probleme der Theorie und Praxis im Management“ (Problemy teorii i praktiki upravlenija) ins Leben gerufen. Für Andropow wie für Gorbatschow aufschlussreich ist die Rede zu Lenins Geburtstag am 22. April 1983, die Gorbatschow bei den Kreml-Feierlichkeiten halten durfte. Indem er sich auf Lenins „Neue ökonomische Politik“ (NEP) bezog, mit der Anfang der zwanziger Jahre nach dem verheerenden Kriegskommunismus wieder ein gewisses Maß an Privatunternehmertum eingeführt worden war, sagte Gorbatschow: „Unsere verlässliche Unterstützung ist hier wie immer Lenins Erbe, seine Lehre vom demokratischen Zentralismus…Lenin verteidigte hartnäckig den Zentralismus als den Ausgangspunkt in der Organisation der Wirtschaft im Sozialismus, die eine uniforme Einheit bildete. Gleichzeitig rief er dazu auf, der Kreativität und Initiative an der Basis freien Lauf zu lassen. Unsere Hauptaufgabe (so Lenin) liegt darin, überall im Lande den Anstoß zu geben, eine maximale Initiative zu mobilisieren und eine maximale Unabhängigkeit zu zeigen.“ 389 In der Tat ist aufschlussreich, dass man in seiner Rede Hinweise auf seine späteren Handlungen findet. So heißt es z.B. „Die lebensspendende Kraft der revolutionären Theorie liegt in ihrer Wahrheit, ihrem schöpferischen Wesen, ihrer Fähigkeit, sich unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Praxis weiterzuentwickeln. Lenin selbst hat immer wieder betont, dass der Marxismus kein Dogma ist, sondern Anleitung zum Handeln. Genauso ist der Leninismus keine Sammlung starrer Dogmen und fertiger Rezepte, sondern Theorie und Methode des dialektischen Geierhos, Wolfgang, Bildungsreformen in der Sowjetunion und der DDR. (Universität Lüneburg, Institut für Hochschulforschung) Juli 1989, 64 S. Masch.geschr. Manuskript. 388 v. Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 594. 389 Doder, Machtkampf im Kreml, S. 224, Anm. 17. 387

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Denkens und der dialektischen Analyse, der revolutionären Umgestaltung der Wirklichkeit.“ 390 Gorbatschow stützt sich bei seiner Rede vor allem auf die letzten Artikel und Briefe Lenins, „die sein politisches Vermächtnis bilden“. Das heißt explizit: nicht auf Stalin! Das klingt auch so: „Lenin warnte davor, bei der Lösung wirtschaftlicher und sozialer Aufgaben übereilt zu handeln, forderte dazu auf, sich eingehend mit dem Wesen der Prozesse zu befassen, die in der Wirtschaft ablaufen, alle Vor- und Nachteile zu ergründen und auf dieser Grundlage tatkräftig und bestimmt zu handeln.“ 391 Hier werden die Fehler Chruschtschows berücksichtigt. Auch spricht er schon die Einbeziehung der unteren Ebenen in Entscheidungsprozesse an: „Das betrifft insbesondere so eine Leitungsfrage wie die Festlegung einer optimalen Verbindung der zentralen Planung mit der wirtschaftlichen Eigenverantwortlichkeit der Betriebe, der örtlichen Organe, ihrer Initiative und ihrer Aktivität mit der ökonomischen Verantwortung gegenüber der Gesellschaft… Lenin hat mit der ihm eigenen wissenschaftlichen Überzeugungskraft und politischen Leidenschaft den Zentralismus konsequent als Ausgangspunkt bei der Organisierung der Wirtschaft im Sozialismus, die ein einheitliches Ganzes darstellt, verteidigt. Und zugleich hat er dazu aufgerufen, der Schöpferkraft und der Initiative an der Basis Raum zu geben. ...‘unsere Hauptaufgabe besteht darin‘, sagte Lenin, ‚überall im Lande draußen einen Anstoß zu geben, ein Maximum an Initiative aufzubringen und maximale Selbständigkeit sowie maximale Kühnheit an den Tag zu legen…‘“ 392 In einem „vertraulichen Gespräch“ am 19. Dezember 1991 ging Gorbatschow noch einmal auf diese Rede ein: „Es wurde eine Gruppe gebildet, die mir bei der Materialaufarbeitung half, dann berieten wir die Konzeption. An einem bestimmten Punkt habe ich alle gebremst. Das, was da alles vorgeschlagen wurde, lag mir nicht. Schon damals gingen mir andere Ideen im Kopf herum, schon damals. Meine Denkweise passte nicht in die traditionellen Vorstellungen.“ 393 Er stützte sich dann auf die letzten Arbeiten Lenins, denn für ihn „war es der Moment der Wahrheit“. Gorbatschow schreibt: „Und es gibt noch etwas, was ihn behinderte: Er legte den Schwerpunkt auf die revolutionären Methoden und nicht auf die evolutionären, er wollte zu Fall bringen, aber nicht reformieren. Reformen können jedoch äußerst radikal sein, sie können tiefer gehen als ein Umsturz, der wenig geplant ist und deshalb wenig bringt. Gründlich durchdachte Reformen geben der Umgestaltung einen mächtigen Impuls. Nicht umsonst waren Reformer immer in einer komplizierten Situation.“ 394 Es folgt ein sehr aufschlussreicher Gedanke: „Mag sein, dass in jener schwierigen Zeit die Wahlmöglichkeiten nicht sehr groß Gorbatschow, Michail, Der Leninismus – eine lebendige, schöpferische Lehre, eine zuverlässige Anleitung zum Handeln. Rede auf der Festsitzung in Moskau anlässlich des 113. Geburtstages von W. I. Lenin. 22. April 1983. In: Gorbatschow, Michail, Ausgewählte Reden und Aufsätze. Band 1, Berlin 1987, S. 414. 391 Gorbatschow, Der Leninismus, S. 416. 392 Gorbatschow, Der Leninismus, S. 423. 393 Gorbatschow, Der Zerfall der Sowjetunion, S. 202. 394 Gorbatschow, Der Zerfall der Sowjetunion, S. 202. 390

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waren, doch es gab sie. Deshalb meine ich, dass in Lenins Lehren, Ansichten und in seiner Position ein gewaltiger Widerspruch liegt. Dass er als großer Denker die Realität nicht erkannt hat, ist unmöglich. Er hat sie gesehen, und er hat sie analysiert. Aber er war Gefangener einer bestimmten Ideologie, und er besaß nicht die Freiheit, Mittel vorzuschlagen um mit der Situation fertig zu werden. Ich denke, so spannt er den Bogen zum Jahr 1983,- ich befand mich in ähnlichen Schwierigkeiten, und musste zu der tiefen Überzeugung kommen, zu einer ähnlichen Bestandsaufnahme, wie sie Lenin am Ende seines Lebens machte. Alles, was darauf folgte – dieses voluntaristische utopische Modell Stalins, geriet, von eiserner Hand aufgezwungen, zum ‚Prokrustesbett‘. Das Land erstickte, seine Kraft wurde niedergedrückt, seine intellektuellen und schöpferischen Möglichkeiten zunichte gemacht. Lenin begriff am Ende seines Lebens diese Gefahr. Liest man seine letzten Arbeiten, erkennt man: Er hat gefühlt, dass die Sache bedroht war, der er sein Leben geweiht hatte, dass er gewaltige strategische Fehler zugelassen hatte.“ 395 Der auf das Frühjahr 1986 festgelegte XXVII. Parteitag sollte durch ein neues Parteiprogramm und ein neues Parteistatut diese Veränderungen auch verbindlich für die Partei beschließen. Auch auf ideologischem Gebiet kam es zu Korrekturen. Erstmals seit 20 Jahren tauchte der Name Chruschtschows in gedruckter Form wieder auf, und das in einem positiven Kontext, nämlich dem Kampf um Stalingrad. Die Notwendigkeit von Reformen leitete Andropow aus der realen Lage ab und nicht aus der ideologischen Definition der Gesellschaftsformation. Indem er sagte, „Wir müssen jetzt das wiedergutmachen, was wir versäumt haben“, kritisierte er indirekt seinen Vorgänger Breschnew und verschaffte sich theoretisch dadurch Freiraum zum Handeln, indem er die aktuelle Periode nicht als „Phase des entwickelten Sozialismus“ titulierte, wie das Breschnew getan hatte, sondern zurückruderte und befand, das Land unternehme vielmehr die ersten Schritte auf der „langen Straße zum entwickelten Sozialismus“. Interessant sind Gorbatschows „Erinnerungen“ an seinen Vorgänger: „Wenn man versucht, Andropows Amtszeit zu charakterisieren, muss man zwei Ebenen unterscheiden, zum einen den Realpolitiker Andropow, zum Anderen das ‚Phänomen Andropow‘. Ohne diese Abgrenzung dürfte es kaum gelingen, Klarheit zu schaffen und Übertreibungen oder Entstellungen zu vermeiden. Unter dem ‚Phänomen Andropow‘ verstehe ich jene allgemeine Atmosphäre, die uns nach Breschnews Tod ergriff, ein Gefühl der Erwartung, dass mit dem neuen Parteiführer Veränderungen zum Besseren einsetzen würden. Andropow hat diese Hoffnungen nicht enttäuscht, vor allem nicht als Mensch. Er war eine große markante Persönlichkeit, ein politisches Naturtalent, ein Intellektueller. Entschieden trat er gegen die negativen Erscheinungen der Stagnationsperiode auf: gegen Protektionismus und Intrigen, gegen Korruption und moralische Degradierung, gegen Bürokratismus, Misswirtschaft und Schlamperei. All das entsprach den Erwartungen der Bevölkerung.“ 396 395 396

Gorbatschow, Der Zerfall der Sowjetunion, S. 203. Gorbatschow, Michail, Erinnerungen. Berlin 1995, S. 239.

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So findet auch Saslawskaja ein positives Urteil über die kurze Amtszeit von Breschnews Nachfolger und attestiert ihm den ersten Versuch in Richtung eines entscheidenden Kurswechsels. Immerhin habe er Hoffnungen auf die ersehnten Veränderungen geweckt, und man habe in der stickigen Atmosphäre einen frischen Wind gespürt. 397 Auch Gorbatschow kommt zu einem ähnlichen Ergebnis und attestiert Andropows Ansätzen nur einen einmaligen und eher demonstrativen Charakter. „Die Atmosphäre der Stagnation hatte sich zu jener Zeit so verdichtet, dass seine Maßnahmen nur die Wirkung eines frischen Lüftchens hatten. Die Widersprüche, die sich während der Jahre unter Breschnew angehäuft hatten, waren so tief, dass man sie mit Einzelmaßnahmen nicht aus dem Weg räumen konnte.“ 398 Das heißt, die Notwendigkeit tiefgreifender Reformen des Systems wurde immer größer. Umso gravierender mussten retardierende Maßnahmen wirken. Das wurde schnell deutlich. Denn als Andropow nach nur fünfzehnmonatiger Funktion als Generalsekretär am 9. Februar 1984 starb, setzte sein Nachfolger Konstantin Ustinowitsch Tschernenko die Andropowschen Ansätze nicht fort, sondern bremste sie aus. So veröffentlichte die Dezemberausgabe 1984 der Parteizeitschrift „Kommunist“ einen Artikel Tschernenkos, in dem er darauf beharrte, dass jede Veränderung in der Wirtschaft den Gesetzen des Sozialismus folgen müsse. „Im Prozess der Veränderung“, schrieb er, „wird die Rolle der Partei nicht nur nicht abnehmen, sondern sie wird zunehmen“. 399 Auch verschwand der Name Chruschtschows wieder in der Versenkung, der Tod von Chruschtschows Witwe wurde unter ihrem Mädchennamen bekannt gegeben. Dagegen erlebte Stalins Name neuen Glanz. Die schon vorbereitete Rückbenennung Wolgograds in Stalingrad wurde nur durch den frühen Tod Tschernenkos nicht in die Tat umgesetzt. Jakowlew, damals Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen (IMEMO), beschreibt diese kurze Zeit als eine sehr gefährliche Zeit. Über das Land brach eine neue Welle von Verfolgungen herein. Überall gab es plötzlich ‚Affären‘. Eine davon betraf vierundzwanzig Moskauer, alles Mitglieder von Forschungseinrichtungen. Doch glücklicherweise kam es nicht mehr zu den üblichen Konsequenzen, dank der Veränderungen an der Spitze der KPdSU im März 1985. Die herrschende Clique um Tschernenko hatte nicht mehr die Zeit, dem Land eine neue bleierne Glocke überzustülpen. 400 Wie bedrohlich die Lage war, wird aus seiner Interpretation dieser kurzen Periode deutlich: „Der latente Neostalinismus, der 1984 als drohende Gefahr über der Gesellschaft schwebte, war die logische Folge der Politik der alten Partei- und Staatsführung. In dem Maße, wie sie die Stimme der Demokratie zum Schweigen brachte, musste sie zwangsläufig auf die alten Einschüchterungsmethoden zurückgreifen. Die sich be-

Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 71f. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 270. 399 Doder, Machtkampf im Kreml, S. 310. 400 Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 24. 397 398

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reits abzeichnende Verfolgungswelle hätte die Ära Breschnews vielleicht vergleichsweise liberal erscheinen lassen. Die Gesellschaft war wirklich bedroht, und jeder Opponent oder Dissident musste sich auf Verhaftung oder Deportation gefasst machen. Die damaligen Führer waren zu dem Schluss gekommen, dass Breschnews System der Dissidentenverfolgung unwirksam war, infolgedessen mussten sie sich ein strengeres ausdenken. Nach ihrer Meinung waren die von Breschnew zum Verlassen des Landes gezwungenen Intellektuellen im Ausland letztlich gefährlicher als zu Hause.“ 401 Jakowlew geht aber auch gegenüber Andropow auf Distanz, den er als den Hauptorganisator der Unterdrückung der Dissidenten im Jahr 1983 ansah. Deshalb weigerte er sich, in ihm „den Großvater der Perestrojka“ zu sehen. 402 Dass hier zwei Richtungen miteinander kämpften, wurde deutlich, als fast zur gleichen Zeit mit dem Erscheinen von Tschernenkos Artikel Michail Gorbatschow als Hauptredner auf der All-Unions-Konferenz vom 10. Dezember über ideologische Fragen sprach, die „Prawda“ und andere Zeitungen aber nur Auszüge aus Gorbatschows Rede druckten, die den Eindruck erweckten, er sei mit Tschernenko einer Meinung. Als eine Woche später die Rede separat veröffentlicht wurde, kam Gorbatschows wahre Position zum Vorschein. Er behauptete, dass die wirtschaftliche Talfahrt in den siebziger und Anfang der achtziger Jahre begonnen habe und dass sie „nicht nur durch ein Zusammentreffen einiger unglücklicher Faktoren, sondern auch durch die Tatsache, dass notwendige Veränderungen in einigen Produktionsbereichen nicht rechtzeitig entdeckt wurden“, verursacht worden sei. Der ungekürzte Text zeigte, schreibt Doder, dass Gorbatschow sehr wohl der Erbe Andropows war. Er beschrieb den Zustand der sowjetischen Wirtschaft als „dramatisch“ und sprach von der Notwendigkeit, „solche wirtschaftlichen Druckmittel wie Preise, Kosten, Profit, Kredit und andere“ einzusetzen. Er beschwerte sich über den Konservatismus des Landes, die Trägheit und über die Versuche ungenannter Verfechter der kommunistischen Orthodoxie, „neue Wunder in das Prokrustesbett im Sterben liegender Vorstellungen zu zwängen.“ (Das Wort „Prokrustesbett“ war das Lieblingswort von Georgij Plechanow, dem „Vater des russischen Marxismus“ und späteren Menschewik. – W.G.).Was das Land in dieser Phase brauche, sagte er, seien „tiefgreifende Veränderungen in der Wirtschaft und der gesamten Gesellschaft.“ Nur so könne der Lebensstandard erhöht werden, „die einzige Möglichkeit für den Sozialismus, eine neue Ebene der Reife zu erreichen.“ 403

Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 25. Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 80. 403 Doder, Machtkampf im Kreml, S. 311; Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum des Volkes. Rede auf der wissenschaftlich-praktischen Allunionskonferenz „Die Vervollkommnung des entwickelten Sozialismus und die ideologische Arbeit der Partei im Lichte der Beschlüsse des Juni-Plenums (1983) des ZK der KPdSU“. 10. Dezember 1984. In: Gorbatschow, Michail, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 2. Berlin 1987, S. 83-120. 401 402

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Gorbatschows Rede vom 10. Dezember 1984 ist ein weiteres Schlüsseldokument der Perestrojka, deshalb sei hier detaillierter darauf eingegangen. Gorbatschow kritisiert die Breschnew-Zeit, wenn er sagt: „Unser Zeitgenosse ist ein Mensch mit hoher Kultur und Bildung, mit weitgespannten geistigen Interessen, der viel gesehen und erlebt hat. Hinter den heutigen Generationen liegen die Oktoberrevolution, die Industrialisierung und Kollektivierung, der Große vaterländische Krieg, die nicht einfachen Nachkriegsjahrzehnte. Ein Mensch, der in einer Gesellschaft mit so großer sozialer Erfahrung lebt und arbeitet, nimmt keine simplen Antworten auf Fragen hin, er hat ein feines Gespür für falsche Töne, die aus der Unfähigkeit oder der Furcht entstehen, die reale Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung, die Wurzeln der Probleme, die ihm Sorge bereiten und ihn beunruhigen, aufzudecken. Wir sind verpflichtet, mit ihm nur in der Sprache der Wahrheit zu sprechen, und müssen dabei gleichermaßen vermeiden, uns an Erfolgen zu berauschen und Versäumnisse zu verkleistern als auch uns an den Mängeln zu weiden.“ 404 Und er kritisiert weiter, greift an, indem er die Thesen der Nowosibirsker Studie aufnimmt. Die Gesellschaftswissenschaften gingen zu langsam und zu zaghaft an die Lösung der theoretischen Schlüsselprobleme unserer Entwicklung heran. Von den Gesellschaftswissenschaften werden realistische und zugleich mobilisierende Schlussfolgerungen hinsichtlich des Inhalts, der Wege und Methoden zur Durchführung der großen Umgestaltung in der Wirtschaft, in der sozialpolitischen und geistigen Sphäre erwartet. Einer tiefgründigeren Untersuchung bedürfen auch viele Prozesse der internationalen Entwicklung, die Erfahrungen der sozialistischen Gemeinschaft, der internationalen kommunistischen und Arbeiterbewegung, des nationalen Befreiungskampfes der Völker. Vor verantwortungsvollen Aufgaben stehe die ökonomische Wissenschaft…In den letzten Jahren seien nicht wenig nützliche Arbeiten entstanden. Indessen habe die ökonomische Wissenschaft noch keine umfassende Konzeption von den Wegen des Übergangs zu einer dynamischen, hocheffektiven Wirtschaft, zur Schaffung eines vollkommenen Wirtschaftsmechanismus geliefert. Nicht alle Forschungsorganisationen arbeiteten in enger Verbindung mit der Praxis. Einige Wissenschaftler könnten sich mitunter nicht von veralteten Vorstellungen und Stereotypen trennen. Ihre theoretischen Forschungen würden nicht selten vorgefassten Schemata angepasst, bewegten sich im Kreise scholastischer Betrachtungen. 405 Und nun kommt er zum Kern der Systemkritik: „Wenden wir uns einem solchen grundlegenden und aktuellen Problem zu wie den Wechselbeziehungen zwischen den modernen Produktivkräften und den sozialistischen Produktionsverhältnissen. Bei seiner Behandlung sind dogmatische Vorstellungen, die unserer Theorie und Praxis oftmals einen schlechten Dienst erweisen, bei weitem noch nicht vollständig überwunden. Woran liegt das? Liegt es nicht daran, dass die Ana404 405

Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum, S. 87. Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum, S. 88.

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lyse der Produktionsverhältnisse oftmals losgelöst vom realen Stand der Produktivkräfte, von der praktischen Arbeit der Menschen erfolgt? Im Ergebnis entsteht ein spekulatives, erstarrtes Bild von den Produktionsverhältnissen als einer unveränderlichen Größe, das weit von der Wirklichkeit entfernt ist. Die gegenwärtige Entwicklungsetappe der sowjetischen Gesellschaft wird durch tiefgreifende Veränderungen im gesamten System der sozialistischen Produktionsverhältnisse auf der Grundlage qualitativer Veränderungen in den Produktivkräften, durch die sich vertiefende Wechselwirkung und gegenseitige Durchdringung wissenschaftlich-technischer, sozialpolitischer und geistig-ideologischer Faktoren charakterisiert. Das macht es erforderlich, die Produktionsverhältnisse in untrennbarer Einheit mit den Organisationsformen der Arbeit und der Produktion, mit der Leitung und Planung, dem Stimulierungssystem, im allgemeinen sozialen Kontext der Lebenstätigkeit der Menschen zu sehen. Bei einer solchen Betrachtungsweise wird man die vereinfachte Auslegung der bekannten These von der Übereinstimmung von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften im Sozialismus überwinden, der zufolge diese Übereinstimmung fast automatisch die Entwicklung der Produktivkräfte garantiert. Diese Auffassung ist unannehmbar, da das Problem der Vervollkommnung der Produktionsverhältnisse in diesem Fall entweder gänzlich entfällt oder in den Hintergrund gedrängt wird.“ 406 Man erkennt die Diktion von Saslawskaja. Produktionsverhältnisse heißt hier: die ganze Leitung des Staates, der Partei, der Bürokratie, des Leitungssystems. Damit ist er am Ziel seiner Forderungen: „Indessen wird die Übereinstimmung zwischen Produktionsverhältnissen und Produktivkräften nicht von selbst reproduziert, sondern erfordert ständige zielstrebige Arbeit zur Vervollkommnung des gesamten ökonomischen Systems des Sozialismus. Das gilt es besonders in Perioden tiefgreifender qualitativer Veränderungen in der Entwicklung der Volkswirtschaft zu berücksichtigen. Es scheint, dass die Verlangsamung des Wirtschaftswachstums in den letzten Jahren nicht nur durch das Zusammentreffen einer Reihe ungünstiger Faktoren zu erklären ist, sondern auch dadurch, dass die Notwendigkeit, einige Seiten der Produktionsverhältnisse zu verändern, nicht rechtzeitig erkannt wurde. Das Leben lehrt uns, mit größter Verantwortung die objektive Dialektik der Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse als wichtigste Quelle für die Beschleunigung der ökonomischen und sozialen Entwicklung der Gesellschaft zu betrachten. Das verpflichtet uns, hier entstehende Widersprüche rechtzeitig zu erkennen und zu lösen. Im Sozialismus sind sie natürlich nicht antagonistisch. Aber bei stagnierender Bewahrung veralteter Elemente der Produktionsverhältnisse kann eine Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Situation eintreten. Leider gelingt es nicht immer, heranreifende Widersprüche rechtzeitig zu erkennen und zu überwinden. Häufig wird das behindert durch Trägheit und konservatives Denken, durch das mangelnde Können oder Wollen, eingefah406

Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum, S. 89

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rene Arbeitsformen zu ändern und zu neuen, alles Fortschrittliche fördernden Methoden überzugehen, was den Anforderungen sowohl des heutigen als auch des morgigen Tages entspricht.“ 407 Weiter spricht er von „der Vervollkommnung der Formen des sozialistischen Eigentums, um eine immer organischere Verbindung des unmittelbaren Produzenten mit den gesellschaftlichen Produktionsmitteln herzustellen, das Gefühl des Produzenten, kollektiver Besitzer des gesamten gesellschaftlichen Eigentums zu sein, zu stärken, das System der Interessen bei dominierender Rolle des gesamtgesellschaftlichen Interesses zu aktivieren und zu optimieren“, was nichts anderes heißt, als die Verfügung über Eigentum nach unten zu verlagern und hier das Interesse des Einzelnen zu fördern. Neue Ideen finden sich auch in den Ware-Geld-Beziehungen. „Aber es kommt auch vor“, sagt er, „dass die Steigerung des Entwicklungstempos der Wirtschaft und die Zunahme ihrer Effektivität nur in Abhängigkeit von der Entwicklung der Ware-Geld-Beziehungen gesehen wird. Was kann man dazu sagen? Ja, die WareGeld-Beziehungen gehören zum Sozialismus. Ihr Instrumentarium wird in der sozialistischen Wirtschaft breit angewendet. Und es ist wichtig, dass wir lernen, dieses Instrumentarium noch besser zu nutzen, ohne natürlich zu vergessen, dass sich seine Natur und Bestimmung im Sozialismus ändern. Dazu sind ernsthafte wissenschaftliche Empfehlungen für die Anwendung solcher ökonomischer Hebel unter den heutigen Bedingungen wie Preis, Selbstkosten, Gewinn, Kredit und einige andere notwendig.“ Das sind die Ideen Libermans aus der Chruschtschow-Zeit. Wie Andropow vermeidet er das Wort „Reformen“, sondern spricht von „Vervollkommnung des Sozialismus“, und jetzt kommt er auf die Ebene der politischen Organisation: „Wenden wir uns Fragen der Entwicklung des politischen Systems unserer Gesellschaft zu. Gut bekannt ist beispielsweise der tiefe Gedanke der Begründer des Marxismus-Leninismus von der Selbstverwaltung. Marx, Engels und Lenin sahen den Übergang zur Selbstverwaltung der Werktätigen als praktische Aufgabe des Proletariats von dem Augenblick an, da es zur Macht gelangt. Den Hauptinhalt dieser Idee verstanden sie als Gewährleistung der realen, praktischen Teilnahme einer immer größeren Masse Werktätiger an der Leitung – an der Ausarbeitung, Erörterung, Annahme und Ausführung sozialökonomischer Beschlüsse. Lenin hat die sowjetische Staatsmacht nie der Selbstverwaltung des Volkes entgegengestellt. Er schätzte die Sowjets sehr hoch, weil sie beide Eigenschaften in sich vereinen, weil sie Organe der Macht der Arbeiter und Bauern sind und ihre Vereinigung, ihren Zusammenschluss und ihre Selbstverwaltung garantieren.“ Das zielt auf eine direkte Stärkung der Selbstverwaltung, das heißt auf eine Verlagerung der Macht nach unten an die Basis. Schon Andropow hatte auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 22. November 1982 dieses Thema angesprochen: „Das bedeutet aber, dass eine Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie im umfassendsten Sinne dieses Wortes, das heißt eine immer aktivere Beteiligung der werktätigen Massen an der Leitung der Angelegenheiten von Staat und Gesellschaft, notwendig 407

Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum des Volkes, S. 89f.

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ist. Es bedarf selbstverständlich keiner Beweisführung, wie wichtig es ist, sich um die Bedürfnisse der Werktätigen und deren Arbeits- und Lebensbedingungen zu kümmern.“ 408 Das wird bei Gorbatschow noch deutlicher: „Indessen gibt es in den Gesellschaftswissenschaften noch mangelhafte, bisweilen auch einseitige Auslegungen der Selbstverwaltung. Die einen betrachten die Selbstverwaltung nur im Zusammenhang mit der Tätigkeit einzelner Zellen der sozialistischen Gesellschaft (betrieblicher und territorialer); bei anderen wird sie der staatlichen Leitung gegenübergestellt; die dritten vertagen die praktische Verwirklichung der Prinzipien der Selbstverwaltung bis zum Übergang zur höheren Phase des Kommunismus. Es muss nicht besonders betont werden, dass wir jetzt, da eine große Arbeit zur Erhöhung der Rolle und Autorität der Sowjets, zur Vervollkommnung unseres politischen Systems, aller Formen und Mittel der Einbeziehung der Massen in die staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten geleistet wird, eine ernsthafte Arbeit an den theoretischen Problemen der Entwicklung der sozialistischen Selbstverwaltung des Volkes besonders brauchen. Solche Forschungen werden der Partei helfen, die praktischen Aufgaben, um die es auf diesem Wege geht, besser zu lösen.“ 409 Was er damit meint, erklärt er in Verbindung mit dem Begriff des „demokratischen Zentralismus“, der bisher die Herrschaft der KPdSU legitimiert hat: „Sehr aktuell ist auch die weitere Erforschung eines, wie man meinen könnte, traditionellen Problems wie das Prinzip des demokratischen Zentralismus unter den gegenwärtigen Bedingungen. Die Partei trat und tritt für die zusammenhängende Entwicklung beider Bestandteile des demokratischen Zentralismus im wirtschaftlichen und im politischen Leben des Landes, für ihre optimale Verbindung ein. Das trifft vor allem auf die Erweiterung und Vertiefung der sozialistischen Demokratie zu: Je größer, vollständiger und intensiver die Teilnahme der Massen an der Leitung ist, umso sicherer sind unsere Errungenschaften, umso dynamischer ist unsere Entwicklung.“ Und er ergänzt: „Was den Zentralismus betrifft, so sind wir ebenfalls für seine Weiterentwicklung, worunter wir die Erhöhung der wissenschaftlichen Motiviertheit und der Effektivität der zentralisierten Leitung verstehen. Das ist absolut nicht gleichbedeutend mit kleinlicher Bevormundung und dem Bestreben, alles und jedes vom Zentrum aus zu reglementieren, sondern es ist das Gegenteil davon. Eine qualifizierte Leitung schränkt nicht nur den Spielraum für die Initiative der Menschen, der Arbeitskollektive und der örtlichen Organe nicht ein, sondern vergrößert ihn im Gegenteil.“ 410 Hier wird bereits die Umstrukturierung des Staates und der Rolle der Partei vorweggenommen, die Gorbatschow nach seinem Amtsantritt anging. Die Staatliche Plankommission sollte sich auf die strategische Planung der Volkswirtschaft beschränken. Ein Paradigmenwechsel bedeutet auch der Hinweis Andropow, Ausgewählte Reden und Schriften, S. 246. Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum des Volkes, S. 91f. 410 Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum des Volkes, S. 92f. 408 409

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auf die Berücksichtigung objektiv bedingter Interessen verschiedener sozialer Gruppen, wie sie Saslawskaja herausgearbeitet hat. Zum Schluss seiner Rede bringt er ein Leninzitat, das einen doppelten Sinn hat, denn es gilt auch für die vor ihm liegenden Aufgaben: „Gestatten Sie, Genossen, zum Abschluss Zeilen aus dem ursprünglichen Entwurf des Artikels ‚Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht‘ zu zitieren. Indem uns schon fernen Jahr 1918 diktierte Lenin: ‚…gerade in Erfüllung unserer revolutionären Aufgaben, gerade damit diese Aufgaben keine Utopie und kein frommer Wunsch bleiben, sondern tatsächlich zur Realität werden,…gerade um dieses Zieles willen müssen wir jetzt die praktische Arbeit und die Sachlichkeit der organisatorischen Arbeit zu unserer ersten, aktuellen und wichtigsten Aufgabe machen. Es kommt jetzt gerade darauf an, von allen Seiten an die praktische Errichtung jenes Gebäudes heranzugehen, dessen Plan wir bereits längst entworfen haben, für das wir den Boden energisch genug erkämpft und gründlich genug gesichert haben, für das wir in genügender Menge Material zusammengetragen haben und das wir jetzt mit einem Gerüst umgeben, um, die Arbeitsbluse angetan und ohne Angst, unsere Bluse mit allen möglichen Hilfsmaterialien zu beschmutzen, in strenger Befolgung der Anweisungen… an diesem Gebäude zu bauen, zu bauen und abermals zu bauen.‘“ 411 Damit ist aber deutlich geworden, dass Ansätze der Systemveränderung bereits von Andropow angestoßen wurden, basierend auf den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschungen der Sibirischen Akademie der Wissenschaften. Deren Kernsatz war die Feststellung von Widersprüchen zwischen den sich dynamisch entwickelten Produktivkräften, d.h. der Produktion selbst, der Technologie, aber auch der Wissenschaft und den Interessen der Arbeiter auf der einen Seite und auf der anderen Seite dem in den 30er Jahren zugrunde gelegten gesamtstaatlichen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft, ja aller gesellschaftlichen Einrichtungen. Saslawskaja sprach von „einer Zersetzung des Sozialismus, die im Grunde genommen einer gewissen Restalinisierung der Gesellschaft gleichkam“. 412Die Forderung lief deshalb auf eine Veränderung des Gesamtsystems der Staatsorganisation der Sowjetunion hinaus. An die Stelle der zentralen Planung sollte die Dynamik des neuen Systems von unten kommen, von den Interessen und dem ökonomischen und politischen Entscheidungswillen der Werktätigen, d.h. der Bürger. In den Begriffen „Vervollkommnung“, „Reform“, „Leninsches Verständnis vom demokratischen Zentralismus“, „Sozialistischer Demokratie“, „richtiger Weg in Richtung Sozialismus“ erkennt man, wie kompliziert es für die Beteiligten war, unter den Bedingungen der in der Verfassung festgeschriebenen Herrschaft der KPdSU über den Gesamtstaat und den damit verbundenen Parteitagsbeschlüssen überhaupt Reformen anzugehen, geschweige denn eine Systemveränderung. Dennoch war diese für das Überleben des Staates unabdingbar. Wie im Wort „Prokrustesbett“ greift er auch mit der Vorstellung der „Selbstregierung durch das Volk“ auf die Diktion der frühen russischen Sozialdemokraten 411 412

Gorbatschow, Das lebendige Schöpfertum des Volkes, S. 119. Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 71.

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zurück, die in Genf die Zeitschrift „Samouprawlenie“ (Selbstverwaltung) herausgegeben hatten. Bei dieser Rede stoßen wir auf die Kernfrage der Beurteilung von Gorbatschow als Staatsmann. Gorbatschow hat nach dem Verlust seiner Position als Staatspräsident der UdSSR selbst erklärt, die Perestrojka habe sich genau so entwickelt, wie er das gewollte habe, abgesehen von der Auflösung der Sowjetunion. Malia kommentiert, sein Ziel sei es also von Anfang an gewesen, den „Totalitarismus“ durch „Demokratie“ zu ersetzen und Osteuropa zu „befreien“. Und es habe sowohl im Osten wie im Westen viele Beobachter gegeben, die bereit waren, diese Entwicklung als seine persönliche Leistung anzuerkennen: „Das muss jedoch a priori bezweifelt werden, schreibt er, denn es würde bedeuten, dass er gegen die Partei und den Staat, die ihm anvertraut waren, im geheimen konspiriert hätte. Auch passt es nicht zu den wenigen empirischen Daten, die wir haben.“ 413 Andererseits beruft Malia sich auch auf die Rede Gorbatschows vom Dezember 1984 und konzediert dem Redner weitgehende Reformabsichten. Stichwörter sind „gewählte Sowjets oder Räte“, „Öffentlichkeit“ (glasnost), „Autorität des Gesetzes“, zuletzt „Sozialistische Selbstverwaltung durch das Volk“. Dagegen argumentiert er, auch wenn dieses „Restrukturierungsprogramm“ ungefähr der Tagesordnung der späteren Perestrojka entspreche, so sei das nicht mehr als die Wiederaufnahme gängiger reformistischer Themen, wie sie von den „Schatten-Dissidenten“, den „Kindern des XX. Parteitages“ oder den „Galileis des Zentralkomitees“, d. h. der Mitarbeiter Andropows und Gorbatschows, erhoben worden seien. Dazu zählt er auch das „Nowosibirsker Memorandum“. Im Ergebnis sieht er diese Äußerungen mehr als Ausdruck einer Seite von Gorbatschows Denken, als Hinweis auf seine kühneren Hoffnungen, und nicht als ein konkretes Reformprogramm. Das sei unter pragmatischen Gesichtspunkten und ad hoc entstanden. 414 Die ersten Erfolge stellten sich ein, auch wenn die Staatliche Plankommission (GOSPLAN) gegenüber dem Schwinden ihres Einflusses massiven Widerstand leistete. Als auch Tschernenko am 10. März 1985 starb, war immerhin die Tür zu umfassenden Reformen aufgestoßen und die Stagnation der Breschnew-Zeit zwar nicht ganz überwunden, aber empfindlich aufgebrochen worden. Alle Erwartungen galten nun dem neuen Generalsekretär Michail Sergejewitsch Gorbatschow.

2.2 Gorbatschows Mannschaft Nun ging es nicht mehr darum, ob Reformen notwendig wären, sondern wie schnell sie beschlossen und wie tiefgreifend sie ausfallen würden. Selbst vielen reformfreudigen Zeitgenossen war nicht klar, wie weit Gorbatschow und seine Mannschaft über die bisherigen Reformansätze seiner Vorgänger hinausgehen würden. Von der Frage aber, ob Gorbatschow eine Vision hatte und welche, hängt die Beurteilung ab, ob er Erfolg hatte oder gescheitert war. Manche Weggefährten 413 414

Malia, Vollstreckter Wahn, S. 464. Malia, Vollstreckter Wahn, S. 464f.

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Gorbatschows haben aber ihre eigenen Positionen verändert und kritisieren den Generalsekretär im Nachhinein, wie der von Gorbatschow eingesetzte Rektor der Moskauer Hochschule für Geschichte und Archivwesen, Jurij Afanasjew, der schreibt, nichts berechtige uns also, den Mythos zu unterstützen, Gorbatschow habe die Perestrojka in Gang gesetzt, weil er den Zustand der UdSSR bestens kannte, und dass eine ernsthafte Analyse der Bedürfnisse unserer Gesellschaft die Basis seiner Politik war. Im Gegenteil, - meint er, - die Führung des Landes wurde sich der Komplexität der Situation erst ‚unterwegs‘ bewusst, in dem Masse, wie die Befreiung die Zungen löste und es die unteren Ebenen der Hierarchie wagten, den oberen Instanzen die wahren Zahlen zu nennen. Die Größe Gorbatschows bestehe darin, verstanden zu haben, dass man den Herausforderungen der Epoche nicht ausweichen dürfe, sondern die Initiative ergreifen müsse, um das Land in Bewegung zu bringen, auch wenn das nur sehr vorsichtig geschah. Dennoch meint er, die Früchte seiner Bemühungen seien sicherlich nicht gering zu schätzen. Es handelte sich immerhin um die Rückeroberung der politischen Initiative durch die Bürger. 415 Er knüpft wohl an die Februarrevolution 1917 an, denn nur von der Zeitspanne von Februar bis Oktober 1917 kann man davon sprechen, dass die Bürger die politische Initiative in Händen hatten. „Russland kehrte zur Februarrevolution 1917 zurück“, schreibt auch Orlando Figes. 416 Die Frage nach der Notwendigkeit der Reformen stellte sich also, nach dem Reformstau der Breschnew-Zeit und den ersten Reformen unter Andropow, nicht mehr. Jetzt ging es darum, wie tiefgreifend, wie umfassend diese Reformen sein sollten – und beim erwarteten und erfahrenen Widerstand der allmächtigen Ministerialbürokratie und den Parteiorganisationen – möglich wären. Auch stellt sich die Frage, was alternatives Denken bedeutet, d. h., wie weit konnten die Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften gehen? Und gab es Mitstreiter? Das bedeutet, der Blick ist primär zu richten auf Gorbatschow und seine Mannschaft. Arbatow schreibt, während der quälenden Monate der Tschernenko-Periode habe sich eine Gruppe von Leuten um Gorbatschow versammelt, die die Idee der Erneuerung unterstützte, eine Politik, die später den Namen Perestrojka getragen habe. 417 Schmidt-Häuer gibt das Gespräch wieder, das im Jahr 1952 Zdeněk Mlynář mit seinem Kommilitonen Gorbatschow geführt hatte. Es ging darum, dass Lenin den Führer der Menschewiki, Martow, nicht hatte verhaften lassen, sondern zugelassen, dass er emigrierte. (Lenin hatte ihn sogar gewarnt und zur Emigration gedrängt – W.G.). „Das bedeutete damals“, schrieb Mlynář: „Gorbatschow zweifelte daran, dass sich Menschen in zwei Kategorien einteilen lassen, in Linientreue und Kriminelle. Er wusste, dass es darüber hinaus noch andere Gruppen geben kann: Oppositionelle, Kritiker und Reformer – die nicht zu den Kriminellen gehören. Dass er diesen Gedanken jemandem mitteilte - und sogar einem ausländischen Studenten -, war ganz ungewöhnlich. Ein opportunistisch gesinnter Mensch hätte sich nicht Afanassjew, Russland, S. 49. Figes, Orlando, Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert, S. 337. 417 Arbatow, Das System, S. 319. 415 416

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so verhalten.“ 418 Schmidt-Häuer dazu: „Hier haben wir ein Zeugnis für das kontinuierliche Reformdenken Gorbatschows. Es widerlegt die Urteile kompromissloser Dissidenten und konservative Politiker im Westen, die diesen Parteichef als besonders raffinierten Taktiker ohne wirkliches Interesse an Veränderungen abtun.“ 419 Lesen wir die Memoiren von Außenminister Schewardnadse und dem Politbüromitglied Jakowlew, finden wir diese Interpretation bestätigt. Es handelt sich also naturgemäß um langfristige Prozesse, bis die Erkenntnis herangereift war, wie tiefgreifend die „Reformen“ des Staates zu gehen hatten. Eduard Schewardnadse und Gorbatschow kannten sich seit ihrer Zeit als Komsomolsekretäre und vertrauten einander. Er erlebte ihn frei von jeglichem gekünstelten Sich-einfach-Geben eines Komsomolfunktionärs. „Die Hauptsache aber – es war deutlich erkennbar, dass sein Denken weit über die Grenzen der vorgeschriebenen Normen hinausreichte.“ So gibt Schewardnadse seine erste Einschätzung von Gorbatschow wieder. 420 Anfangs ging es um „Experimente“ in der Landwirtschaft, die sehr erfolgreich verliefen, weil die Bauern teilweise selbst über Überschüsse verfügen konnten. „Bei jenen jährlichen Begegnungen im Winter sprachen wir eigentlich über nichts anderes“, schreibt Schewardnadse. „Es ging vor allem um den Menschen, der gefesselt war durch eine Vielzahl absurder Einschränkungen, die ihn daran hinderten, mit größtmöglichem Nutzen für sich selbst und die Gesellschaft zu arbeiten. Es ging uns um die Wirtschaft, die in ihrem entscheidenden Elementarfaktor geschwächt war – in der Wertschätzung des arbeitenden Menschen.“ Beide Männer arbeiteten an der Basis und erlebten die strukturellen Probleme hautnah: „Wir sprachen über die aberwitzige Situation, dass unser Land mit seinen enormen Getreideanbauflächen und der fruchtbarsten Schwarzerde der Welt Getreide importieren musste, dass wir mit unseren endlosen Wäldern ständig Mangel litten an Bauholz, Möbeln und Papier und als der Welt größter Erzeuger von Metallen und Energieträgern auch auf diesen Gebieten knausern und knapsen mussten. …Wir sprachen von vielen Absurditäten unseres Lebens und kamen zu der Konsequenz, dass es so nicht weitergehen konnte.“ 421 Und er beschreibt einige „Absurditäten“: „Die Arbeit in Rajonkomitees der Partei, zuerst auf dem Lande und dann in der Stadt, hatte mir für viele Dinge die Augen geöffnet. Ich habe nicht von Anfang an begriffen, dass zwischen den Übeln der zentral gelenkten Wirtschaft und den Übeln der Korruption ein direkter Zusammenhang besteht. Sie existierten lange Zeit gesondert voneinander, wobei die Korruption in den Vordergrund rückte und alles andere verdeckte.“ Und der normale Bürger konnte weder in den obersten Etagen der Macht noch in den Justizorganen Schutz davor finden, denn die Mafia war auch in diese Strukturen eingedrungen und hielt sie unter ihrer Kontrolle. Die Folge war der Vertrauensverlust Schmidt-Häuer, Christian, Michail Gorbatschow. 4., völlig überarbeitete und erweiterte Auflage. München 1986, S. 79. 419 Schmidt-Häuer, Huber, S. 122. 420 Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 64. 421 Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 68. 418

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in die Staatsmacht. Schewardnadse schreibt anschaulich: „Geld war das Maß aller Dinge, in der Gesellschaft herrschte eine Atmosphäre der Ausweglosigkeit. Die Fäulnis- und Verfallsprozesse wirkten besonders abstoßend vor dem Hintergrund der hemmungslosen Ausbeutung des kommunistischen und patriotischen Vokabulars. Um die Unterschlagung materieller Werte zu vertuschen, wurden die erhabensten Begriffe missbraucht. Für mich war der Kampf gegen Korruption und Schattenwirtschaft, gegen deren Übermacht in den oberen Etagen des gesellschaftlichen Lebens, gleichbedeutend mit der Rettung der höchsten nationalen Werte. Eine Nation, die von den Metastasen krimineller Habgier ausgezehrt wird, ist krank bis ins Mark und zum Untergang verurteilt, sagte ich mir.“ 422 Mehrmals versuchte die Mafia, ihn aus dem georgischen Milieu nach Moskau wegzuloben. Die Schlüsselszene aber bildet die schicksalhafte Begegnung mit Gorbatschow, die in die Erkenntnis der Systemtransformation mündete. Schewardnadse erinnert sich: „Wenn man nun die zwanzig Jahre unserer Bekanntschaft überspringt und sich an den Beginn der achtziger Jahre zurückversetzt, sieht man das folgende Bild: Ein menschenleerer Park am menschenleeren Strand des Schwarzen Meeres auf dem Kap Pizunda, wir zwei gehen langsamen Schrittes durch eine Allee. Es war ein ‚Waldspaziergang‘ mit weitreichenden Folgen. Zu jener Zeit machten Michail Gorbatschow, Sekretär des ZK der KPdSU und Kandidat des Politbüros, und ich, Erster Sekretär des ZK der KP Georgiens, ebenfalls Kandidat des Politbüros, untereinander kein Hehl aus unseren wahren Absichten“ 423 Und: „Alles ist durch und durch faul. Man muss es verändern. .. Ich hatte das Gorbatschow an jenem Winterabend 1984 in Pizunda tatsächlich gesagt, und ich werde mich von diesen Worten auch heute nicht lossagen. Sie stimmen.“ 424 Gorbatschow legt den Zeitpunkt dieses Gespräches auf den Winter 1979, gibt das Gespräch aber genauso wieder und nennt dieses Treffen in Pizunda „schicksalhaft“. 425 Schewardnadse schreibt weiter: „Wir sprachen von vielen Absurditäten unseres Lebens und kamen zu der Konsequenz, dass es so nicht weitergehen konnte. …Unsere Gespräche am Kap Pizunda waren auch eine Art Fazit. Um so weit zu kommen, musste jeder einen weiten Weg zurückgelegt haben. Für einen Außenstehenden hatten wir steile Karrieren gemacht als erfolgreiche Komsomol- und Parteifunktionäre. Geht man aber von anderen Kriterien aus, so führte unser Weg in das Innere der sowjetischen, politischen Wirklichkeit. Nur so konnten wir die Ursachen erkennen, die Schuld waren an der aktuellen Situation. Mit aller Kraft suchten wir nach einem Ausweg.“ 426 Natürlich war das nur möglich innerhalb des Systems. „Unter den Bedin-

Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 70f. Schewardnadse, Eduard, Die Zukunft gehört der Freiheit. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 64. 424 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 85 425 Gorbatschow, Michail, Naedine s soboj. Moskva 2012, S. 277. Auch: Gorbatschow, Der Zerfall der Sowjetunion, S. 176. 426 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 68f. 422 423

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gungen der ‚feudalen‘ Hierarchie blieb mir nichts anderes übrig, als nach den Regeln des Systems zu spielen. Nämlich zu versuchen, uns die Unterstützung ‚des Herrn‘ zu sichern.“ 427 Das Wort „Experiment“ wurde nun zum Schlüsselwort für jene, „die das Paradoxon der bestehenden Verhältnisse ändern wollten.“ 428 So wurde in der Stadt Puti ein regionales Selbstverwaltungssystem eingeführt, wurden die Verkehrsmittel verpachtet und private Landwirtschaft zugelassen. Daneben entwarfen die Georgier ein Finanz- und Geldsystem für die ganze Republik. Im Rückblick schreibt Schewardnadse: „Ich kann wohl annehmen, dass in der Sowjetunion die erste Hochschule für Manager in Tiflis eröffnet worden ist. Diese Hochschule hat leitendes Personal für die Reform der Republik ausgebildet. So haben wir in Georgien mit unserer Perestrojka begonnen. Will man genau sein: Wir haben als erste mit der Perestrojka begonnen, ohne daran zu zweifeln, dass sie bei vernünftigen Einstellungen durchaus möglich ist. Wir haben die Stagnation von innen her durchbrochen und uns davon überzeugt, dass man ausgezeichnete Ergebnisse erzielen kann, wenn die Demontage alter Institutionen mit der Errichtung besserer und neuerer einhergeht.“ 429 International bekannt wurde der georgische Ansatz in Tengis Abuladses Film „Die Reue“ von 1983, natürlich als „Experiment“ gestartet. Von der Bevölkerung wurden diese „Experimente“ auch humoristisch – in ihrem Scheitern an der sozialistischen Umwelt – wahrgenommen. 430 Christian SchmidtHäuer spricht von einer Renaissance der georgischen Kulturtradition: „Georgische Filme wurden zum Geheimtipp der Cineasten in aller Welt, selbst die anspruchsvollsten westlichen Kritiker gerieten über die stillen Meisterwerke von Otar Jos, Seljani oder Dhengis Abuladse ins Schwärmen. Tiflis wurde für so manche westeuropäische Großstadt zu einem Mekka des Kulturaustausches mit dem Osten.“ 431 Saarbrücken war die Partnerstadt von Tiflis (Tbilissi) in der Bundesrepublik Deutschland. Wer also tiefgreifende Reformen anstrebt, muss sich sehr geschickt anstellen, um überhaupt „im System“, im „Kasernensozialismus“ 432 zu überleben. Schewardnadse schreibt: „Es ist einfach so, dass führende Personen – trotz der unheimlichen Macht, die ihnen die zentralistische Machtstruktur gibt – oft nichts anderes sind als eine blinde Funktion der Gesetzmäßigkeiten des Systems. Gesetzmäßigkeiten, die sie dabei noch nicht einmal selbst reflektieren und die sie nicht reflektieren können. Die Erfahrung lehrt uns doch ausreichend, dass sich die ‚Eigenbewegung’ des Systems viel stärker als der Wille des einzelnen zeigt. Falls irgendein einzelner einen individuellen Willen hat, muss er ihn lange hinter der rituell anonySchewardnadse, Die Zukunft, S. 79. Schewardnadse, Die Zukunft, S. 75. 429 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 77. 430 „Experimente“ mit Gepäckkarren. V. Nadein: Eksperiment na cepi (Das Experiment an der Kette). In: Izvestija29.03.1987. In: Osteuropa 2/1988, S. A 83f. 431 Schmidt-Häuer, Michail Gorbatschow, S. 228. 432 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 308. 427 428

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men Maske verstecken, um überhaupt in der Machthierarchie eine Chance zu haben.“ 433 Aber Gorbatschow hatte Schewardnadse im Dezember 1980, dann im Januar 1983, schließlich, „besonders auffällig“, wie Schmidt-Häuer schreibt, im Januar 1984 besucht, als Andropow bereits im Sterben lag. „Die Visiten galten immer der Entwicklung des landwirtschaftlichen Managements“, schreibt er, „aber besonders bei der letzten Reise ging es mit Sicherheit auch um die Frage der Nachfolge im Kreml.“ 434 Am 30. Juni 1985 holte ihn Gorbatschow als Außenminister nach Moskau. Auch Alexander Nikolajewitsch Jakowlew, wegen seiner alternativen Vorstellungen innerhalb des Zentralkomitees der KPdSU von 1973 bis 1983 als Botschafter nach Kanada strafversetzt, 435 nach Breschnews Tod als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen (IMEMO) nach Moskau zurückgeholt, gehörte zu Gorbatschows Mannschaft. 1985 wurde er ZK-Sekretär für Propaganda, 1988 Vorsitzender der „Kommission beim Politbüro des ZK der KPdSU zur zusätzlichen Erforschung der Materialien bezüglich der Verfolgungen im Verlauf der 30er, 40er und Anfang der 50er Jahre“. Er wird sogar als der eigentliche Architekt von Perestrojka und Glasnost bezeichnet. Seine Autobiographie „Die Abgründe meines Jahrhunderts“ ist eine enthüllende Beschreibung der sowjetischen Geschichte. 436 Interessant ist die Beurteilung durch Boris Jelzin: „Alexander Jakowlew, ZKSekretär und Politbüro-Vollmitglied, ist der klügste, vernünftigste und weitsichtigste Politiker. Es bereitete mir immer Vergnügen, seine präzise formulierten Überlegungen zu den im Politbüro diskutierten Fragen zu hören. Natürlich war er vorsichtig und rannte gegen Ligatschow nicht so verbissen an, wie ich es tat. Doch sie sind zweifellos Antipoden. Jakowlews Sozialismusmodell ist Ligatschows Kasernen- und Kolchosen Konzept des Sozialismus diametral entgegengesetzt. Sie müssen gezwungenermaßen miteinander auskommen, und jeder drischt im Gefolge Gorbatschows die alberne Phrase von der Einheit des Politbüros.“ 437 Auch Jakowlew war ein „Kind des XX. Parteitages“. Chruschtschows Geheimrede und die Offenlegung von Stalins Verbrechen bedeuteten einen Bruch in seinem bisherigen Glauben an die KPdSU und an den Kommunismus. Seine kritische Einstellung wurde durch die Abwehrstrategien und Vertuschungen der Partei gegenüber einer kritischen Selbstanalyse noch verstärkt, und er führte „ein Doppelleben lähmender Heuchelei“. Nun wollte er den Dingen auf den Grund gehen und Schewardnadse, Die Zukunft, S. 343. So äußerte sich Kissinger über den späteren König Juan Carlos von Spanien: „Wie klug muss ein Mensch sein, um seine wahren Absichten unter General Franco zu verbergen.“ 434 Schmidt-Häuer, Michail Gorbatschow, S. 227f. 435 Das hatten die Wissenschaftler der AdW nicht vergessen, wie Gerd Ruge Ende der 70er Jahre in Moskau erfuhr. Ruge, Gerd, Unterwegs, S. 265. 436 Jakowlew, Alexander, Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie. Leipzig 2003, S. 911. 437 Jelzin, Boris, Aufzeichnungen eines Unbequemen. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke. München 1990, S. 179f. 433

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begann ein zweites Studium an der dem ZK unterstehenden Akademie der Sozialwissenschaften im Fach „Internationale Beziehungen“. In einer seiner zahlreichen Veröffentlichungen in der Zeit der Perestrojka schreibt er, erst im Laufe eines langen und mühsamen Prozesses fing er an seine Ansicht über den Marxismus zu revidieren. „Jedenfalls kam es während meines Studiums der Primärquellen an der Akademie dazu, dass ich mir der Hohlheit und Unwirklichkeit des Marxismus-Leninismus, seiner Unmenschlichkeit und Künstlichkeit, der ihm innewohnenden Widersprüche, seiner Demagogie und seiner betrügerischen Vorhersagen vollauf bewusst wurde.“ Und: „Je gründlicher ich den theoretischen Wortschwall der marxistischen Klassiker erforschte, desto klarer sah ich die Ursachen dafür, dass sich die Sowjetunion in einer Sackgasse befand.“ 438 1971 hatte Jakowlew Gorbatschow zum ersten Mal getroffen. Der entscheidende Gedankenaustausch mit Gorbatschow erfolgte aber im Mai 1983 in Kanada. Jakowlew schrieb darüber: „Gorbatschow und ich gingen aufs Feld. Ringsum kein Mensch, nur seine Leibwache am Waldrand. Zunächst das übliche Geplauder, doch plötzlich gab es offenes Gespräch. Er redete über die wunden Punkte in der Union und verwendete Begriffe wie ‚Rückständigkeit des Landes‘, ‚Notwendigkeit grundlegender Veränderungen‘, ‘Dogmatismus‘. Auch ich war wie von der Kette losgerissen und erzählte freimütig, wie primitiv und beschämend von hier aus die Politik der UdSSR aussah.“ 439 An anderer Stelle schreibt Jakowlew über seine Begegnung mit Gorbatschow: „Im Mai 1983 haben wir uns dann in Kanada wiedergesehen, und erst von jenem Zeitpunkt ab hielten wir guten Kontakt miteinander, denn wir waren gleicher Meinung über bestimmte grundsätzliche Gedanken. Unser Einvernehmen wurde verstärkt durch die gemeinsame Überzeugung, dass die sowjetische Gesellschaft nicht mehr lange mit dem herrschenden politischen und wirtschaftlichen System weiterleben könne. Damals haben wir begonnen, über die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen zu sprechen. Nach meiner Rückkehr in die Sowjetunion setzten wir die Diskussion fort.“ 440 Als Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen erarbeitete er 1983 bis 1985 einige Grundsatzdokumente für die Perestrojka, d.h. man plante für die erwartete Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU. Seiner Meinung nach habe er mit seiner Mannschaft durch die Berichte über den katastrophalen Zustand der Wirtschaft, über die Notwendigkeit, gemischte Firmen zu gründen, und über die Nützlichkeit, ausländisches Kapital ins Land zu holen, schließlich doch einige Gemüter sensibilisiert. Nach der Wahl von Michail Sergejewitsch zum Generalsekretär war er an der Vorbereitung des AprilPlenums beteiligt und wurde im selben Jahr zum Chef der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPdSU ernannt. „Seither ist mein Leben mit allen Etappen der perestrojka verbunden gewesen.“ 441 Jakowlew, Alexander, Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland. Berlin 2006, S. 35f. Jakowlew, Die Abgründe, S. 425. 440 Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 79. 441 Jakowlew, Offener Schluß, S. 80. 438 439

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Jakowlew kannte aber nicht nur die Parteizentrale aus eigener Erfahrung und die handelnden Personen, insbesondere die Generalsekretäre, aus seinen Gesprächen, sondern hatte aus seiner Erfahrung mit den Vertretern des Apparates, der Kenntnis der sowjetischen Geschichte wie der realen Lage im Lande eigene Vorstellungen über die Sowjetisierung Russlands entwickelt. Als Leiter der Rehabilitierungskommission bei den Präsidenten der UdSSR, seit Dezember 1992 Russlands, war er mit den negativen Seiten der bolschewistischen Herrschaft konfrontiert. Er schrieb angesichts der ungeheuren Opfer: „Es wurde mir zur Hauptsache meines Lebens, die Opfer der politischen Verfolgungen während dieser Periode zu rehabilitieren. Wenn man Schritt für Schritt über die blutige Leiter in den Untergrund einer Zeitspanne von siebzig Jahren hinabsteigt, verfliegt der ganze Mulm aus dem Glauben an die kommunistische Glückseligkeit wie Rauch im Wind. Die ganze Gemeinheit, Feigheit und Bösartigkeit, zu der Menschen fähig sind, entblößen sich bis auf die Knochen – in gleichem Maß wie die grenzenlose Kriminalität des Regimes und der Sadismus seiner Führer. Ich habe Tausende von Dokumenten und Beweisstücken gesichtet und gelesen, habe Abertausende von menschlichen Schicksalen durch Gefühle und Verstand passieren lassen. Bis heute quält mich die Frage: Wo liegen die Ursachen für Russlands Tragödie? Ich gelangte zu der tiefen Überzeugung, dass der Umsturz im Oktober 1917 die Konterrevolution darstellt, die einen terroristischen, faschistischen Staat russländischer Prägung hervorbrachte.“ 442 Und: „Gemessen an seinen zahlreichen Ideen und Erscheinungsformen stellt der Bolschewismus Russlands den Archetypus des europäischen Faschismus dar.“ 443 Weiter: „Gegenstand meines besonderen Interesses war die Frage, warum ausgerechnet unser Land der Utopie von Marx folgte und was daraus wurde. Aus einem politischen Monopol und einer ideologischen Mythologie erwuchs am Ende die militärisch-bürokratische Diktatur, die den Menschen vom Eigentum und von der Macht fernhielt. Das erklärte Ziel – die Verbreitung der Weltrevolution – brachte die bolschewistische Militär-Polizei-Diktatur in die Konfrontation mit der ganzen Welt. Sie zeigte der Welt ihre Inkompetenz und Unmenschlichkeit. Die Folge war, dass Russland das 20. Jahrhundert in vielem verloren hat. Als der Marxismus in die Ideologie eines Parteistaates verwandelt war, nahm dieser inquisitorische Funktionen an und wurde zur Waffe, die alles und alle zu Zwecken des Kampfes, der Unterwerfung und Beherrschung mobilisierte.“ 444 Jakowlew will bewusst machen, welche Verluste Russland durch den Oktoberputsch erlitten hat: „Der Adel war physisch vernichtet worden, ebenso wie die Kaufmannschaft, die Unternehmerschaft, die Intelligenzija und die Blüte der Armee: das Offizierstum. Man hatte Millionen Bauern zerbrochen und die Arbeiterklasse zermalmt, in deren Namen die Leninsche Bande ihre Raubtaten angeblich beging. Das beste Bankensystem der Welt wurde in Staub und Asche gelegt. Man Jakowlew, Abgründe, S. 34. Jakowlew, Abgründe, S. 36. 444 Jakowlew, Abgründe, S. 37. 442 443

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plünderte und zerstörte Tausende der weltbesten Agrarbetriebe, deren Produktivität höher war als die der Landwirtschaft in Westeuropa und Amerika. Ebenso verschwand das beste Erziehungssystem der Welt, das Alexander II. begründet und Stolypin vervollkommnet hatte.“ 445 Schließlich: „Dschugaschwili-Stalin, der Organisator der Gräuel und Zerstörungen Russlands, steht wie Uljanow-Lenin für alle Zeiten vor dem Tribunal ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘“. 446 Fasst man alle Äußerungen Schewardnadses und Jakowlews zusammen, stößt man an den Punkt, dass sie erkannt hatten, dass die Grundübel des sowjetischen Staates nicht nur in der Person Breschnews und seiner Mannschaft oder der Bürokratie lagen, sondern im System selbst. Das aber bedeutete, dass eine Verbesserung der Lage nur durch einen Systemwechsel möglich sein würde. Den galt es also anzusteuern. Und Gorbatschow? Wie weit gingen seine Vorstellungen? Seine Position ist nicht einfach zu verorten. Das klingt paradox vor dem Hintergrund der so zahlreichen Publikationen aus seiner Hand, die während seiner Regierungszeit wie auch danach erschienen sind. Die Interpretation wird dadurch erschwert, dass man genau analysieren muss, ob und wieweit die Berufung auf Lenin zur Taktik gehört, auch zu seinem Spielraum innerhalb der sowjetischen Verfassung, oder seiner Überzeugung entspringt. Deshalb muss der Historiker einerseits die Entwicklung seiner Gedanken verfolgen und sie andererseits mit den politischen Entscheidungen in Beziehung setzen. Klar ist, dass seine Funktion als Generalsekretär der KPdSU ihm einen bestimmten Rahmen vorgab, den er im Zweifel extrem ausdehnen, aber nicht verlassen durfte. Die Absprachen von Jakowlew und Schewardnadse mit Gorbatschow vor seiner Funktion als Generalsekretär über die Notwendigkeit von Veränderungen sind eindeutig. Auch dass es nicht nur um Reformen gehen sollte, sondern um die Veränderung des Systems. Sie kannten die Herrschaftsstrukturen, und sie kannten das Resultat, die Krise der Sowjetunion. Von daher stellt sich die Frage nicht, welche Entwicklung das Denken Gorbatschows vollzogen hat, als er Generalsekretär geworden war, sondern danach, in welcher Weise er und seine Mitstreiter, die er ins Politbüro geholt hatte, den Systemwandel durchsetzten. Denn eines ist unbestreitbar: Am Ende existierte das alte System der Herrschaft der KPdSU über den Staat nicht mehr. Wenn der Historiker nun feststellt, dass Gorbatschow sich in seinen Reden in der Sprache des Leninismus ausdrückte, so war genau das zu erwarten, denn er konnte ja nur innerhalb des Systems, d. h. der Herrschaftsstruktur der KPdSU und der Verfassung der UdSSR, agieren. Sehr wohl aber sind die Veränderungen innerhalb des Systems zu verfolgen, die Argumentationsweise, der Wandel des Inhalts zentraler Begriffe wie, letztlich, die politischen Entscheidungen, auch vor dem Hintergrund der Widerstände. Jakowlew, Alexander, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2. Das schwere Erbe der Ideologie. München, Zürich 2004, S. 180. 446 Jakowlew, Abgründe, S. 41. 445

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Von großem Interesse ist die Argumentation Gorbatschows selbst, gerade nach seinem Rücktritt als Generalsekretär und Staatspräsident der Sowjetunion. Man kann nicht erwarten, dass er quasi sagt, er habe ein falsches Spiel gespielt und als Generalsekretär die Partei verraten. Genau das wird ihm von den alten Kommunisten vorgeworfen. Er argumentiert, der Widerstand gegen die Reformen habe ihn, ab dem Herbst 1987, dazu gezwungen, nun an die Veränderung des Systems heranzugehen. Und da sei er Schritt für Schritt immer weiter gegangen bis hin zur Veränderung der Partei in Richtung Sozialdemokratie. Auf freies Denken schon in der Studentenzeit hat schon Christian Schmidt-Häuer verwiesen, der sich auf Mlynář beruft. Und Gorbatschow verweist auf die Chruschtschow-Zeit und die damaligen Reformansätze. Wenn Gorbatschow später sagt: „Damals schätzte ich, dass es nötig und möglich wäre, den realen Sozialismus zu reformieren. Und das inspirierte meine Aktivität in den Jahren 1985 und 1986“ 447, so agierte er noch innerhalb des alten Systems. Aber dessen Grenzen wurden immer deutlicher: „Aber schon im Herbst 1986 kam ich immer mehr zur Überzeugung, dass die Veränderungsimpulse sich auf der mittleren und unteren Ebene festliefen.“ 448 Der Widerstand gegen die Perestrojka zwang die Reformer dazu, ihre Vorstellungen zu radikalisieren. Gorbatschow: „Am Anfang ging es um einige Reformen des Sozialismus. Aber dann, als klar war, dass das System, das mit dem Stalinismus verbunden war, mit dem Modell, das dem Volk aufgezwungen und mit repressiver Macht ausgestattet war, das die Menschen von der Verwaltung des Staates ferngehalten hatte, da verstanden wir, dass ein anderer Weg notwendig war. Deshalb auch stellte sich die Frage nach der Notwendigkeit das politische System zu reformieren.“ 449 In der öffentlichen Diskussion präzisierten und schärften sich also die Positionen von Reformern und Bewahrern des alten Systems. Als der Brief von Nina Andrejewa als das „Anti-Perestrojka-Manifest“ erschien, das das Stalinistische System verteidigte, schlugen die Reformer zurück. Gorbatschow sagt, am Ende eines Gesprächs mit Politbüromitglied W. Medwedjew erkannten beide, dass, was das vorliegende existierende System betraf, sie nicht den Sozialismus verteidigten, sondern „ein Modell, das uns Stalin und seine Anhänger aufgezwungen und es ins entsprechende Regime transformiert haben. Und ist das Sozialismus? Die Losungen – ja. Aber Elemente des Sozialismus gibt es nicht mehr.“ 450 Nun favorisierten sie die Ideen der Demokratie und des politischen Pluralismus, sagt Gorbatschow im Gespräch viele Jahre später: „Es begann ein schwieriger Prozess in Zusammenhang mit dem Verständnis des Mehrparteiensystems. Ich meinte, dass unter den Bedingungen von Glasnost und der sich entwickelnden gesellschaftlichen Organisationen der politische Pluralismus möglich wäre – in einer Partei.“ 451 Darauf entstanden schnell einige Bewegungen und Plattformen. „Die Slawin, Neokončennaja istorija, S. 12. Slawin, Neokončennaja istorija, S. 12. 449 Slawin, Neokončennaja istorija, S. 31. 450 Slawin, Neokončennaja istorija, S. 29. 451 Slawin, Neokončennaja istorija, S. 30. 447 448

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(Partei-)Konferenz, sagt er, war der Übergang zu einem neuen Verständnis von Sozialismus. Die Rede war von einem humanen demokratischen Sozialismus. – Das ist die Negation des Systems, das unter Stalin entstanden war, aber nicht die Negation des Sozialismus und der sozialistischen Idee.“ 452

2.3 Georgien als Modell Georgien ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine stolze Nation innerhalb der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken seine eigene nationale und republikanische Geschichte nicht vergessen hat.1921 flüchtete die demokratische Regierung Georgiens, die sich drei Jahre halten konnte, ins Ausland. „Mit dem Verlust der Unabhängigkeit fielen einige Generationen von Georgiern dem Kampf gegen das allmächtige Sowjetsystem zum Opfer“, schreibt Schewardnadse. Es sind die „Risse im Roten Imperium“, von denen Carrère d’Encausse schreibt. Denn im Untergrund hätten mehrere Organisationen gewirkt, deren Ziel die nationale Befreiung gewesen sei. Sie wurden von den sowjetischen Organen ebenso heimlich verfolgt, auch die Gerichtsprozesse gegen ihre Führer blieben geheim. Erst in den 70er Jahren konnten sie, im Rahmen der Dissidentenbewegung, den Untergrund verlassen. 453 Schewardnadse hat als Kind den Stalinismus erlebt – sein Schwiegervater war 1937 erschossen worden – und die Entstalinisierung durch Chruschtschow. Dennoch ist er auf Chruschtschow nicht gut zu sprechen. Zu tief verletzt wurden die Georgier durch ein Ereignis vom 9. März 1956, als in Tiflis sich Bürger zu einer Großdemonstration vor dem sogenannten Haus der Post versammelt hatten, um Protestschreiben und Telegramme aufzugeben, und sie mit automatischen Waffen beschossen wurden. Entlang der Kura rollten Panzer. Nach offiziellen Angaben gab es zweiundzwanzig Tote und Dutzende Verletzte. Bitter schreibt Schewardnadse: „Es stimmt nicht, dass erstmals im Oktober 1956 in Budapest Panzer gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Panzer als ‚Argument‘ gegen Andersdenkende rollten schon im März 1956 in Tiflis über die Straßen. In den osteuropäischen Erschütterungen der fünfziger und sechziger Jahre scheint für mich stets der ‚März 1956‘ von Tiflis auf. Meine Generation trug seitdem für ihr ganzes Leben den ‚Komplex des Jahres 1956‘ – den Komplex der Ablehnung von Gewalt als Methode und Prinzip der Politik.“ 454 Hier scheint die moralische Basis für ein Politikverständnis auf, das auch dem Gorbatschows entspricht. Gestwa macht darauf aufmerksam, dass die unheilige Allianz zwischen ökologischem Protest und Nationalismus, die er am Beispiel der Dorfprosaschriftsteller aufgezeigt hatte, keineswegs nur ein russisches Phänomen gewesen ist. Im Unterschied zu Russland war sie aber nicht in der offiziellen Kultur, sondern im Samizdat anzutreffen. So hatte Mitte der 70er Jahre der georgische Nationalist Zviad Slawin, Neokončennaja istorija, S. 30. Schewardnadse, Als der eiserne Vorhang zerriss, S. 214. 454 Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 60. 452 453

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Gamsachurdia, der 1992 erster Präsident des unabhängigen Georgien wurde, den Bau von Flusskraftwerken in den Bergen Westgeorgiens als „heimliche Politik der Russifizierung und Assimilierung des georgischen Volkes“ beschimpft. Die Großbauten böten einen „hervorragenden Anlass, um ganze Ansiedlungen von Russen … zu schaffen und die russische Bevölkerung in Westgeorgien zu vergrößern.“ Nicht nur die russischen Soldaten der Sowjetarmee, auch die mehrheitlich russischen Ingenieure und Bauarbeiter wurden als „Okkupationstruppen“ wahrgenommen. Von der in den Kraftwerkriesen produzierten Elektrizität „werde Georgien aller Wahrscheinlichkeit nach nichts erhalten“, weil das weitgespannte Netz von Hochspannungsleitungen den Strom in die Nachbarregionen leite. Die Talsperren im Gebirge seien mit ihren riesigen Wassermengen, die sich über zahllose Dörfer ergießen und eine Million Menschen töten könnten, gefährliche Vernichtungswaffen. Mit denen hielten die Russen das georgische Volk in Schach, weil sie durch das Bersten der Staudämme jederzeit den „Genozid Georgiens“ einleiten könnten.“ 455 Dieser „Öko-Nationalismus“ ist insofern von Bedeutung, als er ökologische Bedenken gegen Großprojekte mit nationalistischen Elementen verwob und ihnen damit eine neue Dynamik verlieh. Wie stark diese Dynamik war, zeigt sich, als durch die Perestrojka die Möglichkeit bestand, nun legal die Bedenken in antirussischen Protesten auszuleben. Schewardnadse hat auf die Pionierrolle Georgiens verwiesen, die sein Land in den Überlegungen in Richtung Perestrojka spielte. Aber schon unter Breschnew hatte der Erste Sekretär der Georgischen (damals Gruzinischen) KPdSU sich Spielräume verschafft. So bemühte er sich zwar in der Regel, im Einvernehmen mit dem sowjetischen Generalsekretär zu handeln, es gab aber auch Situationen, in denen er sich die Einmischung Moskaus verbat. Im Jahr 1989 erzählte Außenminister Schewardnadse seinem amerikanischen Amtskollegen James Baker auf dem Flug zu dessen Ranch, wie er sich 1978 als Parteichef in seiner georgischen Heimat dem Kreml widersetzt hatte. Leonid Breschnew und dessen Mitarbeiter hatten damals ständig nationalistische Aufstände befürchtet und daher gefordert, Russisch in sämtlichen Republiken zur Amtssprache zu erklären. Doch die Georgier, erläuterte der sowjetische Außenminister seinem amerikanischen Kollegen, hätten ihre Sprache immer besonders geliebt. Aus Furcht, Aufständische könnten Tiflis in Schutt und Asche legen, war er trotz zahlreicher Morddrohungen auf den Hauptplatz der Stadt gegangen und hatte durch ein Megaphon verkündet, er werde die Forderungen seiner Landsleute respektieren. Dann hatte er Breschnew angerufen und ihn zu einem Kompromiss überredet. 456 Schewardnadse konnte sich diese Position leisten, denn er zahlte seinen Anteil in das Budget der Union solide und pünktlich. Das ließ ihm auch Raum für ökonomische Experimente, in denen er sich den Mechanismen der Marktwirtschaft näherte. 457 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 549. Beschloss, Michael R., Strobe Talbott, Auf höchster Ebene. Das Ende des Kalten Krieges und die Geheimdiplomatie der Supermächte 1989-1991. Düsseldorf u.a. 1993, S. 146f. 457 Schewardnadse, Als der eiserne Vorhang zerriss, S. 59. 455 456

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Seine Sonderrolle äußert sich auch in zahlreichen internationalen Konferenzen, die in Tiflis abgehalten worden. So fand im Sommer 1976 in Tiflis eine „Internationale Zusammenkunft zu Problemen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit von Ost und West“ statt. Sie wurde vom Sowjetischen Komitee für europäische Sicherheit und Zusammenarbeit und dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche veranstaltet. Im Kurzbericht lesen wir: „Prominente Wissenschaftler, Politiker und Vertreter von Geschäftskreisen aus elf europäischen Ländern, den USA, Kanada und mehreren internationalen Organisationen nahmen unter anderem folgende Referate entgegen: M. Maximowa (UdSSR) – ‚Industrielle Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen und kapitalistischen Ländern – Formen, Tendenzen, Probleme‘, C. McMillan (Kanada) – ‚Formen und Dimensionen der west-östlichen Zusammenarbeit zwischen Firmen‘, J. Tabaczyński (Polen) – ‚Entwicklung der Ost-West-Firmenzusammenarbeit und ihr Einfluss auf internationale Zahlungen‘, K. Bolz (BRD) – ‚Dreiseitige Zusammenarbeit. Der westliche Standpunkt‘, H. Faulwetter und G. Scharschmidt (DDR) – ‚Einige Aspekte der dreiseitigen Zusammenarbeit‘ und M. Dawydow (UNCTAD) – ‚UNCTAD und die dreiseitige industrielle Zusammenarbeit‘. Außerdem wurden Referate und Mitteilungen über Untersuchungen auf dem Gebiet der Zusammenarbeit in einzelnen Industriezweigen und in der Landwirtschaft entgegengenommen.“ 458 Auf die wichtige Rolle von Gwischiani für die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit ist weiter oben schon hingewiesen worden. In seinem Beitrag auf der Akademiekonferenz 1986 über das Thema „Das Jahr 2000: Globale Probleme und die Zukunft der Menschheit“ berichtet er von einer unter der Ägide der UNESCO im Dezember 1981 in Tbilissi durchgeführten Konferenz über „Wissenschaftliche Prognosen und menschliche Bedürfnisse“. Der damalige Präsident des Club of Rome, A. King, referierte dort über „Soziale Auswirkungen von Mikroprozessoren“, und der Amerikaner R. Aures verwies in seinem Referat „Langzeitperspektiven des Einsatzes von Robotern“ darauf, dass Roboter und Mikroprozessoren die westliche Zivilisation herausforderten, sie auf die Anpassungsfähigkeit an diese revolutionäre technologische Neuerung prüften, die die Gefahr eines starken Wachstums der Arbeitslosigkeit in den entwickelten kapitalistischen Ländern heraufbeschwöre. Besondere Besorgnis der westlichen Forscher rufe die intensive Verbilligung von den in Robotern eingebauten Mikroprozessoren hervor. Wie in dieser Zeit noch üblich, verwies Gwischiani darauf, dass die sozialistische Gesellschaft von diesen Problemen verschont bleiben werde, um dann aber doch zuzugestehen: „In der sozialistischen Gesellschaft werden Roboter und Mikroprozessoren in humanen Formen eingesetzt. Offensichtlich werden auch im Sozialismus Probleme der Optimierung des Zusammenwirkens des Menschen und

458

Gesellschaftswissenschaften (AdW Moskau) 2/1977, S. 269.

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der kybernetischen Anlagen sowie ökonomische, soziale und psychologische Probleme entstehen.“ 459 Das heißt, Georgien befand sich auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion über hochwichtige technologische Prozesse und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft. Der systemübergreifende Ansatz wird auch schon damals deutlich, wenn Gwischiani schreibt: „Die globalen Probleme sind durch die objektiven Entwicklungsprozesse der Menschheit bestimmt, sie sind eine Realität, der die Menschen, die die natürlichen und sozialen Bedingungen ihrer Existenz verändern, Rechnung tragen müssen. Der stürmische wissenschaftlichtechnische Fortschritt und die globalen Probleme der Gegenwart erfordern von den Menschen ein neues Niveau der sozialen Verantwortung. Die Menschheit muss ein einheitliches System der ethischen Werte schaffen, die ihr Verhalten zur Natur, zur sozialen Organisation des Lebens, zu sich selbst bestimmen werden und den Krieg aus dem Leben der Gesellschaft ausschließen. Nur konkrete moralische Werte des Aufbaus und der Ablehnung des Krieges werden der Menschheit das Gefühl des historischen Optimismus geben, das für die Lösung der beispiellosen Aufgaben unserer Epoche notwendig ist.“ 460 Nikita Moissejew, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, schreibt in einem Beitrag über Georgien, es sei schade, dass viele Russen von der tausendjährigen Zivilisation und dem bewundernswerten Mut dieses Volkes so wenig wissen. Der Film ‚Die Reue‘ belege aber, dass Russen und Georgier vieles mit gleichen Augen sehen. Dann schreibt er, nun haben ihm die Georgier auch noch diesen Schlüsselsatz geschenkt, der den wunderbaren und komplizierten Film abrundet, einen Satz, der wohl den verborgensten Sinn dessen bloßlegt, was in der Gesellschaft vor sich geht: „Vor uns liegt ein sehr schwieriger Weg, uns steht ein gründliches Überdenken all dessen bevor, was sich in den vielen Jahren ereignet, was sich angesammelt hat und uns in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wir brauchen dringend ein eingehendes Studium unserer Straße und eine ernste, unvoreingenommene und nüchterne Beurteilung unserer Erfolge und Misserfolge und der daraus erwachsenen Laster. Dabei dürfen wir für keinen Augenblick vergessen, dass wir ins letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eintreten, das uns zwar atemberaubende technische Perspektiven offenbart, doch fast nichts zum Erfassen der Erscheinung Mensch im Vergleich zu dem, was schon Gogol, Dostojewski und Tolstoi gewusst haben, beigesteuert hat. Vor allen Dingen müssen wir die Straße ausfindig machen, die für uns richtig ist, und wissen, dass diese Straße auch wirklich dorthin führt, wo wir hinwollen.“ 461 Auch auf dem Gebiet der Meinungsforschung ging Georgien unter Schewardnadse voran und bildete das Vorbild für die Übertragung dieser Disziplin auf die

Gwischiani, Dshermen, Systemcharakter der Globalmodellierung. In: AdW. (Hg.), Das Jahr 2000: Globale Probleme und Zukunft der Menschheit. Moskau 1986, S. 88f. 460 Gwischiani, Systemcharakter der Globalmodellierung, S. 90. 461 Moissejew, Nikita, Wozu die Straße, wenn sie nicht zum Tempel führt? In: Afanassjew, Es gibt keine Alternative, S. 73f. 459

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gesamte Union im Jahr 1986. 462 Im Rückblick antwortete er auf die Frage eines Landsmannes, was er denn für sein Vaterland Georgien getan habe, als er in Moskau Außenminister der Union gewesen war: „Wenn ich mich für die Wiedervereinigung eines großen Volkes, den Abriss der Berliner Mauer, die Selbstbestimmung der osteuropäischen Länder und die Entwicklung der Demokratie in der Sowjetunion einsetzte, diente ich damit auch meinem eigenen Volk. Es sind auch meines Volkes Errungenschaften: die Veränderungen in Europa und der Welt, die Deutschland die Wiedervereinigung und Georgien die Selbständigkeit gebracht haben.“ 463

von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 621; Späth, M., Zwang zur Beschleunigung: Wissenschaft und Technologiepolitik unter Gorbatschow. Masch.geschr. Manuskript, 32 S. (Forschungsstelle Gottstein in der Max-Planck-Gesellschaft. München 1986); Reichel, H.-Chr., Tendenzen in Gorbatschows Wirtschaftspolitik. In: Außenpolitik 1986, 1, S. 35-43. 463 Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 252f. 462

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II.

Die Transformation des sowjetischen Staates

3. Gorbatschows „Revolution von oben“ Chruschtschow hatte die ersten Schritte unternommen, Andropow sich nach der langen Breschnewschen Stagnationszeit erneut an Veränderungen gewagt und die ersten Entscheidungen – im Bildungswesen und der Wirtschaftsorganisation – getroffen. Seit dem 11. März 1985 lastete auf Gorbatschow die Verantwortung, die Weltmacht Sowjetunion ins 21. Jahrhundert zu führen. Das ging nur durch die Transformation des Sowjetsystems. Die Richtung der Veränderungen war also bestimmt, jetzt stellten sich die Fragen 1. nach der Tiefe des Umbaus, sollte am Ende ein demokratischer Rechtsstaat stehen mit einer Marktwirtschaft und Privateigentum, und 2. nach der Methode des Wandels. Die Antworten auf diese beiden Fragen bilden dabei den Schlüssel zum Verständnis von Gorbatschows Perestrojka. Die Formulierung der Ziele und die Methode sie zu erreichen sind dabei eng miteinander verknüpft. Diese Verknüpfung ist durch das vorhandene System bestimmt. Denn nur innerhalb des Systems lassen sich die einzelnen Ziele erreichen, inklusive der Abschaffung des Systems selbst. Dabei kommt es darauf an, über die richtigen Kader zu verfügen, also Persönlichkeiten, die den Wandel unterstützen, dann die Gremien für die Pläne zu gewinnen, vor allem Politbüro und Zentralkomitee, aber auch die Republiken, schließlich die Bevölkerung selbst, die es nicht gewohnt ist, dass sie gefragt wird, die aber ihre Meinung über die Personen und die Verhältnisse besitzt, geerdet aus der unmittelbaren Situation m Arbeitsplatz und dem Warenangebot in den staatlichen Läden. Folgt man nicht der inneren Logik von der dringenden Notwendigkeit fundamentaler Veränderungen des Systems, können die einzelnen Schritte nicht in ihrer Folgerichtigkeit verstanden werden, sondern erscheinen die Maßnahmen von Gorbatschows Mannschaft als bloßes Reagieren auf einzelne Herausforderungen, wird Gorbatschow letztlich nicht zum Akteur, sondern zum Getriebenen. Die ersten Entscheidungen galten der Personalpolitik. Alexander Jakowlew arbeitete Gorbatschow schon in seiner Funktion als Direktor des IMEMO (Akademieinstitut für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen) zu. Jetzt wird er Leiter der ZK-Abteilung für Propaganda und Leiter der Beratergruppe des Generalsekretärs. Ihr gehören außerdem an: Wadim Andrejewitsch Medwedjew, Nail Barijewitsch Bikkenin, Walerij Iwanowitsch Boldin, Michail Nikiforowitsch Poltoranin. 464 Es folgten die Personalveränderungen im Politbüro. Ministerpräsident Tichonow wurde durch Ryschkow ersetzt, Talysin löste Bajbakow ab, den Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission (GOSPLAN), Murachowskij folgte Nurijew als 464

Ostrovskij, Glupost‘ ili izmena, S. 12f.

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Verantwortlicher für den Agrar-Industrie-Komplex, Smirnow übergab die Zuständigkeit für Verteidigungsfragen an Masljukow und Wlasow löste Fedortschuk als Innenminister ab. Es gelang sogar das Außenamt neu zu besetzen, indem Gromyko das ehrenvolle Amt des Staatspräsidenten erhielt. Auch stimmte das ZK der Ernennung von Schewardnadse als Gromykos Nachfolger zu. Damit machte „Mister Njet“ den Weg für eine neue Außenpolitik frei. Romanow verlor seinen Posten im Politbüro und ZK-Sekretariat, dafür wurden Jelzin und Sajkow neu gewählt. Sogar Grischin, der Moskauer Parteichef, der selbst Ambitionen auf den Posten des Generalsekretärs hatte, konnte bald durch Jelzin abgelöst werden. Schon bei der Antrittsrede am 11. März 1985 trug der neue Generalsekretär die Richtung seiner Politik vor. Er schreibt selbst, dass die Ideen nicht über Nacht in seinem Kopf entstanden waren, sondern er sie auch bisher schon, gut dosiert, vorgetragen hatte. Er nennt dabei seinen Diskussionsbeitrag auf dem Dezember-Plenum des ZK von 1983, das Referat auf der Ideologie-Konferenz von 1984, auch sein Treffen mit den Wählern des Kiew-Stadtbezirks von Moskau für die Wahl zum Obersten Sowjet der RSFSR am 20. Februar 1985. Auch in der Rede bei der Beisetzung Tschernenkos habe er schon die Weichen gestellt. 465 Es folgte die offizielle Bestandsaufnahme des Zustandes von Wirtschaft und Gesellschaft. Wie erwartet, fiel sie verheerend aus. „Es kam etwas Unerhörtes zu Tage, buchstäblich alle waren unzufrieden, sogar die Leute aus dem Rüstungssektor, die sich bekanntlich in einer privilegierten Situation befanden. Die Veränderungen waren überfällig.“ Denn die Sowjetunion war in ein aufreibendes Wettrüsten eingespannt und dadurch an den Rand des Ruins getrieben worden. Schachnasarow sagt es deutlicher: „Grauenvolle Massen von nutzlosen Panzern, Kampfflugzeugen und U-Booten begruben die ehrgeizigen sozialen Projekte unter sich. Es entstand ein hochgerüstetes Entwicklungsland.“ 466 Offiziell wurde die Konzeption der neuen Politik erst auf dem April-Plenum des Zentralkomitees vorgetragen, quasi „in erster Lesung“, wie Gorbatschow formuliert, dann als konkretes Programm für die ersten Schritte gebilligt und angenommen. Die wirtschaftliche Lage aber verschlechterte sich zunehmend, die Effektivität der Produktivität fiel wieder, nach der kurzen Trendwende unter Andropow, die bürokratisierte Wirtschaft blockierte den wissenschaftlich-technischen Fortschritt, der Lebensstandard sank spürbar, die Korruption wurde immer dreister und sichtbarer, und im geistig-kulturellen Leben fand ein Erosionsprozess statt: „Unter der äußeren Hülle einer monolithischen ideellen Einheit der Gesellschaft zeigten sich immer deutlicher Lüge, Heuchelei und Zynismus.“ 467 Fasst man die Äußerungen von Gorbatschow, Schewardnadse und Jakowlew zusammen, so lassen sich folgende Ziele erkennen: Die Sowjetunion steckt in einer

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 261, S. 269; Gorbatschow, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 2. 466 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 363; Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 86. 467 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 8f. 465

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schweren Krise. Um aus der Krise herauszukommen, bedarf es radikaler Reformen. Um sie durchführen zu können, müssen die Ursachen der Krise untersucht werden. Hier kann man sich auf die Bestandsaufnahme durch Saslawskaja berufen. Vordergründig verbraucht das Verteidigungsressort zu viele Mittel des erwirtschafteten Volkseinkommens. Aber auch die zivile Wirtschaft einschließlich der Landwirtschaft arbeitet ineffektiv. Dazu stehen viele Erscheinungen auf dem Kopf und müssen auf die Füße gestellt werden, z.B. die Schulbildung, das Lohnverhältnis zwischen Arbeitern und Ingenieuren. Was behindert die Entwicklung? Die bürokratische Struktur der Staatsverwaltung einschließlich der KPdSU. Um Haushaltsmittel für die wirtschaftliche Wiederbelebung zu erhalten, müssen also die Ausgaben für die Verteidigung reduziert werden. Das geht nur durch Abrüstung. Das bedeutet eine neue Definition von Sicherheit in Richtung gemeinsam vereinbarter Sicherheit. Dem kommt entgegen, dass sich die Erkenntnis durchsetzt, dass mehr Atomwaffen nicht automatisch mehr Sicherheit bedeuten. Das beinhaltet aber auch Korrekturen des Begriffs „Friedliche Koexistenz“. Er muss auf Kooperation der Systeme, nicht auf Konfrontation und Überwindung des Kapitalismus ausgerichtet werden. Beim Systemvergleich stellt sich außerdem zunehmend die Frage, ob das Selbstverständnis als Großmacht ausschließlich auf dem Besitz von Waffen gegründet sein kann und nicht immer mehr der Grad der Technologie und die Innovationsfähigkeit der Ökonomie in der Zukunft wichtiger werden. Da das bürokratische System im Sozialismus sich als innovationsfeindlich herausgestellt hat, da es jedes individuelle Engagement erdrückt, besteht die Hauptaufgabe darin, die bisherige Rolle der Bürokratie neu zu definieren. Wenn sie aber ihren Einfluss auf die gesamte Lenkung aller Bereiche des Staates verliert, bedeutet das, andererseits individuelles Engagement zu fördern. Das bedingt neue Formen des Eigentums, Verlagerung der Entscheidungen nach unten in Richtung Selbstverwaltung, Einrichtung eines Marktes für Waren und Dienstleistungen, letzten Endes auch für Arbeitskräfte. Das bedeutet aber eine Umstrukturierung des Staates, die nicht ohne gravierende Widerstände der alles beherrschenden Bürokratie einschließlich der Partei ablaufen wird. Am Ende führt dieser Weg aber zur Entmachtung der KPdSU, die ihren Führungsanspruch über die Gesellschaft verspielt hat, und zum Aufbau von ihr unabhängiger staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen. Das aber bedeutet nichts weniger als die Revolution von oben. Gorbatschow formulierte die Ziele später ganz deutlich: „Letzten Endes kamen wir sowohl in der Theorie als auch im realen Leben zu der Schlussfolgerung, dass die Freiheit, die wir dem Volk und der Gesellschaft geben wollten, einen Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, die Freiheit des Wortes und des Glaubensbekenntnisses, die Anerkennung von Andersdenkenden, ein Mehrparteiensystem, wirkliche Wahlen zu den Machtorganen, eine Vielzahl von Eigentumsformen, Marktverhältnisse und den Verzicht auf einen

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einheitlichen multinationalen Staat bedeutete. Mit einem Wort, wir kamen zu dem Schluss, dass das System gewechselt werden musste.“ 468 Von diesem Ansatz her gilt es zu verfolgen, in welchen Schritten und in welcher Weise Gorbatschows Mannschaft diese Umstrukturierung vornahm. Es versteht sich von selbst, dass für diese Umwandlung die Machtbasis verbreitert und gesichert werden musste. Das bedeutet Erhaltung der Macht als Generalsekretär der Partei und parallel Aufbau einer parteiunabhängigen Staatsstruktur mit einer Machtposition als Staatspräsident. Gorbatschow schrieb später: „Ich habe mich bemüht, alles zu tun, damit die KPdSU nicht in die Hände destruktiver Kräfte fiel. Deshalb habe ich auch nicht den Posten des Generalsekretärs verlassen.“ 469 Wesentliche Elemente des Umbaus sind also: 1. Einrichtung von Marktmechanismen mit Wirtschaftssubjekten, die individuelle Entscheidungsmöglichkeiten haben, 2. Umbau des Staates in Richtung Selbstverwaltung, d.h. Verlagerung der Entscheidungsbefugnis auf die unteren Ebenen, 3. Demokratisierung, d.h. direkte Beteiligung der Bürger an politischen Entscheidungen, 4. Herstellung von Rechtssicherheit und der Herrschaft des Rechts gegenüber parteilicher Willkür, 5. Neue internationale Politik auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker und des Völkerrechts. Grundlage für den radikalen Ansatz war die Erkenntnis, dass alle bisherigen Reformversuche an der Parteiherrschaft gescheitert waren. Um Russland aus der Sackgasse herauszuführen, waren also revolutionäre Veränderungen nötig. Herrschaft des Rechts bedeutete aber auch Abschied von der Breschnew-Doktrin der eingeschränkten Souveränität sozialistischer Staaten, d.h. Aufgabe des Warschauer Paktes, Preisgabe der DDR. Anstelle der Konfrontation gegenüber den USA Kooperation mit der Möglichkeit der gemeinsamen Lösung der aktuellen internationalen Probleme, d.h. Weltinnenpolitik auf der Grundlage einer „Neuen Weltordnung“. Im „Blick zurück“ schreibt Gorbatschow: „Vor dem Atomtod sind alle gleich. Diese Einsicht befreite uns von den ideologischen Scheuklappen, ließ uns die Welt mit neuen Augen sehen und die riesigen Veränderungen erkennen, die seit dem Bruch im Jahre 1917 und nach der Tragödie des Zweiten Weltkrieges entstanden waren. Ein Ergebnis dessen war die Ausarbeitung einer Konzeption einer ganzheitlichen und interdependenten Welt mit der Priorität allgemeinmenschlicher Werte als Voraussetzung für eine neue Zivilisation, an deren Schwelle die Weltgeschichte zu Beginn des dritten Jahrtausends christlicher Zeitrechnung steht.“ Und: „Der Plan bestand genau genommen darin, dem totalitären Monster, das man bei uns Administratives Kommandosystem nannte, das Rückgrat zu brechen.“ 470 Das bestätigt Gorbatschow auch in seinen persönlichen Erinnerungen „Alles zu seiner Zeit“ von 2012, in denen er das Wesen der Perestrojka

Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 321. Gorbatschow, Michail S., Gipfelgespräche. Geheime Protokolle aus meiner Amtszeit. Berlin 1993, S. 20f. 470 Ostrovskij, Glupost‘ ili izmena, S. 663. 468 469

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in der Überwindung des totalitären Systems, im Übergang zu Freiheit und Demokratie bezeichnet. „Das totalitäre System und die an seinen Übeln krankende Gesellschaft, eben das wollte die Perestrojka überwinden. Das ist der Schlüssel zum Verständnis der Intentionen der Perestrojka.“ Und er glaubte an den mündigen Bürger: „Der Glaube daran, wenn die Sowjetmenschen die Freiheit bekämen, würden sie Kreativität und konstruktive Energie entfalten, die unabdingbare Voraussetzung für Reformvorhaben.“ 471 Das bestätigt auch Schachnasarow: „Zweifellos besaß Gorbatschow ein ausgereiftes Programm. Er blieb ihm bis zum Ende seiner Regierungszeit treu; es lautete: Durchsetzung der Demokratie in allen Bereichen.“ 472 Das Ziel der Perestrojka-Mannschaft war also klar: Befreiung der UdSSR vom System der bürokratischen Herrschaft einschließlich der KPdSU. Andererseits weist Jakowlew die Frage nach einem „Plan“ von sich: „Einen Plan im Sinne dieses Begriffs hätte es gar nicht geben können. Wer hätte in jener Zeit einen grundlegenden Reformationsplan des gesellschaftlichen Systems verabschieden können? Einen Plan, der das Monopol der Macht, der Ideologie und des Eigentums einschloss? Wer denn? Der Apparat von Staat und Partei? Der KGB? Die Generalität? Nach meiner Ansicht gehören diese Forderungen nach einem vorausschauenden Plan zur gewöhnlichen Tradition der sowjetischen Denkweise. Wie hätte man denn das Leben von Millionen Menschen und die Abschaffung veralteter ökonomischer, politischer und moralischer Beziehungen im Voraus planen können? Es ging um den Wandel der ganzen Lebensweise und nicht nur um die hygienische Reinigung schmutziger Wäsche.“ 473 Das ist leichter gesagt als getan. Noch war die Verfassung in Kraft, die in Art. 6 die Führungsrolle der KPdSU über den Staat festschrieb. Auch gaben das Parteiprogramm von 1961 und die Parteitagsbeschlüsse den Handlungsrahmen vor. Notwendig war also, neue Beschlüsse der Partei in Politbüro und Zentralkomitee herbeizuführen und das Parteiprogramm in Richtung der angestrebten Politik zu verändern, um innerhalb des Systems den rechtlichen Rahmen für eine neue Politik zu erhalten. Zugleich musste diese Politik im vorhandenen ideologischen und sprachlichen Rahmen definiert werden. Das Problem bestand also in der Veränderung bei Kontinuität der Begriffe, bis die Parallelstrukturen soweit aufgebaut waren, dass eine neue, demokratische Legitimität die alte, auf der Herrschaft der KPdSU aufbauende, obsolet machte. Das bedeutete nichts anderes, als den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Das Problem, dass die Sprache der Partei beibehalten werden musste, führte im Verlaufe der Perestrojka dazu, dass viele Beobachter Gorbatschow Taktiererei vorwarfen, nur Schönheitskorrekturen bei alten Tatbeständen ausmachten und am Schluss nicht erklären konnten, dass die Herrschaft der KPdSU gebrochen und Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 358. Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 177. 473 Jakowlew, Abgründe, S. 454. 471 472

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demokratische Strukturen aufgebaut waren. Diesen Beobachtern blieb ironischerweise nur das Urteil, Gorbatschow als gescheitert anzusehen. Deutliche Hinweise auf die Taktik gibt Jakowlew. Er verweist auf Ansätze von Fundamentalkritik schon in der Chruschtschow-Zeit, als er nach dem XX. Parteitag im Kreis unserer engsten Freunde und Gesinnungsgenossen häufig die Probleme der Demokratisierung des Landes und der Gesellschaft erörterte. Damals kamen sie zum Ergebnis, „die Methode zur Verbreitung der ‘Ideen‘ des späten Lenin, das heißt den Einsatz des Schmiedehammers“, zu übernehmen. Was das bedeutet, beschreibt er auch: „Es galt, das Phänomen des Bolschewismus klar, präzise und deutlich zu definieren und es vom Marxismus des vorangegangenen Jahrhunderts abzutrennen. Deshalb sprachen wir unermüdlich von der ‚Genialität‘ des späten Lenin, von der Notwendigkeit, zum Leninschen ‚Plan des Sozialismusaufbaus‘ durch Kooperation, durch Staatskapitalismus usw. zurückzukehren. Eine Gruppe aufrichtiger Reformer entwickelte folgenden Plan (natürlich nur mündlich): Man müsse mit Lenins Autorität auf Stalin und den Stalinismus einschlagen. Danach könne man im Erfolgsfall mit Plechanow 474 und der Sozialdemokratie auf Lenin und schließlich mit dem Liberalismus sowie dem ‚moralischen Sozialismus‘ auf die allgemeine revolutionäre Bewegung einwirken. 475 Eine neue Phase der Entlarvung des ‚Stalinschen Persönlichkeitskults‘ begann. Aber statt wie Chruschtschow einen emotionalen Appell vorzubringen, ließen wir keinen Zweifel an dem eigentlichen Sachverhalt: Nicht nur Stalin, sondern auch das System selbst sei kriminell.“ 476 Die Frage stellte sich also nach der Methode. Und das ist der Schlüssel zur Interpretation der Perestrojka. Schewardnadse und Jakowlew geben dabei interessante Hinweise. Ein direkt geführter Kampf gegen den Bolschewismus, schreibt Jakowlew, wäre in jenen Jahren zum Scheitern verurteilt gewesen. Frontale Attacken hätten zwar ethisch integer und edelmütig ausgesehen, aber letzten Endes wären sie eher emotional als rational, in gewisser Weise sogar egoistisch beurteilt worden – sie strebten nach dem Nimbus der Verfolgten und wollten sich damit ewigen Ruhm verschaffen. 477 Und er kommt auf den Punkt: „Die Lage diktierte die List. Man musste etwas verschweigen und sich verstellen, aber dabei die Ziele anpeilen und erreichen, die im ‚offenen Kampf’ eher mit Haft oder Gefängnis oder Lager, ja mit Tod, ewigem Ruhm und ewiger Verwünschung geendet hätten. Der moralische Konflikt ist offensichtlich – doch so war nun einmal die Lage. Irgendwer musste bereit sein, durchs Feuer zu gehen, sich mit Jauche zu waschen. Ohne diese Bereitschaft kommen Reformer in Russland nicht durch. Nach meiner Überzeugung war dies der einzige Weg, mittels einer totalitären Partei den Totalitarismus evolutionär zu zerbrechen, die Prinzipien des Zentralismus und der Disziplin auszunutzen, sich aber zugleich auf den mit Protest geladenen, reformatorischen Plechanow, Georgij Valentinovitsch, 1856 - 1918. Gilt als „Vater des russischen Marxismus“. Dieses Zitat bringt auch A. V. Ostrovskij, Glubost‘ ili izmena, S. 664. 476 Jakowlew, Alexander, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts. In: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2. Das schwere Erbe der Ideologie. München, Zürich 2004, S. 195. 477 Jakowlew, Abgründe, S. 41. 474 475

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Flügel zu stützen. Nur so sah ich die historische Möglichkeit, Russland aus der Sackgasse herauszuführen. Ein Paradoxon? Vielleicht.“ 478 Und er ergänzt: „Im Rückblick kann ich voller Stolz sagen, dass die raffinierte, doch äußerst einfache Taktik – der Einsatz der Mechanismen des Totalitarismus gegen das System des Totalitarismus – wirksam war. Eine andere Methode des politischen Kampfes stand uns nicht zur Verfügung, denn der Bolschewismus wies jegliche demokratische Reform und jegliches Dissidententum schroff zurück. Folglich waren meine Schriften und Reden von 1987 und 1988 und Anfang 1989 mit Zitaten von Marx‘ und Lenins Werken gespickt. Zum Glück kann man bei Lenin alle möglichen einander ausschließenden Stellungnahmen finden – und das praktisch zu jeder wichtigen Frage.“ 479 Im Nachhinein bestätigt er diese Taktik: „Wenn heutige Analytiker über die Perestrojka schreiben – gleichgültig, ob sie die Bewegung unterstützen oder kritisieren-, lassen sie den Kern des Phänomens zumeist außer Acht, nämlich die Tatsache, dass der neue politische Kurs einen historischen Umschwung von der Revolution zur Evolution darstellte, das heißt einen Übergang zum Sozialreformismus. Das ganze Land begab sich auf den Weg der sozialdemokratischen Entwicklung. Dies wurde zu Beginn der Perestrojka von der Partei hartnäckig bestritten, also auch von mir (anders hätte es nicht sein können), doch letztlich triumphierte die Politik des Reformismus.“ 480 Und Schewardnadse schreibt, nachdem er der Systeminterpretation von Václav Havel gefolgt war, falls irgendein einzelner einen gewissen individuellen Willen habe, müsse er ihn lange hinter der rituell anonymen Maske verstecken, um überhaupt in der Machthierarchie eine Chance zu haben. 481 Über Václav Havel schreibt Stefan Auer: „Er hat die Heuchelei erlebt, die das Alltagsleben der Bürger nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69 in der ‚normalisierten‘ Tschechoslowakei bestimmte, und war darum überzeugt, dass die Wahrung moralischer Integrität die Pflicht jedes Einzelnen sei…Besser als die meisten seiner Zeitgenossen hat Havel begriffen, dass Handeln, das allein auf moralischen Prinzipien gegründet ist, nicht immer das gewünschte Ergebnis zeitigt.“ Zum Wirken der Charta 77 in der kommunistischen Tschechoslowakei schrieb er: „Leben in der Wahrheit als Aufstand der Humanität gegen eine erzwungene Lage ist…ein Versuch, die Kontrolle über das eigene Gefühl der Verantwortlichkeit zurückzugewinnen. In anderen Worten, es ist eindeutig moralisches Handeln, nicht nur, weil man so teuer dafür zu zahlen hat, sondern vor allem, weil es kein Selbstzweck ist: Das Risiko kann in Form einer allgemeinen Verbesserung der Lage ebenso belohnt werden,

Jakowlew, Abgründe, S. 41f. Jakowlew, Alexander, Der Bolschewismus, die Gesellschaftskrankheit des 20. Jahrhunderts, S. 198. 480 Jakowlew, Alexander, Der Bolschewismus, S. 199. 481 Schewardnadse, Die Zukunft, S. 343. Siehe Anm. 35. 478 479

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wie der Lohn auch ausbleiben kann.“ 482 Afanasjew nennt das „Spiel mit transparenten Masken“. 483 Klaus Segbers hatte diese Entwicklung schon früh antizipiert, als er schrieb, wahrscheinlich werde das ‚Projekt Perestrojka“ nur gelingen können, wenn die Reformpolitiker zumindest für eine gewisse Zeit faktisch eine Strategie der Gesellschaftsspaltung verfolgten. Bestimmte gesellschaftliche Teilgruppen könnten vielleicht mit materiellen und immateriellen Anreizen an die neue Politik gebunden werden, während man andere zunächst vernachlässigte oder zu neutralisieren suchte. Darin sieht er den Preis, der zu zahlen sei, wenn die ökonomischen Reformen des maßgebenden Reformlagers gelingen sollen. Auch die Richtung der Reformen erkennt er: „Die in letzter Zeit ausführliche Rezeption und Diskussion sozialdemokratischen Gedankengutes und westlich-reformistischer Konzepte, aber auch das aufkommende Interesse für den ‚Thatcherismus‘ in Großbritannien und die Wirtschaftsstrategien der ‚vier kleinen Tiger‘ (Hongkong, Singapur, Südkorea, Taiwan) in Asien zeigen, welche Politstrategien einigen Steuerleuten des Reformprojekts und vor allem manchen ihrer wissenschaftlichen Berater interessant scheinen.“ Segbers verweist aber auch auf den epochalen Charakter der Veränderungen, auf das prinzipiell Neue dieses Wandels. Denn erstmals seit sechzig Jahren sei eine historische Situation gegeben, in der grundsätzliche Fragen überhaupt gestellt werden könnten, „d. h. in der es nicht mehr allein um marginalen Dissens, sogar nicht nur um die objektive Notwendigkeit von weitreichenden Veränderungen oder um den politischen Willen dazu geht, sondern in der tatsächlich die Ebene der praktischen Realisierung eines Systemwandels erreicht ist.“ 484

3.1 Der XXVII. Parteitag der KPdSU „Die Perestrojka begann von oben“, schreibt Gorbatschow in seinen Erinnerungen, „und anders konnte es unter den Bedingungen des Totalitarismus auch nicht sein. Doch lehrten die Erfahrungen der Vergangenheit: Wenn die Impulse zu Reformen von den Massen nicht aufgegriffen werden, sind sie zum Scheitern verurteilt. Es galt also, die Gesellschaft möglichst rasch aus der Lethargie, der Gleichgültigkeit herauszuführen und in den Prozess der Veränderungen einzubeziehen. Denn hier, so wusste ich, würde über den Erfolg der angestrebten ‚Umgestaltung‘ entschieden werden.“ 485 Liest man mit diesem Hinweis Gorbatschows Rede am 11. März 1985 vor dem ZK-Plenum, das ihn gerade zum Generalsekretär gewählt hatte, so fallen in der Tat einige Sätze auf, die das kommende Programm andeuten. Auer, Stefan, Das Schicksal des Sisyphos. Václav Havels Vermächtnis. In: Osteuropa 1/2012, S. 21f. 483 Afanassjew, Russland – Despotie oder Demokratie, S. 92f. 484 Segbers, Klaus, Der sowjetische Systemwandel. Frankfurt am Main 1989, S. 339f. 485 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 271. 482

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Wie schon in seiner Rede im Dezember 1984 schiebt er in einen traditionellen, orthodoxen Zusammenhang neue, revolutionäre Begriffe ein und deutet alte um. So sagt er zwar, und das ist obligatorische Rhetorik, die auf dem XXVI. Parteitag und den folgenden Plenartagungen des Zentralkomitees ausgearbeitete Linie war und bleibe unverändert, deutet sie aber gleich um als „die Linie zur Beschleunigung der ökonomischen und sozialen Entwicklung des Landes, zur Vervollkommnung aller Seiten des Lebens der Gesellschaft. Es geht um die Umgestaltung der materiell-technischen Basis der Produktion. Es geht um die Vervollkommnung des Systems der gesellschaftlichen Beziehungen, vor allem der ökonomischen.“ Es erscheinen schon die Schlüsselbegriffe „Umgestaltung“, „Vervollkommnung“. Weiter: „Wir müssen eine entscheidende Wende in der Überleitung der Volkswirtschaft auf den intensiven Entwicklungsweg erreichen…Um diese Aufgabe erfolgreicher und schneller zu lösen, müssen wir auch künftig den Wirtschaftsmechanismus und das gesamte Leitungssystem beharrlich vervollkommnen. Auf diesem Weg und bei der Wahl der optimalen Entscheidungen müssen wir die grundlegenden Prinzipien der sozialistischen Wirtschaftsführung schöpferisch anwenden. Das bedeutet, die planmäßige Entwicklung der Wirtschaft unbeirrt durchzuführen, das sozialistische Eigentum zu stärken, die Rechte der Betriebe zu erweitern und ihre Selbständigkeit zu erhöhen sowie ihre Interessiertheit an den Endergebnissen der Arbeit zu verstärken. Das bedeutet im Endeffekt, die gesamte wirtschaftliche Entwicklung den Interessen der sowjetischen Menschen unterzuordnen. „Wieder koppelt er die „Planmäßigkeit“ mit dem Gegenbegriff der „Interessiertheit“. Dann wird er deutlicher: „Die Partei betrachtet die weitere Vervollkommnung und Entwicklung der Demokratie, des gesamten System der sozialistischen Selbstbestimmung des Volkes als eine Schlüsselaufgabe ihrer Innenpolitik…Es ist vorgesehen, die Rolle der Sowjets zu erhöhen, die Gewerkschaften, den Komsomol, die Volkskontrolle und die Arbeitskollektive zu aktivieren…Die Vertiefung der sozialistischen Demokratie ist untrennbar mit einer Hebung des gesellschaftlichen Bewusstseins verbunden.“ 486 Gorbatschow spricht also in seiner ersten Rede als Generalsekretär genau die Richtung an, in die seine künftige Arbeit gehen soll: Umgestaltung der ökonomischen Grundlagen der Produktion, Vervollkommnung des Wirtschaftsmechanismus und des Leitungssystems, die Rechte der Betriebe erweitern, Anreize für die Betriebe schaffen, dazu Entwicklung der Demokratie, der Selbstbestimmung des Volkes (natürlich der „sozialistischen“, etwas anderes kann er nicht sagen), dazu Aufwertung der Sowjets. Das heißt ganz klar: Verlagerung der Entscheidungen auf die unteren Ebenen. Einen Monat später (am 23. April) wird er im Zentralkomitee noch deutlicher. Jetzt heißt es, wir wollen die Rechte der Betriebe ausbauen, eine echte wirtschaftliche Rechnungsführung durchsetzen und auf dieser Grundlage die Verantwortlichkeit wie auch die Interessiertheit sowohl des Kollektivs als Ganzes als auch Gorbatschow, Rede auf dem Außerordentlichen Plenum des ZK der KPdSU, 11. März 1985. In: Michail Gorbatschow, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 2, S. 143ff. 486

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jedes Beschäftigten am Endergebnis der Arbeit erhöhen. Und direkt gegen das überkommene Plansystem: „Es geht nicht, dass die zentralen Stellen die Entscheidung jeder beliebigen Frage an sich ziehen. Das Niveau unserer Wirtschaftskader lässt es durchaus zu, dass viele Probleme an Ort und Stelle entschieden werden. Wir müssen sie nur von den Fesseln schlechter und überflüssiger Instruktionen befreien, die Berichterstattung entschieden einschränken, den Papierkrieg abschaffen, was gleichzeitig die Einschränkung des Verwaltungsapparates fördern wird. Das trifft sowohl auf die Ministerien als auch auf die Unionsproduktionsvereinigungen zu.“ 487 Auf welche Weise Gorbatschow argumentiert, wird aus einem Satz wahrer Dialektik deutlich: „Wir bekräftigen heute erneut die Kontinuität des vom XXVI. Parteitag und den nachfolgenden Plenartagungen des Zentralkomitees festgelegten strategischen Kurses. Kontinuität im Leninschen Sinne bedeutet stetiges Voranschreiten, Erkennen und Lösen neuer Probleme und Überwinden all dessen, was unsere Entwicklung hemmt.“ 488 Und: „Wir brauchen revolutionäre Veränderungen – den Übergang zu grundsätzlich neuen technologischen Systemen, zu modernster Technik, die höchste Effektivität sichern (S. 175). Welche Frage wir auch behandeln, unter welchem Aspekt wir die Wirtschaft auch betrachten, letzten Endes läuft alles darauf hinaus, dass die Leitung, der Wirtschaftsmechanismus insgesamt ernsthaft zu verbessern sind (S. 176). Inzwischen sehen wir in Bezug auf die Konzeption der Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus klarer. Der Zentralismus bei der Lösung der strategischen Aufgaben muss weiterentwickelt werden, wobei gleichzeitig der Weg zur Erweiterung der Rechte der Betriebe, ihrer Selbständigkeit kühner zu beschreiten, die wirtschaftliche Rechnungsführung zu festigen und auf dieser Grundlage die Verantwortung und die Interessiertheit der Arbeitskollektive an den Endergebnissen ihrer Arbeit zu erhöhen sind (S. 176).Das heißt, die Dynamik muss von unten kommen. Deshalb betont er, nicht weniger wichtig sei es, die Verantwortung der Republiks- und der örtlichen Organe für die Leitung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Aufbaus und für die Befriedigung der Bedürfnisse der Werktätigen zu erhöhen. Doch dafür müssten natürlich die Rechte der örtlichen Organe auch weiter ausgebaut, ihre Initiative und ihre Interessiertheit an der Entwicklung der Produktion, der Ausnutzung der Ressourcen und der reibungslosen Organisation aller Dienstleistungen für die Bevölkerung gesteigert werden. Auf örtlicher Ebene müsse man also die volle Verantwortung für die Lösung aller in die eigene Kompetenz fallenden Aufgaben übernehmen. 489 Trotz der Vorsicht in der Verwendung der Begriffe ist die Richtung der geplanten Veränderungen zu erkennen. Es geht vorrangig um die Systemveränderung im Bereich der Ökonomie, um die Verlagerung der Entscheidungen nach unten in Gorbatschow, Initiative, Organisiertheit, Effektivität. Rede vom 8. April 1985. In: Michail Gorbatschow, Ausgewählte Reden und Aufsätze, Band 2, S. 157f. 488 Gorbatschow, Zur Einberufung, S. 171. 489 Gorbatschow, Zur Einberufung, S. 177. 487

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Richtung Selbstverwaltung und um die Aufwertung der Persönlichkeit. Im Februar 1986 sollte der XXVII. Parteitag stattfinden. Es musste gelingen, die neue Richtung hier festschreiben und beschließen zu lassen, denn die Beschlüsse der Parteitage hatten Gesetzescharakter. Viel Zeit für die Neuformulierung des Parteiprogramms bis zum Februar 1986 blieb aber nicht. Wenn die Sowjetunion aus der wirtschaftlichen Krise herauskommen wollte, musste sie die zivile Wirtschaft auf Kosten des militärischen Anteils stärken. Sie war also auf Abbau der Konfrontation mit den USA ebenso angewiesen wie um Rückbau ihres außenpolitischen militärischen Engagements, vor allem in Afghanistan. Das bedeutete aber eine Abkehr von der unter Breschnew formulierten Strategie des „Kräfteverhältnisses in der Welt“ wie die Neudefinition der „Friedlichen Koexistenz von Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“. Nun war der Begriff „Friedliche Koexistenz“ selbst der Entwicklung unterworfen. Hatte Lenin ihn 1919 noch als „mirnoe sožitel‘stvo“, d. h. „friedliches Zusammenleben“ definiert aus der Notlage heraus, bei Ausbleiben der Weltrevolution als sozialistischer Staat unter den kapitalistischen überleben zu müssen, formulierte Chruschtschow 1961 den Begriff „mirnoe sosuščestvovanie“, d.h. „friedliche Koexistenz“ aus dem Wunsch heraus, aus der militärischen gegenseitigen Bedrohung gegenüber dem Westen herauszukommen und die Überwindung des Systemantagonismus mit friedlichen Mitteln anzustreben. Breschnew hatte dann den Begriff auf die Beziehungen zu den USA eingeengt, daraus die Parität von UdSSR und USA abgeleitet und die Systemveränderung im Weltmaßstab durch Veränderungen in Richtung Sozialismus bei den Entwicklungsländern (Sozialistische Orientierung der Entwicklungsländer durch Inversion der Revolution) oder durch die gesellschaftlichen Bewegungen in den westlichen entwickelten Gesellschaften zu bewerkstelligen. Das Ergebnis ist bekannt. Nicht nur die ökonomische Basis, vor allem die landwirtschaftliche, der Entwicklungsländer war ruiniert, die Sowjetunion selbst konnte die Kosten ihres Überengagements nicht mehr tragen und fiel ökonomisch und technologisch, das heißt langfristig auch strategisch, hinter die USA zurück. Nun erfolgte wieder eine Neudefinition der „Friedlichen Koexistenz“. Aus der „spezifischen Form des Klassenkampfes“, wie man die unvereinbaren Positionen von Kampf und Frieden unter einen Begriff zu fassen versucht hatte, musste, wie Schewardnadse schreibt, „eine umfassende Formel der zwischenstaatlichen Beziehungen“ werden. 490 Dies sei keineswegs eine scholastische Definition, schreibt er weiter, „jede ‚Form des Klassenkampfes‘ bewirkte zwangsläufig, dass die Welt als ein Feld des permanenten Kampfes von Systemen, Lagern und Blöcken betrachtet wurde und das ‚Feindbild‘ sich der Vorstellungen von Millionen Menschen in allen Teilen der Welt bemächtigte.“ Nun folgt der Durchbruch: „Dieses Feindbild aus der Welt zu schaffen, ist das wichtigste Ziel angesichts einer weltpolitischen Entwicklung, in der die tatsächlichen Feinde der Menschen immer näher rücken und 490

Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 100.

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sie mit dem Untergang bedrohen – der nukleare Krieg, die ökologische Katastrophe, der Zerfall des Weltwirtschaftssystems. Es ist also erforderlich, aus der Mauer von Feindseligkeit und Misstrauen Steine herauszubrechen, damit die Welt durch die entstandene Öffnung Orientierungspunkte sehen kann, die ihrer wirklich würdig sind.“ 491 Gorbatschows Bericht an den XXVII. Parteitag am 25. Februar 1986, schreibt Schewardnadse, stellte eine kategorische Absage an das System der herrschenden Ideologie dar. Und er nennt die Thesen: 1. Die Schlüsselidee der widersprüchlichen, doch innerlich zusammenhängenden und wechselseitig abhängigen und ihrem eigentlichen Wesen nach also ganzheitlichen Welt. 2. Die These vom menschlichen Leben als höchstem Ziel der gesellschaftlichen Entwicklung, die später zur imperativen Kategorie der Priorität der gesamtmenschlichen Werte entfaltet wurde. 3. Das Prinzip der Freiheit der Wahl, die in einer Welt ohne Waffen und Gewalt realisiert werden kann. 4. Die Gewährleistung von Sicherheit und die Lösung aller strittigen Fragen ausschließlich mit politischen Mitteln, mit anderen Worten – die Priorität einer Stärke der Politik gegenüber einer Politik der Stärke. 4. Die sowohl theoretisch als auch praktisch äußerst wichtige Schlussfolgerung, die Sicherheit sei unteilbar, sie könne in den bilateralen Beziehungen nur gegenseitigen und in den internationalen Beziehungen nur allgemeinen Charakter haben. Eine solche Sicherheit werde aber in der Gegenwart nicht durch ein maximal hohes, sondern durch ein möglichst niedriges Niveau der strategischen Balance garantiert, aus der es die Atom- und alle anderen Massenvernichtungswaffen auszuschließen gelte. 5. Die einfache, äußerlich von jeglichen Untiefen freie, tatsächlich aber den Faktor der Ideologisierung ablehnende These, man müsse sich auf dem internationalen Schauplatz zurückhaltend und in Übereinstimmung mit den Normen zivilisierter Beziehungen verhalten und den Kriterien der menschlichen Moral folgen. 492 Gorbatschow beschreibt, wie kompliziert es war, die Veränderungen in der Rede wie im Parteiprogramm unterzubringen. Nicht von einer Revolution, sondern von einer „Vervollkommnung des Systems“ war die Rede, „denn damals glaubten wir noch an eine solche Möglichkeit.“ 493 Aber auch diese Äußerung Gorbatschows in seinen Memoiren verrät die Rücksicht auf den Vorwurf, er habe die Partei betrogen, denn alle Anzeichen sprechen dafür, dass nicht eine „Vervollkommnung des Systems“ angestrebt wurde, sondern dessen Ablösung. Dafür wurde die zwischen Kapitalismus und Kommunismus fungierende Übergangsperiode des Sozialismus zur eigenen Gesellschaftsformation erklärt, damit auf unbestimmte Zeit ausgedehnt, d. h. der Anspruch aufgegeben, den Kapitalismus in absehbarer Zeit überwinden zu wollen, wie das bis dahin im Parteiprogramm gestanden hatte. Hatte Chruschtschow noch 1961 propagiert, den Kapitalismus bis zum Jahr 1984 nicht nur eingeholt, sondern überholt zu haben, hieß es Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 100. Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 102f. 493 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 283f. 491 492

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nun im Parteiprogramm, das vom XXVII. Parteitag der KPdSU am 1. März 1986 bestätigt wurde: „Das Hinüberwachsen des Sozialismus in den Kommunismus wird von den objektiven Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft bestimmt, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Jegliche Versuche, vorauszueilen und kommunistische Prinzipien einzuführen, ohne den materiellen und geistigen Reifegrad der Gesellschaft zu berücksichtigen, sind, wie die Erfahrungen zeigen, zum Scheitern verurteilt und können Verluste sowohl ökonomischen als auch politischen Charakters zur Folge haben.“ 494 Im neuen Parteiprogramm heißt es nun: „Die Politik der friedlichen Koexistenz, wie sie die KPdSU auffasst, bedeutet: Verzicht auf Krieg, auf Anwendung oder Androhung von Gewalt als Mittel zur Lösung von Streitigkeiten und deren Beilegung auf dem Verhandlungsweg; Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten und Rücksichtnahme auf die legitimen Interessen des anderen; das Recht der Völker, selbst ihr Schicksal zu bestimmen, strikte Achtung der Souveränität, der territorialen Integrität der Staaten und der Unverletzlichkeit ihrer Grenzen; Zusammenarbeit auf der Grundlage der völligen Gleichberechtigung und des gegenseitigen Vorteils; gewissenhafte Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den allgemein anerkannten Prinzipien und Normen des Völkerrechts und aus geschlossenen internationalen Verträgen ergeben. Das sind die fundamentalen Grundlagen, auf denen die Sowjetunion ihre Beziehungen zu den kapitalistischen Staaten gestaltet. Sie sind in der Verfassung der UdSSR verankert. Die KPdSU wird zielstrebig dafür eintreten, dass das Prinzip der friedlichen Koexistenz als allgemein anerkannte und von allen einzuhaltende Norm der zwischenstaatlichen Beziehungen in den internationalen Beziehungen durchgesetzt wird. Sie betrachtet die Übertragung von ideologischen Widersprüchen zwischen beiden Systemen auf die Sphäre dieser Beziehungen als unzulässig.“ 495 Wie groß die Schwierigkeiten der Reformer waren, ihre Ideen in programmatische Formen zu gießen, beschreibt Schewardnadse deutlich: „Wenn ich heute den Politischen Bericht des ZK der KPdSU an den XXVII. Parteitag lese“, schrieb er später, „sehe ich den dramatischen Zustand eines Mannes, der eine kritische Position zwischen alt und neu bezogen hat. Der Weg zu dem Neuen ist ihm bekannt, doch die anderen, die noch in den alten Vorstellungen leben, kennen ihn nicht. Im Mittelalter zog derlei Konstellation ein Autodafé nach sich. Und heute? Muss ein Politiker auf einen keineswegs bildhaft gemeinten Scheiterhaufen hinaufsteigen? Nein, um sich mit seinen neuen Ideen durchzusetzen, muss er mit etwas beginnen, das den anderen zugänglich, vertraut, verständlich ist. Eine neue Idee ist vorerst nichts anderes als eine Summe von Wörtern, solange sie nicht das Bewusstsein der Mehrheit ergreift und damit auch die Motivation des praktischen Handelns bestimmt.“ Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Neufassung. Bestätigt vom XXVII. Parteitag der KPdSU am 1. März 1986. Moskau 1986, S. 30. 495 Programm der Kommunistischen Partei der UdSSR, S. 80. 494

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Er fährt fort, wenn man den Menschen im Laufe von Jahrzehnten einzuschärfen versuchte – was am Ende auch gelang – , die friedliche Koexistenz von Staaten mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung sei eine ‚spezifische Form des Klassenkampfes‘, sei es ungemein schwierig, sofort, binnen eines einzigen Augenblicks, etwas anderes zu erkennen und zu akzeptieren. Wenn man den Menschen die ganze Zeit beizubringen suchte und schließlich auch beigebracht habe, die zwischenstaatlichen und die internationalen Beziehungen seien den Interessen und den Gesetzen des Klassenkampfes untergeordnet, sei es nicht möglich, sich auf Anhieb zur Priorität der gesamtmenschlichen Werte zu bekennen, und wenn jene Priorität auch mit Lenins Werk begründet würde. Und es klingt schon resignierend, wenn er fortfährt: „Wie kann man nach all den Jahren der ideologischen Kampfbereitschaft und angesichts der realen Spaltung der Welt in Systeme und Blöcke die Tatsache anerkennen, dass es, Klassenkampf oder nicht, darauf ankommt, eine zusammenhängende, ganzheitliche Welt herauszubilden, in der die eiserne Notwendigkeit zur Rettung der Menschheit alle Mauern der ideologischen Konfrontation niederreißt?“ 496 Und er fragt fast verzweifelt: „Begriff denn niemand, dass die Ideen des Berichts eine entschlossene Demontage des Systems verhießen?“ Wie schwierig die Bedingungen noch waren, bevor der Parteitag die personelle Konstellation zugunsten von Gorbatschow und seiner Mannschaft verbessert hatte, beschreibt Schewardnadse ebenfalls: „Jemand, der eingeschliffene Postulate umwerfen wolle, setzte immer so manches aufs Spiel, denn die Orthodoxie, die keine Angriffe auf das ‚Allerheiligste‘ verzeihe, verwandele sich automatisch in eine Inquisition, die sich beeile, den ‚Ketzer‘ zu bestrafen. Ein Drama der Ideen berge fast immer die Gefahr einer persönlichen Tragödie ihres Autors und Verbreiters in sich. Je ‚gefährlicher‘ der Gedanke, desto gefährlicher auch seine Verbreitung.“ 497 Dass Gorbatschow der Wind ins Gesicht wehte zeigte sich auch darin, dass es ihm nicht gelang, die Protagonisten der wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung, die Akademiker Abel Aganbegjan und Tatjana Saslawskaja, ins Zentralkomitee der KPdSU wählen zu lassen. Schewardnadses Bemerkungen zeigen, dass Gorbatschow kein Getriebener, sondern ein Mann mit Visionen war, der genau wusste, wohin die Reise gehen sollte, der aber auch die Bedingungen berücksichtigte, um die politischen Entscheidungen geschickt umzusetzen. Um die Bedingungen besser zu verstehen, unter denen die Mannschaft Gorbatschows arbeitete, lohnt es sich, Jakowlews Bericht über die Rede Gorbatschows auf dem XXVII. Parteitag zu lesen: „Nur meine alten Freunde und Mitglieder der Akademie – Leonid Abalkin, Abel Aganbegjan, Georgi Arbatow, Jewgeni Welichow und Jewgeni Primakow – verhielten sich würdig und bereiteten diese oder jene Materialien gerne

Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 101f.; Politischer Bericht des Zentralkomitees der KPdSU an den XXVII. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Rede des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Michail Gorbatschow. In: Neues Deutschland 26. Februar 1986, S. 3-12. 497 Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 98f. 496

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vor. Sie alle plädierten für konkrete Reformen und taten dies überzeugend. Übrigens hörte sie Gorbatschow zu dieser Zeit aufmerksam an. Der Anfang des Referates (von Gorbatschow – W. G.) lautete dann folgendermaßen: Der Weg, den das Land zurückgelegt hat, seine ökonomischen, sozialen und kulturellen Errungenschaften bekräftigen auf überzeugende Weise die Lebendigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre und des kolossalen Potentials, das im Sozialismus angelegt ist und den Fortschritt der sowjetischen Gesellschaft verkörpert. Zu Recht können wir auf all das in diesen Jahren Erreichte stolz sein – es waren Jahre der angestrengten Arbeit und des Kampfes (Beifall). Applaus! Applaus! Beifallsstürme für politisches Geplapper. Jedes Mal, wenn der Ruf zum Ruhm der Partei und des Sozialismus erscholl, ertönte der einträchtige Beifall von fünftausend Menschen, sprich zehntausend Händen. Das Referat war gespickt mit Banalitäten, die das Wesen der Sache ersetzten. In demselben Referat gab es aber auch scharfe Sätze über Trägheit, Verknöcherung der Formen und Methoden der Verwaltung, über den wachsenden Bürokratismus, Dogmatismus und die Scholastik. Das Vokabular war das alte, doch der Kontext, in dem es ausgesprochen wurde, war schon ein anderer, vitaler und unruhiger, ich würde sagen, alarmierender. Es ertönten die Klischees über den Imperialismus und den Grundinhalt der Epoche – also den gesetzmäßigen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus und Kommunismus, sowie die allgemeine Krise des Kapitalismus. Diese Begriffswelt war nicht nur der Tribut an die parteiliche Trägheit, sondern sie wurde gebraucht, um den Schlüsselsatz dieses Parteitags zu maskieren, nämlich: ‚Schwer, gewissermaßen wie durch ein Abtasten, fügt sich die widerspruchsvolle, aber voneinander abhängige, in vielem ganzheitliche Welt zusammen.‘ Wenn ich über die List jener Zeit als einer Verhaltensform der Perestrojka-Gestalter schreibe, dann denke ich an Kunstgriffe wie jenen, den ich soeben vorführte. Man schluckte die süße Rhetorik mit Genuss, aber die Bedeutung der Worte über die voneinander abhängige, in vielem ganzheitliche Welt drang nicht sogleich ins Bewusstsein ein. Aber gerade dies hatte eine prinzipielle Bedeutung und markierte ein radikales Abrücken vom Marxismus und dessen Fixierung auf Klassenkampf und Weltrevolution. Es wurde in Zweifel gezogen, dass der Kampf der beiden Systeme etwas Zwangsläufiges darstelle. Praktisch war dies ein erstes Signal für die unvermeidliche Globalisierung der grundlegenden Weltprozesse, abgegeben auf der höchsten politischen Ebene.“ 498 Schewardnadse setzte genau diesen Ansatz um und vertiefte die Diskussion um die Friedliche Koexistenz bei einer Konferenz im Außenministerium, auf der er den Begriff in Zusammenhang mit den Realitäten des Nuklearzeitalters setzte. Denn eine Koexistenz, die sich auf Prinzipien gründe wie Nichtangriff, Achtung der Souveränität, nationale Unabhängigkeit, Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, sei mit Klassenkampfparolen unvereinbar. Eine unlogische Symbiose von Koexistenz und Klassenkampf führe in eine Sackgasse. Das Eingliedern der Beziehungen zwischen den Staaten in das Ideen-Konstrukt namens ‚Klassen498

Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts, S. 518f.

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kampf‘ errichte unüberwindbare Hindernisse auf dem Weg gegenseitig vorteilhafter Zusammenarbeit der Staaten mit unterschiedlicher gesellschaftspolitischer Ordnung. Dasselbe gelte auch von der These über den Widerstreit der beiden Systeme als Charakteristikum der gegenwärtigen Epoche. „Wenn die Menschheit heute nur unter Bedingungen der friedlichen Koexistenz zu überleben imstande ist (zweifelsfrei ist sie außerstande, die eigene Zukunft unter Bedingungen einer permanenten Konfrontation zu sichern), dann drängt sich von selbst die Schlussfolgerung auf, dass der Widerstreit der beiden Systeme gerade nicht als führende Tendenz der gegenwärtigen Epoche betrachtet werden kann.“ 499 Auf der Tagesordnung der Geschichte stehe jetzt vielmehr die sich verstärkende Tendenz der Zusammenarbeit aller Staaten der Weltgemeinschaft, ins Leben gerufen durch die Realität offenkundiger gegenseitiger Abhängigkeit. „Alles, was wir erreicht haben“, sagte er, „eine neue Qualität der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, ein die Konfrontation verdrängender Dialog, die Absage an Methoden der Gewalt und Konfrontation, die Hinwendung zu politischen Lösungen internationaler Probleme, resultiert aus der praktischen Orientierung auf diese Schlussfolgerungen.“ 500 Die Gorbatschowsche Mannschaft schrieb aber noch einen wesentlichen Punkt ins neue Parteiprogramm. Er betraf die Verlagerung der Macht vom Staat auf die Bürger, das heißt er ging in Richtung Selbstverwaltung. So lesen wir: „Das Endziel der KPdSU ist der Aufbau des Kommunismus in unserem Land. Der Sozialismus und der Kommunismus sind zwei aufeinanderfolgende Phasen der einheitlichen kommunistischen Formation. Zwischen ihnen gibt es keine scharfe Grenze: die Entwicklung des Sozialismus, die immer umfassendere Erschließung und Nutzung seiner Möglichkeiten und Vorzüge, die Festigung der ihm innewohnenden allgemein kommunistischen Wesenszüge – das ist die wirkliche Bewegung der Gesellschaft zum Kommunismus. Kommunismus ist eine klassenlose Gesellschaftsordnung, in der die Produktionsmittel einheitliches Volkseigentum und sämtliche Mitglieder der Gesellschaft sozial völlig gleich sein werden, in der mit der allseitigen Entwicklung des Individuums auf der Grundlage der ständig fortschreitenden Wissenschaft und Technik auch die Produktivkräfte wachsen und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen werden und wo das große Prinzip herrschen wird: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Der Kommunismus ist eine hochorganisierte Gesellschaft freier arbeitender Menschen von hohem Bewusstsein, in der gesellschaftliche Selbstverwaltung bestehen wird, in der die Arbeit zum Wohl der Gesellschaft zum ersten Lebensbedürfnis für alle, zur bewusst gewordenen Notwendigkeit werden und jeder seine Fähigkeiten mit dem größten Nutzen für das Volk anwenden wird. … Der Kommunismus bedeutet den Übergang vom System der sozialistischen Selbstverwaltung des Volkes, der sozialistischen Demokratie zur höchsten Form der Organisation der Gesellschaft – zur kommunistischen gesellschaftlichen Selbstverwaltung. … Der Kommunismus ist eine Gesellschaftsordnung, in der die 499 500

Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 107f. Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 108.

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freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ 501 Hatte dieser Satz aus dem Kommunistischen Manifest, der in der Stalinschen Verfassung noch in umgekehrter Form gestanden hatte, auch schon Eingang in die Sowjetverfassung von 1977 (Art. 20) gefunden, so wurde er nun ins neue Parteiprogramm aufgenommen. Aber jeder Hinweis auf Selbstverwaltung bedeutete Abbau der Rolle der KPdSU. Allmählich wurde auch die Gesellschaft wach. Schon nach dem Parteitag wurden die Dokumente mit Interesse gelesen und die neuen Formulierungen entdeckt. So schreibt der Journalist L. Batkin erstaunt: „Erst nach dem Januar 1987 kamen die ersten ernsthaften Hoffnungen und seriöse Diskussionen auf. Das Leben wurde zwar nicht leichter, aber unbeschwerter. Es erschienen sensationelle Zeitungsartikel. Diejenigen, die Zeitschriften abonniert hatten, nahmen da etwas aus ihren Briefkästen, was sie vor kurzem nicht mal zu flüstern gewagt hätten. Millionen sowjetische Leser setzten sich gemütlich in einen Sessel, auf die Couch oder auf eine Metrobank und gaben sich vor aller Augen einer Beschäftigung hin, die noch drei Jahre zuvor nach Artikel 190 des Strafgesetzbuches der RSFSR als antisowjetisch qualifiziert worden wäre. Überall fanden Versammlungen statt. Das ganze Leben haben wir bei diesen Versammlungen vor uns hingedöst und die Hände gehoben. Und nun stellte sich heraus, dass so eine Versammlung recht kompliziert sein kann, wenn die Versammelten trotz aller routinierten und erprobten Tricks des lokalen Establishments etwas Reales erreichen wollen, und sei es noch so wenig.“ 502 Es ist bisher klar geworden, in welch bestimmender Weise die Themen der Ökologie und des Club of Rome als Forderung nach internationaler Zusammenarbeit die Positionen von Gorbatschow und seiner Mannschaft bestimmten. Neben der objektiven Notwendigkeit, globale Probleme gemeinsam, das heißt im internationalen Rahmen zu lösen, gaben doch gerade diese Notwendigkeiten auch den Schlüssel zum Herausführen der Sowjetgesellschaft aus dem Prokrustesbett des offiziellen Staatssozialismus sowjetischer Prägung.

3.2 Die Perestrojka Manfred Hildermeier unterteilt in seiner „Geschichte der Sowjetunion“ Gorbatschows Amtszeit in drei Phasen. Die erste sieht er von der Wahl zum Generalsekretär im März 1985 bis Ende 1986. Klar erkennt er reformerische Absichten, erkennt schon in der Rede vom 10. Dezember 1984 den „Schlüsselbegriff“ dieser ersten Reformphase, nämlich eine „wesentliche Beschleunigung des ökonomischen und sozialen Fortschritts zu erreichen“. Nach seiner Wahl aber habe sich Programm der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Neufassung. Moskau 1986, S. 28f. Batkin, Leonid, M., Erneuerung der Geschichte. In: Afanassjew, Juri, Leonid M. Batkin, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Der Kampf für Perestroika: Glasnost/Demokratie/Sozialismus. Moskau 1988, S. 41f. 501 502

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Gorbatschow nun weiter gewagt: „Wer auf Nebentöne achtete“, schreibt Hildermeier, „erkannte aber schon in der zunehmenden Betonung qualitativer Gesichtspunkte, dass er anderes, Neues meinte. Dies wurde vollends klar, als Gorbatschow seine Einsicht in die immanente Verbindung von ökonomischer Reform und Massenpartizipation, offener und politisch brisanter als zuvor, wiederholte. Um das ‚lebendige Schöpfertum‘ des Volkes zu wecken, setzte er die ‚weitere Demokratisierung der Gesellschaft‘ auf die Tagesordnung. Klar benannte er auch den Weg, der sich dafür nach seiner Meinung anbot: Die Sowjets, insbesondere die lokalen und regionalen, waren zu reaktivieren. Zu Recht erinnerte er daran, dass sie von den Revolutionären der ersten Stunde als Instrument einer besseren, unmittelbaren Beteiligung der Massen am politischen Entscheidungsprozess gegründet worden waren“ 503Zwar unterstellt Hildermeier Gorbatschow damit, eine “Revitalisierung des Sozialismus“ anzustreben, andererseits verweist er auf die Machtverhältnisse im Politbüro, im Zentralkomitee und bei den Gebietsparteisekretären. Zwar gelang es Gorbatschow, neue Leute in die Gremien zu bringen in einem Ausmaß, „das in der Geschichte der Sowjetunion seit dem ‚Großen Terror‘ seinesgleichen suchte“, wie Hildermeier schreibt, „aber das bedeutete nicht, dass sich Gorbatschow bereits alle Gegner vom Hals geschafft hatte“. Man überfordert Gorbatschow also, wenn man in dieser Phase zu viel von ihm erwartet. Die Rahmenbedingungen bestimmten die Taktik. Immerhin erhielt er durch den Parteitag und das reformierte Parteiprogramm mehr Rückhalt. Auch war es ihm gelungen, A. N. Jakowlew, W. A. Medwedew und Schewardnadse ins Politbüro zu holen. In ZK-Apparat standen ihm A. S. Tschernjajew und G. Ch. Schachnasarow zur Seite. Ein Ereignis aber von welthistorischer Bedeutung beschleunigte den Reformprozess. In der Nacht von Freitag, dem 25., auf Sonnabend, den 26. April 1986, um 1.25 Uhr kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zu einer Havarie. Gorbatschow sprach das Problem in der Sitzung des Politbüros am 3. Juli 1986 deutlich an: „Seit dreißig Jahren hören wir von Ihnen, Wissenschaftlern, Fachleuten, Ministern, dass hier alles höchst zuverlässig sei. Und Sie rechnen damit, dass wir zu Ihnen wie zu Göttern aufblicken. Am Ende aber steht ein unvorstellbarer Zusammenbruch. Die Ministerien und die Forschungszentren waren außer Kontrolle, ja im gesamten System hat der Geist der Liebedienerei und Einschmeichelung, des Gruppenunwesens und der Verfolgung Andersdenkender, zusammen mit Imponiergehabe und reinem Eigennutz, sei er persönlich, sei er auf den Clan bezogen, die Führung korrumpiert!“ Er konzediert, dass auch die Geheimhaltungsmaßnahmen der beiden Blöcke, die unter anderem natürlich Fragen der nuklearen Energiewirtschaft betrafen, bei den Vorgängen eine Rolle gespielt haben. Denn „bei uns war so gut wie nichts über die immerhin einhundertundfünfzig weltweiten Störfälle und deren Folgen bekannt“…Aber der Ressortgeist habe sich nicht bloß in der Sache als hinderlich erwiesen, vielmehr habe er auch jenes moralische Prinzip ausgehöhlt, ohne das 503

Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1022.

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Wissen zur Quelle tödlicher Gefahren werden könne. Die Angst, Initiative zu ergreifen, die Furcht vor der Obrigkeit und das Bestreben, sich der Verantwortung zu entziehen, seien mit all dem auf eine bestürzende Weise vermischt gewesen.“ 504 „Tschernobyl wurde zum Menetekel. Es rüttelte die Menschheit wach und zwang sie zu erkennen, in welchem Zeitalter wir leben“, schrieb er. „Es hat uns die Gefahr eines saumseligen und sträflich nachlässigen Verhältnisses zur Natur vor Augen geführt, und es hat die akuten Probleme, auf die die ökologische Bewegung die Aufmerksamkeit zu lenken sucht, in helles Licht gerückt. Zugleich erinnerte man sich an eine Havarie im Kernkraftwerk Tscheljabinsk Ende der fünfziger Jahre und an die Auswirkungen überirdischer Kernexplosionen. Jede Störung wurde im Weiteren publik gemacht.“ Dann kommt er zu den Konsequenzen: „Tschernobyl ließ schlagartig aber auch die eklatanten Mängel unseres Systems hervortreten. Alles kam zusammen, was sich jahrelang angestaut hatte: Vertuschung von außerordentlichen Vorkommnissen, Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn, Schlendrian und weit verbreiteter Alkoholmissbrauch. Nur radikale Reformen konnten noch etwas bewirken.“ 505 Angesichts der personellen Konstellation im Politbüro und im Zentralkomitee erlaubte das Versagen des vorhandenen alten Systems mutige radikale Einschnitte, einen Schritt weiter in Richtung Systemwandel. Der wichtigste Schritt in Richtung Demokratisierung hieß Glasnost. Hildermeier schreibt, damit sei der entscheidende Schritt getan worden, der über die rein ökonomische Reform hinausführte: „Sie markierte das jenseitige Ufer des Rubikon, das den Weg zu einem anderen System eröffnete. Gorbatschows Vorstellungen endeten nicht mehr an der Grenze der bestehenden Ordnung; vielmehr ließ er diese bewusst hinter sich, um mit seiner grundlegenden Einsicht Ernst machen zu können: dass wirtschaftliche Leistung auf Dauer nicht ohne politische Bewegungsfreiheit zu sichern war.“ 506 Damit begann die zweite Phase von Gorbatschows Amtszeit. Sie dauerte von Ende 1986 bis Mitte 1988. Glasnost bedeutete Verzicht auf die Herrschaft der Partei über die Medien, damit über ein entscheidendes Machtmittel. Damit begann der Abbau der Macht der KPdSU über den Staat. Die Presse und das Fernsehen entfalteten eine Vielfalt der Meinungen, von der die Sowjetbürger früher nicht zu träumen gewagt hätten. Gorbatschow steuerte diesen Prozess, in dem er die wichtigen Posten der Chefredakteure von Ogonjok, Kommunist und Prawda neu besetzte. Mit Iwan Timofejewitsch Frolow, dem früheren Chefredakteur der Zeitschrift „Voprosy filosofii“ (Fragen der Philosophie) und korrespondierenden Mitglied der Akademie der Wissenschaften, der Anfang der 70er Jahre die Themen des Club of Rome in der Sowjetunion publiziert hatte, hatte er zunächst einen für moderne Fragestellungen offenen Chefredakteur der Parteizeitschrift, dann sogar der Prawda gefunden. Die „Moskowskie Nowosti“, eine Moskauer Lokalzeitung, Gorbatschow, Erinnerungen, S. 291f. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 294. 506 Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1026. 504 505

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erfuhr nun dank ihrer Unterstützung der Glasnost eine rasante Steigerung ihrer Auflage wie die neu gegründete „Argumenty i fakty“.Diese fand mit einer Auflage von 33 Millionen besonders weite Verbreitung. Persönlich teilte Gorbatschow dem nach Gorki verbannten Sacharow mit, dass er wieder nach Moskau in seine alte Wohnung und Arbeitsstätte in der Akademie zurückkehren könnte, ein wichtiger Akt, symbolisch in der Korrektur der unter Breschnew erfolgten Verbannung des berühmten Physikers ebenso wie in der Botschaft an die kritische Intelligenz, nun aktiv am Umbau des Staates mitzuarbeiten. Als wären Schleusentore geöffnet worden, erschienen nun lange unterdrückte oder in der Schublade ihrer Veröffentlichung harrende Romane, brachten Theaterstücke bis dahin verfemte Zeitgenossen Lenins auf die Bühne, wurden die Archive geöffnet über Stalins Terror, Museen zeigten die zum Teil versteckten Bilder von Kasimir Malewitsch, Michail F. Larionow und Pawel Filonow. Am 2. Februar 1988 wurde Nikolaj Bucharin wieder in den Schoß der Partei aufgenommen. Bis August 1988 wurden 636 Opfer des Stalinschen Terrors rehabilitiert. Die Bruchstücke der Erinnerung wurden in den vergangenen Jahren durch Publizisten und Literaten und nicht durch Wissenschaftler im Kollektivbewusstsein des Volkes wachgehalten. In den letzten zwanzig Jahren lagen in der Schublade: Grossmans ‚Leben und Schicksal‘, 507 Rybakows ‚Kinder des Arbat‘, 508 Beks ‚Ernennung‘, 509 Dudinzews ‚Weiße Gewänder‘ 510 und vieles andere. Mehr als zehn Jahre war Moschajews Buch ‚Männer und Weiber‘ verboten. 511 Diese Aufzählung könnte man unendlich lange fortsetzen. „Und die Historiker? Was hat in ihren Schubladen gelegen?“ Das fragt ein Historiker. 512 Das Jahr 1987 brachte die Perestrojka einen entscheidenden Schritt voran. Die personelle Konstellation im Zentralkomitee war ebenso günstig wie die Aufbruchsstimmung in der Bevölkerung. Mit starkem Rückenwind konnte Gorbatschow nun auf dem April-Plenum und Juni-Plenum des ZK die Weichen für die große Wirtschaftsreform stellen. Eine Arbeitsgruppe, der neben Gorbatschow noch Jakowlew, Sljunkow, Medwedjew und Ryschkow angehörten, dazu die Experten A. Aganbegjan, L. I. Abalkin, A. A. Antschischkin, N. J.Petrakow, S. A. Grossman, Vasilij Semenovič (eig. Iosif Solomonovič), Žizn i sud’ba 1980 (Leben und Schicksal. d. 1987). Grossman hatte den Roman 1950 - 1960 geschrieben. 508 Rybakow, (eig. Aronow), Anatolij Naumowitsch, Deti Arbata 1987 (Die Kinder des Arbat, d. 1988), war 21 Jahre lang verboten. 509 Bek, Aleksandr Alfredowitsch, Novoe naznačenie 1982 (Die Ernennung, d. 1972, überarb. Fassung 1988), 1965 angekündigt, auf Intervention der Witwe verboten, von der Tochter redigiert 1986 Frankfurt/M. 510 Dudincev, Vladimir Dmitrievič, Belye odešdy 1987 (Die weißen Gewänder, d. 1989), 20 Jahre vorher geschrieben. 511 Mošaev, Boris Andreevič, Mušiki I baby (Bauern und Bäuerinnen) 1. Buch 1976, 2. Buch 1987. 512 Afanassjew, Perestroika und historisches Wissen. In: Afanassjew, Juri, Leonid M. Batkin, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Der Kampf der Perestroika: Glasnost/Demokratie/Sozialismus. Moskau 1988, S. 33f. 507

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Sitarjan und W. P. Moschin, tagte in Wolynskoje und bereitete die Reform vor. 513 In „Perestrojka“ schreibt Gorbatschow darüber: „Auch der Problemkreis für die Konzeption der Umgestaltung kristallisierte sich allmählich heraus. Eine Gruppe von Partei- und Staatsfunktionären hatte den Zustand der Wirtschaft schon vor dem April-Plenum in allen Aspekten untersucht. Auf dieser Analyse bauten die Dokumente zur Umgestaltung auf. Wir griffen auf Empfehlungen von Wissenschaftlern und Fachkadern, auf das vorhandene Personal, auf all das Positive zurück, was die Gesellschaftswissenschaften hervorgebracht hatten, fassten die grundlegenden Ideen zusammen und steckten den politischen Kurs ab, den wir anschließend in die Tat umzusetzen begannen.“ „Die Plenartagung, die am 25. Juni 1987 begann, wurde ein Meilenstein der Perestrojka“, schreibt Gorbatschow in „Alles zu seiner Zeit“. Am Anfang stand sein Vortrag „Über die Aufgaben der Partei zur radikalen Umgestaltung der Lenkung und Leitung der Wirtschaft“. Ausgangs- und Angelpunkt des Vortrags war die Demokratisierung, in ihr sah er der Sinn der Perestrojka und das Mittel zur Lösung der brennenden Probleme. Er räumte den Themen Lebensmittel, Wohnraum, Konsumgüter und Dienstleistungen Priorität ein und betonte gleichzeitig, alle lebenswichtigen Probleme könnten nur auf dem Wege einer radikalen Wirtschaftsreform gelöst werden: „Ich drängte besonders darauf, wie die Interessen der Gesellschaft, des Kollektivs und des einzelnen Arbeiters zu vereinbaren und die Möglichkeiten der Kooperation zu nutzen seien. Mit diesen Fragestellungen wollte ich die Teilnehmer des Plenums von der engen Perspektive der Durchführung wegbringen und den Ton zu einer Grundsatzdiskussion vorgeben.“ Als der Parteitag die Linie der Demokratisierung und der ökonomischen Reformen bestätigt hatte, sah Gorbatschow „die Brücke zur nächsten Etappe der Perestrojka geschlagen – ich meine die 19. Parteikonferenz der KPdSU.“ 514 Wieder bestätigt Gorbatschow seine radikalen Absichten der Systemveränderung, die aber, den Umständen entsprechend, nur Schritt für Schritt umzusetzen waren, denn die Administration betrachtete die Ergebnisse als extremes Zugeständnis an die Reformer und „als Aufgabe der letzten Bastion des zentralen Plansystems.“ 515 Im Jahr 1987 zog sich Gorbatschow für drei Monate zurück, um seine Vorstellungen der Umgestaltung, wie es Anatolij Tschernjajew 516 und amerikanische Verleger empfohlen hatten, in einem Buch zusammenzufassen. Das Ergebnis war eine Sensation in vielfacher Hinsicht: Im September 1987 erschien in den Novembernummern des „Spiegel“ der Vorabdruck von Gorbatschows Buch „Perestrojka. Neues Denken für unser Land und die ganze Welt“, das im selben Jahr auch in den USA, in der Bundesrepublik als Übersetzung aus dem Amerikanischen und in der DDR als Übersetzung aus dem Russischen erschien. 517 Das Buch wurde in 160 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 336. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 421f. 515 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 423. 516 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 424. 517 Gorbatschow, M., Perestrojka ist eine Revolution. In. Der Spiegel Nr. 45, 02.11.1987; ders., Perestrojka i novoe myšlenie dlja našej strany i dlja vsego mira. Moskva 1987; ders., Perestrojka. 513 514

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Ländern und 64 Sprachen in einer Gesamtauflage von fünf Millionen Exemplaren verkauft. 518 Schon der methodische Ansatz bedeutet eine Revolution im marxistischen Denken. Denn Gorbatschow stützt sich bei der Interpretation der Russischen Revolution von 1917 auf die französischen Historiker François Furet und Denis Richet. 519 Danach ist eine Revolution kein punktuelles Ereignis. Unterzieht man eine Revolution nämlich einer Langzeitanalyse, so stößt man auf evolutionäre Prozesse und langdauernde Zyklen. W. Bühl hat auf die Übertragbarkeit dieses Denkansatzes hingewiesen. 520 „Die neuere französische Geschichtsschreibung zeigt nämlich auf, so Bühl, dass aus dem historischen Abstand die ‚Große Französische Revolution‘ keine Revolution ‚en bloc‘ sein konnte, sondern sie eine sich über viele politische Generationen hinziehende ‚alternance‘ aufweist, in der sowohl in der Politik wie in der Philosophie immer wieder die Gegensätze von 1789 (Ende des Ancien Régime), 1793 (Revolutionstribunal) und 1799 (Staatsstreich Napoléon Bonapartes) – wenn auch in verlangsamter Form – rekapituliert werden. Der Bruch mit der Monarchie und dem Katholizismus, der eben nicht nur die Legalität und die Integration der alten Ordnung zerstörte, sondern Zweifel an der Integrierbarkeit der Französischen Nation aufkommen ließ, hinterließ eine grundlegende Spaltung zwischen Zentralisierung und Liberalisierung, zwischen ‚rechter‘ und ‚linker‘ Politik, die mit jedem Aufstand (1830, 1848, 1870, 1968) und mit jeder Restauration (1815, 1851, 1877, 1936) oder Kriegsniederlage (1871, 1940) sozusagen erneut umgepolt wurde. 521 Die politische Integration des ländlichen Frankreich in die republikanische Nation hat mindestens hundert Jahre gebraucht, und die Legitimitätserwartungen und die politische Vision der Zukunft wurden zumindest noch bis zur Präsidentschaft des Sozialisten Mitterrand (1981) weitgehend von der Französischen Revolution bestimmt.“ 522 Überträgt man die Frage nach der ‚alternance‘ nun auf die Russische Revolution, so zeigen sich hier, so Bühl, die gleichen Zyklen, da sie ja nicht erst mit der Bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 begann, sondern ihr schon 1905 eine liberalistische und im Februar 1917 eine bürgerliche Revolution vorausgegangen waren und sie auch in der Fortsetzung einer Reihe von Schwankungen (vom Kronstädter Aufstand gegen die Bolschewisten und der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik 1921 bis zur Stalinisierung und Zwangskollektivierung ab 1929, von der Renationalisierung im ‚Großen Vaterländischen Krieg‘ bis zur ‚internationalistischen‘ Revolutionsphase in Osteuropa nach dem II. Weltkrieg, von München 1987; ders., Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt. Berlin 1987. 518 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 424. 519 Furet, F., D. Richet, Die Französische Revolution. Frankfurt a.M. 1978. 520 Bühl, W., Revolution und Systemtransformation. In: Politische Vierteljahresschrift (28), Nr. 2, 1987, S. 162-196. 521 Furet, François, 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft. Berlin 1980, S. 11f. 522 Bühl, Revolution, S. 187.

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der Chruschtschowschen Destalinisierung 1953 bis zur Konsolidierung unter Breschnew) unterworfen blieb, in denen immer wieder der gleiche Grundkonflikt von Zentralisierung, Terror und Kontrollverschärfung einerseits und gesellschaftlicher Integration bzw. Entwicklung andererseits ausgetragen wurde. 523 Das heißt, es dauert gewöhnlich Generationen, bis es vom revolutionären Ausbruch über die Unterdrückung der Gegenkräfte und manche Schwankungen im Machtkampf bzw. in der Etablierung einer eher zentristischen oder eher dezentristischen Politik wieder zu einem tragfähigen Ausgleich und einer breiten Koalition zwischen den vorher gespaltenen Bevölkerungsgruppen kommt. 524 Ziel der Revolution bliebe also das Streben nach gesellschaftlicher Homogenität. Dennoch gelingt erst mit der ideologischen Deeskalation, mit der Stärkung der Kontinuität in der Rekrutierung des Führungspersonals und mit der Zulassung politischer Kompromisse schließlich eine Konsolidierung, die das System stabilisieren und eventuell zum Aufstieg auf eine höhere ‚Verhaltensebene‘ vorbereiten kann. 525 Bei Gorbatschow lesen wir nun: „Und weshalb sprechen wir siebzig Jahre nach der Oktoberrevolution dennoch von einer neuen Revolution?“ Das ist seine Interpretation der Perestrojka. Denn nun zieht er geschichtliche Parallelen. Lenin habe seinerzeit darauf hingewiesen, das in Frankreich, dem Lande der klassischen Revolution von 1789-1794 drei weitere Revolutionen (1830, 1848 und 1871) stattfinden mussten, bis das Werk vollendet war. Gleiches lasse sich von England sagen, wo nach Cromwells Revolution von 1649 die ‚Glorious Revolution‘ von 1688/89 stattfand und dann noch die Reform von 1832 erforderlich war, mit der die neue Klasse, die Bourgeoisie, schließlich endgültig an die Macht gelangte. In Deutschland gab es zwei bürgerlich-demokratische Revolutionen (1848 und 1918) und dazwischen die von Bismarck mit ‚Blut und Eisen‘ durchgesetzten rigorosen Reformen der sechziger Jahre. „Revolutionen, die man, nachdem man die Macht erobert hat, in die Tasche stecken könnte, um sich auf seinen Lorbeeren auszuruhen, hat es in der Geschichte nicht gegeben“, schrieb Lenin. Weshalb also sollte der Sozialismus, der ja noch tiefgreifendere wirtschaftliche, politische, soziale und geistige Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen solle als der Kapitalismus, nicht mehrere revolutionäre Anläufe nehmen, um alle seine Potenzen zur Geltung zu bringen und sich endgültig als neue Formation herauszukristallisieren? Bei Lenin finde sich mehrfach der Gedanke, der Sozialismus werde das Ergebnis vieler Versuche sein. Jeder Versuch werde in gewissem Sinne einseitig sein, jeder werde seine spezifischen Züge aufweisen. Und das gelte für alle Länder. Die Erfahrungen der Geschichte besagten, dass auch die sozialistische Gesellschaft nicht dagegen gefeit ist, dass

Bühl, Revolution, S. 187; Ulam, A., Russia’s Failed Revolutions.London 1981; Malia, M., Comprendre la révolution russe.Paris 1980; Krejči, J., Great Revolutions compared. New York 1983. 524 Krejči, Great Revolutions, S. 214. 525 Bühl, Revolution, S. 185. 523

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Stagnationstendenzen auftreten und sich mehren, dass es sogar zu ernsten politischen und sozialen Krisen kommen könne. Damit man aus einer Krisensituation herauskomme beziehungsweise eine drohende Krise abwenden könne, bedürfe es revolutionärer Maßnahmen. Das Allerwichtigste dabei sei, dass der Sozialismus von seiner Natur her dynamisch und daher revolutionärer Veränderungen fähig sei.“ Nun schlägt Gorbatschow die Brücke zur Gegenwart: „Solch eine Aufgabe hat die Partei im Frühjahr 1985 auf die Tagesordnung gesetzt. Da sich gravierende Probleme angesammelt hatten, immer neue hinzukamen und da man zu lange damit gewartet hatte, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und sie zu lösen, war revolutionäres Handeln geboten, musste die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft verkündet werden.“ Schließlich kann er formulieren: „Die Umgestaltung ist ein revolutionärer Prozess, denn es handelt sich um einen Sprung nach vorn in der Entwicklung des Sozialismus, bei der Durchsetzung seiner Wesensmerkmale. Uns war von Anfang an bewusst, dass wir nicht die Zeit hatten, erst lange Anlauf zu nehmen. Es galt, schnell aus den Startlöchern zu kommen, den Rückstand aufzuholen, sich einen Weg aus dem Sumpf des Konservatismus zu bahnen und über die Stagnation mit ihrer Untätigkeit hinwegzukommen. Auf evolutionärem Wege, mit einer zaghaften, sich hinziehenden Reform war da nichts zu machen … Revolution, wie wir sie verstehen, bedeutet Neugestaltung, aber sie bedeutet natürlich immer auch, dass etwas zu Bruch geht. Schließlich wird die Revolution ja gemacht, um Überholtes, Stagnierendes, alles, was das rasche Vorankommen behindert, aus dem Wege zu räumen. Ohne Abriss kein Gelände für den Neubau. Umgestaltung heißt also auch, dass die Hindernisse für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung, veraltete Regelungen in der Leitung der Wirtschaft und dogmatische Denkklischees entschlossen und gründlich aus dem Wege geräumt werden.“ 526 Und er wird noch deutlicher: „Wenn wir unsere Maßnahmen als revolutionär bezeichnen, dann meinen wir damit, dass sie tiefgreifend, radikal und kompromisslos sind, dass sie sich auf die ganze Gesellschaft von oben bis unten, von der Basis, den Eigentumsverhältnissen, bis zum Überbau, ja auf alle Lebensbereiche, und zwar komplex, als Ganzes, erstrecken. Es geht nicht darum, Flecken auf unserem gesellschaftlichen Organismus zu übertünchen oder die eine oder andere wunde Stelle zuzudecken, sondern der ganze Organismus soll saniert und erneuert werden. Im revolutionären Prozess steht die Politik bekanntlich ganz obenan. Das gilt auch für die Umgestaltung. Priorität haben die politischen Maßnahmen, die Aufgaben der weitreichenden Demokratisierung in der Tat, nicht bloß in Worten, der schonungslose Krieg gegen Bürokratismus und Willkür, die aktive Einbeziehung der Massen in die Leitung des Landes. All das steht in direktem Bezug zur Grundfrage jeder Revolution, zur Frage der Macht…In diesem Sinne können wir unser Programm zur umfassenden Durchsetzung der Demokratie in der sowjetischen

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Gorbatschow, Umgestaltung, S. 58ff.

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Gesellschaft durchaus rundum, grundsätzlich als Programm für Veränderungen im jetzigen politischen System werten.“ 527 Diese Aussagen Gorbatschows sind tatsächlich revolutionär. Damit hebelt er die bisherige Interpretation des offiziellen Marxismus-Leninismus und damit den Herrschaftsanspruch der KPdSU aus. Denn mit der von den französischen Historikern François Furet und Denis Richet übernommenen These vom zyklischen Verlauf und der langen Dauer von Revolutionen (200 Jahre in Frankreich) und ihrer Übertragung auf Russland bricht Gorbatschow nicht nur das Paradigma des ständigen, unaufhaltsamen Fortschritts, ein Rudiment der Aufklärung im Leninismus, sondern lässt auch Rückentwicklungen zu: Auf die Neue Ökonomische Politik Lenins folgte Stalin. Aber noch wichtiger: Die Oktoberrevolution der Bolschewiki von 1917 wird nun eingebettet in die Geschichte der europäischen Revolutionen in England, Frankreich und Deutschland. Damit aber verliert sie ihren eschatologischen, endzeitlichen Charakter. Schließlich wird die KPdSU dadurch aus einer Avantgardepartei zur normalen – historischen – Partei. 528 Damit aber verliert sie auch ihren Führungsanspruch über die Gesellschaft, wird entmachtet. Gorbatschow reintegrierte die Geschichte Russlands damit in den Kontext der europäischen Geschichte. Die Tür für normale, langfristige Beziehungen zum Westen ist aufgestoßen. Selbstkritisch und reumütig waren die sowjetischen Philosophen schon auf Gorbatschows Kurs eingeschwenkt. So schreibt der Direktor des Akademieinstituts für Philosophie, Theodor Oiserman: „Wir sowjetischen Philosophen haben mit der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft nicht Schritt gehalten, nicht gesehen, dass das Leben selbst ein neues Herangehen an die Analyse der Widersprüche des sozialen Fortschritts, an die Erforschung der Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, das Wesen des sozialistischen Eigentums usw. erfordert. Alle diese Fragen schienen uns von den Begründern des Marxismus ein für alle Mal gelöst. Wir haben sie wie elementare Wahrheiten behandelt, die keiner weiteren theoretischen Entwicklung und keinerlei Veränderung unterliegen. Dabei bleiben vom Standpunkt des dialektischen Materialismus alle – sogar die abstraktesten – Kategorien nicht unverändert: Sie erlangen im Verlaufe der historischen Entwicklung einen neuen Inhalt.“ 529

Gorbatschow, Umgestaltung, S. 64. Geierhos, Wolfgang, Die Oktoberrevolution als zyklische Systemtransformation. Methodische Ansätze zur Deutung der Wandlungsprozesse in der Sowjetunion. In: Osteuropa 1988/2, S. 104. 529 Oiserman, Theodor I., Aktuelle Probleme der philosophischen und soziologischen Forschung in der Sowjetunion. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1/1987, S. 6. 527 528

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3.3 Das Thema Stalin „Stalin ist unter uns und lebt in uns. Wir müssen den Stalinismus Tropfen um Tropfen aus uns herauspressen“, schreibt Burlazki. 530 Genau dieses Thema hatte Tengis Abuladse in seinem 1984 fertig gestellten Film „Die Reue“ (Pokajanie) „ans Licht“ gebracht. Jemand grub den toten Diktator aus, kaum dass er wieder begraben worden war. Das heißt: die Beschäftigung mit Stalin war das Kernproblem. Und Abuladse zeigte in erschütternden Szenen, wie die georgischen Frauen am Güterbahnhof die aus Sibirien angelieferten Baumstämme umarmen, an den Schnittstellen die Initialen ihrer Männer suchen, um wenigstens eine Nachricht vom Verbleib ihrer unter Stalin verschleppten Angehörigen zu finden. Der Umgang mit Stalin und der sowjetischen Geschichte unter Stalin lastete wie ein Alb auf der sowjetischen Gesellschaft. Chruschtschow hatte die Tür aufgestoßen, viele Verbannte freigelassen, viele Verurteilte rehabilitiert. Das Tauwetter hatte das Eis des Verdrängens dieser Periode massiv aufgebrochen. Doch unter Breschnew wurden die Aktivitäten in der Beschäftigung mit diesem Thema wieder eingefroren. Mit großen Bauchschmerzen erschien in Band 5 der Philosophischen Enzyklopädie 1970 schließlich der Artikel über Stalin. In ihm wird Lenins Warnung vor Stalin zitiert und die verheerenden Folgen des Personenkultes aufgezeigt. (Siehe oben). Seine Hauptschriften werden zitiert, einige Fehler darin benannt, seine subjektivistische Betrachtungsweise gerügt, andererseits seine Rolle im Kampf gegen den Faschismus hervorgehoben. Der Artikel schließt mit der Besinnung auf die Stärke der KPdSU und die weitere Entwicklung der sozialistischen Demokratie. 531 Das Problem, dem sich Gorbatschows Mannschaft gegenüber sah, war, ob eine als Reform getarnte Revolution von oben in Richtung Demokratie und Selbstverwaltung, Glasnost, d. h. Offenheit der Medien, auch endlich das Thema Stalin angehen musste. Das betraf aber einen entscheidenden Teil der sowjetischen Geschichte. Das Thema glich der Büchse der Pandora, denn es rührte nicht nur an die ungeheuren Verbrechen, die Ermordung von Millionen von Menschen aus Willkür, es betraf auch die Union selbst, indem es die Rechtmäßigkeit des Beitritts der Staaten zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken im Kaukasus, in Mittelasien, insbesondere im Baltikum auf die Tagesordnung setzte. Es betraf das Verhältnis zu den Nachbarn: zu Finnland, zu Polen, zur Tschechoslowakei, zu Jugoslawien. D. h. das Thema betraf die Sowjetunion in ihrer Substanz. War, ähnlich wie nach der Französischen Revolution, die Umdeutung der Geschichte und die Einführung einer neuen Zeitrechnung das Gebot der Stunde wie der historischen Legitimation, war nun Geschichte als Geschichte der Arbeiterbewegung, zumindest der sozialdemokratischen, dann der kommunistischen Parteien Legitimationsgrundlage der Herrschaft der KPdSU. Die Partei erfüllte die Gesetz530 531

Burlazki, Chruschtschow. Ein politisches Porträt, S. 129. Filosofskaja Enciklopedija, 5, Moskva 1970, S. 124f.

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mäßigkeit historischer Prozesse. Und auf der Grundlage der „bürgerlichen Revolutionen“ wurde die Oktoberrevolution als Erfüllung der Geschichte, als Beginn der Endzeit, definiert. Diese Kenntnis der Geschichte war also Herrschaftswissen. Da die späte Breschnew-Zeit als Spätstalinismus empfunden wurde, stellte die Diskussion um die historische Interpretation der Figur Stalins, der Epoche der Stalinzeit und ihrer kriminellen Strukturen und Handlungen auch einen direkten Angriff auf die Partei- und Staatsstruktur der Breschnew-Zeit dar. Dieser Angriff galt aber nicht nur dem Abweichen vom wahren sozialistischen Weg, er galt dem Weg selbst, d.h. den Strukturen, die solche Verletzungen des Rechts und der Menschenwürde erst möglich gemacht hatten. Damit rückte nicht nur Stalin in den Fokus der Untersuchung, sondern auch Lenin, damit die Oktoberrevolution und das ganze sozialistische Experiment. Annelore Engel-Braunschmidt macht darauf aufmerksam, dass die Entstalinisierung lange vor Gorbatschow Thema der russischen Literatur gewesen ist. „Rebellion des Individuums gegen lediglich behauptete Segnungen des Staates, Verteidigung der Wahrheit gegenüber der Lüge und Propaganda ist aller guten Literatur eigen. Sie fasste Wurzeln noch zu Lebzeiten Stalins, hätte anders nicht schon zur Zeit Chruschtschows sich zu solcher Blüte entfalten und die Zeit, die allgemein als Stagnation bezeichnet wird, überleben können.“ 532 Auch sie verweist auf die äsopische Sprache oder eine bestimmte Erzähltechnik, in der die Autoren die sowjetische Realität beschrieben. Sie nennt besonders Jurij Trifonows „Das Haus an der Moskwa“ (Dom na naberežnoj, 1976), in dem die Kinder der Täter auf die Kinder der Opfer stoßen und beide Fragen stellen. „Trifonow weiß, worüber er reden soll“, schreibt sie. „Seine Rückblenden umfassen die gesamte Sowjetzeit und versuchen zu erklären, wo in der Geschichte die zeitgenössischen Intellektuellen nach ihren Wurzeln suchen müssen und wie das Regime unter Stalin eine ganze Generation verkrüppelt hat.“ 533 So schreibt Igor P. Smirnow im Vorwort der von ihm herausgegebenen Memoiren Lichatschows: „Mit der Entlassung aus dem Lager hatte Dmitri Lichatschow einen wissenschaftlichen Artikel über das Denken der Kriminellen verfasst, das er – mit den jüngsten Forschungsergebnissen der Linguistik und Mythographie gewappnet – als ein reliktes, archaisches interpretierte. Schrieb Lichatschow nur über kriminelle Straftäter? – Sein erster Artikel ‚Der Ur-Primitivismus der Gaunersprache und seine Wesenszüge‘, der einer breiten Leserschaft 1935 zugänglich wurde, war m.E. sein geheimer Versuch einer Antwort auf die Revolution.“ 534 Ende 1986 beschloss Gorbatschow, das Thema „Stalin“ anzupacken und forderte den Direktor der Presseagentur Nowosti, Valentin Falin, auf ihm ein Papier zum Problem der Entstalinisierung auszuarbeiten. Denn Falin war ebenfalls der Engel-Braunschmidt, Glasnost‘ – Vollender literarischer Perestrojka, S. 57f. Engel-Braunschmidt, Glasnost‘ – Vollender literarischer Perestrojka, S. 59. 534 Smirnow, Igor P., Der unbehauste Garten. In: Lichatschow, Dmitri S., Hunger und Terror, S. 11. (Čerty pervobytnogo primitivizma vorovskoj reči). 532 533

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Meinung, ohne mit dem Stalinismus abzurechnen werde die Perestrojka keine Zukunft haben. Hier sah er den „Angelpunkt der Reform von Partei und System.“ 535 Die Geschichtswissenschaft als vorurteilsfreie Wissenschaft in der Perestrojka musste sich also auch mit dem internationalen Recht, mit dem Völkerrecht, mit der Menschenrechtsproblematik beschäftigen. Andererseits fanden mit der freien Presse auch großrussische Mythen und antisemitische Positionen Eingang in die öffentliche Diskussion. 536 Selbstkritisch schreibt nun Afanasjew, man komme nicht umhin anzuerkennen, dass die Künstler und Literaten sich am intensivsten für die Notwendigkeit des Wissens um die Vergangenheit ausgesprochen haben und nicht die Wissenschaftler. Und er stellt die Frage: „Warum haben die Historiker solange geschwiegen? Warum sind sie bis heute nicht für die Vertiefung unseres historischen Wissens eingetreten?“ Stalin und Breschnew hätten die Geschichtswissenschaft als Rechtfertigungsideologie missbraucht. Daher rühre auch die ganze Verfälschung unserer Geschichte. Die systematische Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses, das einfach nicht mit dem übereinstimmen konnte, was das Regime im offiziellen Gedächtnis bewahren wollte, erzeugte eine Identitätskrise in der gegenwärtigen Gesellschaft; ist doch das historische Gedächtnis ein äußerst wichtiges, man könnte sagen, das bestimmende Element der gesellschaftlichen Identität. Wir schauen in den Spiegel und erkennen uns nicht. 537 SchmidtHäuer und Huber haben das gut gesehen: „Deshalb sind die Reformer in die Vergangenheit zurückgekehrt, um versäumte Etappen der Modernisierung nachzuholen. Glasnost auch als Rückspiegel: Die Sowjetbürger sollen endlich erfahren, was hinter ihnen liegt, welcher Weg das Land in die Sackgasse geführt hat.“ 538Deshalb fordert Afanasjew: „Will man die Geschichte in eine Wissenschaft verwandeln, muss man sich auch ein für alle Mal von der Anwendung des Schemas des ‚Kurzen Lehrgangs‘ 539 auf die Geschichte unseres Vaterlandes lossagen.“ Stalin hatte die Geschichte gefälscht und seine Rolle beim Oktoberputsch besonders herausgestellt. So konnte man im „Kurzen Lehrgang“ lesen: „Am 16. Oktober (1917 – W.G.) fand eine erweiterte Sitzung des Zentralkomitees der Partei statt. In dieser Sitzung wurde ein Parteizentrum zur Leitung des Aufstands mit Genossen Stalin

Falin, Valentin, Konflikte im Kreml. Der Untergang der Sowjetunion. Berlin 2014, S. 21; Thesen zu einem möglichen Referat, betreffend den Stalinismus, ebenda, S. 218-237. 536 Afanassjew, Juri, Perestroika und historisches Wissen. In: Afanassjew, Juri, Leonid : Batkin, Andrej Sacharow, Ales Adamowitsch, Der Kampf für Perestroika: Glasnost/Demokratie/Sozialismus. Moskau 1988, S. 35. 537 Afanassjew, Perestroika, S. 34. 538 Schmidt-Häuer, Huber, S. 32. 539 Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang. Unter Redaktion einer Kommission des Zentralkomitees der KPdSU (B) gebilligt vom Zentralkomitee der KPdSU (B) 1938. 6. Aufl., Berlin 1951. 535

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an der Spitze gewählt. Dieses Parteizentrum war der leitende Kern des Revolutionären Militärkomitees beim Petrograder Sowjet und leitete praktisch den ganzen Aufstand.“ 540 Im Kern geht es also um die Suche nach der Wahrheit. Deshalb fordert Afanasjew, „sich loszusagen von allen möglichen Ansprüchen auf das Monopol des historischen Wissens, das, wie wir schon bemerkten, ein charakteristischer Zug des Stalinschen ‚Erbes‘ ist.“ Aus diesem Grunde wendet er sich gegen die Ausarbeitung einer neuen offiziellen Geschichte, eines neuen Lehrbuchs zur Geschichte der KPdSU, sondern bevorzugt die „Edition von Problembüchern, die neben einer solchen Fakten- und Informationsgrundlage auch noch eine Vielfalt von Hypothesen, Ideen und Interpretationen anbieten. Unsere Studenten bedürfen keiner Antworten, sie brauchen Fragen. Sie müssen lernen, ihren eigenen Kopf zu gebrauchen, und nicht nur dem Lehrer die Wahrheiten nachzusprechen, die andere aufgestellt haben.“ 541 Und Aleksander Jegorunin kommentiert in der „Literaturnaja Rossija“: „Die Zeit der vorgeschriebenen Wahrheiten ist vorbei. In den Zeiten von Perestroika und Glasnost erfahren wir vieles über uns und unsere Gesellschaft. Doch wir werden noch mehr erfahren müssen. Der Prozess der Selbstbetrachtung hat gerade erst begonnen. Es sind gerade eben die ersten Schritte gemacht, vielleicht die schwierigsten, bisweilen unsicher, wankelmütig, mit einem Seitenblick auf den Ursprung der Bewegung. Wir alle lernen laufen, wir lernen, neu zu denken, neu aufzutreten. Wir sagen uns los von vergangenen Stereotypen, verabschieden uns von alten Dogmen. Dieser Prozess ist schwierig und schmerzhaft.“ Die Streitigkeiten, Zusammenstöße, gegensätzliche Ansichten, die neu aufgetreten sind, nennt er die ‚Kinderkrankheiten‘ der Perestroika. 542 Mit dem Wandel der Interpretation der sowjetischen Geschichte wurden auch die Lehrer konfrontiert. So schrieb Salutzki in der Lehrerzeitung: „Wohl noch nie seit den Zeiten der Oktoberrevolution hat sich das geistige Leben unserer Gesellschaft so stürmisch entwickelt. Es ist schon zum Klischee geworden, von den im Nu aus den Läden verschwindenden Zeitungen und Zeitschriften zu sprechen. Die Menschen lesen, streiten und versuchen das, worüber man noch vor kurzem schwieg, geistig zu verarbeiten.“ Er macht das an der Person Stalins fest: „In diesem wilden Strom von Streitgesprächen steht als große Wasserscheide die düstere und bis heute noch rätselhafte Figur J. W. Stalins. Heute interessiert uns sowohl Stalin als Person als auch seine Epoche, in der sich der Einfluss dieser Person widerspiegelte. Die Urgroßväter unserer heutigen Schüler, die die ‚Ära Stalin‘ am eigenen Leib erlebt haben und sich an Millionen Gequälter und Erschossener erinnern, sprechen davon mit Schmerz und Zorn. Die sechzigjährigen Großväter, die mit dem Namen Stalins in den Kampf gingen, denken schon ein bisschen anders. Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang, S. 257. 541 Afanassjew, Perestroika, S. 35f. 542 Egorunin, Aleksandr, Im Licht des Gewissens. In: Literaturnaja Rossija 01.07.1988. In: Afanassjew u.a., Der Kampf für Perestroika, S. 154f. 540

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Natürlich ist ihnen der Schmerz der Väter bekannt, aber ihnen war so lange eingeredet worden, dass ihre Väter ‚Volksfeinde‘ seien, dass viele selbst an diesen Mythos glaubten, dass sie an die Unfehlbarkeit des großen Führers der Völker glaubten.“ Enttäuscht stellt er fest: „Zum Teil glaubte daran auch die folgende Generation. Ihr Glaube wurde nicht einmal von den Beschlüssen des XX. und XXII. Parteitags erschüttert. Unbeirrt klebt sie Stalinbilder an ihre Autofenster und hängt sie an die Wände ihrer Wohnungen und argumentiert: ‘Grausam war er? Na und? Peter I. war auch grausam, und wie viel hat er für das Land getan! Immerhin herrschte unter Stalin Ordnung. Und die Preise gingen zurück. Und danach – schaut nur einmal in die Schulbücher, was für eine heroische Zeit es war.‘… Mit der heutigen Generation ist es am schwersten. Die Lehrer fassen sich heutzutage nur an den Kopf: da kommt manch ein Schüler mit Fragen, dass dem Lehrer der kalte Schweiß ausbricht. Er, der Lehrer, erinnert sich, dass es eine Zeit gab, zu der man für solche Fragen ein paar Jahre aufgebrummt bekommen konnte.“ 543 Gestwa verweist auf die mentalen Spätfolgen, „die in der Zeit der Perestrojka, dem letzten Stadium des europäischen Staatssozialismus, die Sowjetgesellschaft mit dem ‚Sturz in die Erinnerungspluralität‘ erschütterten.“ Denn im Zuge der ‚revenge of the past‘ meldeten sich Gruppen verstärkt zu Wort, deren bittere Erfahrungen von der offiziellen Geschichtspolitik zum historischen Tabu erklärt worden waren. Getragen von unabhängigen sozialen Bewegungen, wurde die Organisation Memorial ins Leben gerufen, die als lautstarke ‚Demonstration gegen das Vergessen‘ das Gedenken an die zahlreichen Opfer des Stalinismus öffentlich machte. Neue memorative Praktiken breiteten sich aus, die als die ‚Rückkehr des Gedächtnisses‘ gedeutet wurden. Die Opferperspektive konkurrierte mit dem Blick der Sieger. Bei dieser Umwertung der Sowjetgeschichte zum Alptraum erschienen die ‚Großbauten des Kommunismus‘ keineswegs mehr als pompöse technologische Erinnerungstempel, sondern als gigantische Mahnmale einer fehlgeleiteten Moderne und schmerzende Narben der Geschichte.“ 544 Schmidt-Häuer und Huber ziehen eine erste Bestandsaufnahme und Zwischenbilanz, wenn sie feststellen, Glasnost habe zu einer Differenzierung der Diskussion geführt, die fast allen ausländischen Beobachtern noch vor kurzer Frist undenkbar erschien sei. Weil westliche Fachleute und Politiker dazu neigten, sich nur am institutionellen Rahmen des eigenen Systems zu orientieren, hätten sie Schwierigkeiten, den Kern der strukturellen Veränderungen in der Sowjetunion zu erkennen. Dort vollziehe sich eine Revolution der politischen Kultur (auch wenn sie ökonomisch schwer umsetzbar und durch eine veränderte Machtkonstellation revozierbar sei): Öffentliche Meinung bewege die Gesellschaft – zumindest ihren Überbau – außerhalb des Transmissionsriemens der Partei. 545 Auch Len Karpinski befasst Saluckij, A., Prinzipy mnimie i deistvitel‘nye (Vorgebliche und tatsächliche Prinzipien). In: Učitel‘skaja gazeta (Lehrerzeitung) 14.04.1988; zit. nach Osteuropa-Archiv Juni 1988, S. A 291f. 544 Gestwa, Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus, S. 499. 545 Schmidt-Häuer, Huber, S. 58f. 543

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sich mit der Frage der Diskussion über den Stalinismus, insbesondere den Brief der Nina Andreewa in der „Sowjetskaja Rossija“ Ende März/Anfang April 1988.546 Gorbatschow selbst musste sich mehrmals mit dem Thema „Stalin“ auseinandersetzen. Dabei musste er den Spagat vollführen zwischen radikaler Abkehr vom Stalinismus einerseits und Berücksichtigung der Empfindungen der Menschen, die mit dem Namen Stalin Russlands Größe und internationale Rolle verbanden, die orthodoxen, am „Kasernenkommunismus“ nach wie vor hängenden Parteimitgliedern und Anhängern noch nicht einmal berücksichtigt. Das heißt, Gorbatschow taktierte. Er wollte die alten Stalin-Anhänger nicht erschrecken und gleichzeitig ihnen das Idol Stalin rauben. In Gorbatschows Notizen (sehr wahrscheinlich für eine Rede – W.G.) vom 2. Februar 1989 kommt diese Position gut zum Ausdruck. Hier spricht er vom Paradoxon, dass trotz des Vertrauensmissbrauchs und trotz der Missachtung der elementarsten Bedürfnisse und Interessen des Volkes, was zu Armut und Hunger führte, trotz der Verhöhnung und trotz der physischen Vernichtung unzähliger unschuldiger Menschen das Land sich weiterentwickelte. Er bleibt einerseits auf dem Boden der Oktoberrevolution, verlagert aber die Hauptrolle auf das Volk. Seine Opferbereitschaft und sein gewaltiger Enthusiasmus wie sein Glaube an das Erreichen des Ziels habe den Aufbau des Sozialismus und das Überstehen des Krieges möglich gemacht. Das Ergebnis aber ist fatal: „Ob uns das passt oder nicht: Die Erfolge beim Aufbau des Sozialismus wie auch der Sieg im schrecklichen Krieg bestätigten Stalin und seiner Umgebung, aber auch dem Volk, die Richtigkeit dieses Kurses, der ‚Stalinschen Politik‘ und ihrer extremen Methoden. Was Stalin wieder für seine ehrgeizigen und verbrecherischen Ziele auszunutzen wusste.“ Das nennt er „die dramatische, ja tragische Dialektik dieses Abschnitts in der Geschichte unseres Landes und der Revolution“. Aber dann folgt scharfe Kritik an Stalin: „Ich denke, Stalin war weder theoretisch noch politisch oder intellektuell fähig, den von der Partei unter Lenins Führung erarbeiteten Kurs fortzusetzen. Klug genug, das zu begreifen, und zutiefst gekränkt durch diesen Minderwertigkeitskomplex, setzte er sein gesamtes, in der Tat überdurchschnittliches Talent zur Intrige dazu ein, die führenden Kader leninscher Schule aus der Politik zu verdrängen und schließlich zu vernichten. Zur Seite stand ihm dabei eine im Parteiapparat herangezogene Gefolgschaft. Die realen Schwierigkeiten und die außergewöhnlichen Probleme der Entwicklung des Landes, mit denen nicht so einfach zurechtzukommen war, begünstigten zudem ein Klima, in dem es Stalin gelang, die Vorherrschaft über alle seine einstigen ‚Genossen‘ zu wahren und seine Alleinherrschaft zu festigen.“ 547 Beim Staatsbesuch von Gorbatschow in der Bundesrepublik verwies er im vertraulichen Gespräch mit dem Bundeskanzler auch auf das Thema „Stalin“. Kohl schreibt darüber: „Gorbatschow erzählte weiter, sein Großvater sei unter Stalin im Karpinski, Len, Weshalb bleibt der Stalinismus auf der Bühne? In: Afanassjew, Juri (Hrsg.), Es gibt keine Alternative zur Perestroika, S. 750. 547 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 260. 546

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Lager gewesen. Dies sei der persönliche Hintergrund für sein angekündigtes Vorhaben, die Verbrechen der Stalin-Zeit offenzulegen. Schon bald sollten ein entsprechender Bericht und Akten veröffentlicht werden. Es seien schreckliche Wahrheiten, die man nicht unterdrücken könne.“ 548 Aber das Thema „Stalin“ steht auch für den Kampf zwischen der kommunistischen Orthodoxie und ihrem Parteiverständnis einerseits und liberalen, sozialdemokratischen Vorstellungen andererseits. Im Wechsel der Interpretationen von Chruschtschow zu Breschnew, von Andropow zu Tschernenko ist das bereits deutlich geworden. Deshalb stand auch Gorbatschow vor der Aufgabe, seine Position gegenüber Stalin zu klären. Im „Politischen Bericht des ZK der KPdSU an den XXVII. Parteitag“ vom Februar 1986 kommt der Name Stalin nicht vor. Gorbatschow beruft sich dagegen ausschließlich auf Lenin und Marx und Engels, wenn er gegen veraltete Dogmen argumentiert: „Jeder Versuch, die Theorie, von der wir uns leiten lassen, in eine Sammlung erstarrter, für jeden Ort und jede Situation passender Schemen und Rezepte umzuwandeln, widerspricht aufs entschiedenste dem Wesen, dem Geist des Marxismus-Leninismus“, sagte er. „Lenin schrieb 1917, dass sich Marx und Engels mit vollem Recht über das Einochsen und einfache Wiederholen von ‚Formeln‘ lustig machten, die bestenfalls nur geeignet sind, die allgemeinen Aufgaben vorzuzeichnen, die durch die konkrete ökonomische und politische Situation in jedem besonderen Zeitabschnitt des geschichtlichen Prozesses zwangsläufig modifiziert werden.“ (W.I. Lenin, Werke, Bd. 24, S. 25). Nur ganz vorsichtig deutet er Fehler an, wenn er sagt: „Diese Wege waren weder glatt noch leicht. Eine rückständige oder zerrüttete Wirtschaft auf die Beine zu bringen, Millionen Menschen wenigstens lesen und schreiben lehren, ihnen ein Dach über dem Kopf, Nahrung und kostenlose medizinische Hilfe zu sichern war äußerst schwer. Allein die Neuartigkeit der gesellschaftlichen Aufgaben, der unausgesetzte militärische, wirtschaftliche, politische, psychologische Druck des Imperialismus und die Notwendigkeit, gewaltige Anstrengungen für die Verteidigung zu unternehmen – all das musste unweigerlich den Verlauf der Entwicklung, ihren Charakter und das Tempo der Realisierung von sozialökonomischen Programmen und Umgestaltungen beeinflussen. Es ging auch nicht ohne Fehler in der Politik und ohne mancherlei subjektivistische Abweichungen ab.“ 549 Vorsichtig öffnet er sich gegenüber der Sozialdemokratie, indem er sagt, die sowjetische Öffentlichkeit sei bereit, die Kontakte zu nichtkommunistischen, darunter religiösen, Strömungen und Organisationen auch künftig auszubauen, wenn sie gegen den Krieg auftreten würden. Ein unvoreingenommenes gegenseitiges Kennenlernen von Positionen und Standpunkten sei zweifellos sowohl für die

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Kohl, Erinnerungen 1982-1990, S. 890. Neues Deutschland 26.02.1986, S. 3.

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Kommunisten als auch für die Sozialdemokraten nützlich.“ 550 Hier werden erste Anzeichen seiner eigenen Position deutlich, die in Richtung Sozialdemokratie geht. In der Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution ging er einen Schritt weiter. Wieder betonte er die Genialität Lenins, seine „revolutionäre Dialektik“, d. h. seine Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen nach dem Motto „vollenden, umgestalten, wieder von vorn anfangen – das werden wir noch mehr als einmal tun müssen.“ Als Beispiel nennt er den Brester Frieden, das Genossenschaftswesen, die Neue Ökonomische Politik, die Planwirtschaft. Dann geht er auf die Periode nach Lenin ein. „Die Industrialisierung, die Kollektivierung, die Kulturrevolution, die Festigung des multinationalen Staates, die Konsolidierung der internationalen Position der UdSSR, die neuen Formen der Leitung der Wirtschaft und des gesamten gesellschaftlichen Lebens – all das fiel gerade in diesen Zeitraum. Und all das hatte weitreichende Folgen.“ 551 Nach dem bekannten Muster, zuerst die Konservativen zu besänftigen, dann vorsichtige Kritik folgen zu lassen, führte er aus: „Im Laufe der Jahrzehnte sind wir immer wieder auf diese Zeit zurückgekommen. Dies ist natürlich, denn damals begann der Aufbau der ersten sozialistischen Gesellschaft der Welt. Das war eine Heldentat von historischer Dimension und Bedeutung. Die Bewunderung für die Heldentaten der Väter und Großväter, die Wertschätzung unserer wahren Errungenschaften werden ewig leben wie diese Heldentaten und Errungenschaften selbst.“ Aber dann führt er vorsichtig in das Thema „Kritik“ ein: „Wenn wir heute mitunter mit kritischem Blick auf unsere Geschichte schauen, dann nur deshalb, weil wir uns eine bessere und umfassendere Vorstellung von den Wegen in die Zukunft machen wollen. Die Vergangenheit muss mit dem Gefühl historischer Verantwortung und auf der Grundlage der historischen Wahrheit bewertet werden.“ Und: „Letzten Endes brauchen wir wahrheitsgetreue Wertung dieser und aller anderen Perioden unserer Geschichte besonders jetzt, da die Umgestaltung begonnen hat.“ Dann nennt er die ideologischen Kämpfe der Nachfolger Lenins, geht auf Trotzkij ein, auf Sinowjew und Kamenjew, auf Bucharin, nennt auch Lenins „Brief an den Parteitag“. Diese Warnung vor Stalin war als „Lenins Testament“ am 19. Januar 1987 in der Zeitung „Moscow News“ veröffentlicht worden. Es war von Chruschtschow auf dem XXII. Parteitag 1961 den Delegierten vorgelesen worden. Angesichts der errungenen Position am Ende der dreißiger Jahre stellt er die rhetorische Frage: „Hätte unter jenen Bedingungen ein anderer Kurs gewählt werden können als der, den die Partei vorschlug? Wenn wir auf dem Boden der Historie, der Wahrheit des Lebens bleiben wollen, kann es nur eine Antwort geben: Nein.“ Und er lobt die Aufbauleistung dieser Generation. So weit, so 550 Neues Deutschland, 26.02.86, S. 10. Eine Delegation der SPD, der Hans-Jochen Vogel, Egon Bahr und Karsten Vogt angehörten, hatte sich noch 1984 im ZK der KPdSU mit Tschernenko, Boris Ponomarjow, Georgi Arbatow, Marschall Achromejew und Alexander Jakowlew getroffen. Jakowlew, Abgründe, S. 449. 551 Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung. Die Revolution wird fortgesetzt. In: Neues Deutschland 03.11.87, S. 3.

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gut, möchte man sagen, denn nun beginnt der Angriff auf das System des Stalinismus. „Zugleich hat die Zeit, beginnt er, von der die Rede ist, auch Verluste gebracht. Sie hingen in gewisser Weise mit den Erfolgen zusammen, von denen ich sprach. Damals glaubte man an die universelle Effektivität einer strikten Zentralisierung, daran, dass Kommandomethoden der kürzeste und beste Weg zur Lösung jeglicher Aufgaben seien. Das wirkte sich auf die Einstellungen zu den Menschen und zu ihren Lebensbedingungen aus. Es entstand ein System des Administrierens und Kommandierens der Partei- und Staatsführung des Landes. Es verstärkte sich der Bürokratismus, vor dessen Gefahren Lenin seinerzeit gewarnt hatte.“ Dann kritisiert er die Kollektivierung der Landwirtschaft. Er nennt sie „ein Abweichen von der Politik Lenins gegenüber der Bauernschaft“. Im Ergebnis aber „entstand im Lande eine Atmosphäre der Unduldsamkeit, der Feindschaft und des Misstrauens. Später wurde diese politische Praxis ausgebaut und mit der falschen ‚Theorie‘ der Zuspitzung des Klassenkampfes im Prozess des Aufbaus des Sozialismus begründet.“ Und er zieht den Schluss: „Dies hatte einen verheerenden Einfluss auf die gesellschaftspolitische Entwicklung des Landes und brachte schwerwiegende Folgen mit sich. Es ist vollkommen offensichtlich, dass gerade das Fehlen des nötigen Niveaus der Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft sowohl den Personenkult als auch die Verletzungen der Gesetzgebung, die Willkür und die Repressalien der dreißiger Jahre ermöglichte. Offen gesagt – Verbrechen, verübt auf dem Nährboden des Machtmissbrauchs. Tausende Mitglieder der Partei und Parteilose waren Massenrepressalien ausgesetzt. Das ist die bittere Wahrheit, Genossen.“ Jetzt ist der Weg frei für den Angriff auf Stalin, wie er seit Chruschtschow nicht mehr erfolgt ist: „Jetzt gibt es viele Diskussionen über die Rolle Stalins in unserer Geschichte. Seine Persönlichkeit ist äußerst widersprüchlich. Wir müssen bei den Positionen der historischen Wahrheit bleiben und sowohl den unbestreitbaren Beitrag Stalins zum Kampf für den Sozialismus und zum Schutz seiner Errungenschaften als auch die groben politischen Fehler und die Willkür sehen, die er und seine Umgebung zugelassen haben, für die unser Volk einen hohen Preis zahlte und die für das Leben unserer Gesellschaft schwerwiegende Folgen nach sich zogen. Manchmal wird behauptet, Stalin habe von den Gesetzlosigkeiten nichts gewusst. Aus den Dokumenten, über die wir verfügen, geht hervor, dass dies nicht so ist. Die Schuld Stalins und seiner nächsten Umgebung gegenüber Partei und Volk für die zugelassenen Massenrepressalien und die Gesetzlosigkeiten ist gewaltig und unverzeihlich. Das ist eine Lehre für alle Generationen.“ Dann kommt er auf die „Aufarbeitung des Themas Stalin“ zu sprechen. Schon auf dem XX. und XXII. Parteitag der KPdSU habe die Partei sowohl den Kult um Stalin als auch seine Folgen scharf verurteilt. Inzwischen sei klar, dass die politischen Anklagen und Repressalien gegen eine Reihe von Persönlichkeiten der Partei und des Staates, gegen viele Kommunisten und Parteilose, gegen Wirtschafts- und Armeekader, Wissenschaftler und Kulturschaffende ein Ergebnis vorsätzlicher Fälschungen gewesen waren. Viele Anklagen seien später – besonders nach dem

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XX. Parteitag – aufgehoben, tausende unschuldig Leidende vollständig rehabilitiert worden. Doch der Prozess der Wiederherstellung der Gerechtigkeit sei nicht zu Ende geführt worden und faktisch Mitte der sechziger Jahre zum Stehen gekommen. Jetzt aber müsse man in Übereinstimmung mit den Beschlüssen des Oktoberplenums (1987) des ZK erneut darauf zurückkommen. Deshalb habe das Politbüro des ZK eine Kommission zur allseitigen Untersuchung neuer und schon bekannter Fakten und Dokumente zu diesen Fragen gebildet. Diese Kommission leitete Jakowlew. Am 5. Februar 1989 veröffentlichte Roy Medwedjew erstmals Zahlen über die Opfer der Stalinzeit: 11 Mio. Tote, 40 Mio. Opfer von Repressionsmaßnahmen. Die innenpolitische Brisanz des Themas Stalin in der Auseinandersetzung mit der Perestrojka wird immer deutlicher. Mit der Verdammung Stalins trifft er die Stalinisten. Dieses Referat ist deshalb eine Kampfansage an seine Gegner. Denn nur eine wahrheitsgemäße Analyse helfe bei der Lösung der heutigen Probleme, „den Problemen der Demokratisierung, der Gesetzlichkeit, der Offenheit, der Überwindung des Bürokratismus, kurz gesagt, den brennenden Problemen der Umgestaltung. Deshalb brauchen wir auch hier volle Klarheit, Gründlichkeit und Konsequenz. Das klare Verständnis sowohl unserer gewaltigen Errungenschaften als auch vergangenen Unheils sowie dessen vollständige und richtige politische Einschätzung geben eine echte moralische Orientierung für die Zukunft.“ 552 Das Thema Chruschtschow stand noch aus. Ihm widmet er sich jetzt und stellt sich selbst in die Tradition dessen Anti-Stalinismus: „In der Mitte der fünfziger Jahre, insbesondere nach dem XX. Parteitag der KPdSU, beginnt er, ging ein Wind der Veränderung über das Land. Das Volk sammelte neue Kräfte, lebte auf, wurde kühner und zuversichtlicher. Die Kritik des Personenkults und seiner Folgen und die Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit verlangten der Partei und ihrer Führung mit N. S. Chruschtschow an der Spitze nicht wenig Mut ab. Frühere Stereotype in den Innen- und Außenpolitik begannen zusammenzubrechen. Es wurde der Versuch unternommen, die bürokratischen Kommandomethoden in der Leitung, die sich in den dreißiger und vierziger Jahren eingebürgert hatten, zu durchbrechen und dem Sozialismus größere Dynamik zu verleihen, die humanistischen Ideale und Werte zu betonen und den schöpferischen Geist des MarxismusLeninismus in Theorie und Praxis wiedererstehen zu lassen.“ Die Beschlüsse des September-Plenums (1953) und des Juli-Plenums (1955) des ZK der KPdSU seien von dem Bestreben durchdrungen gewesen, die Prioritäten der wirtschaftlichen Entwicklung zu ändern und Stimuli einzuführen, die mit der persönlichen Interessiertheit an den Arbeitsergebnissen verbunden waren. Der Entwicklung der Landwirtschaft, dem Wohnungsbau, der Leichtindustrie, der

Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung: Die Revolution wird fortgesetzt. In: Neues Deutschland 03.11.1987, S. 4; Ernest Mandel sieht den direkten Zusammenhang zwischen Entstalinisierung und Glasnost. Siehe: Mandel, Ernest, Das Gorbatschow Experiment. Ziele + Widersprüche. Frankfurt am Main 1989, S. 159f. 552

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Konsumsphäre sowie all dem, was mit der Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen zusammenhänge, habe man begonnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Ursache für das Scheitern dieses Ansatzes sieht er darin, dass sich die Reformen nicht auf eine breite Entfaltung der Demokratisierungsprozesse stützten. Damit spricht er den Schwerpunkt seines eigenen Ansatzes an. Das April-Plenum 1985 brachte nun einen neuen Anlauf. Es kam zur Abrechnung mit Breschnew: „Es wurde unterstrichen, dass in den letzten Jahren des Lebens und der Tätigkeit L. I. Breschnews die Suche nach Wegen zu einer weiteren Vorwärtsbewegung in vielem durch das Verharren in gewohnten Formulierungen und Schemata aufgehalten wurde, die die neuen Realitäten nicht widerspiegelten. Die Kluft zwischen Wort und Tat vertiefte sich. Es häuften sich negative Prozesse in der Wirtschaft, die im Grunde genommen eine Vorkrisensituation schufen. Es bildeten sich viele anomale Erscheinungen in der sozialen und geistig-moralischen Sphäre heraus, die die Prinzipien der sozialistischen Gerechtigkeit entstellten und deformierten, die im Volk den Glauben an sie untergruben und soziale Entfremdung und Amoralität in ihren verschiedenen Formen hervorriefen. Das zunehmende Auseinanderklaffen der hohen Prinzipien des Sozialismus und der Realität des Alltags wurde unerträglich.“ 553 Gorbatschow kommentierte diese Rede selbst in seinen Erinnerungen und entschuldigt sich dabei dafür, indem er schreibt, sie trug den Stempel der damaligen Zeit: „Wir selbst hatten noch vieles zu überdenken und psychologische Barrieren zu überwinden.“ Er wollte sich aber von den früheren Zeiten absetzen, „in denen der Vortrag des Generalsekretärs eine Anleitung zum Handeln war. Mir lag daran“, schreibt er, „die Vergangenheit nicht ad acta zu legen, sondern ich wollte einen Anstoß dazu geben, weiter Fragen an sie zu stellen. Erstmals fällte der Generalsekretär wohlweislich keine ‚Urteile‘, sondern ich sah meine Hauptaufgabe darin, die Vergangenheit für Historiker, Theoretiker, Politiker und die ganze Gesellschaft zu enttabuisieren. Es galt, diesen gewaltigen und schwierigen Weg, den wir hinter uns hatten, erst einmal zu erforschen. Die Presse hatte schon begonnen, Material zu historischen Themen zu veröffentlichen, jetzt kam es zu einem regelrechten Boom solcher Literatur.“ 554 Am bekanntesten sind die Arbeiten des Schriftstellers und Dramatikers Michail Filippowitsch Schatrow (eigentlich Marschak) und von Dimitrij Wolkogonow, bis 1991 Leiter des Instituts für Militärgeschichte an der Militär-Akademie. Im Zentrum von Schatrows Theaterstücken stand schon bisher Lenin (Im Namen der Revolution, 1957; Der 6. Juli, 1964; Der 30. August. Die Bolschewiken, 1969; Revolutionsstudie, 1979; Der Februar, 1979; über die Februarrevolution 1917). Auf dieser Grundlage ging er jetzt ganz auf die Perestrojka-Linie über und verfasste die Dramen ‚Diktatur des Gewissens‘ 1986, ‚Der Frieden von Brest-Litowsk‘ 1987, vor allem aber sein 1988 erschienenes Werk ‚Weiter, weiter, weiter…!‘ (Dal’še, dal’še, dal’še…!) entfachte breite Diskussionen und führte sogar dazu, dass in der 553 554

Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung. Neues Deutschland 03.11.1987, S. 5. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 429.

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DDR die Auslieferung der Zeitschrift des sowjetischen Außenministeriums „Neue Zeit. Moskauer Hefte“ unterbunden wurde (Nr. 1-3,1988). Schatrow hatte nicht nur die alte Garde des Oktober-Putsches mit Lenin, Krupskaja, Bucharin auftreten lassen, sondern auch den bis dahin tabuisierten Trotzkij. Auch die alten Führer der russischen Sozialdemokratie Plechanow und Martow traten auf sowie Rosa Luxemburg mit ihrer berühmten Kritik am sowjetischen Modell. Prophetisch sagte sie: „Sobald aber das politische Leben im Land erstickt wird, können auch die Sowjets der progressiven Paralyse anheimfallen. Ohne allgemeine Wahlen, Presse- und Versammlungsfreiheit, ohne freien Meinungsstreit in allen öffentlichen Institutionen erlischt das Leben, wird nur noch Attrappe, und das einzig aktive Element dieses Lebens wird die Bürokratie. Das öffentliche Leben versinkt so langsam in Winterschlaf. Nur noch einige Dutzend energische und von grenzenlosem Idealismus beseelte Parteiführer regieren. Die eigentliche Führung ist dann Sache einiger gewiefter Technokraten, und die Arbeiterelite wird nur noch von Zeit zu Zeit zusammengerufen, um den Reden der Führer Beifall zu zollen und einstimmig über vorbereitete Resolutionen abzustimmen, damit haben wir eigentlich die Macht einer Clique.“ Dann kommt der Angriff auf Lenins Parteiverständnis: „Natürlich ist ihre Diktatur keine Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll von Politikern. Von meiner Warte aus ist die Diktatur des Proletariats unbegrenzte und weitgefasste Demokratie. Ein Sozialismus ohne politische Freiheit ist kein Sozialismus. Ohne Freiheit wird es auch keine politische Erziehung der Massen geben, und sie werden nie voll am politischen Leben beteiligt sein. Freiheit nur für aktive Parteigänger der Regierung, nur für Mitglieder der Partei, mögen sie auch noch so zahlreich sein, ist keine Freiheit. Freiheit ist immer auch die Freiheit des Andersdenkenden. Gefährlich wird es für die Bolschewiki da, wo eine zeitweilige widerwärtige Notwendigkeit zur ständigen Tugend wird.“ 555 Genau mit diesen Worten kann man die Kritik am Leninschen Modell des Sozialismus durch die Gorbatschow-Mannschaft festmachen – und die Alternative! Einen großen Schritt in Richtung „historische Wahrheit über den Stalinismus“ ging Wolkogonow mit seiner 1989 erschienenen Stalin-Biographie. 556 Was die Betrachtung Stalins für die Perestrojka bedeutet, drückt er so aus: „Für uns muss es eine Freude sein, dass jetzt nicht nur die Gegenwart tatkräftig erneuert, sondern auch die Vergangenheit wieder hervorgeholt wird. Und dabei ist die Figur Stalins zum intellektuellen und emotionalen Dreh- und Angelpunkt des gesellschaftlichen Interesses an der Geschichte geworden. In unserer historischen Literatur gibt es wohl kaum eine widersprüchlichere Persönlichkeit. Auf Stalin entfällt so viel Lob und Tadel, dass es für eine Legion historischer Gestalten reichen würde.“ 557 Bei der 555

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Schatrow, Michail, Weiter…weiter…weiter…! 2. Folge. In: Neue Zeit Nr. 3, Januar 1988, S.

Volkogonov, Dmitrij A., Triumf i tragedija. Političeskij portret I. V. Stalina. Moskva 1989. Deutsch: Wolkogonow, Dmitri, Triumph und Tragödie. Politisches Porträt des J. W. Stalin. In 2 Bänden. Berlin 1990. 557 Wolkogonow, Triumph, Band 1/1, S. 11. 556

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Suche nach den Ursachen sieht er die Partei nach Lenins Tod noch nicht reif, nicht auf der Höhe der Aufgaben, denn sie habe in Stalin nicht die Gefährlichkeit für die Partei und die nicht gefestigte Volksmacht erkannt. „Und das führte dazu“, schreibt er, „dass die Diktatur des Proletariats immer weniger die schöpferische als vielmehr die abstrafende Komponente in den Vordergrund rückte. Heute wissen wir, dass Stalin nicht zu dem Stalin geworden wäre, … wenn er nicht die Gewalt als das wichtigste Mittel zur Erreichung politischer Ziele angewandt hätte.“ Den Wandel in der Interpretation Stalins illustriert Wolkogonow an zwei Zitaten: „Zuerst ein ausführlicher Auszug aus der Grußadresse des ZK der KPdSU (B) und des Ministerrats der UdSSR zum 70. Geburtstag Stalins (1949): ‚Gemeinsam mit Lenin warst Du, Genosse Stalin, der Inspirator und Führer der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, der Gründer des ersten sozialistischen Sowjetstaates der Arbeiter und Bauern. In den Jahren des Bürgerkrieges und der ausländischen Intervention haben Dein Organisations- und Feldherrngenie das Sowjetvolk und seine heldenhafte Rote Armee zum Sieg über die Feinde der Heimat geführt. Unter Deiner unmittelbaren Führung, Genosse Stalin, wurde eine gewaltige Arbeit zur Schaffung der nationalen Sowjetrepubliken, zu ihrer Vereinigung in einem Unionsstaat, die UdSSR, geleistet. … In jede Umgestaltung, ob groß oder klein, die unsere Heimat immer höher und höher hebt, hast Du Deine Weisheit, unbändige Energie und Deinen eisernen Willen eingebracht. Unser Glück, das Glück unseres Volkes ist es, das der Große Stalin als Führer von Partei und Staat die schöpferische Aufbauarbeit des Sowjetvolkes und das Aufblühen unserer ruhmreichen Heimat richtet und inspiriert. Unter Deiner Führung, Genosse Stalin, hat sich die Sowjetunion zu einer großen und unbesiegbaren Kraft verwandelt. … Alle ehrlichen Menschen der Erde, alle künftigen Generationen werden die Sowjetunion, Deinen Namen, Genosse Stalin, als Retter der Weltzivilisation vor den faschistischen Pogromhelden rühmen…Der Name Stalins – das ist das teuerste für unser Volk, für die einfachen Menschen in der ganzen Welt.‘“ (Prawda vom 21. Dezember 1949). Weiter schreibt er: „Die andere Wertung: In dem berühmten dramatischen Referat: ‚Über den Personenkult und seine Folgen‘, das Chruschtschow in der Nacht vom 24. zum 25. Februar 1956 hielt, heißt es: ‚Stalin führte den Begriff ‚Volksfeind‘ ein. Dieser Terminus befreite umgehend von der Notwendigkeit, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen, gegen die man polemisiert hatte, nachzuweisen; er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressionen, wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit, gegen jeden, der in irgendetwas mit Stalin nicht übereinstimmte, der nur gegnerischer Absichten verdächtigt, der einfach verleumdet wurde. Dieser Begriff ‚Volksfeind‘ schloss im Grunde genommen schon von sich aus die Möglichkeit irgendeines ideologischen Kampfes oder der Darlegung der eigenen Ansichten zu dieser oder jener Frage auch praktischen Inhalts aus. Als hauptsächlicher und im Grunde genommen einziger Schuldbeweis wurde entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre das ‚Geständnis‘ des Verurteilten betrachtet, wobei dieses ‚Bekenntnis‘ – wie eine spätere Überprüfung ergab – durch physische Mittel der Beeinflussung des Angeklagten erreicht wurde. Das

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führte zu einer krassen Vergewaltigung der revolutionären Gesetzlichkeit, dazu, dass viele total Unschuldige, die in der Vergangenheit die Parteilinie verteidigt hatten, zu Opfern wurden.“ 558 Dann baut er die Brücke zur Perestrojka: „Eine weitere Ursache für das nicht nachlassende Interesse wird von der neuen Betrachtungsweise der sozialen und allgemeinmenschlichen Werte bedingt: der Werte des Sozialismus, des Humanismus, der Gerechtigkeit, der historischen Wahrheit und der sittlichen Ideale. Die Jahre des Stalinregimes haben gezeigt, dass dogmatisches Denken einen illusionären philosophischen Tempel errichten kann, in dem alles ‚unvergänglich‘ ist. Abgesehen von Veränderungen ist wohl nichts ewig. Dogmatische Blindheit ist gefährlich, sie kann die Ideologie in eine Religion verwandeln. Der Dogmatismus verweist alle irdischen Freuden an den morgigen Tag und aus morgen wird übermorgen. Die Erneuerung unserer Gesellschaft hat vor allem das gesellschaftliche Bewusstsein berührt. So ist es kein Zufall, dass Dogmatismus und Bürokratie, die wir weitgehend mit der autokratischen Führung Stalins in Verbindung bringen, zum Hauptobjekt von Kritik und Negation geworden sind.“ 559 Wolkogonow wird noch deutlicher: „Das Hauptwerk Stalins war eine alles umfassende bürokratische Schicht, die Hauptstütze seiner Methoden, Schritte und Absichten. Solange die bürokratischen Denk- und Verhaltensweisen am Leben waren – und sein werden! –, gab es Anhänger Stalins und seiner ‚starken Hand‘ und wird es sie geben. Stalin ist nicht nur Geschichte (man denkt an Abuladses Film „Die Reue“ – W.G.), Stalin ist in einem gewissen Sinne auch eine Methode der Weltbetrachtung, das sind die Wege der Festlegung und Erzielung der Wertprioritäten. Heute ist es natürlich einfach, alle Sünden, Fehler und Mängel auf Stalin und sein Erbe abzuwälzen. Das ist am leichtesten. Macht man sich jedoch ernsthafte Gedanken, wurden die Hauptkrankheiten der Gesellschaft – Bürokratismus, Dogmatismus und autoritäre Herrschaftsformen – in den Jahren der Alleinherrschaft Stalins von uns ‚geholt‘.“ 560 Die Stoßrichtung der Argumentation wird noch deutlicher, wenn er schreibt: „Der Versuch, ein Porträt Stalins zu zeichnen, bedeutet nicht nur, einen Exkurs in die nicht allzu ferne Vergangenheit zu unternehmen. Es darf nicht vergessen werden, dass die zu untersuchenden historischen Prozesse, zu denen die Zeit eine immer größere Distanz schafft, weiterhin sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft beeinflussen und noch lange auf sie einwirken werden. Und diese Entwicklung ist häufig bedeutend näher als manche vermuten.“ 561 Wolkogonow, nach 1991 Generaldirektor der russischen Archive, stößt in seinen Forschungen über die Ursachen der Katastrophe Russlands nach dem Oktober-Putsch immer weiter vor. 1992 er-

Die Geheimrede Chruschtschows. Über den Personenkult und seine Folgen. Berlin 1990, S. 16f. In: Wolkogonow, Triumph, Bd. 1/1, S. 12. 559 Wolkogonow, Triumph, Bd. 1/1, S. 15. 560 Wolkogonow, Triumph, Bd. 1/1, S. 26. 561 Wolkogonow, Triumph, Bd. 1/1, S. 27. 558

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scheint seine Arbeit über Trotzkij, den er „einen der Hauptarchitekten des bürokratischen Systems“ nennt. 562 Ein Jahr später erscheint sein Buch über Lenin. Erstmals wurde aus den 3000 Schriftstücken zitiert, die Lenins Unterschrift tragen und den 3724 Dokumenten Lenins, die noch in keine Ausgabe seiner Werke Eingang gefunden haben. Das Ergebnis ist ernüchternd: Lange sei uns suggeriert worden, schreibt Wolkogonow, der Leninismus befähige zu dem revolutionären Umsturz der alten Gesellschaft und dem Aufbau einer neuen, blühenden Zivilisation auf den Trümmern der vergangenen. Die Diktatur galt als probates Mittel zur Durchsetzung dieses Ziels. Doch genau darin bestehe der elementare Fehler des Marxismus in seiner leninistischen Version, denn Marx selbst hatte wenig von der Diktatur als Staatsform gehalten. Lenin und später seine Nachfolger glaubten dagegen bis vor nicht allzu langer Zeit, dass im Namen des Glücks zukünftiger Generationen moralisch alles erlaubt sei: Export von Revolution und Bürgerkrieg, uneingeschränkte Gewaltanwendung und soziale Experimente an Millionen Menschen. Faszination und Anziehungskraft des Leninismus beruhten über Jahrzehnte hinweg auf der Sehnsucht der Menschen nach einer vollkommeneren und gerechteren Welt. Die russischen Revolutionäre, allen voran Lenin, erhoben Anklage gegen die ewigen Geißeln der Menschheit, gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Ungleichheit. Als sie jedoch die Möglichkeit erhielten, diese Übel zu beseitigen, haben sie stattdessen eine neue, nur mühsam kaschierte Art der Ausbeutung geschaffen. An die Stelle von sozialer und nationaler Ungleichheit sei die Ungleichheit eines hierarchischen, bürokratischen Systems getreten. Die Unfreiheit einer Klasse wurde ersetzt durch die totale Unfreiheit aller. Der Leninismus als russische Variante des Marxismus nahm zwar in einem riesigen Land Gestalt an, der gewaltige historische Fortschritt, den Lenin einst prophezeit hatte, endete mit einem historischen Rückschritt ungeahnten Ausmaßes. Die Warnung der Sozialdemokraten Plechanow, Sassulitsch und Dejtsch war also berechtigt. In ihrem ‚Offenen Brief an die Arbeiter von Petrograd‘ vom 28. Oktober 1917 heißt es: „Der Umsturz ist ein großes historisches Unglück. Er wird einen Bürgerkrieg heraufbeschwören, in dessen Verlauf alle Errungenschaften vom Februar 1917 zunichte gemacht werden.“ (Jedinstvo, 28. Oktober 1917). 563 Hatte Tschernenko noch versucht, im Rahmen der Wiederbelebung des StalinKultes, der Stadt Wolgograd ihren für den Zweiten Weltkrieg so symbolträchtigen Namen Stalingrad wiederzugeben, führte nun, unter Gorbatschow, der Kampf gegen Stalin in seiner Form als Kampf gegen die bürokratische Herrschaft auch zur Umbenennung der Städte, Straßen und Plätze, die Breschnews Namen trugen. Das galt für die Stadt „Nabereschnye Tschelny, die über fünf Jahre lang Breschnew hieß, den Moskauer Tscherjomuschki-Bezirk und zwei Plätze in Moskau und Leningrad. Gorbatschow reagierte damit auf die Forderungen von Schriftstellern, Publizisten, Wissenschaftlern und Pädagogen, die authentischen Namen der Städte 562 563

Wolkogonow, Dimitri, Trotzki. Das Janusgesicht der Revolution. Düsseldorf u.a. 1992, S. 14. Wolkogonow, Dimitri, Lenin. Utopie und Terror. Düsseldorf u.a. 1994, S. 15f.

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und Straßen, d.h. das historische Gesicht der Heimat zu bewahren. 564 Nach einer Abstimmung der Bevölkerung Leningrads vom 12. Juni 1991 wurde diese Stadt, die so eng mit dem Namen Lenins verbunden war, am 6. September 1991 wieder in St. Petersburg umbenannt. 54 Prozent der Bevölkerung hatten sich dafür ausgesprochen. Nachdem die Bewohner des Leningrader Gebiets (Oblast) sich für die Beibehaltung des alten Namens ausgesprochen hatten, wurden zahlreiche Vororte in das Stadtgebiet St. Petersburgs eingemeindet. Ein Thema stand noch aus: die Rehabilitierung der Stalin-Opfer. Fünfunddreißig Jahre nach Stalins Tod? Es stand nur aus, weil zu Chruschtschows Zeiten dieses Thema nur halbherzig angegangen und unter Breschnew ganz zum Erliegen gekommen war. Unmittelbar nach Stalins Tod wurden zwar die Verwandten und Bekannten der Parteiführung aus den Lagern entlassen: Polina Schemtschuschina, Molotows Frau, Lazar Kaganowitschs Bruder, die Sängerin Lidia Ruslanowa auf die Bitte von Marschall Schukow, die Kommissionen aber, die ab 1954 die Verurteilungen „wegen politischer Verbrechen“ überprüften, arbeiteten nur zögerlich, wählerisch und vermieden in der Regel die Rehabilitierung, plädierten dafür für eine Amnestie. Dazu wurden die „politischen Verbrechen“ Verstößen im Dienst oder in der Wirtschaft gleichgestellt. Alexander Jakowlew empörte sich später darüber, dass Molotow die Kommission zur Rehabilitierung der Opfer leitete: „Etwas Verwerflicheres lässt sich schwer ausdenken – der Täter begnadigt seine Opfer“, schreibt er. 565 Viele Pseudo-Urteile trugen, neben Stalins Name, auch den Molotows. Mit dem Ukas vom 24. März 1956 wurde den Kommissionen befohlen, ihre Arbeit bis zum 1. Oktober des gleichen Jahres abzuschließen. So blieben auch die in den Schauprozessen der dreißiger Jahre Verurteilten Bucharin, Rykow, Sinowjew, Tuchatschewskij von der Rehabilitierung ausgeschlossen. Dreißig Jahre später, am 28. September 1987, wurde nun ein neuer Anlauf genommen, und das Politbüro fasste den Beschluss „Über die Bildung einer Kommission beim Politbüro des ZK der KPdSU zur zusätzlichen Erforschung der Materialien bezüglich der Verfolgungen im Verlauf der 30er, 40er und Anfang der 50er Jahre“. Ihre Mitglieder waren M. S. Solomenzew (Vorsitzender), W. M. Tschebrikow, A. N. Jakowlew, P. N. Demitschew, A. I. Lukjanow, G. P. Razumowskij, W. J. Boldin und G. L. Smirnow (der Direktor des Instituts für Marxismus-Leninismus). „Damit kam es“, schreibt Gorbatschow, „zu einer Wiederaufnahme des in der Breschnew-Zeit unterbrochenen Prozesses der Rehabilitierung unschuldig verurteilter Menschen, mit denen Gerechtigkeit und historische Wahrheit wiederhergestellt werden sollten.“ 566 Nach einem Jahr löste Alexander Jakowlew den Vorsitzenden ab, dazu kamen noch W. A. Medwedjew, inzwischen Mitglied des Politbüros, B. K. Pugo, Vorsitzender der Parteikontrollkommission und W. A.

Schewtschenko, Juri, Mehr Bescheidenheit! In: Neue Zeit. Moskauer Hefte für Politik Nr. 3, Januar 1988, S. 22. 565 Jakowlew, A., Die Abgründe, S. 33. 566 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 428. 564

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Krjutschkow, neuer KGB-Chef. Jakowlew kommentiert: „Jener Beschluss lässt erkennen, dass noch im Jahr 1987, als sich die politische Lage besserte, das Politbüro die Leninsche Periode der Verfolgungen nicht anzutasten wünschte. Von 1987 bis 1991 gelang es, all denen die Ehre des Namens zurückzugeben, die in folgenden Prozessen verurteilt worden waren: ‚Bund der Marxisten-Leninisten‘, ‚Moskauer Zentrum‘, ‚Antisowjetisches, vereinigtes Trotzkij-Sinowjew-Zentrum‘, ‚Paralleles antisowjetisches Trotzkij-Zentrum‘, ‚Antisowjetischer rechtstrotzkistischer Block‘, ‚Antisowjetische rechtstrotzkistische Organisation in der Roten Armee‘, ‚Leningrader Sache‘, ‚Jüdisches Antifaschistisches Komitee‘, ‚Konterrevolutionäre SultanGalijew-Organisation‘, ‚Trotzkistisches Allunionszentrum‘, ‚Unionsbüro des ZK der R.S.D.R.P. (m)‘, ‚Konterrevolutionäre Leningrader Sinowjew-Gruppe‘, ‚Leningrader Zentrum‘, ‚Bucharin-Schule‘, ‚Rykow-Schule‘ und noch viele andere mehr. Am 13. August 1990 erließ der Präsident der UdSSR Gorbatschow den Ukas ‚Über die Wiederherstellung der Rechte aller Opfer der politischen Repression von den 20er bis zu den 50er Jahren‘. Der Putsch im August 1991 unterbrach den Rehabilitierungsprozess.“ 567 Jakowlew nahm unter Russlands Präsident Boris Jelzin seine Position wieder auf, nachdem Jelzin am 2. Dezember 1992 den Ukas „Über die Bildung einer Kommission beim Präsidenten der Russischen Föderation zur Rehabilitierung der Opfer der politischen Repressionen“ erlassen hatte. Er schreibt: „Endlich erhielt die Kommission die volle Handlungsfreiheit und konnte die gesamte Herrschaftsperiode der Sowjetmacht erfassen.“ 568 Den Stalinismus aus den Köpfen der Bevölkerung zu vertreiben erwies sich als weit schwieriger als die posthume Wiederherstellung der Gerechtigkeit ehemaliger Führungspersönlichkeiten der Partei. Zu sehr hatte Breschnew die Kontinuität des Parteiverständnisses als bürokratische Herrschaft betont, war in großen Teilen der Bevölkerung als Sowjetpatriotismus als „psychische Wesensart“ des Sowjetvolkes verankert, seit der Jahreswende 1985/86 in seiner Form als „gemeinsamer sowjetischer Stolz“ (obščesovetskaja gordost‘), dass Korrekturen als Verlust empfunden wurden. 569 Freilich trübten die empfindlichen militärischen Verluste im Afghanistankrieg das Bild der Unbesiegbarkeit der Sowjetarmee, wie es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gepflegt wurde, und wurden die sozialen Kosten der Überrüstung immer deutlicher, aber die „ritualisierte Partizipation“, das heißt der von

Jakowlew, Abgründe, S. 33 f.; Service, Robert, Trotzki. Eine Biographie, S. 618. Jakowlew, Abgründe, S. 34. Adler, Nancy, The Gulag Survivor: Beyond the Soviet System. London 2002; Dobson, Miriam, Khrushchev’s Cold Summer.Gulag Returnees, Crime and the Fate of Reform after Stalin. Ithaca, New York 2009; Stark, Meinhard, Die Gezeichneten. GulagHäftlinge nach ihrer Entlassung. Berlin 2010; Cohen, Stephen F., The Victims Return. Survivors of the Gulag after Stalin.London, New York 2011. 569 Oberländer, Erwin, Sowjetpatriotismus: Legitimation, Motivation, Integration. In: Poltische Bildung 2/1987, S. 73. 567 568

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der Führung vermittelte Eindruck, über die Massenorganisationen, am Arbeitsplatz, über Leserbriefe Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können, befriedete viele Ansätze auf tatsächliche Partizipation. 570 Stephan Merl widerspricht auch der Annahme, in der Diktatur wäre ein Rückzug ins Private möglich gewesen: „Als Erklärung für die Stabilität von Diktaturen wird häufig von einem ‚Rückzug in die Privatheit‘ gesprochen, als ob sich die Bevölkerung aus der Kontrolle des Regimes in einen ‚diktaturfreien‘ Raum begeben konnte. Ebenso suggeriert der Begriff ‚Nischengesellschaft‘, der Einzelne sei hier vor dem Staat geschützt gewesen. Davon kann keine Rede sein. Die Integration in das Regime beruht auf der Einbeziehung des Privaten.“ 571 Das ging so weit, dass der negativ mit dem Privateigentum assoziierte Begriff „privat“ in der Sowjetunion durch „persönlich“ ersetzt wurde. Der Physik-Historiker Gorelik glaubt, die Ganzheitlichkeit des Weltbildes, die Systemhaftigkeit der es konstituierenden Strukturen habe es zwar vor Beschädigungen bewahrt, aber auch seine Neugestaltung unter dem Druck von neuentdeckten Bereichen der Wirklichkeit erschwert, seien es die physikalische oder soziale Sphäre. Die soziale Realität wirkte wegen der beispiellosen Undurchsichtigkeit der sowjetischen Gesellschaft, wegen ihrer fast völlig fehlenden Transparenz nur schwach zurück auf die Empfänglichkeit, ja Anfälligkeit ihrer Mitglieder für die Idee des Sozialismus. „Unter den Bedingungen der Lagerunfreiheit des Wortes und der Manipulationsfreiheit der Information, vor dem Hintergrund sorgfältig gefilterter Fakten in Presse und Rundfunk verfügte ein Mitglied dieser Gesellschaft nur über vereinzelte, zufällige Fakten aus dem Sozialleben.“ 572 Boris Groys macht das am Beispiel der Kunst deutlich: „Diese Totalität des ideologischen Horizonts, die dem Glauben der Avantgarde an seine mögliche Durchbrechung entgegengehalten wird, beschäftigt die russische Kunst der siebziger und achtziger Jahre beständig und wird thematisiert als die Unmöglichkeit, aus dem geschlossenen Kreis der herrschenden sowjetischen Ideologie auszubrechen. Selbst wenn ein ‚Dissident‘ dies unter Einsatz seines Lebens versucht, bleibt er doch in mindestens zwei Hinsichten innerhalb ihrer Grenzen; zum einen bestätigt er den Manichäismus dieser Ideologie, die von ihrer Struktur her von vornherein einen Platz für ihren ‚Feind‘ bereithält, und zum anderen reproduziert er jene sozial-emanzipatorische, aufklärerische Geste, der diese Ideologie selbst zu verdanken ist und die in ihr schon ihren Platz gefunden hat.“ 573 Erst wenn von oben den Artikulationsmöglichkeiten der Bevölkerung der öffentliche Raum zur Verfügung gestellt wurde, waren tatsächliche Umbrüche zu erwarten – bis zur Aufgabe des Führungsanspruchs der KPdSU selbst. Es ging also um den Strukturwandel der Öffentlichkeit. Merl, Stephan, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich. Göttingen 2012, S. 138f. 571 Merl, Politische Kommunikation, S. 140f. 572 Gorelik, S. 263f. 573 Groys, Boris, Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion. München 1988/1996, S. 18. 570

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3.4 Die Medien Das freie Wort ist nicht nur konstitutiver Bestandteil der Demokratie, es ist die Bedingung für Demokratie. Gorbatschows Weg der Demokratisierung der Gesellschaft musste also darauf gerichtet sein, die Bedingungen für die Entfaltung einer solchen offenen Gesellschaft zu schaffen. Das konnte nur Schritt für Schritt gehen. In seinen „Erinnerungen“ sucht Gorbatschow die Ursachen für den Mangel an Offenheit in der Partei – und landet bei Lenin. Zwar habe es auch nach dem Oktober 1917 noch Diskussionen in der Partei gegeben, und erst 1929 mit der Zerschlagung der „Bucharinschen Opposition“ „wurde über die Partei der totalitäre Deckel gestülpt“, dennoch sei es aber Lenin gewesen, der alle Oppositionszeitungen verboten habe, auch sei er nur solange tolerant gewesen, solange man seiner Meinung gefolgt sei. 574 Darüber hinaus habe er ja auf dem XI. Parteitag den Entwurf für ein Verbot von Fraktionen eingebracht, der tatsächlich eine schonungslose Bekämpfung Andersdenkender bedeutete. Mit Lenin war also in der Frage der Meinungsfreiheit kein Staat zu machen. Aber ausgerechnet in Leningrad sieht Gorbatschow seinen ersten Schritt in Richtung Offenheit, als der Mitschnitt einer Rede, die er dort ohne Vorlage und ohne vorherige Konsultationen, wie sonst üblich, gehalten hatte, im Fernsehen gesendet wurde. „In der Bevölkerung kam die Hoffnung auf, dass sich etwas ändern würde“, schreibt er und ergänzt: „Der erste Schritt in Richtung Glasnost war getan. Ein langer Weg stand uns indes noch bevor. Im Apparat des ZK, in der Abteilung Agitation und Propaganda änderten sich die eingefahrenen Verhaltensweisen nicht, und im Sommer 1985 wurde der Leiter der Abteilung Propaganda schließlich abgelöst. Noch lief die ganze riesige ideologische Schiene der Partei – die Apparatschiks, die Presse, die Parteischulen, die Akademie der Gesellschaftswissenschaften und andere mehr – in den gewohnten Bahnen. Die Situation konnte nur dadurch verändert werden, dass man im System jener totalen Geheimhaltung allmählich ein Fenster nach dem anderen öffnete, und nur der Generalsekretär war imstande, dies zu tun.“ 575 Die Auswechslung der Chefredakteure war das Werk von Alexander Jakowlew. Ligatschow weist darauf hin, dass Jakowlew noch aus seiner Zeit als Leiter der ZKAbteilung für Agitation und Propaganda 1967 bis 1972 nicht nur die fachliche Qualifikation, sondern auch die persönlichen Qualitäten seiner Ansprechpartner kannte, für die er als ZK-Sekretär nun wieder zuständig war. 576 Zum Chefredakteur des Kommunist wurde Frolow berufen, persönlicher Mitarbeiter des Generalsekretärs, später auch Akademiemitglied. Er hatte 1971 als Chefredakteur der Zeitschrift „Fragen der Philosophie“ (Woprosy filosofii) die erste Konferenz mit Mitgliedern des Club of Rome in Moskau durchgeführt. Später wurde er auch Chefredakteur der Prawda. Burlazkij wurde Chef der Literaturnaja gazeta. Gorbatschow selbst Gorbatschow, Erinnerungen, S. 304. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 306. 576 Ligatschow, Wer verriet die Sowjetunion? S. 101. 574 575

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leitete die regelmäßigen Treffen mit den Chefredakteuren und stand mit ihnen in Telefonkontakt. Von großer Bedeutung waren natürlich die Fernsehprogramme und der Rundfunk. Es folgten die Umbesetzungen in den Chefredaktionen der für die Perestrojka wichtigen Zeitschriften. Nowyj Mir lag jetzt in den Händen von S. Salygin, Znamja in denen Baklanows, Ogonjok übernahm W. Korotitsch, alle erfahrene Literaten mit liberalen Ansichten, die ihre Bände wieder interessant machten. Wladimir Lakschin, jetzt Stellvertreter Baklanows im Moskauer Znamja, gehörte schon vor dreißig Jahren zur Redaktion des Nowyj Mir, als Twardowskij darin Solschenizyns ‚Iwan Denissowitsch‘ veröffentlichte; er musste sich damals zurückziehen. Als ‚Stammpresse der Perestrojka‘ galt die Wochenzeitung Literaturnaja gazeta, die Illustrierte Ogonjok, galten die Monatsschriften Nowyj mir und Znamja, aber auch Newa und Junost. Die Periodika waren auch deshalb wichtig, weil sie die bisher verbotene Literatur, Werke von Emigranten oder durch die Zensur verstümmelte Texte, zuerst druckten, ehe sie als Einzelpublikationen – wenn überhaupt als solche – erschienen. Auch die bisher von der Partei gesteuerten Künstlerverbände erhielten mehr Selbständigkeit, manche gründeten sich neu, wie der Verband der Bühnenschaffenden. Die Filmstudios wurden von der Bevormundung bei der Auswahl der Drehbücher wie bei der Freigabe für den Verleih befreit. Aleksej Germans Filme „Straßenkontrollen“ von 1971 und „Mein Freund Iwan Lapuschin“, die beide verboten waren, konnten 1985 endlich im Fernsehen gezeigt werden. Das Gleiche gilt für Andrej Tarkowskij und seinen Film „Iwans Kindheit“. Ein Komitee sichtete nun alle seit Jahrzehnten verbotenen Filme. Auf dem 8. Schriftstellerkongress vom 24. bis 28. Juni 1986 gab es erwartungsgemäß heftige Diskussionen, die in die Wahl eines neuen Vorstandes mündeten. Der Theaterintendant Towstonogow und der Autor Granin forderten in der Literaturnaja gazeta die Bestrafung derjenigen, die bisher Aufführungen verhindert hatten. Das Schicksal der Bilder des Malers Pawel Filonow wurde bekannt, die nach seinem Tod während des Krieges im Museum versteckt und 1979 in Paris erstmals ausgestellt worden waren. Nun wurden auch die Bilder von Malewitsch, Larionow und anderer Maler der 20er Jahre wieder ausgestellt. 577 Neben Trifonow nennt Engel-Braunschmidt auch Andrej Bitows „Das Puschkinhaus“(Puškinskij dom, 1978) als Beispiel der Selbsterforschung des Individuums angesichts des totalitären Staates. Und sie kommt zum Ergebnis, bereits in den siebziger Jahren sei einer Glasnost‘ und Perestrojka, die zum Begriff erst in den achtziger Jahren geworden sei, vehement vorgearbeitet worden. Darüber hinaus sei nun durch das Einbeziehen verfemter Autoren – Bulgakow, Platonow, Achmatowa, Pasternak, Nabokow, Gumiljew, Sewerjanin, Ėrdman, Zamjatin, Charms, Wwedenskij, Chodasewitsch, Belyj, Chlebnikow – das Bild der russischen Literatur in der Sowjetunion selbst reicher und vollständiger geworden. 578 577 578

Siehe: v. Rauch, Geschichte der Sowjetunion, 8. Auflage 1990, S. 622. Engel-Braunschmidt, Glasnost‘ – Vollender literarischer Perestrojka, S. 59.

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Im Dezember 1986 hatte Michail Nenaschew, der Leiter des Staatskomitees für Verlage, Druckgewerbe und Buchhandel angekündigt, dass die Lyrikerinnen Marina Zwetajewa und Anna Achmatowa wieder gedruckt würden, ebenso wie vier Bände Boris Pasternaks, darunter sogar „Doktor Schiwago“. Pasternaks Wohnhaus in Peredelkino wurde als Museum eingerichtet. Die Zeit war lange schon reif für diese Veränderungen gewesen, für das Ende der Bevormundung der Kunst. Nun wird auch die Literatur der siebziger Jahre neu gelesen. 579 Ein literaturwissenschaftliches Projekt an der Universität Bochum unter Leitung von Karl Eimermacher, in dem der „Prozess der kulturellen Pluralisierung in der Sowjetunion in den siebziger Jahren“ in Einzelstudien dargestellt worden ist, bestätigt, die siebziger Jahre waren „nicht etwa eine Zeit kultureller Stagnation, die erst Andropow und schließlich Gorbatschow beendeten“, vielmehr habe es schon damals „eine lebhafte Normendiskussion und kulturelle Produktivität“ gegeben, die aber erst jetzt offiziell zur Kenntnis genommen werde. 580 Engel-Braunschmidt schlägt den Bogen und geht zurück in die Zeit des Tauwetters, d.h. die Jahre zwischen Stalins Tod und Chruschtschows Sturz, in denen eine Literatur entstanden war, „die sich von Dogmen freigemacht hatte, die ihre Helden neue Wege gehen ließ und ihnen dazu auch eine neue Sprache und sogar neue Kleider gab.“ 581 Nach jahrzehntelanger Entmündigung durch die Partei seien die Menschen unfähig geworden sich zu artikulieren, das auszusprechen was sie bedrückte, formuliert Eberhard Reißner. Er nennt es „Deformation des Menschlichen als Folge der Deformation der Gesellschaft“. Auch er sieht in der Auseinandersetzung mit der Stalinherrschaft, ihrem Zustandekommen und ihren Folgen, das interessanteste Thema der heutigen Dramatik (d.h. Ende der 80er Jahre). Denn: „Es gibt in der Sowjetunion keinen historischen Vorgang, der für fast jede Familie derart weitreichende, nicht selten traumatische Bedeutung besitzt, wie die massenhafte Verfolgung, Einkerkerung und Ermordung in Gefängnissen und Lagern.“ 582 Er macht auf zwei Stücke aufmerksam, die 1987 erschienen waren, Ignatij Dworezkijs „Kolyma“ (Newa 87/12) und Igor Malejews „Nadeschda Putnina, ihre Zeit, ihre Weggefährten“ (Nadežda Putnina, ee vremja, ee sputniki. Teatr 1987/12). Beide wussten aus eigener Erfahrung, worüber sie schrieben, wobei Dworeckijs Stück schon 1962 geschrieben, zwei Jahre später aber bei den Probenarbeiten verboten worden war. Beide präsentieren, schreibt Reißner, eine Reihe von geschichtlichen Tatsachen, die vielen ihrer Landsleute nur unvollständig bekannt sein dürften, besonders der Jugend: „Beide entlarven den Stalinismus als ein Unterdrückungsregime und zeigen sich bemüht, seine Schuld gegenüber Russland bloßzulegen. Beide Laird, S., Immer noch Märtyrer, nirgends ein Opfer. Sowjetische Literatur: Was hat sich geändert? – Gespräche mit sowjetischen Schriftstellern. In: Die Zeit, Nr. 44, 23.10.1987, S. 65f. 580 Holm, K., Wandel im Verborgenen. In: FAZ Nr. 4 vom 06.01.1988, S. 25f. 581 Engel-Braunschmidt, Glasnost‘ – Vollender literarischer Perestrojka, S. 60. 582 Reißner, Eberhard, Vergangenheitsbewältigung im russischen Drama der achtziger Jahre. In: Reißner, Eberhard, Perestrojka und Literatur (Osteuropaforschung Band 27), Berlin 1990, S. 256. 579

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stellen somit einen wichtigen Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion dar, aber verharren im Wesentlichen auf der Linie, die bereits von Chruschtschow auf dem XX. Parteitag vorgegeben worden war.“ 583 Anders Michail Schatrow (geb. 1932), eigentlich Marschak, dessen Vater 1937 erschossen worden war und dessen Mutter sieben Jahre in einem sibirischen Lager verbringen musste. Reißner nennt ihn einen der „Vaterlosen“, die in der russischen Literatur der Gegenwart keine geringe Rolle spielen, wie Ajtmatow, Okudschawa, Trifonow u.a. Im Stück „Weiter…weiter…weiter“ (Dal’še, dal’še, dal’še, Znamja 1988/1) geht er über die Figur von Stalin als dem Hauptschuldigen hinaus und nimmt selbst Lenin von der Kritik nicht aus, sodass sich dem Zuschauer die Frage aufdrängt, „ob die Grundlage für Stalins Terrorherrschaft nicht schon im ersten Jahr nach der Revolution, also unter Lenin, geschaffen worden ist.“ 584 Reißner führt als Begründung für die große Wirkung des Stückes in der Auseinandersetzung um die Perestrojka an: „Der Zuschauer wird hier mit Fakten und Gedanken konfrontiert, die ihm als Folge der kommunistischen Geschichtsdarstellung entweder völlig unbekannt waren oder nur in verfälschter Form an ihn gelangt sind, z.B. dass Kerenskij ein Sozialist war, der durch das gleiche Ereignis auf den Weg der Revolution gebracht wurde wie sein Gegenspieler Lenin, nämlich durch die Hinrichtung Aleksej Uljanows (Lenins Bruder wurde 1887 wegen versuchten Zarenmordes hingerichtet – W.G.); dass Plechanow gegen Lenin den Vorwurf erhob, im Widerspruch zum Marxismus zu handeln und die Arbeiter ins politische Abenteuer geführt zu haben; dass man Plechanow das Amt eines Ministerpräsidenten in einer Anti-Lenin-Regierung angeboten habe und er mit den Worten ablehnte: „Ich habe nicht 40 Jahre meines Lebens der Arbeiterklasse gewidmet, um sie nun zusammenschießen zu lassen in einem Augenblick, da sie einen Fehler macht“ (Plechanow starb 1918 – W.G.); dass im engsten Führungskreis gegen den kranken Lenin üble Intrigen gesponnen wurden; dass Stalin bei Lenins Tod bereit war zurückzutreten und nur von seinen Freunden Sinowjew und Kamenew (die Schatrow als Feiglinge bezeichnet) daran gehindert wurde, weil sie eine Alleinherrschaft Trotzkijs befürchteten, den sie für weit gefährlicher hielten als den Kaukasier; dass die Kollektivierung nicht etwa durchgeführt wurde, um die Bauern ins sozialistische Paradies zu führen, sondern um der freien Bauernschaft das Genick zu brechen und sie zu zwingen, für die Stadt und für die Industrie zu arbeiten, und dass man dafür den Tod von Millionen bewusst in Kauf nahm; dass Bucharins Ansichten hierzu zwar liberaler waren, aber sich im Grundsatz von denen Stalins nicht unterschieden; dass Stalin sich in dem Ankläger Wyschinskij bei den großen Prozessen der Jahre 1937 und 1938 eines Mannes bediente, der eine antibolschewistische Vergangenheit hatte und dessen Unterschrift auf einem Haftbefehl gegen Lenin aus dem Jahr 1917 steht, der hier zusammen mit Sinowjew als ‚deutscher Spion‘ bezeichnet wird; dass die Prozesse der 30er Jahre reine Schauprozesse waren, juristische Farcen; dass Kamenjew und Sinowjew ahnten, was sie nach der 583 584

Reißner, Vergangenheitsbewältigung, S. 258. Reißner, Vergangenheitsbewältigung, S. 263.

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Ermordung Kirows erwartete und dass diese Führer der ersten Stunde nicht den Mut fanden so zu handeln wie Tomskij, Ordschonikidse und andere, die den Selbstmord der Schande vorzogen; dass ein Bucharin im Wissen um die Bedrohung, die sich über seinem Haupte zusammenzog, eine Auslandsreise nach Paris machte, aber weder die Entschlusskraft aufbrachte, mit dem System zu brechen noch den freien Westen über die Verbrechen Stalins aufzuklären; dass Anschuldigungen der absurdesten Art gegen jeden beliebigen Bürger verfertigt, Geständnisse brutal erpresst wurden und man derart folterte, dass die Häftlinge danach kaum wiederzuerkennen waren; dass Bedenken gegen das Vorgehen der Geheimpolizei und der anderen Organe bei den Verantwortlichen erst in dem Moment auftauchten, da diese Organe gegen sie selbst vorgingen; dass von Stalin die Liquidierung der Führung der Roten Armee ausging u.a.m.“ 585 Das ist ganz im Sinne Gorbatschows und seiner Mannschaft, über die Kritik an Stalin und Lenin die Frage nach dem Sowjetsystem überhaupt zu stellen. So stellt Reißner zu Recht den „atemberaubenden Wandel“ fest, der sich auf geistigem Feld in der Sowjetunion vollzogen habe, wenn in Alexej Kazanzews Stück „Großer Buddha, hilf ihnen!“ (Velikij Budda, pomogi im! Sovremennaja dramaturgija 88/1) auf die Existenz einer anderen Welt ‚jenseits des großen Flusses‘ hingewiesen wird, über den am Ende ein Mann und eine Frau in die Freiheit fliehen. Als bei der Katastrophe von Tschernobyl im April 1986 sich die sowjetische Führung durch ihre katastrophale Informationspolitik lächerlich machte und sie damit das Angebot auf internationale Zusammenarbeit zu untergraben drohte, führte Jakowlew den Begriff der „Glasnost“ (Offenheit) ein und schaffte die Zensur ab. Nun brachen alle Dämme und die zu lange zugedeckt gebliebenen Themen wie die Verbrechen der Stalinzeit, die Lager für politische Häftlinge brachen sich Bahn. Mit der Anklage gegen Stalin, der Aufarbeitung der Verbrechen, der Rehabilitierung der Opfer fand sich aber auch die KPdSU mit auf der Anklagebank, das heißt, sie verlor rapide an Ansehen. Die politischen Gefangenen wurden entlassen, Gorbatschow lud persönlich den renommiertesten von ihnen, Akademiemitglied Sacharow, nach Moskau ein. Da aber war der Damm schon gebrochen. Vergebens hatten die Vertreter des alten Denkens versucht, die Bewegung der Offenheit aufzuhalten. Doch brachte das auch Gefahren mit sich. Gorbatschow schreibt: „Die nächste Stufe in der Entwicklung von Glasnost war die Förderung kritischer Beiträge in Presse, Rundfunk und Fernsehen. Die Gesellschaft war aller Verfolgungen und Verbote derart überdrüssig, dass die Journalisten, kaum dass man die ‚Sauerstoffzufuhr‘ etwas aufgedreht hatte, von einem wahren Kritizismusfieber befallen wurden. Und unverzüglich stießen sie auf den Widerstand der Nomenklatura, was teilweise sogar zu Verfolgungen führte, die in der Provinz besonders gnadenlos waren.“ 586

585 586

Reißner, Vergangenheitsbewältigung, S. 265f. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 307.

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Als das Murren auch im Zentralkomitee immer stärker wurde, erkannte Gorbatschow, dass er die neue Freiheit der Journalisten durch ein Pressegesetz absichern musste. Den Weg dahin formulierte er auf der Plenartagung des ZK am 27. Januar 1987. Mit dieser Rede begann der Durchbruch für die Perestrojka, 70 Jahre nach dem Oktober-Putsch der Bolschewiki: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“, sagte er, „wenn wir das nicht begreifen und selbst dann, wenn wir das begreifen, aber keine realen bedeutenden Schritte zu ihrer Erweiterung und ihrem Voranbringen und zur umfassenden Einbeziehung der Werktätigen des Landes in den Prozess der Umgestaltung unternehmen, so werden, Genossen, unsere Politik und die Umgestaltung ersticken. Darin besteht unsere Grundidee.“ Und er startet den Generalangriff auf die bisherige Einstellung der Partei gegenüber den Medien: „Die Kommunistische Partei tritt unbeirrt dafür ein, dass das Volk alles weiß. Offenheit, Kritik und Selbstkritik, Kontrolle durch die Massen – das sind die Garantien für eine gesunde Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft. Wenn das Volk sie braucht, bedeutet das, dass alle sie brauchen. Das ist umso wichtiger, als die KPdSU die regierende Partei ist. Und sie ist an Offenheit, an Kritik und Selbstkritik interessiert, da dies reale und zuverlässige Formen eines normalen Funktionierens der KPdSU sind. Das sind eben jene Mittel, die die Partei vor Fehlern in der Politik bewahren können. Der Preis dieser Fehler ist uns allen bekannt. Wir alle sind heute auf dem Plenum zu der einheitlichen Schlussfolgerung gelangt – wir brauchen Offenheit, wir brauchen Kritik und Selbstkritik als wirksame Formen sozialistischer Demokratie. In unserem Staat – einem Arbeiterund Bauernstaat – geht das Volk alles an, da es sein Staat ist. Es soll alles wissen und über alles urteilen. Diese Worte stammen, wie sie wissen, von Lenin.“ Er nennt Offenheit und Kritik „die wichtigsten Züge der sozialistischen Lebensweise“, sie und Demokratie sind notwendig „für unsere Vorwärtsbewegung, für die Lösung enormer Aufgaben. Ohne aktive Mitwirkung des Volkes werden wir diese Aufgaben nicht lösen können.“ 587 Er fordert die Presse auf, eine aktive Rolle bei der Umgestaltung zu spielen. Am Ende bringt er die Parteikonferenz ins Spiel, sie solle an einem Wendepunkt helfen, neue Wege und Mittel für die Erreichung der gesteckten Ziele zu erkennen und Probleme lösen, die weit über den Rahmen taktischer Probleme hinausgehen. Sehr geschickt stellt er der KPdSU das Volk entgegen. Das Wort „Demokratie“ erscheint ohne die Einschränkung „sozialistisch“, es geht also um unmittelbare Beteiligung des Volkes, das relativiert die Rolle der KPdSU. Und das ist die Absicht. Wohin der Weg führen soll, deutet er beim Hinweis auf die Parteikonferenz an. Es blieb nicht bei Ankündigungen. Ab diesem Januar 1987 wurde das russischsprachige Programm der BBC-Sendungen nicht mehr gestört und Mitte Februar zweihundert Dissidenten aus der Haft entlassen. Sacharow hatte schon im Dezember 1986 an seinen Arbeitsplatz bei der Akademie der Wissenschaften zurückkehren können. Gorbatschow, Michail, Die Rede „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen.“ Referat vor dem ZK der KPdSU am 27. Januar 1987. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 90ff. 587

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In seinen „Erinnerungen“ beschreibt Gorbatschow die Bedeutung von Glasnost für die Perestrojka. Durch sie habe die Perestrojka eine immer breitere soziale Basis erhalten. Ohne diese Arbeit der Journalisten in den verschiedenen Medien wäre die Perestrojka stecken geblieben. Und diese Arbeit besaß noch einen anderen wichtigen Aspekt, wie er schreibt: „Ich selber lernte die Bedeutung von Glasnost besonders schätzen, als ich wahrnahm, dass die Impulse, die von oben ausgingen, zunehmend in den vertikalen Strukturen des Parteiapparates und der Verwaltungsorgane versickerten. Es war die Freiheit des Worts, die mich in die Lage versetzte, direkt, über die Köpfe der Apparatschiks hinweg, die Bevölkerung zu erreichen, sie zu aktivieren und ihre Unterstützung in Anspruch zu nehmen. So bildete sich eine Art ‚Rückkopplung‘, durch welche die Initiatoren der Reform nicht wenige lehrreiche Anregungen erhielten.“ 588 Genau auf dieses Phänomen verweist Stephan Merl in seiner Untersuchung über die Kommunikation in Diktaturen. Gorbatschow setzte die kommunikative Strategie außer Kraft, die über mehr als sechs Jahrzehnte die Diktatur erfolgreich stabilisiert hatte: „Sein Handeln bewirkte letztlich, dass die Diktatur in allen kommunistischen Staaten Europas bis Ende der 80er Jahre ein Ende fand.“ 589 Und weiter: „Statt die kollektive Identität vor ‚kommunikativer Verflüssigung‘ zu bewahren und vage zu halten, rief Gorbatschow 1986 die Bevölkerung auf, öffentlich zu diskutieren, wie der Kommunismus erreicht werden könne und welche Fehler bei dieser Aufgabe zuvor gemacht worden waren. Statt die öffentliche Kommunikation unter strikter Kontrolle zu halten, hob er die Pressezensur auf und gestattete den Medien selbst zu entscheiden, über welche Themen sie berichten wollten. Statt den öffentlichen Diskurs wie zuvor auf das ‚Unpolitische‘ zu beschränken, durften nun auch die Regeln des Zusammenlebens und die Machtverhältnisse, der Kern des ‚Politischen‘, erörtert werden. Erstmals seit Beginn der 30er Jahre kam es ab 1986 wieder zur Politisierung von Themen, die von der Bevölkerung und den nicht mehr kontrollierten Medien ausging. Vor allem aber brach Gorbatschow mit der autoritären Form des Diskurses, der nur zur performativen Bekräftigung der kollektiven Identität gedient und zwingend verlangt hatte, alles Neue als zuvor bestehendes Wissen auszugeben. Er rief 1986 seine Landsleute explizit dazu auf, öffentlich die Fehler des bisherigen Herangehens anzusprechen, mit diesen Mängeln zu brechen und einen wirklichen Neuanfang zu machen.“ 590 Merl ergänzt: „Die regressive Lernblockade, die es ermöglichte, dass Worte und tatsächliches Handeln auseinanderfielen, ging zu Ende.“ Und die Presse und das Fernsehen hörten auf, die Aussagen der Parteispitze als unumstößliche Wahrheiten zu präsentieren. „Die neue Frage lautete: Wie können wir den gegenwärtigen Zustand verändern und warum zeigten die bisherigen Maßnahmen keine Wirkung? Das war nicht länger nur eine rhetorische Frage. Vielmehr sollten die Menschen sich ernsthaft an Gorbatschow, Erinnerungen, S. 308. Merl, Politische Kommunikation, S. 145. 590 Merl, Politische Kommunikation, S. 146. Er beruft sich auf Yurchak, Alexei, Everything Was Forever, Until it Was No More. The Last Soviet Generation. Princeton 2006, S. 282-296. 588 589

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der Beantwortung beteiligen. Das hieß aber zugleich, dass die Partei nicht über genug Wissen verfügte, um die Frage selbst zu beantworten.“ 591 Schon Andropow hatte gestanden, dass die Partei keine Patentrezepte habe. Merl schreibt, dass am Anfang die Radikalität von Gorbatschows Politikwechsel von niemandem erkannt wurde, ein Bewusstsein von der Bedeutung der kommunikativen Strategie fehlte. Aber schon 1987 und insbesondere 1988 bestimmte nicht mehr Gorbatschow die Themen der öffentlichen Kommunikation, sondern die immer selbständiger werdenden Medien: ‚Ogonjok‘, ‚Sputnik‘ und selbst die Parteizeitung ‚Prawda‘ mit ihren Sonderberichten am Freitag wurden zu einer spannenden Lektüre. Sie berichteten erstmals detailliert über die Verbrechen Stalins (Hungersnot 1932/33, Geheimvereinbarungen zum Hitler-Stalin-Pakt, Katyn u.a.) und enthüllten die Diskrepanz zwischen den beschworenen offiziellen Normen und der Realität. In dieser zweiten Phase wurden nun also Themen politisiert, die zuvor als staatsfeindlich galten. Den Teilöffentlichkeiten in Form von Oppositionsbewegungen gelang es nun, organisatorische Strukturen aufzubauen. Bei Wegfall der staatlichen Kontrolle erlangten sie schnell Bedeutung und Einfluss. Das gilt insbesondere auch für die Politisierung von nationalen Forderungen. 592 So wuchs vor allem in den baltischen Staaten und in Georgien die Opposition zu einer Massenbewegung an. Mit dem Verlust der Kontrolle über die öffentliche Kommunikation schwand der Kommunistischen Partei aber auch die Legitimation zur Machtausübung. Ihre Problemlösungskompetenz war diskreditiert. „Die durch die Bevölkerung politisierten Themen betrafen gerade die Punkte, die die Diktatur zum Machterhalt im Verborgenen gehalten hatte und über die zuvor im gegenseitigen Einverständnis geschwiegen wurde. Die an die Presse gerichteten Briefe erreichten nun tatsächlich die Öffentlichkeit. Dabei änderte sich weniger der Inhalt als vielmehr die Wirkung der Briefe. Viele Briefschreiber, die über Jahre ihren Fall vergeblich vorgetragen hatten, erhielten nun plötzlich Recht. Die Abwehrstrategie der lokalen Führungscliquen geriet aus dem Tritt. Das Motto ihres Handelns, ‚Who is the boss, Us or the law?’, das sich unter Breschnew verfestigt hatte, wandte sich in der lokalen Öffentlichkeit gegen sie. Einige Briefschreiber begannen, sich zur Vertretung ihrer Interessen zu organisieren. Eben das hatte der Kommunikationskanal der Briefe zuvor unter allen Umständen vermeiden sollen.“ Von daher erhellt sich die Rolle des Volksdeputiertenkongresses im März 1989. Er beendete zugleich die ritualisierte Praxis der ‚Versammlungsöffentlichkeit‘, denn der Wähler hatte erstmals seit den 1920er Jahren die Wahl zwischen mehreren Kandidaten. Die personelle Zusammensetzung des Volksvertretungsorgans, das zugleich wirkliche Mitbestimmungsrechte gewann, änderte sich dadurch grundlegend. Gorbatschow hatte das Kunststück vollbracht, die Rolle des Diktators, aus der heraus er noch angetreten war, abzuschaffen. 593 Merl, Politische Kommunikation, S. 146. Merl, Politische Kommunikation, S. 159. 593 Merl, Politische Kommunikation, S. 147f. 591 592

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Merl weist auf Parallelen zum Prager Frühling hin: Auch Dubček habe die Ansicht vertreten, dass die Reform eine Pluralisierung der Gesellschaft und den Verzicht auf die Kontrolle der öffentlichen Kommunikation voraussetzte. Erste Maßnahmen nach seiner Wahl zum neuen Parteichef waren deshalb 1968 die Aufhebung der Pressezensur und die Übertragung von Live-Auftritten führender Politiker im Fernsehen. Auch der Prager Frühling löste eine von unten ausgehende Politisierung von Themen aus, die das Vertrauen in die führende Rolle der Kommunistischen Partei in kurzer Zeit erschütterte. Es war vor allem der Verzicht auf die Kontrolle der politischen Kommunikation, der die Parteiführer der anderen kommunistischen Staaten auf den Plan rief. Sie fürchteten, dass der ‚Bazillus der Meinungsfreiheit‘ auf ihre Staaten übergreifen würde, so dass auch sie die Kontrolle über die öffentliche Kommunikation und dann die Macht verlieren würden. Das galt umso mehr, als gerade für einige Mitglieder der kommunistischen Parteien das Modell eines ‚Sozialismus mit menschlichem Antlitz‘ starke Attraktivität entfaltete. Die Militärintervention im August 1968 verfolgte eigentlich nur ein Ziel: die Kontrolle über die politische Kommunikation und damit die Diktatur so schnell wie möglich wiederherzustellen. 594 Das erfuhr auch Alexander Jakowlew, der dafür nach Prag geschickt worden war. Gerade die Intervention in die Tschechoslowakei zeigt, wie die dortigen Entwicklungen der sowjetischen Führung als Vorwand dienten, die Aufrechterhaltung der Diktatur im eigenen Land zu begründen. Alle Legitimation, den paradiesischen Zustand anzustreben, den Kommunismus, zerstob angesichts der aufgebrochenen Machtfrage. „Erst Dubček und dann Gorbatschow“, schreibt Merl, „durchbrachen die kommunikative Strategie und riskierten es, der Zielperspektive Priorität vor dem Machterhalt einzuräumen.“ 595

3.5 Die Verfassungsreform Die Anfänge waren gemacht. Noch war die Reformbereitschaft der Bevölkerung vorhanden, hielten die bis dahin nicht gekannte Offenheit der Medien und – endlich – die öffentliche Diskussion über die Verbrechen Stalins die Menschen in Atem. Sacharow kehrte zurück nach Moskau, die politischen Gefangenen wurden entlassen, das Wort „Dissident“ wurde obsolet. Mit dem Druck der Werke der verfemten Dichter, sogar der Emigrantenliteratur, entstand der Eindruck sich im Augenblick im freiesten Staat der Welt zu befinden. Befreit auf jeden Fall vom Zwang des Vergessens, Verschweigens, der äsopischen Sprache, der öffentlichen Lüge. Natürlich mündete diese neue Erfahrung in die Kernfrage: In welchem System haben wir überhaupt gelebt? War das denn wirklich Sozialismus, oder handelte Merl, Politische Kommunikation, S. 151f.; Merl beruft sich auf Wolle, Aufbruch, S. 345-380; Karner, Prager Frühling, Bd. 2, S. 328-343; Jakowlew, Abgründe, S. 394. 595 Merl, Politische Kommunikation, S. 164. 594

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es sich um eine Form der totalen Herrschaft, die sich des sozialistischen Vokabulars bedient hatte? Was war dann der richtige, der „eigentliche Sozialismus“? Immer deutlicher wurde, dass die Weichen bereits unter Lenin falsch gestellt worden waren und ein Sozialismus ohne Demokratie, das heißt ohne die Garantien der Freiheit des Einzelnen, diesen Namen nicht verdiente. Wenn also die Gorbatschow-Mannschaft davon sprach, die „wahre Demokratie“, die „wahre Volksherrschaft“ anzustreben, so befand sie sich im Einklang mit den Wünschen und Hoffnungen der sich emanzipierenden Gesellschaft. Die Erinnerung an die alten, in der Revolution von 1905 entstandenen Räte (Sowjets) als basisdemokratischer Errungenschaft kam auf und diskreditierte ihre Instrumentalisierung und Entmachtung durch die Bolschewiki und die Herrschaft der KPdSU über den Staat. Die Zerschlagung der Konstituante wird als der Beginn undemokratischen Verhaltens angesehen. 596 Insofern konnte die Gorbatschow-Mannschaft mit ihrer Forderung nach „mehr Macht den Räten“ nicht nur auf Zustimmung bei der Bevölkerung stoßen, sondern auch keine logischen Gegenargumente innerhalb der Partei selbst erwarten. Nun galt es also, diesen Weg Schritt für Schritt zu gehen mit dem Ziel, die Herrschaft der KPdSU über den Staat zu brechen und demokratische politische Strukturen und Instrumente an ihre Stelle zu setzen. Würde das gelingen, dann wäre die Perestrojka nicht nur eine „Umgestaltung“, sondern tatsächlich eine Revolution, d. h. eine „Umwälzung der Verhältnisse“. Die Frage nach der Ökonomie in einer als Staatssozialismus sich definierenden Herrschaft einer Minderheit begleitete die Bolschewiki von Anfang an. Auf den Kriegskommunismus, der in der Zeit des Bürgerkriegs noch verteilen konnte, was bis dahin erwirtschaftet worden war, folgte die Neue Ökonomische Politik, die die Defizite der am Boden liegenden Wirtschaft wieder wett machen und dem bolschewistischen Staat das Überleben sichern sollte. Durch die Wiederzulassung von privatem Unternehmertum und mit Unterstützung von ausländischem Kapital gelang es der Führung tatsächlich, die Wirtschaft wieder auf die Beine zu stellen. Erst die Abkehr von dieser Erholungsphase und die selbstmörderische Vernichtung der Bauernschaft führten den Staat in eine ökonomische Krise, aus der er sich nicht mehr erholte, sondern die im Gegenteil immer gravierendere Formen annahm. Jetzt, in der Epochenwende der Perestrojka, erinnerte man sich an frühere Theorien und Versuche, eine als sozialistisch definierte Wirtschaft auf die Beine zu stellen. Aganbegjan beschreibt diese Zeit unter der Überschrift Wie die Wirtschaftswissenschaften unter Stalin kaltgestellt wurden: „Die sowjetische Wirtschaftsgeschichte der zwanziger Jahre ist außerordentlich interessant, denn es ist die Phase des Entstehens sozialistischer Wirtschaftsreformen in Friedenszeiten. Es ist die Zeit, in der eine sozialistische Wirtschaftspraxis entstand, an der die zuvor entwickelten theoretischen Anschauungen über den Sozialismus überprüft wurden. Es ist eine Brahm, Heinz, Von Breshnew zu Gorbatschow. In: Sowjetpolitik unter Gorbatschow. Die Innen- und Außenpolitik der UdSSR 1985 – 1990. Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises, Bd. 7. Berlin 1991, S. 13. 596

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Zeit stürmischer Beratungen und Diskussionen über mögliche Varianten der künftigen Entwicklung des Landes. Wir hatten damals viele hervorragend begabte Wissenschaftler, die Vertreter der Zemstwo-Statistik, der weltberühmten Schule der sozialistischen Wissenschaft. 597 An den Diskussionen waren die bedeutendsten Ökonomen und Theoretiker der damaligen Zeit beteiligt: N. Bucharin 598, der Autor des berühmten Buchs über die Ökonomie der Übergangszeit; Preobraschenski; Kondratjew, der die berühmte Theorie der langfristigen Konjunkturwellen entwickelt hat; Tschajanow, ein großer Experte auf dem Gebiet des Genossenschaftswesens, und viele andere mehr. Der Zeitschriftenmarkt mit Blättern zu Wirtschaftsfragen war beachtlich, zu Dutzenden und Hunderten erschienen Bücher über Statistik und Wirtschaftsanalyse. Alle Diskussionen wurden offen und aufrichtig geführt und ausführlich in der Presse dargestellt.“ Stalin brach diese Diskussionen ab. Der allmählich aufkommende Personenkult und die einsetzenden Repressionen wirkten sich in erster Linie auf die politischen Theoretiker und Ökonomen aus. Nur wenige blieben am Leben. Vernichtet wurden Bucharin, Preobraschenski, Tschajanow, Kondratjew und viele andere. Massenhaft stellten Zeitschriften ihr Erscheinen ein, wurden Wirtschaftsinstitute aufgelöst, wie z. B. das Institut für Markt- und Konjunkturforschung, das Zentralinstitut für Arbeit oder das Institut der Roten Professur, das damals eines der Zentren der Diskussion war. Man begann die Statistiken zu verzerren, und dann wurde die Publikation empirischer Daten zu vielen Problemen einfach eingestellt. 599 „Dabei hatte es wiederholt, fast zyklisch, schreibt Aganbegjan, Vorschläge gegeben, das bürokratische System der Wirtschaftssteuerung durch Elemente des Marktes und der freien Preisbildung zu ersetzen, wenigstens zu ergänzen. So brach das Septemberplenum (1953) des Zentralkomitees der KPdSU das Kommandosystem in der Landwirtschaft auf, machte einen riesigen Schritt hin zu ökonomischen Lenkungsmethoden und weckte bei den Kolchosen erneut das Interesse an den Ergebnissen ihrer Arbeit. Es ist wohl nicht übertrieben, die diesbezüglichen Beschlüsse des Plenums von ihrer Bedeutung her mit der Ersetzung der Naturalsteuer durch die Naturalabgabepflicht zu vergleichen. Denn gerade mit dieser Ersetzung beginnt man ja in der sozialistischen Wirtschaft ökonomische Lenkungsmethoden zu verwenden.“ 600 Auch 1965, nach Chruschtschows Sturz, hatte man im Eilverfahren eine neue Agrarpolitik ausgearbeitet, die den Kolchosen und Sowchosen einen beträchtlichen Handlungsspielraum einräumte. Die private Nebenerwerbslandwirtschaft The Zemstvo in Russia: An Experiment in Local Self-government. Terence Emmons, Wayne S. Vucinich (Hrsg.). Cambridge, UK 1982. 598 Siehe: Stehr, Uwe, Vom Kapitalismus zum Kommunismus. Bucharins Beitrag zur Entwicklung einer sozialistischen Theorie und Gesellschaft. Wiesbaden 1972. 599 Aganbegjan, Abel, Ökonomie und Perestroika. Gorbatschows Wirtschaftsstrategien. Hamburg 1989, S. 169f. 600 Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 169. 597

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wurde wieder gefördert, d. h. „man griff wieder auf ökonomische Stimulierungsmethoden zurück.“ Weiter schreibt Aganbegjan: „Doch im Unterschied zu den Wirtschaftsreformen Chruschtschows ging die neue Führung diesmal weiter … Die Kosyginsche Reform, wie sie im Westen häufig genannt wird, schränkte die Zahl der Plandirektiven für die Betriebe drastisch ein und gab ihnen die Möglichkeit, selbständiger zu wirtschaften. 1967 wurde eine Reform der Industriepreise durchgeführt, die materielle Stimulierung verstärkt. Als wichtigste Indikatoren für die Bewertung der Betriebsleitung akzeptierte man den Umfang der verkauften Produktion und des erzielten Gewinns. Aus dem Gewinn durfte der Betrieb nach bestimmten Normen ökonomische Stimulierungsfonds schaffen, wobei die Summe, die den Betrieben dafür blieb, sich wesentlich erhöhte. Der Idee der Wirtschaftsreform nach sollte auch das System der zentralisierten materiell-technischen Beschaffung durch einen Großhandel mit Produktionsmitteln ersetzt werden. Es gelang jedoch nicht, dies durchzuführen.“ 601 Dieser Ansatz zur Stimulierung ging aber einher mit der Auflösung der von Chruschtschow 1957 eingesetzten Volkswirtschaftsräte (Sownarchos). Jetzt wurden nicht nur die alten Branchenministerien wieder eingerichtet, sondern auch ein gemeinsames Planungszentrum für die gesamte Volkswirtschaft gebildet. Das Ende war absehbar: Es siegten die Kommandomethoden. Danach hatte Andropow Ansätze einer Reform begonnen, deren Fortführung und Erweiterung in die Zeit Tschernenkos und nun Gorbatschows hineinreichten. Wieder geht es darum, die Befugnis für Entscheidungen aus der Hand der 114 Ministerien nach unten zu verlagern auf die Betriebe und dabei den Einfluss der Parteikader auf die Betriebsentscheidungen abzubauen. Aber dabei schon stieß man auf das Problem der Preisbildung, des Marktes, des Außenhandels. Das galt sogar innerhalb des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW). Hier war man dem Problem der sich verändernden Weltmarktpreise für Rohöl dadurch ausgewichen, das man zuerst den Jahresdurchschnittspreis des abgelaufenen Jahres zur Grundlage des eigenen Preises nahm, dann, angesichts der Geschwindigkeit der Veränderungen, die Jahreszeitspanne immer vom letzten Monat aus zurückrechnete. Mit dem internationalen Handel waren aber auch die Fragen der Währungskompatibilität, des Beitritts zum GATT, der Rechtssicherheit der Verträge, der Versicherungen verbunden. Die Nowosibirsker Studie hatte auf die Notwendigkeit struktureller Reformen verwiesen, wollte die Sowjetunion im Systemwettstreit nicht noch weiter hinter die westlichen Industrieländer zurückfallen. Das bedeutete primär den Abbau der Parteiherrschaft über den Staat. Das bedeutete aber auch Machtverlust der regierenden Parteielite, ja ein völlig neues Systemverständnis, das anders ausgebildete Entscheidungsträger erforderte und die Akzeptanz von Unsicherheiten in der Umbruchsituation. Es war also ein weiter Weg von der Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergehen konnte, und der Bereitschaft, die notwendigen Veränderungen in den Bereichen der Ökonomie wie der politischen Struktur des Staates zu akzep601

Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 178.

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tieren, mitzutragen oder sogar zu befördern. Aganbegjan hatte diese Zusammenhänge schon früh erkannt und damals auch Kosygin mitgeteilt. Nun konnte er mit seiner Erfahrung wesentlich zu den Veränderungen beitragen. So sah er in der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte nichts Vergangenes, „sondern etwas, womit man sich auseinandersetzen muss, um den Weg in die Zukunft zu finden.“ 602 Er erklärt drei prinzipielle Unterschiede zwischen der aktuellen radikalen Umgestaltung der Wirtschaftsführung und den Wirtschaftsreformen der fünfziger und sechziger Jahre: „Erstens hat die derzeitige Umgestaltung unserer Gesellschaft und unserer Wirtschaft und Wirtschaftsführung komplexen, umfassenden Charakter, während die Reformen der Vergangenheit nur Teilbereiche erfassten. Zweitens ist die heutige Reform der Wirtschaftsführung radikaler und gründlicher, da sie das Ziel hat, das bürokratische Kommandosystem vollständig durch ein System zu ersetzen, das auf ökonomischen Methoden basiert, während sich die früheren Reformen in vieler Hinsicht auf halbherzige Maßnahmen beschränkten und vor allem davon ausgingen, die bürokratischen Lenkungsprinzipien beizubehalten und nur nach Ausweitung des Wirkungsbereiches der ökonomischen Methoden zu fragen. Drittens setzt die heutige Perestrojka, auch in der Wirtschaft, auf die Demokratisierung der gesamten Gesellschaft und vor allem die Einführung der Selbstbestimmung und breite Beteiligung der Werktätigen an der Wirtschaftsführung – drei Prinzipien, die bei bisherigen Reformen keine Rolle spielten.“ Er kommt auch auf die Preisbildung zu sprechen: „ Unter den heutigen Bedingungen … soll eine umfassende, gleichmäßig auf sämtliche Preisarten bezogene Reform durchgeführt werden, zugleich Reformen des Preisbildungssystems, eine Ausweitung des Geltungsbereichs der freien und vereinbarten Preise, was es früher nicht gab. Die bisherigen Preisreformen berührten auch den Bereich der Außenwirtschaftsbeziehungen nicht, inzwischen jedoch ist den Betrieben und Produktionsvereinigungen der direkte Zugang zu den Märkten der sozialistischen Länder und für einige von ihnen auch zum Weltmarkt eröffnet. Wir vereinbarten Jointventures mit ausländischen Firmen auf sowjetischem Boden und arbeiten an der Konvertierbarkeit des Rubel.“ 603 Sehr schnell hatte sich der Mannschaft Gorbatschows gezeigt, dass sie den Grad der Deformation unterschätzt hatte. Zu tief eingegraben waren die Verhaltensnormen der Regelung aller Bereiche des Lebens von oben, der Diskreditierung der persönlichen Initiative, des „Privaten“ überhaupt, um sehr schnell aus diesem Dilemma herauszufinden. Siebzig Jahre bürokratische Herrschaft hatten ihre Spuren hinterlassen. Zur Deformation gehörte, dass im Grunde niemand in der Parteiführung einen Überblick über die Ökonomie des Staates besaß. Mit Entsetzen musste Gorbatschow feststellen, welche Ausmaße die Militarisierung des Landes tatsächlich angenommen hatte: „Wir machten uns gegen den Widerstand des militärisch-industriellen Komplexes stark und veröffentlichten die uns verfügbaren Daten, wobei sich herausstellte, dass die Militärausgaben nicht sechzehn, sondern 602 603

Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 217. Aganbegjan, Ökonomie und Perestroika, S. 218ff.

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vierzig Prozent des Staatshaushalts und die Erzeugnisse dieses Wirtschaftsbereiches nicht sechs, sondern zwanzig Prozent des Bruttosozialproduktes ausmachten. Und von den fünfundzwanzig Milliarden Rubel, die insgesamt für die Wissenschaft ausgegeben wurden, kamen rund zwanzig Milliarden auf die militärisch-technische Forschung und Entwicklung.“ 604 Weiter schreibt er, dass die wichtigste Ursache für die wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Tatsache sei, dass die Sowjetunion die wissenschaftlich-technische Revolution der letzten Jahre ignoriert habe, weshalb die westliche Welt in der strukturellen Umgestaltung der Wirtschaft wie in der technologischen Entwicklung weit vorausgeeilt sei. Als Protagonisten dieser Einschätzung nennt er G. I. Martschuk, P. N. Fedosejew, G. A. Arbatow, A. G. Aganbegjan, O. T. Bogomolow, T. I. Saslawskaja, J. M. Primakow, W. A. Medwedjew, S. A. Sitarjan, R. A. Belousow, I. I. Lukinow und W. A. Tichonow. Sie machten auch den archaischen Charakter des Wirtschaftsmechanismus, die straffe Zentralisierung der Verwaltung, die Hypertrophie des Planes und das Fehlen von echten ökonomischen Stimuli mit verantwortlich. Zunächst versuchte man Reformen innerhalb des Systems, d. h. administrativ umzusetzen. Die Investitionen in den Maschinenbau wurden verdoppelt, ein Büro für den Maschinenbau beim Ministerrat neu eingerichtet. Auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurde mit Gosagroprom eine Superbehörde geschaffen, die aus etwa einem Dutzend Ministerien bestand. Aber diese administrativen Lösungen nach bekannter Manier verfehlten ihre Wirkung. Da bestand für die als Experiment 1983 gestartete Erweiterung der Rechte ausgewählter Betriebe in zwei Unions- und drei Republikministerien mehr Hoffnung. Im Juli 1986 wurde deshalb beschlossen, dieses Modell auf alle Betriebe und Vereinigungen für den Maschinenbau, die Leicht- und Nahrungsgüterindustrie, die Fleischindustrie, die Milchwirtschaft, die Fischereiwirtschaft, die örtliche Industrie und die Kommunalwirtschaft zu erweitern. Ab dem 1. Januar 1987 sollte schließlich die gesamte Industrie auf das neue Organisationsprinzip umgestellt werden. 605 Dazu konnten zwischen einzelnen ausgewählten Unternehmen versuchsweise Verträge abgeschlossen werden, wurde eine unabhängige Qualitätskontrolle eingeführt, vor allem aber erhielten zwanzig Ministerien und die siebzig größten Vereinigungen und Betriebe das Recht, auf dem Weltmarkt präsent zu sein, d. h. Außenhandel zu betreiben. Schließlich wurde am 19. November 1986 ein Gesetz verabschiedet, das der individuellen Erwerbstätigkeit mehr Spielraum einräumte. „Endlich“, schreibt Gorbatschow, „kam der 25. Juli 1987 und die Plenartagung des ZK, auf der ich das Referat Über die Aufgaben der Partei zur grundlegenden Umgestaltung der Lenkung und Leitung der Wirtschaft hielt, das zu einem Meilenstein der Perestrojka werden sollte. Die Ausgangssituation meiner Ausführungen war natürlich die Demokratisierung voranzutreiben. Hierin bestand ja das zentrale Ziel, der eigentliche Sinne der Perestrojka, denn nur durch Demokratisierung ließen sich die 604 605

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 323. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 332.

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in unserer Gesellschaft entstandenen Widersprüche und Probleme auflösen.“ 606 Am Ende stand die Verabschiedung einer ganzen Reihe von Gesetzen, darunter das neue Betriebsgesetz. 607Nun aber kamen die Gegner aus der Deckung, indem sie den Artikel einer Leningrader Chemie-Dozentin „Ich kann meine Überzeugungen nicht preisgeben“ publizierten. (Siehe Kapitel 5: Widerstände und Putsch). Aber gerade dieser Artikel von Nina Andrejewa zeigte, wie dringlich eine Strukturveränderung geworden war. Entweder musste die Perestrojka weitergetrieben werden oder der Staat fiel in seine alte Lethargie und Stagnation zurück. Diese Sehnsucht nach der Stagnation der Breschnew-Ära, ja sogar nach der Stalin-Zeit, sieht Gorbatschow nicht nur in den eigennützigen Interessen der Nomenklatur und Bürokratie begründet; für ihn waren sie auch „tief in den Stereotypen des Massenbewusstseins verankert, das sich in den Jahrzehnten der totalen politischen und ideologischen Kontrolle und der Monopolherrschaft der KPdSU mit ihrer alles durchdringenden Bürokratie herausgebildet hatte“. Er spricht von Entfremdung der Mehrheit des Volks von Macht und Eigentum, einer Verwandlung der Bürger in ‚Schräubchen‘, die gänzlich vom Willen und der Willkür der Beamten abhingen. Und er sieht den Sinn der Perestrojka gerade darin, dem Menschen die Möglichkeit zu geben, nicht ein ‚Schräubchen‘, sondern Bürger und Herr seines Lebens, seines Schicksals, seines Landes zu sein. Dafür musste man ihm den Raum für seine schöpferischen Fähigkeiten öffnen, und das konnte man nur, wenn man seine gesellschaftliche Stellung änderte. Mit dem Gesetz „Über den staatlichen Betrieb (Vereinigung)“vom 30. Juni und den Folgegesetzen vom 17. Juli 1987 waren die wirtschaftliche Rechnungsführung und die Eigenfinanzierung, dazu die Selbstverwaltung in das ökonomische System eingeführt worden. So heißt es in Art. 2 Abs. 2: „Unter den Bedingungen der vollständigen wirtschaftlichen Rechnungsführung und der Eigenfinanzierung arbeitet der Betrieb nach dem Prinzip der sozialistischen Selbstverwaltung. Als uneingeschränkter Herr im Betrieb entscheidet das Arbeitskollektiv alle Fragen der Produktions- und sozialen Entwicklung selbständig. Die Gewinne und Verluste in der Arbeit des Betriebes wirken sich unmittelbar aus auf die Höhe des Einkommens des Kollektivs aus wirtschaftlicher Rechnungsführung und den Wohlstand jedes einzelnen Beschäftigten.“ 608 Zuvor war der Raum für private Wirtschaftstätigkeit erweitert worden, vor allem aber waren Regelungen für die Bildung und Tätigkeit von Kooperativen getroffen worden. Klaus Segbers schreibt, wahrscheinlich war an eine Ausstrahlung auf staatliche Betriebe und damit die Schaffung eines beginnenden Wettbewerbs gedacht, vor allem sieht er darin „in rechtlicher Sicht die

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 346. O korennoj perestrojke upravlenija ėkonomikoj. Sbornik dokumentov. Moskva 1988; deutsch: Über die grundlegende Umgestaltung der Leitung der Volkswirtschaft in der UdSSR. Gesetze und Beschlüsse. Berlin 1987. 608 Über die grundlegende Umgestaltung, S. 9. 606 607

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Wiedergeburt eines echten Genossenschaftsrechts in der Sowjetunion eingeleitet“. 609 Ein umfassendes Gesetz folgte im Frühjahr 1988, neben dem Betriebsgesetz der wohl wichtigste Pfeiler des neuen Wirtschaftsmechanismus. 610 Ministerpräsident Ryschkow hatte schon bei der Einbringung des Gesetzes auf die Sabotage lokaler Behörden verwiesen. Bei Verschlechterung der Wirtschaftslage versuchten die lokalen Behörden, die produzierten Waren in der Region zu halten. Insbesondere im Verkehrswesen kam es zu Sabotage-ähnlichen Erscheinungen, wenn Züge mit Lebensmitteln solange auf einem Abstellgleis blieben, bis die darin transportierten Lebensmittel ungenießbar geworden waren. Leonid Abalkin, Direktor des Wirtschaftsinstituts der Akademie, vermisste zu Recht einen Mechanismus und Verfahren des Übergangs. 611 Die sich seit 1988 drastisch verschlechternde Wirtschaftslage intensivierte die Suche nach einem neuen Konzept für Stabilisierung und Reform, „dem nunmehr dritten Ansatz zur wirtschaftspolitischen Neuorientierung unter dem Vorzeichen eines Übergangs zur Marktwirtschaft“. 612 Höhmann verweist dabei sowohl auf die Programme der sowjetischen Zentralregierung unter Ministerpräsident Ryschkow seit Herbst 1989 (Abalkin-Projekt, ‚Regulierte Marktwirtschaft‘) als auch auf die intensiven Reformbemühungen in den Unionsrepubliken, vor allem in der RSFSR nach dem Amtsantritt des Präsidenten Jelzin. Durch das Zusammengehen von Gorbatschow und Jelzin in der Reformfrage erhielt das Umbauprojekt neue Dynamik im sogenannten „Schatalin-Programm der 500 Tage“. Höhmann nennt es die marktwirtschaftliche Wende. Von Bedeutung ist dabei auch, dass die RSFSR unter Jelzin notfalls auf eigene Faust die Reformen durchdrücken wollte. Im Oktober 1990 schrieb Höhmann weitsichtig, zum Übergang zur Marktwirtschaft gebe es keine Alternative. Die bisherige administrative Planwirtschaft als System zur Gewährleistung von ökonomischer Modernisierung, Wohlstandsvermehrung und nicht zuletzt Deckung der chronisch vernachlässigten Konsumentenbedürfnisse habe endgültig abgewirtschaftet. Dazu gehöre weiter, dass die politische Entwicklung der UdSSR nun eindeutig auf Demokratie und gesellschaftlichen Pluralismus hinauslaufe und damit gleichfalls unvereinbar mit der Aufrechterhaltung autoritärer Planung sei. Auch der unaufhaltsame Zerfall des Zentralstaats UdSSR macht die administrative, von Moskau ausgehende und für alle Sowjetrepubliken verbindliche Planung alten Stils zunehmend obsolet, und das Ausschöpfen von Vorteilen interregionaler Arbeitsteilung werde immer mehr von der Entwicklung leistungsfähiger Marktmechanismen abhängig. Schließlich sei die angestrebte und ökonomisch auch dringend erforderliche weltwirtschaftliche Öffnung der UdSSR bzw. ihrer einzelnen Republiken nur in Verbindung mit einem Systemwechsel hin zur Marktwirtschaft möglich. 613 Segbers, Klaus, Der sowjetische Systemwandel. Frankfurt am Main 1989, S. 229. Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 229. 611 Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 246f. 612 Höhmann, Hans-Hermann, Von der technokratischen Modernisierung zur marktwirtschaftlichen Wende, S. 40. 613 Höhmann, Von der technokratischen Modernisierung, S. 43. 609 610

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Dieser Systemwechsel wurde von Gorbatschow nun zielgerichtet weiter vorangetrieben. Schon auf dem Januar-Plenum des ZK 1987 hatte Gorbatschow die Einberufung einer Parteikonferenz angekündigt, die eine Wende einleiten sollte. Auf der Plenartagung des ZK am 25. Juli 1987 wurde schließlich der Beschluss gefasst, im Sommer 1988 die 19. Unionskonferenz der KPdSU einzuberufen. Auf der Politbürositzung vom 24. und 25. März 1988 kündigte Gorbatschow mutig Verfassungsänderungen an, die die Partei im Kern erschüttern mussten: „Dieses Problem lässt sich nicht lösen, ohne die Rolle der Partei in der Perestrojka zu überdenken. Und wie steht es um die Konzeption der Macht im Rahmen der Perestrojka? Wie soll sie auf der obersten Ebene aussehen? Und wie sollen die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Partei und den Sowjets aussehen? Und dann wartet das Volk auch noch darauf, dass wir uns erklären, welche Veränderungen es im Wahlsystem geben wird. Die Frage der Amtszeiten muss geklärt werden. Ich möchte jetzt schon ankündigen, dass ich für den Vorschlag eintreten werde, die Amtszeiten des Generalsekretärs und aller anderen zu kürzen.“ 614 Welche Aufgabe nun Gorbatschow und seiner Mannschaft bevorstand, wird beim Blick auf die früheren Reformansätze deutlich. Das wurde schon in der Tabuisierung der Ansätze von 1957, 1965, 1973 und 1979 erkennbar. 615 So musste Segbers bei seinen Gesprächen in Moskau und Nowosibirsk im Frühjahr 1987 feststellen, dass es kein gedrucktes Material darüber gab. Nur Aganbegjan schreibt in „Ökonomie und Perestrojka“ über die Geschichte seines Instituts, das in der Chruschtschow-Zeit von Anatolij Jefimow gegründet worden war: „Das Institut begann bereits Ende der fünfziger Jahre als erstes damit, Planverflechtungsbilanzen zur Entwicklung unserer Volkswirtschaft zu erarbeiten. Es war die erste wirtschaftswissenschaftliche Einrichtung, die von dem bei sich aufgestellten Großrechner auch wirklich Gebrauch machte. Unter der Leitung von Wassili Nemtschinow und Leonid Kantorowitsch entstand in diesen Jahren eine leistungsfähige wirtschaftsmathematische Wissenschaftsrichtung. Ihre erste Keimzelle war die Abteilung für wirtschaftsmathematische Methoden der Akademie der Wissenschaften der UdSSR. Gegen diese Wissenschaftsrichtung führte der konservative Flügel der Ökonomen mit dem damaligen Vizepräsidenten der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Konstantin Ostrowitjanow an der Spitze einen erbitterten Kampf. Sie verboten die Veröffentlichung entsprechender Bücher und machten sogar Schwierigkeiten bei der Einberufung von Seminaren und Konferenzen.“ 616 L. Kantorowitsch wurde der Lehrer und Freund von Aganbegjan. Unter der Leitung von W. Nemtschinow wurde 1960 die erste sowjetische Konferenz über Wirtschaftsmathematik abgehalten; hier lieferten die Verfechter der wirtschaftsmathematischen Methoden, unterstützt von Mathematikern und anderen Naturwissenschaftlern, der alten ökonomischen Schule eine Schlacht. Aber Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 253. Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 251. 616 Aganbegjan, Ökonomie und Perestoika, S. 182. 614 615

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erst 1964 wurden die wissenschaftlichen Verdienste von Leonid Kantorowitsch, Wassili Nemtschinow und Viktor Nowoschilow gewürdigt und sie erhielten den Leninpreis. Einige Zeit später, im Jahre 1973, wurde L. Kantorowitsch für sein Werk der Nobelpreis für Ökonomie verliehen. 617 Es dauerte noch sehr lange, bis Mitte 1987 diese Reformanläufe wieder aufgegriffen wurden. Und es war Aganbegjan, der, wie Segbers schreibt, „auf Weisung zentraler Organe“ eine „ausführliche Analyse der großen Maßnahmen der fünfziger Jahre und der Reform von 1965“ durchführten, um herauszufinden, „warum sie nicht gelangen“. Dabei wurden zwei Faktoren identifiziert, die eine ‚negative Rolle‘ gespielt hatten: die Reformen seien nicht ’komplex‘ durchgeführt worden, d. h., sie erfassten nicht die ‚ganze Gesellschaft‘. Und, zweitens, die Reform von 1965 sei nicht mit einer Demokratisierung einhergegangen; die Idee der Selbststeuerung sei nicht gefördert und die ‚breiten Massen der Werktätigen‘ seien nicht zu Leitungsaufgaben herangezogen worden. 618 Auf einer Pressekonferenz in London bestätigt Aganbegjan das Ergebnis: „Es waren Reformen von oben. Sie wurden nicht begleitet von Veränderungen von unten.“ Deshalb sei die Haupttriebkraft der Perestrojka die breite Demokratisierung der Gesellschaft, die eine Bewegung in Richtung auf Selbststeuerung enthalte. 619 Für Gorbatschow war diese Interpretation äußerst wichtig, denn die früheren Reformversuche und ihr Scheitern bildeten das Argument den Reformprozess weiter zu treiben. Im Jahr 1988 war die Zeit dafür reif. In einer Rede vor dem ZK der KP Usbekistans sagte er: „Die Notwendigkeit grundsätzlicher sozialistischer Umgestaltungen hatte die Partei seit langem empfunden. Mehrfach wurden Versuche in den fünfziger, sechziger und siebziger Jahren unternommen. All das ist in unserem Gedächtnis…Solche Versuche zeitigten zunächst reale, bedeutende Ergebnisse…Es gab also reale und ernsthafte Versuche, nur erwiesen sie sich häufig als halbherzig, nicht komplex und erfassten nur einen Teil der Probleme, ohne den ganzen wechselseitigen Zusammenhang eines Problems mit den anderen zu berücksichtigen. Bemerkbar machte sich auch die Inkonsequenz der Durchsetzung sogar jener Beschlüsse, die angenommen worden waren. Viele Versuche, eine grundlegende Umgestaltung zu realisieren, waren zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht durch die Entwicklung und Erweiterung der Demokratie untermauert wurden. Alle Beschlüsse wurden im engsten Kreis gefasst, das Volk aber wurde weder in das Vorbereitungsstadium der Beschlüsse noch in deren Realisierungsstadium gründlich eingeschaltet … Man war sich der riesigen und entscheidenden Bedeutung der Demokratie für die Entwicklung des Sozialismus nicht bewusst, ohne die sich der Sozialismus einfach nicht entwickeln kann.“ 620 Am 23. Mai konnte Gorbatschow im Zentralkomitee die Annahme von 10 Thesen als Konferenzgrundlage erreichen. Sie beinhalteten die Weiterführung der Aganbegjan, Ökonomie und Perestoika, S. 190f. Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 251. 619 Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 253. 620 Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 255. 617 618

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„radikalen Wirtschaftsreform“, die Erneuerung des Kredit- und Finanzsystems. In der Partei sollte die Diskussionsfreiheit wiederhergestellt werden, kein Wahlamt länger als zwei Amtsperioden zu je fünf Jahren wahrgenommen werden können. Die Hauptrichtung war aber in den folgenden Thesen enthalten: These 6: Die Sowjets müssen ihre wirklichen Machtbefugnisse zurückerlangen und ausnahmslos alle konkreten Fragen des staatlichen, wirtschaftlichen, sozialen Lebens erörtern und entscheiden. Auch die Rolle der Regierung sollte gegenüber der Partei aufgewertet werden. Dazu kam die Verlagerung der Macht nach unten auf die Republiken. So gehörten zur Forderung größerer Entscheidungsbefugnisse der regionalen und örtlichen Sowjets auch „Maßnahmen zur Weiterentwicklung der sozialistischen Föderation“, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruhte (These 7). These 8 forderte, die Sowjetunion in einen „sozialistischen Rechtsstaat“ zu verwandeln. 621 Treffend kommentiert die Soziologin Tatjana Saslawskaja, die geplante politische Umstrukturierung bedeute, dass ein großer Teil der Machtbefugnisse und Verfügungsgewalt von den Parteiorganen an die Sowjets, von den zentralen Machtträgern an die Teilrepubliken und lokalen Machtträger und von den Exekutiv- an die Repräsentativorgane übergeben werde. „In sozialer Hinsicht bedeutet dies die Übergabe politischer Macht aus den Händen einer relativ kleinen, privilegierten und bürokratischen Schicht von Nomenklatura-Funktionären in die Hände des Volkes, das seine Abgeordneten demokratisch wählt und deren Tätigkeit kontrolliert. Die soziopolitische Grundidee dieser Veränderungen drückt sich im wieder aktuell gewordenen Schlagwort der Oktoberrevolution aus: ‚Alle Macht den Räten!‘“ 622 Am 28. Juni 1988 begann die 19. Parteikonferenz. 4991 Delegierte waren erschienen. In seinem Bericht „Über den Verlauf der Verwirklichung der Beschlüsse des XXVII. Parteitages der KPdSU und die Aufgaben bei der Vertiefung der Perestrojka“ ging Gorbatschow noch über die vom ZK gebilligten 10 Thesen hinaus und forderte als neues „höchstes Repräsentativorgan der Staatsmacht“ einen Kongress der Volksdeputierten, aus dessen Mitte ein stark verkleinerter, aber ständig arbeitender Oberster Sowjet hervorgehen sollte. Das Amt des Vorsitzenden des Sowjets sollte mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet und vom Parteivorsitzenden wahrgenommen werden. Diese neue Struktur solle auch auf die Unionsrepubliken übertragen werden. Nach intensiven im Fernsehen erstmals übertragenen kontroversen Aussprachen wurden diese von Kommissionen erarbeiteten Vorschläge angenommen, Glasnost als „scharfe Waffe der Perestrojka“ ebenso festgeschrieben wie eine Rechtsreform und die Reorganisation des Parteiapparates. Der neue Volkskongress sollte im April 1989 erstmals zusammentreten. Nach einer Volksaussprache am 1. Dezember 1988 über die Teiländerung der Unionsverfassung und das Wahlgesetz zum Obersten Sowjet stand nun fest: Der zu wählende Kongress der Volksdeputierten besteht aus 2250 Mitgliedern. Er tagt 621 622

von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 638. Saslawskaja, Die Gorbatschow-Strategie, S. 19f.

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einmal im Jahr, wählt den Staatspräsidenten und aus den eigenen Reihen nach einem bestimmten Schlüssel den neuen Obersten Sowjet mit 542 Delegierten als ständig arbeitendes Parlament. Eine neue Institution wurde mit dem Komitee für Verfassungsaufsicht aus 21 Mitgliedern geschaffen, dem im Wesentlichen die Funktion des Staatsgerichts zufällt, der Keimzelle eines Verfassungsgerichts. Bei den Wahlen zeigte sich, wie tief der Gedanke der Beteiligung des Volkes an der Macht nun die Bevölkerung ergriffen hatte, denn einerseits fielen zahlreiche hohe Parteivertreter durch, andererseits wurde Boris Jelzin im Wahlkreis 1 (Moskau) mit 89 Prozent der Stimmen gewählt, auch erhielt Sacharow bei Nachwahlen als Vertreter der Akademie der Wissenschaften einen Sitz im Kongress. Mit dem Zusammentritt des Kongresses der Volksdeputierten am 25. Mai 1989 begann ein neuer Abschnitt der sowjetischen Geschichte. 623 Gorbatschow wurde zum Staatspräsidenten gewählt, am 28. und 29. Mai wählten die Delegierten die 542 Mitglieder des neuen Obersten Sowjet. Dann erfolgte die Wahl des Regierungschefs Ryschkow, wobei die Zahl der mit Wirtschaftsfragen befassten Ministerien von 50 auf 32 reduziert wurde. Probleme gab es bei der Wahl der Minister, als Ryschkow nicht alle seine Wunschkandidaten durchbrachte. Mit Abalkin, dem Leiter des Akademie-Instituts für Wirtschaft, wurde ein Wirtschaftsfachmann Vorsitzender der Staatskommission für Wirtschaftsreformen und stellvertretender Ministerpräsident, und mit Nikolaj Woronzew erhielt erstmals ein Parteiloser die Leitung des Staatskomitees für Umweltschutz. Mit Ironie, aber deutlichen Worten hatte Abalkin schon am ersten Tag die Administration kritisiert: „Was meint nun die Wirtschaftswissenschaft dazu? Sie glaubt, und wie ich meine, mit gutem Grund, dass man nicht auf Erfolg hoffen kann, wenn man gegen die objektive Logik des Lebens handelt und ihre Gesetze außer Acht lässt. Ich erlaube mir eine kleine Abweichung und zitiere einige Zeilen, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einer der bekanntesten russischen Wirtschaftswissenschaftler, Nikolai Iwanowitsch Turgenjew, schrieb: ‚Die grundlegende Kenntnis der Politökonomie ist die Pflicht der führenden Staatsmänner, und man kann kühn behaupten, dass jede Regierung, die die Regeln dieser Wissenshaft nicht versteht oder geringschätzt, unweigerlich infolge einer Finanzkrise gestürzt wird.‘ Ich glaube, dass die Jahre der letzten Fünfjahrpläne sehr anschaulich gezeigt haben, wie richtig diese Einschätzungen waren.“ Und weiter: „Was lehrt uns die Geschichte? Auf der Grundlage des Warenumsatzes erstellten wir Pläne, formulierten zusätzliche Planaufgaben und schlossen sie in den Staatsauftrag ein. Aber in den letzten 17 Jahren (das ist ein Viertel der Zeit seit Gründung der Sowjetunion) wurde der Plan fünfzehnmal nicht erfüllt. Das heißt, dass der Fehler im System liegt und wir mit alten Methoden kein Resultat erzielen können. Wir brauchen ein völlig anderes System, und zwar jenes, das vor einem Jahr im Juli auf dem Plenum des Zentralkomitees der Partei vereinbart

623

von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 639.

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wurde, d. h. wir brauchen wirtschaftliche Methoden um unsere wirtschaftlichen Beziehungen zu regeln.“ 624 Die Wirtschaftsreformen bildeten aber nur einen Teil der Veränderungen. Am Ende wurde eine neue Staatsstruktur beschlossen. Das bedeutete die Revolution von oben. So konnte man am Ende der Konferenz lesen: „Große Bedeutung hat die Abgrenzung der Funktionen von Partei- und Staatsorganen sowie die durchgehende Wiederherstellung der Machtbefugnisse der Sowjets. Gemeinsam mit der Reform der Gerichtshöfe und anderer Institutionen, die die rechtliche Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Bürger, den Schutz der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und persönlichen Rechte aller Gesellschaftsmitglieder garantieren, zielt all das letztlich auf die Vollendung eines sozialistischen Rechtsstaates ab, in dem das höchste Prinzip die bedingungslose Unterordnung aller unter das Gesetz sein wird.“ 625 Das Hauptargument, der Volksstaatsgedanke, verbirgt sich in der Resolution: „Der sowjetische Staat wurde als Werkzeug der Diktatur des Proletariats geboren und ist in einer bestimmten Phase der gesellschaftlichen Entwicklung zu einem Staat des ganzen Volkes geworden. Jetzt besteht die Aufgabe darin, dass das sowjetische Staatswesen diesem Begriff in vollem Umfange gerecht wird, damit alle Angelegenheiten im Land vom Volk und seinen bevollmächtigten Vertretern gelöst werden und unter seiner vollen und wirklichen Kontrolle stehen.“ 626 Sehr deutlich ist die Absicht zu erkennen, die KPdSU von den Hebeln der Macht zu isolieren und die Ausübung der Macht direkt auf das Volk und seine gewählten Vertreter zu verlagern. Als am 4. August diese erste Sitzungsperiode des neuen Obersten Sowjets zu Ende ging, nannte Gorbatschow sie zu Recht den Beginn des Parlamentarismus in der Sowjetunion. Das ist insofern interessant, als Max Weber die innenpolitische Lage in Russland, als1905 dem Zaren die Duma abgetrotzt worden war „Scheinkonstitutionalismus“ genannt hatte. Gorbatschow aber besaß durch seine Wahl vom Volkskongress zum Präsidenten der UdSSR eine neue Legitimation, die zwar aus seiner Rolle als Generalsekretär der KPdSU geboren, aber in neue, schon demokratisch zu nennende Strukturen des Staates hinübergewachsen war. Ein wichtiges Ziel war erreicht: die Trennung der KPdSU vom automatischen und alleinigen Zugang zur Macht. Mit großem Mut und neuem Schwung ging Gorbatschow mit seiner Mannschaft diesen Weg nun weiter. Im Artikel vom 26. November 1989 in der „Prawda“ brachten sie erneut das Kunststück fertig, mit Lenin-Zitaten die bisherigen Inhalte des orthodoxen Marxismus-Leninismus vom Kopf auf die Füße zu stellen, letzten

Sowjetunion, Sommer 1988. Offene Worte/Gorbatschow, Ligatschow, Jelzin und 4991 Delegierte diskutieren über den richtigen Weg. Sämtliche Beiträge und Reden der 19. Gesamtsowjetischen Konferenz der KPdSU in Moskau. Nördlingen 1988, S. 122ff. 625 Sowjetunion, Sommer 1988, S. 518f. 626 Sowjetunion, Sommer 1988, S. 522. 624

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Endes zu überwinden. Der Artikel lautete: „Die sozialistische Idee und die revolutionäre Umgestaltung“. 627 Gleich zu Beginn wird die Frage gestellt: „Wohin gehen wir? Sinn und Zweck der Umgestaltung“. Dann ist zu lesen: „Während wir anfangs annahmen, dass es im Wesentlichen um die Korrektur einzelner Deformationen des gesellschaftlichen Organismus, um die Vervollkommnung dieses im Großen und Ganzen festgefügten Systems geht, das sich in den vorangegangenen Jahrzehnten herausgebildet hatte, so sprechen wir jetzt von der Notwendigkeit eines radikalen Umbaus unseres gesamten Gesellschaftsgebäudes – vom ökonomischen Fundament bis zum Überbau. Und wir sprechen nicht nur davon, sondern unternehmen auch praktische Schritte zur Reformierung der Eigentumsverhältnisse, des Wirtschaftsmechanismus, des politischen Systems, zur Veränderung des geistigen und moralischen Klimas in der Gesellschaft.“ Dann wird die Qualität der Perestrojka angesprochen: „Da wir den Weg dieser revolutionären Veränderungen eingeschlagen haben, sind wir verpflichtet, sie ins Verhältnis zur Perspektive zu setzen und über die fundamentalen theoretischen Grundlagen unserer gesamten Arbeit nachzudenken. Ohne diesen strategischen Ansatz, ohne die Grundfragen ständig im Blickfeld zu behalten, ist es nicht möglich, weiter voranzuschreiten.“ Nach dem „Neudurchdenken der Vergangenheit“ und der „Erneuerung unserer Auffassung vom Sozialismus“ heißt es jetzt, dessen „neues Antlitz“ zu bestimmen. „Die Zukunft erwächst nicht aus Träumereien (wie es Chruschtschows Bild vom Einholen und Überholen der USA bis zum Jahr 1984 vorsah – W.G.), sondern aus der Gegenwart, aus den der Gegenwart innewohnenden Widersprüchen und Entwicklungstendenzen, aus unserer gemeinsamen Arbeit. Das zu vergessen hieße Luftschlösser bauen.“ Weiter: „Ich meine, wir begingen einen theoretischen Fehler, wenn wir erneut begännen, der Gesellschaft fertige Rezepte aufzuzwingen und das Leben, die Wirklichkeit in ein Prokrustesbett (das Lieblingswort Plechanows – W.G.) zu pressen. Das war kennzeichnend für den Stalinismus, mit dem wir nichts gemein haben. Wir handeln nach Lenin. Das aber bedeutet zu erforschen, wie die Zukunft aus der heutigen Realität erwächst, und danach unsere Pläne zu gestalten.“ Doch „heute verändern wir radikal, Schritt für Schritt die Organisationsformen unserer Gesellschaft.“ Es stehen aber keine alternativen Konzeptionen zur Verfügung, höchstens Standpunkte: „Das ist zum einen das administrative Kommandosystem, das Festhalten an der starren Planung, das Kommandieren nicht nur in der Ökonomie, sondern auch in der Kultur. Die zweite Position geht davon aus, dass der Weg unseres Landes die Entscheidung der Oktoberrevolution angeblich völlig widerlegt, weshalb eine Rückkehr der Gesellschaft zum Kapitalismus vorgeschlagen wird. Können wir diese Wege gehen? Nein, wir lehnen sie ab.“ Dagegen sucht er einen Weg im Sozialismus: „Dem Sozialismus steht es noch bevor, entsprechend dem ursprünglich in ihm als Idee angelegten tiefen Sinn zu einer adäquaten Erkenntnis seiner selbst zu gelangen.“ Insofern betrachtet er Michail Gorbatschow in der „Prawda” vom 26. November 1989. In: Neues Deutschland vom 28.11.1989, S. 5-7. 627

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die Perestrojka „als eine längere Etappe auf dem Weg des Sozialismus, in deren Verlauf die Abwendung vom autoritär-bürokratischen System erfolgt und sich ein wahrhaft demokratischer, selbstverwaltender gesellschaftlicher Organismus herausbildet“. Dann kommt er auf Marx zu sprechen und sagt, die Begründer des Marxismus hätten nur die sozialistische Idee entwickelt, aber keine konkreten Formen und Mechanismen der neuen Gesellschaft. Deshalb könne man sie auch nicht für die Deformation des Sozialismus, den Personenkult und die Stagnation verantwortlich machen. Das gelte auch für einige verbreitete Interpretationen des Marxismus. „Beispielsweise wird die Auffassung vertreten, die in unserem Lande über Jahrzehnte vorherrschende negative Einstellung zur Warenproduktion rühre unmittelbar von Marx her, der annahm, dass das Wertgesetz mit dem Übergang vom privaten zum gesellschaftlichen Eigentum seine Fähigkeit einbüße, Regulator der Produktion zu sein.“ Marx aber habe die Überwindung der Warenproduktion mit dem höchsten Entwicklungsstand der Produktivkräfte verbunden, sie einem bettelarmen, zerrütteten Land aufzuzwingen, wie das im Kriegskommunismus der Fall war, dafür könne Marx nicht verantwortlich gemacht werden. Dann aber korrigiert Gorbatschow Marx selbst und stellt sich auf die Seite von Bernstein, der in England miterlebt hatte, wie lernfähig der Kapitalismus gewesen war. „Wir können heute sagen“, so Gorbatschow, „dass Marx die Möglichkeiten des Kapitalismus zur Selbstentwicklung unterschätzt hat, dem es gelungen ist, die Errungenschaften der wissenschaftlich-technischen Revolution aufzugreifen, solche gesellschaftlichen und ökonomischen Strukturen auszubilden, die seine Lebensfähigkeit gewährleisten und in den Ländern des entwickelten Kapitalismus einen verhältnismäßig hohen Wohlstand für die Mehrheit der Bevölkerung zu sichern, was seine tiefen inneren Widersprüche selbstverständlich nicht aufhebt.“ Und er sucht nach der Begründung: „Obwohl Marx als erster die gewaltigen Entwicklungspotenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, der Umwandlung der Wissenschaft in eine unmittelbare Produktivkraft und soziale Kraft erkannte, sah er nicht vorher, dass die künftige wissenschaftlich-technische Revolution zu einer neuen Quelle der Entwicklung des Kapitalismus werden könnte.“ Marx konnte auch nicht vorhersehen, dass es zu einer längeren Koexistenz der beiden Gesellschaftssysteme kommen würde. Außerdem sind heute neue, akute Probleme aufgetreten, die zur Zeit der Klassiker nur embryonal existierten. Auch ist der Kapitalismus heute transnational ausgerichtet. Dann verweist er auf die globalen Probleme: Sie hätten sich derart zugespitzt, dass ohne ihre Berücksichtigung heute keine realistische Vorstellung von den gegenwärtigen Entwicklungstendenzen der Gesellschaft, von der Zukunft der Menschheit entwickelt werden könne. Aber auch der Sozialismus habe sich in der Welt vielgestaltig entwickelt: „Deshalb ist die Variantenvielfalt der sozialistischen Entwicklung selbst in jeder einzelnen Gesellschaft unausbleiblich.“ Damit gibt er den Anspruch auf, das sowjetische Modell wäre für jeden sozialistischen Staat verbindlich. Nun aber folgt das Loblied

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auf die Sozialdemokratie, und dabei wird nun seine eigene Position deutlich: „Unter diesem Blickwinkel betrachten wir auch die Erfahrungen der Sozialdemokratie. Wir sehen und würdigen ihren jahrhundertelangen Beitrag zur Entwicklung der Werte des Sozialismus, zur Durchführung sozialer Reformen, die zur Erhöhung des Wohlstandes und der sozialen Sicherheit der Werktätigen in vielen kapitalistischen Ländern des Westens beigetragen haben. Die reichen, verschiedenartigen, wenn auch widersprüchlichen Erfahrungen der Sozialdemokratie werden von uns mit Interesse studiert. Wir sind bestrebt, daraus das zu erschließen, was unter den Bedingungen unserer Gesellschaft geeignet ist.“ Das bedeutet, dass auch die Frage nach dem ökonomischen Wettstreit zwischen Kapitalismus und Sozialismus neu gesehen werden muss. Denn es geht nicht mehr um quantitatives Wachstum (die Tonnenideologie), sondern um die Einsparung von Ressourcen, das Niveau der Technologie, die Bereitstellung von Informationen. „Offensichtlich ist auch, dass es im Kapitalismus als auch im Sozialismus Prozesse gibt, die ihrem Inhalt äußerst ähnlich sind, da sie letztendlich durch die Entwicklung der modernen Produktivkräfte, durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt hervorgebracht werden.“ Konsequent stellt sich nun die Frage nach dem spezifisch Sozialistischen. Und hier gibt er eine klare Antwort: „In unserem heutigen Verständnis ist die Idee des Sozialismus vor allem die Idee der Freiheit. Die Hauptzielstellung der sozialen Revolution, die Emanzipation der Arbeiterklasse, haben die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus untrennbar mit der Befreiung ‚aller Menschen‘ von jeglicher Form von Unterdrückung und Ausbeutung verbunden … Dabei handelte es sich um eine Freiheit, die sich auf die menschliche Vernunft, auf die humanistischen Vorstellungen von den Rechten der Persönlichkeit im Zusammenleben mit anderen Menschen stützt, um eine Freiheit, die nichts gemein hat mit Anarchie, mit eigennütziger und zerstörerischer Willkür. Deshalb verbindet sich die sozialistische Auffassung von der Freiheit organisch mit den Ideen der Gemeinsamkeit, der Gemeinschaft. Aber nicht mit einer Kasernengemeinschaft, in der die Persönlichkeit gleichgeschaltet ist, sondern mit einer Gemeinschaft, die Marx und Engels als wirkliche Gemeinschaft bezeichneten, in der die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit erlangen.“ Nun kommt er auf die politische Organisation zu sprechen. „Ein Wesensmerkmal des Sozialismus ist die Durchsetzung wahrer Volksherrschaft. In all den Jahren unserer Geschichte wurde das niemals und von niemandem negiert. Die Einbeziehung der Massen in die Leitung galt stets als wichtigstes Merkmal der sozialistischen Demokratie, deren Weiterentwicklung nach Lenin darin bestehen muss, dass aus einer Demokratie für die Werktätigen mit dem Fortschritt der Kultur und der Erhöhung des Bewusstseinsstandes der Massen eine von den Werktätigen selbst verwirklichte Demokratie wird. Als an der Schwelle der 50er zu den 60er Jahren unser sozialistischer Staat zum Staat des ganzen Volkes erklärt wurde, sollte dies offenbar als Markstein für die Kennzeichnung dieses Übergangs dienen. Leider hatten diese theoretischen Neuerungen mehrere Jahrzehnte lang keinerlei Veränderungen in den politischen Mechanismen zur Folge.

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Deshalb dürfen die sozialistische Demokratie wie auch die Eigentumsverhältnisse nicht abstrakt betrachtet werden, sondern sie müssen in Einheit mit den Mechanismen für die Verwirklichung ihrer Grundprinzipien gesehen werden, die geeignet sind, die sozialistische Selbstverwaltung des Volkes, den Rechtsstaat zu gewährleisten.“ Es folgt der Abschnitt „Das neue Antlitz des Sozialismus“. „In politischer Hinsicht führt die Erneuerung des Sozialismus zur Gewährleistung einer echten Volksmacht, indem Mechanismen einer Gesellschaft von Staatsbürgern und des Rechtsstaates geschaffen werden.“ Dann rechtfertigt er den „demokratischen Sozialismus“: „Bei uns hat für gewöhnlich schon der Terminus ‚demokratischer Sozialismus‘ eine Negativhaltung bewirkt; er wurde als Ausdruck einer reformistischen, opportunistischen Linie in der sozialistischen Bewegung betrachtet. Heute geht es bei uns um eine Demokratisierung nicht nur des staatlichen Systems, sondern des gesamten gesellschaftlichen Lebens, um eine Demokratisierung, die ein starker Stimulus für die Erhöhung der sozialen Aktivität und Eigeninitiative der Massen ist und gleichzeitig die Voraussetzungen für diese schafft. … Demokratie und Freiheit sind erhabene Werte der menschlichen Zivilisation, deren Erbe wir angetreten haben und die wir mit sozialistischem Inhalt erfüllen.“ Auch die Partei selbst müsse sich umgestalten, sich von ihren administrativen Aufgaben befreien und zu einem Zentrum für die Ausarbeitung politischer und ideologischer Plattformen werden, das bedeutet, sie verliert ihre bisherige Machtposition im Staat. Schließlich kommt er zum Ende: „Folglich ist der Sozialismus, auf den wir uns im Verlaufe der Umgestaltung zubewegen, eine Gesellschaft, die sich auf eine effektive Wirtschaft, auf Höchstleistungen in Wissenschaft, Technik und Kultur, auf menschlich gestaltete gesellschaftliche Strukturen stützt, alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens demokratisiert und die Voraussetzungen für ein aktives schöpferisches Leben und Wirken der Menschen geschaffen hat.“ Nun bettet er die sozialistische Gesellschaft ein in globale, d. h. systemübergreifende Entwicklungen: „Gleichzeitig sind viele Prozesse der Erneuerung des Sozialismus dem Wesen nach Prozesse der gesamten Zivilisation, die sich in dieser oder jener Form auch auf einem andern sozialen Boden vollziehen. Immer breiteren Raum im Leben der Menschheit beginnen für alle gemeinsame, globale Probleme einzunehmen. All das gibt Anlass dafür anzunehmen, dass sich bei Beibehaltung ihrer Besonderheiten die unterschiedlichen sozialen Systeme in dem Rahmen entwickeln werden, der in immer größerem Masse durch die Priorität der allgemeinmenschlichen Werte gesetzt wird wie Frieden, Sicherheit, Freiheit und die Möglichkeit für jedes Volk, sein Schicksal selbst zu bestimmen. Die Welt des Sozialismus bewegt sich hin in Richtung gemeinsamer Ziele der gesamten Menschheit im Rahmen einer einheitlichen Zivilisation, wobei sie nicht auf ihre Werte und Prioritäten verzichtet, sondern diese auf dem Weg der revolutionären Umgestaltung und des Aufbaus einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft auf den Prinzipien der Vernunft und des Humanismus immer weiterentwickelt und vervollkommnet.“ Das war Ende November 1989, als bereits die Mauer in Berlin gefallen war und

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die Deutschen sich anschickten „ihr Schicksal selbst zu bestimmen“, wie er es formulierte. Das Bild von der Einheit der Welt zeigt den Einfluss der Beschäftigung mit den globalen Problemen auf, wie sie der Club of Rome formuliert hatte. Gorbatschow befand sich auf der Höhe der Zeit. An keinem anderen Artikel Gorbatschows lässt sich die Methode der Argumentation so gut aufzeigen wie im Beitrag in der „Prawda“ vom 26. November 1989. Mit der Etablierung des Volksdeputiertenkongresses und dem aus ihm hervorgegangenen neuen Obersten Sowjet hatte sich die Machtstruktur zugunsten demokratischer Willensbildung verändert, auf Kosten der alten Rolle der KPdSU. Deren Generalsekretär aber war Gorbatschow noch immer und die Führungsrolle der Partei in der Verfassung – noch – festgeschrieben, so dass Gorbatschow, wollte er die Veränderungen forcieren, gezwungen war, die alten sprachlichen Hüllen mit neuen Inhalten zu füllen. In vier große Abschnitte ist der Artikel gegliedert: I. Wohin gehen wir? Sinn und Zweck der Umgestaltung; II. Der Marxismus-Leninismus und die Theorie des Sozialismus; III. Die Idee des Sozialismus und die sozialistische Praxis; IV. Das neue Antlitz des Sozialismus. I. Wir befinden uns in einer revolutionären Übergangsphase hin zu einer humanen, freien und vernünftigen Gesellschaft. Das wird eine sozialistische Gesellschaft sein. Dafür gibt es keinen fertigen Plan, keine fertigen Rezepte. Im Wettstreit der unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Formen, Strukturen und ideologischen Tendenzen kristallisiert sich erst die neue Qualität des gesellschaftlichen Seins heraus, als Prozess. Dem Sozialismus steht es deshalb noch bevor, entsprechend dem ursprünglich in ihm als Idee angelegten tiefen Sinn zu einer adäquaten Erkenntnis seiner selbst zu gelangen. Aber nur auf der Grundlage der aktuellen menschlichen Zivilisation. Das bedeutet, Gorbatschow bleibt im Vokabular des Marxismus-Leninismus, er beruft sich sogar auf Lenin, wenn er sagt, wir müssen erforschen, wie die Zukunft aus der heutigen Realität erwächst. Und er sagt, die bisherigen Sozialismusmodelle wurden der ursprünglichen Intention des Sozialismus nicht gerecht. Damit wird zur Suche nach neuen Wegen aufgerufen. Auch hier ist seit 1985 eine Vorwärtsbewegung, eine Dynamik erkennbar, und diese muss noch gesteigert werden. II. Im zweiten Abschnitt wagt Gorbatschow die Neuinterpretation der Oktoberrevolution. „Wenn wir von der Zukunft sprechen, dann wenden wir uns unweigerlich der Vergangenheit zu.“ Es geht um die Einschätzung der Oktoberrevolution. „Keine Revolution führt exakt zu den Ergebnissen, die ihre Teilnehmer erwartet haben – davon zeugen alle Erfahrungen der Geschichte der Menschheit. Das trifft auch auf die sozialistische Revolution zu.“ Wie schon in der „Perestrojka“ ordnet er die Oktoberrevolution ein in die Reihe anderer Revolutionen, normalisiert sie damit und nimmt ihr den endzeitlichen Charakter, die Singularität. Dazu zitiert er Friedrich Engels und Lenin. Die realen Ergebnisse der Revolution unterliegen aber auch neuen politischen und wissenschaftlichen Erkenntnissen. „Neue Erfahrungen führen ständig zu einer solchen Umbewertung.“ Und wenn

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man die Fortschritte betrachtet, die seit der Revolution erzielt worden sind, „so können wir auch die Frage nicht umgehen, in welchem Masse Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit, der demokratischen Bürgerrechte sowie andere negative Erscheinungen unter den Bedingungen der neuen Gesellschaftsordnung möglich wurden“. In der Vergangenheit sind Sieg und Misserfolge, Entdeckungen und Fehler, revolutionärer Elan und Opfer, Hoffnungen und Enttäuschungen untrennbar miteinander verbunden. „Wir können uns nicht von unserer Geschichte lossagen.“ Aber: „In der Vergangenheit liegen die Quellen vieler unserer heutigen Probleme.“ Man muss die Fehler untersuchen, um sie in der Zukunft zu vermeiden. Lenin hatte also kein fertiges Konzept oder Programm weder vor noch nach der Revolution. Es war die Suche nach Lösungswegen zu einer neuen Organisation der Gesellschaft. Und Lenin hat seine Ansichten wiederholt geändert. Diese Suche Lenins nach Lösungswegen wurde von Stalin unterdrückt. So hatte Lenin nach dem Ende des Bürgerkriegs erkannt, dass sich die Politik des Kriegskommunismus, d. h. der direkten Verteilung, der Arbeitspflicht, der Kontrolle, erschöpft hatte und dass es notwendig war, „die materielle Interessiertheit und die mit ihr verbundenen ökonomischen Mechanismen der Warenproduktion und – Zirkulation zur Wirkung zu bringen“. Gorbatschow: „Die entscheidende Richtung war die kühne Verkündung der NÖP – einer Politik, die den dogmatischen Vorstellungen und der in der Partei vorherrschenden Auffassung zuwider lief.“ Dann aber kommt er auf den schon viel beschriebenen Grundirrtum der Oktoberrevolution zu sprechen. Marx hatte noch kurz vor seinem Tod im Brief an Vera Sassulitsch geschrieben, Voraussetzung einer Revolution in Russland wäre die Revolution in den kapitalistischen Ländern. Dazu schreibt nun Gorbatschow: „W. I. Lenin und die Bolschewiki hofften in der Zeit der Vorbereitung und Durchführung der Oktoberrevolution auf die Unterstützung des Proletariats der am meisten entwickelten Länder, denn sie waren sich dessen bewusst, dass Russland nicht das ökonomische Entwicklungsniveau besaß, das für den Übergang zum Sozialismus notwendig war.“ Da Lenin in seiner Theorie vom „schwächsten Glied der entwickelten kapitalistischen Staaten“ Marx auf den Kopf gestellt hatte, musste er nun schnellstens die ökonomischen und kulturellen Voraussetzungen für den Übergang zum Sozialismus schaffen, „d. h. eine moderne Industrie errichten und eine Revolution auf dem Gebiet der Kultur verwirklichen. Mit anderen Worten, unter der Sowjetmacht das zu tun, was der Kapitalismus und die bürgerliche Demokratie hätten realisieren müssen“. Gorbatschow sagte also, dass die Bolschewiki eigentlich die Voraussetzung für ihre Revolution erst schaffen mussten. Das aber war der Geburtsfehler der Oktoberrevolution. Jetzt geht es um die Form der Industrialisierung. Hier stützt sich Gorbatschow auf Lenins Artikel „Über das Genossenschaftswesen“. In einem genossenschaftlichen Zusammenschluss der Kleinproduzenten sah er „eine neue Auffassung von Sozialismus“, dann, dass das System des Sozialismus ein „System zivilisierter Genossenschaftler“ ist. Entscheidend für die Entwicklung nach Lenins Tod ist der

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Verzicht auf schöpferische Diskussionen über Probleme und Alternativen, so dass sich am Ende die Idee des Sozialismus immer mehr dem Bild eines autoritären, bürokratischen, administrativen Kommandosystems näherte. Die Kluft zwischen der Theorie des Marxismus und der Realität wurde dadurch immer größer, ebenfalls zwischen den humanistischen Idealen und der Praxis. Die politische Zweckmäßigkeit wurde über die „formale Gesetzlichkeit“ gestellt, d. h. das Recht wurde ausgehebelt, das System unmoralisch. Andererseits, und das ist für unsere Argumentation wichtig, schreibt er: „Zugleich bewahrte das Volk trotz aller Deformationen in der Tiefe seines Bewusstseins die humanistische Auffassung vom Sozialismus und war bei jeder Gelegenheit bestrebt, ihr zum Durchbruch zu verhelfen.“ Das gelang aber, wie beim XX. Parteitag, nur teilweise, denn das „bürokratische System blieb im wesentlichen unbehelligt“. Die Auswirkungen waren aber verheerend. Gorbatschow schreibt: „Die Stalinschen Entstellungen führten zum Verlust des Entscheidenden in der Marxschen und Leninschen Sozialismus-Konzeption – der Auffassung vom Menschen als Ziel und nicht als Mittel. Anstelle der Idee von der freien Entwicklung eines jeden als Bedingung für die freie Entwicklung aller entstand die Vorstellung vom Menschen als einem ‚Schräubchen‘ in der Partei- und Staatsmaschinerie und von der Organisation der Werktätigen als ‚Transmissionsriemen‘ dieser Maschine. Auch im Weiteren blieb der einmal entstandene Mechanismus im Wesentlichen erhalten. Mehr noch, im Grunde genommen nahm das administrative bürokratische System an Stärke zu, was sich äußerst negativ auf die Gesellschaft auswirkte, die letzten Endes in einen Zustand der Stagnation und an den Rand der Krise geführt wurde.“ Er geht noch einen Schritt weiter, indem er sagt, es handelte sich nicht nur um die „Stagnationsperiode“, sondern es war die Zeit der ungenutzten Möglichkeiten, und das habe der Sache des Sozialismus ernsten Schaden zugefügt. Die Bedeutung der Umwälzung in Wissenschaft und Technik wurde unterschätzt, nichts unternommen, obwohl viel davon die Rede war. Mit dem Ergebnis, dass die Sowjetunion technologisch stehen blieb, „während die Länder des Westens in die nächste Epoche eingetreten sind, die Epoche der Hochtechnologien, eines prinzipiell neuen Wechselverhältnisses von Wissenschaft und Produktion, der neuen Formen der Lebensgestaltung des Menschen bis hin zum Alltag.“ Heute muss die KPdSU für die mit der Revolution eingegangenen unerfüllten Versprechen die Verantwortung übernehmen. Wenn man nicht die Revolution selbst als Fehlentscheidung betrachtet, dann muss jetzt erfüllt und vollendet werden, was bisher nicht erreicht wurde. Dazu aber ist ein neuer Anfang nötig: „Die marxistische Theorie hat die Möglichkeit vorausgesehen, dass im Verlaufe des Aufbaus der neuen Gesellschaft nicht nur einmal alles von neuem begonnen werden muss.“ Dieser Neubeginn ist die Perestrojka. Damit hat Gorbatschow alle Dogmen der Breschnew-Zeit hinter sich gelassen: die historische Gesetzmäßigkeit der Oktoberrevolution, die Zielgerichtetheit der Entwicklung seit der Revolution, die

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Verwirklichung der Marxschen Vorstellung der Errichtung einer humanen Gesellschaft und die Befreiung der Arbeiterklasse. Es folgt die Charakterisierung der Perestrojka als Gegenentwurf zur Breschnew-Zeit. Sie ist keine „Revolution von oben“, sondern „ein einheitlicher revolutionärer Prozess, der mit demokratischen Methoden vom Volk und für das Volk verwirklicht wird, dessen politische Avantgarde die Partei ist“. Aber sie besitzt nicht mehr das Monopol auf die Wahrheit. Was sind nun die Hauptmerkmale der Neudefinition des Sozialismus? Es sind die ursprünglichen Prinzipien der Revolution, die aber unter Berücksichtigung der bisherigen Erfahrungen konkretisiert werden müssen, der Erfahrungen in den sozialistischen wie in den kapitalistischen Ländern. Das wichtigste Prinzip ist die Überwindung der Konfrontation, „der absoluten, metaphysischen Gegenüberstellung der modernen Gesellschaftssysteme“. Das ist deshalb wichtig, weil die globalen Probleme die Menschheit als Ganzes bedrohen und deshalb nur gemeinsam gelöst werden können, aber auch, weil durch die Konfrontation die Bedeutung vieler Errungenschaften der Zivilisation nicht berücksichtigt wurde. Dazu gehören die einfachen Normen von Moral und Gerechtigkeit, auch formale Rechtsprinzipien wie die Gleichheit vor dem Gesetz, die Rechte und Freiheiten der Persönlichkeit, die Prinzipien der Warenproduktion und des äquivalenten Austausches, die auf der Wirkung des Wertgesetzes basieren. Heute setzt sich immer mehr der Gedanke durch, dass Warenproduktion und ökonomische Methoden der Leitung zum aktuellen Bestandteil des Sozialismus gehören. Nun folgt III. ein hochinteressanter Gedanke: Schon bei Lenin findet sich die Feststellung, dass es zwischen der Stufe, die als Monopolkapitalismus und der Stufe, die als Sozialismus bezeichnet wird, keinerlei „Zwischenkonstruktion“ gibt. Denn die Organisationsformen und der Grad der Vergesellschaftung der Produktion kommen sich hier sehr nah, „was davon zeugt, dass nicht mehr rein formationsspezifische, sondern überhaupt die Zivilisation kennzeichnende Mechanismen zum Wirken kommen“. Also sind auch die Inhalte des ökonomischen Wettstreits zwischen Kapitalismus und Sozialismus neu zu definieren. Nicht mehr qualitatives Wachstum, die „Tonnenideologie“ sind das Hauptkriterium, sondern die Einsparung von Ressourcen, das Niveau der Technologie, die Bereitstellung von Informationen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welchen Zuwachs an spezifisch „Sozialistischem“ die Tonnen bringen. Diese Kriterien müssen mehr auf die Interessen und Bedürfnisse der Menschen ausgerichtet sein. Das ist aber besser in der organischen Einbindung der Produktion in die Weltwirtschaft zu erreichen, insbesondere, da es in der modernen Produktion Prozesse gibt, die sich inhaltlich äußerst ähnlich sind. Das bedeutet aber der Abschied von der These des antagonistischen Widerspruchs zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der bisherigen Grundannahme des Leninismus Breschnewscher Auslegung. Welche Werte machen also das besondere Sozialistische aus? Es ist die Idee der Freiheit, „die sich auf die menschliche Vernunft, auf die humanistischen Vorstel-

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lungen von den Rechten der Persönlichkeit im Zusammenleben mit anderen Menschen stützt, um eine Freiheit, die nichts gemein hat mit Anarchie, mit eigennütziger und zerstörerischer Willkür“. Wieder folgt ein interessanter Gedanke über die Gemeinschaft. Denn die sozialistische Auffassung von Freiheit ist organisch mit den Ideen der Gemeinsamkeit, der Gemeinschaft verbunden. Das hat nichts mit „Kasernengemeinschaft“ zu tun, sondern, wie Marx und Engels die wirkliche Gemeinschaft bezeichneten, „in der die Individuen in und durch ihre Assoziation zugleich ihre Freiheit erlangen“. Deshalb heißt „Vergesellschaftung der Produktion“ nicht „Verstaatlichung“. Zwar bleibt die Priorität des gesellschaftlichen Eigentums erhalten, denn „die assoziierte und befreite Arbeit war und bleibt ein Wesensmerkmal des Sozialismus“, aber „zugleich lehnen wir eine formale Vergesellschaftung ab und setzen in der Praxis die Vielfalt der Eigentumsformen durch“. Damit ist auch Privateigentum wieder möglich. Das Sozialistische besteht darin, dass die Probleme der Arbeitsproduktivität, der Effektivität mit Humanismus und sozialer Gerechtigkeit gekoppelt sind. Aber das bedeutet nicht Gleichmacherei: „Die Gerechtigkeit des Sozialismus ist auf das engste verknüpft mit der Verteilung nach der Leistung, die ihrerseits ohne eine tiefgreifende Analyse der Probleme der Arbeitsproduktivität überhaupt, des realen Verhältnisses von einfacher und komplizierter Arbeit, der Verknüpfung der aktuellen und langfristigen Interessen der Gesellschaft nicht möglich ist.“ In der DDR sprach man 1984 von der „Triebkraftfunktion der sozialen Unterschiede“. 628 Das hat Auswirkungen auf die Herrschaftsform. Denn: „Ein Wesensmerkmal des Sozialismus ist die Durchsetzung wahrer Volksherrschaft. „Selbst nach Lenin gehört zur Weiterentwicklung der sozialistischen Demokratie, dass mit dem Fortschritt der Kultur und der Erhöhung des Bewusstseinsstandes der Massen eine von den Werktätigen selbst verwirklichte Demokratie entsteht. Zwar wurde unter Chruschtschow der Sowjetstaat zum „Staat des ganzen Volkes“ erklärt, der politische Mechanismus aber nicht verändert. „Deshalb dürfen die sozialistische Demokratie wie auch die Eigentumsverhältnisse nicht abstrakt betrachtet werden, sondern sie müssen in Einheit mit den Mechanismen für die Verwirklichung ihrer Grundprinzipien gesehen werden, die geeignet sind, die sozialistische Selbstverwaltung des Volkes, den Rechtsstaat zu gewährleisten.“ Wieder folgt eine interessante Denkfigur. Wenn der Sozialismus „Träger und Verteidiger der allgemeindemokratischen und allgemeinmenschlichen Ideale und Werte“ ist, ist der „Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse kein Kampf für Klassenrechte und Monopole, sondern für gleiche Rechte und Pflichten und für die Vernichtung aller Klassenherrschaft“, d. h. auch der Diktatur des Proletariats.

Klinger, Fred, Der stille Vormarsch. Anmerkungen zum 4. Soziologenkongress und zum Stand der DDR-Soziologie. In: Deutsche Studien 90, Juni 1985, S. 154-176. 628

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Im Abschnitt IV „Das neue Antlitz des Sozialismus“ stellt Gorbatschow die Hauptfrage: „Wohin gehen wir?“ Zuerst verabschiedet er sich vom Zukunftsmodell der Vergangenheit, denn das führte zu „Dogmatismus, ideologischer Gewalt, Abschirmung, Selbstbetrug und Vergewaltigung der Menschen und der Geschichte“. Dagegen ist das neue Antlitz des Sozialismus ein „realer und praktisch verwirklichter Humanismus“. Das lässt sich nur verwirklichen „durch die reale Einbeziehung des Menschen in alle staatlichen und gesellschaftlichen Angelegenheiten als verantwortliches Subjekt“ in seiner Tätigkeit, die „Entfremdung des Menschen, die Diskrepanz zwischen allgemeinen und persönlichen Interessen“ überwindet. Das erfordert aber Investitionen in den Menschen, in Volksbildung, Gesundheitswesen und Dienstleistungen. Das bedeutet Abbau des bürokratischen Zentralismus, Umgestaltung des Wirtschaftsmechanismus, Konversion der Betriebe im Verteidigungsbereich und Erhöhung der Anteile der Konsumtionsmittel am Gesamtumfang der Produktion. Dazu kommen ressourcensparende Produktion, Forcierung der Hochtechnologie. „In politischer Hinsicht führt die Erneuerung des Sozialismus zur Gewährleistung einer echten Volksmacht, indem Mechanismen einer Gesellschaft von Staatsbürgern und des Rechtsstaates geschaffen werden.“ Die Selbstverwaltung des Volkes verbindet Elemente der Basisdemokratie mit den „Mechanismen der parlamentarischen Vertretungsdemokratie, die eine klare Trennung zwischen Exekutive und Legislative sowie die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit gewährleisten“. Das bedeutet, Gorbatschow bewegt sich auf der Grundlage des Prinzips der Gewaltenteilung. Was bedeutet das für die Gesellschaft? Bei der Vielfalt der Eigentumsformen ist eine verstärkte Differenzierung unausweichlich. Das betrifft besonders die Bauernschaft, die viel mit der lebenden Natur zu tun hat und nicht in den industriellen Prozess integriert werden kann. Dafür aber geht es um die Wiederbelebung des Dorfes, Verbesserung der Infrastruktur, d. h. des Bereiches, für den sich Gorbatschow schon unter Breschnew eingesetzt hatte. Danach spricht er die nationalen Probleme an, die die Perestrojka hochgeschwemmt hatte, weil sie bisher nicht gelöst waren. Der Intelligenz wird eine große Rolle zugeschrieben im Prozess der Veränderungen. Saslawskaja hatte ja moniert, dass das Verhältnis Intelligenz-Arbeiter auf dem Kopf stand, es sollte wieder auf die Füße gestellt werden. Denn die Gesellschaft brauche Kreativität, Unternehmungsgeist, Wettstreit der Schulen, internationalen Erfahrungsaustausch. Die Beschreibung mündet in die Definition: „Folglich ist der Sozialismus, auf den wir uns im Verlaufe der Umgestaltung zubewegen, eine Gesellschaft, die sich auf eine effektive Wirtschaft, auf Höchstleistungen in Wissenschaft, Technik und Kultur, auf menschlich gestaltete gesellschaftliche Strukturen stützt, alle Seiten des gesellschaftlichen Lebens demokratisiert und die Voraussetzungen für ein aktives, schöpferisches Leben und Wirken der Menschen geschaffen hat.“

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Es ist der Abgesang auf die Stalinsche bürokratische Herrschaft und die mit ihr verbundenen Strukturen der Bevormundung des Bürgers durch Partei und allmächtige Administration und Unterwerfung der „sozialistischen Demokratie“ unter die Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates. Gorbatschow stützt sich dabei auf die Väter Marx, Engels und Lenin und muss am Ende die Frage beantworten, welche Rolle dann noch die alte KPdSU spielen kann. Sie muss sich selbst umbauen, um ihren Platz im demokratischen System zu finden, und sie muss sich selbst demokratisieren. Gorbatschow hat damit das Kunststück fertig gebracht, innerhalb des vorhandenen Spielraums sein Staats- und Gesellschaftsmodell zu entwerfen, das das dann veränderte Russland in die internationale Staatenwelt reintegriert. Auf der 19. Gesamtsowjetischen Konferenz wurde auch die Resolution „Über die Rechtsreform“ verabschiedet. Ihre Ziele wurden in Art. 1 deutlich: „1. Die Gesamtsowjetische Parteikonferenz stellt fest, dass in der Zeit, die seit dem Aprilplenum (1985) des ZK der KPdSU vergangen ist, weitreichende Maßnahmen zur rechtlichen Sicherung der Perestroika gesetzt wurden. Sie können jedoch nur als Anfang einer großen Arbeit gesehen werden, die mit der Schaffung eines sozialistischen Rechtsstaates verbunden ist. In den kommenden Jahren steht dem Lande die Durchführung einer ausgedehnten Rechtsreform bevor, die dazu berufen ist, die Vorrangstellung des Gesetzes in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zu gewährleisten und die Mechanismen zur Aufrechterhaltung der sozialistischen Rechtsordnung auf der Grundlage der Entwicklung der Macht des Volkes zu stärken. … 3. Zu einem festen Bestandteil der Rechtsreform muss eine grundlegende Reorganisation, Kodifizierung und Systematisierung der Gesetzgebung werden. Aus dem Blickwinkel neuer Bedingungen des Wirtschaftens, der Humanisierung und Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens und der Intensivierung der Verbrechensbekämpfung müssen grundlegende Änderungen in den Gesetzen über das sozialistische Eigentum, die Planung, die Finanz-, Steuer- und Wirtschaftsbeziehungen und den Umweltschutz, sowie auch an den Normen, die die Beziehungen zwischen den Staatsbürgern, die Arbeits-, Wohn- und Pensionsprobleme und andere Fragen des Lebens der Werktätigen regeln, vorgenommen werden. Die Straf-, Verwaltungs-, Prozess- und Umerziehungsgesetzgebung muss grundlegend überdacht werden. Von erstrangiger Wichtigkeit ist der rechtliche Schutz der Persönlichkeit. 4. Die Konferenz hält für eine der wichtigsten Aufgaben der Perestroika die Erhöhung der Rolle des Gerichts im System der sozialistischen Demokratie…Die Autorität des Gerichtes und die völlige Unabhängigkeit der Richter und ihre alleinige Unterstellung unter das Gesetz müssen gewährleistet werden. … 8. Die Konferenz verweist auf die Wichtigkeit der Erhöhung der Rolle der Anwaltschaft als selbstverwalteter Verein zur Gewährung von juristischer Hilfe für Staatsbürger, staatliche Betriebe und Genossenschaften und die Vertretung ihrer Inte-

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ressen vor Gericht sowie vor anderen Organen und gesellschaftlichen Organisationen. Die Teilnahme der Verteidiger an der Voruntersuchung und bei der Prozessführung muss erhöht werden.“ 629 Georg Brunner hat die neue Qualität in der Rechtsentwicklung beschrieben: „Auf der Grundlage der Verfassungsänderung vom 1. Dezember 1988, der an die Stelle des aus 1500 Deputierten bestehenden Obersten Sowjets der UdSSR zwei gesetzgebende Körperschaften, den volksgewählten Volkskongress mit 2250 Deputierten und den von diesem als ‚arbeitendes Parlament‘ bestellten Obersten Sowjet mit 542 Deputierten, gesetzt hat, haben sich im Mai/Juni 1989 Volkskongress und Oberster Sowjet neu konstituiert und nach zunächst recht chaotisch anmutenden Debatten eine rege Gesetzgebungstätigkeit entfaltet. Sie haben in der zweiten Jahreshälfte 1989 25 Gesetze verabschiedet. Nach Abzug von einem Plangesetz und fünf Bestätigungsgesetzen bleiben 19 ‚echte‘ Gesetze übrig, was besagt, dass die neuen Gesetzgebungsorgane in einem halben Jahr fast so viel geschafft haben wie der alte Oberste Sowjet in einem Jahrzehnt.“ 630 In Ziff. 2 der Resolution der 19. Parteikonferenz „Über die Rechtsreform“ wurde formuliert: „Alles ist erlaubt, was nicht durch Gesetz verboten ist.“ Dieser Gesetzesvorbehalt ist aber, so Brunner, in die sowjetische Rechtsdiskussion noch nicht vorgedrungen. Immerhin wurde privatwirtschaftliche Tätigkeit zugelassen. Nach Art. 3 Ziff. 1 Abs. 3 des am 1. Juli 1988 in Kraft getretenen Genossenschaftsgesetzes kann jedes Gewerbe Unternehmensgegenstand sein, das nicht durch „Gesetzgebung“ (zakonodatel’stvo) der Union oder der Unionsrepubliken verboten ist. Der Ministerrat schränkte aber eine Reihe gewerblicher Tätigkeiten wieder ein. Von einer Systemänderung spricht Brunner, weil auch die Partei der Gesetzbindung unterworfen wurde. Das gilt auch für ihren Platz im System der Gewaltenteilung. Hier schreibt Brunner: „Bis vor kurzem lehnte die sowjetische Staatslehre die Gewaltenteilung als ein ‚bürgerliches‘ Prinzip ab und kritisierte sie wegen ihrer ‚undemokratischen‘ Begrenzung der Parlamentsmacht. Sie setzte ihr das ‚sozialistische‘ Prinzip der ‚Gewaltenkonzentration bei der obersten Volksvertretung entgegen, obwohl es kaum einen sozialistischen Verfassungsgrundsatz gegeben hat, der in der Praxis in stärkerem Masse pervertiert worden wäre, als die Allmacht sozialistischer Parlamente. Dies hat sich nunmehr geändert. Die historischen Verdienste der ‚bürgerlichen‘ Gewaltenteilung werden anerkannt, und ihre Bedeutung für den ‚sozialistischen Rechtsstaat‘ wird diskutiert. Die generelle Tendenz weist in die Richtung einer modifizierten Gewaltenteilungslehre in dem Sinne, dass der demokratische Vorrang der Volksvertretung die Funktionenteilung zwischen Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung überlagern, also Rousseau mit Montesquieu versöhnt werden soll. In diesem Sinne bezeichnet der am 1. Dezember

Sowjetunion, Sommer 1988, S. 548ff. Brunner, Georg, Von der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“ zum „Sozialistischen Rechtsstaat, S. 52. 629 630

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1988 neugefasste Art. 108 der Sowjetverfassung den Kongress der Volksdeputierten als ‚höchstes Organ der Staatsmacht‘, das ‚jede Frage an sich zu ziehen und zu entscheiden befugt ist, die zur Kompetenz der UdSSR gehört‘.“ 631 Großen Anteil am Entwurf der neuen Verfassung hatte auch Sacharow, der in der Breschnew-Zeit mit seinem „Demokratischen Manifest“ sich schon an die Partei- und Staatsführung gewandt hatte. Schachnasarow schreibt über ihn richtig: „Wenn Andropow der politische Vorläufer der Reformära war, dann war Andrej Dmitrijewitsch (Sacharow) ihr ideologischer Vorbote“. Als Sacharow nun Gorbatschow erneut einen Verfassungsentwurf vorlegte, wurde Schachnasarow mit der Prüfung beauftragt. Er nennt es „ein tiefgreifendes und von Klugheit geprägtes Papier, das den Menschenrechten die höchste Priorität einräumte“ und das als Grundlage der neuen Verfassung dienen konnte. Darüber hinaus nennt Schachnasarow Sacharows Unterstützung der Reformen „von unschätzbarem Wert“. Er schreibt: „Er wurde nicht nur zum Mitkämpfer, sondern wuchs auch zum ersten ernstzunehmenden Rivalen Gorbatschows heran. Der Grund liegt darin, dass er einen Schritt voraus war, er drängelte, hatte es eilig. Dieser gebeugte, äußerlich unansehnliche Mensch, mit einer leisen Stimme und gütigem Blick ausgestattet, verfügte über den unerschütterlichen Willen eines Revolutionärs.“ Er wollte mit einem Schlag das alte System vernichten und ein neues schaffen. 632 Auf der Basis der am 1. Dezember 1988 beschlossenen Verfassungsreform hat der neue Oberste Sowjet in mehreren Schritten eine Justizreform verabschiedet, die am 1. Dezember 1989 in Kraft getreten ist. Das Justizpaket besteht aus zahlreichen Rechtsvorschriften, unter denen das Richtergesetz vom 4. August 1989, das „Gesetz über die Verantwortlichkeit für Missachtung des Gerichts“ vom 2. November 1989 und die Unionsgrundlagen der Gerichtsverfassung vom 13. November 1989 (ein Rahmengesetz, auf dessen Grundlage die 15 Unionsrepubliken ihre Gerichtsverfassungsgesetze zu verabschieden haben) die wichtigsten sind. Angesichts der früheren massiven Eingriffe in die Rechtsprechung (Telefonjustiz) ist die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter von höchster Bedeutung. Ab 1. Juli 1990 können die Bürger auch den Verwaltungsgerichtsweg einschlagen. Im Gesetz über die Verfassungsaufsicht vom 23. Dezember 1989 wurde zwar kein Verfassungsgericht eingesetzt, aber ein Komitee aus 27 Persönlichkeiten, die für 10 Jahre gewählt werden. 633 Vor diesem Hintergrund überrascht schon nicht mehr, dass es Gorbatschow im Februar 1990 gelang, das ZK zur entscheidenden Verfassungsänderung zu bewegen, nämlich der Streichung von Art. 6 über den Führungsanspruch der KPdSU über den Staat. Am 13. März erfolgte durch den zu einer außerordentlichen Sitzung zusammengerufenen Volksdeputiertenkongress die Streichung dieses Artikels aus der Verfassung von 1977. Um dem Vorsitzenden des Obersten Sowjet, nun losgeBrunner, Von der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“, S. 55f. Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 186f. 633 Brunner, Von der „Sozialistischen Gesetzlichkeit“, S. 58ff. 631 632

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löst von der bis dahin in der Verfassung festgeschriebenen Rolle des Generalsekretärs der KPdSU, eine neue Machtbasis zu errichten, wählte am 14. März 1990 der Volksdeputiertenkongress Gorbatschow ausnahmsweise zum „exekutiven Präsidenten“. Gorbatschow erhielt 59,2 % der Stimmen von 2245 anwesenden Delegierten. „Damit erhielt auch die Perestrojka eine neue Legitimation. Aus einer Parteiangelegenheit wurde sie eine Veranstaltung des Staates.“ 634 Und der Volkskongress entfaltete eine rege Aktivität. Es kam zur Gründung von Parteien. Auf Initiative der Leningrader Volksfront fand vom 16. bis 18. September 1989 eine erste Konferenz der demokratischen Bewegungen und Organisationen statt. 162 Delegierte vertraten 82 Organisationen auf dem Gebiet der UdSSR. Auch zwanzig russische Städte waren vertreten. „Diese Konferenz beschloss die Gründung einer interregionalen Vereinigung der demokratischen Organisationen, um die Aktivitäten der demokratischen Kräfte im ganzen Land zu organisieren. Etwa zwanzig ebenso mächtige Organisationen, wie die Volksfront in Moskau und Leningrad, die armenische Nationalbewegung, die georgische Volksfront, die demokratische Bewegung von Usbekistan und andere entschlossen sich, dieser Vereinigung beizutreten.“ Man formierte sich gegen die bis dahin allmächtige KPdSU. Diese geriet unter Druck, denn in der Schlussresolution heißt es: „Die KPdSU, die sich zweiundsiebzig Jahre lang die führende Rolle in unserer Gesellschaft angemaßt hatte, trägt die volle Verantwortung für die historische Tragödie, die totale politische, wirtschaftliche und moralische Krise in unserer Gesellschaft und für den dramatischen Anstieg der Konflikte zwischen den Nationen. Wir sind der Auffassung, dass diese Verantwortlichkeit für begangene Fehler und Verbrechen konkrete juristische und politische Konsequenzen haben muss. Die Konferenz spricht sich für die Trennung von KPdSU und Staat aus, für die Anerkennung gleicher Rechte für alle politischen Organisationen und Parteien. Die Verfassung der UdSSR muss sich auf die Verfassungen aller Republiken stützen, der republikanischen Rechtsprechung muss Vorrang vor der Rechtsprechung der Union gegeben werden…Wir plädieren für die Umwandlung der Sowjetunion in eine freie Konföderation unabhängiger Staaten.“ 635 Schon zu diesem Zeitpunkt zeigt sich also die Tendenz zur Auflösung der Union und zur Herausbildung der politischen Parteien. Zwei entscheidende Ereignisse zeigen auf, wie weit man bei der Verfassungsänderung gekommen war. Als erstes wählte der Volkskongress Gorbatschow zum Staatspräsidenten der UdSSR. Damit besaß dieser nicht nur ein Mandat unabhängig von seiner Rolle als Generalsekretär der KPdSU, er erhielt auch wesentlich erweiterte Vollmachten und ernannte einen sechsköpfigen Präsidentschaftsrat zur Abstützung seiner Position. Und zweitens trat Boris Jelzin vor laufender Kamera demonstrativ aus der KPdSU aus. Damit war der Weg offen, am 13. März 1990 634 635

Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1040. Afanassjew, Russland – Despotie oder Demokratie, S. 107.

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den Art. 6 über die alleinige Führungsrolle der KPdSU über den Staat aus der Verfassung von 1977 zu streichen. Die Macht der KPdSU war gebrochen. Konsequent verbot Gorbatschow nach dem Putsch die KPdSU in Russland und zog ihr Vermögen ein. Und Alexander Jakowlew gründete die Sozialdemokratische Partei Russlands. Ihrer Vorgängerin hatte Lenin, als er noch in Genf und München lebte, auch angehört. Hildermeier kommentiert: “Schewardnadse traf ins Schwarze, als er post festum meinte, die Putschisten hätten das Wichtigste nicht bedacht: Dass die verhasste Perestrojka das Volk verändert habe. Aus fügsam-verängstigten Untertanen waren, jedenfalls in der gegebenen Situation und in größerem Maße als zuvor, mitdenkende, aktive Bürger geworden“. 636 Schon mit Blick auf die neue Rolle der Parteien in Russland schreibt Afanasjew über die „Bewegung für Demokratische Reformen“: „Zu Beginn des letzten Winters der Perestrojka entstand eine neue politische Bewegung: die Bewegung für Demokratische Reformen. An ihrer Spitze fanden sich all die Persönlichkeiten wieder, die mit Gorbatschow gebrochen hatten, doch immer an der Spitze einflussreicher politischer Strukturen standen: Eduard Schewardnadse, der ehemalige Außenminister, Gawril Popow und Anatoli Sobtschak, die Bürgermeister der beiden Hauptstädte, Alexander Jakowlew, der ehemalige Chef des Reformflügels der Partei, Arkadi Wolski, Präsident der Unternehmerunion, die in Wirklichkeit Verwalter der Rüstungsindustrie ist, und der Wirtschaftswissenschaftler Schatalin als Vertreter der wissenschaftlichen Elite.“ Auch hohe Vertreter der Rüstungsindustrie, der obersten Schicht der offiziellen sowjetischen Wissenschaften und die ehemaligen Chefs der Kommunistischen Parteien Litauens und Russlands traten bei. „Kurz, die ganze nachkommunistische Nomenklatura bildete eine Partei, die an die Macht wollte, obwohl offiziell von einer einzigen Partei an der Macht nicht mehr die Rede sein sollte.“ 637 Nachdem Boris Jelzin in einer Direktwahl vom russischen Volk zum Präsidenten gewählt worden war und die Mitgliedsländer – vor allem Russland – nach dem August-Putsch zum 31. Dezember 1991 aus der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken austraten, hörte die Sowjetunion zu existieren auf. Dadurch hatte zwar Gorbatschow sein Amt als Präsident der Union verloren, aber Russland erstand aus dem völlig veränderten Staat als Rechtsnachfolger der UdSSR auf. Noch in der Nacht ließ Russlands Präsident Jelzin die Sowjetfahne vom Kreml entfernen und die alte weiß-blau-rote Russlands hissen. Nach dem Zerfall der UdSSR war nicht nur die Hauptmacht des sozialistischen Staatssystems verschwunden, die europäische Landkarte wurde neu gestaltet. Die baltischen Staaten erhielten ihre im Hitler-Stalin-Pakt geopferte Souveränität zurück, die kaukasischen Republiken, voran Georgien, Stalins Heimat, das schon als Sowjetrepublik Grusinien unter Schewardnadse seine nationale Identität verteidigt hatte (Breschnew wollte dem Land Russisch als Amtssprache in die Verfassung Hildermeier, Manfred, Geschichte der Sowjetunion 1917 – 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998, S. 1059. 637 Afanssjew, Russland – Despotie oder Demokratie, S. 206. 636

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schreiben), die mittelasiatischen Republiken sprachen mit ihrer Neugründung von der „Befreiung von der russischen Besatzung seit 1860“. Nur Bulgarien hat sein traditionell gutes Verhältnis zu Russland bewahrt, verdankt es seine Wiedererstehung als Nationalstaat 1878 doch Russlands militärischem Engagement in der „Befreiung vom türkischen Joch“. Sicherheitspolitisch spielte es – vorerst – keine Rolle, dass die von der Herrschaft der UdSSR befreiten Länder die Mitgliedschaft in der NATO suchten, da der Warschauer Pakt sich aufgelöst hatte und in Russland ein Staat existierte, der dem Unterfangen abgeschworen hatte, die sowjetische Gesellschaftsform in die Welt zu tragen. Gorbatschow hatte gesagt: „Die Perestrojka ist eine Revolution!“ Und Jakowlew weist dieser Revolution größere Bedeutung zu als dem Putsch Lenins vom Oktober 1917 mit seinen Folgen. Beurteilt man aber, unter welchen Bedingungen Gorbatschow und seine Anhänger die Revolution durchführten – und mit welchen Widerständen! – zeigt sich ihr ganzes politisches Geschick wie ihre Erfahrung innerhalb der Parteihierarchie. Denn die Verfassungskonformität blieb in diesem Prozess zwar gewahrt, indem zwar die alte Terminologie beibehalten 638, aber mit neuen Inhalten ausgefüllt wurde, bis die Machtverschiebung nicht mehr zu übersehen war. Das war ein Teil der „List“, mit der die Gorbatschowsche Mannschaft arbeitete. Gorbatschows Ziel also war klar, wie er später in Ankara selbst formulierte: „Mein Lebensziel war die Zerschlagung des Kommunismus, der eine unerträgliche Diktatur über das Volk ist. … Am meisten konnte ich dafür in den höchsten Funktionen tun ... Ich musste die gesamte Führung der UdSSR entfernen … Ich musste auch die Führung in all den sozialistischen Staaten beseitigen. Mein Ideal war der Weg der sozialdemokratischen Parteien … Was meine Arbeit angeht, ich habe das wichtigste Ziel meines Lebens erreicht.“ 639 Und er bittet quasi um Verständnis für den schwierigen Weg, wenn er schreibt: „Noch eine, vielleicht die wichtigste, Schlussfolgerung möchte ich ziehen. Der Übergang vom Totalitarismus zur Demokratie erfordert in jedem Fall die Unterstützung einer ganzen Gruppe von politischen und sozialen Kräften. Nur so kann eine sofortige und kontinuierliche Umsetzung des Reformkurses gewährleistet werden. Ich hoffe, es ist mir gelungen zu erklären, warum die Perestrojka ‚von oben‘ eingeleitet worden ist. Aber die ‚Revolution von oben‘ hat ihre Grenzen. Sie hatte sich selbst erschöpft in dem Augenblick, als der Differenzierungsprozess der Spitze von Partei und Staat einsetzte und als die verschiedenen Positionen, von denen ich schon sprach, in die direkte Auseinandersetzung übergingen.“ 640

Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion, S. 1034. Gorbatschow, Michail, Vortrag in der amerikanischen Universität in Ankara. In: Richter, Horst, Musste die Perestoika scheitern? Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 2009, S. 65. 640 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 20. 638 639

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4. Die „Bürde der Weltmacht“ und die Krise des Sowjetimperiums 4.1 Das neue Denken in der Außenpolitik Die außenpolitische Bilanz der Sowjetunion war am Ende der Breschnew-Zeit verheerend. Dabei hatte seine Mannschaft durchaus Erfolge zu verzeichnen gehabt. Die Abkommen über die Begrenzung der strategischen Rüstung waren auf der Grundlage der Parität abgeschlossen worden, für die sowjetische Führung der lang ersehnte Durchbruch zur Anerkennung als Weltmacht. Aber auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit hatte sich entwickelt, und insbesondere die Erdgas-Röhrengeschäfte waren auf langfristige Kooperation angelegt. Die KSZE-Schlussakte von 1975 garantierte der Sowjetunion die europäischen Nachkriegsgrenzen zum Preis der Anerkennung der amerikanischen Präsenz in Europa und der Zusammenarbeit auf den Gebieten Wissenschaft, Ökonomie und Information. Nicht nur die Weltgemeinschaft, auch die Bevölkerung in Ost und West war erleichtert über den Geist der Détente. Umso entsetzter waren die Menschen auch in der Sowjetunion über die dem Geist der Abkommen widersprechende Aufrüstung wie das militärische Engagement in Angola, Mozambik, zuletzt in Afghanistan. Im Boykott der Olympischen Sommerspiele1980 in Moskau durch die meisten westlichen Staaten geriet das Ereignis, das gerade die neue Weltoffenheit der Sowjetunion demonstrieren sollte, zum Desaster. Am Ende der Breschnew-Zeit fand sich die Sowjetunion völlig isoliert, denn auch die Beziehungen zu China lagen auf Eis. In seiner kurzen Amtszeit war es Andropow nicht vergönnt, diese Isolation aufzubrechen. Einen ersten Lichtblick gab es unter seinem Nachfolger Tschernenko, als 1984 die Stockholmer Gespräche über KVAE (Konferenz über Vertrauens- und Sicherheitsbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa) aufgenommen wurden. Sie sollten die 1973 begonnenen, aber stagnierenden MBFR-Gespräche (über konventionelle Abrüstung in Europa) ergänzen, wenn nicht ablösen. Gorbatschow stand also vor keiner einfachen Aufgabe: Die sowjetische Außenpolitik musste völlig neu ausgerichtet werden. Das betraf die Bereiche des Verhältnisses zu den USA, zu Europa, zu China, zu den Blockfreien, vor allem die Lösung des Afghanistan-Problems. Dazu kamen noch die gesellschaftlichen Bewegungen in den Ostblock-Staaten, vor allem in Polen. Es entsprach also der Notsituation, wenn Gorbatschow im Interview der „Time“ vom 1. September 1985 sagte, die Sowjetunion brauche eine lange Atempause, um die begonnenen Reformen zielgerichtet weiterführen zu können. Das bedeutete den Abschied von der Strategie der Veränderung des Kräfteverhältnisses in der Welt zu Gunsten der Sowjetunion. Sicherheit definierte Gorbatschow nun als politische Aufgabe, die nur mit politischen Mitteln bewältigt werden könne. Das Konzept der bipolaren Konfrontation wird abgelöst von der Vorstellung der Multipolarität der Welt und ihrem sich stürmisch verändernden Zustand. Die Interessen der einzelnen Staaten

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als Teil dieser Welt werden als legitim anerkannt: „Ausnahmslos alle sehen sich vor der fundamentalen Aufgabe, ohne die Augen vor sozialen, politischen und ideologischen Gegensätzen zu verschließen, sich die Wissenschaft und die Kunst anzueignen, auf der internationalen Szene ein zurückhaltendes und umsichtiges Verhalten an den Tag zu legen und zivilisiert, das hießt unter den Verhältnissen eines korrekten internationalen Verkehrs, einer korrekten internationalen Zusammenarbeit zu leben. Dafür ist, neben Abrüstung, ein allumfassendes System der internationalen wirtschaftlichen Sicherheit erforderlich.“ 641

4.2 Von der Bipolarität zum multipolaren Weltverständnis Wenn die Hochrüstung und die Sprachlosigkeit der Supermächte Sowjetunion und USA das Ergebnis der bi-polaren Weltordnung waren und diese auf dem Antagonismus der unterschiedlichen Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme beruhte, musste umgekehrt die Abkehr vom bi-polaren Denken und die Hinwendung zur Vorstellung einer ganzheitlichen Welt, zur Welt-Zivilisation, auch zum Abbau der antagonistischen Hochrüstung führen. Neben die Notwendigkeit der Kooperation zur Lösung der globalen Probleme, wie sie, unter Beteiligung der sowjetischen Mitglieder, vom Club of Rome formuliert und vom IIASA (Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse) in Laxenburg bei Wien im internationalen Rahmen erforscht wurden, waren sowohl die Erkenntnis wie die Erfahrung getreten, dass eine ständige Erhöhung des Waffenarsenals nicht automatisch auch mehr Sicherheit bedeutete, sondern, im Gegenteil, ein Punkt erreicht war, an dem durch technisches wie menschliches Versagen die Menschheit in einem atomaren Desaster untergehen konnte. Dieser Gedanke der Beschränkung der gegenseitigen Hochrüstung hatte bereits in mehreren internationalen und bilateralen Abkommen Früchte getragen. Dazu gehören der Antarktis-Vertrag von 1959, der Atomtest-Stopp-Vertrag von 1963, der WeltraumVertrag von 1967, der Vertrag von Tlatelolco 1967 über das Verbot von Kernwaffen in Südamerika, der Nicht-Verbreitungs-Vertrag von 1968, der MeeresbodenVertrag von 1971, der Mond-Vertrag von 1979, vor allem der SALT I und ABMVertrag von 1972, SALT II 1979. Es folgte 1985 das Abkommen zur Verhinderung der nuklearen Erpressung durch Terroristen zwischen USA und UdSSR. Das Erreichen der militärischen Parität in diesen Verträgen hatte aber gerade die Stalinisten der sowjetischen Führung zu der irrigen Annahme verleitet, von dieser Basis aus doch noch über die Dritte Welt und die sozialen Bewegungen in den westlichen Industriestaaten das Gleichgewicht zu ihren Gunsten verändern zu können. In der Strategie vom „Kräfteverhältnis in der Welt“ fand diese politische Philosophie ihre Ausformulierung, im Engagement in Angola, Mozambik, zuletzt 641 Politischer Bericht des ZK der KPdSU an den XXVII. Parteitag der KPdSU vom 25.02.1986; von Rauch, S. 627.

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1979 in Afghanistanihren militärischen Ausdruck. 642 Das bedeutete aber, die Sowjetunion hatte es versäumt, die errungene militärische Parität zur wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Modernisierung des Landes zu nutzen. Stattdessen vergeudete sie die Ressourcen für die zuletzt sinnlose Auf- und Überrüstung, die das Land in die wirtschaftliche Krise führte. Als „Obervolta mit Atomraketen“ wurde diese Situation von Kritikern auch innerhalb der Sowjetunion verspottet. Valentin Falin beschrieb die Lage treffend: „Das Land war außerstande, seine Bürger zu ernähren, zu kleiden, sie medizinisch zu versorgen und ihnen ein einigermaßen angemessenes Dach über dem Kopf zu geben. Materielle Ressourcen, ungezählte Milliarden an Haushaltsmitteln und ein unermessliches geistiges Kapital verschlang der unersättliche Moloch Militarismus. Die falsche Strategie, sich eine ihr fremde Logik der Konfrontation zueigen zu machen, trieb die UdSSR in eine permanente Krise.“ 643 Folglich musste eine gesellschaftspolitische Erneuerung, die einen Wandel der ökonomischen Verhältnisse einschloss, nicht nur von einem Abbau der Überrüstung begleitet sein, er musste ihr vorausgehen. Das bedeutete aber eine völlige Neuausrichtung der Außenpolitik, und das konnte nur den Verzicht auf die systembedingte Auseinandersetzung zur Folge haben. Gorbatschow schreibt selbst: „Augenscheinlich wären Perestrojka und Glasnost, die grundlegenden Reformen im wirtschaftlichen und politischen System, ohne entsprechende Veränderungen in der sowjetischen Außenpolitik, ohne ein günstiges internationales Klima nicht möglich gewesen.“ Und: „Das bedeutete eine Kursänderung um 180 Grad.“ 644 Er verweist auf sein Buch „Perestrojka“; in ihm seien die theoretischen Grundsätze genannt, auf denen die neue Weltordnung, die die Nachkriegszeit ablöse, fußen müsse: „Anerkennung der Interdependenz von Staaten und Völkern, Interessenausgleich, Selbstbestimmungsrecht der Völker, gemeinsame Verantwortung für die Lösung der globalen Probleme der Gegenwart.“ Er schreibt: „Wir haben die Notwendigkeit erkannt, unsere verzerrten Vorstellungen vom Ausland zu revidieren, das uns jahrzehntelang als Feind hingestellt wurde. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das öffentliche Bewusstsein, die Wissenschaft und Kultur sowie das intellektuelle Potential unseres Landes haben darunter gelitten. Wir haben erkannt, dass in der modernen, von gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Welt die Entwicklung einer Gesellschaft, die durch unpassierbare Staatsgrenzen und ideologische Schranken von der weltweiten Entwicklung abgeschirmt ist, nicht möglich ist. Jede Gesellschaft kann sich heutzutage nur im Zusammenhang mit anderen Gemeinschaften rege entwickeln, ohne dabei ihre Eigenständigkeit einbüßen zu müssen. Wir haben erkannt, dass die Sicherheit des eigenen Landes ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen anderer Staaten nicht zu gewährleisten ist, dass im Atomzeitalter dauerhafte Sicherheit mit militärischen Mitteln nicht mehr garantiert

Geierhos, Wolfgang, Das Kräfteverhältnis. Die neue Globalstrategie der Sowjetunion. Lüneburg 1979. 643 Falin, Konflikte im Kreml, S. 15. 644 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 573. 642

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werden kann. Dies veranlasste uns, eine prinzipiell neue Konzeption globaler Sicherheit zu entwickeln, die alle Aspekte der Beziehungen zwischen Völkern und Staaten, einschließlich ihrer menschlichen Dimensionen, erfasst.“ 645 In seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution im November 1987 stellte Gorbatschow die Prinzipien seiner Außenpolitik vor. Er berief sich dabei, in der Argumentation ganz konservativ, auf die Beschlüsse des April-Plenums des ZK 1985 wie des XXVII. Parteitages ein Jahr später: „Der Ausgangspunkt ist bekanntlich folgender Gedanke: Ungeachtet der tiefen Widersprüchlichkeit der Welt von heute und der grundlegenden Unterschiede der sie repräsentierenden Staaten ist die Welt wechselseitig miteinander verbunden, voneinander abhängig und bildet ein bestimmtes Ganzes.“ Die internationalen Weltwirtschaftsbeziehungen, die wissenschaftlich-technische Revolution, die prinzipiell neue Rolle der Informations- und Kommunikationsmedien, die Begrenztheit der Ressourcen, die allgemeine ökologische Gefahr, die sozialen Probleme der Entwicklungsländer, die alle angehen, hauptsächlich aber die Existenz der Kernwaffen und die Gefahr ihres Einsatzes haben die Existenz der Menschheit in Frage gestellt. „So hat der Leninsche Gedanke von der Priorität der Interessen der gesellschaftlichen Entwicklung einen neuen Inhalt und eine neue Bedeutung erfahren.“ 646 Wieder füllt Gorbatschow das tradierte Vokabular mit neuem Inhalt. Jakowlew hatte schon darauf hingewiesen, dass auf dem XXVII. Parteitag vom Antagonismus der Systeme Abstand genommen wurde, wenige aber begriffen hatten, was das für die Außenpolitik der Sowjetunion bedeutete. Wenn aber nach dem Abschied vom Systemantagonismus normale Beziehungen zwischen den Staaten möglich sind, bedeutet das den Abbau des Trennenden zwischen den – früheren – Blöcken. Das heißt aber, zu Ende gedacht, Abbau der innerdeutschen Grenze und des Eisernen Vorhangs. Das aber bedeutet das Ende der DDR. Die Frage aber ist interessant, ab welchem Zeitpunkt von sowjetischer Seite Äußerungen oder Aktivitäten in Richtung der Einheit Deutschlands zu finden sind. Das führt zu drei Fragen: 1. Ab welchem Zeitpunkt taucht das Thema „Wiedervereinigung“ auf? 2. In welcher Weise wurde sie angestrebt, und in welcher Form sollte ein „vereintes Deutschland“ entstehen? 3. Wie lief der Prozess der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ab? 647 Gorbatschow selbst, vor allem aber die außenpolitischen Berater und Vordenker, geben hier aufschlussreiche Hinweise. So schreibt Wjatscheslaw Daschitschew, der Leiter der Abteilung für außenpolitische Probleme im Rahmen der Akademie der Wissenschaften und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Konsultativen Beirats im Außenministerium, er habe bereits Mitte der 70er Jahre begonnen, ein alternatives Konzept der sowjetischen Außenpolitik zu erarbeiten. Das Gorbatschow, Erinnerungen, S. 574f. Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung: Die Revolution wird fortgesetzt. In: Neues Deutschland vom 03.11.1987, S. 6. 647 Siehe das Kapitel über die deutsche Einheit. 645 646

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habe Anfang der 80er Jahre, also nach dem Fiasko der Afghanistan-Intervention, dem Olympia-Boykott und der Verhängung des Kriegsrechts in Polen, klare Konturen angenommen. Seinen Vorstellungen nach musste man alles tun, um den Kalten Krieg und den Rüstungswettlauf allmählich einzustellen. Und der Kalte Krieg könne da beendet werden, wo er begonnen hatte – in Ostmitteleuropa: „Dazu sei es nötig, die hegemoniale Ausrichtung der sowjetischen Politik und die ihr zugrunde liegenden stalinistischen Dogmen aufzugeben, neue partnerschaftliche, gleichberechtigte Beziehungen mit ostmitteleuropäischen Ländern herzustellen, zu einem neuen Verhältnis mit dem Westen zu kommen und gemeinsam mit ihm die Schaffung einer friedlichen europäischen Ordnung ohne Trennungslinien, Einflusssphären, Dominanz und Gewalt in die Wege zu leiten.“ Ausdrücklich betont Daschitschew: „Im Westen ist die Meinung sehr verbreitet, das neue außenpolitische Denken in der Sowjetunion wäre erst unter Gorbatschow entstanden. Das stimmt nicht. In Wirklichkeit wurden neue Ideen im Bereich der sowjetischen Außenpolitik lange vor 1985 entwickelt.“ 648 Dann bringt er einen Gedanken ins Spiel, der im Laufe der Jahre immer stärkere Bedeutung erhielt: „die Gefährlichkeit des Kommunistischen Messianismus“. Ausgehend von seinen Forschungen über hegemoniale Politik und das Streben nach Weltherrschaft, wie es Fritz Fischer im „Griff nach der Weltmacht“ für das deutsche Kaiserreich entwickelt hatte, 649 überträgt Daschitschew diesen Ansatz und nennt das Ergebnis in seiner Denkschrift für Andropow, der zu alternativen Denkansätzen angeregt hatte, „reflektierende Rückwirkung“. Sie werde in den internationalen Beziehungen in Gang gesetzt, wenn eine Groß- oder Supermacht zur hegemonialen Politik greife und im Ergebnis die Bildung einer Gegenkoalition bewirke, die wieder zur Niederlage dieser agierenden Macht führe, wie zwei Weltkriege bewiesen. Dagegen setzte er Anfang der 80er Jahre in seinen Denkschriften die neuen Grundsätze für eine Außenpolitik der Sowjetunion: „Der Verzicht auf den ‚Klassenkampf‘ in der internationalen Arena und die Rückkehr zu Prinzipien des Völkerrechts, die De-Ideologisierung der Außenpolitik, die Verurteilung des Hegemonismus und des messianischen Alleinvertretungsanspruchs, die Herstellung gleichberechtigter Partnerschaftsbeziehungen mit osteuropäischen Ländern auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts, die Abkehr von der ‚Breschnew-Doktrin‘ und von dem sinnlosen und unnötigen Konzept der ‚strategischen Parität‘ gegenüber dem Westen, die Beseitigung einer riesigen Überlegenheit des Warschauer Paktes und die Sicherstellung eines Gleichgewichts zwischen beiden Blöcken an konventionellen Truppen, die Transformation der Streitkräfte beider Blöcke in rein defensive angriffsunfähige Strukturen (wurde in der KSZE zur ‚strukturellen Angriffsunfähigkeit‘ – W.G.), die Verwerfung der außenpolitischen Zielsetzung, Daschitschew, Wjatscheslaw, Moskaus Griff nach der Weltmacht. Die bitteren Früchte hegemonialer Politik. Hamburg 2002. 649 Fischer, Fritz, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/1918. Düsseldorf 1961. 648

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die Herrschaftssphäre des Sozialismus gewaltsam auf die Länder der Dritten Welt auszudehnen usw.“ 650 Gorbatschow waren diese Gedanken bekannt. Sie sind Teil der Denkschulen, die, in der Chruschtschow-Zeit angelegt, sich auch in der Breschnew-Zeit erhalten und weiter entwickelt haben als Alternativen zur offiziellen politischen Ideologie und sicherheitspolitischen Doktrin. Sie waren vor allem bei der Akademie der Wissenschaften beheimatet, im USA- und Kanada-Institut, in der Atomforschung (Sacharow) sowie im Außenministerium. Daschitschew zitiert Ewgenij Primakow, den ehemaligen Ministerpräsidenten Russlands, der in einem Interview die Rolle der Andersdenkenden beim Wandel des sowjetischen Systems wie folgt beschrieben hatte: „Ich dachte immer darüber nach, was über Dissidenten im System geschrieben werden muss. Das System aber wurde sowohl von jenen, als auch von den anderen geändert. Und es ist wohl die Frage, wer am meisten dazu beigetragen hat.“ Auf die Frage: „Glauben Sie, dass hauptsächlich diejenigen, die im System waren, am meisten dazu beigetragen haben?“ antwortete er: „Ja, das glaube ich.“ 651 Die Konferenz im Außenministerium vom Mai1986, also nach dem Parteitag, hat die entscheidenden Weichen in Richtung konkreter politischer Entscheidungen gestellt. Vor allen sowjetischen Botschaftern und der „Moskauer diplomatischen Elite“, wie Gorbatschow schreibt, rügte er, nach dem Bericht des Außenministers, die schleppende Umsetzung der Aktivitäten der politischen Führung im Bereich der Außenpolitik. Er nennt das „die Initialzündung für den breit angelegten Versuch, das Neue Denken mit Hilfe der Außenpolitiker in die Tat umzusetzen“. 652 Gorbatschow forderte deshalb eine stärkere Einbeziehung der UdSSR in die internationale Arbeitsteilung und die Ökonomisierung der Sicherheitspolitik. Man müsse lernen, „für militärische Zwecke nicht mehr als notwendig auszugeben.“ 653 Doch die Schrecken der Breschnewschen Abenteuer steckten noch zu tief im Bewusstsein der westlichen Führungsmacht, als dass sie auf die nun aus Moskau kommenden Signale sofort positiv reagiert hätte. Zu tief eingegraben war das Feindbild Sowjetunion als „Reich des Bösen“. Dabei hatte die Détente große Fortschritte zu verzeichnen gehabt. In der Grundsatzerklärung über die amerikanischsowjetischen Beziehungen vom 29. Mai 1972 hatten Nixon und Breschnew sich darüber verständigt: „Die USA und die UdSSR legen größten Wert darauf, das Entstehen von Situationen zu verhindern, die zu einer gefährlichen Verschlechterung ihrer Beziehungen führen könnten. Sie werden daher ihr Äußerstes tun, um militärische Konfrontationen zu vermeiden und den Ausbruch eines Nuklearkrieges zu verhindern. Sie werden in ihren gegenseitigen Beziehungen stets Zurückhaltung üben, und sie werden bereit sein, zu verhandeln und Meinungsverschiedenheiten mit friedlichen Mitteln beizulegen. Gespräche und Verhandlungen über Daschitschew, Moskaus Griff, S. 23. Daschitschew, Moskaus Griff, S. 23. 652 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 574. 653 Kwizinskij, J.A., Vor dem Sturm. Erinnerungen eines Diplomaten. Berlin 1993, S. 404; Oldenburg, Deutschlandpolitik, S. 159. 650 651

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offenstehende Fragen werden im Geiste der Gegenseitigkeit, des beiderseitigen Entgegenkommens und des beiderseitigen Vorteils geführt werden. Beide Seiten erkennen an, dass Bestrebungen, direkt oder indirekt einen einseitigen Vorteil auf Kosten des anderen zu erreichen, nicht im Einklang mit diesen Zielen stehen.“ 654 Hohe Symbolkraft für dieses Verständnis kam dem 1972 unterzeichneten gemeinsamen Raumfahrtprogramm zu. „Vorgesehen war, dass ein amerikanisches Apollo-Raumfahrzeug und ein sowjetisches Sojus-Raumschiff in der Erdumlaufbahn ein Rendezvous- und ein Andockmanöver durchführten, bei dem ihre Besatzungen sich gegenseitig in ihren jeweiligen Raumfahrzeugen besuchen und ‚im Weltraum die Hände schütteln‘ konnten. Dieses Manöver sollte symbolisieren, welches Potenzial die Kooperation zwischen den beiden Ländern barg.“ 655 Am 17. Juli 1975 konnten Präsident Ford und Generalsekretär Breschnew mit den Leitern der beiden angedockten Raumschiffe Apollo/Sojus telefonieren. Breschnew sagte: „Die ganze Welt beobachtet Ihre gemeinsamen Aktivitäten voller Begeisterung und Bewunderung. Die Entspannungspolitik und die Veränderungen in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen haben den ersten internationalen Weltraumflug ermöglicht.“ 656 Der Kommandant Leonow berichtet weiter: „Dann sprach er von seiner Hoffnung, dass diese Art von Zusammenarbeit zwischen unseren beiden Ländern auch nach unserer Rückkehr zur Erde fortgesetzt werden würde.“ Nach der Euphorie der Entspannung, die in den Verträgen ihren Ausdruck gefunden hatte, waren die sowjetischen militärischen Interventionen in den Ländern der Dritten Welt als Abkehr von dem vereinbarten Geist empfunden worden und hatten beim damaligen Präsidenten Jimmy Carter zu einer radikalen Wende seiner Sowjetunion-Politik geführt. Der Prediger auf dem Präsidentenstuhl fühlte sich persönlich hintergangen. Als Reaktion auf den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan sagte er am 23. Januar 1980 in seiner Botschaft an den Kongress: „Wir Supermächte haben auch eine Verantwortung, uns beim Einsatz militärischer Macht Zurückhaltung aufzuerlegen. Die Integrität und die Unabhängigkeit schwächerer Staaten darf nicht bedroht werden. Aber jetzt hat die Sowjetunion einen radikalen und aggressiven Schritt unternommen. Sie setzt ihre große militärische Macht gegen ein verhältnismäßig schutzloses Land ein. Die Implikationen der sowjetischen Invasion Afghanistans könnten die ernsthafteste Bedrohung des Weltfriedens seit dem Zweiten Weltkrieg darstellen. Die große Mehrheit der Staaten der Welt hat diesen neuesten Versuch der Sowjets verurteilt, ihre Kolonialherrschaft über andere auszuweiten, und den sofortigen Abzug der Invasionsstreitkräfte gefordert. Die islamische Welt ist besonders und zu Recht über diese Aggression gegen ein islamisches Volk empört. Kein Schritt einer Weltmacht wurde jemals so rasch und so überwältigend verurteilt. Aber verbale Verurteilung ist nicht Grundsatzerklärung über die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen vom 29. Mai 1972. In: Görtemaker, Manfred, Gerhard Wettig, USA-UdSSR. Dokumente zur Sicherheitspolitik. Hannover 1986, S. 65f. 655 Leonow, Alexej, David Scott, Zwei Mann im Mond. Berlin 2004, S. 383. 656 Leonow, Scott, Zwei Mann im Mond, S. 421. 654

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genug. Die Sowjetunion muss einen konkreten Preis für ihre Aggression bezahlen. Solange die Invasion anhält, können wir und andere Länder gegenüber der Sowjetunion nicht so tun, als sei nichts geschehen. Aus diesem Grund haben die Vereinigten Staaten der Sowjetunion harte wirtschaftliche Strafmaßnahmen auferlegt.“ 657 Die sowjetische Aufrüstung im Bereich der Mittelstrecken-Raketen (SS-20) hatte bis zum Amtsantritt von Präsident Ronald Reagan die Lage noch verschärft. So antwortete er am 29. Januar 1981 auf die Frage eines Journalisten nach den langfristigen Absichten der Sowjetunion: „Nun, bis jetzt ist die Entspannungspolitik eine Einbahnstraße gewesen, welche die Sowjetunion zur Verfolgung ihrer eigenen Ziele genutzt hat. Eine Antwort auf die Frage, was meiner Meinung nach ihre Absichten sind, brauche ich mir nicht lange zu überlegen. Die Sowjetunion hat sie selbst wiederholt gegeben. Seit der Revolution bis einschließlich zur jetzigen Führung ist mir kein Regierungschef der Sowjetunion bekannt, der nicht mehr als einmal bei den verschiedenen kommunistischen Parteitagen wiederholt hätte, dass die Sowjetunion entschlossen daran festhält, dass ihr Ziel in der Förderung der Weltrevolution sowie in einem weltweiten sozialistischen oder kommunistischen Staat bestehen müsse, gleichgültig, welches Wort man nun verwenden möchte. Solange sie sich so verhält und solange sie gleichzeitig unverblümt und öffentlich erklären lässt, die einzige Moral, die sie anerkenne, bestehe in dem, was ihrer Sache diene, womit gemeint ist, dass die Sowjetunion sich das Recht vorbehält, zur Erreichung ihrer Ziele jedwedes Verbrechen zu begehen, zu lügen und zu betrügen, und dies als moralisch richtig und nicht als unmoralisch gilt – solange dies alles der Fall ist, operieren wir mit unterschiedlichen Systemen von Wertmaßstäben.“ 658 Der Wechsel der Generalsekretäre nach Breschnews Tod 1982 hatte zudem kein Klima für vertrauenswürdige Verhandlungen entstehen lassen, auch wenn Präsident Reagan den Kontakt zu Andropow niemals abreißen ließ. 659 Sowohl die Sprache des amerikanischen Präsidenten wie die dem ABM-Vertrag widersprechende Errichtung der Radaranlage in Krasnojarsk auf der sowjetischen Seite wie der amerikanische Plan, im Weltraum ein Abschirmsystem gegen sowjetische Raketen zu stationieren (SDI), zeigten, dass es für Gorbatschow und seine Mannschaft nicht leicht sein würde, mit diesem Präsidenten ins Gespräch zu kommen, geschweige zu Abrüstungsvereinbarungen. Immerhin hatte es seit sechs Jahren kein amerikanisch-sowjetisches Gipfeltreffen mehr gegeben. Vom 19. bis 21. November 1985 trafen nun Gorbatschow und Reagan in Genf erstmals zusammen. Die Welt blickte gespannt auf dieses historische Ereignis. Es brachte neben kleinen Verbesserungen im Luftverkehr, im Jugendaustausch und

Botschaft des Präsidenten Jimmy Carter vom 23. Januar 1980 an den Kongress über die Lage der Nation. In: Görtemaker, Wettig, S. 74. 658 Pressekonferenz mit Präsident Ronald Reagan am 29. Januar 1981. In: Görtemaker, Wettig, S. 75. 659 Oldenburg, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows, S. 157. 657

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Wissenschaftsaustausch zwar keine substantiellen Vertragsabschlüsse, aber spürbare Verbesserungen in der Atmosphäre zwischen den beiden Staatsmännern und ihrer Begleitung. So sagte noch am 21. November Präsident Reagan vor dem Kongress: „Wohin geht die Reise von hier? Nun, unser Wunsch nach verbesserten Beziehungen ist stark. Wir sind für einen schrittweisen Fortschritt bereit und trachten danach. Wir wissen, dass Frieden mehr ist als nur das Nichtvorhandensein eines Krieges. Wir wollen keinen trügerischen Frieden und keinen zerbrechlichen Frieden. Wir waren nicht auf irgendeine Art illusionärer Entspannung aus. Wir können uns nicht mit kosmetischen Verbesserungen zufriedengeben, die die Bewährungsprobe der Zeit nicht bestehen würden. Wir wollen echten Frieden.“ 660 Die Initiative ging nun von Gorbatschow aus. Auf seinen Vorschlag fand schon ein Jahr später in Reykjavik ein erneutes Treffen statt, auf dem sich beide Staatsmänner darauf verständigten, die Waffenarsenale der Supermächte radikal zu reduzieren. Das aber bedeutete schon die Absage an die Doktrin der gegenseitigen Abschreckung, wie Talbott feststellte. 661 Und Gorbatschow kommentierte: „Reykjavik hatte gezeigt, dass es Möglichkeiten der Verständigung zwischen den Supermächten gab, es hatte zudem offenbart, dass die neue Außenpolitik der Sowjetunion nicht auf propagandistische Ziele, sondern tatsächlich auf die Lösung des Abrüstungsproblems gerichtet war.“ In einer Fernsehansprache vom 22. Oktober 1986 sagte er: „Die Ergebnisse des Treffens mit dem US-Präsidenten haben die ganze Welt in Erregung versetzt. Noch sind wir uns der Bedeutung des Geschehens nicht hinreichend bewusst geworden, doch wir werden es noch begreifen, wenn nicht heute, dann morgen, und werden in gebührender Weise auf die Erfolge wie auch auf die ungenutzten Chancen und Misserfolge Reykjaviks reagieren. Bei aller Dramatik, die den Ausgang der Verhandlungen überschattete, hat der Gipfel, vielleicht zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten, die Suche nach Wegen zur nuklearen Abrüstung entscheidend nach vorn gebracht.“ 662 Tatsächlich verkehrten sich die Seiten immer mehr. Hatte Breschnew noch die Rüstungskontrollverhandlungen abgebrochen und sich dem Dialog verweigert, zwangen nun die Initiativen des sowjetischen Generalsekretärs die amerikanische Seite zur Bewegung in diesen heiklen Fragen. Wiederholt wurde von Seiten der Rüstungslobby versucht, Sand ins Getriebe der Verhandlungen zu streuen, wie Weinbergers Brief an Reagan unmittelbar vor dem Treffen in Genf. Den Besuch von US-Außenminister George Shultz im April 1987 in Moskau bezeichnet Gorbatschow als einen der Wendepunkte in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen, denn erstmals ging es nicht allein um den Abbau der strategischen Waffen, sondern um die philosophischen Aspekte der neuen Politik, belasteten doch die Erfahrungen mit Breschnew die Beziehungen zu seinen Nachfolgern außerordentlich. Dennoch, so Gorbatschow, habe das Treffen mit Shultz im Ansprache von Präsident Ronald Reagan vor dem Kongress der Vereinigten Staaten am 21. November 1985. In: Görtemaker, Wettig, S. 157. 661 Beschloss, Talbott, Auf höchster Ebene, S. 13. 662 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 596. 660

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April 1987 gezeigt, dass sowohl in der amerikanischen Administration als auch in der gesamten westlichen Welt die Bedeutung der damaligen globalen Lage so wenig wie die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen verstanden worden war. Deshalb war man dort auch nicht in der Lage, die Initiativen, die von der sowjetischen Führung ausgingen, gebührend zu würdigen. „Zu stark war man früheren Denkmustern verhaftet, was zu Misstrauen und Zweifeln an unserer Aufrichtigkeit führte. Unsere neue Politik wurde vorrangig als ein weiterer Schachzug interpretiert, um Zeit zu gewinnen und unseren Einfluss in der Welt auszuweiten.“ 663 Schewardnadse nennt das einen schmerzlichen und schwierigen Prozess, denn erst mussten die Veränderungen in der Innenpolitik im Zeichen der Perestrojka greifen, das bedeutete die unwiderrufliche Demokratisierung der Gesellschaft, die Schwächung der Kommunistischen Partei und die Etablierung persönlicher Freiheitswerte, dann konnte man auch mit dem Westen sprechen, ohne ein Feindbild zu malen: „Es musste eine neue Sicht auf den Westen formuliert werden; mit dem Westen, den wir bisher nur als Klassenfeind wahrgenommen hatten und mit dem eine Zusammenarbeit nur bedingt möglich war.“ 664 So kämpfte Gorbatschow an zwei Fronten, im Inneren gegen die konservativen Kräfte, nach außen gegen die Starrköpfe, die der Sowjetunion keine Veränderung zugestanden. Und beide Seiten warfen sich bei sich bietender Gelegenheit die Bälle zu. Schließlich aber, im Herbst 1987, mussten auch die amerikanischen Partner zugeben, schreibt Gorbatschow, „dass es an der Zeit war, die alten, ausgetretenen Pfade zu verlassen und das in den Jahren des Kalten Krieges bewährte Rüstzeug über Bord zu werden“. Aber auch die sowjetische Seite bewegte sich: „Nach und nach rückten auch wir von den veralteten Auffassungen ab, denen zufolge wir den ‚imperialistischen Westen‘ für jede Fehlentwicklung verantwortlich gemacht hatten, während unsere eigene Politik, all unsere internationalen Aktivitäten als einzig positive und gerechte apostrophiert worden waren. Das blieb nicht unbemerkt und diente als Signal, dass man mit der Sowjetunion einen konstruktiven Dialog aufnehmen konnte, ja musste. Und allmählich sah auch die amerikanische Administration ein, dass ihre zögerliche Reaktion auf unser Angebot der Zusammenarbeit letztlich ihr Ansehen als Führungsmacht des Westens zu beschädigen drohte.“ Und er schließt: „Wir waren beide aufeinander angewiesen.“ 665 Schließlich wurde am 8. Dezember 1987 der erste Vertrag über nukleare Abrüstung (INF-Vertrag, betreffend alle Raketen mit einer Reichweite von 500-5.500 km) in Washington unterzeichnet. Die Null-Lösung war geboren. Der Vertrag markierte, so Gorbatschow, den Anfang vom Ende des Kalten Krieges. „Wir erreichten eine neue Stufe des Vertrauens in unseren Beziehungen zu den USA, leiteten die Abrüstung ein und schufen ein Sicherheitssystem, das nicht mehr auf der

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 614. Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 66. 665 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 618f. 663 664

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Drohung mit gegenseitiger Vernichtung, sondern auf weitverzweigter Zusammenarbeit basierte.“ 666 Auch die sowjetische Seite hatte sich verändert. Den Unterschied zu früheren Verhandlungen macht Gorbatschow selbst deutlich. So schreibt er über das Treffen in Washington im Dezember 1987: „Unsere ‚Invasion‘ in Washington war deshalb so erfolgreich, weil sie keine ‚subversiven‘ Zwecke verfolgte. Wenn ich von einer ‚Invasion‘ spreche, meine ich nicht nur mich selbst, Raissa Maximowna und meine engsten Mitarbeiter, sondern alle, die mich damals bei meinem Besuch in die USA begleiteten, Akademiker, Künstler und Journalisten.“ Die moralische Qualität der neuen sowjetischen Außenpolitik betont auch Schewardnadse, und er reflektiert sehr kritisch die Politik seiner Vorgänger, wenn er schreibt: „Das Wichtigste war die Etablierung der Prinzipien der Wahrheit, Offenheit und Aufrichtigkeit. ‚Man muss ehrlich sein. ‘ Das war meine Hauptforderung gegenüber meinen Mitarbeitern. Das Postulat, dass wir unsere Partner nicht täuschen, sondern mit ihnen ehrlich umgehen, war in der sowjetischen außenpolitischen Praxis neu. Ich erteilte den bisherigen Vorgaben der sowjetischen Diplomatie eine Absage, denn sie zeichnete sich durch die Missachtung eigener Vereinbarungen aus und setzte Diplomatie und Täuschung gleich. Prinzipiell neu war ebenso, dass ich in der Außenpolitik auf die These vom Klassenkampf verzichtete. Das alles hat unserem Land viel Gutes gebracht.“ 667 Nicht nur hatten Amerikaner und Sowjets gemeinsame Themen, auch „unsere Leute konnten auf menschliche Art und Weise über die schwierigsten Probleme sprechen, ohne Rückgriff auf frühere Klischees und Dogmen“. schreibt Gorbatschow. „Sie demonstrierten, dass sie mit der neu gewonnenen Meinungsfreiheit umzugehen verstanden, und zwar mit Verantwortungsbewusstsein, ohne Trägheit oder Demagogie.“ Er sieht sie als die ersten Früchte von Glasnost. 668 Wie stark sich Gorbatschow unter dem Druck befand, die Belastung durch die überdimensionierte Rüstung zu reduzieren, zeigte sich in den ständigen neuen Vorschlägen zur Rüstungskontrolle wie in einseitigen Schritten der Abrüstung als vertrauensbildender Maßnahme. So bot Gorbatschow im April 1985 ein Moratorium der Stationierung von Mittelstreckenwaffen in Europa an, auch befristete Stopps für Atomwaffenversuche. Am 15. Januar 1986 schlug er Abrüstungsverhandlungen über Weltraumwaffen, strategische und Mittelstreckenwaffen vor. In drei Phasen zu je fünf Jahren sollten alle Atomwaffen bis zum Jahr 2000 beseitigt werden. Am 13. Juni machte der Warschauer Pakt Vorschläge zur Reduzierung der konventionellen Rüstung in Europa, dazu die Beseitigung der chemischen Waffen. Der MBFR-Raum wurde erweitert vom Atlantik bis zum Ural, weitreichende Kontrollen vor Ort eingeräumt. Nach dem Atomunfall in Tschernobyl verlängerte Gor-

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 622. Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 68f. 668 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 626. 666 667

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batschow das Atomtestmoratorium bis zum 1. Januar 1987, konnten amerikanische Spezialisten das sowjetische Versuchsgelände in Kasachstan inspizieren. 669 Auch wurden die KVAE-Verhandlungen in Stockholm am 22. September 1986 erfolgreich abgeschlossen. Dabei wurden Manöverankündigungen festgeschrieben, die Verifikation vor Ort und aus der Luft gestattet. In seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung am 7. Dezember 1988 kündigte Gorbatschow nicht nur die einseitige Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte um 500.000 Mann, sondern auch ihre Umstrukturierung im Sinne der hinlänglichen Verteidigung an. Der KSE-Vertrag (über konventionelle Streitkräfte in Europa), der am 19. November 1990 beim KSZE-Gipfeltreffen in Paris von den 22 Regierungschefs der NATO und des Warschauer Vertrages abgeschlossen wurde und der am 9. November 1992 in Kraft trat, baute das große Ungleichgewicht konventioneller Streitkräfte im Gebiet vom Atlantik bis zum Ural ab. Er betrifft die fünf Waffenkategorien Kampfpanzer, gepanzerte Fahrzeuge, Artillerie mit mindestens 100-mm-Kaliber, Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber. 670 Im Mittelstreckenwaffen- (INF-) Vertrag vom 8. Dezember 1987 wurde festgelegt, alle ballistischen Flugkörper und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500-5.500 km zu vernichten. Letzten Endes wurde auf die atomaren Sprengköpfe unter 500 km-Reichweite verzichtet. Ein Durchbruch wurde auch auf der Ebene der strategischen Waffen erreicht. Im START I-Vertrag, der am 31. Juli 1991 in Moskau von George Bush und Gorbatschow unterzeichnet wurde, wurden die Trägersysteme und Nukleargefechtsköpfe stark reduziert, die Anzahl der schweren sowjetischen Interkontinentalraketen halbiert und umfangreiche Verifikationsmaßnahmen vereinbart. Der Vertrag trat am 5. Dezember 1994 in Kraft. 671 Die Abrüstungsmaßnahmen bedingten auch eine Änderung der Militärdoktrinen. So sollten die WP-Potentiale auf ihre „vernünftige Hinlänglichkeit“ begrenzt und die Doktrin über die Richtung der „äußersten Defensive“ hin zur „Doktrin der gemeinsamen Sicherheit“ umgewandelt werden. Am 29. Juni 1989 wurden die sowjetischen Streitkräfte in der DDR in „Westliche Gruppe der Streitkräfte“ umbenannt. Creutzberger macht auf den Einfluss Willy Brandts auf diese Vorschläge aufmerksam. Tschernjajew bestätigt das gegenüber Egon Bahr. Creutzberger, Stefan, Willy Brandt und Michail Gorbatschow, S. 38. 670 Der Vertrag wurde am 19. November 1999 in Istanbul an die veränderten politischen Rahmenbedingungen angepasst, dabei das bisherige blockbezogene Gleichgewicht durch ein europäisches System (sub-) regionaler Stabilität ersetzt. Am 12. Juni 2007 endete eine von Russland geforderte Sonderkonferenz ergebnislos; am 14. Juli 2007 verkündete der russische Präsident Putin die Aussetzung des KSE-Vertrages. 671 Durch ein Zusatzprotokoll gilt das Reglement für die USA, Russland, Weißrussland, Kasachstan und die Ukraine, wobei die letzteren drei Staaten ihre Atomwaffen seitdem völlig abgerüstet haben. START II wurde am 3. Januar 1993 von George Bush und Boris Jelzin unterzeichnet. Er regelt die weitere Reduzierung von Raketen und Sprengköpfen. Am 8. April 2010 unterzeichneten Barack Obama und Dmitrij Medwedjew in Prag den New Start-Vertrag über weitere Reduzierungen. Am 11. Februar 2013 kündigte Obama an, das START-Abkommen neu aushandeln zu wollen in Richtung weiterer Reduzierungen. 669

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Endlich war das Eis gebrochen. Am 29. Mai 1988 hatte erstmals seit vierzehn Jahren wieder ein amerikanischer Präsident sowjetischen Boden betreten. Im Kreml wurde am 1. Juni nicht nur der INF-Vertrag unterzeichnet, sondern auch das Bild von Russland als dem „Reich des Bösen“ korrigiert. So konnte Gorbatschow feststellen, dass dieser Moskauer Besuch des amerikanischen Präsidenten und seiner Gattin einen Meilenstein jener Entwicklung darstellte, die sich in den vergangenen Jahren in der amerikanischen Führung vollzogen habe. Die UdSSR wurde nicht mehr als ein Land betrachtet, zu dem es zwangsläufig nur konfrontative Beziehungen geben konnte. Über die Berichterstattung im Fernsehen nahm auch die amerikanische Bevölkerung die neue Qualität der Beziehungen und die Veränderungen in der Sowjetunion wahr. 672 Auf dieser Grundlage konnte Gorbatschow noch einen Schritt weiter gehen. In seiner Rede vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen vom 7. Dezember 1988 forderte Gorbatschow eine umfassende Neuorientierung der Außenpolitik. Er hatte sich gründlich auf diese Rede vorbereitet, erhoffte er sich doch auch einen Ansehensgewinn zuhause. Schewardnadse, Tschernjajew, Dobrynin und Falin berieten ihn. Schließlich billigte auch das Politbüro das Ergebnis. Wieder legte er seine Vorstellungen einer Weltordnung dar, die die bisherige bipolare Weltdeutung überstieg und damit ablöste. Diese Rede ist sehr stark geprägt von den Ergebnissen der internationalen Forschungen, insbesondere des Club of Rome und des IIASA (Internationales Institut für angewandte Systemanalyse in Laxenburg bei Wien). Gorbatschow blickt auf das 21. Jahrhundert, verweist auf die globalen Probleme, die nur im internationalen Rahmen gelöst werden können: Lebensmittelversorgung, Energie, Ökologie, Information, Demographie: „In aller Größe hat sich das Problem des Überlebens, der Selbsterhaltung der Menschheit gestellt.“ Durch die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel ist die Welt für alle greifbarer geworden: „Heute ist es kaum möglich, irgendwelche ‚geschlossenen‘ Gesellschaften zu erhalten. Dies erfordert eine entschiedene Revision der Ansichten über alle Probleme der internationalen Zusammenarbeit als des wichtigsten Elements der allgemeinen Sicherheit.“ Dann geht er einen Schritt weiter, wertet die Revolutionen von 1789 und 1917 zwar als historische Ereignisse, die „den Verlauf des Weltgeschehens radikal verändert“ und „dem Fortschritt der Menschheit einen gigantischen Impuls verliehen haben, „heute aber“, sagt er, „steht vor uns eine andere Welt, für die andere Wege in die Zukunft gesucht werden müssen“. Damit geht er über die Ergebnisse der Oktoberrevolution hinaus: „Wir sind jetzt in eine neue Epoche eingetreten, in der dem Fortschritt die universellen Interessen der gesamten Menschheit zugrunde liegen werden. Diese Erkenntnis macht es erforderlich, dass auch die Weltpolitik von der Priorität der allgemeinmenschlichen Werte bestimmt wird.“ Denn: „Ein weiterer weltweiter Fortschritt ist jetzt nur auf dem Wege der Bemühungen um einen gesamtmenschlichen Konsens in der Bewegung zu einer neuen Weltordnung möglich.“ 672

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 682.

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Ständig klingt der Abschied vom bipolaren Denken durch, wenn er sagt: „Die Formel der Entwicklung ‚auf Kosten des anderen‘ hat sich überlebt. Angesichts der heutigen Realitäten ist ein echter Fortschritt weder durch Beeinträchtigung der Rechte und Freiheiten des Menschen und der Völker, noch auf Kosten der Natur möglich.“ Denn die Lösung der globalen Probleme erfordere eine neue Dimension und eine neue Qualität des Zusammenwirkens der Staaten und der gesellschaftlichen und politischen Strömungen, unabhängig von ideologischen und sonstigen Unterschieden. Es müsse ein Interessenausgleich im internationalen Rahmen gefunden werden. „Denkt man über all das nach“, sagt er, „gelangt man zu der Schlussfolgerung: Wenn wir die Lehren der Vergangenheit und die Realitäten der Gegenwart berücksichtigen wollen, wenn wir der objektiven Logik der internationalen Entwicklung Rechnung tragen, dann müssen wir nach Wegen zur Gesundung der internationalen Lage, zum Aufbau einer neuen Welt suchen, und zwar gemeinsam.“ Dann können Gewalt und Androhung von Gewalt keine Instrumente der Außenpolitik mehr sein. An ihre Stelle muss der politische Dialog treten. Hier verweist er auf die Verhandlungserfolge mit den USA und den Helsinki-Prozess in Europa. Nun könne auch die UNO eine wichtigere Rolle als in der Vergangenheit übernehmen, vor allem in den Bereichen des Abbaus der Auslandsverschuldung, der Entwicklung der unterentwickelten Länder und der Beilegung regionaler Konflikte. Die Sowjetunion schlage vor, bei der UNO ein Zentrum für dringliche ökologische Hilfe einzurichten, auch beim Aufbau einer internationalen Orbitalstation zur Umweltkontrolle wolle sie mitarbeiten. „Unser Ziel“, sagt er, „ist eine Weltgemeinschaft von Rechtsstaaten, die auch ihrer Außenpolitik Rechtsprinzipien zugrunde legen.“ Und: „Die Demokratisierung der internationalen Beziehungen bedeutet nicht nur die maximale Internationalisierung der Lösung der Probleme durch alle Mitglieder der Weltgemeinschaft, sie bedeutet auch die Humanisierung dieser Beziehungen.“ Er erinnert dabei an die Menschenrechtsdeklaration vom 10. Dezember 1948. Dieses Dokument sei auch heute noch aktuell: „Die geeignete Methode für einen Staat, das Jubiläum der Deklaration zu begehen, ist, im eigenen Lande die Bedingungen zur Einhaltung und zum Schutz der Rechte seiner Bürger zu verbessern.“ Damit ist er bei der Beschreibung der Lage in der Sowjetunion angekommen: „Unser Land durchlebt einen wahrhaft revolutionären Aufschwung. Der Prozess der Umgestaltung gewinnt an Tempo. Wir begannen mit der Ausarbeitung einer theoretischen Konzeption der Umgestaltung. Es mussten das Wesen und das Ausmaß der Probleme eingeschätzt, die Lehren aus der Vergangenheit überdacht und dies in Form politischer Schlussfolgerungen und Programme dargelegt werden. Das wurde getan.“ Noch einmal verweist er auf die Konzeption zu Beginn der Perestrojka: „Aber es war von grundsätzlicher Bedeutung, mit einer allgemeinen Konzeption zu beginnen, die – wie die Erfahrungen der vergangenen Jahre jetzt bestätigen – insgesamt richtig ist und zu der es keine Alternative gibt. Um die Gesellschaft in die Verwirklichung der Umgestaltungspläne einzubeziehen, musste sie

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wirklich demokratisiert werden. Im Zeichen der Demokratisierung hat die Umgestaltung jetzt sowohl die Politik als auch die Wirtschaft, das geistige Leben und die Ideologie erfasst.“ Er verweist auf die Wirtschaftsreform, auf „die tiefgreifende demokratische Reform des ganzen Macht- und Verwaltungssystems, die Verfassungsänderungen, das neue Wahlgesetzt, die Verabschiedung zahlreicher Gesetze zum Schutz der Rechte des Individuums, über Gewissensfreiheit, neue gesellschaftliche Organisationen. In den Haftanstalten gebe es keine Menschen, die wegen ihrer politischen oder religiösen Überzeugungen verurteilt worden seien. Auch die Ausreisepraxis werde im humanen Geist gelöst. Im Außenverhältnis will er die Teilnahme der Sowjetunion an den Kontrollmechanismen zu den Menschenrechten bei der UNO und im Helsinki-Prozess erweitern. Auch die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag solle verbindlich für alle Staaten werden. Ausländische Sendungen werden auf dem Territorium der UdSSR nicht mehr behindert werden. Dann kündigte er einseitige Abrüstung auf europäischem wie asiatischem Territorium der UdSSR an mit der Umstrukturierung hin zur Verteidigungsfähigkeit: „Vor unseren Augen entsteht eine neue historische Realität – die Wende vom Prinzip der Überrüstung zum Prinzip der vernünftigen Hinlänglichkeit für die Verteidigung.“ Darüber hinaus wurden wichtige Themen angesprochen. In der Regelung über den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Afghanistan entledigte sich Gorbatschow nicht nur eines Albtraums der sowjetischen Gesellschaft, er erfüllte auch eine der Bedingungen für die Normalisierung der Beziehungen zu China. Die zweite Bedingung bedeutete den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus der Mongolei, auch das kündigte Gorbatschow an; der dritte Punkt, die Beendigung der vietnamesischen Intervention in Kambodscha, wurde nicht angesprochen. Dafür aber die Notwendigkeit im Rahmen der UNO die regionalen Konflikte zu lösen, in der „Dritten Welt“ gebe es ohnehin Leid und Probleme genug. 673 Der Erfolg der Rede in der amerikanischen Presse war überwältigend. So schrieb die New York Times: „Seit 1918, als Woodrow Wilson sein VierzehnPunkte-Programm verkündete, und 1941, als Franklin Roosevelt und Winston Churchill ihre Atlantik-Charta darlegten, zeigte wohl keine weltpolitische Persönlichkeit eine solche Weltsicht wie Michail Gorbatschow gestern in der UNO.“ Und die Washington Post schrieb: „In einer der herausragendsten Reden, die jemals in der UNO gehalten wurden, hat Michail Gorbatschow heute vorgeschlagen, die Regeln, nach denen die Welt seit vier Jahrzehnten gelebt hat, zu ändern…Den westlichen Staatschefs dürfte es schwerfallen, Gorbatschows Aufforderung abzulehnen, über die Grenzen des ‚Kalten Krieges‘ hinaus zu einer neuen Ära der internationalen Zusammenarbeit zu kommen. Dadurch, dass der sowjetische Staats- und Parteichef seine Aufforderung mit dem ungewöhnlichen Eingeständnis von Fehlern und Rede Michail Gorbatschows bei der 43. UNO-Vollversammlung in New York: Nur friedliches Miteinander kann Überleben der Menschheit sichern. In: Neues Deutschland 08.12.1988, S. 2ff. 673

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Mängeln der UdSSR in der Vergangenheit begleitete, legte er eine Offenheit und Aufrichtigkeit an den Tag, die die Anziehungskraft seines Appells noch verstärken. Die Kühnheit seiner heutigen Ausführungen ist erstaunlich.“ 674 Die Rede blieb auch nicht ohne Wirkung auf Reagans Vizepräsident und Nachfolger George H. Bush. Das Lob kam am 3. Dezember 1989 zu Beginn seines Treffens mit Gorbatschow auf dem sowjetischen Kreuzfahrtschiff Maxim Gorki im Hafen von La Valetta vor Malta: „Ich möchte mit allem Nachdruck feststellen, dass ich vollkommen mit dem einverstanden bin, was Sie in New York ausgeführt haben: Die Welt wird besser werden, wenn die Perestrojka erfolgreich ist. Noch vor einiger Zeit gab es in den USA viele Zweifler. Damals sagten Sie in New York, dass es Menschen gibt, die den Erfolg der Perestrojka nicht wollen. Ich kann nicht behaupten, dass es sie in den USA nicht gäbe. Aber man kann mit aller Bestimmtheit sagen, dass die ernstzunehmenden, vernünftigen Menschen in den USA solche Meinungen nicht unterstützen.“ 675 Am selben Tag erklärte der sowjetische Präsident: „Der Kalte Krieg ist zu Ende.“ Mit der Unterzeichnung der „Charta von Paris für ein neues Europa“ auf der KSZE-Konferenz am 20. November 1990 wurde auch von den beteiligten Weltmächten USA und Sowjetunion den veränderten Realitäten Rechnung getragen, und auch Präsident George H. Bush schloss sich Gorbatschows Feststellung von Malta an: „Der Kalte Krieg ist zu Ende.“ Die 34 KSZE-Mitgliedsländer erklärten nun das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung des Kontinents für beendet und versprachen, ein neues Europa der Demokratie, des Friedens und der Einheit aufzubauen. Im Dokument, das auch Gorbatschow unterschrieben hatte, steht: „Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: das unerschütterliche Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder.“ Und: „In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, dass die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.“ 676

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 686. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 693. 676 Charta von Paris für ein neues Europa vom 21.11.1990, Konrad-Adenauer-Stiftung: http://www.kas.de/wf/de/71.4503/ 674 675

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Am 10. Dezember 1990 wurde Michail Gorbatschow in Oslo der Friedensnobelpreis verliehen. 677 In seiner Rede bei der Entgegennahme des Preises legte er seine Ideen der Weltöffentlichkeit noch einmal dar: „Die Welt braucht die Perestrojka nicht weniger, als die Sowjetunion sie braucht“. Worauf es für die Zukunft der Menschheit ankomme, sei „nicht Machtbalance, sondern Interessenbalance, nicht die Suche nach Vorteilen auf Kosten anderer, sondern die Suche nach Kompromissen und Einigkeit, nicht die Darstellung von Führung, sondern der Respekt für Gleichheit“. Zernack schrieb über diese Rede: „Europäische Politiktradition von großer ideeller Kraft klang hier an.“ 678 „Die bisher als Regulative europäischer Sicherheit wirkenden außereuropäischen Machtfaktoren Washington und Moskau sind in den Hintergrund getreten“, stellte der österreichische Beobachter fest. 679 Es war das eingetreten, was Georgij Arbatow, Direktor des USA-und Kanada-Instituts der Akademie der Wissenschaften und Berater Gorbatschows, an die Adresse der NATO vorhergesagt hatte: „Wir werden euch etwas Schreckliches antun. Wir werden euch des Feindes berauben.“ 680 Aber Gorbatschow hatte auch die kommende andere Weltmacht im Blick. Und das Verhältnis zur Volksrepublik China begann sich schrittweise zu normalisieren. Den Anfang machte die Wiederaufnahme des Frachtverkehrs auf Amur, Ussuri und Sungari Ende Juli 1987. Mit dem Abzug der Vietnamesen aus Kambodscha, der deutlichen Verminderung der sowjetischen Truppen in der Mongolei und an der chinesischen Grenze, dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Afghanistan zum 15. Februar 1989 war den drei chinesischen Vorbedingungen Genüge getan, so dass dem Besuch Gorbatschows vom 15. bis 18. Mai in China nichts mehr im Wege stand. Durch die Verhängung des Kriegsrechts und das Massaker an friedlichen Studenten auf dem Platz des himmlischen Friedens wurden die positiven Ergebnisse dieses Besuches jedoch überschattet. Die chinesischen Reformkräfte, die für einen Dialog mit den Studenten eingetreten waren, wurden abgelöst. „Damit hatte sich das sowjetische Reformmodell zwar als ökonomisch völlig unzureichend, politisch aber als stabiler erwiesen als das chinesische, das die Freisetzung der ökonomischen Kräfte nicht durch politische Freiheiten abstützen wollte und damit den Erfolg der ökonomischen Reformen – vorerst, muss man heute sagen –, selbst beschnitt. Plötzlich besaß die Sowjetunion sogar in Asien mehr Spielraum 677 2005 verlieh ihm die Juristische Fakultät der Wilhelms-Universität Münster den Ehrendoktor für seine „maßgebliche Beteiligung an der Beendigung des Ost-West-Konflikts“. In: Rechtstheorie 40 (2009), S. 238f. 678 Zernack, Polen und Russland, S. 516. 679 Sandrisser, Wilhelm, Europäische Sicherheitsarchitektur. Rahmenbedingungen und Chancen für eine europäische Sicherheitspolitik – Konsequenzen für Österreich. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 5/1993, S. 399. 680 Der Spiegel Nr. 50 vom 12.12.1988, S. 22. Creuzberger schreibt, Arbatow habe schon Anfang der 80er Jahre Gorbatschow über die Vorstellungen der Palme-Kommission informiert. Creuzberger, S. 23.

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als das zeitweise international geächtete China und begann Ende des Jahres, auch ihr Verhältnis zum etwas vernachlässigten Japan zu beleben.“ 681 Gorbatschow hat die Umstände seines Besuchs in China sehr detailliert beschrieben. So berichtet er von ca. zwei Millionen Studenten, die ihn an der Mauer begeistert begrüßten. Studenten luden ihn auch zu einem Vortrag über Probleme der Demokratisierung an die Pädagogische Universität Peking ein. „Es war ersichtlich“, schreibt er, „dass die chinesische Jugend unbedingt von der Perestrojka aus erster Hand erfahren wollte.“ Dann aber fährt er fort: „Wirtschaftsreformen gewinnen ohne Demokratisierung des gesamten gesellschaftlichen und staatlichen Lebens nicht den Spielraum, die Perspektiven und die Sicherheit, die sie nun einmal benötigen, und natürlich dürfen die Früchte solcher Reformen nicht dem korrupten bürokratischen Apparat oder den Geschäftemachern der Schattenwirtschaft zugutekommen, während für die sozial schwachen Schichten – wie man bei uns sagt –‚ lediglich Brosamen vom Gastmahltisch‘ abfallen.“ Über die sowjetische Botschaft hatten Studenten und Lehrkräfte aber eine Petition an Gorbatschow geschickt: „Hochgeehrter Herr Gorbatschow! Wir, Studenten und Lehrkräfte der Universität Peking, möchten unsere Hochachtung für Sie zum Ausdruck bringen und begrüßen Sie recht herzlich zu Ihrem Besuch in unserem Land. Sie führen das sowjetische Volk zur größten, tiefgreifendsten und umfassendsten gesellschaftlichen Umgestaltung seit Bestehen der UdSSR. Im Verlauf der Perestrojka haben Sie bewundernswerten Mut und große Weisheit bewiesen. Ihre ganze politische Tätigkeit zeugt davon, dass Sie nicht nur die inneren Probleme Ihres Landes hervorragend kennen, sondern auch über profunde und vielseitige Kenntnisse der heutigen Weltpolitik, der Wirtschaft, des Rechts, der Kultur und besonders des demokratischen Ideenguts verfügen. Wir sind begeistert von Ihrem Buch Perestrojka und das Neue Denken, das eine konzentrierte Darstellung Ihres Wissens darstellt. Wir glauben fest daran, dass Ihr Besuch nicht nur den dreißigjährigen anormalen Zustand der chinesisch-sowjetischen Beziehungen beenden, sondern dem chinesischen Volk auch neue Anregungen für seine Reformen und den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft vermitteln wird. Er wird uns zu wertvollen Erkenntnissen bei der Durchführung der sozialistischen Reform verhelfen. Die Universität Peking ist die Wiege der chinesischen Demokratie und Wissenschaft. Auch in jüngster Zeit war sie Ausgangspunkt vieler reformorientierter und fortschrittlicher Ideen, worauf die Studenten und Lehrkräfte der Universität sehr stolz sind. Deshalb würden wir uns freuen, wenn Sie während Ihres Aufenthalts in Peking zu einem für Sie günstigen Zeitpunkt zu uns kommen und Ihre Ansichten über die Umgestaltung der Gesellschaft zu einem sozialistischen Staat darlegen könnten. Für uns wäre es eine große Ehre, wenn Sie die Universität Peking besuchen würden. Wir hoffen darauf, dass Sie unsere Einladung annehmen. Mit vorzüglicher Hochachtung. 12. Mai 1989. Es folgten etwa dreitausend Unterschriften.“ 682 681 682

von Rauch, S. 651. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 968.

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Die chinesische Führung gab darauf am 4. Juni die Antwort. Dennoch entwickelten sich die chinesisch-sowjetischen Beziehungen positiv. Am 24. April 1990 empfing Gorbatschow Ministerpräsident Li Peng im Kreml, es folgte Mitte Mai 1991 Generalsekretär Jiang Zemin. Gorbatschow kommentiert diese Besuche in seinen Erinnerungen: „Ich wusste, dass man in Peking über die wachsenden Spannungen in der UdSSR ziemlich besorgt war. In der KP Chinas wurde der Kurs der ‚Gorbatschowschen Perestrojka‘ hinter verschlossenen Türen allerdings scharf kritisiert, auch wenn es die chinesischen Führer nie zu einer offenen Polemik kommen ließen. Allem Anschein nach hatte man in Peking Schlussfolgerungen aus den Ereignissen vom Frühjahr 1989 gezogen, und obwohl man alle Beschuldigungen, die Menschenrechte verletzt zu haben, scharf zurückwies, korrigierte man die Politik der Wirtschaftsreformen doch in einigen Punkten und gab sich Mühe, ein besseres Verhältnis zur Jugend und zur Intelligenz herzustellen. Gewiss gab es in den oberen Machtetagen Kontroversen über diese Fragen. Augenscheinlich aber haben sich die Verfechter einer evolutionären Entwicklung gegenüber den Fundamentalisten maoistischer Prägung durchgesetzt.“ 683 Im Ergebnis gelang es der Sowjetunion, ihr Überengagement in der Dritten Welt abzubauen und auch hier aus der Sackgasse der militärisch definierten Außenpolitik schrittweise herauszufinden. Von der „sozialistischen Orientierung der Entwicklungsländer“ und der „Inversion der Revolution“ als Modellen für die Dritte Welt wurde Abstand genommen, ihr Scheitern eingestanden. Die international akzeptierte regionale Konfliktregelung trat an ihre Stelle. Im Oktober 1989 bezeichnete Außenminister Schewardnadse konsequent die sowjetische Invasion in Afghanistan als „grobe Verletzung der moralischen Normen und gemeinsamen Werte der Menschheit“. Schon im Dezember 1988 waren in Brazzaville der schrittweise Abzug der kubanischen Truppen aus Angola und die Unabhängigkeit Namibias vereinbart worden, für die die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates, vor allem die USA und die Sowjetunion, die Garantien übernahmen. In seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung hatte sich Gorbatschow für den PLO-Führer Arafat eingesetzt. Nun forderte Gorbatschow die PLO auf, Israel anzuerkennen. Am 12. Juli 1987 hatte bereits eine sowjetische Konsulardelegation in Israel ihre Arbeit aufgenommen. Der Abbruch der diplomatischen Beziehungen 1967 wurde 1988 als schwerer Fehler bezeichnet. Am 19. Februar 1989 unterbreitete die Sowjetunion eine eigene Nahost-Initiative. Drei Tage später traf Schewardnadse seinen israelischen Kollegen Arens in Kairo. Die Außenpolitik der Sowjetunion war wieder in Fahrt gekommen. Die Sowjetunion der Perestrojka war bestrebt, die Fehler der Vergangenheit zu beheben und einen konstruktiven Beitrag zur Beilegung der bestehenden Konflikte zu leisten.

683

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 973.

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4.3 Der Abschied von der Breschnew-Doktrin und die Selbstbestimmung der Nationen Von besonderer, eigener Bedeutung erwiesen sich die Beziehungen der Sowjetunion zu den anderen sozialistischen Staaten. Durch vielfältige Bande standen sie in einem Abhängigkeitsverhältnis, militärisch im Warschauer Vertrag, ökonomisch im Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, dazu kamen die Beziehungen der Parteiorganisationen, ihrer Jugendorganisationen, die Wissenschaftsbeziehungen und die Austauschprogramme der Dozenten und Studenten. Dazu subventionierte die Sowjetunion die Satellitenstaaten durch Spezialpreise für Energie oder direkte Zahlungen. Durch diese engen Verflechtungen verlief die Auseinandersetzung zwischen Reformern/Revolutionären und Stalinisten nicht nur innerhalb der Sowjetunion, sondern auch in den anderen, von ihr abhängigen sozialistischen Staaten. Diese stützten sich auf die eigenen nationalen Traditionen, so besonders in Polen, in der Tschechoslowakei, aber auch in Ungarn, und sie waren zum Teil vernetzt, auf jeden Fall aber beeinflussten sie sich gegenseitig, wie György Konrád, Adam Michnik und Václav Havel. 684 Hatte die Entwicklung in Russland unter Gorbatschow, wie wir gesehen haben, eine lange Vorgeschichte, so erst recht in den früheren sozialistischen Ländern Ostmitteleuropas. Karl Schlögel spricht von der „Inkubationszeit“. Das Jahr 1989 nennt er: „das annus mirabilis als Chiffre für die Wiederkehr des geschichtlichen Gedächtnisses, für die Wiedergewinnung der Sprache und für die Reformulierung der nationalen Narrative. Aber die Vorstellung vom annus mirabilis, in dem alles anders wurde, ja sogar die Rede von der ,Wende‘ sei zu plakativ und nicht ganz zutreffend.“ „Es gab keine Stunde null, sondern es trat an die Oberfläche, was lange vorbereitet war. 1989 war das Resultat einer langen Inkubationszeit, die wieder sehr unterschiedlich verlaufen ist in jedem ‚Ostblock‘-Land. Jedes Land hatte seine eigene Erfahrung mit dem Kommunismus, ja seinen eigenen Nationalkommunismus, seine eigene Entstalinisierungserfahrung, eigene Kulminationspunkte, Persönlichkeiten, Milieus.“ 685 Die Erfahrungen der militärischen Intervention1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei, – die DDR hatte diese Erfahrung bereits 1953 gemacht –, die Verhängung des Kriegsrechts 1980 in Polen, womit dieses Land einer Invasion der Nachbarländer zuvorkommen wollte, zeigten bisher den Rahmen auf, in dem die befreundeten Länder eigene Aktivität entfalten konnten. Immerhin gab es Ansätze, nach dem Beispiel der Europäischen Gemeinschaft nicht nur Normen und

Dalberg, Dirk Mathias, Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“: Václav Havels Politikbegriff und politische Strategie in den Jahren 1969 bis 1989. Über herkömmliche, technische, nicht- und antipolitische Politik.Stuttgart 2014, S. 121ff. 685 Schlögel, Karl, Orte und Schichten der Erinnerung. Annäherungen an das östliche Europa. In: Karadi, Eva/Regine Möbius (Hg.), Die Wende begann am Balaton, S. 74. 684

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Standards der Waren und Produkte zu vereinheitlichen, sondern auch die Bevölkerung durch erleichterten Grenzverkehr an den Errungenschaften eines gemeinsamen Marktes und einer übernationalen Planwirtschaft zu beteiligen. Gorbatschow kannte diese Zusammenhänge gut. Und er kannte die Parteiführer der anderen sozialistischen Staaten. Alle verdankten ihre Position der sowjetischen Zustimmung, bevor sie gewählt worden waren. Das galt besonders für die Generalsekretäre Erich Honecker in der DDR, János Kádár in Ungarn und Gustav Husák in der ČSSR. Und sie waren keine Freunde von Reformen. Gorbatschow stand nun vor dem Problem, dass gerade angesichts der Verflechtungen Reformen in der Sowjetunion sofort Auswirkungen auf die anderen sozialistischen Staaten haben mussten, das heißt, dass auch die Generalsekretäre der anderen kommunistischen Parteien Position beziehen mussten. Konnte er sie für seine Reformen gewinnen, festigte das seine Position in der KPdSU. Die andere – negative – Alternative bestand darin, dass die um ihre Position fürchtenden KP-Führer sich mit Gorbatschows Gegnern verbündeten und auf seinen Sturz hinarbeiteten. Je weiter der Umbau des Sowjetstaates in Richtung Demokratie und Selbstverwaltung ging, die Ebenen der Kultur, der Geschichte erfasste und die Bevölkerung aus ihrer Agonie erwachte, desto mehr besannen sich auch die Menschen in Polen, Ungarn, der ČSSR, der DDR ihrer nationalen und demokratischen Traditionen und konfrontierten ihre jeweiligen Partei- und Staatsführungen mit der Forderung, dem sowjetischen Beispiel zu folgen. Aufgrund der nationalen Erfahrungen verliefen diese Prozesse sehr unterschiedlich, am Ende dieser Entwicklung, im Jahr 1990, befand sich schließlich keiner der vormaligen KP-Führer mehr an der Macht. Hatten einige noch versucht, Gorbatschow durch die Verbindung mit seinen innerparteilichen Gegnern zu stürzen, so hatte umgekehrt Gorbatschow durch unterschiedliche Maßnahmen Einfluss auf die personellen und inhaltlichen Veränderungen in den sozialistischen Ländern genommen. Es gibt Anzeichen dafür, dass Gorbatschow und seine Mannschaft schon sehr früh das Ziel vor Augen hatten, die Ost-West-Spannung aufzubrechen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch für die von der Sowjetunion beherrschten Nationen gelten zu lassen. Damit würden für die Beziehungen zu den Staaten ihres Einflussbereiches die gleichen Kriterien gelten wie für die Entwicklung der Demokratie in Russland selbst, nämlich zielgerichtet und sehr geschickt die Entwicklung mit den Mitteln zu steuern, die die sowjetischen Strukturen ihnen erlaubten. D.h. auch für die Beziehungen zu den sozialistischen Ländern begann eine neue Zeit. So schreibt Gorbatschow: „Als wir mit der Perestrojka begannen, deren Sinn ja darin bestand, unserem Volk die Freiheit zu geben, musste die sowjetischen Führung dieses Recht auch den anderen Ländern zugestehen. Das führte zur prinzipiellen Ablehnung jeder Einmischung in die Angelegenheiten der ‚Bruderländer‘ des Warschauer Paktes. Damit war einer der wichtigsten Schritte zur Befreiung vom stalinistischen Erbe vollzogen.“ 686 686

Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 400.

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Jakowlew schreibt dazu: „Der Beginn der sowjetischen Perestrojka hatte in breiten Schichten der Bevölkerung dieser (sozialistischen – W.G.) Länder die Hoffnung geweckt, der Wind der Freiheit, der in der UdSSR zu wehen begonnen hatte, würde auch vor ihren Grenzen nicht haltmachen. Aber während die sowjetischen Führer seit der XIX. Nationalen Parteikonferenz der KPdSU vom Juni 1988 verkündeten, es stehe allen sozialistischen Ländern frei, ihren politischen und wirtschaftlichen Kurs zu ändern, blockierten die vergreisten Führungsriegen jener Länder jede Veränderung.“ 687 Schon am 18. März des gleichen Jahres hatte Gorbatschow in Belgrad gemeinsam mit den jugoslawischen Führern die sowjetischjugoslawische Erklärung unterzeichnet. In ihr wird das Ende des historischen Anspruchs der Sowjets proklamiert, als „Modell“ für den Aufbau des Sozialismus zu dienen, und stillschweigend die Kritik an jeglicher Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Landes bekräftigt. 688 Wenn auf dem 27. Parteitag der KPdSU (25. Februar – 6. März 1986) gesagt wurde, niemand habe das Recht, einem anderen Volk oder Land sein Gesellschaftsmodell aufzuzwingen, so bedeutet das die Abkehr von der BreschnewDoktrin der begrenzten Souveränität sozialistischer Staaten, damit dem Hegemonie-Anspruch der Sowjetunion über die anderen sozialistischen Länder. Dieses Thema wurde auf der Politbürositzung am 3. Juli 1986 bestätigt: „Uns ist bewusst, dass unsere Beziehungen zu den sozialistischen Ländern in eine neue Etappe getreten sind. Wie es war, so kann es nicht weitergehen. Die Methoden, die wir gegenüber der Tschechoslowakei und Ungarn anwendeten, sind unannehmbar …Wir können keine administrative Methode in der Führung der Freunde anwenden…Das bedeutet nämlich, dass wir sie uns auf den Hals laden.“ Diesen Standpunkt hat Gorbatschow in Prag und Budapest auch offensiv vertreten. Und die Zeit arbeitete nun für ihn. Im Nachhinein sagt Jakowlew, die Ostblockführer hätten Gorbatschows Worte nie ernst genommen und nicht glauben wollen, doch das hätten sie tun müssen. 689 Und er wird noch deutlicher: „Wenn einzelne Vertreter oder Delegationen nach Moskau kommen wollten, um sich Rat für ihr weiteres Vorgehen zu holen, lehnten wir es ab, sie zu empfangen, mit der Begründung, das sei nicht unsere Angelegenheit. Mit großer Deutlichkeit erklärten wir allen, die sich an uns wandten, dass niemand mit militärischer Unterstützung unsererseits rechnen könne, ganz gleich, welche Aktionen geplant seien. Wir wollten uns aus jedem denkbaren Szenario für die Zukunft heraushalten. Für uns war die Ära der Interventionen – und sei es auch für eine gute Sache – vorbei. Wir haben unsere Lehren aus den Interventionen in Ungarn und in der Tschechoslowakei gezogen, Interventionen, durch die im Endeffekt nur die Agonie der ungeliebten Regime dort verlängert und das Leid der Völker vergrößert würden.“ 690

Jakowlew, Offener Schluss, S. 82. Jakowlew, Offener Schluss, S. 99. 689 Jakowlew, Offener Schluss, S. 85. 690 Jakowlew, Offener Schluss, S. 87. 687 688

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Mit veränderten Vorzeichen war die Sowjetunion als Führungsmacht des sozialistischen Lagers deshalb bemüht, nicht nur ihren Einfluss in den Bündnissen zu stabilisieren und auszubauen, sondern auch das bilaterale Verhältnis zu den einzelnen Staaten zu pflegen und zu entwickeln. Unter Zeitdruck wurde, kurz nach Gorbatschows Machtantritt, am 26. April 1985 beim Gipfeltreffen der Partei- und Staatschefs der Warschauer Pakt-Staaten der Vertrag um weitere zwanzig Jahre verlängert, ohne dass am Text Änderungen vorgenommen worden waren. Auch für die 40. Ratstagung der RGW-Staaten Ende Juni 1985 in Warschau war wenig Zeit zur Vorbereitung gewesen, so dass erst im Dezember die 41. Außerordentliche Ratstagung das „Komplexprogramm des wissenschaftlich-technischen Fortschritts bis zum Jahr 2000“ verabschieden konnte. Auf der 43. RGW-Ratstagung im Oktober 1987 wurde eine Reform der Organisationsstruktur beschlossen, der Personalbestand um ein Viertel reduziert, 19 RGW-Organe aufgelöst, sechs neue geschaffen. Die Veränderungen in der Sowjetunion und die zunehmende Zusammenarbeit der einzelnen sozialistischen Staaten, insbesondere Ungarns, mit Betrieben in nicht-sozialistischen Ländern, konnten aber nicht ohne Auswirkungen auf die Verhältnisse innerhalb des RGW bleiben. So steuerte die Sowjetunion auf der 44. Ratstagung im Juli 1988 in Prag auch einen Wandel innerhalb des RGW an. Unter der Perspektive „gemeinsamer RGW-Markt“ strebte sie über ein breites Spektrum neuer Formen direkter Produktionskooperation nach primär ökonomischen Kriterien eine „Integration von unten nach oben“ an. 691 Die drei reformfreudigen Staaten Sowjetunion, Ungarn und Polen, aber auch die ČSSR und Bulgarien sahen in der Reform des Preisbildungsmechanismus, der Einrichtung vernünftiger Wechselkurse und der Währungskonvertibilität die wichtigste Voraussetzung der integrationspolitischen Leitziele. Die drei Reformstaaten nahmen sich sogar vor, ab 1991 ihren Warenaustausch auf der Basis der Weltmarktpreise in konvertierbarer Währung zu verrechnen. Schon jetzt hatte der Transferable Rubel seine Funktion als Verrechnungseinheit im RGW verloren. Schließlich wurde die für März 1989 geplante 45. Ratstagung in Sofija auf den 9. und 10. Januar 1990 verlegt, ein Zeichen für gravierende Abstimmungsprobleme innerhalb der RGWStaaten. Am 28. Juni 1991 löste sich der 1949 gegründete Rat schließlich auf. Am 1. Juli folgte die Auflösung der Warschauer Vertragsorganisation in einem Hotel in Budapest. Damit hatten die beiden wichtigsten Organisationsformen der „Sozialistischen Staatengemeinschaft“ aufgehört zu existieren, noch bevor die Sowjetunion selbst Ende des Jahres sich auflöste.

691

von Rauch, Geschichte der Sowjetunion, S. 649.

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4.4 Die Entstalinisierung in Polen und der DDR Die Wandlungsprozesse in den einzelnen sozialistischen Staaten verliefen freilich sehr unterschiedlich. Die größte Bedeutung kam Polen zu. Dabei waren die Ereignisse seit 1980, die Verhängung des Kriegsrechts, nur das vorerst letzte Kapitel der polnisch-sowjetischen Beziehungen. Der Krieg um die Ostgrenze Polens, der 1921 mit dem Frieden von Riga vorerst endete, die sowjetische Invasion 1939, gemeinsam mit der deutschen Wehrmacht, die Ermordung des polnischen Offizierskorps, wofür der Name Katyn steht, die Westverschiebung Polens, das auch die Vertreibung vieler Polen aus den dann weißrussischen und ukrainischen Gebieten bedeutete, die Sowjetisierung Polens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hatten sich tief ins kollektive Gedächtnis dieser Nation eingebrannt und standen einer Normalisierung des Verhältnisses zum östlichen Nachbarn im Wege. Wenn Gorbatschow also im Rahmen der Verrechtlichung seiner Außenpolitik die Beziehungen zu diesem Land normalisieren wollte, führte kein Weg an der Klärung dieser historisch überkommenen Probleme vorbei. Andererseits war die Gründung einer freien Gewerkschaft, das heißt außerhalb des Zugriffs der Kommunistischen Partei, nicht ohne Wirkung auf die Arbeiterschaft der anderen sozialistischen Länder geblieben, auch der Sowjetunion. „Der polnische Bazillus“ lehrte einige Länder das Fürchten, und sie schlossen, wie die DDR, ihre Grenzen. Klaus Zernack hat die noch von Andrzej Szczypiorski thematisierte Leidenserfahrung des polnischen Volkes im 20. Jahrhundert relativiert und ihr den polnischen Widerstand entgegengesetzt: „Die Jahre nach 1956, nach dem polnischen Oktober, waren, bei allem, was dessen Errungenschaften in den sechziger Jahren wieder überschattete, Zeiten der gesellschaftlichen Formierung gegen die Diktatur. Gleichwohl dürfte es richtig sein, die ‚Wiedergeburt des staatsbürgerlichen Bewusstseins in der polnischen Gesellschaft‘ (W. Karpiński) doch erst in die siebziger und achtziger Jahre zu platzieren.“ Er sieht eine solche Periodisierung der Emanzipationsgeschichte der Polen im Verbund der Entstalinisierung des ganzen Ostblocks. 692 Der Helsinki-Prozess und die KSZE-Schlussakte von 1975 übten großen Einfluss auf die Menschenrechts- und Bürgerrechtsdebatte in Polen aus. Berühmt geworden ist die „Denkschrift der Neunundfünfzig“, die führende Schriftsteller, Wissenschaftler und Publizisten am 5. Dezember 1975 dem Sejm überreichten. Darin stand: „Man muss allen Bürgern das Recht zur Aufstellung und Wahl ihrer Vertreter in ‚fünf adjektivischen‘ Wahlen garantieren, desgleichen den Gerichten die Unabhängigkeit von den Exekutivorganen und den Sejm zur wirklich höchsten Gewalt machen. Wir befürchten, dass die Nichteinhaltung der bürgerlichen Freiheitsrechte zur Zerstörung der kollektiven Schaffenskraft, zum Zerfall der gesellschaftlichen Verbundenheit, zum schrittweisen Verschwinden des gesellschaftliZernack, Klaus, Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte. Berlin 1994, S. 496f. 692

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chen Nationalbewusstseins und zum Bruch in der Kontinuität der nationalen Traditionen führen könnte. Das ist die Bedrohung der Existenz des Volkes…Die Anerkennung der auf der Konferenz von Helsinki bestätigten Freiheiten gewinnt heute internationale Bedeutung; dort, wo es keine Freiheit gibt, existieren weder Friede noch Sicherheit.“ 693 Die leidvolle Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts für das polnisch-russische Verhältnis wurde auch in Erinnerung gerufen in Verlautbarungen der Opposition insbesondere gegenüber der Formel der „unantastbaren brüderlichen Verbundenheit mit der Sowjetunion“ im Verfassungsentwurf von 1975. „Die Polen hätten es leidvoll in ihrer Geschichte erfahren“, schreibt Zernack, „wie die Einbindung in das Machtinteresse und die Bündnissicherung einer benachbarten Großmacht auf einen Weg geführt habe, an dessen Ende die Republik von der politischen Landkarte Europas verschwunden war.“ 694 Nach den Arbeiterunruhen in Radom und im Warschauer Traktorenwerk Ursus 1976 mit Toten und Verletzten und den darauf folgenden Verurteilungen kam es zu starken Solidaritätsbekundungen renommierter Intellektueller mit den Arbeitern, an den Universitäten wurde für die betroffenen Arbeiterfamilien Geld gesammelt. Zernack schreibt: „Nie zuvor war die Bereitschaft in der Intelligenz, sich als Opposition politisch zu formieren, so groß wie angesichts der erneuten Krise des Regimes. Mit dem ‚Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników, KOR)‘ bildete sich am 23. September 1976 ein Nukleus organisierter Interessenvertretung der Verfolgten. In einer Situation, so begründeten die Initiatoren ihren Entschluss, in der von den Gewerkschaften als den dafür zuständigen Institutionen keine Hilfe und kein Schutz zu erwarten sei, habe ‚die Gesellschaft keine Mittel zur Verteidigung gegen Unrecht als Solidarität und gegenseitige Hilfe‘.“ 695 Im Jahr 1977 forderten 142 Intellektuelle in einem offenen Brief die Untersuchung der polizeilichen Übergriffe vom Vorjahr. Im März 1977 formierte sich eine „Bewegung zur Verteidigung der Menschen- und Bürgerrechte (Ruch Obrony Praw Czelowieka i Obywatela, ROPCiO)“; sie forderte die Beseitigung der Einparteienherrschaft und der sowjetischen Hegemonie im Bündnis. Mit der „Bewegung Junges Polen (Ruch Młodej Polski, RPM)“ und der Gruppe „Polnische Verständigung für Unabhängigkeit (Polskie Porozumienie Niepodleglościowe, PPN)“ weitete sich die oppositionelle Bewegung aus und erfasste zunehmend auch die Jugend. Im September nannte sich das KOR um in „Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung ‚KOR‘ (Komitet samoobrony Spolecznej, KSS ‚KOR‘)“, es erschien die Arbeiterflugschrift „Robotnik“ in Anlehnung an eine Zeitschrift der Polnischen Sozialistischen Partei in der Vorkriegszeit. Im September 1979 wurde die „Charta der Arbeiterrechte“ veröffentlicht, im Jahr davor war eine BauerngeZernack, Polen und Russland, S. 500f. Zernack, Polen und Russland, S. 502. 695 Zernack, Polen und Russland, S. 502. 693 694

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werkschaft gegründet worden. An die erfolgreiche Arbeit der Untergrunduniversität während der deutschen Besatzung knüpfte die „Gesellschaft für wissenschaftliche Kurse (Towarzystwo Kursów Naukowych, TKN)“ an, die im Oktober 1977 mit ihrer Arbeit begann und sich als Kompensation der Deformierungen des staatlichen Bildungssystems verstand. Damit kam, wie in der Tschechoslowakei, der Intelligenz bei der moralischen Erneuerung der Gesellschaft die entscheidende Rolle zu. Aber im Gegensatz zur Situation in der Tschechoslowakei war die polnische dissidentische Intelligenz von der breiten Bevölkerung nicht isoliert, sondern „das Zentrum, der Mittelpunkt der gesamten gesellschaftlichen Bewegung“ und „die Achse der neuen Gesellschaft“. Sie stand für eine Geisteshaltung, deren zentralen Werte Würde, Solidarität und nationale Identität waren. 696 Im Unterschied zur Tschechoslowakei besaß die Kirche in Polen eine viel stärkere Verankerung in der Bevölkerung. Das erlaubte ihr auch gegenüber dem Staat nun stärker aufzutreten. Das zeigte sich unmittelbar nach der Wahl des Erzbischofs von Krakau, Kardinal Karol Wojtyla, zum Papst am 18. Oktober 1978. Ein Jahr später erhob die polnische Bischofskonferenz massive Vorwürfe gegenüber dem Regime, im Februar 1980 traten Ministerpräsident und Außenminister zurück. Die Vereinigte Polnische Arbeiterpartei steckte im Korruptionssumpf, hatte ökonomisch versagt und ihren Führungsanspruch über die Entwicklung der Gesellschaft moralisch eingebüßt. Es bedeutete den Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft in Polen. Das wurde deutlich, als es in Danzig zum ersten Solidaritätsstreik für die Gewerkschaftsführerin Anna Walentynowicz kam, die von der Leitung der Leninwerft strafversetzt werden sollte. Das Arbeiterkomitee der Lenin-Werft entwickelte sich rasch zum Aktionszentrum der „Freien Gewerkschaft“, aus dem ein „Gründungskomitee Unabhängiger Gewerkschaften“ hervorging. In großer Zahl gaben die Arbeiter ihre Parteibücher zurück. Nachdem es in allen großen Industriezentren wegen der geplanten Entlassung von Anna Walentynowicz zu Massenstreiks gekommen war, erhielt Lech Walęsa als Vorsitzender des Streikkomitees den Auftrag, zur politischen Durchsetzung der Grundrechte für die polnischen Arbeiter eine unabhängige Gewerkschaft „Solidarität (Solidarność)“ zu gründen. „Damit war ein umfassender Prozess gewerkschaftlicher Organisationsbildungen in der Arbeiterschaft und bei den Bauern eingeleitet.“ 697 Denn überall im Lande bildeten sich originäre Gewerkschaftsorganisationen, so dass der Zentralrat der von der PVAP kontrollierten zusammengefassten Gewerkschaften seine Funktion verlor. Dagegen besaß die Gewerkschaft „Solidarität“ nach einem Jahr ihrer Existenz schon 10 Millionen Mitglieder. Lech Walęsa aber nahm, unterstützt von der katholischen Kirche, sofort Verhandlungen mit der Regierung auf, und Ende August 1980 kam es zu Vereinbarungen über das Streikrecht, gewerkschaftliche Selbstverwaltung, Abschaffung der 696 697

Dalberg, Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, S. 126. Zernack, Polen und Russland, S. 507.

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Privilegien und Zugang zu den Massenmedien. Ab April 1981 verfügte die Gewerkschaft über eine eigene Zeitung „Solidarność“. Auf ihrem Kongress im September in Danzig verabschiedete sie siebenunddreißig Thesen, „die wie die Grundsatzerklärung einer gesetzgebenden Versammlung klangen. Als Grundwerte wurden hier die Traditionen der Nation, die ethischen Prinzipien des Christentums, die politischen Forderungen der Demokratie und die gesellschaftlichen Grundsätze des Sozialismus hervorgehoben“ 698 Sie forderte Rechtsstaatlichkeit, Arbeiterselbstverwaltung, politische Öffentlichkeit, Streikrecht und Wirtschaftsreformen. Schließlich forderte der Kongress die Arbeiter in ganz Osteuropa auf, dem polnischen Beispiel zu folgen und überall freie Gewerkschaften zu gründen. Das musste die in der Agonie der späten Breschnew-Jahre liegende sowjetische Führung als Kriegserklärung auffassen. Sie intervenierte massiv. Auf dem 26. Parteitag der KPdSU erklärte Breschnew: „Wir werden das sozialistische Polen nicht antasten lassen und ein Bruderland nicht im Unglück verlassen.“ Noch im März 1981 besuchte er Warschau. Nachdem Anfang November 1981 aber das Dreiergespräch zwischen General Jaruzelski, dem neuen Generalsekretär der PVAP, Erzbischof Glemp, dem Primas von Polen und Lech Walęsa über eine Verständigung gescheitert war, wuchs die Angst vor einer militärischen Lösung. Am 13. Dezember 1981 kam es, nicht ganz unerwartet, zum ersten Militärputsch in einem sozialistischen Land. 1982 starb Breschnew, und die Sowjetunion befand sich im Übergang zur Ära Gorbatschows 1985. Mit seiner Wahl zum Generalsekretär veränderten sich die Vorzeichen für einen Systemwandel nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den anderen sozialistischen Staaten gravierend. Das betraf nun besonders Polen, denn der Gorbatschowsche Systemwandel ging mit den Vorstellungen der polnischen Opposition konform. So kamen im Herbst 1986 die politischen Häftlinge und Internierten wieder auf freien Fuß, und die ausbleibenden politischen Veränderungen nach sowjetischem Vorbild führten 1988 erneut zu einer das ganze Land ergreifenden Streikbewegung, so dass sich das Bewusstsein, sich erneut in einer Krise zu befinden, breit machte und an die Situation der Jahre 1980/81 erinnerte. Nachdem 1987 ein Referendum über einschneidende ökonomische und vage politische Reformen von der Bevölkerung abgelehnt worden war, rang sich die Partei- und Staatsführung Ende 1988 zur Einsicht durch, dass nur ein historischer Kompromiss zum Ausweg aus der Krise führen konnte. Die Gewerkschaft „Solidarität“ wurde wieder zugelassen, und in der PVAP begann, nicht ohne Blick auf die Entwicklung in der Sowjetunion, ein zaghafter Diskurs über das Leninsche Machtmonopol. Im Februar 1989 begannen, unter maßgeblicher Mithilfe der katholischen Kirche, die Gespräche am „Runden Tisch“ über politische, soziale und wirtschaftliche Fragen. Olschowsky schreibt, diese Gespräche bildeten einen Wendepunkt in der Geschichte Polens, denn die 1980 begonnene und 1989 vollendete Revolution der Solidarność habe mit der polnischen Aufstandstradition gebrochen, „wonach jede 698

Zernack, Polen und Russland, S. 508.

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Erhebung gegen die Machthaber sich lohne, auch wenn der Sieg nur ein moralischer wäre. Sachbezogenheit und Verhandlungsgeschick waren nun eher gefragt als revolutionärer Furor“. 699 Auf der Sitzung der Warschauer Vertragsorganisation in Bukarest hatte Jaruzelski am 9. Juli vor den führenden Repräsentanten der Mitgliedsländer die Lage analysiert: „Das größte Problem der PVAP bestand darin, dass sich weite Teile der Arbeiterschaft von ihr abgewandt hatten. Durch Agitation lässt sich das nicht korrigieren, durch Gewalt erst recht nicht. Zu einer ersten Krise kam es in Polen im Jahr 1956. Man ließ Panzer in den Straßen auffahren, und es gab Tote. Die zweite größere Krise trat 1970, also vierzehn Jahre später, ein. Die dritte folgte 1980, nur zehn Jahre danach, und 1981 mussten wir wieder Panzer in die Städte schicken. 1988, das heißt nach sieben weiteren Jahren, hat sich die Situation abermals verschärft; diesmal aber sind wir bestrebt, das Problem ohne Gewaltanwendung, ohne Blutvergießen zu lösen. Denn wir können nicht weiterhin einen Weg beschreiten, der die Kluft zwischen uns und der Arbeiterklasse unablässig vergrößert, bis man sie eines Tages vielleicht gar nicht mehr schließen kann.“ Die Verhängung des Kriegsrechts in Polen nennt er vielleicht vom militärischen Standpunkt her einen Sieg, in politischer Hinsicht sei sie jedoch eine Niederlage. Es musste verhängt werden, weil die Partei nicht in der Lage war, die anstehenden Probleme politisch zu bewältigen. Aber selbst unter dem Schutzschild des Kriegsrechts habe die Partei nicht den Kampfgeist entwickelt, der in einer politischen Auseinandersetzung notwendig sei. „Nun zur Opposition. ‚Solidarność‘ ist wie ein Wirbelwind in unser Leben eingedrungen. Sie eroberte die Betriebe und trug die Politik in die Produktionsstätten hinein. Vielleicht haben wir durch die Verhinderung jeder Oppositionstätigkeit selbst zu dieser Entwicklung beigetragen; vielleicht haben wir die Opposition gerade dadurch veranlasst, sich in den Betrieben zu verankern, denn mit der Legalisierung der Opposition, mit ihrer Zulassung zum Parlament ist die politische Auseinandersetzung dort zu Ende gegangen. Wir haben nun die Chance, einen offenen politischen Kampf zu führen, auch wenn natürlich keineswegs alle unsere Mitglieder imstande sind, einen solchen Kampf zu bestehen. Aber wenn man einen Hecht in den Fischteich hineinlässt, dann können die fettgewordenen Karpfen auch schneller schwimmen.“ Er hält es für außerordentlich wichtig, die Zusammenarbeit der sozialistischen Länder künftig zu intensivieren. Sie könnten aus den unterschiedlichen Erfahrungen auch lernen. Am Allerwichtigsten sei aber, dass die Perestrojka siege. „Mit ihr haben wir die große Chance, die Autorität des Sozialismus auf der ganzen Welt zu stärken. Deshalb sind wir mit den Ideen der Perestrojka, von denen Genosse Gorbatschow berichtet hat, voll und ganz einverstanden. Unserer Meinung nach entsprechen sie genau der gegenwärtigen Phase des sozialistischen Aufbaus.“ 700 699 700

Olschowsky, Burkhard, Revolution statt Revolution, S. 280. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 872f.

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Gorbatschow zitiert diese Rede in seinen „Erinnerungen“ und spricht mit großer Sympathie über seinen polnischen Kollegen und Mitstreiter an der Front der Erneuerung von Staat und Gesellschaft. Auch wenn die herkömmliche sozialistische Diktion vordergründig nicht verlassen wird, so ist die Aussage über die Partei vernichtend, und mit dem klaren Eintreten für die Perestrojka setzt er sich gegen die Parteiführer ab, die, wie Honecker im Frühjahr 1988, den öffentlichen Gebrauch des Wortes „Perestrojka“ in der DDR verboten hatten. Dagegen sahen Gorbatschow und Jaruzelski in ihren Parteien die eigentlichen Reformbremsen. Auch Schachnasarow nennt Jaruzelski „einen überzeugten Demokraten“, der leider wie ein Diktator herrschen musste: „Nachdem er über Polen den Kriegszustand verhängt hatte und Hunderte von Menschen interniert worden waren, nannte man ihn einen Henker und verglich ihn mit Pinochet oder Hitler. Indessen handelte es sich um eine Rettungsmaßnahme, die es möglich machte, die Beziehungen zwischen unseren Ländern zu entspannen und Polen aus der gefährlichen Isolation in der sozialistischen Staatengemeinschaft herauszuführen; dazu ergab sich die Gelegenheit, unter dem ‚Schutzschirm‘ des Kriegszustandes einen relativ stufenlosen Übergang zur Demokratie zu vollziehen.“ 701 Gorbatschow schreibt die Schuld für die Verhärtung zu Beginn der achtziger Jahre dem Chefideologen der KPdSU, Suslow, zu, der als Vorsitzender einer Sonderkommission des Politbüros alle Kontakte mit dem rebellierenden Polen eingefroren hatte. Nach der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU veränderte sich das polnisch-russische Verhältnis schnell, schon auf dem X. Parteitag der PVAP 1986 sorgte Gorbatschow für eine Klimaverbesserung, und als er sich im Sommer 1988 zum offiziellen Staatsbesuch in Polen aufhielt, wurde er von der Bevölkerung mit großer Sympathie empfangen. Er war tief bewegt. Aber auch die Besuche des polnischen Papstes und der britischen Premierministerin im Jahr 1987 stärkten sowohl der katholischen Kirche wie der Solidarność-Führung den Rücken. Die Fronten brachen auf, und beide Seiten bewegten sich. Schewardnadse war, ebenso wie Jaruzelski, zum Papst nach Rom gereist. Sie hatten dort die Weichen für einen friedlichen Übergang gestellt. 702 György Dalos sieht daher zu Recht „eine definitive Wende für die Verhandlungslinie“, als das Politbüro der PVAP eine öffentliche Debatte zwischen Miodowicz und Walęsa genehmigte, die „erste öffentliche Auseinandersetzung zwischen Partei und Opposition in den Medien eines sozialistischen Staates“. Das Gespräch fand am 30. November 1988 statt. Auf die Frage von Miodowicz: „Sehen Sie bei uns keine wesentlichen strukturellen Veränderungen in Richtung Demokratie?“ antwortete Walęsa: „Ich sehe, dass wir uns zu Fuß fortbewegen, während andere mit Autos davonfahren.“ 703 Einen Tag danach reiste Walęsa mit Bronesław Geremek nach Paris, um den 40. Jahrestag der Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 119. Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 150; Halík, Tomaš, All meine Wege sind DIR vertraut. Von der Untergrundkirche ins Labyrinth der Freiheit. Freiburg im Breisgau 2014, S. 234f. 703 Dalos, György, Lebt wohl, Genossen! Der Untergang des sowjetischen Imperiums. Hrsg. von Christian Beetz und Oliver Mille. München 2011, S. 72. 701 702

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Deklaration der Menschenrechte zu feiern. Zusammen mit Andrej Sacharow wurde er fast wie ein Staatsgast empfangen. Schon im April 1987 wurde beim Moskau-Besuch von Jaruzelski vereinbart, eine polnisch-russische Historiker-Kommission zu bilden, „durch die ein für alle Mal bestimmte ‚Tabus‘ aus der Welt geschaffen werden sollten, die mit dem sowjetisch-polnischen Krieg von 1920, mit dem Blutbad, das Stalin in der polnischen KP angerichtet hatte, und vor allem mit Katyn zusammenhingen.“ 704 Der letzte Punkt wurde beschleunigt angegangen, da die polnische Seite davon besonders betroffen war. Dem Komitee für Staatssicherheit, dem Innenministerium und den Archiven wurden gesonderte Rechercheaufträge erteilt, die Gräber von Katyn wurden in einen würdigen Zustand gebracht und den Verwandten der Gefallenen endlich Zutritt gewährt. 705 Am 6. Februar 1989 begannen Verhandlungen von Regierung und Opposition im Präsidentenpalast. Sie dauerten zwei Monate. Jede Seite schickte 14 Mitglieder, die Berater eingeschlossen, waren 500 Delegierte beteiligt. Die Delegationen wurden auf Regierungsseite von Innenminister Kiszcak und ZK-Sekretär Ciosek, auf Seiten der Bürgerkomitees von Tadeusz Mazowecki und Bronislaw Geremek geleitet. Am 5. Mai 1989 wurde ein einvernehmliches Dokument unterzeichnet, und beide Seiten feierten das Ergebnis als Erfolg: Ein historischer Kompromiss. Dalos lobt die politische Philosophie von Adam Michnik, die nun einen triumphalen Erfolg feiern konnte. Als Theoretiker der polnischen Demokratie sei Michnik immer davon ausgegangen, dass ein friedlicher Weg aus der Diktatur möglich sei. Allerdings habe er angesichts der missglückten Ausbruchsversuche von Budapest und Prag ein anderes, mühevolles und langsames Verfahren empfohlen, sozusagen eine östliche Version des langen Marsches durch die kommunistischen Institutionen. Auf einer Konferenz in Paris zum 20. Jahrestag des ungarischen Volksaufstands hatte er für den von ihm so genannten neuen Evolutionismus plädiert: „Meiner Meinung nach ist die einzig mögliche Politik für Dissidenten in Osteuropa ein unablässiger Kampf für Reformen zugunsten einer Evolution, die zu einer Ausdehnung der bürgerlichen Freiheiten führen und die Respektierung der Menschenrechte garantieren wird. Das Beispiel Polens zeigt, dass anhaltender gesellschaftlicher Druck auf die Regierung nicht geringe Konzessionen hervorbringen kann. Die polnische Opposition, so könnte man sagen, hat eher den spanischen als den portugiesischen Weg gewählt. Sie strebt eher allmähliche und partielle Veränderungen an als den gewaltsamen Sturz des bestehenden Regimes. Die Grenzen dieser potenziellen Revolution werden wahrscheinlich noch lange Zeit durch die politische und militärische Präsenz der UdSSR in Polen festgelegt sein.“ 706 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 866. Das Ergebnis der Historiker-Kommission erschien 2010 in polnischer und russischer Sprache: Rossijsko-pol’skaja Gruppa po složnym voprosam, Belye pjatna – Černye pjatna. Složnye voprosy v rossijsko-pol’skich otnošenijach. Pod obščej redakciej akademika A. V. Torkunova, professora A. D. Rotfel’da. Moskva 2010, S. 824. 706 Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 49f. 704 705

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Michnik verstand also unter „neuem Evolutionismus“ die langsam fortschreitenden Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens hin zur Demokratisierung und setzte sich damit von einer gewaltsamen Revolution ab. Dazu gehörte die Schaffung gesellschaftlicher Bindungen „außerhalb der offiziellen Strukturen“ sowie der Aufbau einer „souveränen Gesellschaft in einem nichtsouveränen Staatswesen“. Die Position der Gewaltfreiheit resultiert aus der Antiposition gegenüber den aktuellen Machthabern, der herrschenden Arbeiterpartei, die auf Gewalt setzte. Wie bei Havel war seine Position ethisch begründet, denn Gewalt korrumpiere. 707 Im Juni 1989 erlitt die PVAP bei den Wahlen zum Sejm und zum Senat schwere Niederlagen. Im Senat erhielt die Solidarność 99 von 100 Sitzen. Doch nun zeigten die Solidarność-Führer staatsmännische Qualitäten, indem sie der Regierung zusicherten, ihre Position nicht vertragswidrig auszunutzen. Für diese Haltung steht der Leitartikel von Adam Michnik in seiner „Gazeta Wyborza“ (Wahlzeitung) vom 3. Juli 1989 mit dem Titel: „Wasz prezydent/Nasz premier“ (Euer Präsident – unser Premier): „Polen braucht jetzt eine starke und glaubwürdige Führung. … Jedoch, es liegt nicht an den Menschen, sondern an den Mechanismen. Es ist ein neues System notwendig, das durch alle wichtigen politischen Kräfte approbiert wird. Ein System, das neu ist, aber eine Kontinuität garantiert. Solch ein System kann nur auf einem Abkommen basieren, aufgrund dessen ein Kandidat der PVAP zum Präsidenten gewählt wird und der Premierministerposten sowie die Aufgabe der Regierungsbildung einem Kandidaten der ‚Solidarność‘ zufallen. Solch ein Präsident wird die Kontinuität der Macht sowie die internationalen Abkommen und Militärbündnisse garantieren. Solch eine Regierung wird das Mandat der überwiegenden Mehrheit der Polen innehaben und eine konsequente Änderung des wirtschaftlichen und politischen Systems garantieren. Nur eine Zusammenstellung der Führungskräfte … hat Chancen auf eine adäquate Hilfe bei dem Wiederaufbau der Wirtschaft des Landes.“ 708 Wie aber würde Gorbatschow reagieren? Die Positionen seiner Amtskollegen erfuhr Jaruzelski sehr schnell. Als sich der Verzicht der polnischen KP auf ihr Machtmonopol abzeichnete, rief Nicolae Ceauşescu wütend Schewardnadse in dessen Urlaubort am Schwarzen Meer an und verlangte, der Warschauer Pakt solle „entschiedene militärische Maßnahmen“ gegen Polen treffen. Angela Stent schreibt darüber, es mutete fast wie eine Ironie an, dass Ceauşescu fünf vor zwölf versuchte, die Breschnew-Doktrin wiederzubeleben, der er sich 1968 energisch widersetzt hatte. Aber Schewardnadse und seine Berater erörterten die Lage und entschieden sich gegen eine Intervention, „wobei sie sich völlig im Klaren waren, dass dies das Ende der Sowjetmacht in Osteuropa bedeuten konnte.“ Angela Stent: „Kurz danach führte Gorbatschow ein heikles Telefongespräch mit Mieczyslaw Rakowski, dem Führer der PVAP, und teilte ihm mit, die Sowjetunion würde eine 707 708

Dalberg, Der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“, S. 124. Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 54f.

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Regierung mit einer kommunistischen Minderheit und einem nichtkommunistischen Ministerpräsidenten akzeptieren. Dies war in der Tat das Ende der Breschnew-Doktrin. Im entscheidenden Moment griff Gorbatschow ein, um sicherzustellen, dass die polnischen Kommunisten die Ergebnisse der freien Wahlen akzeptierten. Tadeusz Mazowiecki, ein der Solidarność verbundener prominenter katholischer Intellektueller, wurde Ministerpräsident.“ 709 Die Ironie der Geschichte wollte, dass am 9. Juli 1989 der amerikanische Präsident George Bush sen. Polen besuchte und den unschlüssigen Jaruzelski überredete, für das Präsidentenamt zu kandidieren. Am 19. Juli wurde Jaruzelski zum Präsidenten gewählt. Mazowiecki wurde der erste nicht-kommunistische Premierminister im Ostblock und führte eine Koalitionsregierung, in der die PVAP den Innen- und den Verteidigungsminister stellte. Am Tage nach seinem Amtsantritt übermittelte Jaruzelski dem Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker die Einladung, nach Warschau zu kommen und mit ihm am 1. September des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges vor fünfzig Jahren zu gedenken. Dass der Besuch letzten Endes nicht zustande kam, sieht der Bundespräsident als verpasste Chance, früh die Beziehungen zum sich im Prozess der Demokratisierung befindlichen Polen zu verbessern. Als er im Mai 1990 nachgeholt wurde, hatte der „polnische Bazillus“ bereits die DDR verändert, und ein anderes Deutschland machte sich daran, Polens direkter Nachbar zu werden. Es war aber für die politischen Beziehungen des neuen Polen zur Bundesrepublik nicht unwichtig, dass Richard von Weizsäcker und Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki, seit Ende August 1989 der erste frei gewählte nichtkommunistische Regierungschef im Sowjetbereich, sich schon seit den sechziger Jahren persönlich kannten. Denn als Publizist und als Mitbegründer des Clubs der Katholischen Intelligenz, später als Sejm-Abgeordneter der katholischen Snak-Gruppe war er häufig nach Bonn gekommen. Als Mitarbeiter der Solidarność-Führung und als Ratgeber des Papstes hatte er sich im Hintergrund gehalten, wuchs dann aber in eine führende politische und geistige Rolle hinein und trug maßgeblich zum gewaltlosen Umbruch bei, bis Solidarność im April 1989 wieder legalisiert wurde, am ‚runden Tisch‘ freie Wahlen verabredet worden waren. 710 Im April 1990 besuchte Jaruzelski noch mit einer großen Delegation Gorbatschow in Moskau. Dabei berichtete er vom Ergebnis der Meinungsumfragen in Polen. Danach gab es immer wieder Sympathien für die sowjetische Führung. So bekundeten 1987 76 Prozent der Bevölkerung Sympathien für Gorbatschow, 1988 waren es 79,6 Prozent und im Februar 1990 78,8 Prozent. Gorbatschow hält fest, das trotz der sowjetfeindlichen Stimmungen angesichts des fünfzigsten Jahrestages der Tragödie von Katyn. 711 Beim Gespräch konnte Gorbatschow bereits über den Stand der Forschungen zu diesem sensiblen Thema informieren. Die Führung des Stent, Rivalen des Jahrhunderts, S. 146. von Weizsäcker, Vier Zeiten, S. 380. 711 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 874. 709 710

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KGB unter ihrem damaligen Chef A. Schelepin hatte die Unterlagen vernichten lassen. Gorbatschow schreibt: „Die Dokumente, die die Historikergruppe (N. S. Lebedewa, W. S. Parsadanowa und J. N. Sorja) dennoch fand, bewiesen zwar nur indirekt, aber doch absolut überzeugend, dass die Verantwortung für die Greueltaten im Wald von Katyn unmittelbar bei Berija, Merkulow und ihren Helfershelfern lag. Das erklärte ich auch öffentlich, als ich am 13. April 1990 die Schriftstücke, vor allem Listen und andere Papiere der Hauptverwaltung für die Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten des NKWD, übergab. Darin standen die Namen von Polen, die zwischen 1939 und 1940 in den Lagern Koselsk, Ostaschkow und Starobelsk interniert waren. Die sowjetische Seite brachte, wie es in einer Meldung der TASS vom 13. April 1990 offiziell zu lesen ist, ihr tiefes Bedauern über die Untaten von Katyn zum Ausdruck und erklärte, dass sie eines der schwersten Verbrechen des Stalinismus darstellten. Was andere Dokumente betrifft, die sich auf Katyn beziehen, so erinnere ich mich an zwei Mappen, die mir Boldin vor meinem Besuch in Polen zeigte. Sie enthielten Unterlagen, die die Studien einer Kommission bekräftigten, die das Akademiemitglied Burdenko in den fünfziger Jahren ins Leben gerufen hatte – eine Reihe einzelner Schriftstücke, ohne Ausnahme der Version Burdenkos angepasst. Ein echtes Dokument hingegen, das die wirklich Schuldigen an den Gräueltaten direkt beim Namen nannte, geriet erst im Dezember 1991, also wenige Tage vor meinem Rücktritt, in meine Hände. Damals ließen mich Mitarbeiter des Archivs über G. I. Rewenko, den Leiter des Präsidentenstabes, bitten, ich möge mich unbedingt mit dem Inhalt einer Mappe vertraut machen, die im Sonderarchiv aufbewahrt worden sei. Zu der Zeit arbeitete ich bereits an meiner letzten Ansprache als Präsident, und dies und andere Dinge nahmen mich damals voll in Anspruch … Ich öffnete die Mappe. Sie enthielt ein von Berija unterzeichnetes Schreiben über polnische Militärangehörige und Vertreter anderer Schichten der polnischen Gesellschaft, die von den ‚Organen‘ in verschiedenen Lagern festgehalten wurden. Das Schriftstück endete mit dem Vorschlag, alle internierten Polen physisch zu vernichten. Der letzte Satz war unterstrichen, und oben stand mit Stalins Blaustift geschrieben: ‚Beschluss des Politbüros‘. Die Unterschriften lauten: ‚Dafür: Stalin, Molotow, Woroschilow …‘ Es war ein teuflisches Papier, das Tausende von Menschen in den Tod geschickt hat.“ 712 In seinen persönlichen Erinnerungen „Alles zu seiner Zeit“ schreibt Gorbatschow, dass anschließend von der Obersten Militärstaatsanwaltschaft unter der Nummer 159 eine strafrechtliche Untersuchung eingeleitet wurde. 713 Das Kapitel 5 des Berichts der polnisch-russischen Historiker-Kommission ist von der Russin N. S. Lebedewa und dem Polen A. Pschewoznik verfasst und trägt den Titel „Katy-

712 713

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 875. Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 499.

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nskoe prestuplenie“ (Das Verbrechen von Katyn), wobei die beiden Berichte separat aufeinander folgen. So lesen wir bei Pschewoznik, dass das Politbüro noch am 2. März 1973 das Verbrechen der Gestapo in die Schuhe schieben wollte. 714 Als im Frühjahr 1990 in Polen angesichts der wirtschaftlichen Probleme der Rücktritt des Präsidenten gefordert wurde, bewies Jaruzelski erneut staatsmännischen Weitblick und Verantwortung gegenüber seiner Nation, als er dem Sejm verfassungsgemäß vorzeitige direkte Präsidentschaftswahlen vorschlug. Aus ihnen ging im November 1990 Lech Walęsa, wie zu erwarten, als Sieger hervor. Er hatte Gorbatschow nicht vergessen. Bei einem Besuch in der Russischen Föderation im Frühjahr 1992 traf Walęsa auf seinen Wunsch auch mit dem früheren Präsidenten der Sowjetunion zusammen und sagte beim anschließenden Pressegespräch: „Ich bin ein Schüler Gorbatschows.“ 715 In seinem Buch „Polen und Russland“ würdigte Klaus Zernack den Wandel im Verhältnis dieser beiden Nationen. Michail Gorbatschow habe den Knoten der Machtgeschichte in Russland durchschlagen und damit nicht nur den Ost-WestKonflikt, sondern auch die tiefe Spaltung Europas liquidiert. Aber in der inneren Wandlung der kommunistischen Staatensystems sei Polen auf vielfältige Weise der ‚perestrojka‘ in der Sowjetunion vorangeschritten. „So bahnte sich zum ersten Mal in dem antagonistischen polnisch-russischen Jahrtausend an dessen Ende eine Gemeinsamkeit gesellschaftspolitischer Ziele an. Doch erst die grundstürzende Änderung des Mächtesystems, die sich in der Auflösung des Hegemonialverbandes Sowjetunion wie in der völkerrechtlichen Regelung der polnisch-deutschen Grenze kundtut, bringt die Epochenwende für ihre beiden wesentlichen Protagonisten, die polnischen und die russischen Reformkräfte, wirklich zum Tragen. Die gänzlich unerwartete Änderung aller Dinge in den polnisch-russischen Beziehungen ist nun möglich geworden: eine Nachbarschaft ohne Druck von ‚challenge and response‘, ohne die russisch-deutsche Umklammerung Polens und ohne direkte polnisch-russische Grenzen. Es kann kein Zweifel sein: Polen und Russen sind an einer Wendemarke ihrer Geschichte als europäische Nationen angekommen.“ 716 Wenn die Wiedererstehung Polens am Ende des Zweiten Weltkrieges schon mit dem Ruch verbunden ist, dass der einstige Aggressor Sowjetunion, der mit Nazi-Deutschland 1939 den Staat erobert und geteilt hatte, nun als Befreier vom Faschismus und Mitbegründer von Volkspolen aufgetreten ist, wie schwer erst muss ein Staat belastet sein, der seine Gründung ausschließlich äußerer Hilfe verdankt. Denn der Kommunismus war in Deutschland nicht verwurzelt gewesen, noch dazu war die Elite der KPD nicht nur von Hitler, sondern auch von Stalin selbst stark dezimiert oder vernichtet worden. Durch Stalin also entstand der neue Teilstaat, der obendrein darunter litt, dass die Sowjetunion, mit den anderen Sie-

Lebedeva, N. S. (Rossija), A. Pschevoz’nik (Pol’ša), 5. Katynskoe prestuplenie. In: Belyye Pjatna – Černye pjatna, S. 305f. 715 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 877. 716 Zernack, Polen und Russland, S. 531. 714

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germächten, bis 1990 auf ihrer Verantwortung für Deutschland als Ganzes beharrte und ihre Deutschlandpolitik stets auf zwei Gleisen verfolgte, den Beziehungen zur Bundesrepublik und den Sonderbeziehungen zur DDR. Westberlin gehörte zwar nicht zur Bundesrepublik, das Berlin-Abkommen vom 3. Juni 1972 erlaubte aber die Entwicklung der Beziehungen und Verbindungen zur ehemaligen Hauptstadt. Die an der UdSSR orientierte Staatsform, abgesichert durch die Präsenz von einer halben Million Sowjetsoldaten, wurde in der Niederschlagung des Volksaufstandes 1953 und dem Bau der Mauer 1961verfestigt. Das Trauma des Aufstandes gegen die kommunistische Herrschaft blieb bei der SED-Führung aber tief verwurzelt und bildete die Ursache für viele spätere Entscheidungen oder Unterlassungen, insbesondere die Überbetonung der inneren Sicherheit mit allen Formen der Überwachung und Kontrolle der Bevölkerung. 717 Mit der Befreierrolle der Sowjetunion eng verbunden war der Gründungsmythos der DDR als antifaschistischem Staat. Das verhinderte die Auseinandersetzung mit den Gewaltstrukturen des Stalinismus nach dem XX. und dem XXII. Parteitag der KPdSU. Sollte etwa über die Rolle der deutschen Überlebenden aus dem Hotel Lux in Moskau nicht gesprochen werden? 718 Das Gleiche gilt für die deutschen Hitlergegner, die Opfer des Stalin-Terrors wurden. So schreibt Irina Liebmann, die in Moskau geborene Tochter von Rudolf und Valentina Herrnstadt: „Als Mitte der dreißiger Jahre Stalins Großer Terror begann, waren mehr als achttausend deutsche Polit- und Arbeitsemigranten in der Sowjetunion registriert. Von diesen kamen nach 1945 nachweislich zwölfhundert nach Deutschland zurück. Die in Russland seit 1991 bekannt gewordenen Erschießungslisten aus der Zeit des Großen Terrors weisen zwischen 1936 und 1938 mehr als 760 Deutsche aus.“ 719 Ulbricht und Pieck wollten nicht, dass auch über ihre Rolle dabei gesprochen würde. Sie gingen deshalb zum Gegenangriff über. Tanja Walenski drückt das deutlicher aus: „Ulbricht stigmatisiert die zahlreichen Reformforderer und Aufklärungsanhänger innerhalb der Intelligenz als eine destruktive wie pathologische Minorität. Es kommt indirekt, aber klar zum Ausdruck, dass Diskussionen über Stalinismus und Personenkult einen Gegendiskurs zum Herrschaftsdiskurs auslösen und befördern, mit der Potenz, das ganze System DDR zu gefährden.“ Und sie Zur Geschichte der sowjetischen Truppen in Deutschland: Satjukow, Silke, Besatzer. „Die Russen“ in Deutschland 1945-1994. Göttingen 2008; Koop, Volker, Besetzt. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland. Berlin-Brandenburg 2008. 718 Siehe: Mayenburg, Ruth von, Hotel Lux. Die Menschenfalle. München 2011. 719 Liebmann, Irina, Erzähl doch einfach einmal, wie es war. In: FAZ 19. August 2013, Nr. 191, S. 29. Es ist die Rezension von Hedeler, Wladislaw, Inge Münz-Koenen (Hg.), „Ich kam als Gast in euer Land gereist…“ Deutsche Hitlergegner als Opfer des Stalinterrors. Familienschicksale 1933-1956. Berlin 2013. Irina Liebmann ist die Tochter von Rudolf und Valentina Herrnstadt, geborene Sonina, 1943 in Moskau geboren. Siehe auch: Das verordnete Schweigen. Deutsche Antifaschisten im sowjetischen Exil. Mit Beiträgen von Wladislaw Hedeler, Gerd Kaiser, Inge Münz-Koenen, Meinhard Stark, Carola Tischler. Pankower Vorträge, Heft 148. Berlin 2010; Lochthofen, Sergej, Schwarzes Eis. Der Lebensroman meines Vaters. 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2012. 717

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zitiert aus dem „Neuen Deutschland“ vom 4. April 1963: „Die Rufer nach den Diskussionen über die Formen des Personenkultes haben bei uns auch unter Künstlern und Schriftstellern Widerspruch hervorgerufen, und zwar einen sehr entschiedenen. Diese Schriftsteller sind empört, dass in demagogischer Weise versucht wird, ständig Fragen der Vergangenheit aufzuwerfen, offenkundig zu dem Zweck, Zersetzungsarbeit gegen den Staat zu leisten. Im Grunde geht es darauf hinaus, dass eine geringe Anzahl kleinbürgerlicher Nihilisten mit ihren eigenen Depressionen und den eigenen inneren Widersprüchen nicht fertig wird. Sie schieben die Schuld dabei auf Partei und Staat.“ Walenski kommentiert dieses Phänomen: „Das Reden und Handeln von Funktionsträgern wie Ulbricht und Kurella 720 verweisen somit auf die Einsicht, dass Systemstabilisierung und Machterhalt ein massives Öffentlichkeitsdefizit voraussetzen. Die Tabuisierung einer Auseinandersetzung mit dem Stalinismus und ebensolcher Strukturen in der DDR, unter ihnen als gravierende Maßnahme die Pressezensur, bleibt bis zu deren Ende unter Honecker virulent und wird immer wieder von Vertretern der Intelligenz angeprangert.“ 721 Das dritte Element, das mit den beiden anderen in engem Zusammenhang steht, bildet die Geschichtsfälschung. Das betraf die Entstehungsgeschichte von Kulturbund und „Freier Deutscher Jugend“ als „demokratischer Kräfte zur Erneuerung Deutschlands“. So lesen wir bei Honecker selbst im Kapitel „Symbol der aufgehenden Sonne“ über die Gründung der „Freien Deutschen Jugend“: „Am 26. Februar 1946 unterzeichneten Theo Wiechert, Paul Verner, ich und weitere Mitglieder des Zentralen Antifaschistischen Jugendausschusses, unter ihnen Edith Baumann, der evangelische Pfarrer Oswald Hanisch, Heinz Keßler, der katholische Domvikar Robert Lange und Rudolf Mießner, einen Antrag an die SMAD, die Gründung einer einigen, demokratischen Jugendorganisation mit dem Namen ‚Freie Deutsche Jugend‘ zu genehmigen. Ihr Symbol sollte die aufgehende Sonne auf blauem Hintergrund sein. Damit wollten wir versinnbildlichen, dass für die deutsche Jugend, die sich unter diesem Symbol vereinigt und organisiert, nach der finsteren Nacht des Faschismus ein neuer Tag anbricht. Eine Zukunft sollte es sein, die niemals mehr durch die verhängnisvollen Schatten der Vergangenheit verdunkelt, sondern wie die aufgehende Sonne am wolkenlos blauen Firmament hell erstrahlen würde. Schön sollte sie werden durch das einmütige Handeln der Jugend, die konsequente Abrechnung mit der unheilvollen Vergangenheit, die Besinnung auf die eigene Kraft. Als wenig später, am 7. März 1946, die SMAD der Gründung der Freien Deutschen Jugend zustimmte, war das die Geburtsstunde

Alfred Kurella (1895-1975), bis 1963 Leiter der Kulturkommission beim Politbüro des ZK der SED, lebte seit 1919 fast ständig in der Sowjetunion, seit 1944 sowjetischer Staatsbürger, ab 1954 in der DDR; Schaad, Martin, Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche. Hamburg 2014. 721 Walenski, Tanja, Verweigerte Entstalinisierung. Die Beziehungen des „Literatursystems DDR“ zur Sowjetunion 1961-1989. Frankfurt am Main 2008, S. 32f. 720

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der ersten einheitlichen demokratischen Jugendorganisation in der deutschen Geschichte.“ 722 Warum nur geht Honecker auf die Vorgeschichte der FDJ nicht ein, ihre Anfänge in Paris, der Tschechoslowakei und Großbritannien? Stammte doch die Fahne, goldene Sonne auf blauem Grund, vom FDJ-Sommerlager 1939 in Hoddesdon bei London. Karsten Schröder und Hans Herzberg wunderten sich deshalb über das Verschweigen dieser Tatsache in der DDR: „Das durchaus bekannte Wissen um seinen Ursprung ist in den mehr als 40 Jahren der Existenz der FDJ in der DDR niemals offiziell verbreitet worden. Ebenfalls in Hoddesdon erschien erstmals die Zeitung „Freie Deutsche Jugend“. 723 Die „Freie Deutschen Jugend in Großbritannien“ war am 2. Juni 1939 im Londoner Stadtteil Kensington gegründet worden. Ihr gehörten immerhin 600 Mitglieder an. Vorsitzender war damals Adolf (Appel) Buchholz, Stellvertreter waren Hans Mottek und Josef Schleifstein. 724 Daneben werden noch Wilhelm Bamberger, Kurt Barthel (KuBa), Horst Brie, Georg Friedländer, Dorrit Goldmann, Ernst Ichenhäuser, Franz und Brigitte Krahl, Paul Lindner, Wolfgang Münzer, Gerda und Theo Naujocks, Rudolf Schmergal und Josef Zimmering genannt. 725 Liselotte (Luky) Wolf, geb. Schaps, seit November 1939 Mitglied der „Freie Deutsche Jugend in Großbritannien“, Mitgliedskarte Nr. 252, arbeitete nach ihrer Rückkehr aus England 1948 in Pankow. 726 Viele England-Emigranten haben auf dem Friedhof in Pankow ihre letzte Ruhe gefunden. Die beiden Reihen gleich großer Grabsteine künden von der Sonderrolle der Angehörigen der KPD, die aus der WestEmigration in die Sowjetische Besatzungszone zurückkehrten. Noch vor Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 hatte Stalin die Wende vollzogen und die Entwicklungen in den Ländern, in denen die Kommunistischen Parteien an die Macht drängten, dem sowjetischen Modell unterworfen. So musste auch Anton Ackermann seine Vorstellungen vom „eigenen deutschen Weg zum Sozialismus“ korrigieren. Nach Stalins Tod aber und der Erfahrung der Protestaktionen vom April bis August 1953 gaben die neuen sowjetischen Führer Hinweise, die Entwicklung nicht zu überstürzen. So erinnerte Mikojan 1954 daran, dass Kautsky, im Gegensatz zu Lenin, die Ansicht vertreten hatte, dass nur in einem hoch industrialisierten Land eine erfolgreiche Entwicklung des Sozialismus möglich sei, wenn vorher eine Mehrheit der Bevölkerung für einen Übergang zum Sozialismus sei. 727 Honecker, Erich, Aus meinem Leben. 14. Aufl. Berlin 1989, S. 121. Schröder, Karsten, Hans Herzberg, Zur Geschichte der Organisation. In: Das war unser Leben, S. 198. Diese Aussage stimmt nicht ganz. Immerhin wird in der „Geschichte der Freien Deutschen Jugend“, 2. Aufl. Berlin 1983, S. 69 darauf verwiesen. 724 Stoecker, Helmuth, Wie ich die Gründung erlebte. In: Das war unser Leben. Erinnerungen und Dokumente der Freien Deutschen Jugend in Großbritannien 1939-1946. Hrsg. Von Alfred Fleischhacker unter Mitwirkung von Holger Stoecker. Berlin 1996, S. 136-142. 725 Schröder, Karsten, Hans Herzberg, Zur Geschichte der Organisation, S. 192f. 726 Wolf, Liselotte, Der Weg nach Manchester. In: Das war unser Leben, S. 147-161. 727 Schirdewan, Karl, Aufstand gegen Ulbricht. Berlin 1994, S. 67ff. 722 723

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Als aber nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956 auch innerhalb der SED ein demokratisches Parteiverständnis gefordert wurde, wofür besonders Wolfgang Harichs Plattform vom 25. November 1956 stand „Über die Aufgaben der SED im Kampf für die Festigung ihrer Reihen, für die sozialistische Demokratisierung der DDR und für die friedliche Wiedervereinigung“, wurden diese Ansätze als „Nationalkommunismus“ oder „humaner Sozialismus“ verurteilt und die Vertreter verhaftet, neben Harich auch Walter Janka, der Leiter des Aufbau-Verlages, einer der jüngsten Offiziere bei den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg, darüber hinaus 87 Wissenschaftler und Studenten der Universitäten Berlin, Halle und Leipzig. Damit endete eine Periode der deutschen Geschichte, die hoffnungsvoll begonnen hatte. Die Opfer des Hitler-Regimes und die Überlebenden des Stalin-Terrors hatten geglaubt, nach der Katastrophe des Dritten Reiches nun ein neues, demokratisches Deutschland aufbauen zu können. Die Emigranten aus Mexiko wie Anna Seghers, aus den USA wie Bertold Brecht, aus Großbritannien wie Helmut Herzfeld (John Heartfield), der Schweiz, Schweden, kehrten, oft mit sowjetischer Unterstützung, nach Deutschland zurück, insbesondere in die sowjetische Zone, wo sie begeistert aufgenommen wurden. So kamen Bert Brecht am 23. Oktober 1948 und Arnold Zweig am Tag zuvor in die sowjetische Zone ebenso wie die Musiker Hanns Eisler und Paul Dessau. Seydewitz wurde aus Stockholm regelrecht nach Berlin eskortiert, wo er zuerst Intendant des Berliner Rundfunks, danach Ministerpräsident von Sachsen wurde. Zahlreiche Lehrstühle wurden neu besetzt. So erhielten Hans Mayer und Ernst Bloch ihre Professuren an der Universität Leipzig. Thomas Mann hielt seine Goethe-Preis-Rede 1949 nicht nur in Frankfurt am Main, sondern, am 1. August 1949, im Goethe-Jahr, auch in Weimar, wo er ebenfalls den Goethe-Preis erhielt. 728 Später, im Jahr 1955, hielt er im Weimarer Nationaltheater die Rede zum Schiller-Jubiläum. „Aber nach den Aufständen in Polen und Ungarn 1956 erwies es sich, dass es kein ‚Tauwetter‘ gegeben hatte“, schrieb Mayer, „Ein Frühling, den sich viele von uns bloß eingebildet hatten. Nun wurde es bitterkalt. Ernst Blochs Mitarbeiter wurden verhaftet, nachdem die Arretierung von Wolfgang Harich und anderen Mitarbeitern der ‚Zeitschrift für Philosophie‘ das Signal gesetzt hatte.“ 729 Lag die Ursache darin, dass die SED von Anfang an keinen demokratischen Staat aufbauen, sondern nur den allmählichen Übergang zur Herrschaft der kommunistischen Partei nach sowjetischem Vorbild bewerkstelligen wollte? Deshalb das scheinbare anfängliche Beharren auf der Einheit Deutschlands, wurde das Wort „sozialistisch“ vermieden und von der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ gesprochen. So schreibt Rudolf Herrnstadt: „Im Umfeld des 17. Juni 1953 berichtete P. A. Judin, der Stellvertreter Semjonows, Berater des Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission, er sei von Moskau gerügt worden, weil er zugelassen habe, 728 729

Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf. Band 2, Frankfurt am Main 1988, S. 72ff. Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf, Bd. 2, S. 104.

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dass Walter Ulbricht mit Bezug auf die DDR die Formulierung ‚Diktatur des Proletariats‘ in der Öffentlichkeit gebraucht habe.“ 730 Im Jahr 1956 aber ging es in Polen und Ungarn um die Machtfrage. Entsprechend wurde der Prozess der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung“ in der DDR als abgeschlossen angesehen, d.h. die kommunistische Partei hatte, gestützt auf die KPdSU, alle Schalthebel der Macht in ihrer Hand. Die Verhängung von Zuchthaus für die Äußerung einer Meinung bedeutete aber einen Zivilisationsbruch. Das, wofür die Sozialdemokratie gekämpft hatte, auch Rosa Luxemburg mit ihrer Äußerung „Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, nämlich die freie Meinung, wurde liquidiert, die Weimarer Verfassung, die die KPD von Anfang bis Ende bekämpft hatte, erneut begraben. Wilfriede Otto sieht den Zivilisationsbruch auch in der Parteiengeschichte, wenn sie schreibt: „Die SED war mit ihrer historischen Verwurzelung, mit ihrem Gründungsverständnis, mit ihren sozialen Idealen und mit der Potenz ihrer Mitgliedschaft Teil der deutschen Parteienbewegung. Die Entscheidung der leitenden Gremien, die SED zu einer ‚Partei neuen Typus‘ zu entwickeln, gab jedoch demokratische Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung auf. Sie pfropfte – entgegen den neuen Chancen für eine vereinigte Arbeiterpartei – der SED ein Parteiverständnis auf, das von Lenin ausging, die historischen Spezifika des Kampfes der Bolschewiki verabsolutierte und Stalins Konzept für die Komintern-Parteien kritiklos respektierte.“ 731 Nur der Generalstaatsanwalt Melsheimer kam mit seinem Wunsch nach Arretierung des damals 71jährigen Ernst Bloch, den man noch ein Jahr vorher, im Juli 1955, als Vorbild marxistischer Wissenschaft in der DDR gefeiert hatte, nicht durch. Der aus Moskau zurückgekehrte Walter Ulbricht verbot ihm die spektakuläre Aktion. Harich erhielt als Hochverräter eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren, von denen er acht verbüßte, dann musste der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht, ihn endlich begnadigen; er tat es nicht gern, denn er vergaß nie, dass Wolfgang Harich den Ersten Sekretär der SED bei einem Gespräch, kurze Zeit vor der Arretierung, ausgelacht und als anachronistischen Politiker bezeichnet hatte. 732 Die fehlende Praxis der SED-Führungskader als politisch Verantwortliche verleitete sie dazu, wie die Russen selbst sagten, „päpstlicher als der Papst“ zu agieren. Mehrfach mussten die Sowjets, oft vergeblich, die SED-Führung davor warnen, übereilt, zu ideologisch, zu doktrinär zu agieren. 733 Das musste, neben Rudolf 730 Herrnstadt, Rudolf, Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953. Herausgegeben, eingeleitet und bearbeitet von Nadja Stulz-Herrnstadt. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 97. 731 Otto, Wilfriede, Widerspruch und abweichendes Verhalten in der SED. In: Enquete-Kommission ‚Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‘. Band VII, 2, S. 1452. 732 Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf, S. 129. 733 Das war das große Handicap der bundesdeutschen Deutschlandforschung, dass sie die DDR immer nur mit der Bundesrepublik verglich. Erst Mitte der achtziger Jahre, d.h. schon zur Zeit

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Herrnstadt, dem Chefredakteur des „Neuen Deutschland“, Oelssner, Zaisser, Ackermann und Elli Schmidt erfahren. 734 Wie der Einfluss der Sowjets auf die DDR-Führung praktiziert wurde, geht auch aus dem „Fall Fechner“ hervor. Der Justizminister Max Fechner, einstiges SPD-Mitglied, hatte am 2. Juli 1953 für das „Neue Deutschland“ einen Artikel verfasst, in dem weitgehende Straflosigkeit für die im Zusammenhang mit dem 17. Juni Inhaftierten gefordert und auf das verfassungsmäßig garantierte Streikrecht verwiesen wurde. Daraufhin wurde Fechner vor das Politbüro der SED vorgeladen. Über die sich anschließende Situation schrieb Herrnstadt: „Nachdem Fechner das Zimmer verlassen hatte, herrschte allgemeine Empörung über sein Verhalten. Genosse Judin (er und Semjonow waren anwesend), der sonst kaum jemals das Wort ergriff, sprang auf und sagte zitternd vor Erregung: ‚Bei uns in der Sowjetunion gibt man für eine solche Sache 12 Jahre Zuchthaus.‘ Walter Ulbricht sagte leise etwas zu Zaisser, dem Chef der Staatssicherheit. Wilhelm Zaisser erhob sich und ging hinaus. Ich hatte den Eindruck, dass er den Befehl zur Verhaftung Fechners erteilte.“ 735Fechners Verhaftung wurde am 15. Juli 1953 bekannt gegeben. Als das Rudolf Herrnstadt selbst betraf und er merkte, dass er als Kritiker Ulbrichts Sanktionen unterliegen würde, suchte er das Gespräch mit ihm. Der erklärte ihm schließlich: „Mein Lieber, ich habe mich zurückgehalten. Ich habe im Anfang mit Absicht nichts gesagt. Sie haben damit angefangen!“ – „Auf diese Weise erfuhr ich, dass die Initiative zum Fall ‚Zaisser/Herrnstadt‘ von den Genossen in Karlshorst ausgegangen war“, kommentierte Herrnstadt. 736 Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der DDR bis zu Erich Honeckers letztem Gespräch mit Michail Gorbatschow am 7. Oktober 1989, am 40. Jahrestag der Gründung der DDR. Alle Ansätze einer Alternative, eines eigenen Weges zum Sozialismus, wurden von Ulbricht zerschlagen. Als Ulbricht 1970 selbst originäre Gedanken entwickelte, war es zu spät, und er wurde von Honecker, mit Rückendeckung des Politbüros der KPdSU, abgelöst. An alternativem Denken aber hatte es in der DDR nicht gefehlt. Noch am 8. Juli 1956 konnte Robert Havemann, SED-Mitglied, Direktor des Physikalisch-Chemischen Instituts der Humboldt-Universität, korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften, im „Neuen Deutschland“ seinen Artikel „Meinungsfreiheit fördert die Wissenschaften“ veröffentlichen. 737 Indem er sich auf Heraklits Diktum „Der Streit ist der Vater aller Dinge“ berief, stellte er fest: „Die entscheidende Grundlage eines wirklich produktiven, wirklich schöpferischen Meinungsstreits ist die Respektierung aller ernsthaften und sachlichen von der Gegenseite vorgebrachten Gegenargumente – ja mehr Gorbatschows, wurde erkannt, wie stark die DDR-Realität vom sowjetischen Vorbild geprägt war. 734 Herrnstadt, Rudolf, Das Herrnstadt-Dokument, S. 137. 735 Herrnstadt, Rudolf, Das Herrnstadt-Dokument, S. 147. 736 Herrnstadt, Rudolf, Das Herrnstadt-Dokument, S. 154. Der Wahrheitsgehalt dieser Aussage Ulbrichts muss aber in Frage gestellt werden. 737 Havemann, Robert, Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 17-27.

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noch, die Respektierung der Gegenansicht.“ Es gehört nicht viel Phantasie dazu zu erkennen, wogegen er sich richtet, wenn er schreibt: „Ideen und Ansichten, die sich erschöpft haben und nicht mehr die Kraft besitzen, mit den Problemen fertig zu werden, die auf der Tagesordnung stehen, muten an wie Versteinerungen, wie Fossilien, die nur noch die zurückgebliebene leblose Hülle ursprünglichen Lebens sind. Der ursprüngliche Reichtum des Gedankens ist zu leblosen Dogmen und Lehrsätzen erstarrt, die in bornierter Engstirnigkeit die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens und der Natur auf ihr Prokrustesbett (Plechanows Lieblingswort – W.G.) zwingen wollen.“ 738 Doch nach dem Ungarn-Aufstand 1956 verfielen gerade die Dogmatiker in eine härtere Gangart gegenüber ihren Kritikern. Die Angst vor der Wirkung des Wortes, vor dem Denken in Alternativen, gegründet auf der beanspruchten Kenntnis der historischen Gesetzmäßigkeit, war wohl die entscheidende Motivation für die sich an stalinistischem Maßstab orientierende Verfolgung von Kritikern, vor allem innerhalb der SED. So wurde der Schriftsteller Erich Loest im November 1957 aus der SED ausgeschlossen, dann wegen seiner Ansichten zu demokratischen Erneuerungen verhaftet und wegen „Reformismus“ und „konterrevolutionärer Plattformbildung“ 739 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt. Robert Havemann versuchte in seinen Vorlesungsreihen, die sich schnell starker Beliebtheit bei den Studenten aller Fakultäten erfreuten – selbst aus Halle und Leipzig reisten Studenten an um ihn zu hören – durch Kritik an den politischen Verhältnissen die SED-Führung zu Reformen zu zwingen. So stellte er in seiner Vorlesung „Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ vom 18. Oktober 1963 die Bewegung in der Naturwissenschaft dem dogmatischen philosophischen Denken entgegen. 740 Die Antwort der offiziellen Vertreter war Ausschluss aus der SED, fristlose Entlassung aus der Universität, statutenwidrige Streichung als korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften, schließlich Hausarrest. Die 300 Bände über Robert Havemann bilden den größten „operativen Vorgang“, den die Staatssicherheit über eine einzelne oppositionelle Persönlichkeit in der DDR angelegt hatte. 741 Unter diesen Voraussetzungen blieb nur die Publikation im westlichen Ausland, insbesondere der Bundesrepublik. Euphorisch reagierte er auf den „Prager Frühling“ und schrieb in „DIE ZEIT“ vom 31. Mai 1968: „Sozialisten und Kommunisten in aller Welt verfolgen heute mit wärmster Sympathie und von großen Hoffnungen erfüllt die politische Entwicklung in der ČSSR. Was hier geschieht, wird nicht nur für die Zukunft dieses Landes von entscheidender Bedeutung sein, sondern es wird weltweite Rückwirkungen zeitigen 738

Havemann, Die Stimme des Gewissens, S. 19.

739 Dieckmann, Christoph, Ewig Erich. Erich Loest war ein Autor, der den ursächsischen Rabauz

beherrschte. Dankbare Erinnerungen an einen ewig Aufrechten. In: DIE ZEIT Nr. 39 vom 19.09.2013, S. 16. 740 Havemann, Robert, Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaft und Weltanschauung. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 23f. 741 Havemann, Katja, Joachim Widmann, Robert Havemann oder Wie die DDR sich erledigte. München 2003, Foto Nr. 59, S. 337.

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und tut dies schon heute. Zum ersten Mal wird hier der Versuch gemacht, Sozialismus und Demokratie in Übereinstimmung zu bringen. Bisher gab es in sozialistischen Ländern wohl verschiedene Ansätze, den Teufelskreis des Stalinismus durch eine Art schleichender Demokratisierung zu durchbrechen. Aber das Bleigewicht der Parteibürokratie hat die wenigen hoffnungsvollen Versuche stets wieder gelähmt und zum Stillstand gebracht. In der ČSSR erleben wir heute den grandiosen Versuch eines radikalen und kompromisslosen Durchbruchs zur sozialistischen Demokratie. Gelingt dieser Versuch, so wird dieser Erfolg von einer historischen Tragweite sein, die sich nur mit der russischen Oktoberrevolution vergleichen lässt.“ 742 Tatsächlich bedeuten die Ereignisse in der Tschechoslowakei auch für die DDR-Führung den Anfang vom Ende. Damit wird die Geschichte der sozialistischen Staaten auch zur Geschichte der Emanzipation vom sowjetischen Gesellschaftsmodell. Die Bedeutung der Niederschlagung des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ 1968 liegt aber darin, dass der Glaube an die Reformfähigkeit des Systems endgültig aufgegeben wurde. Volker Braun nennt dieses Ereignis „eine Kerbe in der Biographie, das Ende einer Hoffnung auf Veränderung der Gesellschaft“. Für ihn war es die Wende in einem einsamen Trotz: „Ab hier datiert der Gegentext zu den Monologen der Macht.“ In den Jahren 1967 und 1968 besuchten 2,6 Millionen DDR-Bürger die ČSSR und 1,1 Millionen ČSSR-Bürger die DDR. Und sie redeten miteinander. Dazu kamen die deutschsprachigen Sendungen von Radio Prag wie die Verteilung des Manifests der „2000 Worte“ in deutscher Sprache an die DDR-Touristen, was sogar zu einem Protest des SED-Politbüros beim Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei führte. Nach dem Einmarsch der Warschauer PaktTruppen fanden in der DDR zahlreiche Protestaktionen statt. So protestierten in Eisenach am 25. August 1968 drei- bis viertausend Jugendliche zweieinhalb Stunden lang gegen die Invasion. In den Betrieben verweigerten viele Arbeiter ihre Zustimmung zu einer Resolution, die den Einmarsch verteidigte. 743 Auch die Künstler meldeten sich zu Wort. So verfasste Wolf Biermann ein Lied, in dem er schrieb: „In Prag ist Pariser Kommune“, und Reiner Kunze, der tschechisch sprach und zahlreiche tschechische Schriftsteller übersetzte, widmete seinen 1969 erschienenen Gedichtband „Sensible Wege“ „dem tschechischen Volk, dem slowakischen Volk“. Schließlich erklärte er seinen Austritt aus der SED. 744 Seit 1968 führten viele Bürger der DDR eine Existenz unter dem Vorzeichen ihrer eigenen Alternative. Tagsüber saß man im Historischen Seminar der Universität, und am Abend trug man seine Gedanken ins geheime Tagebuch ein. Das „Tagebuch einer Krise 1968-1970“ gilt deshalb im doppelten Sinne, für den Staat 742 Havemann, Robert, Sozialismus und Demokratie. Der „Prager Frühling“ – ein Versuch, den Teufelskreis des Stalinismus zu durchbrechen. In: DIE ZEIT vom 31. Mai 1968; Robert Havemann, Die Stimme des Gewissens. Texte eines deutschen Antistalinisten. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 150. 743 Burens, Peter-Claus, Die DDR und der „Prager Frühling“. Berlin 1981, S. 68ff. 744 Burens, S. 70f.

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DDR wie das Individuum. 745 Hartmut Zwahr, als Assistent am Historischen Institut der Universität Leipzig am Beginn seiner wissenschaftlichen Karriere, dokumentiert in seinem Tagebuch die Existenz zweier paralleler Welten, „ein Leben im Zwiespalt“, wie es Zwahr selbst formuliert: „Ein ganzes Volk lügt“, notiert er, „weil es so gewollt ist. Wer die Wahrheit nicht hören will, muss sich mit der Lüge begnügen. Unsere Menschen leben mit zwei Auffassungen, sie sind Meister darin, in den Betrieben heuchelt man, in der Partei. Ein Teil ist blind ergeben, der andere ist feige oder zu klug und heuchelt.“ Das Besondere an Hartmut Zwahrs Aufzeichnungen ist, dass er, der tschechisch spricht, die Nachrichten im Prager Rundfunk und die Informationen in den tschechischen Zeitungen mit den Mitteilungen vergleichen kann, die in den DDRZeitungen über den Prager Frühling erscheinen. Das Ergebnis ist die Dokumentation einer historischen Situation. Sie zeigt nicht nur das Versagen der SED im Umgang mit der historischen Chance sich für einen demokratischen Sozialismus zu öffnen, sie ist darüber hinaus der Beweis für die Hilflosigkeit der Führung selbst, die sich nur in der Verschärfung der Lage Rettung verspricht. So lautet der Eintrag vom 30. Januar 1969: „Die Macht sichern, das ist die Hauptsache. Im Grunde ist es nur die Macht einiger Leute, für die die ganze Gesellschaft eingesetzt, das entwickelte System so entsetzlich entwickelt wird.“ Und, kurz davor, am 21. Januar: „Während die Universitäten bei uns mit den Einstufungen nach der neuen Mitarbeiterverordnung beschäftigt sind, verbrennt sich in der ČSSR Jan Palach.“ Hartmut Zwahr spricht die Kernfrage aus: „Wer und was ist die Arbeiterklasse?“ Und am 23. August 1968 notierte er angesichts der Invasion: „Das sind historische Stunden. Hier wird der Stab gebrochen über den Sozialismus Stalinscher Prägung, auch wenn die Tschechen und Slowaken in einem Meer von Blut und Tränen versinken sollten.“ Und über die Wirkung in den Okkupantenstaaten: „Geistig ist die Erschütterung vielleicht schon der Anfang vom Ende.“ Die Bewunderung über die KPČ in der Krise bricht durch: „Wenn irgendwo eine Partei führt, dann hier. Die führende Rolle der Partei, hier ist sie nicht die führende Rolle einer Fraktion der Partei, die so weit vom Volk entfernt ist, wie ihre Worte von Demokratie und Sozialismus es von Demokratie und Sozialismus sind.“ Dazu, noch voller Hoffnung: „Dieser Prager Revisionismus ist in Wirklichkeit die Zukunft des Sozialismus. Auf dieser Grundlage ist eine erneute einheitliche sozialistische Weltbewegung denkbar.“ Als Fazit hielt er am 1. Februar 1969 fest: Es gibt seit Januar 1968 eine wirkliche Alternative, und je mehr wir ihr zu entfliehen suchen, desto näher kommen wir ihr … Wir sind um eine ganze Dimension reicher geworden, unser Leben, unser Denken, unsere Hoffnung hat einen festen Kern erhalten. Und mögen sie drüben (= in der ČSSR – W.G.) auch noch so zurückgeworfen werden, was so viele Menschen so aufrührte und noch immer in seinen Bann zieht, wird weiter wachsen. Was in Zwahr, Hartmut, Die erfrorenen Flügel der Schwalbe. DDR und „Prager Frühling“. Tagebuch einer Krise 1968-1970. Bonn 2007. 745

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so vielen Köpfen steckt, wird nicht immer nur Entwurf bleiben, auch bei uns nicht.“ Das bedeutet, die Hoffnung auf eine Systemveränderung wird auf die Zukunft verlagert. Damit erhält die Kritik am DDR-System eine neue Dimension, sie wird einerseits fundamentaler, und sie erfasst andererseits immer weitere Kreise der Bevölkerung. Es entsteht eine starke Friedens- und Umweltbewegung. Diese findet in Einrichtungen der evangelischen Kirche räumliche, emotionale und inhaltliche Unterstützung. Die DDR-Regierung trägt selbst zur Verschlechterung der Lage bei einerseits durch Verstärkung der Repressionen, die Ausweisung zahlreicher oppositioneller Bürger aus der DDR, wie durch die reguläre Ausreiseerlaubnis, so 1984 für 40.000 Bürger, ein Jahr später für 10.000, die diese Maßnahmen als Ventil erschienen lassen, die aber wiederum Anträge auf Familienzusammenführung nach sich ziehen, andererseits durch die Praxis des Freikaufs von Häftlingen. Aber alle diese Maßnahmen untergraben die Fundamente des Staates immer mehr, bis ihn fünf Jahre später die Flucht von tausenden DDR-Bürgern in die Botschaften der Bundesrepublik, auch die Montagsdemonstrationen, insbesondere in Leipzig, aber auch in anderen Städten, zu Fall bringen. Es kam aber noch ein Element hinzu: die zunehmende Umweltverschmutzung. Es stiegen nicht nur die Gesundheitskosten, sondern die DDR war nicht in der Lage, von entsprechenden Gesetzen abgesehen, den Ausstoß der schädlichen Abgase zu verringern, denn die Terms of trade hatten sich durch die beiden Ölkrisen verschlechtert und die „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ der HoneckerRegierung die Schwerpunkte für Investitionen falsch gesetzt. So kam es ihr zwar gelegen, dass in den Berichten an den Club of Rome ab 1972 dieses Phänomen als global bezeichnet wurde, also systemübergreifend, aber gerade im internationalen Vergleich wurde die Rückständigkeit der DDR-Wirtschaft erneut deutlich. Das erste Ausrufezeichen setzte Wolfgang Harich 1975 mit seiner in der Bundesrepublik erschienenen Publikation „Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der Club of Rome“. 746 Harich orientierte sich an den beiden Berichten an den Club of Rome und forderte auch für die sozialistischen Staaten ein radikales Umdenken. Eine Lösung sah er aber nur in einer globalen Zusammenarbeit, gesteuert von einer „Öko-Diktatur“. Harich, bis 1956 Chefredakteur der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“, wurde ein Jahr später in einem Schauprozess zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er acht verbüßte, und kam 1964 nach einer Amnestie aus dem Zuchthaus. Beeinflusst von den Entwicklungen in Polen und Ungarn und der Entstalinisierungsdebatte in der Sowjetunion nach Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag, hatte er eine „Plattform“ verfasst, in der er die Kritik an der DDR-Füh-

746 Harich, Wolfgang, Kommunismus ohne Wachstum? Babeuf und der Club of Rome. 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1975; Amberger, Alexander, Bahro-Harich-Havemann. Marxistische Systemkritik und politische Utopie in der DDR. Paderborn 2014, insbes. Kap. 1.6 „Meadows und die DDR“.

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rung auflistete. So forderte er eine radikale Demokratisierung der SED, die Beseitigung der Privilegien von Spitzenfunktionären, die Herstellung der Religions- und Geistesfreiheit, die Zulassung kleinerer und mittlerer privatwirtschaftlicher Einheiten, die Einführung von Arbeiterräten in sozialistischen Betrieben, die Unabhängigkeit der Gewerkschaften und der Massenorganisationen von der Partei, freie Wahlen und allgemeine Rechtssicherheit. Dennoch sollte an den Prinzipien des demokratischen Sozialismus festgehalten werden. 747 Amberger verweist auf die positive Bewertung der „Plattform“ durch die Historiker. So urteilt Werner Mittenzwei über die „Plattform“: „Ungeachtet aller Schwächen und Grenzen, der politischen Naivität in der Wahl der Stunde, ist Harichs ‚Plattform‘ das umfassendste Programm aller Oppositionsbewegungen bis 1989 geblieben.“ Er schreibt ihm deshalb in der DDR-Oppositionsbewegung eine herausragende Rolle zu. Auch Siegfried Prokop zählt ihn zu den großen deutschen linken Intellektuellen in unserem Jahrhundert. Andererseits spricht Erhart Neubert seinen Thesen jede politische Relevanz ab, denn sie seien von Oppositionellen nicht rezipiert worden. 748 Das gilt aber eher für den ökologischen Sozialismus, den Harich in „Kommunismus ohne Wachstum?“ propagiert hatte. Zwar erlangten Havemann und Bahro größere Bedeutung, aber auch Harich meldete sich nach dem Scheitern der DDR wieder zu Wort. Unter dem Einfluss von Gorbatschows Politik revidierte er seine „Öko-Diktatur“ und ging nun auf Lenin zurück. So schrieb er 1989, die Öko-Diktatur werde zwar keineswegs zu entbehren sein, sie werde jedoch demokratisch ausgeübt, durch die Mehrheit. Angesichts Gorbatschows Politik schrieb er: „Und ich bin überzeugt davon, dass, wenn in den sozialistischen Ländern, kombiniert mit breiter ökologischer Massenaufklärung, alle politischen und sozialen Fragen einem in Freiheit kontroversen Meinungsbildungsprozess zur Beantwortung und Entscheidung anheimgegeben werden, so wie dies neuerdings in der Sowjetunion geschieht, sich nächstens für die Forderung, die Probleme des Sozialismus mit Vorrang in den Dienst des Überlebens der Menschheit zu stellen, es eine hinreichende Mehrheit geben wird.“ Seine Warnung vor der Gefahr der Energieerzeugung durch Kernenergie wurde 1986 durch die Tschernobyl-Katastrophe bestätigt. Und er forderte, wie Gorbatschow, eine neue Weltordnung. 749 Havemann aber äußert bereits Gedanken, die erst wieder in der Nowosibirsker Studie 1983 auftauchen: „Heute existiert in der Sowjetunion eine große Industrie. Der ursprüngliche Widerspruch zwischen den Produktionsverhältnissen und dem Stand der Produktivkräfte ist weitgehend überwunden. Damit ist auch dort die 747 Neubert, Erhart, Geschichte der Opposition in der DDR. 2. Aufl., Bonn 2000, S. 107; Amberger, S. 64. 748 Mittenzwei, Werner, Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945-2000. Berlin 2000, S. 137; Prokop, Siegfried, Wolfgang Harich Leben und Werk. In: Ders. (Hg.), Ein Streiter für Deutschland. Auseinandersetzungen mit Wolfgang Harich. Berlin 1996, S. 25; Neubert, S. 213; Amberger S. 70f. 749 Harich, Wolfgang, Nietzsche und seine Brüder. Eine Streitschrift. Schwedt 1994, S. 144; Amberger, S. 99ff.

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Entwicklung an dem Punkt angelangt, wo der in der Vergangenheit entstandene stalinistische Überbau durch einen modernen demokratischen Überbau ersetzt werden kann und ersetzt werden muss. Das gleiche gilt heute für alle anderen sozialistischen Staaten, in denen der stalinistische Überbau immer mehr zu einer Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte geworden ist.“ Und er bringt das Problem auf den Punkt: „Der Stalinismus ist das System des Misstrauens und der Heuchelei, die Demokratie das des Vertrauens und der freien und krítischen Meinungsäußerung. Im Stalinismus hat der Staat die Bürger, in der Demokratie haben die Bürger den Staat.“ Und er zitiert, wie in der Glasnost-Zeit Schatrow, Rosa Luxemburg: „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden.“ Ihre Worte hätten nun eine brennende Aktualität erlangt. Zwar setzt er die bürgerliche Demokratie von der sozialistischen Demokratie ab, in der das Vorrecht des Kapitals abgeschafft ist, verteidigt aber die Gewaltenteilung: „Entscheidend für die Demokratie ist die demokratische Kontrolle der Regierung von unten. Dies bedeutet das Recht auf Opposition, sowohl in der Öffentlichkeit, in Presse, Funk und Fernsehen wie auch im Parlament und den Volksvertretungen, dessen Mitglieder durch freie und geheime Wahlen bestimmt sind. Dies bedeutet auch die Unabhängigkeit der Richter und die Einrichtung von Verwaltungsgerichten, vor denen der Bürger gegen behördliche Willkür Klage erheben kann. Demokratie bedeutet eben, dass das Regieren schwerer und das Regiertwerden leichter gemacht werden.“ 750 Zu Recht schreibt Wilfriede Otto, ihr erscheine die allgemeine Auffassung von einer apathischen Zeit überprüfungsbedürftig. „Typisch war zwar politische Indifferenz, aber aus der SED heraus kamen interessante politische Konzepte, die allerdings schon im Keim erstickt wurden. Dafür sprechen die Rolle Robert Havemanns, das Kulturplenum des ZK der SED 1965, Reaktionen auf den ‚Prager Frühling‘, der Mut von Rudolf Bahro, die Alternative von Fritz Behrens und andere noch nicht erforschte Aktivitäten.“ 751 Christoph Kleßmann macht auch darauf aufmerksam, dass sich einige der bekanntesten späteren Oppositionellen der DDR, – er nennt auch Robert Havemann, Rudolf Bahro, dazu Reiner Kunze, der an der KMU Leipzig bei Ernst Bloch und Hans Mayer studiert hatte und der zahlreiche Gedichte aus dem Tschechischen ins Deutsche übertrug, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann –, aus der Sympathisantenszene des Prager Frühlings rekrutierten 752. „Sympathie für Dubček und Protest gegen die Panzer waren aber auch unter jungen Arbeitern relativ stark verbreitet“, schreibt er. Von den 1290 Ermittlungsverfahren als Reaktion auf die Proteste entfielen 70 Prozent auf junge Arbeiter. 753 Havemann, Sozialismus und Demokratie, S. 152 ff. Otto, Wilfriede, Widerspruch, S. 1456. Friedrich (Fritz) Behrens, 1909-1980, war einer der führenden Wirtschaftswissenschaftler und Hauptvertreter des Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung in der DDR. 752 Kleßmann, Christoph, 1968 in Ost und West. Historisierung einer umstrittenen Zäsur. In: Osteuropa 7/2008, S. 26. 753 Wolle, Stefan, Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968. Berlin 2008, S. 160f. 750 751

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Robert Havemann aber ist der herausragende Kopf der systemimmanenten Kritik. Wie Milovan Djilas in seiner Arbeit „Die neue Klasse“ 754 kritisierte Havemann zuerst die Fehlentwicklungen in der SED und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftlichen und staatlichen Strukturen der DDR, widmete sich auch den Umweltproblemen 755 , um schließlich beim Kernproblem zu landen, der Oktoberrevolution: „Ich glaube, dass die Oktoberrevolution nicht das Modell der modernen sozialistischen Revolution ist. Die Oktoberrevolution fand meiner Meinung nach zur falschen Zeit und am falschen Ort statt.“ Und: „Ich glaube, dass überhaupt diese Art von Revolution, wie die Oktoberrevolution, ein Widerspruch in sich ist, nicht nur wegen der vorgefundenen politischen und ökonomischen Verhältnisse in diesen Ländern – weder die Sowjetunion noch das alte Russland hatten den Entwicklungsgrad erreicht, der nach Marx für die Umwälzung der Gesellschaft Voraussetzung ist. Die Art und Weise der Umwälzung entspricht gar nicht der Konzeption, die sich aus der marxistischen Analyse der Geschichte ergibt.“ 756 So schreibt Havemann im „Morgen“: „Dass die Oktoberrevolution noch dazu in einem Land stattfand, das vom Standpunkt der marxistischen Theorie für die sozialistische Revolution besonders ungeeignet war, war Lenin und seinen Genossen sehr wohl bewusst.“ Und er äußert einen Gedanken, der von Furet und Richet über die Französische Revolution in der Vorbereitung ihres 200jährigen Jubiläums beschrieben wird, nämlich, die Oktoberrevolution sei, nach der gescheiterten Pariser Kommune, der zweite ungleich folgenschwerere Versuch, dem Lauf der Geschichte zuvorzukommen. Sie habe zu einem Gesellschaftssystem geführt, das man eigentlich, wenn es nicht ein Widersinn wäre, als sozialistischen Feudalismus bezeichnen müsste: „Ein Staat mit absolut pyramidaler Hierarchie mit fast absolutistischer Herrschaft eines einzigen Mannes an der Spitze, mit stufenweise einander untergeordneten Herrschaftsebenen von Großfürsten, Fürsten, Grafen und Landvögten. Ein Staat, gegen dessen Willkür keine Rechtsmittel existieren außer der erniedrigenden Form der Eingabe, die noch dazu immer genau von derjenigen Stelle ‚bearbeitet‘ und dementsprechend beantwortet wird, gegen die sich der Bürger mit seiner Beschwerde gerichtet hat. Ein Staat, in dem Presse-, Rede- und Meinungsfreiheit nur für den existiert, der den Oberen nach dem Munde redet. Ein Staat, in dem alle Rechte und Freiheiten, die sich die Ausgebeuteten in den bürgerlich-kapitalistischen Staaten mit schweren Opfern erkämpft und verteidigt haben, außer Kraft gesetzt sind: Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Streikrecht, Recht auf Freizügigkeit innerhalb und außerhalb der Grenzen des Landes, Briefund Postgeheimnis, Informationsfreiheit, Freiheit in der Wahl der Arbeit und des Arbeitsplatzes.“ 757 Djilas, Milovan, Die Neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems. München 1958. 755 Havemann, Robert, „Morgen“. Die Industriegesellschaft am Scheideweg. Kritik und reale Utopie. München 1980. 756 Havemann, Robert, Für eine friedliche Revolution. In: Havemann, Robert, Die Stimme des Gewissens, S. 82, S. 176. 757 Havemann, Morgen, S. 41. 754

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Das bedeutet, die Kritik an den Zuständen in der DDR sprang über auf die Ursachen, d. h. die Sowjetunion. Schon der Anfang also war verkehrt. Das Denken schrie deshalb nach Alternativen zum herrschenden System. So war es kein Zufall, dass Rudolf Bahros Buch „Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ wie eine Bombe einschlug. 758 Ernest Mandel nannte es „das wichtigste theoretische Werk, das uns seit Ende des II. Weltkrieges aus dem Ostblock über den Charakter der Übergangsgesellschaft erreicht hat“. Bahro erhielt dafür acht Jahre Bautzen II, wovon er ein Jahr absaß, dann, nach bisher noch nicht da gewesenen internationalen Protesten, in die Bundesrepublik entlassen wurde. Schon als Student war er aufgefallen, als er nach dem XX. Parteitag der KPdSU und den Unruhen in Polen, der Niederschlagung des Aufstands in Ungarn mit einer Wandzeitung das ZK aufforderte, die Ergebnisse des XX. Parteitages auszuwerten und „die historische Gerechtigkeit wiederherzustellen“. 759 Dabei blieb es nicht. Am 3. Dezember 1967 schrieb er einen neun Seiten langen Brief an Walter Ulbricht, Erster Sekretär des ZK der SED und Vorsitzender des Staatsrates der DDR. Es folgte ein Gespräch im ZK. Der Schock kam aber mit dem Abwürgen des Prager Frühlings durch die Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968. Am 24. August rief er in der Botschaft der ČSSR an und erklärte, „dass es für ihn als Kommunisten (seit 1952 Mitglied der SED) beschämend sei, dass die Truppen der DDR an der militärischen Aktion gegen die ‚sozialistische Erneuerung‘ in der ČSSR teilnehmen“. 760 Wie Beethoven sieht er sich innerhalb der DDR-Gesellschaft als eine Persönlichkeit, die nicht bereit ist, die hohen Maßstäbe des eigenen Gewissens durch Kompromisse verrücken zu lassen. Ironischerweise wird sein Essay, den er in dieser Zeit verfasst hat, in der sowjetischen philosophischen Zeitschrift Voprosy filosofii unter dem Titel „Was lehrt das Beispiel Beethoven?“ abgedruckt. 761 Aber nun gilt sein ganzes Engagement der Kritik des herrschenden Systems aus kommunistischer Perspektive. Er studiert die Gründerväter und alle relevante Literatur, die er sich beschaffen oder in Bibliotheken einsehen kann. Sein Anspruch besteht darin, in Anlehnung an Marxens „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“ eine „Analyse einer Gesellschaftsformation vom revolutionären Standpunkt aus“ zu erstellen. Das Ergebnis ist nicht nur eine treffende Analyse der aktuellen sozialistischen „real existierenden“ Systeme, sondern auch der Versuch, durch einen neuen „Bund der Kommunisten“ zu einer wahren humanen Gesellschaft zu gelangen. D.h. er fängt dort an, wo die ehemaligen Mitglieder des „Bundes der Gerechten“ als „Bund der Kommunisten“ sich 1848 in Brüssel mit Karl Marx trafen, um das „Kommunistische Manifest“ auszuarbeiten und mit nach England zu nehmen. Bahro, Rudolf, Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln, Frankfurt am Main 1977. 759 Bahro, Protest. 24.10.1956. In: Herzberg, Guntolf, Kurt Seifert, Rudolf Bahro – Glaube an das Veränderbare. Eine Biographie. Berlin 2002, S. 38f. 760 Herzberg, Seifert, S. 100. 761 Baro, Rudolf, Čemu učit primer Betchovena. In: Voprosy filosofii, H. 12/1970, S. 39-52. 758

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Bahro geht aus vom Widerspruch zwischen Anspruch und Realität des offiziellen osteuropäischen Kommunismus. Während die Welt sich radikal veränderte, verharren die Kommunisten auf Lenins Interpretation vor einem halben Jahrhundert. „Heute erkennen die Völker der Sowjetunion und der osteuropäischen Länder mehr und mehr, dass das neue System seinen erklärten Prinzipien wenig entspricht, seine eigentlichen Ziele verfehlt, keine Grenzen mehr überschreitet. Die ideelle Substanz ist ausgehöhlt. In der Konsequenz zeichnet sich überall, zuletzt auch in der Sowjetunion selbst, jener für die bestehende Machtstruktur katastrophale ideologische Bankrott ab, der 1968 in der ČSSR sichtbar wurde.“ Denn „der Inhalt der Umgestaltung in der ČSSR brachte nichts anderes an den Tag als die wirkliche Gesellschaftsstruktur, die aus den osteuropäischen Revolutionen und zuvor aus der Oktoberrevolution hervorgegangen ist. Und das Tempo der Umgestaltungen, zuvörderst die rasche Gestaltveränderung der Kommunistischen Partei selbst, bewies, wie dringlich diese neue Struktur, zumindest in den industriell entwickeltsten Ländern, darauf wartet, den Panzer abzuwerfen, der sie am Larvenstadium geschützt hat, jetzt aber zu ersticken droht. Das 1968 entfesselte soziale Potential, das man mit Gewalt wieder in die überkommene Zwangsjacke gesteckt hat, bleibt da und wird – zunächst durch passive Resistenz – weiter gegen den inadäquaten Überbau rebellieren, bis eines Tages auch in der Sowjetunion der Anachronismus dieses Systems historisch vollendet ist. Dann wird der halben Reformation Chruschtschows“, schreibt er prophetisch, „auch dort eine gründlichere Volksreformation folgen, die die herrschenden politischen Strukturen nicht nur neu adaptiert, sondern in ihrer sozialen Struktur verändert.“ Diese Krise hat alle Länder des sowjetischen Blocks ergriffen – und auch er nimmt die Formulierung der Nowosibirsker Studie von 1983 vorweg –, „sie beruht letztlich auf der Zuspitzung des allen Marxisten in seiner Bedeutung geläufigen Widerspruchs zwischen den modernen Produktivkräften und den zum Hemmnis für sie gewordenen Produktionsverhältnissen“. Und es folgt die Erkenntnis: „Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln hat eben zunächst keineswegs ihre Verwandlung in Volkseigentum bedeutet. Vielmehr steht die ganze Gesellschaft eigentumslos ihrer Staatsmaschine gegenüber.“ Das aber bedeutet: „Die Ablösung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die allgemeine Emanzipation des Menschen fallen um eine ganze Epoche auseinander.“ Da „die Vergesellschaftung als entscheidendes Formationsmerkmal des Sozialismus noch vollständig etatistisch verlarvt“ ist, d.h. „Sozialismus im Larvenstadium“, ist seine Charakterisierung als protosozialistisch am charakteristischsten. Konsequent schreibt er: „Denken wir nun an den real existierenden Sozialismus mit seiner weit über das Spektrum der finanziellen Einkünfte hinausreichenden Kultivierung der sozialen Ungleichheiten; mit der Fortdauer von Lohnarbeit, Warenproduktion und Geld; mit seiner Rationalisierung der alten Arbeitsteilung; mit seiner quasikirchlichen Familien- und Sexualpolitik; mit seinen hauptamtlichen Funktionärskadern, seiner stehenden Armee und Polizei, die alle nur nach oben

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verantwortlich sind; mit seinen offiziellen Korporationen zur Einordnung und Bevormundung der Bevölkerung; mit seiner Verdopplung der unförmigen Staatsmaschine in einen Staats- und Parteiapparat; mit seiner Isolierung in den Staatsgrenzen – so ist seine Unvereinbarkeit mit den Auffassungen von Marx und Engels evident.“ Hatte Bakunin in seinem Buch „Staatlichkeit und Anarchie“ doch Recht, als er Marx als „inkarnierten Prophet des Staatssozialismus“ bezeichnete? Bahro zitiert aus Marx Exzerpt über Bakunin: „Bakunin hatte dort gesehen ‚einen Despotismus der regierenden Minderheit, um so viel gefährlicher, als sie erscheint als Ausdruck des sogenannten Volkswillens‘. ‚Aber diese Minderheit, sagen die Marxisten‘, (Marx fragt dazwischen: Wo?) ‚wird aus Arbeitern bestehen. Ja, mit Erlaubnis, aus gewesenen Arbeitern, aber die, sobald sie nur Repräsentanten oder Regierer des Volkes geworden sind, aufhören Arbeiter zu sein und sehn werden auf die ganze gemeine Arbeiterwelt von der Höhe der Staatlichkeit; sie werden nicht mehr das Volk vertreten, sondern sich und ihre Ansprüche auf die Volksregierung‘. Diese ‚intelligente und deswegen privilegierte Minderheit‘ werde regieren, ‚wie wenn sie die wirklichen Interessen des Volks besser begriffe als das Volk selbst‘. Man werde den Begriff ‚wissenschaftlicher Sozialismus‘ zur Begründung solcher Ansprüche missbrauchen. Der sogenannte Volksstaat Wilhelm Liebknechts, den er Marx zuschrieb, werde nichts anderes sein ‚als die sehr despotische Lenkung der Volksmassen durch (eine) neue und sehr wenig zahlreiche Aristokratie wirklicher oder angeblicher Gelehrter.“ Nach der detaillierten, sehr kritischen Darstellung der Ereignisse seit der russischen Revolution vom Oktober 1917 stellt Bahro die Frage nach der Möglichkeit einer Lebens- und Entwicklungsform der Partei jenseits der stalinistischen Erstarrung. Er schreibt, die sowjetische Gesellschaft brauche eine erneuerte kommunistische Partei, unter deren Führung sie die in den Jahrzehnten des Industrialisierungsdespotismus erarbeiteten Produktivkräfte für den Aufbruch zu neuen Ufern, in den eigentlichen Sozialismus ausnutzen könne. Natürlich wird die Partei fundamentaler Kritik unterzogen: „Die heutige Parteiorganisation ist eine Struktur, die aktiv massenhaft falsches Bewusstsein produziert. An der Spitze gerinnt dieses Bewusstsein zu Entscheidungen und Beschlüssen, die insgesamt keine adäquate Interpretation der gesellschaftlichen Bedürfnisse, Notwendigkeiten und Möglichkeiten darstellen können. Sie ist konditioniert wie ein Pawlowscher Hund, der eine lange Zeit braucht, um eine einmal eingeübte Reaktion auf irgendein Signal zu verlernen, wenn dieses Signal seine Bedeutung verändert.“ Daraus ergibt sich: „Der antiprometheische Charakter der maßgebenden ‚Bruderparteien‘, allen voran der sowjetischen und unserer deutschen, ist die verheerende Tatsache. Ihre innere Verfassung und ihre Herrschaftsform als Überstaatsapparat sind die entscheidenden Entwicklungshemmnisse auf dem Weg zur weiteren Emanzipation der Menschen in unseren Ländern. Die Partei, die einmal Lenins war, die Partei, die von Liebknecht, von Luxemburg begründet wurde – sie wirken heute mit umgekehrter Fackel.“ Es klingt wie eine Brücke zur Perestrojka in der Sowjetunion ab 1985, wenn Bahro schreibt: „In der Stunde der Umgestaltung wird sich überall wie

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1968 in der ČSSR herausstellen, dass unter der harten Schale eine andere, neue Partei – wir müssen sagen: mindestens eine – auf ihre Entbindung gewartet hat.“ Mit dem Schriftsteller Volker Braun verband Rudolf Bahro sehr früh ein enges Vertrauensverhältnis. Bei ihm befand sich die Kopie des Briefes an Walter Ulbricht. Er gehörte auch zu den Schriftstellern, denen Bahro ein Exemplar seines Buches, noch unter dem Titel „Zur Kritik des real existierenden Sozialismus“ zum Lesen und zur Aufbewahrung gegeben hatte. In seinem Gedicht „Vom Besteigen hoher Berge“ äußerte er, auf den Punkt gebracht, die gleichen Gedanken wie Bahro. Es erschien 1979 nach dem Prozess gegen Bahro und erlebte mehrere Auflagen. Volker Braun „Vom Besteigen hoher Berge. (nach Lenin)“: 1. Jetzt sind wir höher als die Baumgrenze gekommen Aber der Wald hat zugenommen. Jetzt haben wir das Lager errichtet Unter dem Gipfel, den keiner mehr sichtet. Jetzt hängen wir am Seil ungelenk Um nicht abzustürzen beim nächsten Schwenk. Jetzt geht es nicht mehr vorwärts in dem ewigen Schnee Formulare/Kies/Versprechungen/kalter Kaffee Das reicht uns bis an den Schritt. Jetzt schleppen wir jeden Tag den Berg mit. Jetzt hat uns die Höhenkrankheit befallen Und jeder sieht sich verfolgt von allen Bis in die Betten und Bilanzen. Jetzt kämpfen wir gegen Wanzen. Jetzt übersteigen offenbar uns die Wege Mit ihrem Geröll/Eckziffern/Privilege Jetzt steigen wir über die Mitarbeiter Erobernd eine Platz auf der Leiter. Wo wollen wir eigentlich hin. Ist das überhaupt der Berg, den wir beehren Oder eine ägyptische Pyramide. 762 Warum sind wir so müde. Müssen wir nicht längst umkehren Und von unseren Posten herabfahren. Und uns aus den Sicherungen schnüren Denn dieser Weg wird nicht zum Ziel führen. Tappen ins Ungewisse, aus dem wir aufgestiegen waren. 762

Osip Mandelštam nennt in der „Reise nach Armenien“ Stalin den „Ägypter“. (1933).

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Die Reibung unser einziger Halt. Tagelang arbeiten, um einen Zoll zurückzugehn Verschwinden, um zu bestehn. Aufstieg gleich Abstieg, heiß kalt. Und den Gipfel in wieder erreichbarer Ferne zu sehn. 2. Und nun schrein die Arschlöcher, die nie einen Schritt wagen. Was hat das zu sagen. 763 Und Bahros Buch wurde gelesen, im Zentralkomitee der SED, der Staatlichen Plankommission, im Ministerrat, in der Humboldt-Universität, selbst im Ministerium für Staatssicherheit, auch Honecker wurde damit befasst. Bei der Opposition aber wurde Bahro wegen seines Mutes, wie Havemann, zur Identifikationsfigur. Amberger entdeckt im Agieren der Bürgerrechtsbewegung in den achtziger Jahren ein Ergebnis der Strategie Bahros: „Neben mehr oder weniger geheimen Treffen in Wohnungen trauten sich nonkonforme DDR-Bürger nun häufiger nach außen, zumindest unter dem Schutz der Kirche. Dort fanden Blues-Messen, Punkkonzerte, Lesungen, Friedensgebete etc. statt, dort trafen sich auch Gesprächszirkel und die Macher von Samizdat-Heften. Und aus diesen Aktivitäten entwickelte sich 1989 die Massenbewegung, die das Ende der SED-(Allein-)Herrschaft herbeiführte. Insofern ist Bahros Strategie aufgegangen.“ 764 Es spricht für die Qualität der Parteisekretäre, denn auch Bahro hatte dieses Amt inne gehabt, dass sich einige grundlegend mit ihrer Partei und dem von ihr beherrschten Staat auseinandersetzten. Die Totenglocke der DDR läutete schon, da erschien erneut das Buch eines Parteisekretärs. Rolf Henrich war zehn Jahre lang Parteisekretär des Kollegiums der Rechtsanwälte im Bezirk Frankfurt/Oder. Für seine Arbeit als Parteisekretär wurde er mit der Verdienstmedaille der DDR ausgezeichnet. Das Jahr 1968 bedeutete auch bei ihm die Wende. Hier wurde ihm klar, „dass die marxistische Geschichtsauffassung in dieser konkreten Situation beschworen wurde, um das imperialistische Machtgebaren der Politbürokratie zu legitimieren“. 765 Er schreibt über diese Zeit: „Obwohl ich also nicht unbedingt zu den Anhängern der Prager Bewegung rechnete, bekam ich doch nach dem Einmarsch der Warschauer Paktstaaten in Prag im Zuge der innerparteilichen Auseinandersetzungen in der DDR hautnah zu spüren, wie unerwünscht jede eigene Meinungsäußerung war. Abgerechnet wurde nämlich damals, jedenfalls war es an der hauptstädtischen Alma Mater der Fall, nicht nur mit den Anhängern des Prager Reformkurses, sondern mit all denen, die sich überhaupt den Luxus selbständigen Braun, Volker, Vom Besteigen hoher Berge (nach Lenin, Notizen eines Publizisten. Februar 1922). In: Training des aufrechten Gangs. Gedichte. Halle-Leipzig 1979, S. 34f. 764 Amberger, S. 188. Er stützt sich dabei auf Maik Hosang, Ein deutscher Prophet? Rosa-Luxemburg-Stiftung 24. Juni 2009. 765 Henrich, Rolf, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 312. 763

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Denkens und Redens geleistet hatten. Wer niemals miterlebt hat, wie gestandene Hochschullehrer befohlene Selbstkritik übten, der kann sich schwerlich in die konkreten Zeitverhältnisse hineinversetzen.“ 766 Aber erst Rudolf Bahros Buch „Die Alternative“ brachte ihn dazu, sich selbst auf den Weg der „wirklichen gedanklichen Durchdringung des historischen Geschehens“ zu begeben. „Dieses Buch begeisterte mich“, schreibt er, „mit ihm war der ideologische Bann endgültig gebrochen: Bahro beschrieb den Weg der meisten sozialistischen Länder als einen Entwicklungspfad, der seinen Ursprung in der Hinterlassenschaft der ‚asiatischen Produktionsweise‘ hatte. Eine Epoche des Kapitalismus hatten diese Länder nie durchschritten.“ Er begründet das: „Die Politbürokratie im Staatssozialismus hält ihre Herrschaft erklärtermaßen bereits deshalb für legitim, weil wir – und uns voran die Sowjetunion – im Vergleich zu den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens ‚schon eine historische Epoche weitergegangen sind‘. Mit dieser formationsgeschichtlichen Rechtfertigung der bürokratischen Macht will man ‚wissenschaftlich‘ beweisen, dass etwas in der Gegenwart und Zukunft sein soll, weil ein anderes in der Vergangenheit gewesen ist. Wie selbstverständlich unterstellt diese Legitimationsbegründung einen monokausalen Geschichtsverlauf, der darin seinen Höhepunkt findet, dass der Staatssozialismus die spätkapitalistischen Gesellschaftsordnungen des Westens ablöst. Noch immer gehört – mitunter kunstvoll variiert – die Behauptung, Geschichte vollziehe sich in der Stufenfolge: Kapitalismus – Sozialismus, zu den entscheidenden Grundpfeilern allen dogmatischen Denkens. … Was aber, wenn sich herausstellen sollte, dass der Staatssozialismus – jedenfalls in seinen Ursprungsländern Russland und China – das Ergebnis eines selbständigen, zweiten Entwicklungspfades der Menschheit ist, der die kapitalistisch-liberale Phase gar nicht durchlaufen hat?“ 767 Henrich geht damit über Bahro hinaus. „Bald jedoch wurde mit klar“, schreibt er, „wie inkonsequent und dem alten Schematismus verhaftet Bahro mit seinem Ansatz blieb, wenn er unsere Verhältnisse charakterisierte‚ als protosozialistisch, d.h., wir haben Sozialismus im Larvenstadium.‘ Für mich stand nach dem Lesen der ‚Alternative‘ fest: Wir haben keinen Sozialismus im Larvenstadium, sondern wir leben in der Gesellschaftsform, die weltweit gesehen das Erbe der ‚asiatischen Produktionsweise‘ angetreten hat. Nach dieser Vorstellung ist der Sozialismus nicht mehr die Nachfolgeformation des Kapitalismus; er ist, jedenfalls in der Form, in der er in der Wirklichkeit existiert, allgemeiner Ausdruck eines selbständigen (industriellen) Entwicklungspfades der ‚östlichen Welt.‘“ 768 Das bedeutet, er begibt sich auf eine Beschreibung außerhalb der von Marx entwickelten historischen Gesellschaftsformationen. Wie Rudolf Bahro ist er sich über die Konsequenzen der Veröffentlichung eines kritischen Buches über das System des „real existierenden Sozialismus“ völlig im Klaren, denn Henrich, Der vormundschaftliche Staat, S. 314. Henrich, Der vormundschaftliche Staat, S. 24f. 768 Henrich, Der vormundschaftliche Staat, S. 312f. 766 767

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es würde sofort als „Verrat am Sozialismus“ kriminalisiert und sein Autor strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Die Wende hat den Autor vor diesen Konsequenzen bewahrt, er kann sogar sagen, er habe zu diesen Veränderungen beigetragen. Nachdem er noch im April 1989 aus der SED ausgeschlossen worden war, gehörte er wenig später zu den Mitbegründern des „Neuen Forums“. Der Einfluss der Autoren Havemann, Bahro und Henrich, viel mehr ihrer sozialismus-kritischen, wenn auch sozialismus-immanenten Gedanken, auf die Herausbildung der Opposition in der DDR ist evident. Aus Bahros „Alternative“, die durchaus verbreitet werden konnte, war es der Begriff der „Subalternität“, „der das Selbstbefinden eines großen Bevölkerungsteils, nämlich dem allgegenwärtigen Staat unter- bzw. eingeordnet zu sein“, entsprach. 769 In Lesegemeinschaften, kleinen Zirkeln wurde über die Literatur diskutiert. Stephan Bickhardt schreibt von einer kirchlichen Veranstaltung: „Am 7. Oktober 1978 fand in der Dresdner Weinbergskirche, Anfang der siebziger Jahre Zentrum der Offenen Jugendarbeit der Evangelischen Kirche in Sachsen, im Rahmen eines Abendgottesdienstes eine Lesung aus Bahros Buch statt. Ein Gefühl, dass hier einer die Wahrheit über unser Leben auszudrücken vermag, beherrschte den Raum. Pfarrer Eduard Berger, heute Bischof der Pommerschen Landeskirche, lud anschließend zur Diskussion ein.“ 770 Natürlich befand sich Robert Havemann schon nicht mehr in der SED, als er, gemeinsam mit Rainer Eppelmann, den „Berliner Appell“ vom 25. Januar 1982 initiierte, der die Überwindung der deutschen Teilung und die Vernichtung der Atomwaffen auf deutschem Boden forderte. Auf dem Interdisziplinären und Ökumenischen Symposium über das Thema „Tausend Jahre Taufe Russlands. Russland und Europa“ in Halle an der Saale, zitierte der Rektor der Martin-Luther-Universität, Werner Isbander, in seinem Grußwort aus dem in der DDR gerade erschienenen Perestojka-Buch Gorbatschows „Umgestaltung und neues Denken für unser Land und für die ganze Welt“ und formuliert ganz im Gorbatschowschen Geist: „Auch heute gibt es wieder Versuche, ob bewusst oder unbewusst, Europa lediglich mit Westeuropa gleichzusetzen. Hier wird das Thema des Symposiums brennend aktuell, da es unmittelbar die tiefgehenden Wurzeln und die trotz allem unzerreißbaren Bande Ostund Westeuropas zum Inhalt hat und damit unser eines, gemeinsames Europa im vollen Sinne des Wortes zeigt: Europa als unser gemeinsames Haus, das Haus aller Völker mit ihren unterschiedlichen Geschichten, Konfessionen, Ideologien und Gesellschaftssystemen.“ 771 Doch auch aus den Instituten der Akademie der Wissenschaften meldeten sich Wissenschaftler zu Wort. So wurde Rolf Reißig von der Akademie für Gesell-

Bickhardt, Stephan, Die Entwicklung der DDR-Opposition in den achtziger Jahren. In: Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland“. VII, 1, S. 451. 770 Bickhardt, Die Entwicklung, S. 452. 771 Isbander, Werner, Grußwort. In: Tausend Jahre Taufe Rußlands. Rußland und Europa, S. 3. 769

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schaftswissenschaften beim ZK der SED, dessen Buch „Aufstehen für den Frieden. Friedensbewegung heute“ (Berlin 1982) nach seinem Erscheinen auf Veranlassung Kurt Hagers eingestampft worden war, wegen seiner Position zur Dialogfähigkeit und dem Wettbewerb der Systeme, zu Demokratie und Menschenrechten vom Politbüro 1987/88 erneut gemaßregelt. Die Rettung in letzter Minute versuchte Uwe-Jens Heuer vom Institut für Theorie des Staats und des Rechts der AdW der DDR, indem er daran ging, die Ergebnisse der Perestrojka, insbesondere der XIX. Parteikonferenz der KPdSU, aber auch die Veränderungen in den anderen sozialistischen Staaten, soweit man sie im Jahr 1988 noch so nennen konnte, auf die DDR zu übertragen. 772 Seine Arbeit erschien im April 1989. Seine Absicht ist, „eine moderne, unserer Zeit gerecht werdende Theorie der sozialistischen Demokratie“ zu entwerfen. Er zitiert aus Gorbatschows Grußwort auf dem XI. Parteitag der SED 1986, es gehe um die Attraktivität des Sozialismus. Jenes Gesellschaftssystem werde „die größte Ausstrahlungskraft erreichen, welches in der Lage ist, ein menschenwürdiges Leben für alle Mitglieder der Gesellschaft zu sichern, und welches die besseren Möglichkeiten für die menschliche Emanzipation im breitesten Sinne bietet – von der Sicherung der Existenzgrundlagen bis zur reichen Entfaltung der Persönlichkeit.“ 773 Er verweist aber auch auf das Abgehen vom Alleinvertretungsanspruch der KPdSU durch Gorbatschow: „Für die Erreichung dieses Ziels leisten alle Länder, alle Parteien ihren Beitrag. Die neue Entwicklungsstufe wurde von Gorbatschow jetzt so gekennzeichnet, dass heute nicht mehr nur ein Land seine Erfahrungen einbringt, dass bereits mehrere Bruderländer eine reiche Geschichte sozialistischer Entwicklung hinter sich haben, dass keine einzige Partei das Monopol auf die Wahrheit besitzt, die Selbständigkeit aller Parteien selbstverständliches Prinzip sei.“ Natürlich nimmt Heuer nicht Abstand vom Glauben, durch die Verstaatlichung der Produktionsmittel wären die Voraussetzungen für eine humane Gesellschaft besser gegeben als unter den Bedingungen des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Dennoch aber, und das ist sehr mutig, fordert er mehr Demokratie: „Demokratische Haltung fordert Risikobereitschaft, fordert, Verantwortung zu übernehmen, nicht für die Taten anderer, sondern für eigene Taten, fordert Einsicht in Mögliches und Nichtmögliches, fordert Lernbereitschaft und Toleranz, das Ertragen von Widersprüchen und Konflikten. Ein Demokrat muss den Mut zur eigenen Meinung haben und die Bereitschaft, die Meinung anderer zu hören und zu durchdenken, zu respektieren, aber auch zu bekämpfen. Er muss den Willen der Mehrheit achten, aber ihm auch widersprechen, wenn er den Interessen der Mehrheit oder auch zu respektierenden Interessen einer Minderheit widerspricht. Demokratische Haltung zum eigenen Staat ist nicht eine Frage der Dankbarkeit, deren Kehrseite die Forderungsideologie ist, sondern eine auf eigenem Einfluss beruhende Identifizierung. Ihre Grundlage ist die eigene, freie Entscheidung, 772 773

Heuer, Uwe-Jens, Marxismus und Demokratie. Berlin (DDR) 1989. Heuer, Marxismus, S. 324.

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die auch Ein- und Unterordnung ebenso wie Widerspruch ermöglicht. Lenin charakterisierte als die besten Elemente, die es in unserer Ordnung gibt, ‚erstens die fortschrittlichsten Arbeiter und zweitens die wirklich aufgeklärten Elemente, für die man bürgen kann, dass sie kein Wort auf Treu und Glauben hinnehmen, kein Wort gegen ihr Gewissen sagen werden‘. Aufklärung, hatte Kant gesagt, ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit und gefordert: ‚Sapere aude! Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!‘“ 774 Und Heuer beruft sich auf Gorbatschows Umgestaltung, die zu einer Explosion der geistigen Aktivität geführt habe, zu Offenheit, Kritik und Selbstkritik. „Unter Berufung auf Lenin – aber nicht ohne Berührung mit der Aufklärung – wird gefordert: Mehr Licht.“ Er zitiert Gorbatschow: „Gegenwärtig durchlaufen wir sozusagen aufs Neue eine Schule der Demokratie. Wir lernen. Unsere politische Kultur reicht nicht aus, es mangelt an der Kultur, Diskussionen zu führen.“ Und er folgert: „Auch die Wissenschaft sieht sich mit der neuen Situation in einer ganz anderen, viel verantwortungsvolleren Lage.“ 775 Der versucht er zu entsprechen. Es sind Forderungen an die Führung der DDR, die er nun, in wissenschaftlicher Diktion, aber gestützt auf die Veränderungen in der Sowjetunion und Polen und Ungarn, stellt. Es geht nicht nur um die Streitkultur, wie im SED-SPD-Papier über „Den Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ von 1987, es geht ihm um das Recht im sozialistischen Partei-Staat. Richtigerweise und nicht ohne Grund beginnt er das Kapitel über das Recht mit dem Satz: „Es war und ist eine komplizierte Aufgabe, den Platz des Rechts im Sozialismus, seine Wirkung im politischen System, sein Verhältnis zu führender Partei, Staat und Demokratie zu bestimmen.“ 776 Denn, in seinem Verständnis ist demokratische Machtausübung notwendig auch rechtlich geregelte Machtausübung. Die Menschenrechte müssen eingehalten werden, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit muss die Eingabepraxis ablösen. Das Ziel ist ein „Sozialistischer Rechtsstaat“. Kein Staatsorgan, kein Funktionär, kein Kollektiv, keine Partei- oder gesellschaftliche Organisation, niemand sei der Pflicht enthoben, sich dem Gesetz unterzuordnen. Er schlägt die Bildung eines Komitees für Verfassungskontrolle vor. 777 Doch es war bereits zu spät. Die DDR lag in Agonie. Und das war selbstverschuldet. Die im SED-SPD-Papier 778 gezeigte Dialogbereitschaft mit der Sozialdemokratie, die auch Hoffnungen auf ähnliches Verhalten im Innern der DDR ge-

Heuer, Marxismus, S. 441 f. Heuer, Marxismus, S. 447. 776 Heuer, Marxismus, S. 449. 777 Heuer, Marxismus, S. 469. 778 Gemeinsame Erklärung der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften bei ZK der SED vom 27. August 1987: „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ (Auszug). In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik, S. 783788. 774 775

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nährt hatte, blieb aus. War es die Folge der allmählichen Vergreisung des Politbüros, war es die Konzentration der Macht ausschließlich auf die Troika Honecker, Mittag, Mielke unter Umgehung der anderen Politbüromitglieder. Es kam zur unglücklichen Formulierung von Krenz nach dessen Rückkehr aus China, die so aufgefasst wurde, dass auch in der DDR „Pekinger Verhältnisse“ möglich sein könnten, analog zum Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. In seinem Buch „Herbst `89“distanziert er sich von dieser direkten Äußerung. Er schreibt: „Wörtlich sagte ich: ‚Wir brauchen heute vor allem eine solche Atmosphäre, die dazu beiträgt, in der Welt den Frieden zu schaffen. ‘ Nur in diesem weltpolitischen, in diesem globalen Sinn habe ich von ‚Stabilität und Ordnung‘ in China gesprochen. Alles andere, was die Medien aus meinen Äußerungen machen, habe ich nicht zu verantworten.“ 779 Es spricht aber für die Einstellung der Bevölkerung gegenüber der Partei, dass sie ihr ein solches Verhalten zutraute. Eine offene Blamage erlitt die SED bei der Kommunalwahl am 7. Mai 1989, als sie der Wahlfälschung überführt wurde. Da nun 10-20 Prozent der Bevölkerung nachweislich nicht mehr von den in der Nationalen Front vereinten Blockparteien und SED-gesteuerten Massenorganisationen in der Volkskammer repräsentiert wurden, konnten sich oppositionelle Gruppen selbst als Plattform für eine demokratische Volksvertretung artikulieren. 780 Es war auch die Stunde der Massen. Einerseits gingen immer mehr Bürger auf die Straße, um ihren Forderungen nach Frieden, Ökologie, Glaubensfreiheit und Menschenrechten Nachdruck zu verleihen, andererseits verließen immer mehr Bürger das Land und suchten Zuflucht in den Botschaften der Bundesrepublik in Warschau, Prag und Budapest. Die SEDFührung wurde sichtlich der angestauten Probleme nicht mehr Herr. Am 22. September 1989 entwirft Egon Krenz einen Brief an Erich Honecker. „Die politische Situation in der DDR … ist so zugespitzt, wie ich dies in meinem Leben bisher nie empfunden oder erlebt habe. Man trifft bei vielen Bürgern auf Ratlosigkeit oder Resignation.“ Selbst Parteimitglieder lebten im Gewissenkonflikt zwischen dem, was sie erkannt hätten, was sie bewegen wollten und dem, was sie tatsächlich beeinflussen könnten. Der Westen komme mit seinen Argumenten bei der Bevölkerung an, weil es in der DDR keine öffentliche Diskussion über gesellschaftliche Alternativen gebe. Man spreche in der BRD von Reformen, wolle jedoch die DDR beseitigen. Die Partei müsse klarmachen, dass das politische und ökonomische System der DDR reformiert werden solle, aber ohne die sozialistischen Grundlagen anzutasten. „Wir müssen uns befragen, wo die Ursachen für Fehlentwicklungen in der DDR liegen. Sie sind nicht erst in den letzten Wochen entstanden. Was früher als Detail galt, wird heute zu einer Systemfrage: Warum kann der Kapitalismus Probleme lösen, die in der DDR über Jahrzehnte nicht ge-

Krenz, Egon, Herbst `89. 2. Aufl. Berlin 2009, S. 108. Bickhardt, Die Entwicklung, S. 494. Als im Dezember 1989 die Manipulationen veröffentlicht wurden, mussten die meisten Bezirksräte zurücktreten und viele Bürgermeister wurden ihres Amtes enthoben. Pawlow, die deutsche Vereinigung, S. 76.

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löst worden sind, etwa die Produktion hochwertiger Konsumgüter, die Autoproduktion, der Materialzufluss in die Betriebe sowie die kontinuierliche Versorgung der Bevölkerung mit Obst und Gemüse und anderen Gütern.“ Die Menschen ließen sich nicht mehr auf eine ferne Zukunft vertrösten. Er kommt auf die Bundesrepublik zu sprechen. Die Bürger der DDR seien damit konfrontiert, dass sich die DDR als Teil eines ehemaligen Ganzen entwickelt habe. Das beeinträchtige in letzter Zeit stärker das Finden der Identität der Bürger zu ihrem Staat. Wenn Polen oder Ungarn ins Ausland gingen, gingen sie in die Fremde, wer aus der DDR in die BRD gehe, wechsele, bei aller Unterschiedlichkeit der Systeme, in einen Staat, in dem die gleiche Sprache gesprochen werde und wo man Verwandte habe. Unzufrieden seien die Bürger mit der Medienpolitik. Das Verbot des Sputnik habe bei vielen die Frage aufgeworfen, inwieweit die Bürger als mündig gelten. Die Menschen wollen nicht vorgeschrieben bekommen, was sie lesen dürfen, noch dazu, wenn es aus Freundesland komme. „Aktuell sei“, schrieb er an Honecker, „wie mit Andersdenkenden oder mit oppositionellen Gruppen umgegangen werde. Die Kirche habe bei wichtigen Themen wie Ausreise, Medienpolitik und Umweltschutz die Meinungsführerschaft übernehmen können, weil sich die Partei ungenügend darum kümmere. So wäre der Eindruck entstanden, dass die Gruppen unter dem Dach der Kirche die Probleme klarer und realer sähen als das Politbüro. Nur über einen ernsthaften Dialog mit allen gesellschaftlichen Kräften könnten wir einen Ausweg aus der Situation finden. Wir müssten uns aufmerksamer und feinfühliger zu den Ideen von unten, auch der von Andersdenkenden, in der Partei verhalten.“ Das Programm der Partei aus dem Jahre 1976 müsse verändert werden. Der für 1990 geplante XII. Parteitag der SED sei durch eine ehrliche Volksaussprache vorzubereiten. Die Aussprache solle alle Themen umfassen: die soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, das Leistungsprinzip, die Preispolitik, gesellschaftliche und persönliche Freiheiten, die sozialistische Demokratie, die Kollektivität und Individualität, die Solidarität zwischen den Generationen, die Heimatliebe und den Internationalismus. Gesetze müssten künftig wieder öffentlich diskutiert werden…“ 781 Warum nur wurde diese Bestandsaufnahme der Lage in der DDR nicht früher formuliert? Nun war es zu spät, denn der Partei war längst jegliche Initiative entglitten. Diese ging nun von der Bevölkerung selbst aus. Von Januar bis Juni 1989 schieden 35.500 Mitglieder und Kandidaten aus der SED aus. Etwa 20.000 SED-Funktionäre mussten im ersten Halbjahr 1989 ihren Platz räumen. „Aber“, schreibt Wilfriede Otto, „die eigentliche Sinnkrise unter SED-Mitgliedern, die sehr unterschiedlich und widersprüchlich zum Tragen kam, setzte im Herbst ein – mit der Ausreiseflut, mit der arroganten und ignorantenhaften Haltung des Politbüros, mit dem Medienschwindel, mit den Montagsdemonstrationen, mit der gestörten Kommunikation zwischen Partei, Staat und Gesellschaft, mit dem Ausbleiben der Dialogbereitschaft. Ohne je das Hinterherhinken der Partei hinter der Entwicklung überwinden zu können, keimten aber seit etwa 781

Krenz, Egon, Herbst `89, S. 104-106.

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Anfang Oktober zwei qualitativ neue Aspekte, die letztlich den Charakter von echter Opposition und Bewegung in der SED annahmen: 1. Der Weg zu den Demonstranten; 2. Der Protest der Parteibasis gegen die Führungsgremien, für eine grundlegend erneuerte Partei.“ 782 Gerade in der Krisensituation musste die DDR-Führung die Unterstützung durch die Sowjetunion suchen. Und das tat sie, wenn auch in doppelter Weise, d.h. auf zwei Kanälen, die sich jedoch einander ausschlossen. Völlig frei von Kommunikationsstörungen waren die Beziehungen nie gewesen, auch nicht zur Zeit Ulbrichts. Tanja Walenski spricht von „Inkongruenzen“. 783 So wird die literarische Entstalinisierung in der DDR verweigert. Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag wird geheim gehalten. Jewgenij Jewtuschenkos Gedicht „Stalins Erben“ (1961) und Alexander Solschenizyns Erzählung „Ein Tag aus dem Leben des Iwan Denissowitsch“ (1962) erscheinen in der DDR nicht. Ulbricht selbst verbietet die Veröffentlichung durch einen Politbürobeschluss und lässt sogar die russische Ausgabe aus den Buchhandlungen der DDR entfernen. 784 Reiner Kunzes Solschenizyn-Gedichte können nur in der Bundesrepublik publiziert werden. Als Reaktion auf den XXII. Parteitag der KPdSU kommt es in der DDR zu einem Disput zwischen dem sowjetischen Literaturwissenschaftler Ilja Fradkin und Alfred Kurella, dem Verantwortlichen für die Kulturpolitik der DDR. Als diese Diskussion durch das 11. Plenum des ZK der SED, das „Kahlschlag-Plenum“, 785 abgewürgt wird, hört man aus Kreisen der sowjetischen Literaturwissenschaftler und Germanisten, dass „die DDR wieder einmal überspitze“. 786 Es ist aber nicht zu übersehen, dass nach dem Breschnew-Besuch im Herbst 1965, dem September-Plenum der KPdSU „eine auffällige Analogie zur Entwicklung in der UdSSR festzustellen ist“. 787 Der renommierte Übersetzer Franz Leschnitzer wird wegen seiner Kritik am noch nicht überwundenen Stalin-Kult in der DDR aus der SED ausgeschlossen. Auch tauchte, von Erich Honecker und dem Leipziger SED-Chef Paul Fröhlich, der Vorwurf an den Schriftstellerverband auf, er sei ein Petöfi-Club. Das aber war eine Wiederaufnahme eines Vorwurfs aus dem Jahre 1957, nach der Verhaftung von Walter Janka, der damals auch mit diesem Vorwurf konfrontiert worden war. 788 Von dem im Anschluss erfolgten „Kahlschlag“ der Kultur erholte sich die Otto, Widerspruch, S. 1476. Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 7. 784 Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 294 und 133. 785 Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Hg. von Günter Agde. Berlin 1991. Zu Alfred Kurella siehe: Schaad, Martin, Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella. Eine biografische Spurensuche. Hamburg 2014. Schaad interpretiert dabei Kurellas Roman „Die Gronauer Akten“ als „äsopisches Meisterwerk“. (S. 158). 786 Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 27. 787 Knoth, Nikola, Das 11. Plenum – Wirtschafts- oder Kulturplenum? In: Kahlschlag, S. 66. 788 Hermlin, Stephan, Bruchstücke der Erinnerung an Ulbricht und Honecker. In: Kahlschlag, S. 243ff.; Simon, Jana, Was nicht in ihren Büchern steht. In: ZEIT-Magazin Nr. 40 vom 26.09.2013, S. 18. 782 783

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DDR nicht mehr. 12 Filme verschwanden im Archiv, Werner Bräunig wurde wegen seines Buches „Rummelplatz“ über die Wismut AG angegriffen. 789 Das waren die Jahre der „kulturpolitischen Selbstisolierung der ostdeutschen Literaturpolitik im sozialistischen Lager.“ 790 Auf den Konferenzen in Leningrad 1963 und OstBerlin 1964 verteidigten die sowjetischen Literaten sogar die westdeutschen Schriftsteller gegen Vorwürfe ihrer DDR-Kollegen. Und Anna Seghers gibt ein Gespräch wieder, dass es die Absicht gäbe, „besondere Bearbeitungen der sowjetischen Literaten für uns anfertigen zu lassen.“ 791 Von der Konferenz in Liblice angefangen, gibt es auch immer wieder Diskussionen um die Kafka-Interpretation. So schreibt Werner Mittenzwei: „So wurde die Kafka-Rezeption zu einem Feld der politischen Auseinandersetzung. Seit der Kafka-Konferenz ging es nicht mehr um diese These Georg Lukács‘, Thomas Mann oder Franz Kafka, Realismus oder Moderne, sondern jetzt auch darum, inwieweit sich die marxistischen Reformkräfte gegenüber den Kräften der Beharrung durchzusetzen verstanden. Diese Konferenz signalisierte ziemlich früh den Übergang von der Realismus-Debatte zur Demokratie-Debatte… Wenn es eine günstige Möglichkeit gab, den Sozialismus im Sinne der sozialistischen Grundwerte von innen her zu reformieren, dann in dieser Zeit von 1963 bis 1968. Insofern war die Kafka-Konferenz wirklich eine Schwalbe, die die Veränderungen ankündigte. Im weiteren Verlauf löschte die Sowjetunion diesen Versuch aus.“ 792 Andererseits gab es, wie Walenski schreibt, auch im Hinblick auf Franz Kafka Differenzen zwischen der DDR und der UdSSR, „die zeigen, dass in der UdSSR im Vergleich zur DDR ein höherer Grad an gesellschaftlicher Modernisierung im ‚Handlungssystem Literatur‘ existiert. Zwar wird Kafka in beiden Systemen als ‚dekadent‘ und ‚modernistisch‘ eingestuft, doch die sowjetische Haltung ist insofern ‚elastischer‘, als 1963 in der UdSSR seine Erzählung Vor dem Gesetz publiziert wird und von dort über Vermittlungshandlungen einer sowjetischen Germanistin in die DDR ‚einreisen‘ kann.“ Diese Erzählung ist damit die erste Primärpublikation Kafkas in der DDR überhaupt, sie wurde gleich als Antizipation von Diktatur und Totalitarismus gelesen, ein Grund dafür, warum Kafka über Jahrzehnte keine Publikationschance hatte. Walenski sieht im Umgang mit dem modernen Schriftsteller Kafka „eine Art Chiffre für den vielschichtigen und politisch brisanten Diskurs, in dem es Autoren und auch Lektoren darum geht, sich aus den Zwängen orthodoxer marxistischer Denkschablonen zu befreien.“ 793 Bei einem Colloquium in Ost-Berlin Die Existenz zweier deutscher Staaten und die Lage in der Literatur 1964 initiieren die ausländischen Teilnehmer, vor allem aus der UdSSR, Polen, Ungarn und der ČSSR, eine sonst im Schriftstellerverband nicht mögliche, offene Diskussion, in der die

Bräunig, Werner, Rummelplatz. Berlin 2007. Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 99. 791 Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 101. 792 Mittenzwei, Werner, Zur Kafka-Konferenz 1963. In: Kahlschlag, S. 85. 793 Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 293. 789 790

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„provinzielle Enge“, „ungenügende Weltweite“ und „mangelnde Modernität“ der Literatur in der DDR beklagt wurde. 794 Wieder schreibt Tanja Walenski, die Sowjetunion habe eben ihre staatliche Legitimation aus der Oktoberrevolution 1917 und partiell aus dem Sieg über Deutschland im „Großen Vaterländischen Krieg“ 1945 bezogen. Sie definierte sich von innen heraus, historisch-militärisch aus der eigenen, über Jahrzehnte gewachsenen Geschichte und nicht wie die DDR ausschließlich von außen, über das ideologische Konstrukt des Antifaschismus, das 1949 zur Staatsdoktrin erhoben worden sei. 795 Das erklärt, warum in der DDR das „Teilsystem Literatur“ weitaus stärker dem Primat der Politik unterworfen ist, als dies in der Sowjetunion der Fall ist. „Insofern lässt sich sagen“, so Walenski, „dass es in der DDR bis zu deren Ende nicht zu jener partiellen Wechselwirkung mit einer kritischen, informellen Öffentlichkeit und zu einer kommunikativen Autonomisierung kommt“. 796 Aber auch auf anderen Politikfeldern gab es nicht nur Gleichklang zwischen den Führungen in Sowjetunion und DDR. Zwar gelang es Erich Honecker durch die Unterstützung von Breschnew Ulbricht auf das Altenteil zu befördern, aber Harmonie in allen Fragen stellte sich dennoch nicht ein. Das ging in der Wirtschaftspolitik von der strategischen Planung innerhalb des RGW bis zu ständigen Forderungen nach einer höheren Lieferquote von Rohöl. Bei der persönlichen Übermittlung der Absage, die ZK-Sekretär Konstantin Rusakow am 21. Oktober 1981 unmittelbar Erich Honecker überbrachte, sagte dieser: „Wir wissen uns keinen anderen Ausweg. Genosse Breschnew sagte mir, wenn Du mit Genossen Honecker sprichst, sage ihm, dass ich geweint habe, als ich unterschrieb.“ 797 Insbesondere aber in den Fragen der Sicherheitspolitik, in denen die sowjetische Führung stets sensibel reagierte, war von einer eigenständigen Außenpolitik erst gar nicht zu reden. Gegen Ende der Breschnew-Zeit wurde Honecker immer kühner. Die Beziehungen zur Bundesrepublik entwickelte er schon so weit, dass Schachnasarow im Nachhinein schreibt, es dürfe behauptet werden, dass niemand, von Bundeskanzler Kohl abgesehen, einen so großen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet habe wie der SED-Generalsekretär Erich Honecker. Denn in den Augen der sowjetischen Botschafter Abrassimow und Kotschemassow überschritten die Beziehungen der DDR zur Bundesrepublik jedes Maß. 798 Die Folgen blieben nicht aus. Schon 1984, als Honecker an die Adresse der USA und der UdSSR gleichgerichtet erklärt hatte: „Eure Raketen sind Teufelszeug. Sie müssen weg von deutschem BoWalenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 293. Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 135. 796 Walenski, Verweigerte Entstalinisierung, S. 299. 797 Niederschrift des Gesprächs zwischen Erich Honecker und Konstantin Russakow, ZK-Sekretär der KPdSU, am 21. Oktober 1981 (Auszug). In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik. Ein Handbuch, hg. von Andreas Herbst, Gerd-Rüdiger Stephan, Jürgen Winkler. Berlin 1997, S. 752. 798 Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 142. 794 795

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den!“ und damit beide auf eine Stufe gestellt, sprach Marschall Ustinow, der sowjetische Verteidigungsminister, bei einer RGW-Tagung in Moskau Egon Krenz an: „Also, Genosse Krenz, Sie sind in Ihrem Politbüro der Jüngste. Sie müssen einmal das Erbe übernehmen. Sehen Sie nicht, dass Ihr Chef alles verspielt?“ 799 So konnte Honecker beim Geheimtreffen mit dem damaligen KPdSU-Generalsekretär Konstantin Tschernenko am 17. August 1984 in Moskau auch keine Zustimmung für den geplanten Staatsbesuch in Bonn erhalten. Tschernenko: „Was den Besuch in der BRD betrifft, so ist das natürlich eine Sache, die von der SED zu entscheiden ist. Wir glauben, dass Sie noch einmal kollektiv und allseitig, unter Berücksichtigung der von uns geäußerten Überlegungen, diese Frage prüfen. Wir möchten Ihnen jedoch sagen, dass die sowjetischen Kommunisten es positiv aufnehmen würden, wenn Sie in der entstandenen Lage von dem Besuch Abstand nehmen.“ 800 Mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU erhielten nun die Widersprüche in den Sozialismus-Auffassungen eine neue Qualität. Das zeigte sich schon im Gespräch Gorbatschows mit Honecker im Umfeld des XI. Parteitages der SED in Ost-Berlin am 20. April 1986, als auch Gorbatschow vom geplanten Besuch Honeckers in der Bundesrepublik abriet und äußerte, er habe gefühlt, „dass Genosse Honecker eine gewisse Zurückhaltung hinsichtlich der inneren Entwicklung der Sowjetunion gezeigt habe“. Und es klang wie eine Ermahnung, als Gorbatschow sagte, „dass es seitens der KPdSU keine Vorbehalte oder Zweideutigkeiten gegenüber der DDR und der Entwicklung der Beziehungen mit der DDR gebe. Man sei sehr daran interessiert, aktive, vertrauensvolle, offene Beziehungen mit der SED zu entwickeln, denn die DDR sei doch ein Kind der SED und der KPdSU“. 801 Honecker konnte erst vom 7. bis 11. September 1987 die Bundesrepublik besuchen, dabei auch seine Heimat, das Saarland. Aber die Tage Honeckers als Generalsekretär und Staatsratsvorsitzendem waren gezählt, denn auch aus anderer Richtung kam es zu Gesprächen über Honeckers Ablösung. So berichtet der sowjetische Botschafter Wjatscheslaw Kotschemassow von einer Unterhaltung mit Werner Krolikowski, dem 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR schon Ende 1986: „Es geht darum, dass im ZK der SED eine sehr schwierige Lage entstanden ist. Reiner Dogmatismus in der Politik, keine Diskussion, Zentralisierung, die bis ins Absurde führt, eine absolut falsche Informationspolitik. Alles wird nur in rosarotem Licht gezeigt. Man muss etwas unternehmen.“ Ich fragte, was denn? Er antwortete: „Man muss die Führung auswechseln.“ Eine Fortsetzung dieses Themas folgte einige Zeit später während einer Besprechung mit Willi Stoph. Honecker sei dem Einfluss seines Krenz, Egon, Herbst `89. Mit einem aktuellen Text. Berlin 2009, S. 96f. Niederschrift des Geheimtreffens zwischen Erich Honecker und Konstantin Tschernenko, KPdSU-Generalsekretär und Präsidiumsvorsitzender des Obersten Sowjets der UdSSR, am 17. August 1984 in Moskau (Auszug). In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik, S. 767-772. 801 Information an das SED-Politbüro über ein Treffen von Erich Honecker mit dem KPdSUGeneralsekretär Michail Gorbatschow am 20. April 1986 in Berlin (Auszug). In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik, S. 772-782. 799 800

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‚bösen Genius‘ Günter Mittag erlegen. 802 Egon Krenz berichtet von „einem ernsthaften Versuch, mich zur Absetzung Honeckers zu bewegen“, von Gerhard Schürer, dem Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, im Februar 1989. 803 Und Honecker verschärfte selbst die Lage. Den Hintergrund bildet wohl die Information, dass sich in Moskau angesichts des sich abzeichnenden Systemwandels im Frühjahr 1988 eine Opposition innerhalb der KPdSU formierte, die nach Verbündeten in den anderen sozialistischen Ländern Ausschau hielt. Besonders mit Jegor Ligatschow, Gorbatschows Widersacher, wurde eine vertrauliche Zusammenarbeit hergestellt. Die DDR ist das einzige der sozialistischen Länder, in dem der Perestrojka-kritische Artikel von Nina Andrejewa „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben“ außerhalb der Sowjetunion veröffentlicht wurde. So berichtet der Botschafter der DDR in Moskau: „In diesem Zusammenhang entschlüpfte ihm (Honecker – W.G.) ein aufschlussreicher Gedanke. Er bemerkte, dass in der Sowjetunion noch Nichts endgültig entschieden und der Klärungsprozess noch in vollem Gange sei.“ 804 Gorbatschow war gut informiert. Er schreibt in seinen Erinnerungen: „Die gemeinschaftliche Ablehnung der Perestrojka brachte damals Honecker, Schiwkow und Ceauşescu einander näher. Ähnlich wie Schiwkow und Ceauşescu behauptete Honecker in seinen Reden, dass demokratische Umgestaltungen in seinem Land schon weit früher als in der UdSSR durchgeführt worden seien – vor zehn, fünfzehn, ja sogar zwanzig Jahren.“ 805 Nur vor diesem Hintergrund ist zu erklären, dass Honecker im Januar 1988 gegenüber dem sowjetischen Botschafter auf Konfrontation zu Gorbatschow ging. Kotschemassow berichtet: „Honecker wandte sich mir zu und begann nachdrücklich davon zu sprechen, dass man nach sorgfältigem Für und Wider beschlossen habe, den Terminus ‚Perestrojka‘ aus offiziellen Dokumenten zu streichen.“ „Die Sache ist die“, erläuterte er, „dass wir mit einigen Prinzipien nicht einverstanden sein können, die hinter diesem Wort stehen. Sie wissen, dass wir die Hauptthesen des Berichtes Gorbatschows an den XXVII. Parteitag gebilligt und das mehrmals bekräftigt sowie die wichtigsten Dokumente breit propagiert haben. Aber mit der Zeit haben wir festgestellt, dass die Führung der KPdSU zur direkten Revision Leninscher Prinzipien übergegangen sind, dass sie Gewicht auf das Aufzeigen von Fehlern und Mängeln der Vergangenheit legt und negiert, worauf nicht nur die sowjetischen Menschen, sondern alle aufrichtigen Freunde der UdSSR mit Recht stolz waren. Wir sind gegen die Praxis der reinsten Verleumdung der Geschichte der KPdSU, des sozialistischen Aufbaus in der UdSSR. Erstaunen erregen sehr zweifelhafte Experimente in der Wirtschaft, ganz zu schweigen von der Informationssphäre. Verstehen Sie mich richtig. Jahrzehnte haben wir die Bürger der DDR am Beispiel der KPdSU, des heroischen Kampfes des sowjetischen Volkes Kotschemassow, Wjatscheslaw, Meine letzte Mission. Fakten, Erinnerungen, Überlegungen. Berlin 1994, S. 59 f.; Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 142. 803 Krenz, Egon, Herbst `89, S. 99. 804 König, Gerd, Fiasko eines Bruderbundes. Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau, S. 220. 805 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 932. 802

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erzogen. Jetzt erfahren wir aber, dass das eine Kette von Fehlern war. Die Menschen fragen, woran sie glaubten, wie sie sich zu all dem verhalten sollen. Oft finden sie keine Antwort auf diese Fragen.“ 806 Als in Folge dieser Entscheidung auch der Postvertrieb der sowjetischen Zeitschriften „Sputnik“ und „Die Neue Zeit“ eingestellt wurde, war die Reaktion bei der Bevölkerung katastrophal. Eva Dannemann übersetzte für den Schriftstellerverband im Januar 1989 einen Artikel aus der Isvestija, in dem ein russischer Journalist offen die Konfiskation der sowjetischen Presseerzeugnisse Sputnik und Neue Zeit in der DDR kritisiert und die fehlende Publizität anprangert. 807 Das Ministerium für Staatssicherheit berichtet, die Bevölkerung habe sich dadurch politisch entmündigt gefühlt. Eine solche Entscheidung sei nicht mehr zeitgemäß, und die Partei- und Staatsführung der DDR habe damit erstmals eine Entscheidung getroffen, die in offener Konfrontation zur Politik der UdSSR stehe. Erreicht worden sei mit dieser Maßnahme eine enorm gestiegene Popularität sowjetischer Presseund Filmerzeugnisse überhaupt. „Eine häufig wiederkehrende Auffassung ist, dass die DDR kein Recht habe, die Prozesse der Umgestaltung in der Sowjetunion zu bewerten. Die Darstellung und Beurteilung der sowjetischen Geschichte sei ausschließlich eine innere Angelegenheit der Sowjetunion. Die Maßnahme der DDR sei vielmehr Ausdruck der grundsätzlich zwiespältigen bzw. ablehnenden Haltung der Partei- und Staatsführung der DDR zur Politik der Umgestaltung in der UdSSR überhaupt. Offenbar würden ideologische Wirkungen auf die DDR-Bevölkerung befürchtet. Die zeitgleiche Überreichung der höchsten Auszeichnung der DDR, des Karl-Marx-Ordens, an den als ‚Reformgegner‘ bekannten N. Ceauşescu bekräftige diese Einschätzung.“ 808 Margot Honecker reiste noch im Spätherbst 1989 nach Bukarest. Aber es blieb nicht nur bei Ankündigungen. Es gab personelle Konsequenzen. So wurden die Vertreter eines Perestrojka-Kurses in der DDR abgelöst. Auf diese Weise verlor der Rektor der Hochschule für Ökonomie „Bruno Leuschner“, Rolf Sieber, 1988 seinen Posten und wurde durch die orthodoxe Christa Luft ersetzt. Auch der DDR-Botschafter in Moskau, Egon Winkelmann, wurde abgelöst und durch das ZK-Mitglied Gerd König ersetzt. Winkelmann hatte sich mit dem Lob von Gorbatschows Vorschlägen die Kritik von Günter Mittag eingehandelt. Seine kritische Position wird auch deutlich, wenn er in seinen Memoiren Honeckers Antwort auf Gorbatschows Vorstellungen 1986 kommentiert: „Anstatt dann allerdings Kotschemassow, Meine letzte Mission, S. 72 f. Jermolowitsch, N., Verstehen sich Freunde untereinander? Isvestija vom 5.01.1989. In: Walenski, S. 267. Es handelte sich um die persönliche Entscheidung Honeckers, ohne das Politbüro zu konsultieren. Sputnik wurde in der DDR in einer Auflage von 130.000 Exemplaren gedruckt. Auslöser war ein Artikel über den Hitler-Stalin-Pakt. Siehe: Stent, Rivalen des Jahrhunderts, S. 105. 808 Bericht der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit über Bevölkerungsreaktionen nach dem Verbot der UdSSR-Zeitschrift „Sputnik“ vom 30. November 1989. In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik, S. 801f. 806 807

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konstruktiv auf die Vorschläge einzugehen, sie als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen zu nutzen und endlich von Erfolgsaufzählungen abzukommen, fuhr Honecker fort: ‚Wir gehen dabei von unseren Erfahrungen aus. Diese bestehen darin, dass wir seit langem den Kurs der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik mit dem Blick auf das Jahr 2000 eingeschlagen haben. Dieser Kurs hat sich im Leben bewährt. … Mit dieser ökonomischen Strategie haben wir Anfang der 80er Jahre die Wende zur Intensivierung der Volkswirtschaft vollzogen‘. Die Peinlichkeit seiner Selbstgefälligkeit war kaum noch zu überbieten.“ 809 Aber auch der neue Botschafter Gerd König musste resigniert feststellen: „Die Gratwanderung Honeckers zwischen Abschottung und Anpassung musste scheitern, weil die Führung der SED sich den Realitäten nur zögernd und unwillig stellte und keine wirkliche Reformbereitschaft zeigte.“ 810 Die politische Brisanz wird im Vergleich zu Ungarn deutlich. Dazu schreibt Gerd König, der letzte Botschafter der DDR in Moskau, nach dem Übergang von János Kádár zu Károly Grósz im Mai 1988 erwies sich Ungarn als derjenige Partner, dessen ideologische Auffassungen und politische Strategie dem Reformkurs Gorbatschows am nächsten standen, und den unorthodoxen Methoden zur Lösung der ungarischen Wirtschaftsprobleme sei die Sowjetunion mit großer Toleranz begegnet. 811 Nachdem die ungarische Regierung am 11. September 1989 die Grenze zu Österreich für Bürger der DDR geöffnet hatte und innerhalb kurzer Zeit 15.000 DDR-Bürger das Land verlassen hatten, im „Neuen Deutschland“ von Honecker kommentiert, er weine ihnen keine Träne nach, forderten Eberhard Aurich, der 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ, und Gerd Schulz, Leiter der Abteilung Jugend des ZK der SED, die Ablösung Honeckers. Krenz schreibt darüber: „Ich bin zutiefst von der Lauterkeit der persönlichen Ambitionen Erich Honeckers bis zu jenem Zeitpunkt überzeugt gewesen, bis er wider besseres Wissen, wider die Warnungen von Mitgliedern des Politbüros, von Parteifunktionären aus den Grundorganisationen, Kreis- und Bezirksleitungen, von Wissenschaftlern und Künstlern, wider die Erfahrungen der Sowjetunion und anderer sozialistischer Staaten an starren Dogmen des politischen, ökonomischen und sozialen Lebens in der DDR festhielt.“ 812 Schließlich wurde die gesamte SED von der Kritik an ihrer Führung erfasst. Deren Antwort bestand in der Ankündigung, die Parteidokumente umzutauschen, das heißt einer Säuberung noch im Jahr 1989. Selbst unter leitenden Offizieren der Staatssicherheit gab es Bedenken gegen das radikale Vorgehen gegen Demonstranten. Als Gorbatschow am 7. Oktober 1989, aus Anlass des 40. Jahrestages der Gründung der DDR, zum Staatsbesuch in Berlin weilte, waren die „Gorbi“-Rufe Winkelmann, Egon, Moskau, das war’s. Erinnerungen des DDR-Botschafters in der Sowjetunion 1981-1987. Berlin 1997, S. 252, S. 255f. 810 König, Gerd, Fiasko eines Bruderbundes. Erinnerungen des letzten DDR-Botschafters in Moskau. Berlin 2011, S. 194. 811 König, Fiasko, S. 191. 812 Krenz, Egon, Herbst `89, S. 94f. 809

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von Parteimitgliedern nicht mehr zu überhören. Auf ihm ruhten nun alle Hoffnungen der Bürger. Das am selben Tag geführte „Gespräch“ von Politbüromitgliedern der KPdSU mit dem Politbüro der SED führt vor Augen, wie sehr Erich Honecker und Michail Gorbatschow aneinander vorbei redeten. Auf die Feststellung von Gorbatschow: „Kurz zum Ausdruck gebracht wurde die Notwendigkeit der weiteren gründlichen und tiefgreifenden Veränderungen in der Gesellschaft, was Basis, Überbau und Demokratie betrifft, mit dem Akzent auf die umfangreiche Einbeziehung der Menschen in die vor sich gehenden Prozesse.“ Weiter: „Der Mensch braucht entsprechende materielle Bedingungen, aber er braucht zugleich auch die entsprechende geistige Atmosphäre in der Gesellschaft.“ Und zum Schluss: „Ich halte es für sehr wichtig, den Zeitpunkt nicht zu verpassen und keine Chance zu vertun. Die Partei muss ihre eigene Auffassung haben, ihr eigenes Herantreten vorschlagen. Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben.“ In seiner Antwort blieb Honecker beim Formalen stecken (Umtausch der Parteidokumente, Vorbereitung des XII. Parteitages), um schließlich mit der Floskel zu enden „Wir haben auf dem Plenum unseres Zentralkomitees die Losung gewählt, die Politik der Kontinuität und der Erneuerung fortzusetzen. Damit wollten wir die Richtigkeit dessen unterstreichen, was wir ständig zum Ausdruck brachten, dass wir die Partei der Neuerer sind.“ 813 Danach ging alles sehr schnell. Am 18. Oktober treten die Politbüromitglieder Erich Honecker, Günter Mittag (Wirtschaft) und Joachim Herrmann (Agitation und Propaganda) zurück. Egon Krenz wird Honeckers Nachfolger. Gorbatschow gratuliert und lädt ihn nach Moskau ein. Am 8. November tritt das Politbüro geschlossen zurück. Ein neues wird gewählt. Am 9. November wird die Mauer in Berlin geöffnet. Gorbatschow gratuliert zu diesem mutigen Schritt. Am 3. Dezember wird Erich Honecker aus der SED ausgeschlossen, das Zentralkomitee tritt geschlossen zurück, ebenfalls Egon Krenz von der Funktion des Generalsekretärs der SED. Am 4. Dezember verurteilen die Mitglieder des Warschauer Vertrages Bulgarien, DDR, Polen, Ungarn und UdSSR in Moskau den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968. Damit ist die Breschnew-Doktrin aufgehoben. Am 1. Dezember beschließt die Volkskammer mit überwältigender Mehrheit die Streichung des Führungsanspruchs der SED über den Staat aus der Verfassung. Am 6. Dezember tritt Egon Krenz auch als Vorsitzender des Staatsrates und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR zurück. Auf dem Sonderparteitag der SED am 8. und 9. Dezember 1989 wird der Rechenschaftsbericht ehemaliger ZK-Mitglieder vorgelegt, in dem es selbstkritisch heißt: „Politbüro und Sekretariat, die vom 9. bis zum 12. Plenum die Führung der Partei übertragen bekommen hatten, müssen sich – soweit ihre Mitglieder aus der

Auszüge aus dem Treffen der Genossen des Politbüros des Zentralkomitees der SED mit dem Generalsekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Obersten Sowjets der UdSSR, Genossen Michail Sergejewitsch Gorbatschow, am Sonnabend, dem 7. Oktober 1989 in BerlinNiederschönhausen. In: Günter Mittag, Um jeden Preis. Berlin und Weimar 1991, S. 339-375. 813

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alten Führung hervorgegangen sind – zu Recht fragen lassen, welche konkrete Verantwortung sie für die Krise tragen, warum sie ihr nicht oder nicht rechtzeitig und entschieden entgegengewirkt haben. Diese Fragen erfordern Antwort auch von jenen Genossen, die – allerdings erst unter dem massiven Druck der demokratischen Volksbewegung – die Ablösung von Erich Honecker, Günter Mittag und Joachim Herrmann betrieben haben und in der Folge den Rücktritt weiterer, durch die alte Politik besonders belasteter Mitglieder des Politbüros durchsetzten. Die zutiefst berechtigten Emotionen, Scham und Empörung der Parteimitglieder richten das Augenmerk verstärkt auf die schweren kriminellen und moralischen Verfehlungen bestimmter Mitglieder der früheren Führung.“ Weiter: „Aus heutiger Sicht müssen wir feststellen, dass durch den XI. Parteitag der SED (1986) die Möglichkeit einer Zäsur vertan wurde, durch Abkehr von einem verfehlten Kurs zur Neubestimmung einer Politik zu gelangen, die wirklich an den Interessen der Menschen und an der Sicherung der Existenz der DDR orientiert war. Der Weg dazu war international durch den XXVII. Parteitag der KPdSU gebahnt.“ 814 Es war eine späte Einsicht, dass diese historische Chance zur Erneuerung der alten stalinistischen Partei nicht genutzt worden war. Seit dem 7. Dezember tagt der Runde Tisch nach polnischem Vorbild. 14 Parteien und Gruppierungen versammeln sich. Man einigt sich auf freie Wahlen und eine neue Verfassung. Am 9. Dezember wird Gregor Gysi zum neuen Vorsitzenden der SED gewählt. Auf ihrem Sonderparteitag will sich die SED als „Partei des Demokratischen Sozialismus“ neu formieren und nimmt den Doppelnamen SEDPDS an. Die früheren „Abweichler“ Walter Janka und Rudolf Bahro nehmen am Parteitag teil. Janka wird in die Tagungsleitung gewählt. Bei den ersten demokratischen Wahlen in der DDR erhält die CDU 40,6 Prozent der Stimmen, die SPD 21,8 und die PDS 16,3 Prozent. Am 5. April 1990 tritt die erste frei gewählte Volkskammer der DDR in Berlin zusammen. Am 12. April wählt die Volkskammer die Koalitionsregierung von CDU und SPD unter Lothar de Maizière. Die „kurze Zeit der Utopie“, wie Siegried Prokop schreibt, beginnt. 815 Natürlich waren die anderen sozialistischen Staaten durch die gesellschaftlichen Prozesse vor allem in Polen und der Tschechoslowakei direkt betroffen. Aber auch die Ablösung der Diktaturen in Spanien und Portugal übte großen Einfluss auf die Bürgerbewegungen in den osteuropäischen und ostmitteleuropäischen Staaten aus. So wurde Adam Michniks Vorstellung eines spanischen Weges auch vom Ungarn Miklós Haraszti geteilt, der gegen Ende der siebziger Jahre bedauerte, dass es in Ungarn keinen König Juan Carlos gab, der den Übergang zur Demokratie zu managen gewusst hätte. Aber ab dem Frühjahr 1979 suchten János Kis, György Bence und György Konrád nach und nach Mitstreiter in Polen auf. 1988 und 1989 814 Rechenschaftsbericht ehemaliger ZK-Mitglieder zum Sonderparteitag am 8./9. Dezember 1989 „Zu Ursachen für die Krise in der SED und in der Gesellschaft“. In: Die SED. Geschichte, Organisation, Politik, S. 826f. 815 Prokop, Siegried (Hrsg.), Die kurze Zeit der Utopie. Die „zweite“ DDR im vergessenen Jahr 1989/90. Berlin 1994.

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schließlich führten die Forderungen nach einer Neuinterpretation des ungarischen Aufstandes von 1956 zu Großdemonstrationen und besiegelten den Rücktritt des Parteichefs János Kádár. 816 Am 27. Juni 1989 zerschnitt Gyula Horn, kurz nach seiner Ernennung zum Außenminister, gemeinsam mit seinem österreichischen Kollegen Alois Mock den Eisernen Vorhang an der Grenze zu Österreich. Gorbatschow hatte zugestimmt. Bereits im März 1989 waren die Botschafter der sozialistischen Länder in Budapest offiziell darüber informiert worden, das Ungarn aus finanziellen Gründen beschlossen hatte, die veralteten technischen Sperren an der ungarisch-österreichischen Grenze nicht mehr zu erneuern, sondern abzubauen. 817 Als immer mehr DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik Zuflucht suchten, kam es am 25. August auf Schloß Gymnich bei Bonn zu einem Geheimgespräch zwischen dem ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh, Außenminister Gyula Horn, Botschafter Horváth mit Bundeskanzler Kohl und Außenminister Genscher mit dem Ergebnis, dass Ungarn zusagte, die Grenze für die DDR-Bürger zu öffnen. Als Helmut Kohl Gorbatschow darüber informierte, legte dieser keinen Widerspruch ein. Am 10. September 1989 verkündete Horn die Öffnung der Grenzen. Am 23. Oktober, dem Jubiläum des Volksaufstands von 1956, wurde vor dem Parlament die Dritte Ungarische Republik ausgerufen. Da waren auch schon in der Tschechoslowakei die Dämme gebrochen, denn am 30. September erhielten die in die Botschaft der Bundesrepublik in Prag geflüchteten DDR-Bürger von ihrer Regierung die Genehmigung zur Ausreise. Gorbatschow hatte schon im November 1987 den Generalsekretär der KPČ, Gustav Husák, zum Rücktritt aufgefordert, im Herbst 1988 durfte Alexander Dubček den Ehrendoktor der Universität Bologna entgegennehmen, schließlich konnte er am 24. November 1989 gemeinsam mit Vacláv Havel vor 300 000 Bürgern auf dem Wenzelsplatz sprechen. Vier Tage später einigten sich Regierung und Opposition auf die Bildung einer Koalitionsregierung, die führende Rolle der KPČ wurde aus der Verfassung gestrichen. Das Bundesparlament wählte Alexander Dubček zu seinem Präsidenten und einen Tag später Vacláv Havel zum Staatspräsidenten. Am 21. Mai 1990 schließlich empfing Gorbatschow in seinem Arbeitszimmer im Kreml den „Vater des Prager Frühlings“, Alexander Dubček. Mit zwanzig Jahren Verspätung hatten die 68er doch noch gesiegt. Das alternative Denken des Prager Frühlings war in der Zeit der sowjetischen Okkupation im Untergrund weiter gepflegt worden. Vacláv Havel hatte die tschechische Tradition der „nichtpolitischen Politik“ aufgenommen und der kommunistischen Regierung das allgemein Menschliche, das Moralische und Authentische entgegengesetzt. 818 Dalos schreibt, KGB-Chef Krutschkow habe den Rücktritt schon 1988 persönlich vorbereitet. Dalos, Der Vorhang geht auf, S. 164. Jakowlew negiert eine Einmischung. Jakowlew, Offener Schluss, S. 85. 817 König, Fiasko eines Bruderbundes, S. 307f. 818 Havelka, Miloš, Nichtpolitische Politik vor und nach 1989. Zu Bedeutungsverschiebungen eines alten Konzepts. In: Zivilgesellschaft und Menschenrechte im östlichen Europa. Tschechische Konzepte der Bürgergesellschaft im historischen und nationalen Vergleich. München 2014, S. 49. 816

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Aus Bulgarien erreichten Gorbatschow immer häufiger Appelle von Intellektuellen, die sich über die Unterdrückung des Denkens und der Redefreiheit, über die Einschränkung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Betätigung beklagten. Es entstanden informelle Vereinigungen demokratischer Richtung, auch ein Club zur Verteidigung von Glasnost und Perestrojka. Gorbatschow schickte als neuen Botschafter den KGB-General Viktor Scharapow. Der blieb nicht untätig, und am 10. Dezember 1989 wurde Schiwkow abgelöst und der bisherige Außenminister Mladenow sein Nachfolger. Nach den Parlamentswahlen im Juni 1990 wurde Schelju Schelew, der frühere Dissident und Philosoph, zum Präsidenten der Republik gewählt. Auch aus Rumänien trafen Hilferufe an Gorbatschow ein, sogar aus der kommunistischen Partei. Ceauşescu und sein Familienclan hatten eine extreme Form des Stalinismus in ihrem Land bewahrt und es wirtschaftlich in den Ruin getrieben. Als durch die „Siedlungssystematisierung“ noch die Hälfte der Dörfer durch agroindustrielle Zentren ersetzt werden sollte und der Bevölkerung die Zwangsumsiedlung drohte, forderte eine „Nationale Rettungsfront“ den Sturz des Diktators. Nachdem das Ehepaar Ceauşescu geflohen war, wurde es am 22. Dezember gefangen genommen und am 25. Dezember, nach einer vierzigminütigen Gerichtsverhandlung, erschossen. Am 20. Mai 1990 wurden freie Parlamentswahlen abgehalten.

4.5 Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten Wenn die Gruppe um Gorbatschow als Ziel ihrer Politik die Revolution im Innern der Sowjetunion plante durch die Zerschlagung der Parteiherrschaft über die Gesellschaft und den Aufbau demokratischer Strukturen, sowie nach außen konsequenterweise die Überwindung der Ost-West-Konfrontation und den Aufbau von internationalen Beziehungen auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker und der Verpflichtungen der UNO-Charta, dann musste sich am Ende auch die Frage nach der Einheit Deutschlands stellen. Damit waren vor allem die drei Hauptakteure UdSSR, DDR und Bundesrepublik betroffen, wobei die internationalen Bindungen in NATO, Warschauer Pakt und insbesondere das bilaterale Verhältnis UdSSR-USA, aber auch bereits die systemübergreifenden Prozesse im Rahmen der KSZE wie die Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung mit zu berücksichtigen waren. Das sahen auch die Berater Gorbatschows. Denn einige Deutschlandkenner ahnten, dass die Vereinigung Deutschlands kommen würde, manche hielten sie für unausweichlich. Natürlich sollte die Sowjetunion diesen Prozess nicht forcieren, doch sie sollte alles tun, damit am Ende Deutschland ein zuverlässiger und guter Partner wäre. 819 Aber erst als Gorbatschow an die Macht gekommen war, fanden diese Ideen Verständnis und Unterstützung seitens der Staatsführung, wurden, so 819

Schachnasarow, Preis der Freiheit, S. 140.

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Daschitschew, Gorbatschows außenpolitischer Berater, in das Arsenal des neuen außenpolitischen Denkens aufgenommen und beeinflussten wesentlich den Werdegang der neuen ‚Gorbatschow-Doktrin‘ als Antithese zur ‚Breschnew-Doktrin‘. „Die Perestrojka Gorbatschows hat Voraussetzungen geschaffen, das Haupthindernis zur Beendigung des Kalten Krieges aus dem Weg zu räumen, d.h. die ‚deutsche Frage‘ zu lösen und die deutsche Einheit wiederherzustellen. Das wurde in einer scharfen und risikovollen Auseinandersetzung mit konservativen Kreisen des politischen Establishments der Sowjetunion vollzogen.“ 820 Auch Gorbatschow und seinen Mitstreitern war noch während der Vorbereitungen auf die Reformen klar, dass es ohne Verbesserung der Beziehungen zum Westen unmöglich war, die Umgestaltungen im Lande durchzuführen und die herangereiften Probleme der internationalen Politik zu lösen. 821 Tatsache ist, dass die Gorbatschowsche Mannschaft entspannte Beziehungen zum Westen im Sinne des Abbaus der Konfrontation, ja der Abrüstung, dringend brauchte, um im Inneren die Reformen weitertreiben zu können und durch die Reduzierung der Rüstungslasten Mittel zur ökonomischen Umstrukturierung frei zu bekommen. D. h. es gab einen realen Grund zur Normalisierung der internationalen Beziehungen. Und er bestätigt: „Die neuen Prinzipien der Perestrojka haben auch eine entscheidende Rolle bei der Wiedervereinigung Deutschlands gespielt.“ Aber: „Hauptakteur der Wiedervereinigung war das Volk dieser Länder.“ 822 Den Zusammenhang der Lösung der deutschen Frage mit der neuen Außenpolitik unter Gorbatschow und Schewardnadse sieht auch Gorbatschows ehemaliger Lehrer an der Moskauer Staatlichen Universität und nun einer der engsten außenpolitischen Berater, Tschernjajew, klar vor Augen: „Nachdem Gorbatschow an die Macht gekommen war und beschlossen hatte, das Land umzugestalten, folgte er einem bestimmten logischen Rahmen: Die Perestrojka konnte nur realisiert werden, wenn auch das Wettrüsten beendet wurde. Um das Wettrüsten zu beenden, mussten die Beziehungen zu den USA verbessert werden. Die Beziehungen zu den USA zu verbessern war nur möglich, wenn im Westen die Angst vor der ‚sowjetischen Bedrohung‘ wenigstens etwas gemildert würde. Egal, in wieweit diese Angst begründet war – sie bestimmte jedenfalls die Politik des Westens. Um diese Angst zu nehmen, musste der Eiserne Vorhang beseitigt werden, mit anderen Worten: die Spaltung Europas. Dies wiederum konnte nicht ohne die Wiedervereinigung Deutschlands geschehen. Diese Logik war es, die die Perestrojka in der UdSSR mit der deutschen Vereinigung untrennbar verband.“ 823 Das aber bedeutete die Abkehr vom Festhalten an der Existenz einer sozialistischen DDR. Das Thema „Vereinigung“ war benannt, es war in der Welt. Dass sich Gorbatschow schon früh mit diesem Thema beschäftigte, bestätigen neben

Daschitschew, Moskaus Griff, S. 23. Gorbatschow, Wie es war, S. 59. 822 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 400. 823 Tschernjajew, Anatolij, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows aus russischer Sicht, S. 189. 820 821

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Tschernjajew auch Jakowlew und Schewardnadse. Egon Krenz sagte, Gorbatschow und Schewardnadse sei schon 1986 klar gewesen, „dass die DDR im Rahmen eines europäischen Hauses keine Existenzberechtigung mehr hätte“. Schewardnadse schreibt, das Thema Wiedervereinigung Deutschlands sei eigentlich am 16. Juli 1986 beim ersten Treffen von Genscher und Gorbatschow in Moskau angesprochen worden. 824 Aus den von Tschernjajew und Galkin publizierten Dokumenten geht klar hervor, dass das Thema „Deutsche Frage“ bereits im Jahr 1986 im Politbüro der KPdSU eine Rolle spielte, so am 25. September 1986. 825 Ebenfalls vor der Sitzung des RGW führte Gorbatschow gegenüber seinen Beratern am 19. September 1986 aus: „Selbst werfen wir die Frage des Besuchs Honeckers in der BRD nicht auf. … Alle sozialistischen Länder sind verwundbar – wir können sie alle verlieren. Die DDR ist stärker als die anderen, aber einer Vereinigung mit der BRD kann sie nicht widerstehen, d.h. auch auf Kosten des Sozialismus.“ 826 Und am 3. Oktober desselben Jahres war Honecker irritiert, als Gorbatschow ihm gegenüber vom „Dreieck UdSSR, DDR, BRD“ sprach. 827 So bemerkte Tschernjajew hinsichtlich Gorbatschows Aussage vom Juli 1987 über die Offenheit der deutschen Frage „nach hundert Jahren“ retrospektiv: „Da ich ihn kenne, kann ich bestätigen, dass er innerlich (v duše) schon damals und sogar schon etwas früher überzeugt war, dass sich ohne eine Lösung der deutschen Frage und ohne die Wiederherstellung der historisch bedingten normalen Beziehungen zwischen zwei großen Völkern Europas eine internationale Gesundung (ozdorovlenie) nicht vollziehen kann.“ Jakowlew bestätigte diese Aussage am 29. Juli 1992 in Oxford und behauptete, Gorbatschow habe „wahrscheinlich von Anfang an, also seit 1985, mit der deutschen Wiedervereinigung gerechnet. Doch die schwierige politische Lage habe ihm nicht erlaubt auszusprechen, was er dachte.“ 828 In der Politbürositzung vom 12. Februar 1987 berichtet Schewardnadse über seine Reise in die DDR. “Die Idee einer geeinten deutschen Nation lebt in der Psychologie und im Denken sogar der Kommunisten. Sie beginnen mit den Westdeutschen anzubändeln. Sie kritisieren die BRD nicht. Und es geht hier nicht nur um wirtschaftliche Interessiertheit. Die Idee eines geeinten Deutschland erfordert eine ernsthafte, wissenschaftliche Untersuchung.“ 829 Wieder taucht das Thema auf der Politbürositzung vom 4. Juni 1987 auf. So sagt Gorbatschow: „Im Zusammenhang mit der PKK-Konferenz, die Ende Mai Kuhn, Ekkehard, Gorbatschow und die deutsche Einheit. Aussagen der wichtigsten russischen und deutschen Beteiligten. Bonn 1993, S. 58.; Stent, Rivalen des Jahrhunderts, S. 100; Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 134. 825 Galkin, Aleksandr und Anatolij Tschernjajew (Hrsg.), Michail Gorbatschow und die deutsche Frage. Sowjetische Dokumente 1986-1991. München 2011, S. 15. 826 Galkin, Michail Gorbatschow, S. 17. 827 Galkin, Michail Gorbatschow, S. 18. 828 Oldenburg, Die Deutschlandpolitik Gorbatschows, S. 125. 829 Galkin, Michail Gorbatschow, S. 27. 824

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1987 in Berlin stattgefunden hat, erteilten wir den Auftrag, Material für eine Erörterung unserer Linie gegenüber der BRD im Politbüro vorzubereiten. Es ist nötig, sich in den Beziehungen mit der BRD auf ungewöhnliche Dinge einzulassen. Man muss dieses Land zu uns heranziehen. Von dort geht eine Anziehungskraft aus. Und in diesem Zusammenhang hat man in der Presse die Problematik einer Vereinigung Deutschlands aktiviert. Die Kontrolle unserer Reaktion läuft über die Massenmedien. Man möchte, dass wir Position beziehen. Zugleich ist klar, dass im Westen außerhalb Deutschlands eine Vereinigung gefürchtet wird.“ 830 Was die Bundesrepublik betraf, so tat sich die Regierung Kohl/Genscher sehr schwer, die Qualität der Veränderungen in der Sowjetunion nach 1985 zu erkennen. Noch dominierten die konservativen Berater, auch wenn es von anderer Seite ausreichend Hinweise darauf gab, dass sich unter Gorbatschow etwas veränderte. Das wandelte sich erst im Jahr 1987. Zwar hatte Kohls unsäglicher Vergleich Gorbatschows mit Goebbels im Newsweek-Interview 831 die diplomatischen Beziehungen von sowjetischer Seite quasi eingefroren, mit dem Besuch des Bundespräsidenten vom 6. bis 11. Juli 1987 begann das Eis aber zu schmelzen. Obwohl Gorbatschow gegenüber von Weizsäcker erklärt hatte, „die beiden deutschen Staaten seien politische Realität“ und „die Geschichte werde ihr Urteil sprechen“, lasen sowohl Gorbatschows Berater Tschernjajew wie Bundesaußenminister Genscher heraus, der Generalsekretär habe „die Wiedervereinigung nicht ausgeschlossen“. 832 Hier ist auch der zweimalige Besuch Willy Brandts, 1985 und 1988 bei Gorbatschow zu erwähnen, vorbereitet von Egon Bahr und Anatolij Tschernjajew, sowie der Besuch von Johannes Rau im Oktober 1985. 833 Nachdem der Bundeskanzler sich dafür eingesetzt hatte, die eigenen Mittelstrecken-Raketen in den INF-Vertrag aufzunehmen, was beiden Supermächten die Unterzeichnung am 8. Dezember 1987 ermöglichte, sowie angesichts der expandierenden deutsch-sowjetischen Wirtschaftsbeziehungen bewegte sich die sowjetische Seite in Richtung der „Neubewertung der Rolle der Bundesrepublik in einem gesamteuropäischen Haus“. 834 – „Dieses Modell hatte zwar nicht die völlige Aufhebung der sozialen Teilung des Kontinents, aber doch die der Trennung der Völker zum Ziel“, wie Oldenburg schreibt. So zeigen sich die Beziehungen der Sowjetunion zur Bundesrepublik um die Jahreswende 1987/1988 eingebettet in die ersten erfolgreichen Abrüstungsabkommen, in die zunehmende Abwehr der SEDFührung gegenüber dem Gorbatschow-Bazillus mit seiner Stalin-Kritik und überbordenden Offenheit, sowie gefördert durch das sich entwickelnde Vertrauensverhältnis zwischen Gorbatschow und Kohl. Daran änderte auch Honeckers Besuch in der Bundesrepublik im September 1987 nichts. Egon Krenz berichtet zwar,

Galkin, Michail Gorbatschow, S. 37. Newsweek Jg. 108, No. 17, 27.10.1986. 832 Oldenburg, Die Deutschlandpolitik, S. 132. 833 Creuzberger, S. 28 und 37. 834 Oldenburg, Die Deutschlandpolitik, S. 133. 830 831

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Erich Honecker habe 1987 aus „zuverlässiger“ Quelle erfahren, dass die DDR aufgegeben werden sollte, er habe sein Wissen aber für sich behalten. Diese „Information“ stammte aber aus einer Fernsehdiskussion, in der nur die Frage nach der Wiedervereinigung gestellt worden war, wie sich später herausstellte. Aber niemandem blieb verborgen, dass die Beziehungen zwischen Moskau und Bonn sich seitdem außerordentlich intensivierten. So berichtete der westdeutsche Botschafter Andreas Meyer-Landrut nach Bonn, nach seinen Informationen werde Gorbatschow die Vereinigungsfrage sehr bald auf die Tagesordnung setzen. 835 Diese Schwerpunktverlagerung zugunsten der Bundesrepublik zeigte sich in einer regen Besuchsdiplomatie. Auf den bayrischen Ministerpräsidenten Strauß (28. bis 31. Dezember 1987) 836 folgte der baden-württembergische Amtskollege Späth (8. bis 11. Februar 1988) 837; kurz davor weilte Schewardnadse vom 17. bis 19. Januar 1988 in Bonn. Anfang April folgte erneut Willy Brandt, 838 im Mai der SPD-Vorsitzende Jochen Vogel mit einer Delegation. 839Oldenburg schreibt über das Ergebnis: „Anschließend häuften sich die Pressestimmen, die Verständnis für die Bewusstseinslage der Deutschen und für die Institution der BRD zeigte. Dabei wurde deutlich, dass man sich in der Umgebung Gorbatschows von der Berliner Mauer zu distanzieren begann. 840 So sagte der sowjetische Außenminister Schewardnadse, er sei schon früh für die deutsche Einheit als „Schlüssel der Entwicklung in Europa“ gewesen. 841 Aber auch die USA unter Präsident George H. Bush bewegte sich. So schreibt Alexander von Plato: „Die Akten, die wir heute besitzen, die Selbstdarstellung Beteiligter und vor allem die weitere konkrete Politik der Bush-Administration sprechen dafür, dass die amerikanische Regierung unter Bush früher als andere ihre Interessen in eine neue Europastrategie mit einem vereinigten Deutschland als Kern münden ließ.“ 842 Gorbatschows Statements und konkrete Politik hatten Anlass zu dieser Hoffnung gegeben. Schon nach der Unterzeichnung des INF-Vertrages im Dezember 1987 hatte Gorbatschow von einer Zäsur gesprochen, von einer neuen Qualität von Politik und vom legitimen Recht aller Völker auf Selbstbestimmung. Auch in seiner Rede Anfang Juli 1989 in der Pariser Sorbonne sprach er von der „Achtung

Ruge, Gerd, Unterwegs, S. 289. Gespräch M.S. Gorbatschows mit F.J. Strauß vom 29. Dezember 1987 in: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 55-71. 837 Aus dem Gespräch M.S. Gorbatschows mit L. Späth vom 9. Februar 1988 in: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 72-73. 838 Über das Treffen mit dem Präsidenten der Sozialistischen Internationale, Brandt vom 5. April 1988 in: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 74-76. 839 Aus dem Gespräch M.S. Gorbatschows mit H.-J. Vogel vom 11. Mai 1988 in: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 76-87. 840 Oldenburg, Die Deutschlandpolitik, S. 136. 841 Von Plato, Die Vereinigung Deutschlands ein weltpolitisches Machtspiel, S. 31. 842 Von Plato, Die Vereinigung, S. 27. 835 836

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des Selbstbestimmungsrechts und der Suche nach friedlichen, politischen Methoden, um Widersprüche aufzulösen und Konflikte beizulegen.“ 843 So wurde das Jahr 1989 zum Höhepunkt der diplomatischen Aktivität von zwei Seiten, den USA und der Sowjetunion. Es war vermutlich die Sorge, dass Gorbatschows Politik des „gemeinsamen europäischen Hauses“ die USA aus Europa drängen könnte, die Präsident Bush veranlasste zu sagen, der Kalte Krieg wäre erst vorbei, wenn Europa „ungeteilt und frei“ wäre. 844 So erhielt Polen am 17. April 1989 als Anerkennung für liberale Reformen eine Wirtschaftshilfe; diese wurde auch den anderen osteuropäischen Staaten für Reformen in Aussicht gestellt. Am 12. Mai erhielt Bundeskanzler Kohl vom amerikanischen Präsidenten einen vertraulichen Brief, der bisher noch nicht veröffentlicht wurde. Aber auf der NATO-Jubiläumstagung Ende Mai 1989 in Brüssel wurde eine Erklärung verabschiedet, in der es ausdrücklich heißt: „Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.“ Als Höhepunkte der sowjetischen Beziehungen zur Bundesrepublik erwiesen sich die Besuche Kohls in Moskau im Oktober 1988 und der Gegenbesuch Gorbatschows in Bonn im Juni 1989. Beide mündeten in die „Gemeinsame Erklärung“ vom 13. Juni 1989. Gemeinsame Erklärung, unterzeichnet von Bundeskanzler Helmut Kohl und dem sowjetischen Partei- und Staatschef Michail Gorbatschow in Bonn am 13. Juni 1989. 845 I. Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stimmen darin überein, dass die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken. Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen. Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen Gesellschaft muss für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands der Länder und Völker nutzbar gemacht werden. Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muss verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde beigelegt und der Friede erhalten und gestaltet werden. Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muss sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muss gewährleistet werden. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 653. Von Plato, Die Vereinigung, S. 27. 845 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 37-39; Galkin, Michail Gorbatschow, S. 165-170. 843 844

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II. Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an der geschichtlich gewachsenen europäischen Tradition anzuknüpfen und so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch Aufbau eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit – einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses –, in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann. Die KSZE-Schlussakte von Helsinki in allen ihren Teilen und die Abschlussdokumente von Madrid und Wien bestimmen den Kurs zur Verwirklichung dieses Zieles. Europa, das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muss der Welt ein Beispiel für stabilen Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die Leistungsfähigkeit aller Staaten, ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, zum gemeinsamen Wohl zusammenführt. Die europäischen Staaten können und sollen ohne Furcht voreinander und in friedlichem Wettbewerb miteinander leben. Bauelemente des Europas des Friedens und der Zusammenarbeit müssen sein: Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen. Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Die energische Fortsetzung des Prozesses der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Im Atomzeitalter müssen die Anstrengungen nicht nur darauf gerichtet sein, Krieg zu verhindern, sondern auch den Frieden zu gestalten und sicherer zu machen. Der dichte, alle sowohl traditionellen als auch neuen Themen der bilateralen und multilateralen Beziehungen umfassende Dialog, einschließlich regelmäßiger Begegnungen auf höchster politischer Ebene. Die Verwirklichung der Menschenrechte und die Förderung des Austausches von Menschen und Ideen. … V. Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion sind entschlossen, ihre Beziehungen im Vertrauen in die langfristige Berechenbarkeit der beiderseitigen Politik auf allen Gebieten weiterzuentwickeln. Sie wollen der Aufwärtsbewegung ihrer Beziehungen Stabilität und Dauer verleihen. Diese Politik berücksichtigt die beiderseitigen Vertrags- und Bündnisverpflichtungen, sie richtet sich gegen niemanden. Sie entspricht dem tiefen und langgehegten Wunsch der Völker, mit Verständigung und Versöhnung die Wunden der Vergangenheit zu heilen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen. Bonn, den 13. Juni 1989 Helmut Kohl Michail Gorbatschow

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Die Bedeutung dieses Dokuments ist nicht zu unterschätzen. Mit ihm endet die erste Phase der Überlegungen zu einer Politik der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, und es bereitet schon den nächsten Schritt vor, die Konkretisierung. Horst Teltschik und Michail Gorbatschow haben die neue Qualität klar erkannt. So sagte Teltschik Anfang der 90er Jahre: „Diese gemeinsame Erklärung zwischen Helmut Kohl und Michail Sergejewitsch Gorbatschow war von ganz großer Bedeutung. Viel größer als damals die meisten deutschen Politiker und auch die Medien wahrhaben wollten, weil in diesem Dokument zum ersten Mal im Rahmen der deutsch-sowjetischen Beziehungen zweimal der Begriff Selbstbestimmung aufgenommen werden konnte. Natürlich ist dieser Begriff etwas eingepackt gewesen, aber die Russen mussten wissen, das wussten sie auch, dass, wenn wir einen solchen Begriff in ein Dokument hineinschreiben, was wir meinen, dass wir das nicht losgelöst von der deutschen Frage sehen, obwohl es etwas losgelöst im Dokument enthalten ist. Aber dieser Bezug war offensichtlich. Das andere war, dass es uns gelungen ist, zum ersten Mal die Sowjets dazu zu bewegen anzuerkennen, dass das Völkerrecht für einen Staat nach innen wie nach außen gleichermaßen wirken muss, und im Völkerrecht sind ja auch Grundprinzipien verankert, die ja in der deutschen Frage für uns wichtig waren, das heißt, für uns war der Beweis dafür, dass Gorbatschow in der Tat bereit war, die deutsch-sowjetischen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen und positiv zu entwickeln.“ 846 Auch Angela Stent erkennt in der Sprache der Erklärung und ihrer Bezüge zum Selbstbestimmungsrecht der Völker jahrzehntealte Formulierungen westdeutscher Jurisprudenz über das Recht der DDR-Bevölkerung auf freie Wahlen. 847 Und Gorbatschow urteilt im Nachhinein über das Dokument: „Die Gemeinsame Erklärung über die erzielten Ergebnisse war ein internationales Dokument, das in seinem Wortlaut und Inhalt sehr ungewöhnlich war. De facto war es gleichbedeutend mit einem Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit.“ Er zitiert seine Einschätzung beim damaligen Abschlussgespräch, das Dokument zeuge „vom Durchbruch unserer Beziehungen, von der Überwindung des Zustandes ihrer Stagnation, von der Bestätigung des neuen Denkens“. 848 Die Besuche Kohls in Moskau und Gorbatschows in Bonn zeigten, dass sich die außenpolitische Kooperation nun auf die Regierungsebene verlagert hatte. Sie beendeten damit die Schräglage, die bis dahin zwischen den offiziellen Vertretern beider Länder bestanden hatte. 849 Am 1. Februar 1989 war Kulikow, der Oberkommandierende der WarschauerPakt-Truppen, von Luschew abgelöst worden, am 29. Juni wurden die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen in „Westliche Gruppe der Streitkräfte“ umbenannt. Wenige Tage später, am 7. und 8. Juli 1989 tagte der Politisch-Beratende Ausschuss des Warschauer Paktes in Budapest. Im Abschlusskommuniqué wurde Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 37. Stent, Rivalen des Jahrhunderts, S. 140. 848 Gorbatschow, Wie es war, S. 80. 849 Creuzberger, S. 43. 846 847

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die Option auf Einmischung und militärische Intervention in andere Mitgliedsstaaten eine Absage erteilt. Die Breschnew-Doktrin war gestorben. 850 Im Sommer initiierte Gorbatschow den Befehl an die sowjetischen Streitkräfte der „Westgruppe“ in den Kasernen zu bleiben, ganz gleich, was in der DDR passierte. Portugalow sagte dazu: „Er hat den Befehl gegeben, das war in unseren Kreisen schon ziemlich bekannt, und nicht nur an die Armee, an alle. Das Militär war darüber sehr ungehalten, versuchte, Einfluss zu nehmen. Ich erinnere mich noch: da war der Oberkommandierende unserer Heeresgruppe in der DDR, Armeegeneral Snedkow. Der hat da aus jeder Fliege einen Elefanten machen wollen, wie gefährlich sich das abspiele und dass wir unsere Rechte verlören und so fort; alles blieb vollkommen unbeachtet. Gorbatschow blieb eisern.“ Das bestätigt auch Gerlach, der Vorsitzende der LDPD und Nachfolger von Krenz als Staatsratsvorsitzender, nach seinem Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter im September 1989: „Wir sprachen von Eventualitäten, und da hat er mir auf meine konkrete Frage, ob es eine Wiederholung des Eingreifens der Sowjet-Truppen geben könne, eindeutig gesagt, diese Situation wird nicht entstehen.“ 851 Auf die Frage von Journalisten, ob das gemeinsame europäische Haus möglich wäre, solange die Mauer existierte, antwortete Gorbatschow, bei der Errichtung des gemeinsamen europäischen Hauses müsste man viele Probleme im Interesse aller Völker lösen, dabei ihre Wahl, ihre Traditionen, ihre Geschichte respektieren und die Bedingungen für ihre gleichberechtigte, gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit schaffen. „Nichts ist ewig auf der Welt. Hoffen wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Die Mauer ist in einer konkreten Situation entstanden. Die DDR hat damals rechtmäßig entschieden, ihre souveränen Rechte wahrzunehmen. Die Mauer kann verschwinden, wenn die Voraussetzungen wegfallen, die sie hervorgebracht haben. Ich sehe hier kein Problem.“ 852 Gorbatschow schreibt, durch den Verlauf der Ereignisse in der DDR, den Massencharakter der Protestbewegung, wurde „die deutsche Frage, deren Lösung Genscher, Kohl und auch ich erst im 21. Jahrhundert für möglich gehalten hatten, ...auf die Tagesordnung gesetzt. Die Geschichte verlief in einem unerhört raschen Tempo“. Und im Herbst 1989 entwickelte sich die deutsche Frage zum „zentralen Problem der Weltpolitik“. Bei dieser Beschreibung entwickelt er noch einmal seine Grundpositionen: „Folgende Gesichtspunkte waren für mich maßgebend: Erstens der moralische. Ich hielt es vom moralischen Standpunkt aus für unzulässig, die Deutschen ewig zur Spaltung der Nation zu verurteilen und immer neuen Generationen die Schuld für die Vergangenheit aufzubürden. Zweitens der politische. Das Streben der Deutschen nach Einheit konnte nur vereitelt werden, wenn die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte eingesetzt würden. Das aber hätte Kommuniqué der Tagung des Politisch-Beratenden Ausschusses der Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages am 7. und 8. Juli 1989. In: Europa-Archiv 20 (1989), S. 599; von Plato, Die Vereinigung, S. 543. 851 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 44f. 852 Gorbatschow, Wie es war, S. 82. 850

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das völlige Scheitern aller Bemühungen zur Beendigung des Kalten Krieges und des nuklearen Wettrüstens bedeutet. Auch der ganzen Politik der Perestrojka in meinem Land wäre ein nicht wieder gutzumachender Schlag versetzt worden, sie wäre in den Augen der ganzen Welt völlig diskreditiert worden. Drittens der strategische. Die Anwendung von Gewalt gegen die Bevölkerung der DDR und die Unterdrückung des demokratischen Strebens nach Wiedervereinigung hätten für lange Zeit die Beziehungen zwischen unseren Völkern, zwischen Deutschland und Russland, vergiftet und den natürlichen Interessen Russlands unermesslichen Schaden zugefügt. Abgesehen davon hätte man alle Hoffnungen auf den gesamteuropäischen Prozess auf demokratischer, gleichberechtigter Grundlage begraben müssen.“ Daraus leitete er seinen Standpunkt ab: „Es darf nicht zugelassen werden, dass das Streben der Deutschen nach nationaler Einheit zum Abbruch der internationalen Bemühungen um die Beendigung des Kalten Krieges führt; daher muss alles allmählich verlaufen; Die Deutschen haben ein Recht darauf, über ihr eigenes nationales Schicksal zu entscheiden – unter Berücksichtigung der Interessen ihrer Nachbarn; jede Anwendung oder Androhung von Gewalt, ganz gleich, in welcher Form, müssen ausgeschlossen sein.“ 853 Über viele Jahre hatte sich aber in der DDR Protest angesammelt. Mitte der 70er Jahre hatte die SED-Führung, analog zu den Vorgängen in der Sowjetunion, die Hauptkritiker, vor allem Schriftsteller und Liedermacher, des Landes verwiesen oder bei einer arrangierten Westreise ausgebürgert. 1984 und in den folgenden Jahren konnten zwar zehntausende „Antragsteller auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR“ das Land offiziell verlassen, sofort danach aber gab es wieder hunderttausend neue Anträge. Denn zu dem nachwachsenden Protest kamen nun die Anträge auf Familienzusammenführung. Die Bundesregierung zahlte darüber hinaus über drei Milliarden DM für den Freikauf von Häftlingen. 854 Mit der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU erhofften die Bürger der DDR, bei der starken Anlehnung der SED an die Führungspartei im sozialistischen Lager, nun auch einen Wandel im Verhältnis Partei-Bevölkerung, eine Liberalisierung im Bereich der Kultur wie Verbesserungen in der Reisepraxis. Da die SED-Führung zunehmend mit Repression reagierte, sammelte sich der Unmut der Bevölkerung zuerst in Nischen wie Protesten gegen Umweltschäden, gegen die Militarisierung der Gesellschaft, zuletzt gegen die Maßnahmen, die auch noch den Zugang zur Glasnost-Literatur aus der Sowjetunion verstopften. Als auch noch in Polen und Ungarn sich ein Systemwandel abzeichnete, sah sich die Gorbatschow, Wie es war, S. 84f. Rehlinger zieht das Fazit: Von 1963 bis 1989 wurden 33.755 politische Häftlinge freigekauft, über 2000 Kinder zu ihren Eltern gebracht und über 250 000 Familienzusammenführungen abgeschlossen. Rehlinger, Ludwig A., Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten 1963-1989. 2. Aufl., Halle 2011, S. 263; aus kritischer Sicht: Brinkschulte, Wolfgang, Hans Jörgen Gerlach, Thomas Heise, Freikaufgewinnler. Die Mitverdiener im Westen. Frankfurt am Main, Berlin 1993. Wölbern, Jan Philipp, Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962/63-1989. Zwischen Menschenhandel und humanitären Aktionen. Göttingen 2014.

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DDR-Bevölkerung völlig abgehängt von der Hoffnung auf Verbesserung ihrer Situation. Es bildeten sich zwei Hauptströmungen: der eine Teil begann mit der Flucht in die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin, in die Botschaften der Bundesrepublik, teilweise auch der USA, in Warschau, Prag und Budapest, der andere Teil begann sich zu organisieren und zu vernetzen unter dem Motto „Wir bleiben hier“. Die Bürgerbewegungen entstanden, insbesondere das „Neue Forum“. 855 Thomas Klein, seit 1973 in oppositionellen Zirkeln aktiv und 1989 Mitautor des Gründungsaufrufs der Vereinigten Linken (VL), schreibt, die DDR gebe das Bild eines Hochdruckkessels, dem man wegen Panikgefahr die Armaturen abgeschraubt und ‚aus Sicherheitsgründen‘ die Ventile zugeschweißt hatte. Und er fährt fort: „Durch die Risse im Mantel, entstanden infolge ungarischer Erdbeben, pfiff nicht der Dampf, sondern verpfiffen sich, die Gunst der Stunde ungesicherter Ableitungen via Österreich oder Prag nutzend, viele Kesselbewohner in eine angenehmere Atmosphäre.“ 856 Das Ergebnis wurde über das Fernsehen der ganzen Welt vor Augen geführt: Wegen Überfüllung mussten die Missionen der Bundesrepublik geschlossen werden, am 8. August 1989 in Ost-Berlin, am 14. August in Budapest, am 23. August in Prag und am 12. September in Warschau. Am 30. September 1989 verkündete Bundesaußenminister Genscher, begleitet von Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, auf dem Balkon an der Gartenseite des Palais Lobkowitz, der Botschaft der Bundesrepublik, den DDR-Bürgern ihre bevorstehende Ausreise in die Bundesrepublik. 857 Als, mit Zustimmung Gorbatschows, Ungarn den Grenzzaun zu Österreich öffnete, schließlich den freien Reiseverkehr auch für die DDR-Bürger einführte, waren die Berliner Mauer und die innerdeutsche Grenze obsolet geworden. Bei seinem Besuch zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR konnte Gorbatschow die Stimmung in der DDR selbst erfahren. Beim Vorbeimarsch an der Ehrentribüne riefen die FDJ-Einheiten nicht den Namen ihres eigenen Staatsratsvorsitzenden, sondern „Gorbi“, und der neben ihm stehende polnische Ministerpräsident Mieczyslaw Rakowski sagte ihm: „Verstehen Sie, was vor sich geht? Das ist das Ende, Michail Sergejewitsch!“ Gorbatschow kommentiert: „Es stimmte.“ 858 Tschernjajew berichtet über die Folgen: „Als Gorbatschow Honecker in Berlin traf und sah, dass diesem die Macht aus den Händen glitt, dass dieser Prozess schon so fortgeschritten war, dass alles schon verloren war und dass die DDR-Regierung Haufe, Gerda, Karl Bruckmeier (Hrsg.), Die Bürgerbewegungen in der DDR und in den ostdeutschen Ländern. Opladen 1993; Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989. Bonn 1997, S. 499ff. 856 Klein, Thomas, Das historische Versagen der Bürgerbewegungen. In: Sächsische Zeitung vom 28./29. November 2009, S. 5. 857 Von Plato, Die Vereinigung, S. 52; Vodička, Karel, Die Prager Botschaftsflüchtlinge 1989. Geschichte und Dokumente. Göttingen 2014; Genscher, Hans-Dietrich, Karel Vodička, Zündfunke aus Prag. Wie 1989 der Mut zur Freiheit die Geschichte veränderte. 2. Aufl., München 2004. 858 Gorbatschow, Wie es war, S. 86. 855

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die Situation nicht mehr beherrschte, da war ihm klar, dass der Prozess der Vereinigung schlagartig einsetzen würde und nicht, wie er gewünscht hatte, schrittweise. Er wollte nur, dass diese Lawine all das Positive, was bisher für die Beseitigung des kalten Krieges erreicht worden ist, nicht mit sich reißt und die Entwicklung des europäischen Prozesses nicht beeinträchtigt; auch nicht die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen, die damals die wichtigsten waren. Er wollte nicht die bisher erreichte Balance, die innerhalb von drei Jahren entstanden war, stören.“ 859 Honecker wurde gestürzt, – Gorbatschow war vorher unterrichtet worden –, das Politbüro trat zurück, ebenso die Regierung, die SED zerfiel. In Großdemonstrationen suchten die neuen Repräsentanten – endlich – den Dialog mit der Bevölkerung. Den Höhepunkt bildete die Versammlung von 500.000 Bürgern am 4. November 1989 in Berlin. Christa Wolf kleidete die Stimmung dabei in die Worte: „Revolutionen gehen von unten aus, unten und oben wechseln die Plätze in dem Wertesystem, und dieser Wechsel stellt die sozialistische Gesellschaft vom Kopf auf die Füße. Große soziale Bewegungen kommen in Gang. Soviel wie in diesen Wochen ist in unserem Land noch nie geredet worden, miteinander geredet worden, noch nie mit dieser Leidenschaft, mit so viel Zorn und Trauer, aber auch mit so viel Hoffnung.“ 860 Doch fünf Tage später ist die Welt völlig verändert. Egon Krenz und seine neue Mannschaft suchen noch nach einen Weg, die Ausreise aus der DDR für die Bürger zu erleichtern, ohne dass der Staat in die Devisenschatulle greifen muss, da kommt es am Abend des 9. November bei der internationalen Pressekonferenz zur berühmt gewordenen Information von Günter Schabowski: „Mir ist eben mitgeteilt worden, der Ministerrat hat beschlossen … Privatreisen nach dem Ausland können ohne Vorliegen von Voraussetzungen – Reiseanlässe und Verwandtschaftsverhältnisse – beantragt werden. Die Genehmigungen werden kurzfristig erteilt.“ Auf die Frage der Journalisten: „Ab wann? Sofort? Wann tritt das in Kraft?“ antwortet Schabowski: „Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort, unverzüglich!“ Auf die weitere Frage, ob das auch für West-Berlin gelte, antwortet er: „Doch, doch: Die ständige Ausreise kann über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen.“ 861 Doch das war der wunde Punkt. Zwar hatte die Sowjetunion die Grenzöffnung der DDR gegenüber der Bundesrepublik mit der DDR abgestimmt, aber die Übergangsstellen von Ost- nach West-Berlin dabei offensichtlich vergessen. Dafür hätte sie sich mit den drei westlichen Alliierten abstimmen müssen. Das wurde nun in den offiziellen Reaktionen der sowjetischen Vertreter deutlich. Als erstes ruft der sowjetische Botschafter Kotschemasow seinen diensthabenden Gesandten Igor Maximytschew an, um dessen Einschätzung zu hören. Dieser berichtet: „Es war nicht höflich, aber ich sagte: ‚Botschafter, mit diesen Leuten ist keine Suppe zu Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 50. Krenz, Herbst `89, S. 272f. 861 Huber, Schabowskis Irrtum, S. 120. 859 860

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essen!‘“ Florian Huber schreibt über diesen dramatischen Augenblick: „Der Botschafter aber bleibt bei seinem Mantra, das er aus Moskau zu hören bekommt: Ruhe bewahren, nichts dramatisieren, so kompliziert die Folgen auch sein mögen. Hauptsache ist, der Beschluss ist angenommen und bekanntgegeben. Jetzt muss alles glatt weiterlaufen. Damit meldet sich der Botschafter für heute ab. Maximytschew legt den Hörer auf, schließt seine Sachen in den Panzerschrank und macht sich auf den Heimweg. 862 Egon Krenz erfährt um 21 Uhr von Erich Mielke, dass sich in Berlin-Mitte viele Menschen in Richtung Grenze bewegen. Beim darauf folgenden Gespräch, in dem die Situation klarer wird, ordnet Egon Krenz an: „Hoch mit den Schlagbäumen!“ 863 Um 24 Uhr Moskauer Zeit versucht er vergeblich, Gorbatschow zu erreichen. Am nächsten Morgen, den 10. November, verlangen die Botschafter der USA, Großbritanniens und Frankreichs vom Außenministerium der DDR Aufklärung. Sie fühlen sich brüskiert. Dann kommt der Anruf des sowjetischen Botschafters Kotschemasow bei Krenz, der darüber berichtet: „Genosse Krenz, in Moskau ist man beunruhigt über die Lage an der Berliner Mauer wie sie sich heute Nacht entwickelt hat.“ – „Das wundert mich“, erwiderte ich. „Im Prinzip wurde doch nur um Stunden vorgezogen, was ohnehin für heute vorgesehen war. Unser Außenminister hat die Reiseverordnung mit Ihnen abgestimmt.“ Kotschemasow: „Ja, aber das stimmt nur zum Teil. Es handelte sich dabei nur um die Öffnung von Grenzübergängen zur BRD. Die Öffnung der Grenze in Berlin berührt jedoch die Interessen der Alliierten.“ Krenz: „So habe ich die Sache nicht verstanden. Doch dies ist jetzt nur noch eine theoretische Frage. Das Leben hat sie heute Nacht beantwortet. Die Grenzöffnung wäre nur durch militärische Mittel zu verhindern gewesen. Das hätte ein Blutbad gegeben.“ Kotschemasow: „Sie haben recht. So sehe ich das auch.“ Einige Zeit später, beim erneuten Gespräch zwischen Krenz und Kotschemasow, sagt dieser mit freudiger Stimme: „Genosse Krenz, im Namen von Michail Gorbatschow, im Namen der sowjetischen Führung beglückwünsche ich Sie und alle deutschen Freunde zu ihrem mutigen Schritt, dass sie die Berliner Mauer geöffnet haben.“ Krenz fragt sich: „Was ist in Moskau passiert? Innerhalb weniger Stunden zwei grundsätzlich verschiedene Standpunkte? Welche Auseinandersetzungen hat es zwischen dem Zentralkomitee der KPdSU und dem sowjetischen Außenministerium gegeben? Oder waren es gar verschiedene Ansichten im Politbüro? Gab es Kontakte mit den Westmächten? 864 Und Gorbatschow schreibt, als er am frühen Morgen vom sowjetischen Botschafter erfahren hatte, dass die Behörden der DDR alle Grenzübergänge geöffnet hatten und die Menschen ungehindert passieren ließen, habe er ihm gesagt, dass sie richtig gehandelt hätten. 865 Gorbatschow lässt am 11. November Bundeskanzler Kohl wissen, dass er von der Bundesrepublik keine Destabilisierung der DDR erwarte. Der Bundeskanzler Huber, Schabowskis Irrtum, S. 121. Krenz, Herbst `89, S. 303. 864 Krenz, Herbst `89, S. 310f. 865 Gorbatschow, Wie es war, S. 88. 862 863

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bringt den Begriff „Augenmaß“ ins Spiel. Gorbatschow informiert darüber USPräsident Bush, Frankreichs Präsident Mitterrand und die britische Premierministerin Thatcher. In seiner Darstellung über die Ereignisse um die Wiedervereinigung schreibt Gorbatschow: „Wenn heute geschrieben und gesagt wird, der Fall der Berliner Mauer sei für mich und die sowjetische Führung überraschend gekommen und habe in Moskau einen Schock hervorgerufen, dann entspricht das nicht der Wahrheit: Wir waren auf diesen Verlauf der Ereignisse vorbereitet.“ 866 Das ist glaubwürdig, denn die Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989 musste zwangsläufig zur Grenzöffnung der DDR gegenüber der Bundesrepublik führen. Damit aber begann die zweite Phase auf dem Weg zur Wiedervereinigung. Mit der Öffnung der Grenze hatte sich aber die Existenzbedingung für die DDR schlagartig gewandelt. Da konnte der Bundeskanzler noch so vorsichtig auf Zeit spielen, die Bevölkerung der DDR erwartete schnelle Veränderungen. Und diesem Druck war die SED nicht gewachsen. Zu sehr befangen in der Diktion der sozialistischen Einheitspartei, dazu zu sehr belastet durch die Rolle des Kronprinzen des alten Generalsekretärs, war Egon Krenz nicht mehr imstande, die DDR radikal zu verändern und den Bürgern eine Zukunft unter seiner Führung zu vermitteln. Je mehr aber die Erwartungshaltung, auch angesichts der nun gegebenen Vergleichsmöglichkeiten mit der Bundesrepublik, auf schnelle Veränderungen stieg, desto hoffnungsvoller richtete sich der Blick nun auf den reicheren Nachbarn. Als dann die Idee einer Konföderation schon von der neuen DDR-Regierung aufgegriffen wurde, fragten sich die Bürger, warum nicht gleich eine Föderation angestrebt werden sollte, das heißt ein Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, letztlich der Vereinigung, auf der Leipziger Montagsdemonstration am 27. November 1989 erstmals artikuliert. Gerade hatte der Bundeskanzler gegenüber Gorbatschow seine vertrauensvolle Zusammenarbeit zugesichert, da geriet dieses Verhältnis in eine schwere Krise. Sie begann mit dem Besuch von Nikolaj Sergejewitsch Portugalow von der Internationalen Abteilung des ZK der KPdSU, am 21. November 1989 im Bundeskanzleramt Bonn. Sein Chef war seit Oktober 1988 Valentin Falin, von 1971-1978 sowjetischer Botschafter in Bonn, unter Andropow allerdings in Ungnade gefallen. Portugalow berichtet später, die „Germanistenfraktion“ in der sowjetischen Führung, angeführt von Falin, war zum Schluss gekommen, dass der Prozess der Annäherung der beiden deutschen Staaten begonnen hatte. Seine Aufgabe war es nun, die diesbezüglichen Vorstellungen der deutschen Bundesregierung zu testen. Dafür beantragte er ein Treffen mit Horst Teltschik, was dieser sofort akzeptierte. Küsters schreibt dazu: „Er ahnt nicht, welche Lawine er damit im Bundeskanzleramt ungewollt lostritt, die in den nächsten Wochen der sowjetischen Führung erheblich zu schaffen machte.“ 867 Gorbatschow, Wie es war, S. 86f. Küsters, Hanns Jürgen, Entscheidung für die deutsche Einheit. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 62. 866 867

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Denn er bringt ein Papier mit, das auch Tschernjajew, der außenpolitische Berater Gorbatschows, abgesegnet hat, das aber durch weitergehende Formulierungen von Falin selbst noch ergänzt worden ist. Zusätzlich aber bringt er ein „NonPaper“ mit, das er im Hotel selbst geschrieben hatte. 868 Portugalow führte nun in Bonn bei Teltschik aus, dass sich die sowjetische Führung Gedanken machte über die Annäherung der beiden deutschen Staaten, über konföderative Strukturen, die „dann irgendwann auch in eine Wiedervereinigung münden könnten.“ Weiter, so Portugalow: „Wir haben versucht,…der deutschen Führung klarzumachen, dass wir diejenigen sind, die im Grunde genommen, wenn es nicht so schnell geht und wenn die DDR ihre Eigenstaatlichkeit zunächst behält, wir gerade diejenigen sind, die mit dem erhöhten Tempo einer Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten durchaus leben können. Ich habe sogar angedeutet, dass in diesem Sinne ein Friedensvertrag, ob mit zwei oder schließlich auch mit einer deutschen Konföderation, sehr wohl im Interesse von Bonn liege.“ 869 Nachdem Portugalow sogar das Papier Teltschik überlassen hatte und fragte, was die Position des Bundeskanzlers zu diesen Fragen sei, informierte Teltschik sofort den Bundeskanzler, wobei er die Meinung vertrat, wenn das wahr sei, dass in der sowjetischen Führung solche Fragen diskutiert würden, dann gebe es eigentlich für die Deutschen keinen Anlass, das Thema nun nicht offensiv aufzugreifen. Damit wurde Portugalow zum Auslöser des 10-Punkte-Plans, mit dem der Bundeskanzler sich an die Spitze der Entwicklung in Richtung deutscher Einheit setzte. 870 „Jetzt war nicht die Stunde der Bedenkenträger“, schreibt Kohl in seinen Erinnerungen, „jetzt war die Stunde der Offensive.“ 871 Am 28. November stellte er den 10-Punkte-Plan im Deutschen Bundestag vor; die vier Siegermächte und befreundete Regierungen hatten den Text über die Botschafter am Morgen erhalten, nur der US-Präsident, der sich auf das Treffen mit Gorbatschow vor Malta vorbereitete, war früher informiert worden: „Neue Chancen und neue Herausforderungen in der Deutschland- und Europapolitik. Das Zehn-Punkte-Programm: Erstens: Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, die sich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, insbesondere durch die Fluchtbewegung und die neue Dimension des Reiseverkehrs… Zweitens: Die Bundesregierung wird, wie bisher, die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugutekommt… Drittens: Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. „Unumkehrbar“ heißt für uns und vor allem für mich, dass sich Von Plato, Die Vereinigung, S. 113. Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 82. 870 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 83. 871 Kohl, Erinnerungen 1982-1989, S. 996. 868 869

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die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt. Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muss gebrochen werden. Viertens: Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen… Fünftens: Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, d. h. eine bundestaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus… Wie ein widervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher. Sechstens: Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozess, d. h. immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muss sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet. Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in der Gemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres, die ich bereits zitiert habe, von den Bauelementen eines „gemeinsamen europäischen Hauses“. Ich nenne beispielhaft dafür die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen… Siebtens: Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung… Achtens: Der KSZE-Prozess ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen… Neuntens: Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordert weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle… Zehntens: Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung. Wir sind uns bewusst, dass sich auf dem Weg zur deutschen Einheit viele schwierige Fragen stellen, auf die korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort geben kann. 872 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 85-87; Galkin, Michail Gorbatschow, S. 236-245. Hier wird aus der NATO-Erklärung vom Mai 1989 zitiert. v. Plato, Die Vereinigung, S. 28. 872

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Vier Tage zuvor aber hatten Egon Krenz und Hans Modrow in der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin ein Treffen mit Valentin Falin. Krenz hatte am 10. November um dieses Gespräch gebeten. Gegenstand war die Politik der DDR gegenüber der Bundesrepublik unter den neuen Bedingungen. Von Interesse ist, dass Hans Modrow im Detail auf ein Sechs-Punkte-Papier von Gorbatschow zu sprechen kommt, das er an diesem Tag erhalten hatte. 873 Auf die Bemerkung von Krenz, dass bereits die Frage der Konföderation beider deutscher Staaten diskutiert werde, antwortet Falin, das Thema „Wiedervereinigung“ werde im Wahlkampf der BRD an erster Stelle stehen. Die DDR aber könne das Thema “Wiedervereinigung“ nicht dem Gegner überlassen, sie dürfe die Frage der Einheit nicht aus der Defensive heraus diskutieren. (Im Gorbatschow-Papier steht in Punkt 4: „Die in jüngster Zeit von der Deutschen Demokratischen Republik ergriffenen, bekannten Schritte haben viel Gerede über die ‚deutsche Frage‘, über die Aussichten für eine Vereinigung Deutschlands entstehen lassen.“) „Zum ersten Mal erlebe ich heute“, schreibt Krenz, „dass ein maßgeblicher sowjetischer Politiker über eine Vereinigung nachdenkt. Zwar nicht über die ‚Wiedervereinigung‘, aber immerhin über eine ‚Neuvereinigung‘. Am 1. November, vor knapp vier Wochen, hatte das bei Gorbatschow (Krenz war zum Antrittsbesuch in Moskau – W.G.) noch ganz anders geklungen. 874 Er hatte jede Diskussion über die Vereinigung beider deutscher Staaten als Illusion bezeichnet. Widersprüchlich auch Falins Aussagen zur Konföderation: „Aus Bonn weiß ich, dass die dortige sowjetische Botschaft bereits der Meinung ist, die DDR sei nicht mehr zu halten. Weiß in Moskau die eine Hand nicht mehr, was die andere tut? Einer sagt ‚hü‘, der andere ‚hott‘. Was ist Spekulation, was ist Wahrheit? Ich weiß es nicht.“ Egon Krenz bringt seinen Eindruck auf den Punkt: „Ich habe zum ersten Mal das eigenartige Gefühl, dass um die DDR gefeilscht wird. Nabelt uns die Sowjetunion ab? Ich will es nicht glauben, schließe es aber auch nicht mehr aus. Ungeachtet dieses Zwiespalts oder vielleicht gerade deshalb schlage ich dem Politbüro vor: Oskar Fischer (Außenminister der DDR – W.G.) wird beauftragt, sich mit den sowjetischen Genossen über mögliche Konzeptionen zu einer Konföderation zwischen der DDR und der BRD zu verständigen.“ 875 Im Dezember änderten sich die Verhältnisse sowohl in der DDR wie in den internationalen Beziehungen. Zunächst aber erhält Genscher in Moskau am 5. Dezember 1989 wegen Kohls Zehn-Punkte-Programm eine Abreibung: „Es laufen komplizierte Prozesse ab – man kann sie als äußerst angespannt bezeichnen – und Sie werfen nicht Holz ins Feuer, sondern Sprengstoff.“ 876 DDR-Botschafter König, der schon am nächsten Tag vom stellvertretenden Außenminister Anatolij Adamischin über dieses Gespräch unterrichtet wurde, bemerkt, es gebe wohl kein Modrow, Die Perestroika, S. 126ff. Gespräch Gorbačevs mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz am 1. November 1989. In: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 213-227. 875 Krenz, Herbst `89, S. 383f. 876 Galkin, Michail Gorbatschow, S. 263; Genscher nennt es das „unangenehmste Gespräch meiner Laufbahn“. Von Plato, Die Vereinigung, S. 134. 873 874

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weiteres Gespräch Gorbatschows mit einem anderen ausländischen Politiker, das in diesem aggressiven Stil und Ton geführt worden sei. 877 Als Reaktion darauf schickt Kohl am 14. Dezember ein Schreiben an Gorbatschow, mit dem er „zu einem besseren Verständnis meiner Politik beitragen und offensichtliche Missverständnisse ausräumen“ möchte. 878 Es ist dennoch erkennbar, dass Gorbatschow eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nicht ausschließt, er möchte sie aber im Zusammenhang mit den Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen in Wien, und, vor allem, mit Rücksicht auf die Bevölkerung der Sowjetunion sehen, das heißt als ein langsamer, allmählicher Prozess, wenn möglich auch gesteuert von der Sowjetunion. Das ist ein entscheidender Punkt. 879 Da die bisherigen Veränderungen in der weltpolitischen Lage, darunter in Europa, vor allem auf die Initiativen von Gorbatschow zurückgingen, möchte er diese Führungsrolle nicht verlieren. Denn das hätte auch Auswirkungen auf seine Position in der Sowjetunion selbst. Daran erinnerte Frankreichs Präsident Mitterrand Bundeskanzler Kohl, als dieser ihn am 4. Januar 1990 am Atlantik besuchte. Kohl schreibt darüber: „Mitterrand bat mich, immer daran zu denken, dass das Schicksal Gorbatschows mehr von mir abhänge als von seinen Moskauer Gegenspielern. Die Lösung der deutschen Frage dürfe nicht eine neue russische Tragödie heraufbeschwören.“ 880 Aber die Entwicklung ging weiter. Am 7. Dezember begann der Runde Tisch in Berlin mit der Arbeit. Er formulierte sein Selbstverständnis damit, seine Tätigkeit bis zur Durchführung freier, demokratischer und geheimer Wahlen fortzusetzen. Dazu sollte eine neue Verfassung ausgearbeitet und ein Wahlgesetz verabschiedet werden. Schließlich wurde die Opposition an der „Regierung der nationalen Verantwortung“ seit 28. Januar 1990 beteiligt. Am 19. Dezember 1989 besucht Kohl Modrow in Dresden. Euphorisch berichtet der Bundekanzler darüber: „Ich glaube, Dresden war nicht nur für mich der Wendepunkt, sondern das war überhaupt der Wendepunkt, weil damit etwas offenbar wurde, demonstriert wurde, was man nicht mehr umschreiben oder umkommentieren konnte.“ Als er noch auf dem Flughafen die vielen Menschen sieht und die vielen deutschen Fahnen, d.h. ohne Hammer und Zirkel, sagt er zu Bundesminister Rudi Seiters: „Die Sache ist gelaufen.“ 881 Am selben Tag hielt Außenminister Schewardnadse vor dem Politischen Ausschuss des Europäischen Parlaments in Brüssel eine Rede, in der er schon von einem vereinten Deutschland ausgeht, diese Aussage aber mit zahlreichen Fragen über den künftigen Status quasi versteckt. 882 Nun musste sich auch Gorbatschow bewegen. Am 25. Januar 1990 erörterte er in seinem Arbeitszimmer im ZK der König, Fiasko, S. 383. Schreiben des Bundeskanzlers Kohl an Generalsekretär Gorbatschow. Bonn, 14. Dezember 1989. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 645-650. 879 SU und „deutsche Frage“. Nr. 112A. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 616-618. 880 Kohl, Erinnerungen, S. 1035. 881 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 89. 882 Von Plato, Die Vereinigung, S. 177. 877 878

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KPdSU mit seinem Beraterstab und einigen Ministern die deutsche Frage. Gorbatschow: „Es gibt keine wirklichen Kräfte in der DDR. Folglich können wir auf den Prozess nur über die BRD einwirken.“ Und KGB-Chef Krjutschkow: „Die Tage der SED sind gezählt. Für uns ist sie weder Hebel noch Stütze. Modrow ist eine Figur des Übergangs. … Allmählich muss man beginnen, unser Volk an eine Wiedervereinigung Deutschlands zu gewöhnen. … Es ist notwendig, aktiv für die Unterstützung unserer Freunde, der ehemaligen Mitarbeiter von KGB und MfS in der DDR, einzutreten.“ Jakowlew: „Gut wäre es, wenn Modrow ein Wiedervereinigungsprogramm vorlegen würde, ohne Vorurteile, ausgehend von der Realität, und wir würden ihn aktiv unterstützen.“ Ministerpräsident Ryschkow: „Man muss realistisch auf den Prozess blicken. Man kann ihn nicht aufhalten. Nun kommt alles auf die Taktik an, weil wir die DDR nicht erhalten können. Alle Barrieren sind bereits niedergerissen. Ihre Wirtschaft macht sie kaputt. Sämtliche staatlichen Institutionen sind aufgelöst. Die DDR zu erhalten ist unrealistisch. Eine Konföderation – ja.“ Von Tschernjajew stammt der Vorschlag einer Konferenz der vier Mächte mit den beiden deutschen Staaten. Gorbatschow nimmt ihn auf und schlägt dieses Treffen im Jahr 1990 vor. 883 Achromejew erhält den Auftrag den Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus Deutschland vorzubereiten. Nach Sichtung aller zugänglichen Dokumente und nach persönlichen Gesprächen mit den wichtigsten Akteuren kommt von Plato zum Ergebnis, dass weder Krjutschkow noch Ligatschow oder Falin, die als Hauptgegner der DeutschlandPolitik Gorbatschows im Politbüro tituliert wurden, sich als prinzipielle Widersacher der Wiedervereinigung darstellten, auch im Nachhinein nicht. Allerdingst beklagt sich Ligatschow später über die autoritäre Politik Gorbatschows und besonders Schewardnadses etwa in der Frage der NATO-Erweiterung auf das Gebiet der DDR. Zu jeder anderen internationalen Krise sei eine Kommission auf höchster Ebene gebildet worden, „aber in der deutschen Frage nahmen Gorbatschow mit Schewardnadse und Jakowlew alles in ihre Hände, und es wurde keine Kommission gebildet. … Hier wurde alles von diesen drei Personen übernommen, die alle Treffen und alle Verhandlungen geführt haben zu diesem Problem.“ 884 Am 30. Januar besucht Modrow Gorbatschow in Moskau. Gorbatschow äußert Verständnis, dass das deutsche Volk in BRD und DDR an verstärkten Kontakten interessiert ist und nach Zusammenarbeit und „Zusammenwirken“ strebt. Man müsse jetzt über den Abschluss eines Vertrags über Zusammenarbeit und gute Nachbarschaft mit Elementen einer Konföderation anstreben. Über die konföde-

Diskussion der deutschen Frage im Beraterstab von Generalsekretär Gorbačev am 26. Januar 1990. In: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 286-291; von Plato, Die Vereinigung, S. 187-199. 884 Von Plato, Die Vereinigung, S. 185; siehe auch: Creutzberger, Stefan, Die Legende vom Wortbruch. Russland, der Westen und die NATO-Osterweiterung. In: Osteuropa 3/2015, S. 95108. 883

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rativen Strukturen können dann die beiden Staaten zu einem Ganzen zusammenwachsen. 885 Modrow übergab Gorbatschow dabei ein Papier „Konzeption für die Diskussion über den Weg zur deutschen Einheit“. 886 Helmut Kohl schreibt darüber in seinen „Erinnerungen“: Was als Ergebnis des Treffens von Hans Modrow mit der sowjetischen Führung auf der anschließenden Pressekonferenz in Moskau bekanntgemacht wurde, kam einer Sensation gleich: Die Sowjetunion habe prinzipiell nichts gegen eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten einzuwenden. Nach Ansicht Gorbatschows bestehe bei den Deutschen in Ost und West sowie bei den vier Siegermächten des Zweiten Weltkriegs Einvernehmen darüber, dass die Wiedervereinigung der Deutschen niemals und von niemandem in Frage gestellt werde. Der Mann, der seit vielen Wochen für den Fortbestand einer reformierten DDR gekämpft hatte, sprach in Moskau plötzlich von einem ‚einigen deutschen Vaterland‘.“ 887 Am 9. Februar 1990 besucht US-Außenminister James Baker Gorbatschow. Dabei wird der 2+4-Mechanismus vorbereitet. Gespräche mit den Deutschen sollten aber erst nach den Wahlen vom 18. März stattfinden. Vom 10. bis 11. Februar befanden sich Kohl, Genscher und Teltschik auf Einladung Gorbatschows in Moskau. Dabei kam es, wie Kohl schreibt, „zum Durchbruch“: „Gorbatschow sagte dann, er glaube, dass es zwischen der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR keine Meinungsunterschiede über die Einheit gebe und über das Recht der Menschen, die Einheit anzustreben und über die weitere Entwicklung zu entscheiden. Was den Hauptausgangspunkt betreffe, bestehe zwischen ihm und mir Einvernehmen, dass die Deutschen ihre Wahl selbst treffen müssten. Die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR müssten wissen, welchen Weg sie gehen wollten. So hatte ich Gorbatschow noch nie sprechen gehört, solche Sätze hatte er in meinem Beisein noch nie formuliert.“ 888 Bei der Anwesenheit der Außenminister spricht Schewardnadse die Transformation von Warschauer Pakt und NATO an, sie sollten zu Garanten der Stabilität in Europa werden. Genscher verwies auf die Konferenz „Open Skies vom 12.-14. Februar in Ottawa, auf der man über die 2+4-Gespräche sich unterhalten könnte. Es ginge darum, den gemeinsamen Weg zur Vereinigung festzulegen. Am 10. Februar 1990 erklärte Bundeskanzler Kohl vor der Presse in Moskau: „Meine Damen und Herren, ich habe heute Abend an alle Deutschen eine einzige Botschaft zu übermitteln. Generalsekretär Gorbatschow und ich stimmen darüber überein, dass es das alleinige Recht der Deutschen ist, die Entscheidung zu treffen, ob sie in einem Staat zusammenleben wollen. Generalsekretär Gorbatschow hat

885 Gespräch Gorbačevs mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Modrow, am 30. Januar 1990. In: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 292- 304. 886 Galkin, Michail Gorbatschow, S. 304f. 887 Kohl, Erinnerungen, S. 1054f. 888 Kohl, Erinnerungen, S. 1066; Gespräch Gorbačevs mit Bundeskanzler Kohl am 10. Februar 1990. In: Galkin, Michail Gorbatschow, S. 317-333.

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mir unmissverständlich zugesagt, dass die Sowjetunion die Entscheidung der Deutschen, in einem Staat zu leben, respektieren wird; und dass es Sache der Deutschen ist, den Zeitpunkt und den Weg der Einigung selbst zu bestimmen.“ 889 Damit begann die dritte Phase auf dem Weg zur Vereinigung. Es ging nun nicht mehr um das „ob“, sondern um das „wie“. Im Interview mit der „Prawda“ vom 20. Februar ging Gorbatschow auf die Rahmenbedingungen ein und auf die Sorgen der sowjetischen Bevölkerung vor einem wiedervereinigten Deutschland. Diese betrafen die Integration in die Europäische Gemeinschaft, in eine neue, die Blöcke ablösende europäische Sicherheitsarchitektur, vor allem die Anerkennung der bestehenden Grenzen, insbesondere der polnischen Westgrenze. Auch die Reduzierung der sowjetischen Streitkräfte und ihr Rückzug aus den westlichen Nachbarländern wurden bestätigt. Aber sowohl beim Besuch von DDR-Ministerpräsident Modrow am 6. März wie im Interview mit dem Fernsehen der DDR wie der ARD wurde eine Mitgliedschaft des vereinigten Deutschland in der NATO ausgeschlossen. In der gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident George Bush am 3. Juni 1990 verharrt Gorbatschow aber schon nicht mehr auf dieser Position, sondern spricht davon, „dass sich die Lösung der äußeren Probleme der Vereinigung Deutschlands organisch in den europäischen Prozess, in die Gesundung der internationalen Politik fügen“ müssen. 890 Auf der internationalen Pressekonferenz von Gorbatschow und Kohl am 16. Juli 1990 in Schelesnowodsk bekräftigte Gorbatschow schließlich die volle Souveränität eines vereinigten Deutschlands, die auch die Mitgliedschaft in einem Bündnis einschloss. Freilich verwies er auf die Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Treffen, nach denen sich keine NATO-Strukturen auf das Gebiet der DDR erstrecken dürfen. Auch dürften dort weder Nuklearwaffen noch ausländische Truppen stationiert werden. Dazu seien der Warschauer Pakt wie die NATO dabei ihren Charakter zu verändern: „Sie öffnen sich einander, nehmen Kontakte auf, es werden entsprechende Institutionen gegründet und ein Zusammenwirken beginnt auch bei der Kontrolle. Das heißt, wir haben bereits eine ganz andere Situation.“ 891 Am Tag zuvor übergab Gorbatschow dem Bundeskanzler „Überlegungen zum Inhalt eines Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und Deutschland“. Dieser Vertragsentwurf sah weitreichende Formen und Einrichtungen der Zusammenarbeit auf den Gebieten der Wirtschaft, der Sicherheit, der Transportverbindungen, des Reiseverkehrs usw. vor. 892 Erklärung des Bundeskanzlers Kohl vor der Presse am 10. Februar 1990 in Moskau. In: Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 812f.; Kohl, Erinnerungen, S. 1068f. 890 Gorbatschow: Uns stehen noch Debatten bevor. Aus der gemeinsamen Pressekonferenz von Michail Gorbatschow und George Bush am 3. Juni 1990. In: Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa und die Zukunft der Deutschen, S. 196; Creutzberger, Die Legende vom Wortbruch, S. 107. 891 Gorbatschow, Das gemeinsame Haus Europa, S. 207. 892 Dokumente zur Deutschlandpolitik, S. 1348-1352, 889

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Seit dem 12. April 1990 besaß die DDR eine neue, demokratisch gewählte Regierung, eine große Koalition unter Ministerpräsident Lothar de Maizière, die bereits im Koalitionsvertrag sich für die Vereinigung Deutschlands nach Artikel 23 des Grundgesetzes festlegte. Am 6. Mai folgten die ersten freien Kommunalwahlen, aus denen die Bürgermeister und Landräte hervorgingen, die für die Stabilität in den Wandlungsprozessen um den 3. Oktober sorgten. Am 18. Mai unterzeichneten die Finanzminister der DDR und der Bundesrepublik den deutsch-deutschen Staatsvertrag. Seit dem 1. Juli gab es die Währungsunion zwischen Bundesrepublik und DDR. Am 31. August wurde der Einigungsvertrag unterzeichnet, am 12. September der Zwei-plus-Vier-Vertrag als „Vertrag über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“. 893Damit waren die vertraglichen Voraussetzungen für den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik geschaffen. Der 3. Oktober 1990, vom Bundeskanzler als Beitrittstermin genannt, wurde eingehalten. Damit hatte die DDR aufgehört zu existieren. Es begann der schwierige Prozess der Angleichung der Lebensverhältnisse, der Rechts-, Verwaltungs- und Wirtschaftsstrukturen. Am 9. November 1990 wurde schließlich von Bundeskanzler Helmut Kohl und Staatspräsident Michail Gorbatschow in Bonn der „Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ unterzeichnet. 894 Dieser Vertrag wurde ergänzt durch den „Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“. 895 Er wurde von den Außen- und Wirtschaftsministern unterzeichnet. Er sah eine Gültigkeit von zunächst 20 Jahren vor und integrierte die von der DDR mit der Sowjetunion getroffenen Übereinkünfte, soweit das möglich war. Es folgten Übereinkünfte über die Zusammenarbeit im Arbeits- und Sozialwesen sowie der „Vertrag über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Streitkräfte vom Gebiet des geeinten Deutschland“. „Mit der Unterzeichnung dieses Dokuments“, sagte Gorbatschow beim Empfang im Palais Schaumburg, „das noch vor kurzem überhaupt schwer vorstellbar war, haben wir offiziell einen Schlussstrich unter den ganzen geschichtlichen Prozess gezogen und eine gemeinsame, tiefgreifende Perspektive aufgezeigt. Der Weg zu einem solchen Vertrag lässt sich nicht an den Wochen messen, die für die Ausarbeitung der Wortlautes notwendig waren, sondern an den Jahren und Jahrzehnten gemeinsamer Überwindung der Vergangenheit und der Suche nach einer neuen Qualität der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und Deutschland.“ 896 Und:

Gorbatschow, Wie es war, S. 203-208; siehe: Schäuble, Wolfgang, Der Vertrag. Wie ich über die deutsche Einheit verhandelte. Stuttgart 1991. 894 Gorbatschow, Wie es war, S. 194-202. 895 Gorbatschow, Wie es war, S. 209-220. 896 Gorbatschow, Wie es war, S. 160f. 893

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„Es triumphiert die neue Vision der Welt. Die Epoche der Konfrontation ist abgeschlossen. Das Antlitz Europas und der Welt verändert sich.“ 897 Die Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages bedeutete aber für Außenminister Schewardnadse, wie er später formulierte, „dass das, was ich 1986 gesagt habe, in Erfüllung gegangen ist. Das bedeutete für mich, dass in der Politik die Prinzipien der Moral Oberhand gewinnen. Ich war überzeugt, dass es unmöglich ist, sich das deutsche Volk auf Ewigkeit als getrennt und geteilt vorzustellen. Und für mich bedeutete das den Sieg meiner Prinzipien und meiner Politik.“ 898 Gorbatschow, der Genscher, trotz des geharnischten Gesprächs nach Kohls 10Punkte-Plan, sehr schätzt, gibt dessen Kommentar nach Abschluss der Zwei-plusVier-Verhandlungen in Moskau wieder: „Er war sehr erregt“, schreibt er und zitiert: „Seit unserer ersten Begegnung vor vier Jahren, im Sommer 1986, ist viel Zeit vergangen. … Heute hat sich der Traum meines Lebens erfüllt. … Ohne jedes Pathos möchte ich sagen: Das deutsche Volk weiß und wird es niemals vergessen, dass es die Herstellung der deutschen Einheit vor allem Ihrem persönlichen Beitrag verdankt. … Ihre Kühnheit und Weitsicht spielten hierbei eine entscheidende Rolle. Allen ist klar, dass all das dank Ihrer Politik der letzten Jahre geschehen ist.“ 899 Gorbatschow dankte Genscher für seine Haltung und versicherte, er könne weiterhin auf ihn als Partner rechnen. Er hoffe, dass treffe umgekehrt ebenfalls zu. 900 Für Gorbatschow aber waren die Hauptursachen der Spaltung Europas, die Mauer und die Teilung Deutschlands, beseitigt. Dazu waren die anderen früheren sozialistischen Länder Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien, schließlich sogar Rumänien, in sehr unterschiedlicher Weise auf dem Weg zu demokratischen Gesellschaften. Damit aber hatte der sowjetische Präsident die Voraussetzungen geschaffen, die riesige Militärmaschine in der Sowjetunion abzubauen und den Prozess der Konversion auf den Weg zu bringen. Schließlich erreichte das Streben nach nationaler Unabhängigkeit und demokratischen Strukturen die Unionsrepubliken selbst, insbesondere die baltischen Staaten und die Staaten im Kaukasus wie in Mittelasien. Im Nachhinein haben sowohl Modrow wie Krenz dem sowjetischen Präsidenten Doppelzüngigkeit, ja sogar Verrat vorgeworfen. Nur punktuell haben beide eigene Fehler eingestanden, vor allem, dass die Veränderungen in der DDR viel zu spät in Angriff genommen worden waren. Die DDR fiel als Akteur aus, da es bei Abbau der Ost-West-Konfrontation um ihre Existenz ging. Das war ihrer Führung bewusst. Ihr Fehler unter Generalsekretär Honecker bestand darin, dass sie dennoch bis zuletzt am Stalinistischen Partei- und Staatsverständnis festgehalten hatte, anstatt, wie von der Bevölkerung und zahlreichen Vertretern der Partei-Elite erhofft, auf die Gorbatschowsche Linie einzuschwenken. Im Gegenteil, durch ihre Gorbatschow, Wie es war, S. 163. Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 166. 899 Gorbatschow, Wie es war, S. 153. 900 Genscher, Erinnerungen, S. 874. 897 898

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Politik der Abgrenzung gegenüber der Perestrojka, ja konspirativer Kungelei mit Gorbatschows Gegnern und dilettantischen Entscheidungen, als die Bürger massenhaft das Land verließen oder aus Protest auf die Straße gingen, trug die DDRFührung selbst wesentlich zum Untergang der DDR bei. Das aber blieb Gorbatschow nicht verborgen. So lautet sein Urteil über Honecker: „Ich wusste, wie feindselig er sich zur Perestrojka verhielt und dass er sich mit der Absicht trug, sich als ‚wahrer Vertreter der Heimat des Marxismus‘ an die Spitze der orthodoxen Opposition gegen Gorbatschow in der sozialistischen Staatengemeinschaft zu stellen.“ 901 Doch auch nach Honeckers Sturz blieben radikale Veränderungen, die der Bevölkerung neue Zuversicht gegeben hätten, aus. Jakowlew hatte sie bei seinem Berlin-Besuch am 17. und 18. Dezember 1989 gegenüber Gysi und Modrow angesprochen: ein neues Strafgesetz, ein Gesetz über die örtliche Selbstverwaltung, neue Gesetze über die Presse, das Eigentum von Grund und Boden. 902Als aber zum PDS-Wahlparteitag am 24. und 25. Februar 1990 Rafael Fjodorow und Valentin Koptelzew als Beobachter teilnahmen, gab es keine offiziellen Gespräche mehr. Doch auch im Westen waren der Reformwille und die Reformfähigkeit Modrows überschätzt worden. Als am 14. und 15. November 1990 in Moskau die Beratung der Nachfolgeparteien der einstigen sozialistischen Staaten stattfand, sprach der polnische Vertreter Kwasniewski aus, was alle wussten, wie Modrow formuliert: „Die Periode des realen Sozialismus ist in Polen und den anderen europäischen Ländern zu Ende.“ 903 Helmut Kohl aber schrieb in seinen Erinnerungen, nach dem „Durchbruch“ am 10. Februar 1990 habe er sich oft gefragt, wie es in so kurzer Zeit zu solchen Metamorphosen des sowjetischen Generalsekretärs kommen konnte: „Was hatte Gorbatschow letztendlich zu diesem Meinungsumschwung in der deutschen Frage bewogen? Natürlich hatte auch er einen Lernprozess mitgemacht, doch in Wahrheit wollte er die deutsche Einheit nicht.“ 904 Das wirft die Frage auf, auch vor dem Hintergrund der jetzt zugänglichen sowjetischen Dokumente und Memoiren, ob Helmut Kohl Gorbatschow überhaupt verstanden hat. Zu sehr von einem antisowjetischen, ja antirussischen Verständnis geprägt, konnte er sich nicht vorstellen, dass aus dem sowjetischen Machtzentrum heraus das von Stalin grundgelegte System zerschlagen und demokratische Strukturen aufgebaut werden könnten. Dagegen hatten Mitterrand und Frau Thatcher das historische Format Gorbatschows erkannt und aus Rücksicht auf die Lage Gorbatschows im Innern den deutschen Vereinigungsprozess zu bremsen versucht. Das schloss nicht aus, dass Kohl gegenüber Gorbatschow freundschaftliche Gefühle hegte, insbesondere nach dem Treffen im Kanzlerbungalow im Sommer 1989, dann im Kaukasus 1990. Am Tag

Gorbatschow, Wie es war, S. 85. Modrow, Die Perestroika, S. 131. 903 Modrow, Die Perestroika, S. 143. 904 Kohl, Erinnerungen, S. 1069. 901 902

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der Unterzeichnung des umfassenden deutsch-sowjetischen Vertrags im November 1990 sagte Kohl zu Gorbatschow: „Lieber Freund, Sie können sich auf mich verlassen. Ich nenne Sie bewusst einen Freund, da wir vieles gemeinsam gemacht haben und noch vieles erledigen müssen.“ 905 Als die sowjetische Seite im Winter 1989/90 beim Bundeskanzler um Hilfe nachsuchte, organisierte er sofort eine gewaltige Hilfsaktion. Er schreibt dazu selbst: „Mit 220 Millionen D-Mark aus dem Bundeshaushalt subventioniert, lieferte die Bundesrepublik von Mitte Februar an aus der NATO-Reserve zweiundfünfzigtausend Tonnen Rindfleischkonserven, fünfzigtausend Tonnen Schweinefleisch, zwanzigtausend Tonnen Butter, fünfzehntausend Tonnen Milchpulver und fünftausend Tonnen Käse in die Sowjetunion. Hinzu kamen Unmengen von Schuhen, Damen- und Herrenkonfektion und andere Gebrauchsgüter. Diese schnelle Hilfe machte großen Eindruck auf Gorbatschow.“ 906 Es bleibt aber die Frage offen, ob die Wandlungsprozesse in Europa nicht frühzeitiger in Gang gekommen wären, wenn die neue Qualität der Politik Gorbatschows früher erkannt worden wäre. Im Gespräch mit Ministerpräsident Lothar de Maizière am 12. September 1990 ließ Gorbatschow dieses Thema selbst anklingen. Als de Maizière auf Probleme im Handel mit der Sowjetunion hinwies und ihn an das im Oktober 1989 wichtige Wort erinnerte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“, „lachte er etwas bitter und sagte resigniert: ‚Tja wissen Sie, ob wir nicht alle viel zu spät gekommen sind?‘“ 907

4.6 Die neue Weltordnung Zur Konzeption der Perestrojka gehörte nicht nur das Aufbrechen der überkommenen Ost-West-Konfrontation, sondern auch die Vorstellung von einer die Nationalstaaten übergreifenden internationalen Zusammenarbeit. Die Beschäftigung mit den globalen Problemen des Club of Rome stand hier Pate. Die Hinwendung zur globalen Betrachtungsweise war auch der Ansatz, die Sowjetunion aus der selbst gewählten Isolation herauszuführen und ihr einen Platz in der Weltgemeinschaft nicht gegen, sondern mit den Vereinigten Staaten von Amerika zu sichern. Diese Politik von der Konfrontation zur Kommunikation und gemeinsam verantwortetem Handeln stellt aber einen qualitativen Sprung gegenüber dem überkommenen Politikverständnis dar. Im Laufe der Entwicklung der durch die Perestrojka bestimmten Politik ist zu beobachten, wie allmählich auch die anderen Staaten sich auf diese neue Qualität der Politik einlassen. In den Gedanken der Blockfreiheit wie im KSZE-Prozess waren bereits systemübergreifende Vorstellungen formuliert worden. An diese konnten nun die Regierungen anknüpfen, sie weiterentwickeln und, mit mehr Gorbatschow, Wie es war, S. 164. Kohl, Erinnerungen, S. 1070. 907 Kuhn, Gorbatschow und die deutsche Einheit, S. 167. 905 906

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Spielraum als je zuvor, gemeinsam die Lösung globaler Probleme in Angriff nehmen, ja sogar eine neue Weltordnung errichten. Sehr früh begann Gorbatschow seine Vorstellungen einer neuen Weltordnung in die Tat umzusetzen. Schon im Mai 1985, er war gerade zwei Monate im Amt, unterzeichnete er zum Abschluss des Staatsbesuchs von Rajiv Gandhi in Moskau ein Dokument, das den Grundstock der späteren Deklaration von Delhi bildete. Darin wandten sich beide gegen die willkürliche Beschneidung des Rechts auf nationale Selbstbestimmung und plädierten für eine friedliche Lösung von Konflikten anstelle der Androhung oder Anwendung von Gewalt. In der Deklaration von Delhi vom 27. November 1986 heißt es dann: „Im Atomzeitalter muss die Menschheit ein Neues Denken, eine neue Konzeption von Frieden erarbeiten, die sichere Garantien für das Überleben der Menschheit bietet. Die Welt, die wir geerbt haben, gehört den jetzigen und den kommenden Generationen; aus diesem Grund ist den allgemein-menschlichen Werten der Vorrang einzuräumen.“ Diese neue Weltordnung musste, so Gorbatschow, auf folgenden Prinzipien beruhen: Anerkennung des menschlichen Lebens als höchstem Gut; Gewaltlosigkeit; Anerkennung und Achtung des Rechts eines jeden Staates auf politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit. Das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ müsse durch ein umfassendes System globaler Sicherheit ersetzt werden. Eine kernwaffen- und gewaltfreie Welt aber erforderte konkrete und unaufschiebbare Maßnahmen zum Zwecke der Abrüstung, unter anderem: restlose Vernichtung der nuklearen Arsenale bis zum Ende des laufenden Jahrhunderts; Unterbindung der Stationierung jeglicher Waffen im Weltraum; absolutes Verbot von Kernwaffenversuchen; Verbot und Vernichtung aller chemischen Waffen sowie Reduzierung der konventionellen Waffen und Streitkräfte. Bis zur endgültigen Vernichtung der Atomwaffen wäre unverzüglich eine internationale Konvention abzuschließen, die die Anwendung und Androhung von Gewalt verbiete. 908 Im November 1988 besuchte Gorbatschow erneut Indien, und wieder stand das Thema der künftigen Weltordnung auf der Tagesordnung. Den Bedenken Rajiv Gandhis gegenüber, dass ‚Machtzentren‘ entstehen könnten, die eine exklusive Stellung beanspruchten, waren sich beide darin einig, den Versuchungen eines ‚blockbedingten‘ Ansatzes nicht erliegen zu dürfen, und bekräftigten ihre Absicht, keine in sich geschlossenen Gruppierungen bilden zu wollen. Die beste Methode, dem entgegenzuwirken, sei die Übertragung von Befugnissen an die UNO und an die kontinentalen beziehungsweise regionalen Organisationen. 909 Schritt für Schritt näherte sich Gorbatschow seinem Ziel. So sprach er beim Besuch des amerikanischen Außenministers George Shultz Mitte April 1987 auch die regionalen Konflikte an. Sie dürfen nicht zu einer Arena für den Kampf zweier Gorbatschow, Erinnerungen, S. 665; Deklaration von Delhi über die Prinzipien einer kernwaffenfreien und gewaltlosen Welt. In: Pravda vom 28. November 1986. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 1137-1139. 909 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 669. 908

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Systeme ausgeweitet werden. Sie könnten zwar die Konfliktursachen in der Welt nicht einfach abstellen, doch könnten beide zusammenarbeiten, um vernünftige Lösungen in diesem Bereich zu finden. 910 Damit war nicht nur ein wichtiges Kapitel künftiger Beziehungen angesprochen worden, es bedeutete die Erkenntnis, dass die Supermächte sich nicht mehr, wie in der Vergangenheit, durch regionale Konflikte in die Konfrontation treiben lassen durften, sondern umgekehrt, durch abgestimmtes gemeinsames Handeln solche Konflikte vor einer militärischen Eskalation bewahren und nach Möglichkeit friedlich beilegen konnten. So schreibt der frühere US-Verteidigungsminister (und spätere Präsident der Weltbank) Robert S. McNamara über den Vietnam-Krieg: „Wir überschätzten, welche Auswirkung der Verlust Südvietnams auf die Sicherheit des Westens gehabt hätte, und hielten nicht an dem Grundsatz fest, dass Südvietnam nur hätte gerettet werden können, wenn es den Krieg aus eigener Kraft gewonnen hätte. Unter Missachtung dieser wichtigen Erkenntnis griffen wir auf einer ihrem Wesen nach unsicheren Grundlage zu immer massiveren Mitteln. Militärgewalt von außen kann nicht die politische Ordnung und Stabilität ersetzen, die ein Volk für sich erkämpfen muss.“ 911 Nach Unterzeichnung des INF-Vertrages im Dezember 1987 warb Gorbatschow für die neue Qualität von Politik. Es komme allmählich Millionen Menschen zu Bewusstsein, äußerte er optimistisch, dass gleichzeitig mit dem Ausklang des zwanzigsten Jahrhunderts die Zivilisation an eine Zäsur heranrücke, die weniger Systeme und Ideologien, als vielmehr gesunden Menschenverstand und den Selbsterhaltungstrieb des Menschengeschlechtes von Verantwortungslosigkeit, nationalem Egoismus und Vorurteilen, also vom alten Denken trenne. Die Menschheit beginne zu begreifen, dass mit Kriegen ein für alle Mal Schluss sein müsse. 912 In einer Rede Anfang Juli 1989 legte Gorbatschow im Rahmen seines Frankreich-Besuches an der Sorbonne in Paris vor einem ausgewählten Kreis französischer Intellektueller sein politisches Denken erneut dar. Als der Rektor in seiner Begrüßungsansprache auf die Rolle der Intelligenz in der Gesellschaft, auf die Wechselbeziehungen zwischen Intelligenz und Macht, in Frankreich stets ein beliebtes Thema, verwies, ging Gorbatschow gerne darauf ein, denn, wie er schrieb, „das korrespondierte exakt mit dem Thema meiner Rede. In Anbetracht des bevorstehenden zweihundertsten Jahrestages der Französischen Revolution (14. Juli 1789 – W.G.) hielt ich es unter Berücksichtigung nicht nur der geschichtlichen, sondern auch der eigenen Erfahrungen für wichtig, hervorzuheben, dass den herausragenden sozialpolitischen Umwälzungen stets philosophische Revolutionen vorausgegangen seien. Die Französische Revolution habe den Denkern der Aufklärung vieles zu verdanken – den Ideen der Gleichheit und der natürlichen Men-

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 611. McNamara, Robert S. und Brian Van Den Mark, Vietnam. Das Trauma einer Weltmacht. Hamburg 1996, S. 425. 912 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 627. 910 911

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schenrechte, der Oberhoheit des Gesetzes, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und des Gesellschaftsvertrages, also den Ideen Voltaires und Montesquieus, Diderots und Holbachs, Mablys 913 und Rousseaus. Die intellektuelle und politische Hinterlassenschaft der Französischen Revolution habe dem demokratischen Gedanken in all seinen Ausprägungen, der den Nährboden für die sozialen Revolutionen des zwanzigsten Jahrhunderts vorbereitet habe, einen mächtigen Auftrieb verliehen.“ Dabei dachte Gorbatschow auch an den langen Weg der Vorbereitung seiner „Revolution von Oben“. In seiner Arbeit „Perestrojka“ hatte er die russischen Revolutionen von 1917 bereits, den französischen Historikern Furet und Richet folgend, als langfristige zyklische Veränderungen beschrieben und der Oktoberrevolution damit ihren endzeitlichen Charakter genommen. Nun geht er noch einen Schritt weiter und spricht die globalen Probleme an. Zum Ausklang des zwanzigsten Jahrhunderts sieht er die Menschheit sich mit neuen, globalen Problemen konfrontiert. Ihre gedankliche Erfassung erfordere aber neue intellektuelle Anstrengungen, die Überprüfung vieler tiefverwurzelter Ansichten und den Verzicht auf gewohnte Denkklischees; kurz und gut, das Neue Denken. Drei Momente hob er besonders hervor: „Erstens dürften wir nicht länger auf die spontane Entwicklung vertrauen, sondern müssten lernen, diese zu lenken. Zweitens gelte es, die traditionellen Fortschrittskriterien zu revidieren und unsere Bedürfnisse mit den Ressourcen an Energie und Rohstoffen, mit den ökologischen und demographischen Anforderungen in Einklang zu bringen. Dabei sei es notwendig, die Diskrepanz zwischen den reichen und den armen Ländern zu überwinden. Und drittens sei die Einsicht vonnöten, dass gegenseitige Toleranz, die Achtung des Selbstbestimmungsrechts und die Suche nach friedlichen, politischen Methoden, um Widersprüche aufzulösen und Konflikte beizulegen, unabdingbare Voraussetzungen für das Überleben und die Wiedergeburt der Menschheit seien.“ 914 Nach dem Fall der Mauer und dem Beitritt der, – seit den Wahlen vom März demokratischen – DDR zur Bundesrepublik Deutschland, d. h. nach dem Ende der Spaltung des Kontinents, sprachen die Mitgliedsländer der KSZE euphorisch von einer Epochenwende. In der „Charta von Paris für ein neues Europa“ vom 21. November 1990 lesen wir: „Wir, die Staats- und Regierungschefs der Teilnehmerstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, sind in einer Zeit tiefgreifenden Wandels und historischer Erwartungen in Paris zusammengetreten. Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, dass sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeit gründen werden.“ Weiter: „In Übereinstimmung mit unseren Verpflichtungen gemäß der Charta der Vereinten Nationen und der Schlussakte von Helsinki erneuern wir unser feierliches Versprechen, uns jeder gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit eines Staates gerichteten Androhung oder Anwendung von Gewalt oder jeder sonstigen mit den Grundsätzen 913 914

Mably, Bonnot de (1709-1785), französ. Schriftsteller. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 653.

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oder Zielen dieser Dokumente unvereinbaren Handlung zu enthalten. Wir erinnern daran, dass die Nichterfüllung der in der Charta der Vereinten Nationen enthaltenen Verpflichtungen einen Verstoß gegen das Völkerrecht darstellt. Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen. Wir beschließen, Mechanismen zur Verhütung und Lösung von Konflikten zwischen den Teilnehmerstaaten zu entwickeln.“ 915 Und der amerikanische Präsident George H. Bush stellte fest, wie schon Gorbatschow bei ihrem Treffen vor Malta: „Der Kalte Krieg ist zu Ende.“ Am Rande des Treffens verpflichteten sich die Mitgliedsstaaten der NATO und des Warschauer Pakts zu weitreichenden Abrüstungsmaßnahmen und zur wechselseitigen Kontrolle ihrer Waffensysteme. Die Erprobung des neuen Einvernehmens durch die Praxis ließ nicht lange auf sich warten. Sie betraf das Politikfeld „Naher Osten“, und gleich in doppelter Weise. Denn sie verknüpfte die Frage des Friedens zwischen Israel und den Palästinensern mit der Tatsache der Invasion des Irak in Kuweit. Gingen dem Thema Israel-Palästina jahrelange Bemühungen voraus, beide Seiten zu Gesprächen zu bewegen, verlangte die Situation in Kuweit eine schnelle Reaktion ohne Aufschub. Waren die diplomatischen Kontakte in der Israel-Frage auf das Dreieck IsraelUSA-Arabische Staaten beschränkt, d. h. war die Sowjetunion in dieser Frage, zumindest offiziell, nicht involviert, war eine Lösung angesichts des Vertrages über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen dem Irak und der Sowjetunion ohne sowjetische Beteiligung weder denkbar noch politisch möglich. Der Irak war der wichtigste Kunde der Sowjetunion am Golf, und Moskau hatte, wie Beschloss und Talbott schreiben, „Milliarden von Rubel investiert, um den US-amerikanischen Einfluss im Nahen Osten einzudämmen.“ 916 Seit 1986 hatte die Sowjetunion Waffen im Wert von 17,5 Milliarden Dollar an den Irak und andere Nahost-Staaten verkauft. Wie verfahren die Lage in Israel und Palästina war, beschreibt US-Außenminister James A. Baker in seinen Erinnerungen anschaulich: „Ich hatte nie in den Friedensprozess im Nahen Osten eingreifen wollen.“ In einer Zeit, in der sich fundamentale historische Veränderungen in den Ost-West-Beziehungen abzeichneten, sah er den Disput zwischen Arabern und Israelis eher als Fallgrube denn als Chance an. Zu dieser nüchternen und womöglich nicht ganz uneigennützigen Beurteilung war er gelangt, weil es nichts gab, was auf eine ernstzunehmende Veränderung des Klimas hingewiesen und angedeutet hätte, dass die Zeit reif sei, Bewegung in einen Konflikt zu bringen, der sich seit nahezu einem halben Jahrhundert jeglicher Lösung widersetzt hatte. Bestärkt wurde diese Einstellung durch seine Erfahrungen als Stabschef in der ersten Reagan-Administration: „Die dynamische und Israel äußerst wohlgesonnene Diplomatie Reagans hatte nicht nur zu Stillstand, sondern sogar zu einer katastrophalen Intervention geführt – zu unserer 915 Charta von Paris für ein neues Europa vom 21.11.1990, Konrad-Adenauer-Stiftung: http://www.kas.de/wf/de/71.4503/ 916 Beschloss, Talbott, Auf höchster Ebene, S. 327.

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Antwort auf jenen terroristischen Angriff auf die Unterkunft der US-Marines in Beirut, bei dem 241 Amerikaner ihr Leben lassen mussten.“ Deshalb war er fest entschlossen, „den Sirenengesängen Israels und seiner arabischen Nachbarn zu widerstehen – vor allem, da keine Seite interessiert zu sein schien, die schwierigen politischen Schritte, die notwendig waren, wollte man einen wirklichen Friedensprozess in Gang bringen, auch nur zu erwägen.“ 917 Am 16. Juni 1990 war wieder einmal der Versuch gescheitert, Israel zu einem Friedensprozess zu bewegen, und Baker vertagte alle Gespräche auf eine neue israelische Regierung. Am 31. Juli flog er von Singapur über Hongkong nach Irkutsk, um mit seinem sowjetischen Amtskollegen Schewardnadse über atomare Rüstungskontrolle, den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa zu sprechen und ein Gipfeltreffen ihrer Präsidenten vorzubereiten. Am 2. August 1990 begann der irakische Präsident Saddam Hussein mit der Invasion in den Nachbarstaat Kuweit. Beim Treffen der beiden Außenminister in Irkutsk stellte sich heraus, dass Schewardnadse keine Informationen über die Vorgänge in Kuweit besaß – und, auf Nachfrage, auch nicht erhielt. Das heißt: er war auf die Informationen von amerikanischer Seite angewiesen. Nun aber begann eine hektische Phase in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Dennis Ross, der politische Berater Bakers, drängte seinen sowjetischen Kollegen Sergej Tarasenko, nun ein gemeinsames Kommuniqué zu verfassen. „Es ist an der Zeit zu demonstrieren, dass wir Partner sein können. Wir haben von einer Evolution gesprochen: von der Konkurrenz zur Kooperation. Jetzt müssen wir über Partnerschaft reden. Wenn unsere Beziehungen wirklich in eine neue Ära eingetreten sind, dann kann das nicht besser demonstriert werden als durch unsere Einigkeit“, sagte er. 918 Immerhin befanden sich 8000 sowjetische Staatsbürger im Irak und 900 in Kuweit. Es galt, die Reaktion der arabischen Staaten auf diese sowjetische Position zu berücksichtigen. Doch am 3. August 1990 standen die beiden Außenminister im Moskauer Flughafen Wnukowo II vor den Journalisten, und Schewardnadse erklärte ihnen, weshalb sein Land sich zu dem bis dahin beispiellosen Schritt entschlossen habe, gemeinsam mit den Vereinigten Staaten den irakischen Einmarsch in Kuweit zu verurteilen: „Ich kann Ihnen sagen, es war eine ziemlich schwierige Entscheidung für uns … wegen der langwährenden Beziehungen, die wir zum Irak unterhalten. Ungeachtet dessen … sehen wir uns zu diesen Schritten gezwungen, denn … diese Aggression widerspricht nicht nur den Prinzipien des neuen politischen Denkens, sondern überhaupt allen zivilisierten Beziehungen zwischen Staaten.“ Der amerikanische Außenminister unterstreicht die Bedeutung dieses gemeinsamen Kommuniqués auch in seinen „Erinnerungen“: „Die tiefere Bedeutung von Schewardnadses Äußerung war atemberaubend. Die Sowjets hatten es zum Abbau ihres Imperiums in Osteuropa kommen lassen, ja der Kreml hatte sogar den Zusammenbruch des Honecker-Regimes in der DDR hingenommen, wodurch der 917 918

Baker, James A., Drei Jahre, die die Welt veränderten. Erinnerungen. Berlin 1996, S. 99. Baker, Drei Jahre, S. 26.

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Fall der Berliner Mauer unvermeidlich geworden war. Dennoch waren all dies im Grunde noch passive Reaktionen auf eine unerbittlich ansteigende Flut von Ereignissen gewesen. Jetzt dagegen hatte sich die Sowjetunion zum ersten Mal aktiv mit den Vereinigten Staaten zusammengeschlossen, um von einem ihrer treuesten Verbündeten abzurücken.“ 919 Auch Jakowlew ist die Tragweite dieses Zusammengehen mit den USA bewusst. Denn, schreibt er, hier handelte es sich um eine eindeutige Aggression: „Zum ersten Mal beteiligen wir uns an einer gemeinsamen Aktion der internationalen Gemeinschaft. Diese Einmütigkeit schafft einen sehr wichtigen Präzedenzfall...“ 920 Und am 17. August bezeichnete Gorbatschow in einer Fernsehansprache die Invasion Kuweits als „eklatanten Verstoß“ gegen das internationale Recht; nur „kollektive Anstrengungen“ und politische Schritte“ könnten „die Eskalation zu einer regelrechten militärischen Konfrontation“ verhindern. Zur Zusammenarbeit mit Washington erklärte er: „Eine andere ‚Reaktion wäre für uns nicht möglich gewesen, denn dieser Akt der Aggression ist mit unseren Waffen erfolgt. Wir haben sie an den Irak verkauft, damit er seine Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten kann, nicht aber, um ausländische Gebiete und ganze Länder zu erobern.“ 921 Um das Einvernehmen der beiden Supermächte bei der Lösung dieser Herausforderung zu zeigen, trafen sich die beiden Präsidenten mit ihren Beratern am 9. September 1990 in Helsinki. Die beiden Außenminister hatten dieses Treffen vorbereitet. Nach Primakow, dem Orient-Experten unter Gorbatschows Beratern, war Moskau in diesem Augenblick davon überzeugt, dass die Krise sich nicht zum Krieg ausweiten würde und dass das gesamte Arsenal politischer und wirtschaftlicher Maßnahmen, das mit der Truppendislozierung einherging, für eine Lösung ausreichen würde. Moskau hatte sehr gut verstanden, dass das Ende des „Kalten Krieges“ angefangen hatte die Grundlagen für eine gerechte Weltordnung zu legen, die das Militärdiktat, die Aggression, die Einmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten ausschloss. Aber das neue politische Denken, das der Welt seit April 1985 vorgestellt wurde und die erstaunliche Entwicklung der Ereignisse auf der internationalen Arena bestärkten die Sicherheit, dass man eine gerechte Weltordnung tatsächlich erreichen könnte. Die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten waren nun aufgerufen eine entscheidende Rolle in der Bestimmung dieses Vorhabens zu spielen. 922 Es blieb nicht beim Kommuniqué. Da der irakische Diktator darauf nicht reagierte, waren die beiden Supermächte weiter gefragt. Der UN-Sicherheitsrat wurde eingeschaltet und verabschiedete schließlich 16 Resolutionen, darunter Nr. 660 über den sofortigen Abzug der irakischen Truppen aus Kuweit, Nr. 662 und 674, die die Wiedereinsetzung der legitimen Regierung in Kuweit und die Zahlung von

Baker, Drei Jahre, S. 16. Jakowlew, Offener Schluss, S. 94. 921 Beschloss, Talbott, Auf höchster Ebene, S. 333. 922 Primakov, Evguéni, Missions à Bagdad. Histoire d’une négociation secrète. Paris 1991, S. 19f. 919 920

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Reparationen und Kompensationen für den Schaden vorsahen, den der Irak angerichtet hatte. Da die irakische Regierung auf die Resolutionen nicht einging, führten die Vereinigten Staaten in der Nacht zum 17. Januar 1991 den ersten Militärschlag gegen den Irak. Vergeblich hatte auch Gorbatschow versucht, den irakischen Diktator zum Einlenken zu bewegen. Im Gegenteil, durch Raketenbeschuss auf Israel und Saudi-Arabien versuchte dieser den Konflikt auf die ganze Region des Nahen Ostens auszuweiten. Enttäuscht über das Verhalten des Diktators gab Gorbatschow eine Erklärung ab: „Diese tragische Wendung wurde durch die Weigerung der irakischen Führung provoziert, die Forderung der Weltgemeinschaft zu erfüllen und ihre Truppen aus Kuweit abzuziehen. Seit Beginn der irakischen Aggression unternahm die Sowjetunion alles in ihrer Macht Stehende, um den akuten internationalen Konflikt friedlich beizulegen. Bis in die allerletzten Minuten hinein wurden von uns energische Anstrengungen mit dem Ziel unternommen, den Krieg abzuwenden und Kuweit die Unabhängigkeit mit politischen Mitteln zurückzugeben.“ 923 Durch die erfolglosen diplomatischen Versuche Gorbatschows, Saddam Hussein zum Rückzug aus Kuweit zu bewegen, das dieser bereits als Provinz in den Irak einverleibt hatte, und die militärischen Erfolge der USA in Umsetzung der UN-Resolutionen verschoben sich im bilateralen sowjetisch-amerikanischen Verhältnis die Gewichte zugunsten der USA. Diese setzten am 24. Februar auch Bodentruppen ein. Jetzt erst, da die irakische Armee vernichtet war und ihr vor allem von der Sowjetunion geliefertes Kriegsgerät zerstört, lenkte Saddam Hussein ein. Am 28. Februar 1990 stellten die USA die Kriegshandlungen ein. Gorbatschow hatte nicht nur den irakischen Außenminister Tarek Aziz mehrmals in Moskau empfangen und den sowjetischen Außenminister Alexander Bessmertnych, Schewardnadses Nachfolger, auf die diplomatische Reise in die Hauptstädte, besonders nach Washington, geschickt, sondern auch Jewgenij Primakow, der mit Saddam Hussein befreundet war, wiederholt in den Irak gesandt, um den Diktator auf diesem Wege zum Einlenken zu bewegen und die sowjetischen Interessen im Irak zu wahren. „Was hatten wir nun als Resultat?“ fragt Gorbatschow und gibt die Antwort: „Ein zweifellos positives Ergebnis war die Wiederherstellung der Souveränität und Unabhängigkeit Kuweits, die Unterbindung der Aggression und die Bestrafung des Aggressors, also gleichsam ein Sieg der Moral in den internationalen Angelegenheiten. Eine grundsätzliche Errungenschaft war sicher auch die Tatsache, dass es Hussein ungeachtet all seiner Anstrengungen nicht gelungen war, die Weltgemeinschaft zu spalten, die sich dem Aggressor bis zuletzt widersetzte.“ Aber um welchen Preis: „Die Bilanz auf der anderen Seite aber waren die zerstörten Gebiete Kuweits und des Iraks, Zehntausende Gefallener und Verwundeter, ein ökologisches Desaster und viele andere entsetzliche Folgen.“ Und er zieht das Fazit: „Hinzu kommt, dass wir in die neue Ära, die als Zeitalter der neuen Weltordnung angekündigt worden war, unter Kanonendonner eintraten – der moralische Sieg war teuer, zu teuer erkauft.“ 923

Gorbatschow, Erinnerungen, S. 782.

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Dennoch sieht er in der Rückschau auch eine positive Wirkung darin, dass die Sowjetunionbei der Organisation einer einheitlichen Reaktion der Weltgemeinschaft auf die irakische Aggression eine fundamentale Rolle gespielt habe. Dies habe auch zu einer Konsolidierung der Rolle der UNO beigetragen. Und: „Die sowjetisch-amerikanische Verständigung, die Partnerschaft und das beiderseitige Vertrauen, die im Verlaufe dieses verschärften Konfliktes auf die erste Probe nach dem Ende des Kalten Krieges gestellt wurden, konnten nicht nur erhalten, sondern weiter ausgebaut werden.“ 924 Durch den Raketenbeschuss auf Israel hatte Saddam Hussein den Irak-Krieg mit der Palästinafrage verbunden. Dass Frieden im Nahen Osten nur nach Lösung dieser Frage eintreten könnte, war sowohl Gorbatschow wie Bush klar, als sie sich in Helsinki am 9. September 1990 trafen. Worin Bush und Gorbatschow nicht übereinstimmten, war das Junktim. Bush plädierte, auch aus Rücksicht auf die Meinung im Kongress, für die harte Linie gegenüber Saddam Hussein. Verhandlungen mit dem Diktator, noch dazu Überlegungen, dass er einen Teil der Beute behalten könnte, lehnte die amerikanische Administration strikt ab. Dagegen kamen Gorbatschows Berater nach intensiver Erörterung der Lage zum Ergebnis, dass gerade jetzt der Zeitpunkt gekommen wäre, die beiden Probleme des Rückzugs von Saddam Hussein aus Kuweit und das Palästina-Problem miteinander zu verbinden und zu lösen. „In anderen Worten“, schreibt Primakow, „müsste man den Charakter des bedingungslosen Rückzugs festschreiben und gleichzeitig erklären, dass dieser Rückzug den Weg für eine Lösung des israelisch-arabischen Konflikts eröffnen würde. Der Denkansatz ging dahin, dass, wenn ihn die USA unterstützen würden, der Schwarze Peter für die Lösung des Palästina-Problems bei Saddam Hussein liegen würde.“ 925 Zwar war es wegen der Hartnäckigkeit des irakischen Diktators nicht gelungen, den Konflikt um Kuweit ohne massiven Einsatz militärischer Mittel zu lösen, aber unmittelbar nach der irakischen Niederlage nutzte der amerikanische Außenminister Baker die Situation, um mit Israel und den arabischen Staaten in einer Friedenskonferenz die Lösung des Palästina-Problems anzugehen. Das war im März 1991. Die sowjetische Bereitschaft dazu war schon im September 1990 von Schewardnadse in Wladiwostok geäußert worden, als er sagte, das Vorgehen zur Bewältigung der Krise sollte ausdrücklich an eine internationale Konferenz zum israelisch-palästinensischen Konflikt gekoppelt werden. Am 31. Juli legten die beiden Außenminister in einem Abkommen fest, dass ihre Länder gemeinsam die Schirmherrschaft einer arabisch-israelischen Friedenskonferenz übernehmen würden, die im Oktober stattfinden sollte. 926 Am Ende, nach fast ununterbrochener Pendel-Diplomatie, luden die USA und die Sowjetunion gemeinsam zur Friedenskonferenz Gorbatschow, Erinnerungen, S. 789f. Primakov. Missions, S. 20f. Unter Boris Jelzin wurde Primakow Ministerpräsident. Er starb hochgeachtet Ende Juni 2015. Sivkova, Alena, Kommunisty prosjat realizovat‘ ėkonomičeskuju programmu Evgenija Primakova.In: Izvestija 3 julja 2015 goda, S. 2. 926 Beschloss, Talbott, Auf höchster Ebene, S. 542. 924 925

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nach Madrid ein. Euphorisch schreibt der amerikanische Außenminister: „Unter den acht riesigen Lüstern des reich verzierten Säulensaales (im königlichen Palast in Madrid – W.G.) versammelten sich am Morgen des 30. Oktober 1991 die Repräsentanten Israels, Syriens, Ägyptens, Jordaniens, des Libanon und der Palästinenser um einen T-förmigen Tisch. Die Eröffnungszeremonie fand unter der Ägide der Präsidenten Bush und Gorbatschow statt, deren überzeugende Reden das Gefühl noch verstärkten, Teilnehmer an einem Drama und Schauspiel ersten Ranges zu sein.“ 927 Und Baker zieht das Fazit: „Nach allen nur denkbaren Messwerten war Madrid ein Riesenerfolg. Doch in Erinnerung bleiben wird vor allem die Tatsache, dass diese Konferenz überhaupt stattgefunden hat. Nach dreiundvierzig Jahren blutiger Konflikte war ein altes Tabu gebrochen und zur Geschichte geworden. Wie die Mauern von Jericho fielen an diesem klaren Herbstmorgen die psychologischen Barrieren, die die Verständigung zwischen Israelis und Arabern ein halbes Jahrhundert verhindert hatten.“ 928 Beschloss und Talbott bewerten diese gemeinsame Nahost-Konferenz, neben dem Durchbruch für die arabisch-israelischen Beziehungen, aber auch „als schlagenden Beweis dafür, dass die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion nun, nach Jahrzehnten der Rivalität und Feindseligkeiten, in praktisch allen Weltgegenden, insbesondere aber im Nahen Osten, zur Zusammenarbeit bereit waren.“ Und: „Die Friedenskonferenz erfüllte das Wort ‚Partnerschaft‘ mit Sinn, das Gorbatschow 1989 in das Vokabular der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen eingeführt und mit dem er viele Amerikaner nicht nur überrascht, sondern auch in Verlegenheit gebracht hatte.“ 929 Leider war Gorbatschows Rolle als Staatspräsident der Sowjetunion durch den August-Putsch und die Quertreibereien Jelzins stark geschwächt, so dass er die Konferenz nicht als das feiern konnte, was sie war, ein Triumph für die Öffnung zum Westen, die mit seinem Namen und den Namen Schewardnadse und Jakowlew verbunden war, mehr noch, sie war ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises hatte Gorbatschow am 5. Juli 1991 in Oslo bereits eine Bestandsaufnahme für seine Politik formuliert: „Wir haben schwere Prüfungen bestanden – die Umwälzungen in Osteuropa, die Lösung der Deutschlandfrage und die hochbrisante Situation während der Golfkrise.“ Dann führte er aus, und es klingt wie ein Vermächtnis: „Der ‚Kalte Krieg‘ ist zu Ende. Die Gefahr eines weltweiten Atomkrieges ist faktisch gebannt. Der ‚Eiserne Vorhang‘ ist verschwunden. Deutschland ist vereint – ein Ereignis, das einen Wendepunkt in der Geschichte Europas darstellt. Auf unserem Kontinent finden wir kein einziges Land, das sich heute nicht vollkommen souve-

Baker, Drei Jahre, S. 504. Baker, Drei Jahre, S. 504. 929 Beschloss, Talbott, Auf höchster Ebene, S. 582. 927 928

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rän und unabhängig fühlt. Die UdSSR und die USA, die beiden atomaren Supermächte, sind von der Konfrontation zum Zusammenwirken und in einigen wichtigen Bereichen sogar zur Partnerschaft übergegangen.“ Hier muss angemerkt werden, dass Gorbatschow auch nach seinem Rücktritt als Präsident dem Gedanken der Errichtung einer neuen Weltordnung treu blieb. Schon 1992 gründete er das „International Green Cross“, dessen Präsident er wurde. Vor dem Umweltgipfel in Rio begann er, gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Erd-Rates, Maurice Strong, eine Erd-Charta auszuarbeiten. Dieses Dokument, dessen sechzehn Grundsätze die Themen Umweltschutz, Menschenrechte, Beseitigung der Armut, Gleichberechtigung der Geschlechter und Erziehung zu einer Kultur des Friedens enthält, wurde am 12. März 2000 in Paris veröffentlicht. Internationale Konferenzen folgten. In seinem Werk „Mein Manifest für die Erde. Jetzt handeln für Frieden, globale Gerechtigkeit und eine ökologische Zukunft“ stellt er die Verbindung zur Perestrojka her: „Als ich die Politik der Glasnost und Perestrojka in der UdSSR ausgerufen hatte, begann die Sowjetgesellschaft zu brodeln, und weniger als fünf Jahre später kam es zu einem radikalen Wandel auf der ganzen Erde. Die Weltkarte änderte sich, genau wie die Wertvorstellungen und die Weltpolitik.“ 930 Die Festveranstaltung des Petersburger Dialogs anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Juristischen Fakultät der Universität Münster am 6. Juli 2005 stand unter dem Motto „Nach 20 Jahren Perestrojka – Wege zu einer neuen Weltordnung“. Dabei wurde nicht nur Gorbatschows Rolle innerhalb des Petersburger Dialogs gewürdigt, sondern auch sein Engagement im „Manifest für die Erde“. Er habe sehr treffend darauf aufmerksam gemacht, „dass die Rechtssysteme der modernen Gesellschaft – unter dem Vorzeichen von Demokratisierung, Rechtsstaat und Menschenrechten betrachtet – im interkulturellen, globalen Zusammenhang kaum mehr sind als Assoziationen diverser Nationalstaaten und ihrer Regierungen. Sie bilden jedenfalls kein globales Universalsystem des Rechts. Sie sind bestenfalls ein System von divergierenden Rechtssystemen in ihren jeweiligen Umwelten.“ Der von Gorbatschow geforderte globale Dialog zwischen den politisch-rechtlichen Systemen und Rechtskulturen erscheint daher nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, um möglichen Konflikten zu begegnen und Fehlentwicklungen in den internationalen und transnationalen Beziehungen zu vermeiden. Und der Laudator zitiert Gorbatschow selbst: „Weitere Fortschritte auf dem Weg zu einer neuen Weltordnung erscheinen möglich, wenn wir anerkennen, dass wir trotz und gerade in der großartigen Vielfalt von Kulturen und Lebensformen eine einzige menschliche Familie sind, eine globale Gemeinschaft mit einem gemeinsamen Schicksal.“ 931 Gorbatschow, Michail, Mein Manifest für die Erde. Jetzt handeln für Frieden, globale Gerechtigkeit und eine ökologische Zukunft. Frankfurt am Main 2003, S. 97f.; Die Erd-Charta, ebd., S. 117-132. 931 Krawietz, Werner, Laudatio auf den zu Promovierenden durch den Direktor des Internationalen Zentrums für Deutsch-Russische Rechtsstudien der Universität Münster. In: Rechtstheorie 40. Band 2009, Heft 2, S. 230f. 930

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5. Widerstände und Putsch Als Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt wurde, hatte er bereits den Widerstand seiner Gegner aus dem Lager des verstorbenen Tschernenko gebrochen. Dabei war es nicht nur um die Bewahrung der Machtpositionen gegangen, sondern auch, so wurde erwartet, um weitere systemimmanente Reformen. Auch wenn es Gorbatschow gelang, diese Gegner in relativ kurzer Zeit aus dem Politbüro zu entfernen, blieb doch ihr Umfeld, blieb die Vernetzung erhalten, von denen aus sie, quasi aus der zweiten Reihe, die Reformschritte blockieren konnten. Aber erst, nachdem Gorbatschow mit Jakowlew, Schewardnadse, Medwedjew, anfangs auch Ligatschow, seine Leute ins Politbüro geholt hatte und die ersten Einschnitte ins tradierte administrative System erfolgt waren, mit dem unglücklichen Jelzin auch ein Radikalreformer dem Moskauer Establishment als Parteisekretär vorgesetzt worden war, formierte sich in unterschiedlichsten Kreisen Widerstand. Das betraf besonders den Kompetenzbereich der Wirtschaftsverwaltung, die, wo sie nur konnte, die Ansätze zur Eigenverantwortung der Betriebe hintertrieb, die Umwandlung der Eigentumsformen behinderte, schließlich die Versorgung der Städte mit Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern einschränkte. Mit den außen- und sicherheitspolitischen Veränderungen, mit der Öffnung der Archive erfasste immer größere Teile der Bevölkerung das Bewusstsein, sich in einer fundamentalen Umbruchsituation, wenn nicht sogar in einer Staatskrise zu befinden. Durch den Aufbau demokratischer Einrichtungen, der Organe der Selbstverwaltung, die den Einfluss der KPdSU auf die Gesellschaft einschränkten, konnten andererseits auch große Teile der Bevölkerung, insbesondere der Intelligenz, für die Perestrojka gewonnen werden. Es gab sogar Kritik an zu zögerlich durchgeführten Reformen. Waren es ab 1985 vor allem die Stalinisten, die ihre Positionen Breschnew verdankten, denen der Weg der Kritik an der Vergangenheit der UdSSR nicht gefiel, dann die orthodoxen Marxisten-Leninisten, denen die Neuinterpretation der Geschichte missfiel, die die welthistorische Bedeutung der Oktoberrevolution relativierte, schließlich die Anhänger des Großmachtdenkens der Etatisten, die Vertreter des starken Staates, der russischen nationalen Identität, auch der Identität des „Sowjetvolkes“, verbunden mit der Kritik an der Einführung „westlicher Werte“, geboren aus Bürgerkrieg und „Großem Vaterländischem Krieg“, so wurden diese wenige Jahre später abgelöst durch nationale Separatisten, Fetischisten des freien Marktes, Forderungen nach Beschleunigung des Umbaus, massiver Kritik am Stalinismus und der Verzögerung bei dessen Aufarbeitung. Schewardnadse schreibt, schon im Jahr 1988, als er noch selbst dem Politbüro angehörte, begannen Aufstände in Moldawien, Abchasien und Südossetien, als hätten sie auf einmal den Befehl erhalten, den Aufstand zu beginnen. Einige Anführer der Aufständischen, Mitglieder der Fraktion „Sojus“ im Obersten Sowjet der Sowjetunion, seien von Moskau gesteuert worden. Als es 1992 zum Krieg zwischen Abchasien und Georgien gekommen war, wurde die Beteiligung Moskaus deutlich. Ganz unverblümt offenbarte einer der beteiligten Feldkommandeure gegenüber

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einem Korrespondenten der „Iswestija“: „Ich wurde von der Nationalistischen Partei Russlands nach Abchasien geschickt. Die Partei engagiert sich aktiv nicht nur auf verschiedenen Territorien, sondern auch in der russischen Armee, im Innenministerium, im Geheimdienst. Wir streben die Macht in Russland an. Wir verstehen sehr wohl, dass Russland an der Schwelle großer Umwälzungen steht und dass der Bürgerkrieg noch in diesem Jahr beginnen kann. Darum gründen wir neue Kampfeinheiten, erwerben Kriegserfahrung, und wenn die Zeit kommt, wird unsere Partei die einzige sein, die Kenntnisse von einer Bürgerkriegsführung haben wird. Wir beschützen die Slawen überall dort, wo ihnen Gefahr droht.“ 932 Mit dem Abbau der Überrüstung, dem Verlust des Vorfeldes der sowjetischen Bruderländer, d. h. des cordon sanitaire, dem schmählichen Rückzug aus Afghanistan sowie dem Verzicht auf den Export der Revolution setzte allmählich Ernüchterung ein, Verlust-Erfahrung machte Platz für die Besinnung auf die alte Weltmachtrolle der Sowjetunion. Hatten die Politbüromitglieder Ligatschow und Ryschkow die Perestrojka Gorbatschows noch unterstützt aus Einsicht in die Notwendigkeit, die stagnierende Wirtschaftsmaschine wieder in Schwung zu bringen, dafür auch die Rüstungsausgaben zu senken, schlug diese Position ins Gegenteil um, als sie erkannten, dass Gorbatschow das sozialistische System, insbesondere die Herrschaft der KPdSU über den Staat, beseitigen wollte. So sagte Ryschkow am 19. Dezember 1990 auf dem IV. Kongress der Volksdeputierten, als einer der Initiatoren der Perestrojka müsse er leider sagen, dass sie in der Art, wie sie gedacht war, nicht gelungen sei. Er führte aus: „Im Jahr 1985 beschlossen wir die Perestrojka, ihr Inhalt und Ziel sollten die Erneuerung des Sozialismus und die Überwindung seiner Deformationen sein. Aber unter dem Einfluss destruktiver Kräfte, von denen viele (wie jetzt ganz offensichtlich ist)auf eine grundlegende Veränderung des Gesellschaftssystems aus sind, hielt die Perestrojka nicht stand. Dies geschah unter Ablehnung der sozialistischen Ideologie, aber was danach kam, war die Ablösung einer Ideologie durch eine andere. … Wir schafften es nicht (ich weiß nicht, ob wir es überhaupt hätten schaffen können), gleichzeitig die Reformen zu vertiefen und die Priorität der Ökonomie über die Ideologie und die Politik zu erreichen. So ist nun einmal die Gesellschaft, in der wir leben. Man konnte sie beliebig kritisieren und verspotten, aber außerhalb ihrer Gesetze konnte man nicht in ihr leben, man konnte sie nicht ändern, ohne ihre Natur, ohne ihr Wesen zu verstehen. Die Priorität der Ideologie vor der Ökonomie – das ist keine Nebensächlichkeit, kein Voluntarismus, keine Dummheit dieses oder jenes Führers. Das ist das Wesensmerkmal des Gesellschaftsmodells, in dem wir bisher lebten, es ist sein Stützpfeiler.“ 933 Es taucht der Vorwurf des Verrats auf. So schreibt Ligatschow, die Wahl Gorbatschows sei ein „verhängnisvoller Fehler“ gewesen. 934 Gorbatschow habe die Schewardnadse, Als der eiserne Vorhang zerriss, S. 343. Ryschkow, Mein Chef Gorbatschow, S. 174ff. 934 Ligatschow, Wer verriet die Sowjetunion? S. 61. 932 933

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Sowjetunion schließlich verraten. Auch Ryschkow gebraucht das Wort „Vaterlandsverräter“, insbesondere, nachdem ihm klar geworden war, dass Gorbatschow die KPdSU liquidieren wollte. Er schreibt: „Aber daran, dass Gorbatschow sich seit langem mit dem Gedanken trug, die kommunistische Partei, die ihn groß gemacht hat, zu beseitigen, kann kein Zweifel bestehen. Er selbst sprach darüber nach dem Jahr 1991. 935 „Dummheit oder Verrat“ betitelt Alexander Ostrowskij seine Kritik an Gorbatschow und dessen Mannschaft und nimmt damit Mijukows Vorwurf an den Zaren vom Dezember 1916 auf. 936 Natürlich hatte Gorbatschow mit Widerständen gerechnet, im Nachhinein aber eingeräumt, dass er sie unterschätzt hatte. Auch räumte er eigene Fehler ein. Schon auf dem Schriftstellerkongress im Juni 1986 hatte Ales Adamowitsch (Belorussland) ein treffendes Bild gemalt: „Die Saporoscher Kosaken konnten seinerzeit ihre Steppenrosse rasch in eine Festung verwandeln – wenn sie ihr Nachtlager aufschlugen, errichteten sie eine Rundumverteidigung gegen Angriffe der Nomaden. Was haben die Bürokraten mit den Saporoscher Kosaken gemeinsam. Gar nichts. Der Vergleich drängt sich aber trotzdem auf. Heute errichten nämlich die Bürokraten eine solche Verteidigung im Handumdrehen gegen die Ideen und Beschlüsse des XXVII. Parteitages und halten ihre Stellungen mit teuflischer Verbissenheit; nur stehen da anstelle von Fuhrwerken Bürotische. In ihrer lückenlosen Linie erkennen wir mühelos auch die Schreibtische unseres Literaturministeriums.“ 937 Schon auf der Festsitzung zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution am 2. November 1987 sprach Gorbatschow die Widerstände gegen seine Perestrojka-Politik an: „Es wäre aber falsch, wollte man übersehen, dass konservative Kräfte, die in der Umgestaltung eine Gefahr für ihre eigennützigen Interessen und Ziele erblicken, ihren Widerstand in gewissem Maße verstärken. Und das geschieht nicht nur in diesen oder jenen Leitungsebenen, sondern auch in Arbeitskollektiven.“ Es bestehe kaum ein Zweifel daran, dass die Kräfte des Konservatismus nichts unterlassen werden, sich jegliche Schwierigkeiten zunutze zu machen, um die Umgestaltung in Misskredit zu bringen und unter den Werktätigen Unzufriedenheit hervorzurufen. Manch einer ziehe es heute schon vor, über Fehler Buch zu führen, anstatt mit hochgekrempelten Ärmeln den Kampf gegen die Mängel aufzunehmen und nach neuen Lösungen zu suchen. Dabei sage selbstverständlich niemand, dass er gegen die Umgestaltung sei. Nein, lieber trete er als Kämpfer gegen ihre Fehler und als Verfechter der ideologischen Grundsätze auf, die angeblich durch die wachsende Aktivität der Massen ins Wanken geraten seien. 938

Ryschkow, Mein Chef Gorbatschow, S. 217. Ostrovskij, Aleksandr, Glupost‘ ili izmena? Rassledovanie gibeli SSSR. Moskva 2011. 937 Ales Adamowitsch (Belorussland), Literatur und Perestrojka. Köln 1987, S. 219. 938 Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung. In: Neues Deutschland vom 03.11.1987, S. 5. 935 936

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Gleichzeitig warnte er vor Ungeduld und Übereifer. Das Schicksal Chruschtschows stand ihm vor Augen, als er sagte, man dürfe keine Etappen überspringen und nicht versuchen, alles auf Anhieb zu tun. Die Umgestaltung führe die Sache der Revolution fort. Und es sei heute äußerst notwendig, die Waffe revolutionärer Ausdauer perfekt zu beherrschen.“ 939 Auch Ligatschow verweist auf Gorbatschows Ängste vor einem Schicksal, wie es Chruschtschow ereilte. „Der Schatten des Oktober-Plenums 1964 mit der Ablösung Chruschtschows hatte sich zweifellos auf das Bewusstsein Gorbatschows gelegt und ihn dazu bewegt, die sogenannte konservative Gefahr für die Perestrojka in den Vordergrund zu rücken und sich auf die radikalen rechten Kräfte zu stützen,“ schreibt er in seinen Memoiren. 940 Unter „rechten Kräften“ versteht Ligatschow aber die Perestrojka-Anhänger. In seinen persönlichen Erinnerungen „Alles zu seiner Zeit“ kommt Gorbatschow auch auf die Widerstände zu sprechen. Es ging um die Wirtschaftsreform im Jahr 1987. „Der Widerstand der Ministerien und Ämter, vor allem der Staatlichen Planungskommission, des Staatskomitees für die materialtechnische Versorgung, des Finanzministeriums und des Regierungsapparates traf sich mit dem der Parteibürokratie. Zwar trat keiner offen gegen die Reformen auf, aber es wurden halbherzige Lösungen vorgeschlagen, die immer ein Hintertürchen für den Rückzug offen ließen.“ Er sah, wie Ryschkow von seinen ehemaligen Kollegen unter Druck gesetzt wurde. Sie rieben ihm ständig unter die Nase, von der Regierung werde eine effiziente Leitung der Volkswirtschaft gefordert und gleichzeitig nehme man ihr die Hebel dafür weg. Das machte ihn manchmal unsicher und inkonsequent. Am 3. April, bei der ersten Beratung der Thesen für die Plenartagung des ZK im Juni 1987, kam es zu einer ersten Auseinandersetzung. „Der Meinungsaustausch dauerte vier Stunden und war absolut offen, schreibt Gorbatschow. „Ryschkow pochte darauf, dass unsere Reformen im Rahmen des Sozialismus blieben. Ich konterte: ‚Die Reformen müssen sich im Rahmen des Sozialismus halten, aber nicht in dem Rahmen, der die Gesellschaft fesselt und die Initiative der Menschen erstickt.‘ … Die Differenzen wurden von Sitzung zu Sitzung größer. Und als die Rede auf die Eingriffe in die Arbeit der Regierung, der Republikorgane, Ministerien und Ämter kam, erreichte die Polemik ihren Höhepunkt. Vehement verteidigte Ryschkow die Interessen der Führung des Staatsapparats. Auf die Frage, welche Funktionen die Ministerien unter den neuen Bedingungen aus der Hand zu geben bereit seien, antwortete er: ‚Keine.‘“ 941 Den Höhepunkt des Widerstandes und eine Vorahnung auf den Putsch drei Jahre später bildet der Brief der Chemiedozentin Nina Andrejewa aus Leningrad in der Zeitung „Sowjetskaja Prawda“ vom 13. März 1988: „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben.“ Gorbatschow, Der Oktober und die Umgestaltung. In: Neues Deutschland 3.11.1987, S. 6. Ligatschow, Jegor, Wer verriet die Sowjetunion? Berlin 2012, S. 141. 941 Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 420f. 939 940

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„Ich habe mich zu diesem Brief erst nach längerem Überlegen entschlossen. Ich bin Chemikerin und lehre am Leningrader Technologischen Institut „Lensowjet“. Wie viele andere betreue ich eine Seminargruppe. Die Studenten nehmen jetzt, nach der Periode gesellschaftlicher Apathie und geistiger Unselbständigkeit, intensiv die Energie der revolutionären Veränderungen auf. Natürlich entwickeln sich Diskussionen über die Wege der Umgestaltung und über deren ökonomische und ideologische Aspekte. Transparenz, Offenheit, das Verschwinden von Tabuzonen für Kritik und die gewachsene Emotionalität im Bewusstsein der Öffentlichkeit und besonders unter der Jugend äußern sich nicht selten auch darin, dass Probleme aufgeworfen werden, die ihnen in dem einen oder anderen Maße von westlichen Sendern oder von denjenigen unserer Landsleute ‚vorgegeben‘ werden, die keinen gefestigten Standpunkt zum Wesen des Sozialismus haben. Worüber wird nicht alles geredet! Über Mehrparteiensystem, Freiheit der Religionspropaganda, Übersiedlung ins Ausland, Recht auf ausgiebige Erörterung sexueller Fragen in der Presse, Notwendigkeit einer Dezentralisierung der Leitung der Kultur, Abschaffung der Wehrpflicht etc. Besonders viele Dispute gibt es unter den Studenten über die Vergangenheit unseres Landes. … Wieder und wieder lese ich die Artikel, die in aller Munde sind, und ich frage mich: Was außer Desorientierung können zum Beispiel die Offenbarungen über die ‚Konterrevolution in der UdSSR in den 30er Jahren‘ oder über die ‚Schuld‘ Stalins an der Machtergreifung des Faschismus und Hitlers in Deutschland für die Jugend bringen? Oder die öffentliche ‚Zählung‘ der ‚Stalinisten‘ unter den Angehörigen der verschiedenen Generationen und sozialen Gruppen. … Nehmen wir den Platz J. W. Stalins in der Geschichte unseres Landes. … In den Begriff ‚Personenkult‘ werden mit Gewalt auch die Industrialisierung, die Kollektivierung und die kulturelle Revolution hineingezwängt, die unser Land eine Weltmacht werden ließen. Jetzt wird das alles in Zweifel gezogen. Es ist so weit gekommen, dass von den ‚Stalinisten‘ (und zu ihnen kann man zählen, wen man will) ‚Reue’ verlangt wird. Ich teile den Zorn und die Empörung aller sowjetischen Menschen über die von der damaligen Partei- und Staatsführung verschuldeten Massenrepressalien der 30er Jahre und 40er Jahre. Aber mein gesunder Menschenverstand wehrt sich energisch gegen die einseitige Darstellung jener widerspruchsvollen Ereignisse, die jetzt in manchen unserer Presseorgane überhand nehmen. … Aus langen, offenen Gesprächen mit jungen Leuten ziehen wir den Schluss, dass alle Angriffe auf den Staat der Diktatur des Proletariats und die damaligen führenden Personen unseres Landes nicht nur politische, ideologische und ethische Ursachen, sondern auch sozialen Nährboden haben. Es gibt nicht wenige, die Interesse daran haben, den Brückenkopf für diese Attacken zu vergrößern, und zwar nicht nur jenseits unserer Grenzen. … Viele der jetzigen Diskussionen drehen sich, wie ich es sehe, um die Frage, welche Klasse oder Schicht der Gesellschaft bei uns die führende und mobilisierende Kraft der Umgestaltung ist. Prochanow 942 ging davon aus, dass das Spezifische im heutigen Zustand des gesellschaftlichen Prochanow, Alexander Andrejewitsch (geb. 1938), Schriftsteller, Journalist, Reformgegner. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 1203. 942

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Bewusstseins das Vorhandensein von zwei ideologischen Strömungen sei, zweier ‚alternativer Türme‘, wie er es nennt, die von zwei Richtungen aus versuchen, den ‚in Kämpfen erbauten Sozialismus‘ in unserem Land zu überwinden. Die erste und auch größere dieser ideologischen Strömungen, die sich im Verlauf der Umgestaltung schon hervorgetan hat, verficht das Modell einer Art von linksliberalem Intelligenzlersozialismus, der Träger des reinsten und von Klassenschichtung ‚freien‘ Humanismus sei. Seine Anhänger stellen dem proletarischen Kollektivismus den ‚Selbstwert der Persönlichkeit‘ entgegen – mit modernistischen Etüden in der Kultur, Tendenzen von Gottessucherei, technokratischen Idolen, dem Anpreisen der ‚demokratischen‘ Attraktionen des modernen Kapitalismus und Kniefällen vor seinen wirklichen und seinen angeblichen Erfolgen. … Gerade die Anhänger des ‚linksliberalen Sozialismus‘ entwickeln die Tendenz der Fälschung der Geschichte des Sozialismus. Sie wollen uns einreden, dass in der Vergangenheit unseres Landes nur die Fehler und Verbrechen Realität sind, und verschweigen dabei die großartigen Errungenschaften der Vergangenheit und Gegenwart. Während sich die ‚Neoliberalen‘ auf den Westen orientieren, ist ein anderer ‚alternativer Turm‘, um bei Prochanow zu bleiben, die ‚Beschützer und Traditionalisten‘ bestrebt, ‚den Sozialismus durch Rückwärtsbewegungen zu überwinden‘. Anders ausgedrückt, man will zu den gesellschaftlichen Formen des vorsozialistischen Russlands zurückkehren. Die Erziehung der Jugend ist auch deshalb komplizierter geworden, weil im Fahrwasser der Ideen der ‚Neoliberalen‘ und ‚Neoslawophilen‘ informelle Organisationen und Vereinigungen gegründet werden. Es kommt vor, dass in deren Führung extremistische, zu Provokationen fähige Elemente die Oberhand gewinnen. In letzter Zeit ist eine Politisierung dieser informellen Organisationen zu beobachten, die auf einem bei weitem nicht sozialistischen Pluralismus fußt. Dies alles erlaubt meiner Meinung nach den Schluss, dass die Hauptfrage unserer gegenwärtigen Diskussionen darauf hinausläuft, ob man die führende Rolle der Partei und der Arbeiterklasse beim sozialistischen Aufbau, also auch bei der Umgestaltung, anerkennt oder nicht anerkennt.“ 943 Die Folge war die Politbürositzung vom 24. und 25. März 1988 über diesen Brief. Dabei kam es zu heftigen Diskussionen, die erahnen ließen, wie stark innerhalb des Politbüros der Graben zwischen den Verteidigern der Perestrojka und den Gegnern schon geworden war. So sieht Jakowlew im Artikel die verzweifelte Sehnsucht nach einem Führer anklingen, die sich mit dem faktischen Versuch der Revision der Ideen der letzten Zeit verbinde. Perestrojka habe noch lange nicht Fuß gefasst – weder im Bewusstsein und noch viel weniger im alltäglichen Leben. Dagegen äußert sich KGB-Chef Tschebrikow. Glasnost sei allen teuer zu stehen gekommen. Einigen sei ganz wirr im Kopf geworden. Außerdem gebe es Staatsgeheimnisse, die unter Verschluss gehalten werden müssten. „Noch ein paar Worte zu der Beurteilung Stalins, wie im Vortrag zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution zum Ausdruck gekommen sind. Ich kann nicht vergessen, dass wir Frontsoldaten mit der Devise ‚Für Stalin und das Vaterland‘ in den Kampf gezogen sind.“ 943

Sovjetskaja Rossija vom 13.03.1988, nachgedruckt in: Sowjetunion heute Nr. 5/1988, S. 17.

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Medwedjew: „Der Artikel von Nina Andrejewa richtet sich nicht gegen die Gehässigkeit, er spekuliert mit ihr. In Wahrheit ist er gegen die Perestrojka gerichtet. Der Aufsatz in der Zeitung ‚Sowjetskaja Rossija‘ stellt eine strenge Interpretation der Position der dogmatischen und konservativen Kräfte dar, die ein kritisches Verhältnis zur Perestrojka haben.“ Dann spricht Gorbatschow an, dass dieser Artikel als Richtschnur ausgegeben wurde und empfohlen wurde, ihn in anderen Zeitungen abzudrucken und zu studieren. In den Streitkräften habe man schon damit angefangen. (Auch Erich Honecker ließ ihn im „Neuen Deutschland abdrucken!) 944 Dann kritisiert Gorbatschow auch Lenin. Es zeige sich heute, dass die Lehren Lenins nicht mehr ganz zeitgemäß seien. Er hat aus dem einen Ereignis, dem Subbotnik auf dem Moskauer Waggondepot, Schlüsse gezogen, die heute noch gültig sind und von denen auch wir noch profitieren können. Aber wir sind heute auch mit vielen Ereignissen und Erscheinungen konfrontiert, aus denen wir nicht mehr allgemeingültige Schlussfolgerungen ableiten können.“ Schließlich Lukjanow: „Wir haben diese Perestrojka nach vielen Mühen beschlossen und nicht nur einfach ausgedacht. Auch die folgende Frage ist richtig gestellt: Wie können wir die Aufgaben der Perestrojka erfüllen? Es gab in der Vergangenheit viele aufrichtige Versuche, aber sie endeten in halbherzigen Maßnahmen und unzureichenden Ergebnissen. Es ging voran, aber es gab keine vorzeigbaren Ergebnisse. Warum? Weil eine Sache angefangen, die andere verschleppt wurde, und, was am wichtigsten ist, weil man das Volk nicht in diese Prozesse mit einbezogen hat. Erfolge werden sich nur dann einstellen, wenn das geistige Klima sich verbessert und sich Glasnost und ein demokratischer Prozess entfalten können. … Man sieht doch, wie der Apparat sich jetzt dagegenstellt, wie ungern er sich von seinen Rechten trennt sowohl in den Ministerien als auch auf anderen Verwaltungsebenen. Das demokratische System wird diese Kader schon auf den Weg der Perestrojka bringen.“ 945 Ligatschow kommentiert bitter: „Man hatte die politischen Akzente verschoben. Zur Hauptgefahr für die Perestrojka wurde der Konservatismus erklärt. Antikommunismus, Separatismus und Nationalismus hingegen bekamen freie Fahrt.“ 946 Die Antwort der „Prawda“ vom 5. April 1988 lautet: „Anscheinend verstehen bei uns bei weitem noch nicht alle die Dramatik der Situation, mit der unser Land bis April 1985 konfrontiert war und die wir zu Recht als vorkrisenhafte Situation bezeichnen. Anscheinend sind sich auch noch nicht alle vollkommen darüber im Klaren, dass die administrativen Kommandomethoden überlebt sind. Alle, die noch Hoffnungen in diese Methoden oder deren Modifizierung setzen, sollten endlich verstehen, dass es dies alles bereits schon einmal gab, wiederholt gab, und

„Sovetskaja Rossija“: „Ich kann meine Prinzipien nicht preisgeben“. Brief der Leningrader Dozentin Nina Andrejewa, in: Neues Deutschland 2./3. April 1988, S. 11f.; die Antwort des Politbüros der KPdSU erschien in: Neues Deutschland 9./10. April 1988, S. 11f. 945 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 253ff. 946 Ligatschow, Wer verriet, S. 175. 944

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nicht die gewünschten Ergebnisse erbrachte. Die Vorstellung, dass diese Methoden einfach und wirksam wären, ist nichts weiter als eine Illusion, die keine historische Rechtfertigung besitzt. Wie also sollte man den Sozialismus ‚retten‘? Etwa durch Beibehaltung autoritärer Methoden sowie der Praxis der bedingungslosen Ausführung von Anordnungen und der Unterdrückung von Initiativen? Durch die Aufrechterhaltung einer Ordnung, in der Bürokratie, fehlende Kontrolle, Korruption und kleinbürgerliche Auswüchse üppig aufblühten? Oder durch die Rückkehr zu den Leninschen Prinzipien, deren Kernpunkte Demokratie, soziale Gerechtigkeit, wirtschaftliche Rechnungsführung sowie Achtung gegenüber dem Ansehen, dem Leben und der Würde der Persönlichkeit sind? Haben wir das Recht, angesichts der realen Schwierigkeiten und der unbefriedigten Bedürfnisse des Volkes, an jenen Verfahrensweisen festzuhalten, die in den dreißiger und vierziger Jahren gang und gäbe waren? Ist es nicht an der Zeit, eine klare Unterscheidung zwischen dem Wesen des Sozialismus und den historisch begrenzten Formen seiner Verwirklichung zu treffen? Ist es nicht an der Zeit, sich vom wissenschaftlich-kritischen Standpunkt aus unserer Geschichte zu nähern, vor allem deshalb, um die Welt zu verändern, in der wir leben, und ernsthafte Lehren für die Zukunft zu ziehen? Der erste Weg wird praktisch von der Veröffentlichung in ‚Sowjetskaja Rossija‘ verfochten. Den zweiten Weg diktiert das Leben, das auch die Umgestaltung gefordert hat. Gerade unsere ideologischen Gegner setzen doch ihre Hoffnungen darauf, das Wesen des Sozialismus mit dem alten Denken, mit den autoritären Methoden und mit dem Abweichen von den Prinzipien des Sozialismus gleichzusetzen. Und liegt nicht deutlich auf der Hand, dass auch hier die Positionen der hausgemachten ‚Sozialismus-Klageweiber‘ mit den Positionen der ausländischen Gegner zusammentreffen? Setzen wir denn nicht dadurch, dass wir die Werte, Ideale und Prinzipien des Sozialismus vom Rost der Bürokratie befreien und alles Unmenschliche ausmerzen, gleichzeitig die besten, schöpferischen Kräfte zum Kampf für den Sozialismus, für unsere Werte und unsere Ideale frei? Ist nicht dieser Kampf gegen das konservative Denken, gegen den Dogmatismus ein Kampf für diese Ideale, gegen deren Entstellung, und gleichzeitig auch gegen die ideologische Prinzipienlosigkeit und den Nihilismus?“ 947 Bei einer Beratung mit den Ersten Sekretären eine Woche später gestand J. W. Petrow aus Swerdlowsk gegenüber Gorbatschow, dass ihm Andrejewas Artikel gefallen habe und er ihn habe in der Gebietszeitung nachdrucken lassen. Es sei genug über die Vergangenheit geredet worden, worauf ihm Gorbatschow antwortete: „Dass wir früher nicht genau wussten, was sich in der Vergangenheit abgespielt hat, ist das eine. Seitdem wir es aber wissen, kann es über diese Dinge keine zwei Meinungen mehr geben, und das ist das andere. Stalin ist ein Verbrecher, ein Mann ohne einen Funken Moral. Ich werde es euch sagen: Eine Million Aktivisten der Partei hat er erschießen lassen, drei Millionen in die Lager gesteckt. Und bei all dem ist die Kollektivierung, die weitere Millionen betroffen hat, noch nicht einmal 947

Pravda vom 05.04.1988, nachgedruckt in: Sowjetunion heute 5/1988, S. 25.

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berücksichtigt. Nina Andrejewa rät uns, wenn man den sachlichen Kern ihres Aufsatzes ernst nimmt, zu einem neuen Jahr 1937. Wollt ihr das? Wir müssen uns Gedanken über das Schicksal unseres Landes machen. Für den Sozialismus? Ja! Doch für was für einen Sozialismus? Einen Sozialismus wie unter Stalin brauchen wir nicht.“ 948 Gerade Schewardnadse und Jakowlew, die stärksten Stützen Gorbatschows, wurden gezielt angegriffen. Zornig schreibt Schewardnadse über diese Zeit: „Hatte der Oberste Sowjet der UdSSR mich noch im Sommer 1989 ohne eine einzige Gegenstimme im Amt des Außenministers bestätigt, so beschuldigten mich bereits am 15. Oktober 1990 einige Abgeordnete, den Sicherheitsinteressen unseres Landes Schaden zugefügt zu haben.“ Und er kommt zur Sache: „Solange das neue Denken alte Hindernisse in den Beziehungen mit dem Westen aus dem Wege räumte, solange fand man sich damit irgendwie ab. Zwar wurden einige Ideen schon in der Anfangsetappe von manchen höchsten Autoritäten unserer Ideologie des Marxismus-Leninismus angefochten, doch insgesamt traute sich niemand, dieses neue Denken offen abzulehnen oder anzugreifen. Warum auch – es musste doch scheinbar jedem klar sein: Die Perestrojka ist in ihren Bestrebungen universal, sie kann sich nicht nach zweierlei Standards richten. Wer die Demokratisierung des eigenen Landes in Angriff nimmt, der darf diesen Prozess in anderen Ländern nicht behindern. Und umgekehrt: Wer die ‚Panzerphilosophie‘ in den Beziehungen zu den Partnerländern ablehnt, der darf auch im Hinblick auf das eigene Land nicht in diesen Kategorien denken. Das alles leuchtet ein. Doch kaum hatte das neue Denken die alten Grundfesten innerhalb der Sowjetunion berührt und auf die traditionellen Herrschaftssphären außerhalb ihrer Grenzen hinübergegriffen, änderte sich die Situation schlagartig.“ Dann trifft er den Nagel auf den Kopf: „Es begann, als Artikel sechs der Verfassung der UdSSR abgeschafft werden sollte – jener Artikel über die ‚führende und lenkende Kraft‘ der Kommunistischen Partei im Leben des Staates. Schon am Anfang der Diskussionen stieß diese Maßnahme auf Widerstand. Die Gruppen, die ihre einstige Macht einbüßten, schlossen sich zusammen. Eiligst malten sie ein neues Feindbild … Gegen das neue politische Denken wurden schwere Vorwürfe erhoben: Separatismus der sowjetischen Republiken, nationale Kollisionen, Verlust des ‚Cordon sanitaire‘, das heißt der Länder Osteuropas, Zerfall des sozialistischen Lagers, Vereinigung Deutschlands, Zugeständnisse an den Westen. Als Hauptziel für die Angriffe wurde die Außenpolitik auserkoren, genauer: das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten. Um es genau zu formulieren: der Minister, also ich.“ 949 Bitter vermerkt er, wie die Militärs ausgehandelte Rüstungskontrollvereinbarungen hinter seinem Rücken konterkarierten. Am Dezember 1990 trat er zurück und warnte vor der Gefahr einer Militärdiktatur. Über Widerstände aus dem militärisch-industriellen Komplex berichtet auch Gorbatschow. 950 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 377. Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 15ff. 950 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 598. 948 949

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Alexander Jakowlew datiert den Beginn des aktiven Widerstandes gegen die Perestrojka auf den Januar 1989: „Auf dem Plenum im Januar 1989 wurde die Umgestaltung des politischen Systems diskutiert. Erst zu jenem Zeitpunkt begriff der Apparat wirklich, dass für ihn von der Politik der Perestrojka direkte Gefahr ausging. Von da ab begann der Widerstand, von da ab konstituierte sich eine aktive Opposition. Es wurde lauthals geschrien, die Protagonisten der Perestrojka arbeiteten auf die Beseitigung des Sozialismus, den Verlust der Ideale und die Beendigung des Machtmonopols der Partei hin. Nachdem man die Bedrohung begriffen hatte, wurde auch auf ideologischem Gebiet mit einer Flut von demagogischen, verleumderischen und pharisäerhaften Reden der Kampf gegen die Perestrojka eröffnet.“ 951 Modrow berichtet von einem Gespräch mit Jakowlew am 17. und 18. Dezember 1989 in Berlin. Dieser habe eingeräumt, sei es ein Fehler gewesen, Wirtschaftsreform und politische Reform nicht parallel begonnen und realisiert zu haben. Von allgemeinen Appellen abgesehen, sei die eigentliche Umgestaltung erst auf dem Januar-Plenum 1987 begonnen worden. Zwischen April 1985 und Dezember 1986 habe es keine Reform der Wirtschaft in der Sowjetunion gegeben. Die in jener Zeit gefassten Beschlüsse über die größere Selbständigkeit der Unternehmen haben sich letztlich auf kosmetische Korrekturen, wie die Wahl von Betriebsdirektoren beschränkt. Weder seien das zentralistisch-bürokratische System eingeschränkt noch den Betrieben die notwendigen Rechte in Bezug auf Planung, Produktion, Akkumulation und Konsumtion zugestanden worden. Der Zugang zu den Außenmärkten bliebe ihnen praktisch weiter verwehrt, das Außenhandelsmonopol des Staates bestünde bis auf wenige Einschränkungen unverändert fort. Das müsse sich ändern. 952 Und Alexander Jakowlew zog für sich die Konsequenz und trat zurück. 953 Als Schewardnadse im Januar 1991 in der Prawda ein Kurzstenogramm über das Vereinigte Plenum des ZK der KPdSU und die Zentrale Kontrollkommission der KPdSU in Moskau las, an dem er wegen Krankheit nicht teilnehmen konnte, beschloss er an seinem Buch weiterzuarbeiten, um jenen eine Antwort zu erteilen, die aus den Schützengräben hervorgekrochen waren, um der Reaktion das Signal zum Angriff zu geben und eine offene Abkehr von der Politik des neuen Denkens, von seinen Leistungen und Errungenschaften verlangten. Die alte These vom Vorrang der Klasseninteressen gegenüber den allgemeinmenschlichen Werten erlebte ihre Wiederauferstehung. Die Rede von jenen Werten hätte der ‚sozialistischen Idee einen schlechten Dienst erwiesen‘. Rückgängig gemacht sollte die Entideologisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen. Das alte Vokabular, die ‚Ideen‘ aus

Jakowlew, Alexander, Offener Schluß, S. 78. Modrow, Hans, Die Perestroika wie ich sie sehe.. Persönliche Erinnerungen und Analysen eines Jahrzehnts, das die Welt veränderte. Berlin 1998, S.130f. 953 Jakowlew, Alexander, Offener Schluß. Ein Reformer zieht Bilanz. Leipzig und Weimar 1992, S. 145. 951 952

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der Zeit der unversöhnlichen Konfrontation der ‚beiden Systeme’ sollten restauriert werden – „mit anderen Worten, es drohte ein Rückfall in jene Weltanschauungen, die verantwortlich dafür waren, dass in der Welt eine permanente Gefahr der militärischen Konfrontation existierte und die das Land von anderen Nationen isolierten und uns zu Sitzenbleibern der Geschichte verdammten.“ 954 Arbatow kommt auf die Verlusterfahrung zu sprechen: „Zum ersten Mal seit Beginn der Perestrojka ergab sich eine offene politische Opposition gegen Gorbatschow, und zwar aufgrund des rapiden, dominoartigen Zusammenbruchs der sozialistischen Staatengemeinschaft. Konservative Parteifunktionäre, Teile des Militärs und ein Teil des KGB schlossen sich dieser erstarkten Opposition an. Und als der Kollaps des Reiches die baltischen Staaten ergriff sowie Moldawien und die Länder im Kaukasus, gewann diese Opposition unter den Extremisten in der russischsprechenden Bevölkerung in diesen Gegenden breite Unterstützung.“ Die Sünde sieht er aber im sowjetischen Vorgehen 1968:„Die psychologischen und politischen Voraussetzungen für den Putsch vom August 1991 gehen auf das tschechoslowakische Abenteuer von 1968 zurück. Eine imperiale Außenpolitik verbindet sich immer mit einer konservativen, sogar reaktionären Innenpolitik.“ 955 Nach dem Putsch interviewte die französische Journalistin Lilly Marcou Jakowlew in Moskau und fragte: „Im Dezember 1990 machte Gorbatschow eine Wende nach rechts. Konservative wurden auf Schlüsselposten berufen; Eduard Schewardnadse erklärte seinen Rücktritt und warnte vor einer drohenden Diktatur. Warum diese Abkehr von den Zielen der Perestrojka?“ Alexander Jakowlew antwortete, all das habe nicht erst im Dezember, sondern bereits im September 1990 begonnen, als das von Schatalin und Jawlinskij vorgestellte Wirtschaftsprogramm der 500 Tage abgelehnt wurde. Bereits zu diesem Zeitpunkt habe sich der Einfluss des Militärs, des KGB, des Ministeriums des Innern und des Parteiapparates deutlich gezeigt. Seiner Meinung nach starteten sie damals eine Reihe von Aktionen, um den Präsidenten in eine bestimme Richtung zu drängen. Ihre Taktik bestand darin, ihm Angst zu machen. Sie sagten ihm, die demokratischen Reformer wollten die Macht übernehmen, um das Land an den Westen zu verkaufen, die Marktwirtschaft sei nicht populär und das Volk sei unglücklich. Sie setzten alle möglichen üblen Gerüchte in Umlauf und starteten mit Unterstützung ihrer Institutionen – Armee, KGB, Partei – eine gemeinsame Propagandakampagne gegen die demokratischen Kräfte. Dann spricht er wohl den entscheidenden Fehler Gorbatschows an: „In dieser Situation griff Gorbatschow zu einem taktischen Manöver und stützte sich vorübergehend auf die rechten Kräfte in der Absicht und Hoffnung, die Wirtschaftssituation zu verbessern und das Land politisch zu stabilisieren. Ich bin sicher, dass das ein grober politischer Fehler war. Es war ein objektiver Fehler, denn die Perestrojka ist ihrem Wesen nach eine linke revolutionäre Bewegung. Nun kann man 954 955

Schewardnadse, Die Zukunft gehört der Freiheit, S. 25f. Arbatow, Das System, S. 157.

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aber keine linke Politik mit reaktionären Kräften machen und nicht ‚die Ausschweifung mit dem Gebet vereinbaren‘, wie ein altes russisches Sprichwort sagt.“ Die Folgen stellten sich schnell ein: „Nachdem die Konservativen die Macht wieder übernommen hatten“, sagt Jakowlew, „gaben sie Gorbatschow sehr schnell zu verstehen, dass sie ihn nicht mehr brauchten. Die Gruppe Sojus verlangte, dass er seines Amtes als Präsident enthoben wird, und auf dem April-Plenum wurde ihm vorgeschlagen, von seinem Posten als Generalsekretär der Partei zurückzutreten. Da wurde Gorbatschow mit aller Deutlichkeit bewusst, dass sein Platz nur in den Reihen der Linken sein kann.“ Noch einmal versuchte Gorbatschow, das Blatt zu wenden. „In diesem Geist fand das Juli-Plenum statt, auf dem ein sozialdemokratischer Gesellschaftsentwurf angenommen wurde. Obwohl auch die Konservativen dafür stimmten, begannen sie von da an mit der Vorbereitung des Putsches. Gewaltsam sollte eine Entwicklung beendet werden, die ihnen völlig aus den Händen geglitten war.“ 956 Auf dem Plenum des Zentralkomitees vom 25./26. Juli 1991 hatte Gorbatschow ein neues politisches Programm vorgestellt, das die Umwandlung der Kommunistischen Partei in eine „Partei des demokratischen und menschlichen Sozialismus und ihre Absage an den Klassenkampf zum Inhalt hatte. 957 Später erfuhr Gorbatschow, dass der Putsch schon früher geplant war, etwa im Frühjahr 1991. Da gab es Gespräche mit Jelzin über eine Ablösung Gorbatschows, die dieser aber ablehnte. Die Reformunfähigkeit sieht Jakowlew als systemimmanent an, denn Lenin und Stalin hatten auf den Ruinen der Leibeigenschaft und der unvollendeten industriellen Revolution ein einzigartiges System der Lüge und der Gewalt geschaffen – einzigartig deshalb, weil es organisch sämtliche Anschläge auf sein Fundament abwehrte, und das sogar dann, wenn die ‚Führer‘ selbst Versuche unternahmen, den Lauf der Dinge ein wenig zu verändern. „Nikita Chruschtschow erhob die Hand gegen Iosif Dschugaschwili und dessen repressive Politik, doch das System kam rasch zu sich und reagierte mit neuer Gewalt: der Verfolgung von Dissidenten, den Aggressionen gegen Osteuropa und der Erschießung der Arbeiter während der Hungerdemonstration von Nowotscherkassk im Jahre 1962; Alexej Kosygin bemühte sich, dynamische Elemente in die Wirtschaft einzuführen, aber das System sperrte sich gegen jegliche Neuerung und antwortete, nachdem es an die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkeit gestoßen war, mit Stagnation. Michail Gorbatschow beschritt den Weg praktischer Reformen, doch das System widersetzt sich heute und klammert sich an jede Möglichkeit der Wiedergeburt.“ 958 Widerstände gab es auch in den anderen sozialistischen Staaten. Schon bisher hatte es Seilschaften gegeben von Konservativen quer durch die sozialistischen Staaten ebenso wie Leute, die Systemveränderungen oder zumindest Verbesserun-

Jakowlew, Offener Schluß, S. 138f. Jakowlew, Offener Schluß, S. 167, Anm. 77; Gorbatschow sprach von seiner eigenen „Sozialdemokratisierung“. Creuzberger, S. 17. 958 Jakowlew, Der Bolschewismus, S. 201f. 956 957

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gen anstrebten. Beide Lager entwickelten in der Perestrojka-Zeit eine rege Besuchstätigkeit. So war Ligatschow in Ost-Berlin, Honecker bei Ceauşescu usw. Der ehemalige bulgarische Staats- und Parteichef Schiwkow hatte bereits Mitte 1987 Schritte eingeleitet, um dem drohenden Kollaps seines Systems zu entgehen: „Es war abzusehen, dass ‚Gorbatschow nichts anderes betreiben würde als die völlige Aufgabe der Positionen, die Liquidierung des Sozialismus. … Kádár, Husák und Honecker waren einverstanden, dass man etwas tun muss. Im Gespräch waren sie sich einig, als es jedoch zum Handeln kommen sollte, haben dies alle vermieden. Sie haben sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen.“ 959 Doch Schiwkows späte Äußerungen sind mit Vorsicht zu genießen, war er doch stets ein treuer Verbündeter der Sowjetunion, auch von ihr abhängig, auch wechselte er oft die Meinung, so dass man ihm alles anderer als Gradlinigkeit vorwerfen kann. Gorbatschow wurde vom Botschafter Viktor Lomakin über Gegner der Perestrojka in Prag informiert. Anfang Januar 1989 äußerte er: „Unsere Perestrojka wird dort gehasst … von der gesamten Bande, die 1968 an die Macht kam und dann von Breschnew begünstigt wurde … Sie prophezeit unseren Untergang.“ 960 Das wird im Gespräch mit Dubček am 21. Mai 1990 im Kreml von Gorbatschow selbst bestätigt. So schreibt er: „Ich erzählte Dubček von den Gesprächen, die ich mit Husák über dessen Rücktritt geführt hatte, und erwähnte, welche Rolle Vasil Bilák in diesem Zusammenhang gespielt hatte. Auch hatte ich damals von einem bezeichnenden Ausspruch Biláks gehört: ‚Warten wir ab! In Moskau werden wir diejenigen, die sich von der Perestrojka hinreißen lassen, letzten Endes doch noch den Hals brechen. Dann werden neue Leute kommen.‘“ 961 Für das Schicksal der Perestrojka nicht unerheblich war die Position des Auslandes. Zwar hat der Westen insgesamt durch den Abbau der Kosten für die äußere Sicherheit erheblich profitiert, insbesondere die Deutschen verdanken Gorbatschow die Wiedervereinigung, aber letzten Endes wurde Gorbatschow nicht in dem Maße unterstützt, in dem er ökonomische Hilfe gebraucht hätte. Zu sehr war das westliche Denken noch in den Kategorien der Konfrontation verhaftet, und man hatte nicht erkannt, wie groß die Vorteile eines demokratischen Russlands auch für den Westen gewesen wären. Dass eine Schwächung der Sowjetunion durch die Perestrojka Hoffnungen auf einen einseitigen Vorteil der USA nähren würde, wurde als Denkansatz sogar im Mai 1989 beim Besuch des amerikanischen Außenministers Baker in Moskau angesprochen. 962 Es gehört zur Tragik von Gorbatschows Politik, dass die USA zu lange und zu fest am Rivalitätsdenken festhielten, damit die Position des Generalsekretärs im Innern belasteten. Seine Enttäuschung über zu zögerliche Hilfe verbirgt auch Außenminister Genscher nicht, wenn er über das Ergebnis des G 7-Gipfels in Houston vom 8. bis 11. Juli 1990 berichtet. Die deutsche Delegation, Bundeskanzler Dalos, Der Vorhang, S. 151. Dalos, György, Der Vorhang geht auf, S. 190. 961 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 889. 962 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 690. 959 960

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Kohl, Finanzminister Waigel, Wirtschaftsminister Hausmann und er selbst hätten sich bemüht, eine gemeinsame Finanzhilfe für Gorbatschow zustande zu bringen. Unterstützt wurden sie dabei vor allem von Frankreich und Italien. „In seinem Gespräch mit Präsident Bush verwies Helmut Kohl auf den mit Hilfe unserer Bürgschaft schon gewährten Kredit von fünf Milliarden DM. Die Grenzen unserer Möglichkeiten als alleiniger Helfer waren erreicht: fünfzehn Milliarden, gemeinsam aufgebracht, schienen erforderlich. Die Resonanz der anderen Gipfelteilnehmer aber war enttäuschend: Die einen verlangten größere Reformschritte, andere beklagten das Versickern der Gelder. Der japanische Ministerpräsident Kaifu machte eine Finanzhilfe von der Rückgabe der Kurilen abhängig, eine mir nur schwer verständliche Forderung. Nach meiner Einschätzung würde dies Gorbatschow nicht helfen und auch Japan der Lösung der Inselfrage nicht näher bringen. Niemand indessen weiß, ob es damals nicht auch ein ‚Fenster der Gelegenheiten‘ für die japanischen Anliegen gegeben hätte. Sollte es so gewesen sein, dann wäre es mit einem Kredit sicherlich leichter zu öffnen gewesen als umgekehrt.“ Auch bei seinem Besuch in Japan erhielt Gorbatschow eine Absage. Das Vertrauen der japanischen Wirtschaft in die Sowjetunion war verloren. 963 Enttäuscht stellt Genscher fest, am Ende sei in Houston nur eine politische Erklärung herausgekommen, die Gorbatschow, ihm gleichsam auf die Schulter klopfend, zur Fortsetzung des Reformkurses ermutigt habe. Die Frage einer gemeinsamen Finanzhilfe sei mit dem Auftrag an IMF, Weltbank, OECD und Osteuropabank beantwortet worden, eine Studie vorzulegen. „Großzügig wurde den Staaten, ‚die schon jetzt dazu in der Lage sind‘, die Möglichkeit eingeräumt, bereits vor Erscheinen der Studie Schritte einzuleiten – eine Formulierung, die sich in erster Linie auf uns bezog, weil wir voraussehbar erhebliche Leistungen für Moskau übernehmen würden.“ In den Aussagen des Bundesaußenministers klingt nicht nur die Dankbarkeit für Gorbatschows Vereinigungspolitik an, auch die Erkenntnis, dass der Westen die politischen Möglichkeiten, die sich ihm boten, nicht genutzt habe: „Wenn man bedenkt, dass Gorbatschow vorher in einem Schreiben die Teilnehmer eigens um Hilfe gebeten hatte, dann war eine solche Reaktion enttäuschend. Wir empfanden dieses Manko besonders, nicht nur, weil wir selbst mehr unternahmen, sondern auch weil wir im Zusammenhang mit der deutschen Vereinigung hautnah erlebten, mit welchem Mut die sowjetische Führung das alte Denken durch zukunftsweisende Politik ablöste. Natürlich konnte man diesen neuen Kurs nicht kaufen, aber die Reformen zu unterstützen lag doch im westlichen Interesse.“ 964 Natürlich spielte die unklare Entscheidungslage über den Weg der ökonomischen Reformen in der amerikanischen Einstellung eine große Rolle. Aber war es nötig, quasi ein Junktim zwischen sowjetischen Reformen und Krediten herzustelHuber, Mária, Moskau, 11. März 1985. Die Auflösung des sowjetischen Imperiums. München 2002, S. 223. 964 Genscher, Erinnerungen, S. 829 f.; Huber, Mária, S. 223. 963

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len? So schreibt Baker: „Gorbatschow verfolgte weiterhin seine zweigleisige Strategie, relativ überzeugende politische Argumente für westliche Hilfsmaßnahmen anzuführen, aber im eigenen Land nie die für eine konzertierte Aktion des Westens nötigen Wirtschaftsreformen einzuleiten.“ 965 Selbst Rajiv Gandhi sprach dieses Thema an, da er Indien gegenüber eine ähnliche Reaktion des Westens wie gegenüber der Sowjetunion beobachtete. Dabei verstand er das Wesen und die historische Qualität der Perestrojka besser als die westeuropäischen und amerikanischen Beobachter. Gorbatschow gegenüber sagte er, „man neige dazu, die komplizierten Reformprozesse zu stark zu vereinfachen und sie lediglich unter dem Blickwinkel zu betrachten, ob die Veränderungen den westlichen Vorstellungen entsprächen. Ihn befremdete der Zynismus einiger westlicher Politiker, die hofften, dass mit dem Reformprozess eine internationale Schwächung der Sowjetunion einhergehen werde.“ Gorbatschow ergänzt bitter: „Nun ja, das bestätigte nur meine eigenen Beobachtungen, das, was ich bereits 1987, doch ganz besonders 1988 und zu Beginn des Jahres 1989 gespürt hatte. Einige meiner westlichen Partner fanden an der zunehmenden Autorität der Sowjetunion in der Weltöffentlichkeit keineswegs Gefallen. So wurden Informationen, die ich über andere Kanäle erreicht hatten, überraschend bestätigt.“ 966 Sogar nach der gemeinsamen Position mit den USA in der Frage der irakischen Intervention in Kuweit Ende 1990, Anfang 1991, die eine neue Ära in den beiderseitigen Beziehungen einleitete, musste Gorbatschow bitter feststellen: „Um offen zu sein, lässt mich der Gedanke nicht los, dass eine politische Lösung des Konfliktes am Persischen Golf möglich gewesen wäre, aber in letzter Minute an den USA gescheitert ist, die sich zu einer militärischen Lösung entschlossen hatten. Vermutlich waren in Washington die Stimmen stärker, die eine politische Regulierung für einen Fehler gehalten hätten: Durch eine friedliche Lösung hätte die UdSSR weiter an Ansehen gewonnen, was nach Meinung vieler Berater des Präsidenten nicht im Interesse der USA liegen konnte. Meiner Einschätzung nach war in jenen dramatischen Augenblicken genau diese Stimmung in der amerikanischen Administration vorherrschend – man wollte einen schnellen Sieg, um der ganzen Welt Stärke zu demonstrieren und jegliche Zweifel, die in den USA an der Entschlossenheit des Präsidenten aufgekommen waren, zerstreuen.“ 967 Man mag realpolitisch argumentieren und feststellen, Gorbatschow blieb wegen der Schwäche der Sowjetunion keine andere Politik möglich als die der friedlichen Konfliktregelung und der Reduzierung der sozialistischen Staatenwelt auf die (sowjet-)russische Substanz, das heißt den Verzicht auf die Nachkriegseroberungen, so stellt sich dennoch die Frage, warum der Westen, vor allem die USA, sich nicht auf diese Politik eingelassen hat, sondern in hegemonialer Selbstüberschätzung eine Politik der Eindämmung und Ummauerung Russlands verfolgt hat, Baker, Drei Jahre, S. 469. Gorbatschow, Erinnerungen, S. 670f. 967 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 790. 965 966

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die zwangsläufig zum Ausbrechen aus dieser Umklammerung und zur Herausbildung eines neuen Antagonismus führen musste. Am 19. August 1991, ein Tag vor der geplanten Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages, 968 wurde um 6 Uhr Moskauer Zeit in Rundfunk und Fernsehen der Sowjetunion die Nachricht verlesen und ständig wiederholt: „Im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit von Michail Sergejewitsch Gorbatschow gehen gemäß Artikel 127 (7) der Verfassung der UdSSR die Vollmachten des Präsidenten auf den Vizepräsidenten der UdSSR, Gennadij Iwanowitsch Janajew, über. G. Janajew, Vizepräsident der UdSSR; V. Pawlow, Ministerpräsident der UdSSR; O. Baklanow, 1. stellvertretender Vorsitzender des Verteidigungsrates der UdSSR“. Schewardnadses Ahnung war Wirklichkeit geworden. Konkrete erste Warnungen hatte es schon am 20. Juni gegeben. Sie kamen von Gawriil Popow, dem Moskauer Bürgermeister, der den amerikanischen Botschafter in Moskau, Matlock, gewarnt hatte. Dabei wurden schon die Namen der Putschisten genannt: Pawlow, dazu Dmitrij Jasow, Verteidigungsminister, Wladimir Krutschkow, KGB-Chef und Anatolij Lukjanow, Vorsitzender des Obersten Sowjet der UdSSR. Außenminister Baker ließ sofort Gorbatschow informieren, ebenso Jelzin, der sich zum Antrittsbesuch gerade in Washington aufhielt. 969 Insgesamt gehörten acht Personen zum „Staatskomitee für den Ausnahmezustand“: A. Lukjanow, W. Krutschkow, B. Pugo, Innenminister, Starodubzew, Vorsitzender der in der „Bauernunion“ zusammengeschlossenen Kolchos- und Sowchos-Vertreter, A. Tisjakow, Präsident des Verbandes der Staatsbetriebe und Industrievereinigungen, des Bau-, Transport- und Kommunikationswesens der UdSSR, D. Jasow. Aber die Menschen in Moskau und im Lande begriffen sofort, wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, bräuchte es kein Notstandskomitee und keine Panzer auf den Straßen. Gorbatschow ist auf der Krim von der Außenwelt abgeschnitten. Doch die Putschisten sind Dilettanten. Denn jetzt zwingen sie die Bevölkerung zur Entscheidung: für oder gegen die Perestrojka, genauer: für Demokratie und gegen die KPdSU, für die Zukunft Russlands und gegen 70 Jahre Sowjetherrschaft. „Wahrscheinlich beginnen wir erst jetzt, da wir auf diese Ereignisse zurückblicken“, schreibt die Journalistin Tatjana Mitkowa, „das ganze Ausmaß von Verzweiflung und Stumpfheit zu erkennen, das uns vor dem 19. August umgab. In diesem Dunkel lebten wir alle. Und aus diesem Dunkel heraus gingen wir gemeinsam auf die Barrikaden. Das Wertvollste, was uns von diesen Tagen geblieben ist, ist das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben. Eine Entscheidung, wie sie in einer Gesellschaft, in der das System alles für den Menschen entschied, bislang undenkbar war. Und dann der Luxus wähle selbst: frei zu sein oder Sklave zu bleiben. Die Wahl, entweder bei jenem Abschaum zu bleiben, der hinter den Büsten Vertrag über die Union Souveräner Staaten. In: Pravda 27. November 1991; Gorbatschow, Erinnerungen, S. 1140-1145. 969 Baker, Drei Jahre, S. 462. 968

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der Führer die eigenen Villen und Autos versteckte, oder ihnen zuzurufen: ‚Weg mit euch! Siebzig Jahre lang habt ihr uns getreten und erniedrigt! Es reicht!‘“ 970 Aus Paris eilte der Cellist und Dirigent Mstislaw Rostropowitsch, der in den siebziger Jahren für seinen kritischen Brief an Breschnew Auftrittsverbot im Ausland erhalten hatte, ohne Visum nach Moskau, ins Weiße Haus der Regierung Russlands. Er hatte sein Cello nicht mitgenommen. Euphorisch berichtet er den Journalisten: „Vom Flughafen fuhr ich direkt ins Weiße Haus, wo ich seit 21 Stunden bin. Ich bin über alle Maßen glücklich, denn ich verspüre, dass gerade in diesem Augenblick die Entwicklung in unserem Lande im Umbruch ist. Ich bin aber auch glücklich, weil ich viele Stunden in diesem Gebäude verbracht habe. Ich unterhielt mich stundenlang mit den Jugendlichen hier, das war ein wahrer Genuss, diese jungen Gesichter zu sehen, junge Menschen, die bereit waren zu kämpfen, zu widerstehen, zu kämpfen dafür, dass die eben schüchtern aufblühende Demokratie hierzulande erhalten bleibt, damit dem großen Volk in unserem Lande ein glückliches Leben voller Stolz und Menschenwürde möglich wird.“ 971 Die Verteidigung der Perestrojka beginnt um 11 Uhr. Auf einer Pressekonferenz gibt der seit dem 12. Juni vom Volk gewählte Präsident Russlands, Boris Jelzin, eine Erklärung ab: „An die Bürger Russlands“. In ihr qualifiziert er den Putsch als Staatsstreich und ruft zum unbefristeten politischen Generalstreik auf. Per Erlass untersagt er die Befolgung der Anordnungen des Notstandskomitees auf dem Gebiet Russlands. Um 17 Uhr übernimmt Jelzin für die Zeit der Abwesenheit Gorbatschows den Oberbefehl über die auf dem Gebiet der RSFSR stehenden sowjetischen Streitkräfte. Die deutschen Korrespondenten in Moskau, Gerd Ruge, Thomas Roth, HansJosef Dreckmann, beobachteten die Ereignisse hautnah und erlebten, wie die Bevölkerung Partei gegen die Putschisten ergriff. So schreibt Gerd Ruge: „Aber es waren weder die Militärs noch die Politiker, die über den Ausgang der Kraftprobe entschieden. Es waren die zehntausend Menschen, die die Nacht vor dem Weißen Haus an kleinen Holzfeuern, auf Mänteln und Decken verbrachten. Manche lagen auf der Straße, um noch im Schlaf die Panzer aufhalten zu können. Auf der Kutusow-Brücke hatten einige Fahrer der städtischen Verkehrsbetriebe ihre Busse quergestellt und die Luft aus den Reifen gelassen.“ 972 Ebenso am folgenden Tag. So beobachtete Gerd Ruge: „Unter dem Fenster unseres Studios strömten immer mehr Menschen vorbei in Richtung Weißes Haus. Es kamen Väter mit Kindern auf den Schultern, alte Ehepaare, Schüler und Schülerinnen, die ihre Gitarren mitgebracht hatten. Russische Journalisten hatten in Untergrundsendern zur Demonstration aufgerufen, und so waren es gegen Mittag um die zweihunderttausend Menschen, die sich um das Weiße Haus versammelten. Sie riefen nach Boris Jelzin und schwenkten selbstgenähte russische Fahnen.“ 973 Mária Huber beziffert die Ruge, Der Putsch, S. 255. Ruge, Der Putsch, S. 122. 972 Ruge, Gerd, Unterwegs, S. 301. 973 Ruge, Gerd, Unterwegs, S. 302. 970 971

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Anzahl der vor dem Weißen Haus in Moskau versammelten Demonstranten allerdings auf höchstens 50.000 bis 70.000 Demonstranten. Eine breite Massenbasis habe dieser Widerstand also nicht gehabt, nur in St. Petersburg, in Swerdlowsk und in Nischnij Nowgorod habe es nennenswerte Demonstrationen gegen die Putschisten gegeben. 974 Am 21. August tagt das russische Parlament. Es fordert die Putschisten ultimativ auf, sich bis 22 Uhr geschlagen zu geben. Daraufhin sucht Lukjanow die Verständigung mit Jelzin. Um 18.30 telefoniert Jelzin mit Gorbatschow. Am 22. August, kurz nach Mitternacht, kehrt Gorbatschow nach Moskau zurück. Die Putschisten werden dem Generalstaatsanwalt übergeben. Einige begehen vor ihrer Verhaftung Selbstmord, darunter Innenminister Pugo und Marschall Achromejew, der Militärberater Gorbatschows. Um 18 Uhr gibt Gorbatschow eine Pressekonferenz. Am 23. August verbietet Jelzin alle KP-Organe, ernennt neue Unionsminister. Anschließend sanktioniert Gorbatschow alle Erlasse Jelzins. Am 24. August tritt Gorbatschow vom Amt des Generalsekretärs des ZK der KPdSU zurück und empfiehlt der Partei sich aufzulösen. Inzwischen wurden die Denkmäler Dzerschinskijs, Kalinins und Swerdlows abgebaut. Am 29. August beschließt der Oberste Sowjet der UdSSR die Einstellung aller Aktivitäten der KPdSU auf dem Territorium der UdSSR. Die Gebäude des ZK werden versiegelt. Am 2. September wird ein Staatsrat gebildet, dem neben Gorbatschow auch die Präsidenten der in der Union verbliebenen Republiken angehören. Der gescheiterte Putsch hatte der Sowjetunion den Todesstoß versetzt. Nicht nur, dass die KPdSU ihre Macht eingebüßt hatte, es trat das ein, was die Putschisten gerade verhindern wollten, die Zerstörung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken. Denn, wie Gorbatschow schreibt, „der Entwurf des Unionsvertrages war fertig zur Unterzeichnung. Am 20. August sollten ihn die Delegationen aus sechs Republiken im Georgssaal des Kreml unterschreiben. Ich als Präsident des Landes sollte eine Rede halten. Für den 21. August war die Sitzung des Föderationsrates anberaumt, um den Plan einer Radikalisierung der Reformen, Fragen der Lebensmittelversorgung, Heizstoffprobleme, Finanzstabilisierung usw. zu beraten.“ 975 Es gab aber auch einen Sieger. Das war Boris Jelzin. Er hatte zwar mit Mut und großem politischen Geschick den Putsch niedergeschlagen und Gorbatschow in dessen Amt zurückgeholt, er fühlte sich nun aber, noch stärker als bisher schon, als der eigentliche und, da direkt vom Volk gewählt, legitime Vertreter Russlands. Durch die Zerschlagung der Union, damit dem Machtverlust Gorbatschows, dessen Amt damit obsolet wurde, blieb er, neben den blassen Präsidenten Belorusslands und der Ukraine, als strahlender Sieger übrig. Hierin liegt auch ein Stück Tragik für Gorbatschow. Die amerikanische Regierung hatte nicht nur frühzeitig Kenntnis von einem geplanten Putsch gegen Gorbatschow erhalten, Boris Jelzin hatte sich, sobald er als Präsident Russlands ge974 975

Huber, Mária, Moskau, 11. März 1985, S. 254f. Gorbatschow, Der Staatsstreich, S. 14.

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wählt war, ihr regelrecht aufgedrängt. Andererseits erkannte die US-Regierung, angesichts der zunehmenden Unpopularität Gorbatschows im eigenen Land und seiner zögerlichen Haltung in der Umsetzung seiner systemverändernden Vorstellungen, in Jelzin den Hoffnungsträger für einen radikalen Wandel. Zwar empfand Außenminister Baker Boris Jelzin „eher als leicht theatralischen Vollblutpolitiker mit einem Hang zur Übertreibung. Doch vor allem hatte er als Politiker ein gutes Gespür für die Straße und die prodemokratische Stimmung, die sich im Land ausbreitete. Und jeder, der imstande war, Hunderttausende von Menschen auf die Beine zu bringen, musste von den Vereinigten Staaten ernst genommen und hofiert werden.“ 976 Das war eine klare Aussage. „Beziehungen zu ihm aufzubauen und ihn zu unterstützen“, schreibt Baker, „deckte sich ohne Zweifel mit unseren Werten und war gewiss auch im Sinne einer Demokratisierung der Sowjetunion, die ja in unserem langfristigen Interesse lag.“ 977 Besonders, nachdem Jelzin demonstrativ aus der KPdSU ausgetreten war und kurz danach auch die Bürgermeister von Moskau, Gawriil Popow, und Leningrad, Anatolij Sobtschak, und „es so aussah, als würde sich eine Kerngruppe offener Opposition bilden“, wie Baker schreibt, zogen die Vereinigten Staaten ihren Schluss: „Wir beabsichtigten zwar, unsere außenpolitischen Interessen weiterhin in Zusammenarbeit mit Gorbatschow zu verfolgen, doch von nun an wollten wir unsere Positionen auch dadurch festigen, dass wir unsere politischen Kontakte in der Sowjetunion weiter als bisher streuten.“ 978 Gorbatschow geht in seinen Erinnerungen „Alles zu seiner Zeit“ auf diese Abkehr der US-Regierung von seiner Person ein. So schreibt er, „versuchte eine Reihe hochgestellter Mitarbeiter der CIA und der Verteidigungsminister Cheney persönlich, ab Beginn des Jahres 1990 den amerikanischen Präsidenten davon zu überzeugen, sich von dem ‚monozentristischen‘‚ Gorbatschow abzuwenden und Jelzin zu unterstützen. Das Argument dafür war, die politischen Pläne Jelzins, nämlich Aufteilung und Auflösung der Sowjetunion und Einführung eines nicht vom Staat begrenzten freien Marktes in Russland entsprächen den nationalen Interessen der USA eher als die politische Linie Gorbatschows, der den staatlichen Sozialismus nur abschwächen und zu einer ‚regulierten‘ Marktwirtschaft übergehen wollte.“ Gorbatschow stützt sich auf Gates, den er direkt zitiert: „Die CIA war ein klarer Anhänger Jelzins, sie unterstützte ihn nicht nur verbal, sondern auch durch eine Reihe von Bewertungen, die seine Popularität innerhalb und außerhalb Russlands hervorhoben, seine Initiative im Bereich der Reformen und seine Behandlung der nationalen Frage.“ 979 General Scowcroft habe sogar von einem „Jelzin-Fanclub innerhalb der CIA“ gesprochen. Baker, Drei Jahre, S. 467. Baker, Drei Jahre, S. 468. 978 Baker, Drei Jahre, S. 463. 979 Gates, Robert M., From the Shadows: The Ultimate Insider’s Story of Five Presidents and How They Won the Cold War. New York 1996, S. 496; Gorbatschow, Alles zu seiner Zeit, S. 508. 976 977

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Mit dem Rücktritt seiner beiden Vordenker Jakowlew und Schewardnadse sank auch Gorbatschows Stern. Die Übersteuerung Gorbatschows durch die sowjetischen Militärs und das KGB, das sich in den blutigen Unruhen im Kaukasus und im Baltikum zeigte, für die man anschließend Gorbatschow verantwortlich machen wollte, verdeutlichte die Verschiebung der Machtverhältnisse zu Ungunsten des Präsidenten. Baker beschreibt die neue Lage sehr anschaulich: „Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch, das wir Ende Januar (1991 – W.G.) mit drei Sowjetexperten der CIA im Weißen Haus führten. Nach einer ziemlich pessimistischen Analyse hatte ich konstatiert: ‚Ihr wollt uns also sagen, dass die Aktien fallen und wir verkaufen sollen!‘ Im Fall der sowjetisch-amerikanischen Beziehungen hieß verkaufen“, bringt Baker die Einschätzung auf den Punkt „so viel wie möglich aus den Sowjets herausholen, bevor es zu einem noch stärkeren Rechtsruck oder gar zur Auflösung kommen würde. Und dazu mussten wir unsere Beziehungen zu Michail Gorbatschow solange aufrechterhalten, bis der Golfkrieg gewonnen, der START-Vertrag unterzeichnet und sichergestellt sein würde, dass die VKSE-Verhandlungen nicht platzten und andere, noch ungelöste Punkte auf unserer politischen Agenda – vor allem der Nahostfriedensprozess – vorangebracht werden konnten.“ 980 Auf die Frage der Journalistin Anne Sinclair vom französischen Sender „Antenne 7“, wie habe er sich durch den Putsch verändert, antwortet Gorbatschow: „Der Putsch hat mir geholfen, bestimmte Lehren zu ziehen. Mein größter Fehler war: Ich habe mich in Diskussionen und in den politischen Kampf zwischen den unterschiedlichen Demokratieströmungen hineinziehen lassen. Und das zu einer Zeit, da das riesige Land auf eine politische Antwort wartete. Man hätte alle demokratischen Strömungen einigen und über die politischen Leidenschaften und einzelnen Sympathien stellen müssen. Darin sehe ich auch meinen Fehler.“ 981

980 981

Baker, Drei Jahre, S. 465f. Gorbatschow, Der Zerfall der Sowjetunion, S. 200.

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6. Die Wiedergewinnung der Geschichte Wie sehr die Interpretation der sowjetischen Geschichte Instrument der Argumentation für die Richtigkeit der Parteilinie gewesen war, hatte sich zuerst in Chruschtschows Reden auf den XX. und XXII. Parteitagen, dann wieder im Streit um den Stalin-Artikel in der Philosophischen Enzyklopädie gezeigt. Das letzte Aufbäumen der Stalinisten gegen das Aufbrechen der Dogmen erfolgte im Brief von Nina Andrejewa in der „Sowjetskaja Rossija“ vom 13. März 1988 „Ich kann meine Prinzipien nicht aufgeben“. Sie wehrt sich gegen die „einseitige Darstellung“ der sowjetischen Geschichte der Stalin-Zeit. Die Antwort des Politbüros: „Einen Sozialismus wie unter Stalin brauchen wir nicht.“ D. h. die Interpretation der Geschichte wurde Schauplatz des Kampfes divergierender Sozialismus-Interpretationen, wobei weitgehendere Vorstellungen, die sich noch hinter den Begriffen der „Leninschen Prinzipien“ bzw. dem Zitieren von Lenins Aussprüchen wie „Unsere Kraft liegt im Aufdecken der Wahrheit!“ versteckten. 982 Bisher hatte die Partei die Interpretation der sowjetischen Geschichte vorgegeben. Im Ergebnis fanden sich nur schematische, eindimensionale Kenntnisse, die in Form eines Katechismus in den Lehranstalten vermittelt wurden. „Die meisten Bürger der ehemaligen Sowjetunion wissen nichts über ihre Geschichte“, schreibt der Rektor der Russischen Geisteswissenschaftlichen Universität, Jurij Afanasjew, deshalb zu Recht: „Sie kennen nur eine offizielle Version, die absolut verlogen ist. In keinem Land der Erde wurde Geschichte so tiefgreifend und dauerhaft verfälscht. Ich musste bis zur Konferenz der Historiker und Schriftsteller im April 1988 warten, um meine Ansichten darüber öffentlich vortragen zu können.“ 983 Das traf primär die Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, damit auch ihre Vorgeschichte, die Geschichte der russischen Sozialdemokratie; es betraf den Charakter des Oktoberputsches 1917 und alternative Entwicklungen eines demokratischen und marktwirtschaftlichen Russland. Wie bei der Diskussion über die Folgen der Französischen Revolution wurde darüber gestritten, ob eine Entwicklung Russlands ohne den Oktober-Putsch nicht besser verlaufen wäre, vor allem ohne die immensen Opfer an Menschenleben, kultureller Substanz und moralischer Deformation. Gerade im Vergleich des Oktoberputsches 1917 mit den Revolutionen in Frankreich und England werden aber die Unterschiede herausgearbeitet. So hatten sich, schreibt Afanasjew, in dem Augenblick, da die absolutistischen Monarchien in Frankreich und England zusammenbrachen, bereits die Grundlagen für das bürgerliche Wirtschaftssystem gebildet. „Das heißt, es gab Privatunternehmen, die Entwicklung finanzieller Mechanismen auf internationaler Ebene, das Selbstbewusstsein persönlicher Interessen und juristischer Garantien Die Wahrheit über die Geschichte ist eine Quelle unserer Kraft. Stellungnahme sowjetischer Historiker in der „Prawda“ vom 24. April 1988. In: Meyer, Gerd (Hrsg.), Wir brauchen die Wahrheit. Geschichtsdiskussion in der Sowjetunion. Köln 1988, S. 301. 983 Afanassjew, Russland, S. 56f. 982

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zu ihrem Schutz.“ Dagegen, führt er kritisch an, habe es in Russland keine Institutionen, die auf den Markt vorbereiteten, gegeben. „Außerdem fehlte es unserer bürgerlichen Gesellschaft an Reife. Ich bin davon überzeugt, dass genau hierin der einzigartige Charakter der demokratischen Umwandlung russischer Art liegt.“ 984 Hier urteilt er zu kritisch, denn gerade vor dem ersten Weltkrieg existierten Zentren hochentwickelter Industrie, die international verflochten waren. Ganz anders Jakowlew. Er sieht am Beginn des 20. Jahrhunderts die „strahlende Periode der russischen Geschichte“. Die Industrie sei in einem Tempo vorangeschritten, das später nur im Japan der fünfziger Jahre erreicht wurde, das Finanzwesen habe sich stabilisiert und die landwirtschaftliche Produktivität habe (nach den Stolypinschen Agrarreformen – W.G.) zugenommen. 985 Bei der Suche nach alternativen Entwicklungen stößt man auf die Parteienlandschaft, die sich mit der Duma 1905 herausgebildet hatte, auf die Rolle der Duma im Februar 1917, die zur Abdankung des Zaren geführt und Russland zur Republik gemacht hatte. Von da ist es nicht mehr weit bis zur Suche nach liberalen Gedanken in der vorrevolutionären Zeit. Unter der Überschrift „Die totgeschwiegene liberale Tradition: Der Fall Tschaadaew“ schreibt Afanasjew: „Ein anderer sehr bedeutender Teil unserer Geschichte wurde uns auch vorenthalten: die Geschichte der Ideen unserer Elite. Auf diesem Gebiet gibt es keine ‚Gegengeschichte‘ des Volkes, die die Lügen kommunistischer Erziehung widerlegen könnte. Aber die tiefgreifenden Diskussionen, die Russland im vorigen Jahrhundert bewegten, beweisen, dass das alternative Denken – Despotismus oder Revolution – auf dem besten Wege war überwunden zu werden. Ein Beispiel dafür sind die Gedanken Tschaadajews; im Grunde bedarf aber die gesamte Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts einer Neubewertung.“ 986 Von der „Wiederaufnahme alter Diskurse“ spricht auch Karl Schlögel und verweist auf Boris Groys. Auch ihn habe die Auseinandersetzungen um die „russische Identität“ außerordentlich an die Kontroversen des frühen 19. Jahrhunderts erinnert, vor allem an Peter Tschaadajews ‚Ersten Philosophischen Brief‘, der wie ein ‚Pistolenschuss in der Nacht‘ das denkende Russland aufgerüttelt, erschreckt hatte, wie der im Pariser Exil lebende Alexander Herzen damals formulierte. „Unsere Lage“, schreibt Tschaadajew, „zwischen den beiden Weltteilen, dem Orient und dem Okzident, die uns erlaubt, gleichsam den einen Arm auf China und den anderen auf Deutschland zu stützen, hätte uns gerade befähigen sollen, die beiden großen Prinzipien der Vernunft, Phantasie und Verstand, in uns zu vereinen und in unserer Kultur die Geschichte des ganzen Erdballs zusammenzufassen“. Schlögel, der hier Tschaadajew zitiert, ergänzt, Tschaadajew habe am schärfsten etwas formuliert, was das moderne Russland von Anfang bis heute begleite: die Erfahrung Afanassjew, Russland, S. 199. Jakowlew, Ein Jahrhundert der Gewalt in Sowjetrussland, S. 334. 986 Afanassjew, Russland, S. 64. Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew (1794-1856) kritisierte in den „Philosophischen Briefen“ den Zustand Russlands zur Zeit des Zaren Nikolaj I. Er nimmt auch Teil an der Auseinandersetzung zwischen den Slawophilen und den Westlern über den weiteren Weg Russlands. 984 985

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des Zusammenpralls mit einer entwickelteren und überlegenen Kultur, die Geschichte von Attraktion und Repulsion, des Konfliktes mit Westeuropa, der auch seine blutigen und triumphalen Markierungen hinterlassen habe. Und er nennt die Jahreszahlen, die in die russische Geschichte eingebrannt sind: 1612, 1812, 1853, 1914, 1941. 987 Der internationalen Zusammenarbeit auf dem Gebiet der russischen Geschichte wird damit das Tor weit geöffnet. Beim Rückblick erscheint nun schon das autokratische Regime Nikolaj I. relativ liberal. „Es ist wenig bekannt“, schreibt Afanassjew, „dass die russischen Universitäten zu Beginn des Jahrhunderts Bildungsstätten liberalen Denkens waren, von Professoren geleitet, die der modernen Welt offen gegenüberstanden. Unter Nikolaus I. konnten die begabtesten unserer Studenten ihre Studien in Europa, vor allem in Deutschland, fortsetzen. Der Zar tolerierte die Bildung einer Gruppe von Wissenschaftlern, Anhängern gesellschaftlicher Reformen und der konstitutionellen Monarchie, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (dann unter dem Zaren Alexander II. – W.G.) an ihren Lehrstühlen mit radikalen und konservativen Studenten diskutierten. Diese Gelehrten stehen am Anfang der wenig einflussreichen, aber sehr ansehnlichen Tradition des russischen Liberalismus.“ 988 Dezidiert nimmt Alexander Jakowlew zum Thema „Geschichte“ Stellung. Als Leiter der Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politischer Repression blickte er in die „Abgründe unseres Jahrhunderts“. Unter der programmatischen Überschrift „Wir müssen uns unserer Geschichte stellen“ schreibt er, der Kommunismus habe es hervorragend verstanden, im Dienste der Macht die Geschichte zu manipulieren oder zu verstümmeln. „Geschichte war Schweigen und Vergessen und sollte die Massen ‚erziehen‘ und die aus allerlei Ingredienzien zusammengerührten Legenden und Mythen glaubwürdig erscheinen lassen.“ Als erstes sei Stalin mit einer maßgeschneiderten Geschichte, die er selbst schrieb, diktierte, korrigierte, überwachte, auf den Plan getreten. Chruschtschow habe ihm in nichts nachgestanden. Sein ‚Geheimbericht‘ – in seiner Art inzwischen ein Klassiker – habe aber den Weg zur politischen Nutzung einer bewusst verdunkelten Geschichte geöffnet. Dagegen sei Gorbatschow nun nicht bereit, sich seinerseits an einer neuerlichen Umschreibung der Geschichte zu beteiligen. Er habe seine eigenen Ansichten über die grausamen Epochen, die die UdSSR prägten, wolle sie aber niemandem aufzwingen. Er forderte die Historiker auf, sich an die Arbeit zu machen und frei zu schreiben. Um ihre Aufgabe zu erleichtern, aber auch, um der sowjetischen Gesellschaft zu ermöglichen, endlich ihre eigene Geschichte kennenzulernen, setzte er Kommissionen für die Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus ein – für die Aufdeckung all dessen, was bisher verdunkelt worden war. Diese Kommission leitete Jakowlew. „So entdecken die sowjetischen Menschen jetzt Trotzkij, Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow und all die anderen alten Gefährten Lenins, die durch die drei großen Schauprozesse in den Jahren 987 988

Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, S. 156f. Afanassjew, Russland, S. 64.

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1936, 1937 und 1938 – bekannt als ‚Moskauer Prozesse‘ – beseitigt worden waren. Alle Persönlichkeiten, die in der Geschichte der bolschewistischen Revolution und bei der Schaffung des Sowjetstaates eine bedeutende Rolle spielten, werden endlich richtig eingeordnet, wie auch immer sie von den einzelnen Historikern beurteilt werden. Sie sind nicht länger verschwommene Flecke auf den offiziellen Fotografien.“ 989 „Die Wahrheit ist unteilbar. Wir können sie nicht in Perioden unterteilen. Unsere Geschichte hat sich zugetragen, und wir müssen sie kennenlernen und verstehen, wie es sich gehört“, erklärte Gorbatschow. 990 Geschichte ist insofern in höchstem Maße ein Politikum, als gesellschaftliche Umstrukturierung auf der Kenntnis der Vergangenheit beruhen muss. Die verzerrende Manipulation der Geschichte unter Stalin wird ebenso abgelehnt wie die Geschichtsschreibung unter Chruschtschow kritisiert wird, weil sie nur eine halbe Sache blieb; ebenso werden die Vertuschungspraktiken und die Tabus, die zu Breschnews Zeiten gang und gäbe waren, verurteilt. Neben der Einführung der Marktwirtschaft, der Errichtung eines Rechtsstaates und der Erarbeitung eines Unionsvertrages ist die Beseitigung der ‚weißen Flecken‘ in der Geschichtsschreibung eines der wichtigsten Anliegen der Perestrojka. ‚Genossen, ich möchte nochmals unterstreichen, dass das Interesse an unserer Geschichte nicht ein bloßes Interesse an unserer Vergangenheit ist. Unser Bezug darauf ist lebensnotwendig für uns, für unsere gegenwärtige Arbeit, für die Verwirklichung der Ziele der Reorganisation‘, hat Gorbatschow immer wieder präzisiert.“ 991 Insofern bedeutete die Beschäftigung mit der ganzen Bandbreite der historischen Erfahrung auch eine Befreiung von Tabus, von Mythen und falschen Bildern. Ein besonders wichtiges Beispiel stellen hier die russisch-polnischen Historiker-Gespräche dar. Denn die „weißen Flecken“ in der Beschreibung der gemeinsamen russisch-polnischen Geschichte belasteten ständig die Entwicklung normaler Beziehungen auch nach der Befreiung vom kommunistischen System. Aber es dauerte bis zum Jahr 2002, bis die Präsidenten Polens und Russlands beschlossen, eine gemeinsame Historikerkommission ins Leben zu rufen, um diese weißen Flecken gemeinsam mit einvernehmlichen Interpretationen auszufüllen. Das Ergebnis ist in der Tat erstaunlich. 2010 erschien der Bericht unter dem Titel „Weiße Flecken – Schwarze Flecken. Schwierige Fragen in den russisch-polnischen Beziehungen“. 992 Auf Initiative von Bundeskanzler Kohl und Russlands Präsident Jelzin wurde 1998 die Gemeinsame Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen gegründet. Drei Bände, jeweils zum Jakowlew, Ein Jahrhundert, S. 332f. Gorbatschow am 8. Januar 1988. Prawda vom 13.01.1988. Jakowlew, Offener Schluß, S. 162. 991 Gorbatschow, Bericht an das Plenum des Zentralkomitees der KPdSU vom 18.02.1988. In: Prawda vom 19.02.1988. Jakowlew, Offener Schluß, S. 103 und S. 162. 992 Belye pjatna – černye pjatna: Slošnye voprosy v rossijsko-polskich otnošenijach: Naučnoeizdanie/ Pod obš. Red. A. V. Torkunova, A. D. Rotfelda. Otv.Red. A. V. Malygin, M. M. Narynskij. Moskva 2010, S. 823. 989 990

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18., 19. und zum 20. Jahrhundert sind avisiert, Band 3 über das 20. Jahrhundert bereits erschienen. 993 Für das „Bild vom Anderen“ spielt auch die übersetzte Literatur eine große Rolle. 994 Das Ergebnis war für viele schmerzhaft, der Heldenmythos verblasste. Das rüttelte am nationalen Selbstverständnis. „Chodorkowskij gesteht offen, er sei trotz schwerer Enttäuschungen ein ‚Patriot‘ geblieben. Er habe die kommunistische Ideologie hinter sich gelassen, doch die Idee von ‚einem sozialen Staat, der sich um die (freiwilligen wie unfreiwilligen) Außenseiter der Gesellschaft kümmert, der gleiche Chancen für alle Kinder gewährleistet‘, sei noch lebendig. Das wirft die Frage nach der Rolle des Staates in Russland auf. Chodorkowskij entwickelt den Gedanken, es gebe ein ‚Okkupations‘-Verhältnis zwischen Staat und Volk, das tief im kollektiven Unbewusstsein wurzele und das Verhalten großer Teile der Bevölkerung steure.“ 995 Es ist die bittere Erfahrung, dass die Bolschewiki den russischen Staat 1917 okkupiert hatten. In das durch die Erschütterung der staatlichen Autorität entstandene ideologische Vakuum strömen nun Konzeptionen und Lehren verschiedenster Provenienz und Zielrichtung, die zu einer Atomisierung der zuvor unter der Macht des Dogmas vereinten, monolithisch erschienenen Gesellschaft führen… Erst vor diesem Hintergrund wird beispielsweise die ganze Tragweite der Einführung eines individuellen Gewissensbegriffes in der politischen Sprache M. S. Gorbatschows – die Jutta Scherrer schon beschrieben hat 996– und dessen künstlerische Umsetzung in Schatrows programmatischem Perestrojka-Drama ‚Diktatur des Gewissens‘ als der Bruch mit der Leninschen Auffassung von der Partei als ‚Verstand, Ehre und Gewissen unserer Epoche‘ verständlich, den er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen in Wahrheit darstellt.“ 997

Deutschland – Russland. Band 3. Das 20. Jahuhundert. Hrsg. von Helmut Altrichter, Wiktor Ischtschenko, Horst Möller und Alexander Tschubarjan. München 2014. 994 Engel, Christiane, Übersetzungskriterien für russische Erzählprosa im deutschen Sprachraum. In: Herausforderung Osteuropa. Die Offenlegung stereotyper Bilder. Hrsg. von Thede Kahl, Elisabeth Vyslonzil und Alois Woldan. Wien, München 2004, S. 148-163. 995 Kasper, Karlheinz, Leben in seiner absurden Erscheinungsform. Russische Literatur in Erstund Neuübersetzungen 2011. In: Osteuropa 1/2012, S. 150. 996 Scherrer, Jutta, Sonne in Moskau. Die Intellektuellen und Perestrojka. In: Die Zeit Nr. 31 vom 29.07.1988, S. 30. 997 Goldt, Rainer, Aspekte der sowjetischen Idealismusdebatte. Wiederentdeckung und Wirkung der Ästhetik P. A. Florenskijs. In: Reißner, Eberhard, Perestrojka und Literatur. (Osteuropaforschung Band 27). Berlin 1990, S. 123f. 993

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7. Das Urteil über Gorbatschow Angesichts der welthistorischen Ereignisse – immerhin zerfällt ein Reich, lösen sich Warschauer Pakt und Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe auf, werden frühere sozialistische Staaten in die Europäische Union aufgenommen– verblasst fast die Erinnerung an den Mann, mit dessen Machtantritt 1985 diese Entwicklung begonnen hat, Michail Gorbatschow, ja sein Bild wird sogar in ein negatives Licht gerückt. Dabei ist erstaunlich, wie sich Vorstellungen verfestigen, obwohl die Erinnerung andere Bilder bereithält. So begegnen wir heute einem Bild von Gorbatschow, das trotz des Falls der Mauer am 9. November 1989, dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober ein Jahr später, der Beendigung des Kalten Krieges, ja dem Beitritt ehemaliger sozialistischer Staaten zur NATO und zur Europäischen Union seltsam negativ belegt ist. “Der gescheiterte Held“ überschrieb die „Sächsische Zeitung“ am 18. August 2011 einen Artikel über Gorbatschow aus Anlass des versuchten Staatsstreichs vor 20 Jahren. Die Autoren Ulrich Heyden und Ulf Mauder riefen anschließend die damalige Situation in Erinnerung: „Die Bilder vom Sommer 1991 hielten die Welt in Atem: Sowjet-Apparatschiks nutzten am 19. August die Gunst der Stunde zum Umsturz. Auf der Krim wird Gorbatschow festgesetzt. In Moskau herrscht Ausnahmezustand. Empörte Bürger stellen sich den Panzern entgegen. Nach Tagen kippt die Stimmung. Das Militär verweigert die Gefolgschaft. Die Putschisten fliehen. In den Folgemonaten zerfällt die Sowjetunion.“ 998 „Die Zerschlagung der Sowjetunion konnte in keinem Fall das Ziel der 1985 etablierten Kremlführung sein: Die freiwillige Aufgabe von fünf Millionen Quadratkilometern Staatsgebiet und 60 Millionen Einwohnern hätte jeder klar denkende Staatsmann als absurd von sich gewiesen, und auch der Verzicht auf die Supermachtstellung samt Rüstungsparität mit den USA wäre für ihn völlig unannehmbar, gar unvorstellbar gewesen,“ schreibt der Journalist György Dalos. 999„Daher dachten die Machthaber, was ihre osteuropäischen Partner betraf, an nichts weiter als an einige Zugeständnisse bei den Westkontakten sowie an eine begrenzte Liberalisierung der Gesellschaft – dies alles natürlich unter dem Vorbehalt der Bündnistreue und der Wahrung der führenden Rolle der jeweils herrschenden KP.“ Und: „Die Intention der Perestrojka lässt sich aus heutiger Sicht etwa wie folgt zusammenfassen: Die Sowjetunion verzichtet auf das Rüstungsniveau der Achtzigerjahre, zieht sich aus den militärischen Konfliktzonen zurück, findet mit dem Westen einen Modus vivendi, um von dort die Technologie zu bekommen, mit der sie ihre stagnierende, marode Wirtschaft wieder ankurbeln kann. Parallel dazu löst das Regime manche politischen Spannungen, indem es den bürokratischen Druck 998 Heyden, Ulrich und Ulf Mauder, Der gescheiterte Held. In: Sächsische Zeitung vom 18.08.2011, S. 4. 999 Dalos, György, Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa. München 2009.

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auf Kultur und Öffentlichkeit durch Glasnost mildert und bestimmte Institutionen, vor allem lokale Selbstverwaltungen, demokratisiert. Betriebe und Fachministerien erhalten eine größere Selbständigkeit, unter anderem auch das Recht, ausländische Partner direkt zu kontaktieren. Privatpersonen dürfen kleine Unternehmen oder Kooperativen gründen.“ Dalos schreibt sogar: „Diese Pläne gingen viel weiter als die ihrer Vorbilder – Lenins ‚Neue Ökonomische Politik‘ in den Zwanzigerjahren und Chruschtschows ‚Tauwetter-Politik‘ nach Stalins Tod.“ In seiner 2011 erschienenen Gorbatschow-Biographie kommt er zu demselben Ergebnis. 1000 Der Rezensent Uwe Peter greift diese Interpretation gerne auf: „Als Gorbatschow 1985 anfing, den Deckel von einer muffigen Kiste zu heben, ahnte er nicht mal im Entferntesten, welcher Mief ihm da entgegenschlagen würde. Dass aber ausgerechnet er vom Hoffnungs- zum Sargträger der Sowjetunion würde, ist die persönliche Tragik seines Lebens. Mit einigen schweren Fehlern hat er die Sache nur unfreiwillig beschleunigt.“ 1001 Fünf Jahre früher hatte er zu Gorbatschows Geburtstag noch ein positiveres Fazit gezogen. Unter der Überschrift „Zu spät gekommen – und vom Leben bestraft“ hatte er geschrieben: „Gorbatschow hat bewusst an den Säulen gerüttelt, auf denen die UdSSR stand. Er hat viel zu spät erkannt, dass diese Säulen lediglich tönerne Füße waren. Innenpolitisch stets mehr Träumer als Realpolitiker, war auch er den Wunschvorstellungen seiner Partei erlegen, die als existierende Realitäten verkauft wurden. Der angestrebte Aufbruch zu neuen Ufern geriet in den Strudeln von Nationalismus, Misswirtschaft und Korruption zum Untergang einer Weltmacht.“ Aber er entschuldigt auch Gorbatschow, der Ex-Kreml-Chef sei weder Erfinder noch Verweser des ‚real existierenden Sozialismus‘ gewesen. Dessen Ruin hatten seine sowjetischen Vorgänger und deren Statthalter in Osteuropa aufs Gründlichste vorbereitet. „Als Gorbatschow am 11. März 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde, war das Urteil über diesen missglückten Versuch einer gesellschaftlichen Alternative schon gesprochen. Nur die Hinrichtung stand noch aus… Geblieben sind die außenpolitischen Erfolge seines Wirkens, die halfen, bis dato unüberwindbare Gräben zu überbrücken und Mauern einzureißen. Gorbatschow ist zu Recht dafür verehrt und mit internationaler Anerkennung überhäuft worden – vor allem in Deutschland.“ 1002 „Der Spiegel“ brachte wenig später etwas Licht in die Frage nach der Bewertung von Gorbatschows Leistung als Generalsekretär der KPdSU, als er aus den Protokollen der Politbüro-Sitzungen zitierte, die Tschernjajew, Medwedjew und Schachnasarow angefertigt hatten. 1003 „Die Protokolle enthüllen, dass Gorbatschow lange Zeit durchaus der Motor der Perestrojka war und sich mitunter Dalos, György, Gorbatschow. Mensch und Macht. Eine Biographie. München 2011. Peter, Uwe, Der menschliche Faktor. In: Sächsische Zeitung vom 05./06.02.2011, S. 10. 1002 Peter, Uwe, Zu spät gekommen – und vom Leben bestraft. Jubiläum. Michail Gorbatschow feiert heute seinen 75. Geburtstag – und ist im eigenen Land umstritten bis vergessen. In: Sächsische Zeitung vom 02.03.2006, S. 3. 1003 Neef, Christian, Tagebuch einer Weltmacht. In: Der Spiegel 46/2006 vom 13.11.2006, S. 112-144. 1000 1001

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gebieterisch gegen seine Genossen durchzusetzen verstand,“ schreibt Christian Neef in einem „Spiegel-Spezial“ 2007, das sich dem „Experiment Kommunismus“ widmet. 1004 Dass Politiker und Militärs, die im Zuge der Veränderungen ihr Amt verloren haben, fundamentale Kritik an Gorbatschow üben, überrascht nicht. Das gilt für die Sowjetunion wie für die anderen sozialistischen Staaten. So rückte der letzte Generalsekretär der SED, Egon Krenz, in einem Vortrag am 20. Mai 2011 in Görlitz Gorbatschows Politik in die Nähe des Verrats, „nicht aus Berechnung, aber aus Schwäche“. In seinem 2009 in 2. Auflage erschienenen Buch „Herbst `89“ schreibt er über Gorbatschow noch differenzierter: „Früher haben ihn viele liebevoll `Gorbi` genannt. Jetzt höre ich oft den Vorwurf, er habe die DDR verraten. Ich schließe mich dieser Ansicht nicht an. Ich glaube nicht, dass sich gesellschaftliche Prozesse in der Welt so vollziehen. Würde der Verratsvorwurf dominieren, würde uns das behindern, die objektiven Ursachen für das Versagen des Sozialismus in Europa aufzudecken. Es gibt unterschiedliche Formen von Verrat. Verrat aus Berechnung im Dienst einer ausländischen Macht schließe ich aus. Es gibt aber auch Verrat aus Schwäche, aus Eitelkeit. Das Resultat ist für die Betroffenen schließlich das gleiche. Ob ein solcher Verrat bei Gorbatschow vorlag, werden wohl erst unsere Enkel erfahren, wenn auch die Akten der USA und der UdSSR offen liegen. Spekulationen darüber will ich nicht anstellen. Ich schrieb in meinem Brief an Gorbatschow (1992), dass es für alle Linken eine Tragödie ist, dass die von ihm vertretene Politik der Perestrojka gescheitert ist.“ 1005 Noch deutlicher äußerte sich NVA-General Fritz Streletz: „Kein Land wurde 1990 auch so hinterhältig verraten und verkauft von Gorbatschow und Schewardnadse wie die DDR.“ 1006 Auch Hans Modrow, 1989/90 Ministerpräsident der DDR, nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Bundestagsabgeordneter, schreibt über diese letzte Periode der sowjetischen Geschichte: „Wenn nicht die Abschaffung des Sozialismus das Ziel dieser Bemühungen (d. h. Gorbatschows – W.G.) war, muss diese fünfte Periode nüchtern als Fiasko charakterisiert werden.“ 1007 Geprägt von der politischen Auseinandersetzung in der Duma fallen die Urteile über Gorbatschow scharf aus. So beurteilt Leonid Baktin (Bewegung demokratisches Russland) Gorbatschows historische Rolle im Prozess der Umwandlung des Staates: „Dieser Mann hat aus Versehen eine Flasche geöffnet, doch das ist alles, was wir ihm verdanken; er wusste nicht einmal, welcher Geist daraus entweichen konnte.“ 1008 Und Jegor Ligatschow, unter Gorbatschow Politbüromitglied, Neef, Christian, Aufbruch ins Chaos. In: Spiegel Spezial Geschichte 4/2007, S. 125. Krenz, Egon, Herbst `89. Mit einem aktuellen Text. 2. Aufl., Berlin 2009, S. 443. 1006 Heimann, Peter, „Gorbatschow hat uns hinterhältig verraten und verkauft.“ In: Sächsische Zeitung vom 12.08.2011, S. 2. 1007 Modrow, Hans, Die Perestroika. Wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen und Analysen eines Jahrzehnts, das die Welt veränderte. Berlin 1998, S. 35. 1008 Afanassjew, Jurij, Russland – Despotie oder Demokratie. Vorwort von André Glucksmann. Düsseldorf u.a. 1993, S. 43. 1004 1005

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schreibt in seinen Memoiren mit dem bezeichnenden Titel „Wer verriet die Sowjetunion?“: „Ich werde immer wieder gefragt: Wer aber war der Hauptakteur bei der Zerrüttung der Sowjetunion? Wer trägt die Schuld an all dem Übel, das mit schrecklicher Gewalt über das Volk hereingebrochen ist? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Doch mit der Zeit hat sich die Antwort herauskristallisiert: Gorbatschow.“ 1009 Mit besonderem Interesse haben die Osteuropa-Wissenschaftler die Vorgänge in der Sowjetunion beobachtet und beschrieben, als nach der gerontokratischen Herrschaft des späten Breschnew, Andropows und Tschernenkos mit Gorbatschow das jüngste Politbüromitglied zum Generalsekretär der KPdSU gewählt worden war. Natürlich prägte dabei das Vorverständnis vom Sowjetstaat und seiner Gesellschaft das Urteil. Wer von der Reformunfähigkeit des Systems ausging, fand demnach auch nur gescheiterte Ansätze oder „überhaupt kein durchdachtes Reformprogramm“. 1010 Kritisch wirft Moshe Lewin den Kollegen vor, das westliche Denken über die UdSSR erkenne nur allzu selten an, dass sich das Leben in der Sowjetunion nicht auf den Marxismus-Leninismus beschränke. Fjodorow schreibt sogar, man habe unbestreitbar sichtbare Anzeichen dafür gehabt, dass die Ideologie in der Sowjetunion immer mehr nur Anstrich wurde und immer weniger Körper, politisch nicht umgesetzt, in der Praxis nicht wahrgenommen oder nicht für wahr genommen. So habe man an der Wahrheit vorbeigesehen, dass diese Sowjetunion seit langem schon zu einem zutiefst konservativen Staatsgebilde geworden war. 1011 Lewin zitiert Stephen E. Cohens Ausspruch, die Zunft der Sowjetologen sei nicht auf Gorbatschow vorbereitet gewesen: „Man kümmerte sich kaum um das reichhaltige, komplexe soziale Gewebe der UdSSR; die sowjetische Kultur und jene Gegen- und Subkulturen, die Denken, Einstellungen und Erwartungen prägen, wurden zwar von einigen Spezialisten erforscht, blieben aber bei einflussreichen Kommentatoren unberücksichtigt. Auch die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Staat und Partei wurden nicht erforscht. Doch gerade auf sie kommt es an, wenn wir historische Ereignisse wirklich verstehen wollen. Kurz, es fehlte der Begriff eines sowjetischen ‚Gesellschaftssystems‘ und, historisch gesehen, der eines dynamischen Prozesses, durch den alle Subsysteme in Raum und Zeit aufeinander einwirken und zu immer komplexeren und verwickelteren Mustern führen.“ Und er zitiert die Denkschulen von Zbigniew Brzezinski und Samuel P. Huntington, die im Urteil über die Sowjetunion „von einer grundsätzlich versteinerten oligarchischen Struktur“ sprachen, sowie ihrer Gegner H. Gordon Skilling,

Ligatschow, Jegor, Wer verriet die Sowjetunion? Berlin 2012, S. 292. Hain, Sabine, Partei und Staat in der Sowjetunion 1985-1991. Baden-Baden 2006, S. 226; Altrichter, Helmut, Russland 1989. Der Untergang des Sowjetischen Imperiums. München 2009, S. 119; Michael McFaul sieht nur einige Wirtschaftskorrekturen. McFaul, Russian’s unfinished Revolution, S. 111. 1011 Fjodorow, Wohin geht Russland? S. 25f. 1009 1010

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Franklyn Griffiths und Jerry Hough, die von „Interessengruppen“, „institutionellem Pluralismus“, sogar von „konstitutionellen Zwängen“ sprachen. Klaus von Beyme zitiert diese Denkschulen amüsiert. 1012 Dagegen sieht Leo Kofler schon 1986 im „Gorbatschowismus“ „etwas prinzipiell Neues und Vorbildliches für den gesamten sozialistischen Ostblock, einschließlich Chinas“. Die ganze Welt wisse, dass mit Gorbatschow eine völlig neue Figur in die Geschichte der russischen Revolution eingetreten sei, die jedoch nicht bloß als eine isolierte Erscheinung beurteilt werden dürfe, sondern als Ausdruck überreifer Probleme, die vehement zur Lösung drängten. 1013 Auch Lewin spricht schon 1987 von einer neuen Reformära und untersucht die Veränderungen, bevor Gorbatschow an die Macht kam. Bei Gorbatschow aber erkennt er eine Vision; deren wichtigste Aspekte „sind seine Bereitschaft, die Schwere der Gebrechen seines Landes öffentlich einzubekennen, und seine Einsicht, dass alle Grundsphären des Systems im Zusammenhang analysiert und gleichzeitig reformiert werden müssen“. 1014 Zwei Jahre später stellt Klaus Segbers erstaunt fest, dass kaum ein westlicher Beobachter und nur wenige sowjetische Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen erwarteten, „dass sich die ökonomischen Entwicklungsblockaden, die sozialen Verwerfungen und die unter Druck geratene internationale Stellung der UdSSR in ein umfassend angelegtes und konsequent betriebenes Modernisierungs- und Reformprogramm übersetzen würden“. 1015 Wieder gehen aber die Meinungen über den Erfolg der Reformen und insbesondere die Rolle Gorbatschows auseinander. So widmet zwar Martin Malia seine Arbeit „der polnischen Solidarność, die 1980 den Kampf gegen den Kommunismus aufnahm, und dem Demokratischen Russland, das die Aufgabe 1991 zu Ende führte“, dann aber zweifelt er daran, ob es Gorbatschows Ziel von Anfang an gewesen sei, „den Totalitarismus durch Demokratie zu ersetzen und Osteuropa zu befreien“. 1016 Im Gegenteil, nach Malia habe Gorbatschow an eine so tiefgreifende Veränderung wie die Abschaffung von Art. 6 der Verfassung „nicht im Traum gedacht“. Er sei nie mehr als ein Reformkommunist gewesen. Schließlich: „So stolperte der letzte Möchtegern-Lenin unserer Tage in die Karriere eines Fin-de-régimeZauberlehrlings.“ Für das Jahr 1991 stellt Malia zwar fest, dass der Kommunismus zusammengebrochen war, er sieht dieses Ergebnis aber nicht als das Werk Gorbatschows und 1012 Beyme, Klaus von, Osteuropaforschung nach dem Systemwechsel. Der Paradigmawandel der „Transitologie“. In: Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, hrsg. von Stefan Creuzberger, Ingo Mannteufel, Alexander Steininger und Jutta Unser. Köln 2000, S. 228f. 1013 Kofler, Leo, Aufbruch in der Sowjetunion? Von Stalin zu Gorbatschow. Hamburg 1986, S. 90f. 1014 Lewin, Moshe, Gorbatschows neue Politik. Die reformierte Realität und die Wirklichkeit der Reformen. Frankfurt am Main 1988, S. 14, S. 16, S. 9, S. 91. 1015 Segbers, Klaus, Der sowjetische Systemwandel. Frankfurt am Main 1989, S. 11. 1016 Malia, Martin, Vollstreckter Wahn. Russland 1917-1991. Stuttgart 1994, S. 5, S. 464.

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seiner Mannschaft, sondern in der außerordentlichen Schwäche des Kommunismus. Die tieferen Ursachen für das Ende des sowjetischen Modells sieht er in der „Ursünde“, „dem Staatsstreich vom Oktober 1917 und dem 1918 daraus gefolgten Versuch, den Kommunismus mit militärischen Mitteln aufzubauen“, denn daraus „flossen alle späteren Zwangsmaßnahmen, von der Revolution von oben der Jahre 1929 bis 1933 über die Säuberungen bis hin zur Restaurierung des Systems in der Nachkriegszeit“. Auf Malias Linie liegt auch Orlando Figes, wenn er schreibt, gemessen an seinem ursprünglichen Plan, die Sowjetunion durch Reformen zu retten, müsse Gorbatschow als gescheitert gelten: „Am Beginn seiner Amtszeit war es sicher nicht sein Ziel gewesen, der Revolution ein Ende zu setzen. Als Leninist hing er der Überzeugung an, dass es möglich sei, den Sozialismus durch die Reform des Sowjetsystems zu errichten.“ Und er fügt einschränkend hinzu: „In späteren Jahren sollte er allerdings behaupten, er habe stets geplant, einen Kurs vom Kommunismus zur Demokratie zu steuern, aber in Wirklichkeit war er ein politischer Kolumbus, der sich auf die Suche nach dem Gelobten Land machte, nur um etwas ganz anderes zu entdecken.“ Dennoch sieht er in ihm eine der bedeutendsten Figuren der Zeitgeschichte. 1017 Die „Theorie des Implodierens“ erklärt aber weder die Rolle von Gorbatschows Mannschaft, ja sie schmälert oder bestreitet sie sogar, noch weniger aber erkennt sie die Zielgerichtetheit der Reformen, das heißt, dass hinter dem Abbau des alten Systems bereits die Vision eines neuen, demokratischen, stand. Dieser Position gegenüber verweist Klaus Segbers auf das „prinzipiell Neue“ des Wandels. Erstmals seit sechzig Jahren sei eine historische Situation gegeben, in der grundsätzliche Fragen überhaupt gestellt werden könnten, „d. h. in der es nicht mehr allein um marginalen Dissens, sogar nicht nur um die objektive Notwendigkeit von weitreichenden Veränderungen oder um den politischen Willen dazu geht, sondern in der tatsächlich die Ebene der praktischen Realisierung eines Systemwandels erreicht ist“. 1018 In diese Richtung plädierten bereits 1987 Caspar Ferenczi und Brigitte Löhr, wenn sie schreiben, dass der Generalsekretär „bislang damit beschäftigt war, den Weg für fundamentale Veränderungen freizumachen, deren Einzelheiten erst noch ausgearbeitet werden müssen“. 1019 Eine Bestätigung dafür, dass Gorbatschow und seine Mannschaft mit einem Programm zur grundlegenden Veränderung des sowjetischen Systems angetreten waren, gibt im Nachhinein Nikolaj Ryschkow, unter Gorbatschow Politbüromitglied und Ministerpräsident der UdSSR. Kritisch schreibt er in seinen Memoiren, Gorbatschow habe die Ideale der Perestrojka verraten und auch die Leute, mit denen er begonnen habe. Auch Ryschkow gebraucht zwar das Wort „Vaterlandsverräter“, dann aber fällt er ein aufschlussreiches Urteil: Figes, Orlando, Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. München 2014, S. 243 f, S. 344. 1018 Segbers, Der sowjetische Systemwandel, S. 340. 1019 Ferenczi, Caspar/Brigitte Löhr (Hrsg.), Aufbruch mit Gorbatschow? Entwicklungsprobleme der Sowjetgesellschaft. Frankfurt am Main 1987, S. 11. 1017

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„Es ist schwer, einem Menschen in sein Innerstes zu schauen und seine wahren Absichten zu erkennen. Aber daran, dass Gorbatschow sich seit langem mit dem Gedanken trug, die Kommunistische Partei, die ihn groß gemacht hatte, und die sowjetische Gesellschaft, in der er aufwuchs, zu beseitigen, kann kein Zweifel bestehen.“ Und zur Bestätigung zitiert er Gorbatschow selbst: „Er selbst sprach darüber nach dem Jahr 1991.“ 1020 Schewardnadse, neben Jakowlew Gorbatschows Hauptunterstützer in seiner „Revolution von oben“, schreibt über Gorbatschows Politikansatz: „Gemeinsam mit seiner Generation der Politiker schuf er eine völlig neue Konzeption für die Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft und des sowjetischen Staates. Sie berücksichtigte die grundlegenden Veränderungen in der Innen- und Außenpolitik. Zum ersten Mal in der Geschichte der Sowjetunion zielten die Veränderungen auf eine Revision der kommunistischen Ideologie. Damals fragten sich viele: ‚Was bedeuten Perestrojka und Glasnost, das ist doch ein Nein zum Sozialismus? ‘ Das war in der Tat so, aber das konnte man damals nicht laut aussprechen.“ 1021 Die Frage stellt sich aber, ob Gorbatschows Politik der Perestrojka, das heißt der Transformation eines politischen Systems im Innern eines Staates wie innerhalb des internationalen Staatensystems, sich mit den herkömmlichen Interpretationsmustern beschreiben oder überhaupt erfassen lässt. Hat er mit dem System etwa auch dessen Interpretationsmuster gesprengt? Versteckt sich hinter dem Bruch mit dem Leninschen Parteiverständnis, auf das Jutta Scherrer, auch unter Verweis auf Schatrow, verwies, nicht nur der Gewissensbegriff, sondern eine andere Auffassung von Politik? Schewardnadse gibt dazu einige Hinweise, wenn er schreibt, der Politik der Glasnost „lag eine Lebenshaltung zugrunde, die der Ignorierung des Anderen ein Ende machen wollte: egal, wer der Andere ist, für meine eigene Zukunft ist es günstiger, wenn ich versuche, den Anderen kennenzulernen und erkennen zu lernen. Diese Einstellung ist schwer erreichbar, aber als Garantie für einen Frieden dauerhafter als eine Strategie, die auf Gewalt und Einschüchterung beruht. Glasnost ist nichts anderes als die Aufarbeitung der Geschichte, der Dialog mit dem Anderen, das Hinterfragen und beleuchten des Verdrängten und das mutige Einstehen für einen dauerhaften Frieden.“ 1022 Deshalb fordert er, quasi als Vermächtnis: „Keiner darf einem anderen seinen Lebensstil aufzwingen, und niemand hat das Recht, die Werte des Anderen zu bestimmen. Wir sind alle frei in unserer Wahl, jedoch nur so lange und so weit, dass diese Freiheit nicht andere Menschen, Völker oder Länder gefährdet. Es ist höchste Zeit, dass sich einflussreiche Vertreter verschiedener Zivilisationen, Kulturen und Religionen an den Verhandlungstisch setzen und gemeinsam nach einem Weg suchen, der unsere Zukunft…retten soll.“ 1023 Ryschkow, Nikolai, Mein Chef Gorbatschow. Die wahre Geschichte eines Untergangs. Berlin 2013, S. 217. 1021 Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 57. 1022 Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 370. 1023 Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 385. 1020

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Und: „Das Wichtigste war die Etablierung der Prinzipien der Wahrheit, Offenheit und Aufrichtigkeit.“ 1024 Um die konkrete Bedeutung dieser Politik zu unterstreichen, sucht er Genschers Bestätigung, „dass wir, als wir mit den anderen Kollegen die Grenzen öffneten und die Konzeption der neuen Weltordnung ins Leben riefen, mit der Wiedervereinigung Deutschlands und der Etablierung der westlichen Werte in den osteuropäischen Ländern nicht ein in sich ruhendes Europa anstrebten. Als wir uns die Bewältigung des Kalten Krieges zum Ziel setzten, ging es uns um seine Beendigung, nicht um das Verschieben der Frontlinie.“ 1025 Die Werte spricht auch Václav Havel an, dessen Einstellung Gorbatschow und Schewardnadse sehr wohl kannten: „Europa muss sich bewusst machen, dass es eine der Integration dienende Vereinigung ist, die sich auf in Jahrtausenden herausgebildete Werte und Prinzipien stützt. Es ist nötig, zu diesen Werten zurückzukehren und sich zu vergegenwärtigen, dass es vor allem auf sie ankommt und nicht auf irgendwelche kurzfristigen Kalkulationen.“ 1026 Der tschechische Dramatiker und Staatspräsident sieht sich in der spezifisch tschechischen Tradition der „nichtpolitischen Politik“, die als politische Haltung und Strategie besonders T.G. Masaryk vorgelebt hatte. Es ist die Strategie des aufrechten Ganges und Ausdruck einer Haltung, sich auch durch die widrigen Umstände nicht brechen zu lassen. Es ist Havels „Versuch, in der Wahrheit zu leben“. Sie resultiert aus dem Leben in einer anders gearteten Umwelt und der Überzeugung, sich nicht den Wertmaßstäben dieser Umwelt unterzuordnen. Es ist die Antithese zur herrschenden (kommunistischen) Macht. Von daher ist Gorbatschows Bekenntnis zu den Zielen des Club of Rome nicht nur Ergebnis der Einsicht in die Notwendigkeit globaler Regelungen für globale Probleme, sondern auch ein politisches Mittel, den Systemantagonismus zu überwinden. In den „allgemein-menschlichen Werten“ liegt für ihn die systemübergreifende Verantwortung und Aufforderung zur Zusammenarbeit. Dmitrij Furman setzt diesen Politikansatz dem „archaischen Verständnis von Macht“ gegenüber. In der Politik Russlands habe es nicht nur „Monster“ gegeben, sondern auch sehr anständige Regierungen. Er sieht in Gorbatschow eine exzeptionelle Erscheinung. Denn es habe keine Regierung gegeben, „die in ihrer Politik selbst die normale menschliche Moral anwandte, die, wie Gorbatschow, tief begründet und tief empfand, dass die Menschen und Völker zu unterdrücken nicht ‚gefährliche politische Auswirkungen‘ oder ‚umso größere Aufwendungen erfordern‘, sondern einfach ‚schlecht‘ ist.“ Gorbatschow sei seiner Zeit weit voraus gewesen. „Wir können stolz sein, dass wir freiwillig und friedlich dutzende Völker befreiten.“ Es habe in Russland, konstatiert er, keine mächtigen liberalen Traditionen gegeben, „aber wir hatten die Perestrojka.“ Und er schließt hoffnungsvoll: „Bei uns gab es Stalin, aber bei uns gab es auch den Anti-Stalin: Gorbatschow, eine schlimme Epoche für das Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 68f. Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss, S. 375. 1026 Gruša, Jiří, Václav Havel, Die Macht der Mächtigen oder die Macht der Machtlosen? Klagenfurt 2006, S. 79. 1024 1025

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traditionelle Verständnis – eine Epoche der Niederlage und ‚völliger geopolitischer Katastrophe‘, aber für das neue demokratische Bewusstsein – eine Epoche des Aufbruchs zur Freiheit und tatsächlichen Größe Russlands.“ Es sieht in Gorbatschow deshalb zu Recht „das Beste, was es in der russischen politischen Geschichte gegeben hat.“ 1027

Furman, Dmitrij, Perestroivšij sebja i mir. In: Nezavisimaja gazeta 01.03.2011; Gorbačev, Michail, Naedine s soboj. Moskva 2012, S. 643-647.

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8. Das Ziel der demokratischen Gesellschaft in Russland bleibt bestehen Zu den größten Erfolgen der Perestrojka gehört der Wandel der Gesellschaft von einem apathischen Verhalten hin zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen. Letzten Endes hat die russische Gesellschaft in ihrem Widerstand gegen die Putschisten und der Verteidigung des russischen Präsidenten Boris Jelzin ihre Reifeprüfung abgelegt. Damit war das eigentliche Ziel der Perestrojka erreicht. Und man darf das große Kant’sche Wort hier getrost anwenden: Die Gesellschaft war aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit herausgetreten. 1028 Auch die nationalen separatistischen Bewegungen sind von daher als Erfolg zu bewerten, da sie das Prinzip der Selbstbestimmung forderten und– wenn auch unzureichend – umsetzten. Dem Thema „Dissidenz und nationaler Protest in der Sowjetunion“ hat Detlev Preuße seine umfangreiche Arbeit gewidmet. Da der nationale Protest nicht Gegenstand dieser Arbeit ist, sei hiermit ausdrücklich auf die Arbeit von Preuße verwiesen. 1029 An die Ausgangslage erinnert Gorbatschow: „Die Situation wurde dadurch kompliziert, dass trotz der Unzufriedenheit in der Gesellschaft, besonders in den Kreisen der Intelligenzija, im Land nicht einmal ansatzweise eine Massenprotestbewegung existierte, auf die man sich bei der Durchführung einer Politik der Umgestaltung hätte stützen können.“ Die Gründe sieht er in langlebigen russischen Traditionen wie der eigenen Ergebenheit, Passivität und Neigung zum Konformismus. „Diese Eigenschaften haben während der jahrzehntelangen erbarmungslosen Herrschaft Stalins noch abnormere Züge angenommen und auch in der Zeit danach unverändert überlebt.“ 1030 Und er ergänzt, es stellte sich heraus, dass wir nicht nur tiefgreifende Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Strukturen brauchten, sondern eine Revolution in den Köpfen, eine tiefgreifende Veränderung im Denken. Man dürfe auch nicht vergessen, dass die Veränderungen inmitten eines ständigen Kampfes stattfanden, eines Kampfes der Menschen, der Meinungen und der Positionen sowohl innerhalb der Parteiführung als auch in der Mehrheit der Partei und der Gesellschaft insgesamt. 1031 Mit Genugtuung, wenn auch in gewisser Sorge sprach Jakowlew gegenüber der französischen Journalistin Lilly Marcou diesen Wandel an: „Die Gesellschaft hat sich bereits verändert. Die größte Errungenschaft der letzten Jahre besteht in der Tatsache, dass durch das gesellschaftliche Erwachen Kräfte freigesetzt und objektive Prozesse eingeleitet wurden, die mit ihrer Logik von nun an den Lauf der Ereignisse bestimmen werden. Dieses Erwachen wird uns noch viel Kopfzerbrechen machen, wenn man allein an all die künftigen Veränderungen denkt! Aber gerade Geierhos, Die Oktoberrevolution als zyklische Systemtransformation, S. 108. Preuße, Detlev, Umbruch von unten. Die Selbstbefreiung Mittel- und Osteuropas und das Ende der Sowjetunion. Wiesbaden 2014. 1030 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 9. 1031 Gorbatschow, Gipfelgespräche, S. 10f. 1028 1029

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dieses Erwachen ist Quelle der Kraft für die Umgestaltung und Garantie für ihre Dauerhaftigkeit.“ 1032 Dieses Problem des Ausbrechens aus den sicher geglaubten Ritualen beschreibt Stephan Merl, gestützt auf Alexei Yurchak, sehr anschaulich: „In den Verhaltensformen vor 1985 war das Neue vielfach bereits angelegt, weil jenseits der performativen Beschwörung der kollektiven Identität das Regime durch Wegschauen die unterschiedlichsten Lebensformen toleriert hatte. Jetzt entfiel der bisherige Zwang, die kollektive Identität mit Worten zu bekräftigen. Yurchak betont, dass die vorherige Abweichung des realen Handelns von den Worten kein Ausdruck der Ablehnung des Regimes gewesen sei. Die große Masse der Bevölkerung habe zuvor beides getan: Sie beteiligte sich an den performativen Ritualen und trug so dazu bei, dass die Diktatur fortbestehen konnte, während sie zugleich mit dem eigenen Tun in großem Umfang die in Worten beschworenen offiziellen Regeln verletzte, ohne dem bewusst Beachtung zu schenken. Furcht sei in der Realität eng verbunden gewesen mit sehr realem Optimismus, mit Wärme und menschlichem Glück.“ 1033 In seinen „Erinnerungen“ geht Gorbatschow auf diese Stimmungslage der Bevölkerung ein: „Ich gehöre keineswegs zu den Leuten, die glauben, wir hätten siebzig Jahre und mehr vertan. Aber wir haben die Möglichkeiten, die uns die poststalinistischen Jahre boten, nicht genutzt, wobei man freilich hinzufügen muss, dass auch die Gesellschaft damals darauf nicht vorbereitet war. Selbst unter denjenigen, deren Schicksal durch den Stalinismus geprägt worden war und die mitunter schwer gelitten hatten, gab es nur wenige, die alle Zusammenhänge begriffen. Und diesen wenigen Menschen war es nicht vergönnt, den Lauf der Ereignisse zu beeinflussen.“ 1034 So konnte er, nachdem die Wirkungen der Perestrojka nicht mehr zu übersehen waren, auf dem XXVIII. Parteitag auch über die Wandlungen in der Gesellschaft sprechen. Am 10. Juli 1990 sagte er: „Der politische Kurs der Perestrojka, der Erneuerung der Gesellschaft im Rahmen des Sozialismus wird vom Parteitag unterstützt…Ungeachtet der Fehler, der Unzulänglichkeiten, der verspätet eingeleiteten Maßnahmen, ungeachtet auch der Dramatik der heutigen Lage in unserem Lande ist das allgemeine Ergebnis der Veränderungen positiv: Die Gesellschaft hat vor allen Dingen die Freiheit erlangt, die Freiheit, die die Energien des Volkes freigesetzt und es ermöglicht hat, Millionen von Menschen in die Politik einzubeziehen und lebensnotwendige Umgestaltungen in Angriff zu nehmen… Jedoch weder die Partei noch das Land als Ganzes, weder die alten noch die neugegründeten Bewegungen – keiner hat es bis jetzt gelernt, die erlangte Freiheit zu gebrauchen. Die Krise der Partei wurzelt gerade in dem Unvermögen und dem

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Jakowlew, Offener Schluß, S. 132.

1033 Merl, Politische Kommunikation, S. 150; Yurchak, Everything, S. 8; Fulbrook, People’s State,

S. 1-20. 1034 Gorbatschow, Erinnerungen, S. 881.

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Unwillen, zu begreifen, dass wir bereits in einer neuen Gesellschaft leben und wirken, in einer Gesellschaft, in der Glasnost umfassend und uneingeschränkt ist, in der eine in der Geschichte nie dagewesene Freiheit herrscht.“ 1035 Als die zentrifugalen Kräfte nicht mehr zu übersehen waren, versuchte Gorbatschow, die Einheit der Union durch eine Volksabstimmung zu retten. So fasste der Kongress der Volksdeputierten der UdSSR am 24. Dezember 1990 den Beschluss zur Durchführung eines unionsweiten Referendums zur Frage der Erhaltung einer erneuerten Sowjetunion. Dieses Referendum fand am 17. März 1991 statt mit dem Ergebnis, dass 76,4 Prozent der Bevölkerung für den Erhalt der Union stimmten. Welche Errungenschaften den Journalisten durch die Perestrojka eröffnet worden waren, wurde ihnen am Tag nach dem Putsch deutlich. Denn der Putsch scheiterte auch am Widerstand der Medien. So schreibt der Chefredakteur der Moskauer Stadtzeitung „Kuranty“, Anatolij Pankow, auf der Titelseite der Notstands-Sonderausgabe Nummer 1: „Der Faschismus kommt nicht durch. Trotz unseres kritischen Verhältnisses zu Michail Gorbatschow, zu einigen seiner Handlungen und zur Form seiner Wahl – nicht durch das Volk, sondern durch die alten Volksdeputierten – haben wir ihn doch als Präsidenten der UdSSR akzeptiert. Was heißt nun, seine Vollmachten gehen an den Vizepräsidenten über, im Zusammenhang mit einer krankheitsbedingten Amtsunfähigkeit? Ist er erkältet? Nicht bei Sinnen? Warum gibt es keine offizielle Erklärung von ihm? Es ist klar, dass diese Bolschewiki alles auf eine Karte gesetzt und am Ende einen Staatsstreich unternommen haben. Aber man kann das Volk nicht in die Knie zwingen. Das ist eine Verschwörung von Menschen, die schon verurteilt sind.“ 1036 Eine wichtige Rolle spielte das Theater. Schon auf dem Schriftstellerkongress 1986 wies Genrich Borowik darauf hin: „Unsere Zeit ist selbstkritisch. Aber ich glaube sagen zu dürfen, dass die Bühnendichtung als eine der ersten Literaturgattungen auf die Forderung der Partei nach einer psychologischen Umgestaltung der Gesellschaft reagiert hat. Die Stücke und Inszenierungen ‚Diktatur des Gewissens‘ von M. Schatrow 1037 am Theater des Leninschen Komsomol, ‚Silberne Hochzeit‘ von A. Mischarin am Moskauer Künstlertheater, ‚Iwan‘ von A. Kudrjawzew und ‚Aus den Nachrichten dieses Tages …‘ von A. Burawski am Jermolowa-Theater, ‚Der Artikel‘ von R. Solnzew am Zentralen akademischen Theater der Sowjetarmee, ‚Der letzte Besucher‘ von W. Dosorzew am Leningrader Großen Dramentheater und die Trilogie nach der Prosa von E. Abramow am Leningrader Kleinen Dramentheater, ‚Ich bin natürlich ein kleiner Mann‘ von M. Garajewa am Kiewer Lesja-Ukrainka-Theater, die Stücke von A. Abdullin am Tjumener Dramentheater, ‚Der Schrei eines Kranichs‘ von A. Schuk und A. Dudarjew am Belorussischen Janka-Kupala-Theater und einige andere Arbeiten wurden zu beachtenswerten Ereignissen nicht nur des Gorbatschow, Erinnerungen, S. 532. Ruge, Unterwegs, S. 296. 1037 Schatrow, Michail Filipowitsch (Marschak), 1932-2010. 1035 1036

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Theaters, sondern auch des gesellschaftlichen Lebens.“ Diese Stücke seien aber „keine zufälligen Manifestationen des staatsbürgerlichen Engagements unserer Dramatiker. Sie waren vorbereitet worden von I. Dworezkis ‚Mann da draußen‘, A. Salynskis ‚Maria‘, V. Rosows ‚Nest des Auerhahns‘ und A. Gelmans ‚Protokoll einer Sitzung‘, A. Mischarins ‚So groß wie vier Frankreichs‘ und M. Schatrows ‚So werden wir siegen!‘, A. Abdullins ‚Dreizehntem Vorsitzenden‘, A. Tschaidses ‚Tschinar-Manifest‘ und vielen anderen.“ 1038 Schon angesichts der Ahnung eines drohenden Putsches und der Furcht vor Ereignissen nach chinesischem oder rumänischem Muster gründete sich eine „Bürgeraktion“, um alle demokratischen Kräfte zusammenschließen: „Die Bürger sind für ihre Zukunft selbst verantwortlich und müssen sie selbst gestalten.“ So wie nach dem zweiten Weltkrieg Deutschland und Japan sich wieder hocharbeiteten, wie es sich jetzt in den Ländern Asiens wiederhole, so könne es auch ein russisches Wirtschaftswunder geben. Die Ziele der Bürgeraktion enthalten schon die Elemente einer demokratischen Verfassung: „Die Bürgeraktion strebt an: Abschluss eines neuen Unionsvertrages, der eine freie Vereinigung souveräner Staaten und Völker begründet. Unterbindung aller Monopole, vor allem der staatlichen, auf das Eigentum an Produktionsmitteln; Übergang zur modernen Marktwirtschaft, die sich auf den Wettbewerb verschiedener Eigentumsformen und ein wirksames System der sozialen Sicherheit gründet. 1. Übergabe des Bodens zur erblichen Nutzung bzw. seine Überführung ins Eigentum jener, die ihn bestellen wollen. 2. Trennung der KPdSU und der Parteiideologie von Staat und Wirtschaft; Schaffung eines Mehrparteiensystems und rechtliche Gleichstellung der KPdSU mit allen anderen politischen Organisationen. 3. Gewährleistung vielfältiger Formen des geistigen und gesellschaftlichen Lebens. 4. Demokratische Reform der Armee. 5. Entbindung des KGB von der Funktion einer politischen Geheimpolizei.“ 1039 Schlögel erinnert an die Stärke der Gesellschaft. Die Sowjetunion habe nur so lange existiert, weil sie „von der Initiative, der unendlichen Kombinationsgabe und Improvisationsfähigkeit von Menschen“ gelebt habe, nicht von den Fähigkeiten der Apparate, die gesellschaftlichen Reichtümer zu verschleudern. „Es gab unter der Maske des Sowjetmenschen nicht weniger Talente, Organisationsfähigkeit, Intelligenz als anderswo. Die sogenannte Planökonomie hätte keinen Tag ohne jene Improvisationen, jene Genies der Kombination überleben können.“ Das große Wunder des Endes der Sowjetunion sei, dass der Zusammenbruch der bürokratischen Apparate und Strukturen nicht mit dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Lebens, auf den man gefasst sein musste, einherging; „dass das Ende des Kommunismus eben nicht das große Vakuum hinterlassen hat, das behauptet wird, sondern der Raum ausgefüllt worden ist von einer undurchsichtigen Mischung aus schöpferischer Suche nach neuen Wegen, verzweifeltem Festhalten an alten Modellen und Fluchten in neue, möglichst einfache Rezepte“. – „Wer sieht endlich“, 1038 1039

Borowik, Genrich, Literatur und Perestrojka, S. 253. Borowik, geb. 1926. NEUE ZEIT (Moskau) 8/90 vom 19.-25.02.1990, S. 25

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ruft er aus, „welche ungeheuer reiche und vielfältige Selbsttätigkeit und Selbstorganisation darin steht, dass Millionen von Bürgern ihr Leben inzwischen selbst in die Hand genommen haben – nicht mehr abhängig von einem verwüsteten Staatswesen, aber auch nicht mehr erpressbar.“ 1040 In diesem Transformationsprozess sieht Schlögel die räumliche Größe Russlands als Vorteil, denn es hänge nicht alles am Zentrum. Denn nicht nur die konstruktiven Kräfte müssten den Raum bewältigen, sondern auch die destruktiven. „Oft gehen wachsende Autonomie und Sezessionismus ununterscheidbar Hand in Hand.“ Und ein neues Regionalbewusstsein helfe über den Schmerz des gedemütigten Reichsbewusstseins hinweg. 1041 Auch Gorbatschows Berater Daschitschew warnt davor, die historischen Leistungen als eine Niederlage der Sowjetunion im Kalten Krieg auszudeuten. 1042 Im Abstand von zwanzig Jahren wird die Perestrojka Gorbatschows nun in ihrer Bedeutung für die russische Gesellschaft begriffen. Nicht gerade optimistisch schreibt deshalb Lev Gudkov: „In den 1990er Jahren herrschte die idealtypische Zukunftsvorstellung, dass das Land eine Transformation von einem autoritären oder totalitären Regime in eine offene Gesellschaft durchläuft.“ Immerhin attestiert er der aktuellen Regierung gewisse Erfolge: Das Interesse des Putin-Regimes am eigenen Machterhalt und am Zugriff auf die staatlichen Einnahmen stärkte die Umverteilungspolitik der Staatsbürokratie. Putins Kurs des ‚sozialen Staats‘, der in den nationalen Programmen, der systematischen Erhöhung aller sozialen Leistungen sowie der Unterstützung junger und kinderreicher Familien zum Ausdruck komme, wurde zum wichtigsten Instrument, um das Vertrauen großer Teile der Bevölkerung in die politische Führung zu sichern. Hierin bestehe das soziale Kapital des Regimes. 1043 Spätfolgen bildeten die Proteste von Hunderttausend Bürgern auf den Straßen der Hauptstadt wie entsprechender Massen in den anderen Städten Russlands in den Jahren 2011 und 2012 aus Anlass der Wahlen zur Duma und der Präsidentenwahl. Diese Bürgerbewegung hatte es vor der Perestrojka nicht gegeben. Die russischen Bürger sind wach geworden, auch wenn viele Maßnahmen Putins als Präsident wie als Ministerpräsident einen Rückschritt hinter die Fortschritte unter Gorbatschow und Jelzin bedeuten, besonders auf den Gebieten der Justiz und der Veröffentlichten Meinung. So schreibt Dmitrij Golynko: „Ein Jahrzehnt war Russland von Passivität, Konformismus und politischer Apathie geprägt. Dies ist seit Dezember 2011 vorbei. Nach den Fälschungen bei den Duma-Wahlen tauchte plötzlich eine Zivilgesellschaft auf, die mit zahlreichen Aktionen gegen das herrschende Regime – von Großdemonstrationen über Protestspaziergänge von Künstlern und Schriftstellern bis zu kleinen Mahnwachen vor Polizeistationen –

Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, S. 140ff. Schlögel, Die Mitte liegt ostwärts, S. 144. 1042 Daschitschew, Moskaus Griff nach der Weltmacht, S. 23. 1043 Gudkov, Sozialkapital, S. 56f. 1040 1041

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auf sich aufmerksam macht. An die Stelle der selbstgewählten vita contemplativa tritt in den 2010er Jahren eine aufgekratzte vita activa.“ 1044 Es habe sich eine Kunst des Protests entwickelt, schreibt Golynko, in der sich Protestformen von weltweit agierenden Globalisierungsgegnern und konspirativen anarchistischen Zellen organisch mit Aktionsformen vermischten, die der Karnevals- und Marktplatz-Lachkultur nahestehen, wie Michail Bachtin sie beschrieben habe: Die großen Versammlungen und theatralischen Umzüge, dann die TwitterRevolution, die von Hacker-Attacken und Internetseiten von Staatsunternehmen bis zur Erfindung sarkastischer Internet-Häme reiche, und schließlich die Stadtpartisanen, „die auf der Grenze zwischen närrischem Happening und Strafdelikt balancieren“ wie die Art-Gruppe Vojna und die Punkband Pussy Riot. Diese großen Versammlungen und Umzüge nennt er eine für Russland neue Art des gewaltfreien Widerstands. Die neuen Medien erleichterten die Kommunikation der sozialen Netzwerke, Peer-to-Peer-Netzwerke, Filesharer und Videohostings, Imageboards, Chats. 1045 Als am 27. Februar 2015 der einzige aktuelle aussichtsreiche politische Gegner des Präsidenten, Boris Nemzow, unter Jelzin Vizeministerpräsident, auf der Kremlbrücke ermordet wird, kommt wieder, wie schon bei der Ermordung der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja am 7. Oktober 2006, der Verdacht auf, der Kreml könnte an diesem Anschlag nicht ganz unschuldig sein. Wieder gingen 25.000 Bürger in Moskau auf die Straße und legten demonstrativ Blumen an der Stelle nieder, an der der Mord geschah. Dieser Verdacht, der nicht nur aus der Art der Ermordung, sondern auch aus der öffentlichen Bedeutung der Opfer sich speist, geht einher mit dem Wissen, dass Putin aus dem KGB kommt, unter Jelzin Präsident des FBS, der Nachfolgeorganisation, gewesen ist und seine Kontakte zu den ehemaligen Kollegen noch sehr intensiv sind. Er erhöht im Ergebnis nicht das Vertrauen in die Regierung. So „war in Moskau und vielen anderen russischen Städten am Sonntag das Gesicht eines anderen Russlands zu sehen. Fast wäre es in Vergessenheit geraten, “ schreib die Süddeutsche Zeitung und forderte den Westen auf, die russische Zivilgesellschaft zu stärken. Denn es stimme: Die Opposition ist zersplittert, wenige kennen ihre Anführer, noch weniger würden sie wählen. Aber daraus zu schließen, es gebe keine Alternative zum Status quo, sei zynisch, denn damit mache man sich die Logik der Unterdrücker zu Eigen. Dass die Opposition heute nur am Rande existiere, sei das Ergebnis von Verfolgung durch die Justiz, Zersetzung durch Geheimdienste, Einschüchterung durch Schläger und – wie jetzt – letztlich auch durch Mord. Die Süddeutsche Zeitung erinnert an die historische Rolle der Dissidenten: „Die sowjetischen Dissidenten waren einst noch weniger, noch unbekannter, noch perspektivloser. Als am 25. August 1968 Menschen ein Transparent mit der Aufschrift ‚Für eure und unsere Freiheit‘ auf dem Roten Platz entfalteten, um gegen 1044 Golynko, Dmitrij, Das Ende der Apathie. Russlands Protestbewegung. In: Osteuropa 68/2012, S. 229. 1045 Golynko, Das Ende der Apathie, S. 237f.

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die Niederschlagung des Prager Frühlings durch sowjetische Truppen zu protestieren, wurde die Aktion als ‚Demonstration der Sieben‘ bekannt. Sieben Demonstranten! Diese sieben haben das sowjetische System nicht gestürzt. Aber für Hunderttausende im Ostblock war ihre Aktion ein Zeichen der Hoffnung, ein Zeichen, dass sie nicht alleine sind.“ Und der Autor Julian Hans stellt die Frage: „Waren Dissidenten wie Alexander Solschenizyn oder Andrej Sacharow unbedeutend, weil es so wenige waren?“ Er antwortet mit dem Blick in die Zukunft: Wenn eines Tages durch einen Wechsel in der Führung ein Reformer zum Zuge komme, dann brauche er eine Gruppe im Volk, auf die er sich stützen könne, aus der Experten und Beamte mit Erfahrungen in demokratischen Verfahren und einem offenen Geist rekrutiert werden könnten, Menschen wie Nemzow. 1046 „Missbrauch des Strafrechts“ nennet Otto Luchterhandt die Prozesse gegen Alexej Nawalnij, der wegen seiner Kritik an der Korruption öffentlich bekannt geworden ist, und „Verstoß gegen die Verfassung“ und „Rechtsbeugung“. 1047 Wie also ist die Lage heute? Wenn man ausgeht von der Leistung von Gorbatschows Mannschaft, den von der KPdSU beherrschten Sowjetstaat in einen demokratischen Verfassungsstaat umzuwandeln, so macht sich heute Ernüchterung breit. Der Abbau der Zivilgesellschaft, die Einschränkung der Pressefreiheit, der Arbeit der NGOs durch das sogenannte Agentengesetz vom 13. Juli 2012, 1048 der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure, die Einführung eines neuen Wahlrechts mit der Folge der Reduzierung der Parteien bedeuten einen Rückschritt hin zu autoritären Strukturen (Duma-Beschluss vom 3.12.2004). Der auch in Westeuropa zu beobachtende Kontrollverlust des Parlaments über die Regierung ist in Russland nun noch stärker ausgeprägt, so dass von einer Gewaltenteilung im Sinne von Montesquieu nicht mehr gesprochen werden kann. Fehlt auch noch das Korrektiv der freien Presse, ist die Nähe zu diktatorischen Strukturen nicht mehr zu übersehen; die Bezeichnungen Russlands als „gelenkte Demokratie“ und „Demokratur“ stehen dafür. Denn institutionell hat sich in der Russländischen Föderation eine quasi gesetzgebende Rolle des Staatsoberhauptes herausgebildet, die mit der Verfassung nicht korrespondiert. Im Ergebnis nimmt die Qualität eines Gesetzes desto stärker ab, je intensiver sein Regelungsgegenstand machtpolitische Interessen der Präsidialexekutive berührt. Einige Gesetze gefährden sogar massiv die Substanz der demokratischen Kommunikationsrechte bzw. politischen Freiheitsrechte. Selbst in der „Sammlung der Gesetzgebung der Russländischen Föderation“ ist die Trennung von Gesetzen und Verwaltungsakten ungenau vollzogen. Insgesamt ist es um die Ryklin, Michail, Die inszenierte Einsamkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.01.2015, S. 18; Hans, Julian, Die wahren Patrioten. In: Süddeutsche Zeitung vom 03.03.2015, S. 4. 1047 Luchterhandt, Otto, Missbrauch des Strafrechts. Das ‚System Putin‘ im Kampf gegen Aleksej Naval’nyj. In: Osteuropa 1-2/2015, S. 95-124. Siehe auch: Morde an Journalisten und Politikern in Russland 1994-2015. In: Osteuropa 1-2/2015, S. 153-157. 1048 Ochotin, Grigorij, Agentenjagd. Die Kampagne gegen die NGOs in Russland. In: Osteuropa 1-2/2015, S. 83-94. 1046

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Qualität der Gesetzgebung in der Russländischen Föderation, zumindest, was das öffentliche Recht betrifft, nicht gut bestellt. So überrascht nicht, dass von vielen russischen Juristen die Qualität der Arbitragegerichte (Wirtschaftsgerichte) höher eingeschätzt wird als die Rechtsprechung der allgemeinen Gerichte. Mit dem Gesetz über den Status der Richter in der UdSSR vom 4. August 1989, 1992 für die Russländische Föderation, und der Verfassung von 1993 war die Unabhängigkeit der Richter festgeschrieben worden. Seit dem 15. Dezember 2001, als der Status der Richter geändert wurde, spricht man von der „Gegenreform“: Die Richter erhalten drei Jahre Probezeit, die Amtszeit der Vorsitzenden Richter wird alle sechs Jahre von der Administration bestätigt oder nicht. Im Ergebnis hatten allein in Moskau achtzig Richter ihre Ämter niedergelegt. „Das Recht zog aus, das Gericht bleibt“, ist das Fazit. Dazu gehört, dass die Staatsanwaltschaft mit dem Gesetz vom 5. Juni 2007 die Entscheidungsbefugnis über die Einleitung und die Einstellung von Strafsachen verloren hat. Auch die Anwälte sind betroffen, denn die neue Strafprozessordnung führte ein neues Verfahren der Einleitung von Strafverfahren gegen Anwälte ein. Im Ergebnis stellt sich ein spezifisch russisches Verfassungsverständnis dar. Die Verfassung wird nicht als Vertrag, der den gemeinsamen Willen des Volkes zum Ausdruck bringt (Contrat social), verstanden, sondern als „rechtlicher Ausdruck der politischen Verhältnisse“ relativiert. Dem Gewaltenteilungsmodell wird die spezifisch russische Idee eines harmonischen Zusammenwirkens der Gewalten gegenübergestellt. Schließlich wird der Verfassung die Bedeutung einer Maßstabsnorm für die Überprüfung der Gesetze im Grunde abgesprochen. So spricht man heute von grundsätzlichen Bekenntnissen zum Rechtsstaat, nicht aber von in der Tat bestehender Rechtsstaatlichkeit in Russland. Dennoch werden der russischen Verfassungsgerichtsbarkeit im Hinblick auf die Ausbildung der Verfassungstheorie wie der Orientierung an Gesetzgebungspraxis und Rechtsanwendungspraxis große Verdienste zugesprochen. 1049 In jüngster Zeit ist erkennbar, dass Putin Traditionslinien in die vorsowjetische Zeit zieht. So sagte er in seiner Rede Anfang Dezember 2014 vor der Föderalen Versammlung: „Auf der Krim leben unsere Menschen, und es ist ein strategisch wichtiges Gebiet, denn hier liegt der spirituelle Ursprung der vielgestaltigen, aber monolithischen russischen Nation und des russischen Zentralstaates. Hier, auf der Krim, dem antiken Chersonesos oder Korsun, wie es die russischen Chronisten nannten, erhielt Fürst Wladimir die Taufe, worauf er die ganze Rus taufte.“ Und er vergleicht die Bedeutung der Krim deshalb mit der des Tempelberges in Jerusalem. 1050

Luchterhandt, Otto (Hg.), Rechtskultur in Russland: Tradition und Wandel. (Recht in Ostmittel-, Südost- und Osteuropa/GUS Band 18. Berlin 2011. 1050 Putin, Wladimir, Die Vielgestaltigkeit der Welt und die Einheit der Nation. In: Junge Welt vom 06./07. und 08.12.2014. 1049

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„Russland kommt“ betitelte Gernot Erler Wladimir Putins Staat im Jahre 2005, d.h. während der ersten acht Jahre von Putins Präsidentschaft (2000-2008). Inzwischen läuft die zweite Periode (2012-2016 bzw. 2020). 1051 Zieht man heute Bilanz, so ist zu erkennen, dass sich die Russländische Föderation in der Krise befindet. Einerseits ist nicht zu übersehen, dass es Putin gelang, die eigene Wirtschaft aus den Turbulenzen des Übergangs von der Staatswirtschaft zur Marktwirtschaft herauszuführen, vor allem durch den gesteigerten Export von Erdgas und Erdöl, andererseits haben die aggressive Außenpolitik gegenüber der Ukraine, die daraufhin verhängten Sanktionen und in ihrer Folge die negative Veränderung der Terms of trade zu massiven Einbrüchen geführt, wobei der Verfall des Rubels und das sich abzeichnende Staatsdefizit durch die Halbierung des Ölpreises auf dem Weltmarkt die Bevölkerung unmittelbar zu spüren bekommt. Wie weit der Westen Mitschuld trägt an der Isolierung Russlands innerhalb der G 8 ist schon in der Ausrichtung der US-Außenpolitik gegenüber Boris Jelzin deutlich geworden. Fakt ist, dass die Bezeichnung Russlands als „Regionalmacht“ durch den amerikanischen Präsidenten das russische Selbstverständnis im Mark getroffen hat. Der Wunsch der USA sich als verbliebene Hegemonialmacht zu begreifen, als „Sieger der Geschichte im kalten Krieg“ war zielgerichtet verfolgt worden ohne zu bedenken, welche Reaktionen das beim sich in der Transformation befindenden Russland auslösen würde. 1052 Andererseits war unter Breschnew der Bevölkerung die Parität mit den USA zu lange als Höhepunkt der eigenen Entwicklung vermittelt worden, ohne auf die immensen Kosten hinzuweisen und die schmale Basis dieser sich auf den Rüstungssektor gründenden Position, mit der Folge, dass jede Reduzierung, sei es des Umfangs der Rüstung, sei es der Aufgabe der Hegemonie über die sozialistischen Staaten innerhalb des Warschauer Paktes oder sogar die Verselbständigung der Republiken innerhalb der Union sich als Verlust, als Niederlage darstellen musste und, letzten Endes, sich die Russen nun als „die Verlierer des 20. Jahrhunderts“ sehen und den Zusammenbruch der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe“ bewerten. 1053 Seinen Unmut und damit eine Richtungsänderung seiner Politik brachte Präsident Putin auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 10. Februar 2007 deutlich zum Ausdruck. Den USA warf er vor, sich im Rahmen einer monopolaren Ordnung die Weltherrschaft aneignen zu wollen, bezeichnete die militärischen Aktivi1051 Erler, Gernot, Russland kommt. Putins Staat –der Kampf um Macht und Modernisierung. Freiburg im Breisgau 2005; Falk Bomsdorf meint bis 2024. Bomsdorf, Falk, Klarheit und Konsequenz. Russland-Politik in Zeiten des Krieges. In: Osteuropa 1-2/2015, S. 68. 1052 Geierhos, Wolfgang, Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik. Neue Herausforderungen für Armee und Polizei. In: Rothenburger Beiträge Band 15, 2003, S. 13-72. 1053 Schlarp, Karl-Heinz, Nach dem Ende der Sowjetunion. Die Russen als Verlierer des 20. Jahrhunderts. In: Nebelin, Marian, Sabine Graul (Hg.), Verlierer der Geschichte. Von der Antike bis zur Moderne. Berlin 2008, S. 359-378; Platzeck, Matthias, Russland einbinden. In: Sächsische Zeitung vom 28.11.2014, S. 5; Jahn, Egbert, Neuauflage des Ost-West-Konflikts? Friedenspolitische Herausforderungen durch die neuen Kriege in Europa. In: Osteuropa 3/2015, S. 25-45.

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täten der USA im Weltraum und ihre Pläne für ein in Europa stationiertes Raketenabwehrsystem als Schritte zu einem neuen Wettrüsten und beklagte die mangelnde Bereitschaft der westlichen Länder, endlich den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) zu ratifizieren, dann erinnerte er an die Zusagen der NATO, jenseits der Grenzen der Bundesrepublik keine militärischen Stationierungen vorzunehmen und mahnte die Allianz und die EU nicht die Rolle der UNO zu übernehmen. 1054 Die Destabilisierung der Ukraine seit 2013 und die Annexion der Krim sind deshalb als Reaktion auf das Vorhaben der Ukraine zu sehen, Mitglied der Europäischen Union und der NATO zu werden. Welche Zäsur dieses Vorgehen für die internationale Politik bedeutet, hat Timothy Snyder beschrieben. Sie markiert das Ende einer langen Phase europäischer Geschichte, in der bestimmte Regeln als dauerhaft gültig und staatliche Souveränität als unantastbar angesehen wurden. Er schreibt: „Aufgrund des Moskauer Vorgehens, das gleichermaßen gegen die Charta der Vereinten Nationen, die KSZE-Schlussakte von Helsinki und das Budapester Memorandum verstößt, steht inzwischen mehr auf dem Spiel als eine Revolution in einem Land. Es geht um nichts weniger als die internationale Ordnung.“ 1055 Auf die mangelnde Sensibilität des Westens gegenüber Russlands Sicherheitsinteressen macht aber Kerstin Holm aufmerksam, wenn sie schreibt, Russlands Panik angesichts des Immer-weiter-Vorkriechens der Nato im Allgemeinen und der Möglichkeit, an der Südwestgrenze das einzige Kriegsflottenstandbein mit Mittelmeerzugang zu verlieren, im Besonderen, bleibe den meisten Europäern letztlich unverständlich. 1056 Enttäuscht muss auch Gorbatschow feststellen, dass die Früchte des Neuen Denkens, die unter Mühen erreicht wurden, sich nun vor seinen Augen buchstäblich in Nichts auflösen. Noch vor fünf Jahren sei Russland mit ausgebreiteten Armen und freudigen Gefühlen dem Westen entgegengegangen, es habe sich aber bald gezeigt, dass sich dort niemand gefunden habe, der nach dem Ende des Kalten Krieges Russlands Beispiel folgen wollte. Der Westen habe weder eine neue Doktrin der kollektiven Sicherheit noch eine neue Ideologie für eine friedliche Entwicklung der Welt hervorbringen können. Er sei weder moralisch noch intellektuell auf die Entwicklung und die Veränderungen in der Welt vorbereitet gewesen, die seine Politik ausgelöst habe. Vor allem sollte man im Auge haben, dass das zutiefst menschliche Streben der Russen nach Freiheit, nach freundschaftlichen Beziehungen zur übrigen Welt, nach einem Ende der Politik der Angst und der Drohungen durchaus kein Zeichen von Schwäche sei. „Der Aufbau einer neuen demokratischen Zivilisation wurde somit rein bürokratisch erledigt. Leider haben viele im Westen vergessen, dass der Demokratie große mora-

Erler, Gernot, Mission Weltfrieden. Deutschlands neue Rolle in der Weltpolitik. Freiburg im Breisgau 2009, S. 136f.; Creutzberger, Die Legende vom Wortbruch, S. 108. 1055 Snyder, Timothy, Putins neokoloniales Projekt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.03.2015, S. 8. 1056 Holm, Kerstin, Sitzenbleiber mit Pokerface und großem Latinum. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.01.2015, S. 9. 1054

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lische Werte zugrunde liegen, …vor allem meine ich den Grundsatz der moralischen und politischen Würde jedes einzelnen Menschen, den Grundsatz der Toleranz, des Respekts vor der Meinung eines jeden.“ 1057 Nun sind Aktivitäten Russlands zu erkennen, die eine Verlagerung der außenpolitischen Orientierung anzeigen. So bezeichnet Putin Russland als pazifische Macht und den asiatisch-pazifischen Raum als in schneller Entwicklung begriffen. Mit der Mitgliedschaft bei den BRICS-Staaten wie der Eurasischen Wirtschaftsunion, die am 1. Januar 2015 ihre Tätigkeit in vollem Umfang aufgenommen hat, verbindet Putin die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum und politischen Einfluss und damit Kompensation für Hoffnungen, die in Mittel- und Westeuropa verloren gegangen sind. Nach Hannes Adomeit droht Russland ein neuer „imperial overstrech“. 1058 „Was tun?“ fragt Falk Bromsdorf und rasselt gleich mit dem Säbel, um dann zu fragen, ob Sicherheit und Stabilität wirklich nur mit und keinesfalls gegen Russland geschaffen werden können. Der Forderung „nahezu aller Vertreter des deutschen politischen Spektrums“, den „Dialog mit Russland nicht abbrechen zu lassen, die Kanäle offenzuhalten und das Gespräch mit dem Kreml – ‚gerade jetzt‘ – zu suchen“, steht er ablehnend gegenüber und lehnt deshalb auch die EU-Politik der „strategischen Partnerschaft“ und der „Modernisierungspartnerschaft“ als Illusion ab. 1059 Das aber waren die Schlüsselbegriffe der EU-Russland-Politik wie der Politik der Bundesregierung, wie sie noch auf der Tagung des Europäischen Rates am 18. und 19. Juni 2007 als „Europäische Nachbarschaftspolitik“ (ENP)formuliert worden waren. 1060 Und sie waren in Russland auf großes Interesse gestoßen. So schreibt Gernot Erler über Medwedjews Rede im Anschluss an seinen Besuch im Schloß Bellevue im Frühjahr 2008, sie habe vieles zusammengebunden: „Die Beschwörung der ‚deutsch-russischen Versöhnung‘ als Ausgangspunkt einer neuen Etappe in den beiderseitigen Beziehungen mit der Warnung vor der Ausdehnungspolitik der NATO, die in die schlechte Vergangenheit zurückführt, das erstmalige Werben für eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur auf der Grundlage eines verbindlichen Vertrages mit dem Angebot, bei globalen Fragen wie Energiesicherheit, Nahrungsmittelverteilung und Klimapolitik noch mehr Verantwortung zu übernehmen, sein persönliches Bekenntnis zu einem rechtsstaatlichen und demokratisch gefestigten Russland einschließlich eines Mehrparteiensystems und einer starken Zivilgesellschaft mit sehr konkreten Vorstellungen, wie Deutschland bei diesem Innovationsprogramm helfen könnte.“ Weiter: „AusGorbatschow, Michail, Daisaku Ikeda, Unsere Wege treffen sich am Horizont. München 1998, S. 237ff. 1058 Adomeit, Hannes, Russlands imperialer Irrweg. Von der Stagnation zum Niedergang. In: Osteuropa 3/2015, S. 67. 1059 Bomsdorf, Klarheit und Konsequenz, S. 65, S. 69. 1060 Tagung des Rates (Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen am 18./19. Juni 2007. In: Schneider-Deters, Winfried, Peter W. Schulze, Heinz Timmermann (Hrsg.), Die Europäische Union, Russland und Eurasien. Die Rückkehr der Geopolitik. Berlin 2008, S.617-626. 1057

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drücklich machte sich Medwedjew für gegenseitige Ausbildungsprogramme für Juristen, Richter und Führungskräfte stark (Siehe Universität Münster – W.G.). Auch wenn der Gast den die Phantasie beflügelnden Topos „Modernisierungspartnerschaft“ nicht namentlich erwähnte – jeder konnte verstehen, die Türen zu einer „Strategischen Partnerschaft“ neuer Qualität zwischen der EU und besonders zwischen Deutschland und Russland waren weit aufgestoßen.“ 1061 Egon Bahrs warnender Hinweis auf die russische Empfindlichkeit hat sich bewahrheitet. Im Jahr 2007 hatte er geschrieben, die zunächst harmlosen zehn amerikanischen Raketen, verbunden mit einem weit nach Russland reichenden Radarsystem in der Tschechischen Republik, schüfen einen neuen Krisenherd in Europa, der mit seinen möglichen Auswirkungen weit über Polen, Tschechien und den Raum der „offenen Flanke der EU“ hinaus reiche. Wenn aus der offenen Flanke eine mit modernster Militärtechnologie bewaffnete werde, wäre nicht nur allgemeine Aufrüstung, auch konventioneller Streitkräfte, die mögliche Folge, sondern der Geist der gemeinsamen Sicherheit würde durch den Geist der Konfrontation ersetzt. Europa, schließt er, würde zu einem schutzbedürftigen Objekt oder zu einem Exerzierplatz im Ringen zwischen Washington und Moskau werden. 1062 Sieben Jahre später fordert Herfried Münkler angesichts der Ereignisse in der Ukraine und dem Vordringen der IS-Milizen in Syrien und im Irak, die Europäer müssten ihre Rolle und Position in diesen Konflikten und bei deren Bearbeitung noch finden. Dann fordert er, die seit Jahrzehnten expandierende EU müsse zu festen Grenzen kommen und den Prozess ihrer Erweiterung beenden, wenn der Konflikt mit Russland um die geopolitische Zugehörigkeit der Ukraine nicht in einen europäisch-russischen Dauerkonflikt überführt werden solle. Gleichzeitig müsse sich die EU aber auch um die Stabilität ihrer Peripherie bemühen und in deren Stabilität investieren. 1063 Das Engagement der Bundeskanzlerin und des französischen Staatspräsidenten zur Eindämmung des Ukraine-Konflikts bei den Gesprächen mit dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten in Minsk (Minsk 2) ist eine solche Investition. Matthias Platzeck, von 2002-2013 Ministerpräsident von Brandenburg und seit März 2014 Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, mahnt, wir Westeuropäer wüssten erschreckend wenig von der gegenwärtigen russischen Mentalität, russischen nationalen Interessen, russischen Traditionen, die immer systembildend in diesem Land gewesen seien. Westeuropäische Politiker hätten sich darauf versteift, Russland müsse eine liberal-demokratisches System annehmen, westliche Rechtsnormen einführen, westliche Sichtweisen und Interessen übernehmen. Andererseits wisse auch Russland nicht, wie die EU tatsächlich funktioniere. Dann aber mahnt er, diejenigen, die glaubten, Russland würde durch eine Verschärfung Erler, Mission Weltfrieden, S.149f. Bahr, Egon, Noch einmal zum Geleit. In: Schneider-Deters u.a., S. 23. 1063 Münkler, Herfried, Soldat ohne Staat. In der internationalen Politik zählen nicht nur die Territorien, sondern auch die Waren- und Informationsströme. Eine andere Weltordnung entsteht. In: DIE ZEIT Nr. 39 vom 18.09.2014, S. 4. 1061 1062

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der Sanktionen in der Ukraine nachgeben, sollten unbedingt einen Plan B haben, falls die jetzige Bestrafungsstrategie nichts nütze. Deshalb könne nur ein Kompromiss den ausufernden Brandherd löschen. Natürlich dürfe er nicht auf Kosten der Ukraine gehen. Und er fordert: „Drei Dinge wären zu tun. Erstens: Wiederaufnahme eines breiten Dialogs mit Russland über die europäische Sicherheitsarchitektur. Es muss eine Lösung gefunden werden, wie sich NATO und EU-Osterweiterungen, bzw. Assoziierungen, im Westbalkan und der Ukraine mit russischen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen in Europa ‚vertragen‘ können. West und Ost müssen den gemeinsamen Raum von Lissabon bis Wladiwostok neu konzipieren. Zweitens: Russland sollte nicht wie der Verlierer des Kalten Krieges behandelt und vom Westen moralisch in Sachen Demokratie und Lebensstil ständig belehrt werden. Nur: Der Westen kann in einer Partnerschaft mit Russland seine eigenen Werte auch nicht verleugnen, Folglich brauchen wir einen neuen zivilgesellschaftlichen Dialog mit schwierigen Partnern… Es müsste Aufgabe des Petersburger Dialogs werden, einen konstruktiven Dialog zwischen Vertretern der deutschen Zivilgesellschaft und der nach einer neuen postkommunistischen Identität suchenden russischen Bürgergesellschaft aufzubauen. Und drittens: Russland ist nicht gegen eine Stärkung der allseits vergessenen OSZE. Michail Gorbatschow hat am 25. Jubiläumstag des Falls der Mauer die alte Idee aufgewärmt, in der OSZE eine Art europäischen Sicherheitsrat zu gründen.“ Platzeck schließt mit dem Wunsch, psychologisch müsse es uns gelingen, die russische Gesellschaft davon zu überzeugen, dass auch Russland ein Sieger des Mauerfalls war. 1064 Es ist ein schwieriger Weg zur Demokratie in Russland.

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Platzeck, Matthias, Russland einbinden. In: Sächsische Zeitung vom 28.11.2014, S. 5.

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9. Zusammenfassung Gorbatschows Politik der Glasnost und Perestrojka hat viele westliche Beobachter so überrascht, dass die westlichen Staatsmänner lange brauchten, um sich darauf einzustellen. Es handelte sich in der Tat um neues Denken, das die alten Denkstrukturen der Ost-West-Auseinandersetzung sprengte, ja vielen das vertraute Feindbild nahm. Am Ende aber war die KPdSU zerschlagen, Russland als Verfassungsstaat erstanden, die Bedrohung durch konventionelle und atomare Überrüstung abgebaut, und, vor allem, Deutschland vereint, die Möglichkeiten für eine neue Nachkriegsordnung in Europa, sogar einer neuen Weltordnung aufgetan. Allmählich erst wird bewusst, was besonders wir Deutschen Gorbatschow und seiner Mannschaft verdanken. Er ist vielleicht der größte Staatsmann des 20. Jahrhunderts. Bei der Suche nach den Quellen für Gorbatschows Politik stößt man nicht nur auf alternatives Denken in der Zeit der Existenz der Sowjetunion, sogar der StalinZeit, sondern auch auf demokratische Vorstellungen im 19. Jahrhundert und die erste russische Republik nach der Februarrevolution 1917. Es zeigt sich dabei, dass es in der Sowjetunion eine Parallelgesellschaft gab, die das Bewusstsein einer Alternative zur Sowjetdiktatur nie verloren hatte und mit zunehmenden Möglichkeiten sich national und international Gehör verschaffte. Die Lage wurde dadurch prekär, dass die Sowjetunion unter Breschnew durch ihre Politik der militärischen Parität mit den USA sich ökonomisch in einem Maße übernommen hatte, dass sie ohne Abbau der Überrüstung und einer Systemveränderung keinen Ausweg gefunden hätte. Über die wissenschaftlichen Eliten fand diese Erkenntnis Eingang in die Politikberatung bis ins Zentralkomitee der KPdSU und schließlich selbst ins Politbüro. Die Frage, die sich stellt, war, wie eine Revolution von oben unter den Bedingungen der in der Verfassung festgeschriebenen Herrschaft der KPdSU über den Staat durchzuführen war. Das ging nur mit den Mitteln und in der Sprache dieses Systems selbst. Jakowlew nennt es die List.

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Personenregister

Abalkin, Leonid 180, 186, 225, 229 Abbe, James 17 Abdullin, Alexander 386, 387 Abramow, E. 386 Abrassimow, Pjotr Andrejewitsch 307 Abuladse, Tengis 156, 205 Achmatowa, Anna Andrejewna (eig. Gorenko) 19, 211 Achromejew, Sergej Fjodorowitsch 333, 367 Ackermann, Anton 283, 285 Adamowitsch, Ales 352 Adschubej, Aleksej 81 Afanasjew, Jurij Nikolajewitsch 22, 37, 50, 68, 153, 174, 194, 370, 371, 372 Aganbegjan, Abel G. 28, 180, 186, 220, 223, 226 Agapowa, Ljubow 82, 83 Ahlander, Dag Sebastian 94 Ajtmatow, Dschingis 86, 91, 108, 117, 212 Alexander II., Zar 17, 160, 372 Alexejewa, Ljudmila 41 Amalrik, Andrej 23, 50, 52, 66, 77 Amberger, Alexander 291 Andrejewa, Nina 196, 224, 309, 353, 356, 357, 358 Andropow, Jurij Wladimirowitsch 21, 34, 50, 119, 125, 133-136, 141, 142, 144, 145, 146, 149, 151, 152, 153, 157, 167, 168, 197, 211, 221, 242, 247, 328, 378 Antschischkin, A. A. 186 Arbatow, Georgij Arkadjewitsch 48, 56, 134, 135, 180, 223, 236, 360 Astafjew, Viktor 90, 91, 92, 97 Auer, Stefan 173 Aures, R. 164 Avyžius, Jonas 92 Axelrod, Pawel 122 Aziz, Tarek 346

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Baberowski, Jörg 41 Bahr, Egon 318, 395 Bahro, Gundula 88, 91, 92, 97, 296, 297, 298 Bahro, Rudolf 110, 291, 292, 294, 299, 300, 313 Bajbakow 167 Baker, James A. 163, 334, 343, 344, 348, 362, 364, 365, 368, 369 Baklanow, Grigorij Jakowlewitsch 210 Baklanow, Oleg Dmitrijewitsch 365 Bakunin, Michail 296 Baldwin, James 117 Bamberger, Wilhelm 283 Barthel, Kurt (KuBa) 283 Batkin, Leonid 183, 377 Batschew, Wladimir 49 Baumann, Edith 282 Beethoven, Ludwig van 294 Behrens, Fritz 292 Bek, Alexander Alfredowitsch 186 Beljajew, Nikolaj Iljitsch 119, 121 Belousow, R. A. 223 Below, Wasilij 90, 92 Belyj, Andrej (eig. Boris Nikolajewitsch Bugajew) 211 Bence, György 313 Benjamin, Walter 70 Berg, Axel Iwanowitsch 101 Berger, Eduard 300 Berija, Lawrenti Pawlowitsch 26, 27, 28, 37, 278, 279 Beschloss, Michael R. 348 Bessmertnych, Alexander 346 Beyme, Klaus von 379 Beyrau, Dietrich 66, 67, 75 Bialer, Seweryn 74 Bickhardt, Stephan 300 Biermann, Wolf 288, 292 Bikkenin, Nail Barijewitsch 167 Bilák, Vassil 262

Bitow, Andrej 211 Bloch, Ernst 284, 285, 292 Böll, Heinrich 54 Bogomolow, Oleg Timofejewitsch 134, 223 Bokstein, I. 38 Boldin, Waleri Iwanowitsch 167, 207 Bolz, K. 164 Bonner, Jelena 23, 61 Borisow, Weniamin Iwanowitsch 83 Borowik, Genrich 386 Boulez, Pierre 71 Brahm, Heinz 44 Brandt, Willy 21, 118, 318, 319 Bräunig, Werner 306 Braun, Volker 288, 297 Brecht, Bertolt 284 Breschnew, Leonid Iljitsch 5, 12, 14, 29, 40, 41, 42, 49, 51, 56, 57, 61, 68, 71, 72, 84, 105, 119, 121, 130, 144, 145, 147, 157, 160, 163, 177, 188, 194, 197, 201, 206, 208, 217, 238, 240, 245, 252-255, 273, 305, 307, 350, 366, 373, 378, 392, 397 Brie, Horst 283 Brodie, Bernard 113 Brodsky, Josef 54 Bromsdorf, Falk 394 Bronstein, Matwej P. 22, 25 Brucan, Silviu 104 Brundtland, Gro Harlem 118 Brunner, Georg 241, 242 Brzezinski, Zbigniew 378 Bucharin, Nikolaj Iwanowitsch 22, 23, 24, 186, 199, 202, 207, 213, 219, 220, 372 Buchholz, Adolf (Appel) 283 Budyko, Michail Iwanowitsch 99, 100 Bühl, W. 188 Bukowskij, Wladimir 38, 41, 49, 50, 53 Bulgakow, Michail Afanasjewitsch 69, 211 Bundy, McGeorge 98 Burawski, Alexander 386 Burdschalow, E. N. 32

Burlazki, Fjodor 22, 32, 40, 73, 134, 191, 210 Bush, George H. 262, 278, 319, 328, 329, 335, 343, 347, 348, 363 Butzko, Jurij 71 Businnikow, Jewgenij 84 Cage, John 71 Carrère d`Encausse, Hélène 63, 162 Carter, Jimmy 118, 253 Ceauşescu, Nicolae 277, 309, 310, 315, 362 Chakravarty, Sukhamoy 104 Charms, Daniil Iwanowitsch (eig. Juwatschow) 211 Cheney, Richard B. 368 Chlebnikow, Welimir (eig. Viktor Wladimorowitsch) 211 Chodasewitsch, Wladislaw Felizijanowitsch 211 Chordorkowskij, Michail Borissowitsch 374 Chozin, G. S. 100 Chruschtschow, Nikita 5, 12, 14, 21, 27-37, 39, 40, 41, 49, 51, 56, 68, 73, 80, 81, 120-123, 125, 126, 130, 131, 134, 143, 144, 145, 157, 162, 167, 172, 177, 178, 188, 192, 193, 197, 199, 200, 201, 204, 212, 220, 221, 231, 239, 295, 353, 361, 370, 372, 373, 376 Chruschtschow, Sergej 42 Chudenko, Iwan 56 Churchill, Winston 261 Ciosek, Stanisław 276 Cliburn, Van (Harvey Lavan Cliburn Jr.) 34 Cohen, Stephen E. 378 Commoner, Barry 102 Crankshaw, Edward 39 Cromwell 189 Cuba, Lisandro Orterovon 117 Cvekl, Jiři 47 Dalos, György 275, 375, 376

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Daniel, Alexander 66 Daniel, Julij Markowitsch (Nikolaj Aržak) 41, 51 Dannemann, Eva 310 Daschitschew, Wjatscheslaw I. 250, 252, 316, 388 Davidow 87 Dawydow, M. 164 Degtjarew, Vladimir Iwanowitsch 124 Dejtsch, Lew G. 122, 206 Delone, W. 49 Deljusin, Lew 134 Demitschew, Pjotr Nilowitsch 207 Dergunow 52 Dessau, Paul 284 Diderot, Denis 342 Djilas, Milovan 47, 292 Dobroljubow, Nikolaj Alexandrowitsch 53 Dobrowolskij, Aleksej 44, 49, 52 Dobrynin, Anatoli Fjodorowitsch 259 Doder, Dusko 133, 134, 137 Dönhoff, Marion 55 Dosorzew, W. 386 Dostojewskij, Fjodor 165 Dreckmann, Hans-Josef 366 Dubček, Alexander 217, 218, 292, 314, 362 Dudinzew, Wladimir Dmitijewitsch 186 Dworezkij, Ignatij Moisejewitsch 212, 387 Dzerschinskij, Felix Edmundowitsch 367 Dzjuba, Jewgrafow 84 Ehrenburg, Ilja 43 Eichwede, Wolfgang 45, 65, 66 Eimermacher, Karl 211 Einstein, Albert 26 Eisler, Hanns 284 Engel-Braunschmidt, Annelore 70, 211, 212 Engels, Friedrich 18, 47, 149, 198, 233, 235, 240, 296 Ėrdman, Nikolaj Robertowitsch 211

416

Erler, Gernot 392, 394 Esterházy, Péter 69 Falin, Valentin Michajlowitsch 193, 259, 328, 331, 333 Faulwetter, H. 164 Fechner, Max 285, 286 Fedorow, E. K. 99 Fedortschuk 168 Fedosejew, P. N. 101, 223 Ferenczi, Caspar 380 Feuchtwanger, Lion 22 Figes, Orlando 35, 36, 153, 380 Figner, Vera 17 Filonow, Pawel 186 Fischer, Ernst 48 Fischer, Oskar 331 Fjodorow, Rafael 338, 378 Fock, Wladimir 26 Ford, Gerald Rudolph 253 Forrester, Jay 99, 102, 103, 107 Forti, Augusto 117 Fradkin, Ilja 305 Friedländer, Georg 283 Fröhlich, Paul 305 Frolenko, Michail 17 Frolow, Iwan Timofejewitsch 107, 110, 111, 185 Frolow, Viktor 35, 102, 106, 210 Fuchs, Jürgen 292 Furet, François 188, 191, 293, 342 Furman, Dmitrij 382 Fuß, Peter 69 Gagarin, Jurij 33 Galanskow, Jurij 23, 38, 41, 52 Galilei 152 Galkin, Alexander 317 Gamsachurdia, Zwiad 163 Gandhi, Rajiv 340, 364 Garajewa, M. 386 Garaudy, Roger 48 Gavelis, Ričardas 69, 71 Genscher, Hans-Dietrich 314, 317, 318, 323, 325, 334, 337, 363, 382 Geremek, Bronislaw 275, 276

Gerlach, Manfred 323 Germann, Alexej 211 Gerstenmaier, Cornelia 44 Gestwa, Klaus 86, 89, 90, 93, 94, 95, 96, 163, 196 Ginsburg, Alexander 37, 38, 41, 52 Ginsburg, Jewgenija Semjonowa 22, 23, 41, 51 Glemp, Józef, Kardinal 273 Godunow-Tscherdynzew, F. K. 70 Goebbels, Josef 318 Gogol, N. 165 Goldmann, Dorrit 283 Goldstücker, Eduard 48 Golizyna, Jelena 20 Golynko, Dmitrij 388, 389 Goodman, Benny 34 Gorbanewskaja, Natalja Jewgenjewna 46, 49 Gorbatschow, Michail Sergejewitsch 5, 12, 13, 14, 20, 21, 34, 38-42, 61, 62, 82, 91, 113-131, 136, 142-147, 150, 152, 153, 154, 155, 157, 158, 160, 161, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 174, 175, 176, 178, 180, 181, 183, 184, 185, 187-191, 193, 196, 197, 198, 202, 206, 207, 209, 210, 211, 214, 215, 216, 221, 222, 223, 224, 226, 227, 230, 232, 234, 236, 237, 239, 240, 242, 243, 245, 246, 247, 249, 250, 252-257, 259, 261, 263269, 273, 274, 275, 277-280, 286, 291, 300, 301, 302, 308, 309, 311, 312, 314-320, 322, 323, 324, 326343, 345-353, 356, 357, 360-369, 372, 373, 374, 375, 377-386, 388, 393, 397 Gorbatschowa, Raissa Maximowna 22, 257 Gorelik, Gennadij E. 208 Gorki, Maxim 32 Gramsci, Antonio 48 Granin, Daniil 88, 91, 211 Griffiths, Franklyn 379 Grigorenko, Peter 23, 49, 53 Grischin, Viktor Wasiljewitsch 168

Gromyko, A. A. 168 Gronic, Rafał 14 Grossmann, Wasilij Semenowitsch (Josif Solomonowitsch) 186 Grósz, Károly 311 Groys, Boris 209, 371 Gubajdulina, Sofija 71 Gubanow, L. I. 49 Gudkov, Lew 388 Gumiljow, Nikolaj Stepanowitsch 211 Gutschkow, A. I. 19 Gwischiani, Dschermen 98, 102, 103, 104, 105, 108, 164, 165 Gysi, Gregor 313, 338 Habermas, Jürgen 65 Häfele, Wolf 103 Hager, Kurt 301 Hanisch, Oswald 282 Hans, Julian 390 Haraszti, Miklós 313 Harich, Wolfgang 283, 284, 285, 290, 291 Haussmann, Helmut 363 Havel, Václav 13, 14, 64, 173, 266, 314, 382 Havemann, Robert 286, 287, 291, 292, 293, 298, 300 Hedeler, Wladislaw 24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 70 Hemingway, Ernest 34 Henrich, Rolf 298, 300 Heraklit 286 Herrmann, Joachim 312, 313 Herrnstadt, Rudolf 281, 284, 285, 286 Herrnstadt, Valentina 281 Herzberg, Hans 282 Herzen, Alexander 37, 52, 371 Herzfeld, Helmut (John Heartfield) 284 Heuer, Uwe-Jens 301, 302 Heyden, Ulrich 375 Hildermeier, Manfred 34, 35, 36, 183, 184, 185, 244 Hitler, Adolf 217, 245, 275, 280, 354 Höhmann, Hans-Hermann 225

417

Holbach, Paul Heinrich Dietrich 342 Hollande, François Gérard, G. N. 395 Holm, Kerstin 393 Honecker, Erich 267, 274, 282, 286, 298, 303, 304, 305, 307, 309, 311, 312, 313, 317, 319, 325, 326, 337, 338, 356, 362 Honecker, Margot 310 Horn, Gyula 314 Horváth 314 Hough, Jerry 379 Huber, Florian 327 Huber, Mária 21, 51, 194, 196, 327, 366 Hübner, Peter 34 Huntington, Samuel P. 378 Husák, Gustav 267, 314, 362 Hussein, Saddam 344, 346, 347

Jefimow, Anatolij 226 Jegorunin, Alexander 195 Jelzin, Boris 168, 208, 225, 244, 245, 350, 365, 366, 367, 368, 373, 384, 388, 389, 392 Jerofejew, Wenedikt 69, 71 Jesenin, Sergej Alexandrowitsch 53 Jesenin-Wolpin, Alexander Sergejewitsch 41, 44, 49, 53 Jewgrafow 84 Jewtuschenko, Jewgenij 22, 33, 34, 305 Jiang, Zemin 265 Johannes Paul II., Papst siehe Wojtyla Johnson, Lyndon 98 Jos, Otar 156 Juan Carlos, König 313 Judin, P. A. 284, 286 Jurjew, Oleg 43, 44

Ichenhäuser, Ernst 283 Ignatjew, Alexej 20 Ignatow, Vasilij 122 Ilf, Ilja (Ilja Arnoldowitsch Fajnzilberg) 120 Iowtschuk, M. T. 101 Isbander, Werner 300 Iwanow, Anatolij 92 Iwantschenko, Alexander 80, 83

Kádár, János 267, 311, 314, 362 Kafka, Franz 48, 306 Kaganowitsch, Lazar 79, 206 Kaifu, Toshiki 363 Kalinin, Michail Iwanowitsch 367 Kamenjew, Lew Borisowitsch 199, 213, 372 Kant, Immanuel 302, 384 Kantorowitsch, Leonid 34, 36, 226 Kapiza, Pjotr Leonidowitsch 25, 26, 27, 36, 37, 51, 56, 99, 100, 107 Karol, K. S. (Karol Kewes) 22 Karpinski, Len 196, 270 Katajew, Valentin Petrowitsch 51 Katkus, Laurynas 69, 70 Kautsky, Karl 31 Kazanzew, Alexej 214 Kemal, Yasar 117 Kennedy, John F. 98, 123 Kerenskij, Alexander F. 212 Keßler, Heinz 282 Kind, Ulrich 14 King, Alexander 115, 117, 164 Kirilenko, Andrej Pawlowitsch 80, 81 Kiritschenko, Nikolaj Karpowitsch 70 Kirow, Sergej Mironowitsch 213 Kiss, János 313

Jagodin, V. N. 141 Jakir, Peter 22 Jakorewa, Albina 83 Jakowlew, Alexander Nikolajewitsch 12, 14, 42, 70, 80, 145, 146, 154, 157-160, 167, 168, 171, 172, 180, 184, 186, 207, 208, 210, 214, 218, 244, 245, 268, 317, 338, 345, 350, 358-361, 369, 371, 372, 381, 384, 397 Janajew, Gennadi Iwanowitsch 365 Janka, Walter 283, 305, 313 Janow, Alexander 35 Jaruzelski, Wojciech 273, 275, 277, 278, 279 Jasow, Dmitri Timofejewitsch 365 Jawlinskij, Grigorij Alexejewitsch 360

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Kiszcak, Czesław 276 Klebanow, V. 82 Klein, Thomas 325 Kleßmann, Christoph 292 Knötzsch, Dieter 92, 93 Kölm, Lothar 42 König, Gerd 310, 311, 331 Koestler, Arthur 69 Kofler, Leo 379 Kohl, Helmut 197, 314, 318, 320, 322, 323, 327, 329, 332, 334-339, 363, 373 Kondratjew, Nikolaj 220 Konrád, György 65, 266, 313 Konwicki, Tadeusz 69, 71 Kopelew, Lew 22, 41, 53, 54, 63 Koptelzew, Valentin 338 Korotitsch, Witali Alexejewitsch 210 Kosáry, Andrea 14 Kosik, Karel 48 Koslow, Frol Romanowitsch 80, 81 Kosygin, Alexej Nikolajewitsch 21, 36, 51, 57, 98, 119, 125, 126, 220, 221, 361 Kotschemasow, Wjatscheslaw 307, 308, 309, 326, 327 Krahl, Brigitte 283 Krahl, Franz 283 Krasnopewzew, Lew 37, 52 Krassowski, Viktor 28 Krawtschuk, Ljudmila 14 Krebs-Gehlen, Barbara 14 Krenz, Egon 303, 308, 309, 311, 312, 317, 326, 327, 328, 331, 337, 377 Krjutschkow, Wladimir Alexandrowitsch 207, 333, 365 Krolikowski, Werner 308 Krupskaja, Nadeschda 202 Kudrjawzew, A. 386 Küsters, Hans Jürgen 328 Kukobaka, Michail (Kiszak) 84 Kulakow, Fjodor Dawydowitsch 119, 125, 126 Kulikow, Viktor Georgijewitsch 322 Kunze, Reiner 288, 292 Kurella, Alfred 282, 305

Kurkow, Andrej (Kurkiw) 71 Kusmin, Michail 44 Kusnezow, Eduard 38, 52 Kuusinen, Otto Wilhelmowitsch 32 Kwasniewski, Alexander 338 Laar, Mart 40, 93 Lakschin, Wladimir 210 Landau, Lew Davidowitsch 25, 26, 28, 36, 38 Lange, Robert 282 Larina, Anna 23 Larionow, Michail Fjodorowitsch 186, 211 Laschkowa, Vera J. 52 Laskorin, Boris 89 Lasota, Eligiusz 37 Lassalle, Ferdinand 18 Lawrentjew, M. A. 35 Lebedewa, Natalja Sergejewna 278, 279 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 11, 20, 30, 31, 32, 54, 122, 142, 143, 144, 149, 151, 153, 172, 176, 177, 186, 189, 191, 192, 198, 199, 202, 203, 205, 206, 209, 213, 231, 235, 236, 238, 240, 244, 283, 291, 293, 297, 302, 370, 372, 374, 376 Leonhard, Susanne 23 Leonhard, Wolfgang 23 Leonow, Alexej 253 Leontieff, Wassily W. 104 Leschnitzer, Franz 305 Lesow, A. A. 103 Lewin, Moshe 118, 378, 379 Lewitin-Krasnow, Anatolij 22 Li Peng 265 Lichatschow, Dmitrij S. 90, 193 Libermann, Jewsej Grigorjewitsch 36, 134, 149 Liebknecht, Wilhelm 296 Liebmann, Irina 281 Ligatschow, Jegor Kusmitsch 157, 210, 309, 333, 350, 351, 353, 356, 362, 377 Lindner, Paul 283

419

Litwinow, M. M. 53 Litwinow, Pawel 52, 53 Lobers, Peter 14 Löhr, Brigitte 380 Loest, Erich 287 Lomakin, Viktor 362 Lotman, Michail Ju. 70 Luchterhandt, Otto 390 Luft, Christa 310 Lukinow, I. I. 223 Lukjanow, Anatolij Iwanowitsch 207, 356, 365, 367 Luschen 322 Lutoslawski, Witold 71 Luxemburg, Rosa 202, 285, 292 Lwow, Georgij E. 19 Mably, Bonnot de 342 Maggo, Pjotr Iwanowitsch 24 Maizière, Lothar de 313, 336, 339 Majskij, Ivan 51 Malejew, Igor 212 Malenkow, G. M. 27 Malewitsch, Kasimir 19, 186, 211 Malia, Martin 27, 33, 379, 380 Mandel, Ernest 294 Mandelstam, Nadeschda 23, 43 Mandelstam, Osip 23, 43 Mann, Thomas 284, 306 Mao Zedong 22 Marcou, Lilly 360, 384 Maria Theresia, Kaiserin 98 Martow, Julius Ossipowitsch 153, 202 Martschuk, G. I. 223 Marx, Karl 18, 30, 37, 47, 48, 122, 149, 198, 205, 231, 232, 233, 236, 240, 293, 294, 296 Masaryk, T. G. 14, 382 Maschkow, Jurij 38 Masljukow, Jurij Dmitrijewitsch 168 Matewosjan, Hrant 91 Matlock, Jack 365 Mauder, Ulf 375 Maximow, Wladimir 72 Maximowa, M. 164

420

Maximytschew, Igor 326, 327 Mayer, Hans 284, 292 Mayor, Frederico 117 Mazowecki, Tadeusz 276, 277, 278 McFarlane 116 McMillan 164 McNamara, Robert S. 341 Meadows, Denis 98, 99, 102 Medwedjew, Roy 38, 42, 51, 57, 65, 66, 67, 78, 161, 200 Medwedjew, Sch. 23, 53 Medwedjew, Wadim Andrejewitsch 167, 184, 186, 207, 223, 350, 356, 376, 394 Melsheimer, Ernst 285 Menon, Narayana 117 Merkel, Angela 395 Merkulow, Wsewolod Nikolajewitsch 278 Merl, Stephan 208, 216, 218, 395 Mesarović, Mihaljo 102, 105, 106 Meyer-Landrut, Andreas 319 Michail, Großfürst 19 Michnik, Adam 266, 276, 277, 313 Mielke, Erich 303, 327 Mießner, Rudolf 282 Mikojan, Anastas Iwanowitsch 31, 80, 81, 283 Miljukow, Pawel 11, 352 Miller, Arthur 117 Milosz, Czeslaw 69 Minz, Lew 28 Miodowicz, Alfred 275 Mischarin, Alexander Sergejewitsch 386, 387 Mitkowa, Tatjana 365 Mittag, Günter 303, 309, 310, 312, 313 Mittenzwei, Werner 291, 306 Mitterrand, François 328, 332, 338 Mladenow, Petar 315 Mlynář, Zdenék 48, 120, 153, 161 Mock, Alois 314 Modrow, Hans 330, 331, 332, 333, 334, 335, 337, 338, 359, 377 Moisejew, Nikita 112, 165

Moll, Peter 117 Molotow, Wjatscheslaw Michailowitsch 25, 26, 36, 56, 207, 279 Montesquieu, Charles de 342 Moroz, Olexandr Olexandrowytsch 84 Morozow, M. 82 Moschajew, Boris Andrejewitsch 186 Moschin, W. P. 186 Mottek, Hans 283 Münkler, Herfried 395 Münzer, Wolfgang 283 Murachowskij 167 Nabokow, Wladimir Wladimirowitsch (pseud. Wladimir Sirin) 70, 211 Najdenowitsch, A. 82 Napoleon, Kaiser 188 Naujocks, Gerda 283 Naujocks, Theo 283 Nawalnij, Alexej 390 Nebelin, Manfred 5, 15 Neef, Christian 377 Nekipelow, V. 84 Nekrasow, Viktor Platonowitsch 51 Nemeth, Miklós 314 Nemtschinow, Wassilij 36, 226 Nemzow, Boris 389, 390 Nenaschew, Michail 211 Neubert, Erhart 291 Nikitin, Alexander I. 82 Nikolaj I., Zar 17, 18, 372 Nikolai II., Zar 230, 352, 371 Nikolajew, E. B. 82, 83 Nixon, Richard 252 Nono, Luigi 71 Nosow, Jewgenij Iwanowitsch 92 Nowodworskaja, Walerija Iljinitschna 83 Nowoschilow, Viktor 36, 226 Nurijew 167 Nurpeisow, Abdischamil 92 Oelssner, Fred 285 Ogarjew, Nikolaj Platonowitsch 52 Oiserman, Theodor I. 191 Oistrach, David 50

Okudschawa, Bulat 212 Oldak, Pawel Grigorjewitsch 88, 102 Oldenburg, Fred 319 Olschowsky, Burkhard 273 Ordschonikidse, Grigorij Konstantinowitsch 213 Orlow, Jurij 66 Orlowa-Kopelewa, Raissa Dawydowna 53, 54 Orwell, George 69 Osipow, W. 38, 49, 52 Ostrowitjanow, Konstantin 226 Ostrowski, Alexander 352 Otto, Wilfriede 285, 292, 304 Pallach, Jan 289 Pankow, Anatolij 386 Parsadanowa, Walentina Sergejewna 278 Pasternak, Boris Leonidowitsch 33, 211 Paustowski, Konstantin Georgiewitsch 51 Pawlow, Valentin Sergejewitsch 365 Peccei, Aurelio 98, 110 Pelikan, Jiři 63 Perowskaja, Sofja 17 Perowskij, Wasilij 17 Pestel, Eduard 76, 87, 99, 102, 105, 106, 113, 116, 117 Pestel`, Pawel 113 Peter I., Zar 34, 195 Peter, Uwe 376 Petrakow, N. J. 186 Petrow, J. W. 357 Petrow, Wsewolod 43, 44, 120 Picasso, Pablo 34 Pieck, Wilhelm 281 Pinochet, A. 275 Plato, Alexander von 319, 333 Platonow, Andrej Platonowitsch (eig. Klimentow) 211 Platzeck, Matthias 395, 396 Plechanow, Georgij Valentinowitsch 31, 37, 122, 123, 146, 172, 202, 206, 213, 287

421

Plijew, Issa Alexandrowitsch 80 Plisezkaja, Maja 51 Podgornij, Nikolaj Viktorowitsch 57 Politkowskaja, Anna 389 Poljanskij, Dmitrij Stepanowitsch 80 Poltoranin, Michail Nikiforowitsch 167 Pommerin, Reiner 5, 15 Ponomarew, Boris Nikolajewitsch 32 Popow, Gawril Charitonowitsch 81, 245, 365, 368 Portugalow, Nikolaj Sergejewitsch 323, 328, 329 Pospelow, Pjotr 28 Preobraschinskij, Jewgenij 220 Preuße, Detlev 384 Primakow, Jewgenij Maximowitsch 108, 180, 223, 252, 345, 346, 347 Prochanow, Alexander Andrejewitsch 354, 355 Prokop, Siegfried 291, 313 Pschewoznik, Andrzej 279 Pugo, Boris Karlowitsch 207, 365, 367 Putin, Wladimir 388, 391, 392, 394 Raiffa, Howard 97 Rakowski, Mieczyslaw 277, 325 Rasputin, Valentin 72, 86, 90, 91, 92, 97 Rau, Johannes 318 Rauch, Georg von 5, 42 Razumowskij, Georgij Petrowitsch 207 Reagan, Ronald 113, 115, 116, 254, 262, 343 Reißig, Rolf 300 Reißner, Eberhard 212, 213 Rendel, A. 52 Resnitschenko, G. I. 88 Rewenko, Grigorij Iwanowitsch 279 Richet, Denis 188, 191, 293, 342 Richta, Radovan 97 Richter, Swjatoslaw 50 Roginskij, Arsenij 45, 46, 73 Rolland, Romain 22 Romanow, Grigorij Wasiljewitsch 168

422

Romm, Michael 51 Ronkin, Valerij 37 Roosevelt, Franklin 261 Rosenbladt, Sabine 96 Rosow, Viktor 387 Ross, Dennis 344 Rostropowitsch, Mstislaw 50, 55, 366 Roth, Thomas 366 Ruge, Gerd 73, 131, 366 Ruge, Wolfgang 23 Ruslanowa, Lidia 207 Russakow, Konstantin 307 Rybakow (Aronow), Anatolij Naumowitsch 186 Rykow, Alexej Iwanowitsch 207, 372 Ryschkow, Nikolaj Iwanowitsch 167, 186, 224, 229, 333, 351, 352, 353, 380 Rytschkow 100 Saburow, Maxim 28 Sacharow, Andrej Dimitrijewitsch 35, 37, 48, 50, 51, 55, 56, 57, 61, 62, 64, 66, 84, 186, 214, 215, 242, 275, 390 Sagladin, Wadim W. 106, 108, 112 Sajkow, Lew Nikolajewitsch 168 Saluzkij, Anatolij 195 Salygin, Sergej Pawlowitsch 91, 92, 210 Salynskij, Afanasij 387 Samojlow, David (David Kaufmann) 24 Saslawskaja, Tatjana Iwanowna 36, 57, 74, 137, 139-142, 145, 148, 151, 180, 223, 228 Sassulitsch, Vera Iwanowna 18, 122, 206, 236 Schabowski, Günter 326 Schachnasarow, Georgij Chosrojewitsch 108, 134, 135, 171, 184, 275, 376 Schalamow, Warlam 23, 43 Scharapow, Viktor 315 Scharschmidt, G. 164 Schatalin, Stanislaw Sergejewitsch 225, 245, 360

Schatrow, Michail Filipowitsch (eig. Marschak) 202, 212, 213, 292, 381, 386, 387 Schdanow, Andrej Alexandrowitsch 56 Schelew, Schelju 375 Scheljepin, Alexander Nikolajewitsch 80, 278 Schenja 82 Schemtschuschina, Polina 206 Scherrer, Jutta 374, 381 Schewardnadse, Eduard Amwrosijewitsch 14, 80, 86, 119, 154, 155, 156, 157, 160, 162, 163, 164, 166, 168, 172, 173, 179, 180, 181, 184, 244, 245, 256, 257, 259, 265, 277, 315, 317, 319, 332, 333, 334, 344, 346, 350, 358, 365, 369, 377, 381, 382 Schirdewan, Karl 31 Schiwkow, Todor 309, 315, 362 Schlarp, Karl-Heinz 5, 14 Schleifstein, Josef 283 Schlögel, Karl 24, 25, 27, 44, 77, 78, 79, 84, 131, 266, 371, 387, 388 Schmergal, Rudolf 283 Schmidt, Elli 285 Schmidt-Häuer, Christian 18, 20, 51, 153, 154, 156, 161, 194, 196 Schnittke, Alfred 71 Schröder, Karsten 282 Schubin, Semjon 25 Schuk, A. (Schug) 386 Schukow, Georgij Konstantinowitsch 207 Schulgin, V. V. 19 Schulz, Gerd 311 Schürer, Gerhard 309 Scowcroft, Brent 368 Segbers, Klaus 174, 379, 380 Seghers, Anna 284, 306 Seiters, Rudolf 325 Seljani 156 Semjonow, Wladimir Semjonowitsch 284, 286 Serwij 84

Sewerjanin, Igor (eig. Igor Wassiljewitsch Lotarjow) 211 Seydewitz, Max 284 Shatz, Marshall 22,53 Shultz, George 255, 340 Sidorenko, A. A. 88 Sieber, Rolf 310 Šik, Ota 47 Simon, Claude 117 Sinclair, Anne 369 Sinjawskij, Andrej Donatowitsch 23, 41, 50, 51, 52 Sinowjew, Alexander 50, 67 Sinowjew Grigorij Jewsejewitsch 22, 199, 207, 213, 372 Sitarjan, Stepan A. 186, 223 Skilling, H. Gordon 378 Skwirskij, V. 83 Slawin, Boris 39, 117 Sljunkow, Nikolaj Nikitowitsch 186 Sluzkij, Boris Abramowitsch 51 Smirnow, Georgij Lukitsch 207 Smirnow, Igor P. 168, 193 Snedkow, Boris Wasliljewitsch 323 Snyder, Timothy 393 Sobtschak, Anatolij 245, 368 Solnzew, Roman 386 Solomenzew, M S. 207 Solouchin, Wladimir 90, 91 Solschenizyn, Alexander Isajewitsch 22, 33, 34, 41, 50, 54, 62, 64, 67, 69, 72, 210, 305, 390 Sorja, J. N. 278 Späth, Lothar 319 Speranskij, Michail 17 Stalin, Josif Wisarionowitsch (Dschugaschwili) 12, 22, 23, 24, 26, 27, 29, 31, 33, 35, 38-42, 45, 49, 50, 51, 54, 56, 61, 68, 77, 78, 120, 122, 134, 144, 145, 157, 160, 162, 172, 186, 191-198, 200, 203, 204, 205, 206, 212, 213, 214, 217, 219, 245, 279, 280, 281, 283, 338, 354, 355, 357, 361, 370, 372, 373, 376, 382, 384

423

Starodubzew, Wasili Alexandrowitsch 365 Stent, Angela 277, 322 Sterbling, Anton 14 Stockhausen, Karlheinz 71 Stökl, Günter 17, 53 Stolypin, P. A. 160, 371 Stoph, Willi 308 Strauß, Franz Josef 319 Streletz, Fritz 377 Strong, Maurice 349 Strumilin, G. 28 Suslow, Michail Andrejewitsch 57, 275 Suworow, L. 54 Swerdlow, Jakow Michailowitsch 367 Szczypiorski, Andrzej 270 Tabaczyński, J. 164 Talbott, Strobe 348 Talysin, N. 167 Tamm, Igor Jewgenjewitsch 51 Tarasenko, Sergej 344 Tarkowskij, Andrej 211 Tarnopolskij, Wladimir 71 Tarsis, Walerij Jakowlewitsch 49 Tekle, Afewerk 117 Teltschik, Horst 322, 328, 329, 334 Tendrjakow, Wladimir Fjodorowitsch 51 Thatcher, Margret 328, 338 Theel, Christopher 15 Tichonow, Wladimir A. 167, 223 Timofejew, Lew 73 Tinbergen, Jan 104 Tisjakow, Alexander Iwanowitsch 365 Tito, J. B. 33 Tolstoj, Alexej 20 Tolstoj, Lew 165 Tomskij, Michail Pawlowitsch 22, 213 Towstonogow, Georgij Alexandrowitsch 211 Toynbee, Arnold J. 102 Trifonow, Jurij Valentinowitsch 193, 211, 212

424

Trotzkij, Lew Davidowitsch (Bronstein) 11, 19, 22, 199, 202, 205, 207, 213, 372 Trubezkoj, Nikolaj 20 Trubezkoj, Sergej N. 18 Tschaadajew, Pjotr Jakowlewitsch 371 Tschaidse, A. 387 Tschajanow, Alexander Wasiljewitsch 220 Tschalidse, Walerij Nikolajewitsch 61 Tschebrikow, Viktor Michailowitsch 207, 355 Tschernenko, Konstantin Ustinowitsch 40, 145, 146, 152, 168, 197, 206, 221, 247, 308, 378 Tschernjajew, Anatolij Sergejewitsch 134, 184, 187, 259, 316, 317, 318, 325, 329, 333, 376 Tschiwilichin, Wladimir 90 Tschukowskaja, Lidija 22 Tschukowskij, Kornej Iwanowitsch (Nikolaj Wassiljewitsch Kornejtschukow) 51 Tuchatschewskij, Michail Nikolajewitsch 207 Turgenjew, Iwan Sergejewitsch 52 Turtschin, Valentin F. 51, 57 Twardowskij, Alexander 34, 68, 210 Twerdochlebow, A. N. 61 Ulbricht, Walter 281, 282, 284, 285, 286, 294, 297, 305, 307 Ulitzkaja, Ljudmila 46 Uljanow, Alexej 213 Ustinow, Dmitrij Fjodorowitsch 308 Ustinow, Peter 117 Vak, Karl 117 Verner, Paul 282 Vogel, Hans-Jochen 319 Voltaire (François-Marie Arouet) 342 Wachtin, Jurij 23 Waigel, Theo 363

Walenski, Tanja 281, 282, 305, 306, 307 Walentynowicz, Anna 272 Walęsa, Lech 272, 273, 275, 279, 280 Weber, Max 18, 230 Weinstein, Albert Lwowitsch 28 Weizsäcker, Richard von 278, 318 Welichow, Jewgeni 180 Wessig, Wolfgang 14 Wiechert, Theo 282 Wilson, Woodrow 261 Winkelmann, Egon 310 Wischnewskaja, Galina 55 Wischnewskaja, Julia 49 Witt, Alexander 25 Wlasow 168 Wojtyla, Karol, Kardinal (Papst Johannes Paul II.) 272 Wolf, Christa 326 Wolf, Lieselotte (Luky), geb. Schaps 283 Wolkogonow, Dmitrij 24, 202, 203, 205 Wolochonskij, L. 83, 84 Wolskij, Arkadi 245 Woronzew, Nikolaj 229 Woroschilow, Kliment Jefremowitsch 279 Wosnesenskij, N. A. 27 Wwedenskij, Alexander Iwanowitsch 211 Wyschinskij, Andrej Januarjewitsch 213 Yanov, Alexander 42 Yurchak, Alexej 385 Zaisser, Wilhelm 285, 286 Zalygin, Sergej P. 87 Zamjatin, Jewgenij Iwanowitsch 211 Zechmister, W. 38 Zernack, Klaus 263, 270, 271, 280 Zimmering, Josef 283 Zwahr, Hartmut 288, 289 Zweig, Arnold 284 Zwetajewa, Marina 211

425

DRESDNER HISTORISCHE STUDIEN HERAUSGEGEBEN VON REINER POMMERIN EINE AUSWAHL

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DER PUTSCH GEGEN GORBATSCHOW UND DAS ENDE DER SOWJETUNION

August 1991: Panzer auf Moskaus Straßen, Ausnahmezustand, der sowjetische Staatspräsident unter Hausarrest. Der Putsch am 19. August markiert das Ende der Ära Gorbatschow und den von da an nicht mehr aufzuhaltenden Untergang der Weltmacht Sowjetunion. Diese Zäsur in der russischen Nachkriegsgeschichte konnte mangels solider Quellen bisher nicht verlässlich und umfassend untersucht werden. Das Buch von Ignaz Lozo schließt diese Lücke. Der Russlandexperte und ehemalige Moskau-Berichterstatter hat zahlreiche Dokumente ausgewertet, die in Russland offi ziell als Staatsgeheimnisse deklariert sind, und mehr als 30 Zeitzeugen befragt, darunter ehemalige Putschisten und Michail Gorbatschow selbst. War der sowjetische Präsident, wie oft behauptet, selbst einer der Verschwörer oder zumindest stiller Mitwisser? Lozos spannend geschriebenes Buch, untersucht die Hintergründe und analysiert die Ursachen für sein Scheitern. Ein historisch-politisches „Auf klärungsbuch“ im besten Sinne! Dieser Titel liegt auch für eReader, Tablet und Kindle vor. 2014. 501 S. 34 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22230-7

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HANNS JÜRGEN KÜSTERS (HG.)

DER ZERFALL DES SOWJETIMPERIUMS UND DEUTSCHLANDS WIEDERVEREINIGUNG THE DECLINE OF THE SOVIET EMPIRE AND GERMANY’S REUNIFICATION

Die Ereignisse des Mauerfalls und der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in den ostmitteleuropäischen Staaten 1989/90 markierten das Ende der 45-jährigen Nachkriegszeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Entwicklungen der Jahre 1989 bis 1991 führten nicht nur zur Friedlichen Revolution in der DDR, dem Fall der Mauer und zur Wiederherstellung der Einheit Deutschlands. Zugleich fanden friedliche Umwälzungen in allen ostmitteleuropäischen Staaten statt. Mit dem allmählichen Zerfall der DDR kündigte sich zugleich die Auflösung des Warschauer Paktes an, die einherging mit dem Niedergang der Sowjetunion und Ende 1991 zu ihrem Ende führte. Die Autoren dieses Sammelbandes analysieren in ihren Beiträgen, wie diese Entwicklungen zustande kamen und welche Auswirkungen der Niedergang des Sowjetimperiums auf die Entwicklung in Deutschland hatte. 2016. 262 S. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-50400-7

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EIN EUROPA? DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION IN DER RUSSISCHEN HISTORIOGRAPHIE NACH 1985

Die Studie geht der Frage nach, wie sich die russische Historiographie zum westeuropäischen Integrationsprozess positionierte. Wodurch ist das Verhältnis zwischen Russland und Europa geprägt? Welche Informationen lagen über den europäischen Integrationsprozess in Russland vor, welche Stereotypen stehen hinter der eigenen Wahrnehmung Russlands in Europa und der Wahrnehmung Europas? Der Autor arbeitet heraus, dass Europa in erster Linie als Werte-, Glaubensoder Rechtsgemeinschaft wahrgenommen wurde und untersucht das Bild Russlands als eines zur Kooperation verpflichteten Teil Europas. Ausgewertet werden die historiographische Literatur seit dem Beginn der Perestrojka 1985 und die neueste Literatur aus postsowjetischer Zeit. 2013. 263 S. GB. 155 X 230 MM. | ISBN 978-3-412-21058-8

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HOLM SUNDHAUSSEN

JUGOSLAWIEN UND SEINE NACHFOLGESTAATEN 1943–2011 EINE UNGEWÖHNLICHE GESCHICHTE DES GEWÖHNLICHEN 2. DURCHGESEHENE AUFLAGE

Was war Jugoslawien, warum gibt es den Staat heute nicht mehr und was ist an seine Stelle getreten? Der Historiker Holm Sundhaussen analysiert in seinem Buch Aufstieg und Fall des sozialistischen Jugoslawien und stellt die noch junge Geschichte der sieben Nachfolgestaaten dar. Obwohl (Ex-)Jugoslawien nach dem Ende des Kosovo-Kriegs und dem Sturz Milosevics aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt ist und die Debatten der 1990erJahre weitgehend in Vergessenheit geraten sind, erlebt die Jugoslawien-Forschung einen regelrechten Boom. Nie zuvor waren so viele und umfangreiche Dokumente zugänglich wie heute. Die Erschließung und Auswertung des Materials bleibt eine Jahrhundertaufgabe. Holm Sundhaussen zieht eine erste Bilanz. 2014. 577 S. 40 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-79609-1

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EUROPÄISCHE DIK TATUREN UND IHRE ÜBERWINDUNG SCHRIF TEN DER STIF TUNG ET TERSBERG HERAUSGEGEBEN VON JÖRG GANZENMÜLLER, VOLKHARD KNIGGE, CHRISTIANE KULLER

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