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German Pages 379 Year 1982
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 43
Der englische Weg zum Sozialismus Die Fabier und ihre Bedeutung für die Labour Party und die englische Politik
Von
Peter Wittig
Duncker & Humblot · Berlin
PETER
WITTIG
Der englische Weg zum Sozialismus
Beiträge zur P o l i t i s c h e n Wiesenschaft Band 43
Der englische Weg zum Sozialismus Die Fabier und ihre Bedeutung für die Labour Party und die englische P o l i t i k
Von D r . Peter W i t t i g
D Ü N C K E R
&
H Ü M B L O T / B E R L I N
Gedruckt mit Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung
Alle Rechte vorbehalten © 1982 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 05244 7
Meinen Eltern gewidmet
Vorwort Meine Studie zum englischen Sozialismus hat ihren Ausgangspunkt i n einem historischen Interesse für die spätviktorianische Zeit — eigentlich der Beginn der modernen englischen Krise. I m Mittelpunkt steht der Versuch der führenden Sozialisten, England zu „modernisieren", um die Krisen einer wirtschaftlich und imperial niedergehenden Nation zu bewältigen. Die i n jüngster Zeit geführten Diskussionen um die sog. „englische Krankheit" verleihen diesem umfassenden Modernisierungsbemühen der Fabier-Sozialisten aktuelle Bedeutung. Auch die internen Auseinandersetzungen und Spaltungen der Labour-Bewegung zu A n fang der 1980er Jahre erscheinen durch die ideengeschichtliche Betrachtung des englischen Sozialismus i n klarerem Licht. Während mehrerer England-Aufenthalte habe ich — besonders i n Oxford — von den Ratschlägen, Hinweisen und kritischen Anregungen zahlreicher wohl wollender Gesprächspartner lernen können: Mein Dank gilt insbesondere Prof. Nevil Johnson, Nuffield College, Dr. Philip M. Williams, Nuffield College, Dr. Michael Freeden, Mansfield College, Dr. T i m Mason, St. Peter's College, Dr. José Harris, St. Catherine's College (alle Oxford), sowie Prof. K e i t h Middlemas, University of Sussex und Prof. Ralf Dahrendorf, London School of Economics. Herrn Prof. Friedrich August von Hayek, Freiburg i. Br., bin ich zu Dank verpflichtet, da er meine Kenntnisse durch seine persönlichen Erinnerungen an einige maßgebliche Persönlichkeiten des englischen Sozialismus bereichert hat. Die kritischen Ratschläge von Prof. Ernst Schulin, Freiburg, habe ich als besonders gewinnbringend geschätzt. Meine Archivstudien wurden vor allem durch die freundliche Hilfe von Miss Angela Raspin, British Library of Political and Economic Science, London, und der Nuffield College Library, Oxford, erleichtert. Der Fritz Thyssen Stiftung bin ich für ihre finanzielle Unterstützung durch ein Forschungsstipendium verbunden. Besonderen Dank schulde ich meinem Doktorvater, Prof. Wilhelm Hennis, Freiburg. Seine großzügige Förderung, die Fülle seiner anregenden Ideen sowie die Atmosphäre intellektueller Freiheit, die ich während meiner Assistenten-Tätigkeit an seinem Institut erfuhr, waren die Voraussetzungen für eine befriedigende wissenschaftliche Arbeit. Bonn, i m Mai 1982
Peter
Wittig
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
13
1. K a p i t e l Die Herausbildung der Theorie des Fabier-Sozialismus I. Die Entstehungsbedingungen i n den 1880er Jahren
16
1. Der geschichtliche Rahmen: Die Krisenherde der viktorianischen Welt
16
2. Die Reaktion der Personen: Krise des „Evangelikaien Bewußtseins"
23
3. Der Charakter der fabischen Ideologie: Von der Ersatzreligion zur Theorie der sozialen Organisation
46
I I . Wegbereiter u n d Einflüsse 1. Benthams Modell des rationalen Staates a) Die Bedeutung Benthams und der „Philosophie Radicals" f ü r den englischen Sozialismus b) Die utilitaristische E t h i k c) Methodik u n d Wissenschaft d) Benthams rationaler Staat 2. John Stuart M i l l und die liberale Intelligentsia a) M i l l s Zeitbedeutung und seine Vereinnahmung durch die Fabier b) Modifizierung des Utilitarismus: Eine neue Rolle f ü r die I n telligentsia c) M i l l u n d der Sozialismus
54 54 54 60 63 65 70 70 73 76
3. Wissenschaft u n d gesellschaftliche Evolution: Die Bedeutung des Positivismus und Szientismus für die Fabier 80 a) Z u r Stärke des Positivismus i n England 80 b) Die Organisation der englischen Positivisten 85 c) Comtes Positivismus und die Fabier 89 d) Die Bedeutung Spencers und der Evolutionstheorien 97 e) Der Empirismus u n d die neue Sozialwissenschaft 106 4. Reform kontra Revolution: Z u r Rolle des Marxismus 115 a) Die Schwäche des Marxismus i n England — Z u r politischen Bedeutung der Religion 115
10
Inhaltsverzeichnis b) Die Fabier, der Marxismus und die englischen Marxisten . . . aa) Shaw und M a r x bb) Webb und M a r x c) Eine reformerische „Theorie der Ausbeutung": Die fabische Rententheorie
122 126 131 135
I I I . Die „Fabian-Essays" als Ergebnis des geistigen Formierungsprozesses: Eine Theorie des „demokratischen Kollektivismus" 139
2. K a p i t e l Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier I. Die Fortentwicklung und Überwindung des Radikalismus
143
1. Der alte und neue Radikalismus i n England
143
2. Die A n k n ü p f u n g an den Radikalismus: Fabier-Sozialismus als „neuer Radikalismus" 149 3. Die Überwindung des extremen Radikalismus: „ I n d u s t r i a l Democracy" 155 I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft 1. Die neuen Strukturen Sozialismus
des „Industrialismus":
159
Der Weg zum
159
2. Die Analyse der ökonomischen S t r u k t u r e n t w i c k l u n g : Wirtschaftliche Konzentration und B i l d u n g neuer Führungsschichten 161 3. Graduelle Eigentumsumwandlung und funktionale Organisation der staatlichen Wirtschaft 166 4. Staatssozialismus und funktionale gesellschaftliche Gruppen
. . . 171
5. Das Ziel des Sozialismus: Die Vollendung des „Industrialismus" 174 I I I . Die Staatsanschauung der Fabier
180
1. Der traditionelle Staatsbegriff i m englischen Denken: Staat als Lebensgemeinschaft 180 2. Z u r Bedeutung Staatsdenken
des
„Oxford-Idealismus"
3. Der Staatsbegriff der Fabier a) Der Staat als „rationale A n s t a l t " b) Das neue Institutionenverständnis
für
das
englische
184 191 191 197
4. Die Infragestellung des fabischen Staates: „Pluralismus", „ G i l densozialismus" und „Distributismus" 199 I V . Die P o l i t i k der „nationalen Effizienz"
208
1. Die Krise Englands u n d ihre Offenlegung durch den Burenkrieg: Innerer Verfall und imperialer Niedergang 208 2. Die fabischen Anfänge einer modernen Sozialpolitik: Das „ N a tionale M i n i m u m " 214
Inhaltsverzeichnis 3. Ideologie und Programm der „nationalen Effizienz" a) Neue Wertsetzungen und neue politische Verbündete der Fabier: Effizienz versus Liberalismus b) Effizienz nach außen: Die Fabier und der Imperialismus c) Effizienz i m Inneren: Der Schwerpunkt der Erziehungs- und Bildungsreform aa) Das Gründungskonzept der „London School of Economics"
220 220 236 246 249
4. E n t w u r f f ü r einen rationalen Sozialstaat: Der „Minderheitenber i c h t " zur Reform des Armenrechts (1909) 253 a) Die Webbs und die Sozialreformen der Liberalen (1906—1914). 264 V. Die Rationalisierung von Regierung und V e r w a l t u n g 1. Die neue Demokratievorstellung: Repräsentativregierung funktionalem Prinzip u n d Herrschaft der Experten
271 nach
2. Die H a l t u n g zu Parlament und Parteien Exkurs: Sidney Webb u n d die Labour Party
271 279 283
3. Die Rationalisierung der V e r w a l t u n g 295 a) Die Reform der L o k a l v e r w a l t u n g 295 b) Neuordnung der zentralen Regierungsmaschinerie: Die Webbs i m „Reconstruction"- u n d „Haldane-Committee" (1917/1918) 300 4. Der Verfassungsentwurf der Webbs von 1920 V I . Ergebnis der fabischen Entwicklung: Eine neue Auffassung Politik
307 von
313
1. Die Veränderung des politischen Modus: Fabianismus versus Radikalismus 313 2. Das fabische „social engineering" als Ende der traditionellen Politik 317 V I I . Schlußpunkt des „klassischen" Fabianismus : A b k e h r von England — Der Weg der Webbs und Shaws zum Totalitarismus 320
3. K a p i t e l Zur aktuellen und geschichtlichen Wirksamkeit der Fabier: Die Bedeutung einer intellektuellen „pressure group" in der Politik I. F u n k t i o n und Arbeitsweise der Fabian Society als intellektuelle „pressure group"
332
I I . Resümee zur geschichtlichen W i r k u n g der Fabier: I h r e Bedeutung für die Labour P a r t y und die englische P o l i t i k 345
Literaturverzeichnis I. P r i m ä r l i t e r a t u r 1. Unveröffentlichte Quellen
352 352
12
Inhaltsverzeichnis 2. Publikationen der Fabian Society
352
3. Publikationen einzelner Fabier 358
H. V.: Liberals, Radicals and Social Politics 1892—1914, Cambridge 1973, S. 10 f.
I. Die Fortentwicklung u n d Überwindung des Radikalismus
155
nun Leistungen zur aktiven Gestaltung der sozialen Ordnung zu erbringen; politisches T u n war nicht mehr nur ein ständiger Prozeß des Reparierens, sondern wurde zur produktiven Herstellung sozialer Güter. Für die soziale und politische Entwicklung Englands erhielten Modus und Form der Politik als Programmpolitik durch das Wirken der Fabier höchste Bedeutung. Trotz des fabischen Bemühens u m einen bruchlosen Übergang von radikaler zu sozialistischer Politik i n Inhalt und Form blieben gravierende Unterscheidungen bestehen, die ein Ineinanderaufgehen beider Traditionen verhinderten. Die Anknüpfung der Fabier an die Politik des Radikalismus war über die vorhandenen Gemeinsamkeiten des Denkens hinaus vor allem taktisch bedingt, da sie sich von den Radikalen als Ansprechpartner besondere Resonanz erhofften. Der spätere, offen vollzogene Bruch führender Fabier m i t den Liberalen und Radikalen war tatsächlich schon zu einem guten Teil in ihren frühen politischen Vorstellungen angelegt 37 . 3. Die Überwindung des extremen Radikalismus: „Industrial Democracy" I m Gegensatz zum neuen Radikalismus, der sich lediglich einzelne schwerwiegende Übel des sozialen Bereichs zur politischen Lösung herausgriff, erstrebten die Fabier eine systematische soziale, nicht nur politische Kontrolle des Gemeinwesens. Sie richteten daher ihren Blick auf die neuen sozialen Formationen der industiellen Gesellschaft, wie die Gewerkschaften, Genossenschaften oder Berufsorganisationen, die einer kollektiven Kontrolle des Soziallebens nutzbar gemacht werden konnten. Noch i n den Fabian Essays von 1889 hatten die Gewerkschaften keinerlei Rolle gespielt. Bis zu ihrer Neubelebung i m Zuge des sogenannten „New Unionism" gegen Ende der 80er Jahre waren die Gewerkschaften i n England überwiegend kleine, zunftmäßig betriebene Organisationen von Facharbeitern ohne militante oder sozialistische Zielsetzungen. Anfang der 90er Jahre — noch vor Beginn ihrer „WebbPartnerschaft" — schrieb Beatrice Webb eines der ersten sozialwissenschaftlichen Bücher über die Genossenschaftsbewegung — „as one aspect of that larger movement towards an I n d u s t r i a l Democracy which has characterized the history of the B r i t i s h w o r k i n g class of the 19th century" 3 8 . 37 Z u m späteren Gegensatz von Radikalismus u n d Fabier-Sozialismus siehe unten S. 313 ff. 38 Potter (Webb), Β . : The Co-operative Movement i n Great Britain, London 1891, S . V .
156
2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
1894 dann ließen die Webbs ihre berühmte „History of Trade-Unionism" folgen, welche erstmals wissenschaftlich die geschichtliche Entwicklung der gewerkschaftlichen Organisation Englands nachzeichnete. I h r Werk „Industrial Democracy" von 1897 enthielt eine systematische Studie der gewerkschaftlichen „Strukturen und Funktionen" sowie eine vollständige Theorie über die Bedeutung des Gewerkschaftswesens i m Staat. Darüber hinaus zogen die Webbs prinzipielle Schlußfolgerungen für ein neues Verständnis demokratischer Herrschaft generell: „ O u t of our study of trade unionism we are developing a new v i e w of democracy . . . " ,
kommentierte Β. Webb 3 9 . Es ist den Webbs m i t Recht als ihr wissenschaftliches Verdienst angerechnet worden, jene sozialen Institutionen für die Sozialwissenschaft und die politische Öffentlichkeit Englands i n ihrer Bedeutsamkeit „entdeckt" zu haben 4 0 . Es waren Institutionen wie Gewerkschaften, Genossenschaften, Berufs- und wirtschaftliche Interessenvereinigungen, die für die Webbs besondere „Kulturbedeutsamkeit" besaßen, so daß deren Erforschung Aufschluß über die künftige Organisation der industriellen Gesellschaft geben konnte. So w i r d ihre „Industrial Democracy" i m vorliegenden Zusammenhang weniger als empirisch-soziale Analyse der Gewerkschaftsfunktionen, sondern vor allem als Theorie demokratischer Herrschaft i n der modernen industriellen Gesellschaft betrachtet. Das Buch „Industrial Democracy" n i m m t in der denkerischen Entwicklung der Webbs eine Zwischenstellung ein. Es setzt sich m i t den Methoden des extremen Radikalismus auseinander und ergreift gegen die Verfahren der direkten Demokratie und für die Einrichtungen einer parlamentarisch-repräsentativen Verfassung Partei. I n den Ausführungen über die Funktion der Regierung ist es das „demokratischste" Buch der Webbs, da sie ihre Auffassungen über die Rückbindung der Volksvertreter i n den Reformentwürfen des Radikalismus spiegeln. Gleichzeitig werden in der Betrachtung der Professionalisierung und zunehmenden Bedeutung des Expertentums i n der Politik erste A n zeichen für die spätere Uberwindung der traditionellen parlamentarischen Maschinerie Englands deutlich. Der Buchtitel ist geeignet, Mißverständnissen Raum zu geben, denn „Industrial Democracy" zielt auf die Verstärkung der Kontrolle des Staates bzw. der Regierung über den 39 Webb , Β.: Our Partnership, S. 51; i n diesen Zusammenhang gehört auch die Serie von 6 Vorträgen über die „Machinery of Democracy", die Sidney Webb Ende 1896 vor der Fabian Society h i e l t ; vgl. dazu die Berichte i n : Fabian News, Nov. 1896 (Bd. 6), S.35f.; Dez. 1896 (Bd. 6), S. 39 f. u. Jan. 1897 (Bd. 6), S. 43 f. 40 Woolf , Leonard: Political Thought and the Webbs, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 254.
I. Die Fortentwicklung u n d Überwindung des R a d i k a l i s m u s 1 5 7
wirtschaftlichen Bereich, bezieht sich dagegen nicht auf Modelle der wirtschaftlichen Selbstverwaltung („industrial self-government"). Das Werk der Webbs bemüht sich u m eine Balance von demokratischer Kontrolle und administrativer Effizienz staatlichen Handelns; erst i n den folgenden Jahren verschieben die Webbs ihre Gewichtung zugunsten des letzteren Gesichtspunkts. I n ihrer Analyse der Struktur früher gewerkschaftlicher Vereinigungen stoßen die Webbs auf urdemokratische Formen („primitive democracy"). Die direkte Herrschaft der Gewerkschaftsmitglieder durch Referendum, Volksbegehren und Ämterrotation habe jedoch zu Ineffizienz oder Auflösung von Verwaltung und Finanzwesen geführt und entgegen den ursprünglichen Absichten die Vormachtstellung eines Einzelherrschers oder einer Expertenbürokratie befördert 4 1 . Eine einzelne soziale Vereinigung sei aber ebenso wie die Gesamtgesellschaft — wenn sie als Organismus begriffen werde — von Spezialisierung und Arbeitsteilung abhängig, so daß sich die direkte Gesetzgebung als untaugliches Herrschaftsmittel erweise 42 . Die typisch moderne Form der Demokratie ist i n der Analyse der Webbs die gewählte Repräsentantenversammlung. I h r stehe eine Verwaltung gegenüber, die durch eine hochqualifizierte, gut bezahlte und ständige Beamtenschaft die Effizienz der Exekutive sichere 43 . Der A b geordnete der Repräsentativversammlung, der die demokratische Kontrolle sicherstellen soll, ist i m analytischen Modell der Webbs nicht mehr bloßer Delegierter, sondern w i r d als Vermittler und „Übersetzer" („interpreter") zwischen Volk und Exekutive tätig. Er habe seine eigene Politik gegenüber den Wählern offensiv zu vertreten und müsse sich nur bei anhaltendem Widerstand i n wichtigen Fragen dem Mehrheitswillen der Repräsentierten beugen 44 . Die besten Abgeordneten dieses Typs entdecken die Webbs i n den Vertretungskörperschaften von Vereinigungen, deren Mitglieder der Mittelklasse angehören 45 . Die zweite wichtige Aufgabe der Abgeordneten sei die Kontrolle der professionellen Verwaltungsexperten. Je verästelter die Funktionen der Exekutive würden, desto spezialistischer und professioneller müsse auch der A b geordnete sein 4 6 . Moderne Gesetzgebung erhält in den Augen der Webbs einen neuen Charakter: sie w i r d zu einer „special art" und muß, u m 41
Webb, S.U.B.: I n d u s t r i a l Democracy, Neuauflage London 1920, S.36. Vgl. den Bericht des Vortrage „ P r i m i t i v e Expedients" i m Rahmen von S. Webbs Reihe „ T h e Machinery of Democracy", i n : Fabian News, Nov. 1896 (Bd. 6), S. 35. 43 Webb, S.U.B.: Industrial Democracy, S.41. 44 Ebenda, S. 68. 45 Ebenda, S. 56. 46 Ebenda, S. 68. 42
158
2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
überhaupt Nutzen hervorzubringen, „spezialisiert, technisch und minutiös" sein 4 7 . Der moderne expertenhafte Berufspolitiker habe eine A b neigung gegen die reine parlamentarische Debatte, besitze eine Ungeduld gegenüber verzögerndem parlamentarischem Verfahren und eine Entschlossenheit, „to get the business through" 4 8 . Der i n der Webbschen Analyse ideale professionelle Abgeordnete ist kein Gesinnungsethiker; er muß vielmehr über ein hohes Maß von Kompromißbereitschaft verfügen — „necessitated by the complicated facts of practical l i f e " 4 9 . Als grundlegende Erfordernisse einer Regierung i m modernen demokratischen Staat postulieren die Webbs zwei Dinge: Zustimmung („assent") und Effizienz. „ W h a t democracy requires is assent to results; what the Referendum gives is assent to projects 5 0 ."
Während die Zustimmung i m demokratischen Staat nur selten prinzipiell strittig sei, stelle die administrative Effizienz i m modernen Staat — mehr noch als i n einer gesellschaftlichen Vereinigung — die wichtigste Daseinsvoraussetzung dar. Hinsichtlich der Organisation des Sozialbereichs i m Webbschen Modell der „Industrial Democracy" haben nicht die gesellschaftlichen Gruppierungen, sondern der demokratische Staat als Ganzes die oberste Hoheit inne. Zwar soll sich das Management der Industrien i m Zusammenspiel von Produzentenvertretern, Konsumentenvertretern und Betriebsdirektoren vollziehen 6 1 , doch über den wirtschaftlichen Akteuren soll die Gesamtgesellschaft als oberste politische Entscheidungseinheit stehen. Es sind eindeutig die gewählten Abgeordneten und die professionelle Bürokratie, die die Aufgabe haben, die „permanent interests of the State as a whole" wahrzunehmen 5 2 . Die relativ eingeschränkte Stellung, die die Webbs i n ihrem theoretischen Staatsmodell den Gewerkschaften zuweisen, bedingt eine Veränderung ihrer Funktionen: Die Trade-Unions haben demnach zwar die wichtige Aufgabe, über ein vom Gesetzgeber zu schaffendes „Nationales M i n i m u m " an Ausbildung, Gesundheitsschutz, Freizeit und Lohn hinaus für soziale Verbesserungen i n ihrem Produktionssektor zu sorgen — vor allem durch das Instrument der Kollektivverhandlungen („collective bargaining") —, doch sie nehmen mehr und mehr den Charakter von 47 Webb, S.: The Referendum and the Initiative, u. ders.: Representative Institutions (Vortragsberichte), i n : Fabian News, Dez. 1896 (Bd. 6), S. 40. ^ Webb , S.U.B.: I n d u s t r i a l Democracy, S. 66. 49 Ebenda, S. 55. 50 Ebenda, S. 61. 51 Ebenda, S. 818. 52 Ebenda, S. 822.
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft
159
Berufsorganisationen an, die sich vor allem um die Hebung des eigenen beruflichen Leistungsstandards bemühen 5 3 . Die Lehre, die die Webbs aus dem Studium der Gewerkschaftsorganisationen ziehen, besteht nicht nur i n der Einsicht der unausweichlichen Ausdehnung der politischen Demokatie auf den sozialen Bereich zur „Industrial Democracy"; darüber hinaus verweist die wachsende A r beitsteilung und die differenzierter werdende Schichtung innerhalb der gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Organisationen und Verbände auch auf die Notwendigkeit einer Funktionsspezialisierung i n der gesamten modernen Industriegesellschaft, die „the very structure of democracy" b e t r i f f t 5 4 . Analog zur Entwicklung der einzelnen sozialen Verbände zwingt auch i n der Gesamtgesellschaft die „Größe und Komplexität der Demokratie" 5 5 zur Ausdifferenzierung der Funktionen der drei politischen „Klassen": der Wahlbürger, der Abgeordneten und der Verwaltungsexperten. Immer mehr Aufgaben müssen an immer spezialisiertere Experten übergeben werden. Das wachsende Gewicht des professionellen Experten gibt dem gesamten Demokratiebegriff eine neue Richtung: „Whether i n political or i n industrial democracy, though it is the Citizen who, as Elector or Consumer, u l t i m a t e l y gives the order, i t is the Professional Expert who advises w h a t the order shall be 5 6 ."
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft 1 1. Die neuen Strukturen des „Industrialismus": Der Weg zum Sozialismus Die politische Maschinerie galt den Fabiern als ein taugliches Reforminstrument. Doch eine sozialistische Gesellschaftsorganisation konnte in ihren Augen durch die Ausübung des allgemeinen Wahlrechts allein 53 Ebenda, S. 826; zur H a l t u n g der Fabier gegenüber den Gewerkschaften siehe Melitz, Jack: The Trade Unions and Fabian Socialism, i n : Industrial and Labour Relations Review, J u l i 1959 (Bd. 12), bes. S. 559; außerdem die knappen Bemerkungen bei Wendt, Bernd-Jürgen : Industrial Democracy. Z u r S t r u k t u r der englischen Sozialbeziehungen, i n : Aus P o l i t i k und Zeitgeschichte. Beilage zu: Das Parlament, 15. Nov. 1975, S. 6 f. 54 Webb, S. u. Β.: I n d u s t r i a l Democracy, S. 843. 55 Ebenda, S. 849. 56 Ebenda, S. 845. 1 Das folgende K a p i t e l versucht eine systematische Darstellung des sozialistischen Wirtschafts- u n d Gesellschaftsmodells der Fabier; dazu ist es vonnöten, sämtliche einschlägigen Äußerungen der Fabier aus verschiedenen Zeitabschnitten zusammenzutragen, so daß die chronologische G r u n d s t r u k t u r der vorliegenden A r b e i t teilweise durchbrochen werden muß.
160
2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
noch nicht geschaffen werden, da es sich dabei nur um Rechte der Individuen handelte. Vielmehr w a r es der industrielle Bereich, aus dem die neuen Strukturen des Sozialismus erwuchsen. So richteten die Fabier ihren Blick auf die Entwicklung der industriellen Gesellschaft, u m aus ihr die zukünftigen Organisationsformen des Sozialismus zu erschließen. Die industriellen, nicht die politischen Strukturen waren wegweisend für die Formierung der sozialistischen Gesellschaft. Spencers These von der wachsenden Differenzierung und Integration als dem Bewegungsgesetz jedes sozialen Körpers w a r für das gesamte soziale Denken der Webbs grundlegend geworden. Daß die Höherentwicklung der menschlichen Gesellschaft durch Differenzierung 'der Funktionen zu einer „vastness and complexity" des Sozialorganismus geführt habe 2 , bildete für sie die zentrale Ausgangserfahrung der modernen Industriegesellschaft. Die Bewegung vom Einfachen und Gleichartigen zum Komplexen und Heterogenen stelle i n sich eine Entwicklung zu wachsender Integration dar. I n der wirtschaftlichen Güterproduktion beispielsweise würden die Menschen voneinander abhängig, ohne sich dessen bewußt zu sein. Bereits um 1883 hatte Sidney Webb i n dem Vortrag „The Growth of Industrialism" die positiven Wirkungen der Herausbildung industrieller Strukturen hervorgehoben: „ . . . by this marvellous system of unconscious industrial co-operation we are all of us at each moment, i n doing our o w n t i n y w o r k , producing a thousand different things, t a k i n g part i n thousand different productions . . . Its object and purpose is to make our life easier for us, and for thousands of us i t w o u l d be difficult to assert that i t has not succeeded" 8 .
Der Prozeß der „civilisation" bedeutete für Webb i m wesentlichen nichts mehr als die Entwicklung von „ever widening cooperation" — hervorgebracht durch industrielle Strukturen 4 . Nach Ansicht der Fabier waren die sozialistischen Prinzipien partiell schon seit jeher i n der industriellen Gesellschaft angelegt, so daß deren Entwicklung den Weg zum Sozialismus aufzuzeigen vermochte. I m Herausschälen, Bewußtmachen und Verstärken jener industriellen Strukturen sollte die Aufgabe des Sozialisten bestehen 5 . So galt es also, die spezifischen Wirtschaftsformen des Industrialismus beizubehalten und lediglich neu zu organisieren. Diejenigen sozialistischen und radikalen Reformentwürfe, die die Einrichtungen der industriellen Gesell2
Vgl. Webb, S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 849. Webb, S.: The G r o w t h of Industrialism, i n : Passfield Papers, section V I , Nr. 11, folio 64 f. 4 Fabian Tract N r . 15: English Progress towards Social Democracy (S. Webb) 1890, S. 5. 5 Ebenda, S. 4 u. Fabian Tract Nr. 69: The Difficulties of I n d i v i d u a l i s m (S. Webb) 1896, S. 7. 3
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft
161
schaft selbst überwinden wollten — so etwa Gesellschaftsmodelle, die auf einzelnen Kooperativen und Produktionsgenossenschaften oder auf breitem bäuerlichen Kleinbesitz beruhten —, wurden von den Fabiern streng als utopisch bzw. gesellschaftlich rückschrittlich abgelehnt. Die industrielle Produktion habe eine Abhängigkeit der Menschen voneinander geschaffen, aus der es keine Befreiung mehr gebe; i m Gegenteil, sie erweise sich als Heil für die Gesamtgesellschaft: „ I f our a i m is the transformation of England into a Social-Democracy, we must f r a n k l y accept the changes brought about b y the I n d u s t r i a l Revolution, the factory system, the massing of population i n great cities, the elaborate differentiation and complication of modern civilisation, the subordination of the w o r k e r to the citizen, and of the i n d i v i d u a l to the comm u n i t y . . . The steam-engine, the factory and the mine have come to stay; and our only choice is between their management by i n d i v i d u a l owners or their management by the community. As miner, mechanic, or m i l l operative, the w o r k e r is and must be the servant of the community. F r o m that service Socialism offers no escape 8 ."
Die Kontrolle der kapitalistischen Privateigentümer über die Produktionsmittel sollte durch die Kontrolle gesellschaftlich legitimierter I n stanzen ersetzt werden; doch die Notwendigkeiten von Disziplin und Unterordnung des einzelnen i n der „vast machine" der industriellen Gesellschaft blieb unverändert: „ T o suppose that the industrial affairs of a complicated industrial state can be r u n w i t h o u t strict subordination and discipline, w i t h o u t obedience to orders, and w i t h o u t definite allowances for maintenance, is to dream, not of Socialism but of Anarchism 7 ."
Für die Fabier galt es nun, diejenigen Ordnungskräfte ausfindig zu machen, die imstande waren, die industriellen Strukturen für die sozialistische Gesellschaft adäquat zu organisieren: sie fanden sie i n den neuen professionellen Schichten der Mittelklasse, die sich i m Zuge einer Strukturwandlung in Englands Wirtschaft und Verwaltung i n den letzten drei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg i n größerem Umfang herauszubilden begannen. 2. Die Analyse der ökonomischen Strukturentwicklung: Wirtschaftliche Konzentration und Bildung neuer Führungsschichten Die Fabier waren durch ihre eigene soziale Stellung — überwiegend als Angehörige der „nouvelle couche sociale" — geistig besonders sensibel für den Aufstieg neuer beruflicher bzw. sozialer Schichtungen. Die Entstehung der neuen professionellen Mittelklasse, die die Fabier als 6
Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 10 u. 17; vgl. auch Webb , S.: W h a t Socialism means; A Call to the Unconverted, S. 6. 7 Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 18. 11 Wittig
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
künftige Ordnungs- und Führungsmacht i n der sozialistischen Industriegesellschaft ausersehen hatten, muß i m Zusammenhang gesehen werden m i t den Strukturwandlungen der englischen Wirtschaft, i n welchen sie die Entwicklungslinien zum Sozialismus vorgezeichnet sahen. Dies bet r i f f t vor allem die wirtschaftlichen Konzentrations- und Zentralisierungstendenzen sowie die wachsenden staatlichen Interventionen i m Wirtschafts- und Sozialbereich, die sich allerdings i n England i m Vergleich zu den westlichen Industriesystemen der USA und des Kontinents nur zögernd vollzogen. A u f dem Weg zum „Organisierten Kapitalismus" war England ein gewisser Sonderfall 8 . Zwar fand i n einzelnen Sektoren allmählich eine Herausbildung von Trusts, Kartellen und Syndikaten statt, insbesondere kam es gegen Ende der 90er Jahre zu einer kurzen Konzentrationsphase und einem Gründungsboom von Aktiengesellschaften, doch gesamtwirtschaftlich konnte sich die Vorherrschaft des Klein- und Mittelbetriebs auch i n den Jahren nach 1873 i n weitem Umfang erhalten. Der Familienbetrieb als typische Unternehmensform zeigte i n England i m Vergleich zu den übrigen Industrienationen ein erstaunliches Beharrungsvermögen und selbst bei der Bildung von Trusts nahm der Vorbesitzer des Einzelunternehmens noch eine exponierte, wenn auch weitgehend funktionslose Stellung ein. Die sich abzeichnende Trennung von Kapitalbesitz und Managertum vollzog sich vom Gesichtspunkt wirtschaftlicher Rationalität nur ungenügend, so wie sich auch formalisierte u n d spezialisierte Entscheidungsstrukturen in den Unternehmungen nur schleppend durchsetzen konnten. Trotz dieser zögernden und rückständigen Modernisierung des Pionierlandes der industriellen Entwicklung wurden die Fabier der langfristigen strukturellen Veränderungen der englischen Wirtschaft gewahr. M i t W i l l i a m Clarke hatten sie einen klarsichtigen Kenner der amerikanischen Verhältnisse in ihren Reihen, der ihnen den Blick für die i n England weniger offenkundigen Rationalisierungs- und Konzentrationstendenzen des Kapitalismus zu schärfen vermochte. Bereits in den Fabian Essays 1889 hatte er geschrieben: „Capitalism is becoming impersonal and cosmopolitan. A n d the combinations controlling production become larger and fewer . . . The mere forms of freedom remain; but monopoly renders t h e m nugatory . . . Thus we see that capitalism has cancelled its original principle — is itself negating its o w n existence 9 ."
Der Trust-Experte und Fabier H. W. Macrosty analysierte i m Detail die allmählichen, i n den verschiedenen Sektoren unterschiedlichen 8 Vgl. zum folgenden Medick, H.: Anfänge u n d Voraussetzungen des Organisierten Kapitalismus i n Großbritannien 1873—1914, i n : Winkler, H . A . (Hrsg.) : Organisierter Kapitalismus, S. 59 ff. 9 Clarke , W.: The Basis of Socialism: Industrial, i n : Fabian Essays, S. 80 f.
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft
163
Konzentrationstendenzen der englischen Wirtschaft und stellte ebenfalls ihre für den Kapitalismus systemgefährdenden Folgen heraus: „ O n l y the socialist welcomes this result, and he only because he sees h i m self i n the position desired by the Roman t y r a n t who wished that a l l his enemies had but one neck 1 0 ."
Die Fabier begrüßten die Verbesserungen, die die Trusts für die gesamte industrielle Produktion leisteten: die erst durch das wirtschaftliche Großunternehmen ermöglichte Rationalisierung des Produktionsprozesses vermindere die notwendige Arbeitsleistung, die Kosten, Störungen und Verschwendungen bei der Güterherstellung; auch die Lohnund Arbeitsbedingungen der Arbeiter erführen gegenüber den Kleinbetrieben eine Verbesserung 11 . Die größte Bedeutung erhielt die wachsende Vertrustung für die Fabier jedoch insofern, als der Kapitalismus durch sie seine eigene Überwindung vorbereite: die Übernahme großer Wirtschaftszentren durch Organe des Staates werde durch die privatwirtschaftliche Konzentration erleichtert 1 2 . Angesichts dieser langfristig heilsamen Wirkungen für die sozialistische Wirtschaftsorganisation erschien den Webbs die Bedrohung monopolistischer Wirtschaftsformen für die Verbraucherpreise wenig gefährlich. Die Trusts schafften ein Bewußtsein der Menschen „as nations of hired men" und bildeten i n ihnen die Fähigkeiten für die künftig notwendigen Leitungs- und Exekutionsfunktionen aus 13 . N u r die rationalisierten Produktionsformen der Trusts, nicht die paternalistische Struktur der Klein- und Mittelbetriebe bereiteten den Weg für die personalen und maschinellen Bedingungen einheitlicher, zentraler und effizienter Organisation des sozialistischen Wirtschaftens: „We have first of a l l the fact, borne i n upon us by a whole century of i n dustrial evolution, t h a t — whatever may happen to the ownership — the direction and control of the great b u l k of industry must, if we are to obt a i n any high degree of productiveness, become more and more centralised, extending over industrial organisations ever larger i n scope. . . . [the] industrial processes w i l l , i t is clear, have to be carried on, even to a greater extent than at present, by vast organisations, comprising tens of 10
Fabian Tract Nr. 124: State Control of Trusts (H. W. Macrosty) 1905, S. 4; vgl. auch Fabian Tract Nr. 88: The G r o w t h of Monopoly i n English Industry (H. W. Macrosty) 1899. S. Webb w u r d e 1918 M i t g l i e d des v o m „ M i n i s t r y of Reconstruction" eingerichteten „Committee on Trusts" u n d w i r k t e bei der Abfassung des regierungsamtlichen Abschlußberichts m i t (Report of the Committee on Trusts, London 1919). 11 Webb, S. u. B.: Problems of Modern Industry (1898), Neuauflage London 1902, V o r w o r t S. X X I ( = Webb, S.: Trusts, Trade-Unions and the National M i n i m u m , i n : International Quarterly, Feb. 1902 [Bd. 5], S. 127—148). 12 Webb, S.: Socialism i n England, S. 95; vgl. auch Fabian Tract Nr. 72: M o r a l Aspects of Socialism (S.Ball) 1896, S. 6 f.; u. Besant Α.: The Organization of Society: Industry under Socialism, i n : Fabian Essays, S. 142 u. 146. 13 Webb, S. u. B.: Problems of Modern Industry, S . V I I I . 11*
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
thousands of workers, directed b y hierarchies of salaried officers, under unified control 1 4 ."
and
Die Trusts als „huge industrial Leviathans" 1 5 waren Verboten des sozialistischen Staates. Großunternehmen schufen — so die Analyse der Webbs — durch ihre „great salaried hierarchy" eine A r t industrielle Beamtenschaft („civil service i n industry"), die ein Höchstmaß von technischer, wirtschaftlicher und administrativer Kompetenz vereinigte 1 6 . Gerade i n der Herausbildung dieses professionellen Führungspersonals lag eines ihrer Hauptverdienste für die künftige Gesellschaftsorganisation. Schon früh hatte Sidney Webb die Tendenz zur Verdrängung des Eigentümers durch den angestellten Manager als Unternehmensleiter entdeckt 1 7 . I n den Fabian Essays wurde das immer stärkere Zurücktreten des personalen Elements zugunsten des rein technisch-beruflichen Expertentums i n der wirtschaftlichen Betriebsführung angedeutet 18 . Wie allgemein i n den englischen sozialistischen und radikalen Bewegungen stand audi i m Falle der Fabier nicht das industrielle Bürgertum, sondern die „leisure class" und die Rentiers i m Zentrum des Feindbildes. Denn selbst u m die Jahrhundertwende überlagerte i n England die Rentierökonomie immer noch eine industrielle „mature economy" 1 9 . So erhielten die bürgerlichen professionellen Schichten i n Entgegensetzung zu den müßigen funktionslosen Rentiers die entscheidenden Leitungsaufgaben zugeschrieben, um die Industrie so rational wie möglich zu organisieren und damit einer sozialistischen Ordnung entgegenzuführen 20 . Die professionellen 14 Webb, S.U.B.: W h a t is Socialism? X I X . Our Protection against the Disastrous Illusion of the Distributive State, i n : The N e w Statesman, 16. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 590. 15 Webb, S.: Rent, interest and wages: being a criticism of K a r l M a r x and a statement of economic theory, i n : Passfield Papers, section V I I , Nr. 4, folio 54. 16 Webb, S. u. B.: Problems of Modern Industry, S. X X I I . 17 Webb, S.: Rent, interest and wages: being a criticism of K a r l M a r x and a statement of economic theory, i n : Passfield Papers, section V I I , Nr. 4, folio 54. 18 Webb, S.: The Basis of Socialism: Historic, i n : Fabian Essays, S. 45 und Clarke, W.: The Basis of Socialism: Industrial, i n : Fabian Essays, S. 79; vgl. zur F u n k t i o n des Managers auch das spätere, rein betriebswirtschaftlich-technische, aber konzeptionell dennoch aufschlußreiche Buch v o n Webb, Sidney: The Works Manager To-Day, London 1917, bes. Kap. I. 10 Medick, H.: Anfänge u n d Voraussetzungen des Organisierten K a p i t a l i s mus i n Großbritannien 1873—1914, i n : W i n k l e r , H . A . (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus, S. 65. 20 Vgl. Webb, S.: The Employer of tomorrow: being some of the i m p l i c a tions of trade unionism and industrial democracy [Vortrag vor dem Manchester College of Technology, 1920 od. später], i n : Passfield Papers, section V I , Nr. 73, folio 6; bereits 1885 hatte Webb als eine der wichtigsten Funktionen der Mittelklasse das „management of our vast industrial machine" bezeichnet; Webb, S.: The Economic function of the middle class [Vortrag v o r der Argosy Society, 6. Feb. 1885], i n : Passfield Papers, section V I , Nr. 20, folio 12.
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft
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Manager hatten nicht nur die alten kapitalistischen „Entrepreneurs" vollständig auszuschalten, sondern auch die verschiedenen Arbeitsprozesse und Zulieferstationen der Produktion zu integrieren und unter eine einzige Betriebsführung zu stellen. Zusammenlegung und Rationalisierung der Produktionsstruktur „under single generals of industry" sollte sowohl eine Steigerung ökonomischer Effizienz als auch eine Erleichterung der Kontrollmöglichkeiten herbeiführen 2 1 . Nicht nur die Leitung der Unternehmen, sondern die gesamte industrielle Welt von den Chemikern über die Ingenieure bis hin zu den Vorarbeitern begann sich nach Ansicht der Webbs professionell zu spezialisieren und darüber hinaus ihren einzelnen Berufsgruppen entsprechend zu organisieren 22 . Selbst Gewerkschaften nähmen mehr und mehr den Charakter von Berufsverbänden an. So war es in dem Webbschen Entwurf einer „Industrial Democracy" nicht die Arbeiterschaft bzw. die Gewerkschaften, die die Organisations- und Ordnungsmacht darstellten; vielmehr nahmen die spezialisierten Berufsgruppen qua Sachkompetenz die zentrale Machtstellung ein. Den obersten Managerpositionen i n der Industrie kam dabei das entscheidende Gewicht zu. Der bloße Arbeiter wurde über seine Entscheidungsfähigkeit als Verbraucher hinaus für Organisationsaufgaben i n der sozialistischen Produktion untauglich befunden 2 3 . Für die zukünftige Gesellschaftsorganisation sahen die Webbs jedoch auch für das Proletariat einen Wandel seiner sozialen Stellung voraus: Aus einem Großteil der Arbeiter würde eine neue Schicht von „minor professionals" werden, die als „vast army of salaried executants and assistants" den Sockel für die stark zunehmenden geistigen Berufe bildeten 2 4 . Die Fabier konzipierten den Übergang vom kapitalistischen Trust zur sozialistischen Unternehmung als einen Wechsel der Eigentumsverhältnisse bei gleichbleibender wirtschaftlicher Leitung. Die professionelle bürgerliche Mittelklasse sollte also auch dem Sozialismus dienen — eine Indienstnahme, die sich die Fabier erstaunlich unproblematisch vorstellten. Insbesondere bei der neuentstehenden Manager-Klasse setzten sie ein neues Ethos jenseits der alten kapitalistischen W i r t schaftsauffassung voraus. Der Manager und professionelle Experte sei 21 Fabian Tract Nr. 84: The Economics of Direct Employment (S. Webb) 1897, S. 14 u. 15. 22 Webb , S. u. B.: Industrial Democracy, S. 843; siehe auch Webb, S. u. B.: Professional Associations, Teil I u. I I (Report for the Fabian Research. Department), i n : The N e w Statesman, 21. u. 28. A p r . 1917 (Bd. 9), special supplements; u n d Webb, S.: Can the Middle class be organised?, i n : The New Commonwealth, 9. Jan. 1920, S. 13 f. 23 V g l etwa Webb, Β.: Our Partnership, S. 120. 24 Webb, S . u . B . : What is Socialism? X X I I . The Great Alternative. (2) The Optimist View, i n : The N e w Statesman, 6. Sept. 1913 (Bd. 1), S. 686.
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
materiell so gutgestellt, daß er seine Arbeit nicht aus bloßen Geldmotiven versehe; seine Position biete soviel Sicherheit, daß er weder Prestigesucht noch sozialen Neid hege; vor allem sei die Liebe zu seiner Arbeit so stark, daß sie allein bereits Ansporn für sein Tätigwerden sei. Sein oberstes Motiv i n der zukünftigen Gesellschaftsorganisation wäre ein neuer Geist des Gemeinschaftsdienstes: „ . . . to seek reward i n a life of fascinating interest i n the exercise of faculty, and i n the consciousness of service rendered, rather than i n accumul a t i n g riches.. ." 2 5 .
3. Graduelle Eigentumsumwandlung und funktionale Organisation der staatlichen Wirtschaft Paradigmatisch für die fabischen Ordnungsvorstellungen der sozialistischen Wirtschaft war der Webbsche Programmsatz: „The best Government is no longer ,that which governs least' but ,that which can safely and advantageously administer most' 2 0 ."
Die Erfüllung dieser Aufgabe machte starke Exekutivorgane und wachsende rechtliche Regulierungen i m sozialen und ökonomischen Bereich notwendig 2 7 . Dies hatte jedoch nicht unbedingt eine zentrale und allumfassende staatliche Kontrolle zur Folge, sondern ging i m Fall der Fabier m i t einem abgestuften und differenzierten Organisationsmodus einher. Die staatliche Organisationsstruktur i m wirtschaftlichen Bereich sollte einem funktionalen Prinzip gehorchen. Zeigte sich ein Bereich ökonomischer A k t i v i t ä t als regelungsbedürftig, d. h. konnte das individuelle Wirtschaftsprinzip dort bestimmte soziale Anforderungen der Gemeinschaft nicht mehr adäquat erfüllen, so hatte der Staat i n Form lokaler und zentraler Organe diese Funktionen an sich zu ziehen. Das zugrundeliegende Gesellschaftsmodell war das eines hochentwickelten industriellen Organismus, dessen einzelne Glieder unterschiedliche Funktionen zu erfüllen hatten und die zusammen einen „Strukturkomplex" bildeten 2 8 . Die industrielle Gesellschaftsformation wurde als ein Gefüge unterschiedlicher „Funktionszusammenhänge" begriffen, das es erlaubte, die einzelnen wirtschaftlichen Funktionen gemäß ihrer Eigenart und ihrem gesellschaftlichen Bedarf je und je verschieden zu organi25 Webb, S.: The Works Manager To-Day, S. 157; vgl. auch über das Ethos des uneigennützigen („disinterested") Managers: Webb, S . u . B . : State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The N e w Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 19 f. 26 Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 8; Fabian Tract Nr. 69: The Difficulties of I n d i v i d u a l i s m (S. Webb) 1896, S. 6. 27 Vgl. dazu Webb, S.: Considerations on anarchism [1884 od. 1885], i n : Passfield Papers, section V I , Nr. 18, folio 11. 28 Siehe Meyer, Thomas: Bernsteins konstruktiver Sozialismus, S. 127.
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sieren. Dieser frühe fabische Entwurf eines „funktionalen Sozialismus" machte nicht nur den graduellen, sondern auch den nach Bereichen unterschiedlich ausgeformten Ubergang zum Sozialismus möglich. So konnten privatwirtschaftliche Organisationsformen i n bestimmten Funktionsbereichen gleichzeitig neben verschiedenartigen Ausprägungen sozialer Kontrolle — von der regelnden Gesetzgebung bis zur unmittelbaren staatlichen Verwaltung — bestehen, ohne daß es zu innergesellschaftlichen Brüchen kam. Dieses Prinzip funktionaler Organisation bedingte hinsichtlich der Ausdehnung staatlicher Kontrolle einen allmählichen Fortschrittsmodus: „ o n l y that is done at any time which is proved to be then and there practicable; only such advance is made as the progress i n the sense of public duty permits 2 9 ."
Privatwirtschaftliche Verfügung über Eigentum galt nicht als absolutes Recht, sondern als eine prinzipiell begrenzte Zuständigkeit, die jederzeit zur Disposition stand 3 0 . Sidney Webb interpretierte die gesamte Geschichtsentwicklung des 19. Jahrhunderts als einen schrittweisen Entzug von privaten Verfügungsbefugnissen zugunsten des Staates durch die M i t t e l der Registrierung, Inspektion, Regulierung, Kontrolle und schließlich gänzlicher Eigentumsübernahme, ohne daß dies den beteiligten sozialen Akteuren jeweils bewußt geworden sei 3 1 . Die Frage von Ausmaß, M i t t e l und Zeitpunkt des Übergangs privatwirtschaftlicher Funktionen i n staatliche Hände sollte Gegenstand der neuen Sozialwissenschaft sein. Die Fabier gingen davon aus, daß der Staat nicht für die Übernahme jeder wirtschaftlichen Funktion bereits die geeigneten technischen und administrativen M i t t e l zur Verfügung habe. Die Bedingungen für den schrittweisen Übergang zum Sozialismus könnten erst durch die Soziologie aufgedeckt werden 3 2 . Auch die daraufhin zur praktischen Erprobung zu ergreifenden Maßnahmen der Sozialorganisation müßten auf erfahrungswissenschaftlichen Fakten beruhen: „ . . . the deliberately ordered progress . . . is the outcome of an application of the scientific method to the problems of industrial and political society" 3 3 . 29
S. 18.
Fabian Tract Nr. 69: The Difficulties of I n d i v i d u a l i s m (S. Webb) 1896,
30 Webb , S. u. B.: What is Socialism? V I . The Transformation of Property, i n : The New Statesman, 17. M a i 1913 (Bd. 1), S. 173. 31 Webb , S.: Socialism i n England, S. 112—114. 32 Fabian Tract Nr. 69: The Difficulties of I n d i v i d u a l i s m (S. Webb) 1896, S.3. 33 Webb , S. u. B.: What is Socialism? I I I . The Application to Society of the Scientific Method, i n : The New Statesman, 26. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 76; s. auch dies.: Industrial Democracy, S. X X X .
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Nach Ansicht der Fabier setzte die Ausübung wirtschaftlicher Funktionen m i t staatlichen M i t t e l n stärker als i m privatwirtschaftlichen Bereich eine großangelegte Planung i m Verwaltungssektor voraus, die allein die Sozialwissenschaft bzw. die „administrative Science" leisten könne 3 4 . Eine sozialistische Organisation der Industriegesellschaft sei nur m i t den M i t t e l n der Wissenschaft möglich. Die wirtschaftlichen Funktionen der industriellen Gesellschaft sollten auf drei Ebenen organisiert werden, um der jeweiligen Eigenart der verschiedenen Strukturbereiche Rechnung zu tragen: — Vorrangig, w e i l institutionell am einfachsten durchführbar, war der Eingriff i n die privatwirtschaftliche Verfügungsgewalt durch die M i t t e l der Besteuerung und der regulierenden bzw. „schützenden" Gesetzgebung. Ein Reformkatalog zur Besteuerung von Grund und Boden sowie zur Einführung der progressiven Einkommenssteuer und der Erbschaftssteuer zwecks Abschöpfung der unverdienten Renten war das früheste, spezifisch fabische Instrumentarium wirtschaftlicher Intervention 3 5 . Durch den Ausbau der gesetzgeberischen Eingriffe zur Regulierung der Wirtschaft, wie etwa durch Arbeitsschutzgesetzgebung oder staatliche Lohnrichtlinien, sollte die fabische Sozialpolitik — das sog. „Nationale M i n i m u m " — durchgesetzt werden 3 6 . — A u f einer zweiten Ebene wiesen die Fabier den kommunalen Organisationen die Aufgabe zu, bestimmte privatwirtschaftliche Funktionen zu übernehmen und eigenständig i n Form von öffentlichen Unternehmungen auszuüben. Der fabische „Munizipalsozialismus" sollte ebenfalls nach funktionalem Prinzip fortschreiten: diejenigen für die Gemeinschaft grundlegenden Leistungen von Gütern u n d Diensten, die durch den privaten Betrieb zu teuer oder zu ineffizient wären, hätte die Lokalverwaltung an sich zu ziehen 37 . Daneben sollte die Kommune in bestimmten Sektoren, z.B. i m Wohnungsbau, i n Konkurrenz zu den Privatbetrieben eigene, sich selbst tragende Unternehmungen gründen („municipal trading"), u m so allmählich immer mehr Privatfunktionen 84 Webb , S . U . B . : W h a t is Socialism? I I I . The Application to Society of the Scientific Method, i n : The New Statesman, 26. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 76 f. 35 Z u den fabischen Besteuerungsvorschlägen vgl. neben den oben i m 1. Kap., I I . A n m . 330 gemachten Angaben: Fabian Tract Nr. 5: Facts for Socialists (S. Webb) 1887, S. 19; Fabian Tract Nr. 8: Facts for Londoners (S. Webb) 1889, S. 3; Fabian Tract N r . 4 0 : Fabian Election Manifesto ( G . B . S h a w ) 1892, S. 4; Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 8; Fabian Tract Nr. 127: Socialism and Labour Policy (ff. Bland , Hrsg.) 1906, S. 4 f. 36 Dazu ausführlicher unten S. 214 ff. 37 Webb , S. u. Β . : What is Socialism? V I I . The Expansion of Local Government, i n : The N e w Statesman, 24. M a i 1913 (Bd. 1), S. 204 f. u n d dies.: State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The N e w Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 1—13.
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aufsaugen zu können 3 8 . I n ihrem gesamten wirtschaftlichen Tätigwerden sollte die Kommune selbst der direkte Arbeitgeber sein, so daß nicht mehr einzelne Produktionsvorgänge, wie etwa die Materialbeschaffung, per Vertrag an Privatbetriebe weitergeleitet zu werden brauchten 39 . Es waren die gewählten Kommunalversammlungen, die durch Spezialistenausschüsse die Manager zu bestellen und die Tätigkeit der öffentlichen Unternehmungen zu beaufsichtigen hätten 4 0 . — Die kommunalen Instanzen waren i m fabischen Modell die Hauptträger der funktionalen Organisationsstruktur, da sie vòn den Verwaltungsmitteln her am ehesten öffentliches Wirtschaften bewerkstelligen könnten. So gründeten sich die fabischen Bedenken gegen eine Überzentralisierung der sozialistischen Gesellschaft vor allem auf Erwägungen verwaltungstechnischer Zweckmäßigkeit und erst sekundär auf Argumente, die die Möglichkeiten zu Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger geltend machten. Der realistischen Beurteilung der verwaltungsmäßigen Praktikabilität staatlichen Wirtschaftens entsprach es also, wenn die Fabier i n der Befürwortung der Nationalisierung von Produktionsmitteln als der dritten Ebene ihrer funktionalen Organisationsstruktur äußerst zurückhaltend waren. Zwar drückten sie in der Theorie immer wieder ihre klare Präferenz für die zentralen Großformen des Wirtschaftens aus 4 1 , doch es war nicht vor dem Jahre 1910, daß die Fabian Society ihren ersten praktischen und detaillierten Entw u r f zur Nationalisierung eines Wirtschaftszweiges vorlegte 4 2 . Vorher hatte man sich lediglich m i t allemein gehaltenen Forderungen zur Nationalisierung der wichtigsten Verkehrsmittel und Minen zu Wort gemeldet 43 . I n der Satzung der Fabian Society hatte es geheißen: 38 Vgl. Shaw, G. B.: The Common Sense of M u n i c i p a l T r a d i n g (1904), i n : ders.: Essays i n Fabian Socialism (Shaw Works), London 1932, S. 161 ff.; u n d Fabian Tract Nr. 138: M u n i c i p a l Trading (A. Maude) 1908. 39 Vgl. Fabian Tract Nr. 37: A Labour Policy for Public Authorities (S. Webb) 1891; u n d Fabian Tract N r . 84: The Economics of Direct Employment (S. Webb) 1897. 40 Besant, Α.: The Organisation of Society: I n d u s t r y under Socialism, i n : Fabian Essays, S. 147; vgl. auch Webb, S . u . Β . : State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The N e w Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 15. 41 Siehe z.B. Webb, S . u . B . : W h a t is Socialism? X I X . Our Protection against the Disastrous Illusion of the Distributive State, i n : The New Statesman, 16. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 590. 42 Fabian Tract Nr. 150: State Purchase of Railways: A Practicable Scheme (E. Davies) 1910. 43 Fabian Tract Nr. 6: The True Radical Programme (G.B. Shaw) 1887, S. 8; Fabian Tract Nr. 11: The Workers' Political Programme (S. Webb) 1890, S. 9; Fabian Tract Nr. 66: A Programme for Workers (E. Pease) 1895; zudem Webb, S . u . B . : W h a t is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 238, wo auch die Forderung nach Nationalisierung der Eisen- u n d Stahlproduktion Erwähnung findet.
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2. Kap.: Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier
„The Society . . . works for the transfer to the community of the administration of such industrial Capital as can conveniently be managed socially44."
Die späteren fabischen Entwürfe zur Verwaltungsstruktur der nationalisierten Industrien verliehen einem parlamentarisch verantwortlichen Minister mehr oder minder starke Kontrollbefugnisse 45 . Die Entscheidung zwischen kommunaler und nationaler Organisation der Wirtschaft war für die Fabier kein Prinzipienproblem, sondern eine Frage von „convenience and experience" 46 . Da tatsächlich zur Führung von Großunternehmen auf nationaler Ebene kurzfristig noch nicht die notwendigen M i t t e l bereitstanden, legten sie ihre Betonung zunächst nur auf eine Koordination der kommunalen Aktivitäten durch ein nationales Subventionensystem und die Aufsicht zentral organisierter Expertenbehörden 47 . Dem funktionalen Organisationsprinzip des fabischen Sozialismus wohnte eine kontinuierliche Dynamik inne, die nicht von der minutiösen Verwirklichung eines festumrissenen Plans, sondern von der praktischen Erfüllung punktueller und variabler Hegelungserfordernisse lebte. Die sozialistische Entwicklung war für die Fabier organisatorisch erfahrungsoffen, i n ihrer grundsätzlichen Richtung allerdings nicht reversibel. Zwar verfügten auch die Fabier in groben Zügen über einen übergreifenden sozialistischen Gesamtplan, doch seine Konkretisierung war gegenüber den Bedingungen der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche flexibel: „ B y this method not only is the social t r a d i t i o n 4 made use of i n the social evolution, but also, though progress may be slow, failure is impossible. No nation having once nationalized or municipalized any industry has ever retracted its steps or reversed its action. No failure of any experiment i n such ,collectivisation 4 is anywhere recorded 4 8 ."
44 The Basis of the Fabian Society, i n : Pease, E.: The History of the Fabian Society, Appendix I I , S. 284. 45 Fabian Tract Nr. 171: The Nationalisation of the Mines and Minerals B i l l (H. H. Schloesser) 1913, unterstellt das staatliche Industrie-Management direkt einem Minister, während i n Fabian Tract Nr. 150: State Purchase of Railways: A Practicable Scheme (E. Davies ) 1910, ein Vertretungsorgan der Verbraucher- u n d Produzenteninteressen eingeschaltet ist; v g l auch Webb, S. u. Β . : State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 15. 46 Besant, Α.: The Organisation of Society; Industry under Socialism, i n : Fabian Essays, S. 143. 47 Z . B . Webb, S.u. B.: What is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 237. 48 Webb, S.: Socialism i n England, S. 7; u n d Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 11.
I I . Sozialismus als Organisation der Industriegesellschaft
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4. Staatssozialismus und funktionale gesellschaftliche Gruppen Daß die Organisationsstruktur des fabischen Modells den jeweiligen Eigenarten der verschiedenen wirtschaftlichen Funktionsbereiche angeglichen war, bedeutete keinesfalls, daß sich die Organisations- und Entscheidungsautorität auf die funktionalen Gruppierungen innerhalb der Gesellschaft, also auf Berufsorganisationen, Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften oder Genossenschaften, verlagern sollte. I m Gegenteil: der Fabier-Sozialismus war ausschließlich ein Staatssozialismus 49 . Es war allein der Staat, der die wirtschaftlichen Funktionen zu organisieren hatte — allerdings nicht einheitlich, sondern m i t unterschiedlichen M i t teln und durch unterschiedliche Instanzen. Für die Fabier hatte die staatliche Organisation der ungleichartigen wirtschaftlichen Funktionsbereiche des gesamten Sozialorganismus nach dem K r i t e r i u m des öffentlichen Bedarfs bzw. der privaten Nichterfüllung nichts m i t der Herrschaft der gesellschaftlichen Gruppen über ihre eigene wirtschaftliche Funktion gemein. Zwar waren sich die Webbs schon frühzeitig der Herauskristalisierung funktionaler Gruppen bewußt gewesen, deren zunehmende Ausfächerung der ökonomischen Differenzierung der Industriegesellschaft entsprach; doch hatten sie i n einer Vorherrschaft dieser speziellen sozialen und wirtschaftlichen Verbände und Vereinigungen stets eine Gefahr gewittert. Je spezialisierter die Wirtschaftsfunktionen wurden, desto mehr Macht erhielten einzelne funktionale Gruppen über das Geschehen der Gesamtgesellschaft. Der sozialistische Staat mußte in seinen Leistungen den unterschiedlichen Anforderungen der funktionalen Gruppierungen gerecht werden 6 0 , hatte sich darüber hinaus deren Fachwissen zu sichern 51 , durfte ihnen aber unter keinen Umständen letzte Entscheidungskompetenzen überlassen. Als die Webbs nach dem Aufblühen des „New Unionism" Ende der 80er Jahre die Bedeutung der Gewerkschaften erkannten, räumten sie ihnen i n ihrer „Industrial Democracy" eine wichtige Stellung ein; die gewerkschaftliche Tätigkeit beurteilten sie als nutzbringend für die Gesamtwirtschaft, was angesichts der gegenteiligen herrschenden Lehre 49 Vgl. die Selbstdarstellung der P o l i t i k der Fabian Society, i n : Fabian Tract Nr. 70: Report on Fabian Policy (G. Β. Shaw) 1896, S. 5. 50 Siehe Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb) 1911, S. 3 u. 4; u n d Webb , S. u. B.: What is Socialism? X I . V o l u n t a r y Groupings of Producers and Consumers, i n : The New Statesman, 21. J u n i 1913, S. 334. 51 Webb, S. u. Β.: Professional Associations, T e i l I I (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 28. A p r i l 1917 (Bd. 9), special Supplement S. 37 f. u. S. 48; dort w i r d auch die Errichtung eines „Professional Councü" als nationales Beratungsorgan f ü r Parlament und Exekutive vorgeschlagen.
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2. Kap. : Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier
in der politischen Ökonomie eine ungewöhnliche Bewertung war. Doch schon zu diesem Zeitpunkt warnten die Webbs vor einem Übergewicht der i n ihrer Interessenlage notwendigerweise eng begrenzten Produzentenvereinigungen zuungunsten der Gesamtgesellschaft 52 . Auch i n der zukünftigen sozialistischen Gesellschaft könne der „Sektionalismus" einer Herrschaft der Produzentenvereinigungen die wirtschaftliche Einheit und Leistungsfähigkeit gefährden 53 . Anders dagegen verhielt es sich m i t Assoziationen, die auf der Grundlage des Verbraucherinteresses organisiert waren, wie etwa i m Fall der Konsumgenossenschaften. Sie produzierten unter dem Aspekt des günstigsten Verbrauchs („production for use") und nicht wie die Produzentenassoziationen m i t dem Ziel des höchsten Gewinns („production for profit") 5 4 . Die Verbraucherassoziationen hätten keine partikularen Interessen zu vertreten und neigten nicht, wie die Produzentenassoziationen, zu Aufnahmebeschränkungen und Konkurrenz-Praktiken. Sie waren nach Auffassung der Webbs demokratische Organisationen m i t einem kollektivistischen Ethos, da sie allen Mitgliedern gleiche Rechte verliehen und i n ihrer Güterproduktion nicht die Gewinninteressen der einzelnen Produzenten, sondern den Verbrauchsnutzen der ganzen Gemeinschaft i m Auge hätten 5 5 . Der Aufstieg des Syndikalismus in Gestalt seiner englischen Variante — des Gildensozialismus — während der ersten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts konfrontierte die Webbs erneut m i t dem Herrschaftsanspruch funktionaler Gruppen auf der Grundlage der Produzentenorganisation. Dies ließ sie noch einmal die Notwendigkeit der staatssozialistischen Ordnung der Wirtschaft i n aller Schärfe betonen. Schon seit jeher hatten die Fabier den revolutionären Klassenkampf als schädlich für Bestand und Funktionsfähigkeit der gesamten Sozialorganisation abgelehnt 56 . Nun geißelten die Webbs i n einer offenen Auseinandersetzung m i t dem Syndikalismus dessen Ziel und Taktik als „grundlegend unpraktikabel" und „ethisch fragwürdig" 5 7 . Der i n Zukunft bedeutsame Gegensatz entstehe nicht zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen Produzenten- und Verbraucherinteressen. Die Webbs ließen keinen Zweifel daran aufkommen, daß sie sich für den 52
Webb, S.u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 822 f. Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 12—14. 54 Webb, S. u. B.: What is Socialism? V I I . The Expansion of Local Government, i n : The N e w Statesman, 24. M a i 1913 (Bd. 1), S. 205. 55 Fabian Tract Nr. 51: Socialism: True and False (S. Webb) 1894, S. 16. 56 Z . B . Fabian Tract Nr. 15: English Progress towards Social Democracy (S. Webb) 1890, S. 15. 57 Webb, S. u. B.: W h a t Syndicalism Means: A n Examination of the Origins and Motives of the Movement w i t h an Analysis of its Proposals for the Control of Industry, i n : The Crusade Against Destitution, Aug. 1912 (Bd. 3), special supplement, S. 10. 53
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Vorrang der Verbraucherseite entschieden, da durch sie das Interesse der Gesamtgesellschaft repräsentiert werde. Die syndikalistischen Methoden des Generalstreiks und der direkten Aktion, die nicht politische Interessen, sondern die wirtschaftlichen Einzelinteressen der funktionalen Produzentengruppierungen i m Auge hätten, bewerteten sie als Sabotage an der gesamten Gesellschaft; sie zeugten von einer schwerwiegenden Verschlechterung des „moral character" 58 . Funktionale Gruppen i m allgemeinen, besonders jedoch solche nach dem Modell autonomer Produzentenassoziationen, neigten gesamtgesellschaftlich zu eigensüchtiger Interessenverfolgung und zu „conspiracies against the public", was einer Verneinung des demokratischen Prinzips gleichkäme 5 9 . Die Produzentengruppen seien ihrer Natur nach grundsätzlich exklusiv, i n ihrer Struktur oligarchisch und kehrten i m praktischen Ergebnis zum alten individualistischen Profitsystem zurück 6 0 . Gegen sie gewandt betonten die Webbs, daß i n der modernen Industriegesellschaft — selbst unter sozialistischen Vorzeichen — jedermann i n einer „great productive a r m y " zu dienen habe 6 1 . Neben dieser vorwiegend „gesellschaftsmoralischen" Argumentation, die die Untergrabung der Disziplin und der Unterordnungspflichten gegenüber dem gesamten Sozialorganismus verurteilte, ergaben sich für die Webbs die schwerwiegendsten Einwände gegen eine Herrschaft der Produzentenvereinigungen aus den Organisationsnotwendigkeiten der modernen Industriegesellschaft. Autonome Produzentenassoziationen seien nicht in der Lage, a) die notwendige Betriebsdisziplin zu gewährleisten, b) die notwendigen Kenntnisse über die gesamtwirtschaftliche Lage aufzubringen und c) flexibel auf neue Anforderungen der Güternachfrage und Produktionstechnik zu reagieren 62 . Ein ein58
Ebenda, S. 11. Webb, S.U.B.: What is Socialism? V I I . The Expansion of Local Government, i n : The New Statesman, 24. M a i 1913 (Bd. 1), S. 205; vgl. auch dies.: Professional Associations, T e i l I I (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 28. A p r i l 1917 (Bd. 9), special supplement S. 40 f. 60 Webb, S. u. B.: W h a t is Socialism? X I . V o l u n t a r y Groupings of Producers and Consumers, i n : The New Statesman, 21. J u n i 1913 (Bd. 1), S. 334; u n d dies.: W h a t is Socialism? X X . I n itself a Demonstration of the Impossibility of Syndicalism and Anarchism, i n : The N e w Statesman, 23. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 622 f. 61 Webb, S.U.B.: W h a t is Socialism? X I X . Our Protection against the Disastrous Illusion of the Distributive State, i n : The New Statesman, 16. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 591. 62 Webb, S.U.B.: Co-operative Production and Profit-Sharing (Report for the Fabian Research Department), i n : The N e w Statesman, 14. Feb. 1914 (Bd. 2), special supplement, S. 21; siehe auch Winter, J. M . : Socialism and the Challenge of War. Ideas and Politics i n B r i t a i n 1912—1918, London 1974, S. 38 f. 59
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
zelner Produktionsbetrieb war nach Ansicht der Webbs als autonome Verwaltungseinheit für die moderne industrielle Gesellschaft ungeeignet. Die Industriegesellschaft setze eine „complex hierarchy" und ein „highly concentrated management" i n der Wirtschaftsführung voraus, so daß ausschließlich der Staatssozialismus mit seinen großen nationalen und lokalen Verwaltungsorganen eine Alternative zum Kapitalismus darstelle 63 . Zwar wollten auch die Webbs i n den staatlichen Verwaltungsorganen den Produzenten ein begrenztes Mitspracherecht zugestehen 64 , doch vor dem Hintergrund der Arbeiterunruhen von 1912 und der Stärkung des Syndikalismus wuchs ihr Mißtrauen gegenüber den Produzentenassoziationen und den „narrow working-class interests" 6 5 . Sie konzipierten ihren sozialistischen Staat nun als eine riesige Verbrauchergenossenschaft, als einen großen Produktions- und Dienstleistungsbetrieb für den Bürger i n seiner Eigenschaft als Konsument: „The State has become, i n fact, a sort of extended Co-operative Society, performing for the great public of consumers the services that they require, and supplying these, not necessarily compulsory, or even universally, but often only by definite i n d i v i d u a l request 6 8 ."
Die Produktion i m sozialistischen Staat hatte sich am Verbraucher auszurichten, so daß die herkömmlichen Arbeitsbeziehungen, die auf Fabrikdisziplin und Befehlshierarchie beruhten, auch beim Übergang i n staatliche Eigentumsformen beibehalten werden sollten. 5. Das Ziel des Sozialismus: Die Vollendung des „Industrialismus" Die Fabier schaft davon menschlichen Organisation,
gingen bei ihren Entwürfen für eine sozialistische Gesellaus, daß — wie Shaw es einmal ausdrückte — „ i n der Gesellschaft der dominierende Faktor nicht die politische sondern die industrielle Organisation [sei]" 6 7 . Da nach der
63 Webb , S. u. Β . : What is Socialism? X X . I n itself a Demonstration of the Impossibility of Syndicalism and Anarchism, i n : The New Statesman, 23. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 623; u n d dies.: What Syndicalism Means, i n : The Crusade, Aug. 1912 (Bd. 3), special supplement S. 6. 64 Webb , S. u. B. What is Socialism? X . Co-Partnership between Producers and Consumers, i n : The New Statesman, 14. J u n i 1913 (Bd. 1), S. 300--302; u n d dies.: State u n d M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special Supplement S. 32. 65 Vgl. Winter, J. M . : Socialism and the Challenge of War, S. 51. ββ Webb, S.U.B.: What is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 236. 67 Shaw, G. Β . : Die Illusionen des Sozialismus, i n : ders.: Sozialismus f ü r Millionäre, S. 59.
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fabischen Evolutionsvorstellung die sozialistischen Organisationsprinzipien den industriellen Strukturen entwuchsen und schon teilweise — wenn auch weitgehend unerkannt — den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen innewohnten, lag der Schluß nahe, daß der „Industrialismus" nur forciert zu werden brauchte, um dem Sozialismus vollständig zum Durchbruch zu verhelfen. Die industrielle Entwicklung strebte nach Ansicht der Fabier wachsender Integration und Kooperation entgegen. Das Heilmittel für die elenden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter, beispielsweise in den Kleinbetrieben des „Hungerlohngewerbes" („sweated industries"), schien ihnen daher i n der Beschleunigung der „industriellen Revolution" („quickening of the industrial revolution") zu liegen 6 8 . Die rationale Fabrikorganisation bedeutete keine wachsende Ausbeutung und Verelendung der Arbeiter, sondern eine Verbesserung der sozialen Bedingungen 69 . Die Arbeiter konnten also ihr Heil von den technischen und organisatorischen Fortschritten der Industrialisierung erwarten. Rev. John Clifford, ein christlicher Sozialist in der Fabian Society, verkündete in einem fabischen Traktat: „ . . . i n the light of the historical seeks to accelerate the evolution itself from the defects and evils Divine mission i n the enrichment
development of industry i t [Collectivism] of the industrial life , so that i t shall free that now belong to it, and shall fulfil its of the whole life of m a n k i n d " 7 0 .
Der aus dem evolutionären Prozeß notwendig resultierende „ Stateindustrialism" 7 1 versprach materielles Wohlergehen für alle Menschen. Vorrangige Aufgabe war also die rationalere Organisation der industriellen Produktion. Die Entwicklung h i n zu einer immer umfassenderen und spezialisierteren maschinellen Produktion war nicht umkehrbar, ja deren Zurückdrängung wäre — wenn möglich — unerwünscht gewesen. Die Forderung nach wissenschaftlicher Planung der gesamten Arbeits- und Produktionsabläufe, wie sie das aus Amerika kommende Konzept des „scientific management" vortrug, fand die Zustimmung von S. Webb, insofern dadurch die Effizienz der Produktion erhöht und die Bedingungen der Arbeiter nicht negativ beeinträchtigt würden 7 2 . 08 Fabian Tract Nr. 50: Sweating: Its Cause and Remedy (H.W. Macrosty) 1894, S. 10. 69 Vgl. Fabian Tract Nr. 67: Women and the Factory Acts (Β. Webb) 1896, S. 14; u n d Webb, S. u. B.: Problems of Modern Industry, S. X X I ff. 70 Fabian Tract Nr. 78: Socialism and the Teaching of Christ (Rev. J. Clifford) 1897, S. 5 (Hervorhebung von mir, d. Verf.). 71 Ebenda, S. 6. 72 Webb, S.: The Works Managers To-Day, S. 131—138; die englischen Diskussionen u m die Probleme des „scientific management" waren i n breitem Maß durch die Veröffentlichung von F. W. Taylors gleichnamigem Buch i m Jahre 1911 ausgelöst worden.
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2. Kap.: Politische Konzeption n d politische Praxis der Fabier
Technische Innovationen zur Rationalisierung der Produktion wurden unter der Bedingung gutgeheißen, daß sie m i t einer stärkeren öffentlichen Kontrolle über die Produktionsmittel einhergingen 7 3 . „ . . . machinery has before it possibilities almost undreamed of now", hatte Annie Besant i n den Fabian Essays für den Fall prophezeit, daß der Mensch vom Sklaven zum Herrn der Maschine werde 7 4 . I n ihrem Sozialismus-Modell visierten die Fabier die rationalen Großformen industrieller Produktion als effizienteste Einheiten des Wirtschaftens an, wenn auch kleine freiwillige Produktionsgenossenschaften zur Ausübung individueller Handwerksarbeit und zur Verwirklichung von Experimenten i n begrenztem Umfäng geduldet werden s o l l t e n 7 5 . ' I n jedem Fall war es jedoch nicht die Arbeiterklasse, die die entscheidende Macht für die Heraufkunft des Sozialismus darstellte, sondern die Wissenschaft, die die rationale Organisation der Produktion erst ermöglichte. Wenn Sozialismus — i n den Worten Shaws — zuallererst als „business scheme, based on facts and figures" begriffen w u r d e 7 6 , dann mußten sich die Produktionsstruktur und die Arbeitsbeziehungen der sozialistischen Wirtschaft vor allem nach Effizienzgesichtspunkten ausrichten. Besonders die Webbs wurden nicht müde, die Notwendigkeit von Arbeit, Disziplin, Dienst und Unterordnung i n der industriellen Produktion des Sozialismus zu betonen. Den Versprechungen des revolutionären Sozialismus, des Syndikalismus, Anarchismus und der utopischen Gesellschaftsentwürfe aller Couleur, wie beispielsweise der Abschaffung des gesamten kapitalistischen Lohnsystems, hielten die Webbs entgegen, daß der Sozialismus „disciplined obedience to orders" 7 7 , „no l i t t l e subordination" 7 8 , „the tightening up of personal obligations" 7 9 verlange. Der Sozialismus bedinge — wie jeder Fortschritt der Z i v i l i sation — 73
Webb, S.: The Works Manager To-Day, S. 16. Besant, Α.: The Organisation of Society: I n d u s t r y under Socialism, i n : Fabian Essays, S, 150. 75 Webb, S . U . B . : What Syndicalism means, i n : The Crusade, Aug. 1912 (Bd. 3), special supplement, S. 19; u n d dies.: W h a t is Socialism? X I . V o l u n t a r y Groupings of Producers and Consumers, i n : The N e w Statesman, 21. J u n i 1913 (Bd. 1), S. 332—334. 76 Shaw, G. Β . : Socialist Politics (1908), i n : ders.: Practical Politics, S. 98. 77 Webb, S . u . B . : W h a t Syndicalism means, i n : The Crusade, Aug. 1912 (Bd. 3), special supplement S. 12. 78 Webb, S . u . B . : What is Socialism? I X . Organisation f r o m below as the Safeguard of Liberty, i n : The New Statesman, 7. J u n i 1913 (Bd. 1), S. 269. : 79 Webb, S . u . Β . : W h a t is Socialism? X V I I I . The real Safeguard against the Nightmare of the Servile State, i n : The New Statesman, 9. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 558. 74
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„an e ver- wider subordination of the momentary impulse to the deliberate purpose and of the i n d i v i d u a l decision to the general w i l l " 8 0 .
I m Modell der Webbs wurden die kapitalistischen Produktionsstrukturen und Arbeitsbeziehungen prinzipiell intakt gelassen und lediglich die formale Verfügungsgewalt über das Eigentum verändert 8 1 . Personale Herrschaft indes sollte i n der sozialistischen Wirtschaftsorganisation der Zukunft keinen Raum mehr haben. Die „personale Autokratie" i m Kapitalismus würde i n der industriellen Gesellschaft des Sozialismus durch die Herrschaft der Sachnotwendigkeiten abgelöst: „ . . . i t is the facts that decide" 82 . Die Webbs verfügten über eine vage, niemals vollständig ausformulierte Geschichtsvorstellung, die der der großen Positivisten St. Simon, Comte und Spencer verwandt war. Die gesamte soziale Entwicklung der Menschheit sahen sie auf die Industriegesellschaft h i n konzentriert, die durch die Wissenschaft — die oberste Geschichtsmacht — organisiert würde. Die Industriegesellschaft münde unweigerlich i n den Sozialismus ein, der nichts anderes als ihr höchstes Entwicklungsstadium sei 8 3 . Die Webbs selbst haben die Grundannahmen, auf denen ihr Verständnis vom Sozialismus als der möglichst rationalen staatlichen Organisation der industriellen Produktion ruhte, niemals offenkundig gemacht. Der Begriff von Rationalität, der ihrem Sozialismus zugrunde lag, war rein formal gefaßt. N u r ein Höchstmaß von formaler Rationalität i m wirtschaftlichen Bereich i m Sinne der größtmöglichen Rechenhaftigkeit und Berechenbarkeit aller Operationen konnte die reibungslose und effiziente Regelung der Güterproduktion gewährleisten. Das K r i t e r i u m war die Quantität der Produktion. Materiale Wertgesichtspunkte dagegen, wie ethische oder humanitäre Gebote aller A r t , mußten vom Modell rein formal rationalen Wirtschaftens, dessen einzelne Operationen und Akteure in ihrer Funktion beliebig austauschbar waren, ausgeschlossen sein. Der Webbsche Sozialismus gehört zum Typus des rationalen Sozialismus i m Sinne Max Webers, der die Tendenz hat, die formale Rationalität des Kapitalismus noch zu steigern. Der rationalen Organisation der formal zweckgerichteten Produktion w i r d lediglich ein anderer Zweck — statt der individuellen nun die kollektive Bedürfnisbefriedigung — vorgespannt. Die der kapitalistischen Produktion 80
Webb, S.U.B.: W h a t is Socialism? I V . Participation i n Power and the Consciousness of Consent, i n : The New Statesman, 3. M a i 1913 (Bd. 1), S. 107. 81 Webb, S.U.B.: W h a t Syndicalism means, i n : The Crusade, Aug. 1912 (Bd. 3), special supplement, S. 19. 82 Fabian Tract Nr. 196: The Root of Labour Unrest (S. Webb) 1920, S. 12 u n d 13. 88 V g l z.B. Webb, S.: The Basis of Socialism: Historic, i n : Fabian Essays, S. 28 ff.; siehe oben bereits 1. Kap., I I . 3. c) u. d). 12 Wittig
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
innewohnenden „materialen Irrationalitäten" jedoch, z. B. daß — i n den Worten Max Webers — „das Höchstmaß von formaler Rationalität der Kapitalrechnung nur bei der Unterwerfung der Arbeiter unter die Herrschaft von Unternehmern möglich i s t " 8 4 , sind auch i n jenem Modell des rationalen Sozialismus enthalten. Der Staat t r i t t an die Stelle des einzelnen Unternehmers, die Trennung des Arbeiters von seinen Betriebsmitteln bleibt bestehen. Die Webbs vermochten die Gefahr eines „Umkippens" der materialen Irrationalitäten bei gesteigerter formaler Rationalität nicht zu sehen. Verhältnisse der „strict subordination" erschienen ihnen nicht als material irrational, da diese nicht mehr von Personen, sondern von Sachgesetzlichkeiten bewirkt würden. Obwohl die Webbs ihr sozialistisches Modell der Organisation industrieller Produktion ohne Berücksichtigung wertrationaler Maßstäbe konstruierten, erwarteten sie doch, daß allein schon durch die Veränderung der formalen Verfügungsgewalt über industrielles Eigentum eine neue sozialistische Moral hervorgebracht werden könnte. Trotz unveränderter Produktionsstruktur sollte der sozialistische Staat durch eine bloße Umwandlung des formalen Eigentumsstatus i n der Lage sein, die gemeinschaftsbezogenen Charakterzüge der Menschen anzuregen und ein Zunehmen von „fellowship" 8 5 , von „self-subordinating personal service of h u m a n i t y " 8 6 und „spirit of mutual interdependence and comradeship i n l i f e " 8 7 zu fördern. Andere Sozialisten, insbesondere solche ethischer Ausrichtung wie etwa R. H. Tawney, warfen den Webbs vor, daß sie gegen die moralischen Übel, die der kapitalistischen Ordnung innewohnten, nichts anderes als technische und administrative Mittel verschrieben 88 . Der geistige Kopf der Gildensozialisten, G. D. H. Cole, kritisierte, daß der kollektivistische Staat der Webbs die Bewahrung des Status quo der ungerechten kapitalistischen Arbeits- und Produktionsbedingungen bedeute 89 . Die Webbs selbst jedoch erhofften sich gerade von den technisch-rationalen Veränderungen die moralischen Wirkungen. Ein Begriff materialer Rationalität i m Sinne der Existenzverwirklichung des ganzen Menschen — gespeist aus welchen Quellen auch 84
Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, 5. A u f l . Tübingen 1972, S. 78. Webb , S. u. Β . : What Syndicalism means, i n : The Crusade, Aug. 1912 (Bd. 3), Supplement S. 16. 86 Webb, S. u. B.: W h a t is Socialism? X X I . The Great A l t e r n a t i v e (1) The Answer of Pessimism, i n : The N e w Statesman, 30. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 653. 87 Webb, S. u. Β . : What is Socialism? X I . V o l u n t a r y Groupings of Producers and Consumers, i n : The N e w Statesman, 21. J u n i 1913 (Bd. 1), S. 333. 88 Siehe dazu Winter, J. M . : Socialism and the Challenge of War, S. 67 u. S. 85—88. 89 Cole, G. D. H.: The W o r l d of Labour, (1913) (hrsg. u. eingel. v. J. Lovell) Nachdruck B r i g h t o n 1973. S. 346 f. u. S. 378 f 85
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immer — war i m rationalen Sozialismus der Webbs nicht enthalten. Seine Bestimmung war die wirtschaftliche Produktion und nichts weiter. Der sozialistische Staat der Webbs w a r keine Ordnung, die das gute Leben der Menschen beförderte, sondern eine Organisation zur materiellen Bedürfnisbefriedigung, die das bloße Leben der Menschen sicherte. Die Ethik des Dienstes an der Gemeinschaft war eine Ethik der Quantität. Sie bemaß sich am produktiven Beitrag des Individuums zur funktionalen Reibungslosigkeit und zum wirtschaftlichen Output der Gesamtorganisation. Letzter Bezugspunkt dieser „ E t h i k " war — wie Sidney Webb schon i n den Fabian Essays ausgeführt hatte — d a s Überleben, das schiere Weiterexistieren des Sozialorganismus: „ W i t h o u t the continuance and sound health of the social organism, no man can now l i v e or t h r i v e ; and its persistence is accordingly his paramount end 9 0 ."
I n der Einfügung i n den sich immanent entwickelnden Prozeß der Natur lag die sinnhafte Bestimmung des Menschen. Der Mensch erschien lediglich als arbeitendes und herstellendes Wesen; die Züge seiner Existenz, die seine eigentliche Humanität ausmachen, blieben ausgeblendet. Die Gründe für die Reduktion des Sozialismus auf die Sinnkategorie der Arbeit und Produktion können sowohl in der persönlichen Werthaltung der Webbs, als auch i n den sozialen Herausforderungen der Zeit gesucht werden. Das Lebensideal der Webbs war puritanischevangelikaler Natur. Ihre Lebensführung war am Begriff beruflicher Effizienz orientiert. Durch ihre individuelle psychische Problemlage mitbedingt, machten beide die rationale Berufsarbeit zu ihrer Lebensbestimmung 9 1 . Ihre persönlichen Maxime zu einfacher und aktiver Lebensgestaltung, ihr Ethos disziplinierter und harter Arbeitsleistung („work hard and live s i m p l y " ) 9 2 sowie ihre Forderung nach sozialem Dienst an der Sache des kollektiven Ganzen sind darüber hinaus als säkularisierte Gebote einer puritanisch-evangelikalen Religiosität zu verstehen. I n der vollständigen Hingabe an die Arbeit der Sozialreform bestand ihr Dienst an der Gemeinschaft. 90
Webb, S.: The Basis of Socialism: Historic, i n : Fabian Essays S. 53. Dem jungen Sidney Webb hatte die unermüdliche, j a verbissene A r b e i t geholfen, seine emotionalen Probleme, seine Unsicherheit u n d weltanschauliche Orientierungslosigkeit zu meistern. F ü r Beatrice w a r die Forschungsarbeit eine Fluchtmöglichkeit aus ihrer langwährenden Persönlichkeitskrise nach der unglücklichen Affaire m i t Joseph Chamberlain. Uber das p u r i t a nisch-evangelikale Arbedtsethos hinaus schien den Webbs auch später ihre asketische Lebensführung u n d i h r kolossaler, die Mitmenschen oftmals i n Staunen versetzender Arbeitsfleiß ein M i t t e l gewesen zu sein, aufkommende Sinnfragen u n d Lebenszweifel abzuwehren; vgl. die zahlreichen Hinweise i n Webb, Β . : Our Partnership, S. 36, 43, 46, 156, 214, 227 u. 282. 92 Ebenda, S. 43. 91
1*
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Der rationale Sozialismus Webbscher Prägung, sofern er i n den Kategorien von Arbeit und Produktion dachte, war ein Ausdruck der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Webbs reagierten auf die Herausforderungen der existentiellen Not und der sozialen Übelstände, die die industrielle Entwicklung i m Kapitalismus m i t sich gebracht hatte und die der gebildeten Öffentlichkeit i n den 80er Jahren besonders drastisch ins Bewußtsein traten. Die eigentliche Stoßrichtung des fabischen Sozialismus war nicht gegen die Produktionsstruktur des Kapitalismus als solche, sondern gegen die Besitzverhältnisse der Rentierökonomie gewandt. Der müßige Rentier, weniger der aktive, ökonomische Bourgeois, war der „Feind". Von einer Intensivierung und Beschleunigung der industriellen Entwicklung — hinzielend auf eine hochrationalisierte „mature economy" — bei gleichzeitiger Umstrukturierung der Eigentumsverhältnisse erhofften sich die Fabier langfristig die Lösung der sozialen Probleme auch der unteren Klassen. Das Webbsche Modell einer sozialistisch organisierten Industriegesellschaft übert r u g die Grundannahmen der bürgerlichen Wirtschaftsauffassung auf massendemokratische Verhältnisse. I n dem Maße, wie i n England die schiere Lebenssicherung der unteren Klassen gewährleistet wurde, verlor das Webbsche Modell für die englische sozialistische Bewegung an Attraktivität. Sobald jedoch bestimmte soziale Krisensituationen, wie etwa die innenpolitischen Rückwirkungen des ersten Weltkrieges, die Organisationsnotwendigkeiten von Arbeit und Produktion i n den Vordergrund der Politik schoben, gewannen die Entwürfe der Webbs wieder an Boden 9 3 .
I I I . Die Staatsanechauung der Fabier 1. Der traditionelle Staatsbegriff im englischen Denken: Staat als Lebensgemeinschaft Englisches Denken war stets geprägt von einem starken Mißtrauen gegenüber Metaphysik und rein theoretischer Spekulation, durch Orientierung an den tradierten Institutionen, durch Bevorzugung der Sprache des „common sense" 1 . Auch die Fabier standen einer abstrakten und spekulativ-philosophischen Denkweise fern. Sie formulierten niemals eine durchdachte und zusammenhängende Staatstheorie aus, ebensowenig wie eine explizite Souveränitäts- oder Rechtslehre. Hätte man Sidney Webb nach seiner Staatstheorie gefragt, so wäre die A n t w o r t 93 1
Vgl. dazu unten S. 345 ff. Siehe dazu oben S. 82 f.
I I I . Die Staatsanschauung der Fabier
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vermutlich ähnlich ausgefallen wie die auf die Frage nach seiner Vorstellung von einer Universität: „ I haven't any idea of a university . . . Here are the facts 2 ." Dennoch läßt sich aus der Gesamtheit der politischen Aussagen und empirischen Analysen der Fabier ein Staatsbegriff gewinnen, da sich unter der Oberfläche ihres Pragmatismus eindeutige Prämissen zur Natur, Funktion und Organisation des Staates verbargen. Die Fabier knüpften vor allem an Benthams Begriff des rationalen Staates an und überwanden m i t zum Teil vom Kontinent importierten Kategorien das traditionelle und herrschende englische Verständnis vom Wesen eines staatlichen Verbandes. M i t ihrem neuen Staatsverständnis legten die Fabier eine wichtige geistige Grundlage für die sprunghaft ansteigende Staatsaktivität in England während dieses Jahrhunderts. Die herrschende englische Staatsanschauung war stets von der Vorstellung einer Lebensgemeinschaft ausgegangen. Burkes Begründung der „Old Whig"-Politik faßte den Staat als ein gegliedertes, hierarchisches, organisch gewachsenes Gefüge von Korporationen, Ständen und Machtgruppen, das auf persönlicher und ständischer Loyalität und auf „habitual social discipline" ruhte, „ . . . i n which the wiser, the more expert, and the more opulent conduct, and b y conducting enlighten and protect, the weaker, the less knowing, and the less provided w i t h the goods of fortune" 3 .
Die Verfassung war kein System von Regeln und vorgeprägten Vorschriften, sondern „lebende, handelnde und wirkende Verfassung". Das staatliche Gemeinwesen hatte zur Aufgabe, die sittlich-religiöse Vervollkommnung des Menschen zu fördern. Das herrschende Verfassungsverständnis zur Zeit Blackstones, gegen das Jeremy Bentham zu Felde zog, hatte den Staat als Lebens- und Gesinnungsgemeinschaft vorausgesetzt, als eine gegliederte Ordnung, i n der verschiedene, eigenständige korporative Gebilde i n einem Geflecht von historisch herausgewachsenen Rechtsbeziehungen zu einer Einheit einander zugeordnet waren. Die Lebensgemeinschaft wurde durch bestimmte Personen i n bestimmten Ämtern repräsentiert und erhielt erst durch diese Personalität der Herrschaft ihren ureigentlichen Charakter. Das Gemeinwesen konstituierte sich nach dieser Auffassung nicht erst durch eine bestimmte Zweckausrichtung, zu deren ausschließlicher Verfolgung sich die Glieder zusammenbanden; vielmehr lag der Daseinsgrund des Gemeinwesens bereits i n der bloßen Teilnahme der Gruppen an der prinzipiell zweckoffenen Lebensgemeinschaft begrün2 Zit. nach: McBriar, A . M.: Fabian Socialism and English Politics 1884— 1918, S. 73. 3 Burke , E.: Appeal f r o m the New to the O l d Whigs, i n : The Writings and Speeches of E d m u n d Burke, Bd. 4, Boston 1901, S. 174.
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
det 4 . M i t der Vorstellung vom Staate als gegliederter Lebensgemeinschaft eigenständiger Gruppen gingen die Grundsätze einer gemischten Verfassung einher. Die Souveränitätsfrage i m Gemeinwesen wurde nicht eindeutig zugunsten einer Macht entschieden, sondern vielmehr durch ein System der Machtbalancierung offengehalten. Die davon abweichenden, eindeutigen Souveränitätsbegriffe Benthams und Austins stellten gegenüber der herrschenden Verfassungslehre Englands die Ausnahmen dar. Auch noch nach der Zurückdrängung der aristokratisch-ständischen Elemente jener OrdnungsVorstellung konnte sich i m bürgerlichen Liberalismus der Begriff vom Staat als einer Lebensgemeinschaft i n den Grundzügen halten. John Stuart M i l l etwa begriff das Gemeinwesen nicht nur als Aggregat aller gleichrangigen Einzelinteressen, sondern ging von einer Strukturierung durch die „natural order of human life" aus 5 . Die Rangordnung der Bildung, des Wissens und der Intelligenz war für M i l l zwar nicht wie bei Burke ursprünglich vorgegeben, sondern eine durch die politische Organisation erst herzustellende 6 , doch sie verlieh dem Gemeinwesen einen gegliedert-personalbezogenen Herrschaftscharakter jenseits rein rationaler, beliebig variabler Nützlichkeitsmaßstäbe. Die bürgerlichen Individuen waren auch bei M i l l noch auf die „general opinion of the nation" und auf das Gemeinwohl als „good of the whole" bezogen 7 , welches über der bloßen Summe der Einzelinteressen stand. Auch Walter Bagehot ging vom Gemeinwesen als einer vorgegebenen Einheit aus, innerhalb derer die politischen Institutionen wirkten. Seiner Sichtweise der „lebenden Verfassung" lag eine Vorstellung vom Gemeinwesen als Gemeinsamkeit von Personen zugrunde: er sah die Beziehungen der Menschen untereinander durch Vertrauen und Verbundensein, das Verhältnis der unteren und mittleren Klasse gegenüber der aristokratischen Herrscherklasse darüber hinaus durch Loyalität und „deference" gekennzeichnet 8 . Trotz individualistischer Sicht vom Menschen begriff somit das herrschende politische Denken noch bis ins Zeitalter des Gladstoneschen 4 Vgl. dazu Streifthau, K . : Die Souveränität des Parlaments, S. 23; siehe Oakeshott, Michael: On H u m a n Conduct, Oxford 1975, Kap. I I I , bes. S. 315 ff. zur Gegenüberstellung des Staates als societas civilis u n d als zweckgerichtete universitas. 5 Mill , J. St. : Considerations on Representative Government, S. 283. 6 Vgl. Streifthau , Κ . : Die Souveränität des Parlaments, S. 103. 7 Mill, J. St. : Considerations on Representative Government, S. 239 u. 255, zit. nach: Streifthau, Κ . : Die Souveränität des Parlaments, S. 104. 8 Bagehot, W.: Die englische Verfassung (1867) (hrsg. u. eingel. v. K . Streifthau), Neuwied u. B e r l i n 1971; vgl. die Einleitung von K . Streifthau, S. 28.
I I I . Die Staatsanschauung der Fabier
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Liberalismus hinein das Gemeinwesen wesentlich als Lebensgemeinschaft. Immer hatte daneben die Tradition von Hobbes und Bentham gestanden, die den Staat als Artefakt verstanden wissen wollte und m i t der Betonung seines Konstrukt-Charakters auf dessen Gestaltbarkeit ausgriff; sie hatte jedoch nie dem herrschenden Selbstverständnis vom englischen Gemeinwesen das entscheidende Gepräge geben können. Eine strikte Trennung von Staat und Gesellschaft hatte sich verfassungsgeschichtlich i n England nicht herausgebildet, so daß dem Begriff vom Staat auch i m politischen Denken keine bedeutende Rolle zukommen konnte. Eine Konzentration der zerstreuten und verteilten Herrschaftsgewalten von Ständen, Korporationen, Innungen und Privilegien hatte i n England i m Vergleich zum Kontinent nur schleppend stattgefunden. Der Absolutismus erfuhr frühzeitig eine Bremsung seiner Konzentrationsmacht und wurde i n den Verfassungskämpfen des 17. Jahrhunderts rechtlich eingegrenzt. Die traditionellen Zwischengewalten konnten sich dadurch länger erhalten, ebenso wie sie sich gegenüber der Einebnung alter Statusordnungen durch den bürgerlichen Kapitalismus als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen. Das gegliederte Gemeinwesen unter der gemischten Verfassung m i t seinen eigenständigen, an der Herrschaft teilnehmenden Einzelgruppen bildete kein öffentliches Recht i m strengeren Sinne aus. Das Common Law, das auf öffentliche Ämter wie auf Privatrechtssubjekte Anwendung fand, war lediglich die juristische Formalisierung von Erfahrungen, die aus der Gesellschaft entwachsen waren. Die Entwicklung von einer als persönlicher Herrschaftsapparat dienenden, nur auf die Person des Regenten abgestellten Verwaltung h i n zu einer anstaltlichen Verwaltung m i t institutionellem, depersonalisiertem Charakter vollzog sich i n England — verglichen beispielsweise m i t Deutschland — sehr viel langsamer. Bezeichnenderweise war es i n England auch nicht zur Herausbildung einer den Kamerai- und Polizeiwissenschaften vergleichbaren Wissenschaftsdisziplin gekommen. Hatte sich die politische Herrschaft formal nicht von der Gesellschaft absondern können, etwa in Form einer zentralen rationalen Bürokratie und eines Systems öffentlichen Rechts, so konnte sich auch i m Denken kein Staatsbegriff i n Ausgrenzung zur gesellschaftlichen Sphäre herausbilden. Politische Denker wie etwa Raleigh, Bacon, Bolingbroke und Blackstone hatten in ihren Schriften alle einmal das Wort „state" verwandt 9 . Gedanklich war dieser Begriff i m allgemeinen jedoch nicht systematisch von „body politic", „public", „community", „commonwealth", „common9
Siehe dazu Dowdall, H. C.: The w o r d „State", Nachdruck aus: The L a w Quarterly Review, Jan. 1923, S. 23 ff.; u n d The Oxford English Dictionary (Bd. 10), Oxford 1933, S. 852.
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weal" oder „nation" getrennt worden. Hobbes, der der Kategorie des „Staates" mehr als andere eine eigenständige Bedeutung zumaß, verwandte das Wort „state" uneinheitlich i n einer Vielzahl von Bedeutungen; i m „Leviathan" bevorzugte auch er das Wort „commonwealth". Bei Bentham firmierte die Diskussion u m Stellung und Funktion des Staates als ausgegrenzte rationale Instanz unter dem Begriff „legislation". Die Engländer hatten also — wie Matthew Arnold feststellte — „not the notion, so familiar on the Continent and to antiquity, of the State — the nation i n its collective and corporate character, entrusted w i t h stringent powers for the general advantage, and controlling i n d i v i d u a l w i l l s i n the name of an interest w i d e r than that of individuals" 1 0 .
Der Staatsbegriff blieb stets eine A r t Fremdkörper i n England. Noch i n den 80er Jahren wurde das Wort „state", u m seine Fremdheit zu betonen, häufig großgeschrieben und m i t Anführungszeichen versehen. I m Alltagssprachgebrauch wurde „state" meist m i t „government", „nation" oder „society" ineinsgesetzt. Auch Spencers berühmte Schrift „The Man versus the State" machte davon keine Ausnahme. Die metaphysischen oder majestätischen Elemente, die i m Deutschen i n den Staatsbegriff einflossen, waren in England i m Begriff des „Empire" enthalten. So kann der Ideengeschichtler George Sabine behaupten, daß vor den englischen Idealisten kein politischer Denker dem Wort „state" irgendeinen spezifischen Sinn gegeben oder davon überhaupt allgemein Gebrauch gemacht habe 1 1 . T. H. Green war i n England der erste, der den Begriff „state" i m deutschen Sinne verwandte. Er leitete i m englischen Denken eine Wende ein, „something akin to revolution i n the English theory of the state", wie es Harold Laski pointiert formulierte 1 2 , indem er dem Staat eine Substanz, eine Wesenheit eigener Ordnung zu verleihen suchte. Nach Green machten auch die Fabier den Staatsbegriff zu einer Zentralkategorie ihres Denkens. 2. Zur Bedeutung des „Oxford-Idealismus" für das englische Staatsdenken I n der wissenschaftlichen Literatur werden die Fabier oftmals i n die Einflußzone des englischen Idealismus und dessen Staatsdenken gerückt. Adam Ulam beispielsweise erblickt i n T. H. Green einen „potent in10 Arnold , M a t t h e w : Culture and Anarchy (1869), zit. nach Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency. A Study i n B r i t i s h Politics and Political Thought 1899—1914, Berkeley and Los Angeles 1971, S. 32. 11 Sabine , G.: A History of Political Theory, 3. A u f l . New Y o r k 1961, S. 738 f . 12 Fabian Tract Nr. 200: The State i n the Social Order ( H. Laski ) 1922, S. 7.
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fluence" auf die Lehre der Fabier 1 3 . Ein deutschsprachiger Autor sieht die Tatsache, daß die Fabier dem Staat die entscheidende Rolle i m Sozialleben zuwiesen, i n Greens Hegelübertragung begründet 1 4 . Angesichts solch grober Einflußzurechnungen bedarf es einer näheren Charakterisierung des englischen Idealismus, vor deren Hintergrund sich dann eine abweichende Verortung der fabischen Staatsanschauung ergeben wird. Greens (1836—1882) Idealismus war der eigentümliche, nicht widerspruchsfreie Versuch, die Grundannahmen des Liberalismus mit einem substantiellen, weseniseigenen Staatsbegriff zusammenzubringen. Der Mensch war für Green ein moralisches Wesen. Die menschliche Fähigkeit zur Freiheit war m i t der Fähigkeit zu moralischem Handeln, zur „self-perfection" identisch 15 . Die vollständige Verwirklichung der Freiheit i n diesem Sinne w a r nur i m Staat möglich. Greens Staat stellte die allgemeine Projektion einer moralischen, menschlichen Person dar. Die Tatsache, daß der Staat die oberste Zwangsgewalt innehatte, bedeutete für Green nicht, daß sein Wesen durch die Möglichkeit der Zwangsausübung charakterisiert sei. Vielmehr gelte: „ W i l l , not force, is the basis of the state" 1 6 ; und „ w i l l and reason" waren die Bedingungen für moralisches Handeln 1 7 . Wesensgrund und alleinige Ratio des Staates war das Gemeinwohl („common good"). Es war der Staat, der es den Menschen als moralische Wesen erst ermöglichte, ein ideales Leben als freie und verantwortliche Bürger zu führen 1 8 . Die Verfolgung des „common good" ließ bei den Menschen „moral obligations" entstehen 19 . So waren für Green keine individuellen Rechte als legitim denkbar, deren Ausübung nicht das „common good" förderten; es gab keine rein persönlich-individuellen bzw. nicht-sozialen Güter: „ A l l virtues are really social; or more properly, the distinction between social and self-regarding virtues is a false one 2 0 ."
Andererseits beinhaltete das „common good" keine neue substantielle Einheit, sondern zielte letztlich nur auf die Förderung der Selbstvervollkommnung der einzelnen Menschen i m Staat. Da die Vervollkomm18 ü l a m , Α . : Philosophical Foundations of English Socialism, Cambridge, Mass. 1951, S. 73. 14 Messner, Johannes: Das englische Experiment des Sozialismus, I n n s bruck u. a. 1954, S. 14. 15 Green, Thomas H i l l : Lectures on the Principles of Political Obligation, (Vorwort von B. Bosanquet), London 1895, S. 8 u. 206. 16 Ebenda, Kap. G, S. 121 ff. 17 Ebenda, S. 31. 18 Ζ. Β . ebenda, S. 140. 19 Vgl. dazu die zum Ganzen maßgebende Studie von Richter, M.: The Politics of Conscience. T. H. Green and his Age, S. 197 f. 20 Green, T. H.: Principles of Political Obligation, S. 244 u n d auch S. 148.
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nung des menschlichen Charakters sowohl Zweck des individuellen als auch des staatlichen Handelns, i n dieser Hinsicht also der Beurteilungsmaßstab für Mensch und Staat der gleiche war, erschien Green eine Harmonie von Mensch und Staat i n Freiheit herstellbar. Wie wenig Green jedoch m i t seinem Begriff des „common good" von den Grundannahmen des Liberalismus abwich, bewies seine Vorstellung, daß der Staat den Menschen keine Rechte sui generis verleihen, vielmehr nur den bereits bestehenden Rechten i n der Gesellschaft zur Geltung verhelfen könne 2 1 . Der Staat setzte für ihn also andere Formen der Gemeinschaft, aus denen jeweils eigene Rechte erwuchsen, voraus. Greens Staatsbegriff war also durchaus uneindeutig. Der Staat existierte für ihn nur zur Erhaltung, Sicherung und Vervollständigung von Rechten, die in anderen Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bereits bestanden. Er war aber nicht als Aggregat von Individuen unter einem Souverän zu begreifen, sondern wurde bestimmt als eine Gesellschaft, i n der ein Rechtssystem und eine souveräne Vollzugsgewalt zur Sicherung der Rechte bestand. Gesellschaft war hier nicht wie bei Hegel einfach das Netz der sozialen Institutionen und damit hinsichtlich Status und moralischem Wert dem Staat unterlegen. I m Gegenteil: der Staat erschien bei Green lediglich als eine höhere Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens, die die vorhandenen Rechte der Menschen am besten zu harmonisieren vermochte 22 . Der Staat war die historisch notwendige Form, die sich die Gesellschaft gab, u m den vormals in der Familie oder i m Stamm gesicherten Rechten der Menschen zur Erfüllung zu verhelfen 2 3 . Greens „common good" kannte keinen allgemeinen Willen jenseits der moralischen Einzelwillen, der Staat besaß keine reale Persönlichkeit eigenen Wesens, war keine soziale Entität eigenen Prinzips. So blieb Green m i t seiner moralischen Staatszweckbestimmung doch ganz einer individualistisch-liberalen Ethik verhaftet. U m das Maß der 21
Ebenda, S. 138. Ebenda, S. 137. 23 I n zweierlei Hinsicht erscheint dieser Staatsbegriff problematisch. Er trägt auf der einen Seite einen normativ-teleologischen Charakter, d . h . menschliches Zusammenleben w i r d geschichtlich auf den Staat als die höchste Erfüllungsform des „common good" h i n bezogen, andererseits sieht sich Green i n der politischen W i r k l i c h k e i t gezwungen, den Terminus „Staat" auf Despotien w i e das zaristische Rußland oder auf die Sklavengesellschaft i n A m e r i k a anzuwenden. Z u m zweiten w i l l Green dem Staat eine allgemein verpflichtende Wesensbestimmung geben, die aber tatsächlich über die je i n dividuelle V e r v o l l k o m m n u n g der Einzelmenschen nicht hinausgeht. E r u n terscheidet beim „common good" nicht zwischen einem Zusammenwirken der Menschen qua (zufällig) identischer, aber je privater Ziele u n d einer genuin gemeinschaftlichen Verfolgung eines alle verpflichtenden Gutes j e n seits individueller „self-realisation" (so auch die G r e e n - K r i t i k von J. P. Piamenatz, entnommen aus: Richter, M.: The Politics of Conscience, S. 255). 22
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Staatsintervention i n das wirtschaftliche und soziale Geschehen zu bestimmen, bediente er sich einer klassisch-liberalen Formel: grundsätzlich könne moralisches Handeln der Menschen nur Ausfluß der „capacity for spontaneous action regulated by a conception of a common good" sein 24 , so daß deshalb die staatliche Intervention der freiwilligen, individuellen Handlung generell nachgeordnet werden müsse. Der Staat dürfe dem Bürger also nur als „hinderer of hindrances" entgegentreten, sein Tätigwerden sei nur als „removal of obstacles" zu rechtfertigen 25 . Eigentum war für Green ein unentbehrliches M i t t e l zur moralischen Vervollkommnung des einzelnen; es mußte sich allerdings von der Zuträglichkeit zum Gemeingut her — i m Sinne der Möglichkeit einer moralischen Vervollkommnung aller Individuen — rechtfertigen lassen 26 . Wandte er diesen Grundsatz auf die Eigentumsverhältnisse seiner Zeit an, so kam er an der Einsicht nicht vorbei, daß es staatlicherseits einiger einschneidender Einschränkungen der privaten Vertragsfreiheit bedürfe 2 7 . Green hatte sich somit angeschickt, den Gehalt des Liberalismus von der Idee der ökonomischen Konkurrenz freier Individuen hin zu einem Konzept der moralischen Harmonisierung von Staat und I n dividuum zu verschieben, ohne dabei die den Engländern vertraute Begründung des Staates als „hinderer of hindrances" anzutasten. Trotzdem ist Green mehrfach als Vertreter oder Wegbereiter des Kollektivismus i n England angesehen worden 2 8 . Diese Einschätzung folgt Α. V. Diceys einflußreicher Zweiteilung der Geistes- und Sozialgeschichte Englands i n eine individualistische und eine kollektivistische Periode und seiner entsprechenden Zuordnung Greens 29 . Melvin Richter hat jedoch i n seiner grundlegenden Untersuchung gezeigt, daß Green selbst, sofern er seine Theorie auf die praktische Politik bezog, dem Staat nur ein sehr begrenztes Aktionsfeld zugestehen wollte 3 0 . Greens politische Sympathien gehörten dem traditionellen Radikalismus der Manchester-Schule, wie er durch John Bright verkörpert wurde. Er ging stets von einer grundsätzlichen Vermutung für die freiwillige individuelle Handlung aus: Staatliches Handeln an sich konnte i n seinen Augen 24
Green, T. H.: Principles of Political Obligation, S. 208. Ebenda, S. 209; siehe auch Richter, M.: The Politics of Conscience, S. 284. 2β Green , T. H.: Principles of Political Obligation, S. 220. 27 Ebenda, S. 209 f. 28 Z . B . Ulam, Α . : Philosophical Foundations of English Socialism, S.39; Ensor, R. C. K : England 1870—1914 (The Oxford History of England, Bd. 14), Oxford 1936, S. 162 f.; Brinton, Crane: English Political Thought i n the 19th century, New Y o r k 1962, S. 212 ff. 29 Dicey , Α. V.: Lectures on the Relation Between L a w and Public Opinion i n England, S. 409. 50 Richter. M . : The Politics of Conscience, S. 267 ff. 25
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keine moralischen Güter hervorbringen, sondern lediglich die Bedingungen für die moralischen Handlungen der Individuen schaffen. Greens Staatsauffassung kann nicht losgelöst werden von den viktorianischen Grundwerten der Selbsthilfe und der freiwilligen Hilfsaktion, dem Ethos der individuellen charakterlichen Selbstvervollkommnung und dem Ideal der paternalistischen, benevolenten Schutzbeziehung der oberen Klassen gegenüber der Arbeiterklasse. Melvin Richter gesteht jedoch auch zu, daß „ i n other hands, the theory could be used for almost any purpose . . . " 3 1 . So kam Greens Theorie i m Einfluß auf andere, nun der selbständigen Logik ihrer Rezeption folgend, eine ganz neue Dimension zu. Abgesehen von der idealistischen Prägung des intellektuellen Klimas an den Universitäten 3 2 , reichte Greens Einfluß — bedingt durch die universitäre Philosophie-Ausbildung der bürgerlichen Elite — auch i n die Politik, in Kreise des Journalismus, der Beamtenschaft und der Kirche hinein 3 3 . Dennoch blieb der philosophische Idealismus i n der breiteren englischen Geisteskultur ein Fremdkörper. Daß außerhalb der universitären Welt die Werke Greens tatsächlich gelesen und verstanden w u r den, verhinderte die deutsche Herkunft seiner Geisteswurzeln — zu einer Zeit, als das englische Mißtrauen gegenüber Preußen-Deutschland wuchs —, die metaphysische Ebene seines Denkens u n d die ungewohnt abstrakte Sprache. Die Engländer fühlten sich verbreitet von der „obscurity and confusion" seiner ethischen und metaphysischen Theorie 31
Ebenda, S. 286. Der deutsche Idealismus hatte besonders i n Schottland einige Resonanz gefunden. Der erste entschiedene Hegel-Anhänger i n der akademischen Welt Großbritanniens w a r E d w a r d Caird, Professor i n Glasgow u n d dann Master des Oxforder B a l l i o l College, der m i t Green befreundet war. Vgl. dazu H o l lenberg, Günter: Englisches Interesse a m Kaiserreich. Die A t t r a k t i v i t ä t Preußen-Deutschlands f ü r konservative u n d liberale Kreise i n Großbritannien 1860—1914, Wiesbaden 1974, S. 153. Greens Lehre erscheint n u r i n der besonderen Atmosphäre Oxfords denkbar. Während seiner Lehrtätigkeit i n Oxford gewann der philosophische Idealismus gegenüber d e m Utilitarismus schnell an Oberwasser u n d k a m unter den jungen, religiös skeptisch gewordenen Studenten alsbald „ i n Mode". Erst nach seinem Tod i m Jahre 1882 jedoch wurde der Idealismus zur w i r k l i c h dominierenden philosophischen Lehre Oxfords. I n B . Bosanquet, F. H. Bradley, J. H. Muirhead, D. G. R i t chie, A . D. Lindsay u. a. fand Green seine akademischen Erben. 32
33 M i t Green w u r d e das B a l l i o l College z u m legendären Rekrutierungsfeld für die P o l i t i k u n d Verwaltung. H. H. Asquith, unter dessen Ägide als Premierminister (ab 1908) die Liberalen ihre bedeutsamen Sozialreformen durchführten, w i r d zuweilen als ein i m Banne Greens stehender P o l i t i k e r porträtiert; (vgl. e t w a Richter, M . : The Politics of Conscience, S. 13; dagegen Fr eeden, M . : The N e w Liberalism, S. 18 A n m . 4). Z u r Bedeutung der idealistischen Philosophie f ü r den Liberalen R. B. Haidane vgl. Hollenberg, G.: Z u r Genesis des Anglo-Hegelianismus. Die Entdeckung Hegels als Ausweg aus der viktorianischen Glaubenskrise, i n : Zeitschrift f ü r Religions- u n d Geistesgeschichte, 1974 (Bd. 26), S. 55 ff.
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befremdet 34 . Dennoch waren viele geläufige Denkströmungen der Zeit i n eklektischer Weise mit moralischen und idealistischen Elementen von Greens Lehre versetzt 35 . So lag Greens Bedeutung für die politische Entwicklung nicht i n der authentischen Rezeption seiner Lehre vom Staat als moralischem Wesen, sondern i n einer „atmosphärischen" Formung der politischen K u l t u r . Green half, das geistig-emotionale K l i m a für die sozialen Eingriffe des Staates zu bereiten. Der Universitätsjugend lieferte er ein Motiv zum Sozialdienst, wie er dann von vielen in der „University Settlement"-Bewegung versehen wurde. Er gab dem Moralismus in der Politik Auftrieb, lenkte seine Richtung auf den Staat und half auf diese Weise, das Feld für ausgedehnteres staatliches Handeln zu erschließen. Eine personelle Verbindung zwischen dem englischen Idealismus und dem Fabier-Sozialismus wurde durch einige Vertreter der zweiten Idealisten-Generation hergestellt, insbesondere durch David G. Ritchie und — i n geringem Umfang — durch Bernard Bosanquet. Darüber hinaus kam es i n den 80er und 90er Jahren i n den radikalen Kreisen Londons zu einer Überlappung der Mitgliedschaft der Fabian Society und der „Ethical Societies" — den Hochburgen des philosophischen Idealismus 36 . Gemeinsamer Anknüpfungspunkt war die Frontstellung gegen den laissez faire-Individualismus i n der Politik, wie er i n Spencers Schrift „The Man versus the State" seinen klassischen Ausdruck fand. Ritchie war Schüler Greens am Balliol College gewesen, bevor er selbst Philosophie i n Oxford lehrte. Als „Radical" und Mitglied der Fabian Society (bis 1893) — er gab sich i n Oxford als „Sozialist" zu erkennen — ging Ritchie in der Bedeutung, die er dem Staat als Reformorgan des sozialen Lebens zumaß, über Green hinaus. I n seiner Schrift „The Principles of State Interference" bestimmte er den Staat 84 Hobhause, L . T.: The Metaphysical Theory of the State. A Criticism. London 1918, S. 122; Hobhouse, i n Oxford einstmals von Greens Lehre stark beeinflußt, gehörte später zu den schärfsten englischen K r i t i k e r n der idealistischen Staatstheorie, w i e sie insbes. von B. Bosanquet entwickelt worden war. E r sah i n i h r den Ausfluß der autoritären u n d m i l i t a n t e n preußischdeutschen Denkweise. Hobhouse beschreibt i n der Einleitung zu seinem Buch „ T h e Metaphysical Theory of the State", die i n F o r m eines Briefes an seinen i m K r i e g befindlichen Sohn gefaßt ist, w i e er zur Zeit des Krieges i n seinem Londoner Garten an Hegels „theory of freedom" arbeitet, als er durch den L ä r m eines deutschen Luftangriffs gestört w i r d : „ I n the bombing of London I had just witnessed the visible and tangible outcome of a false and wicked doctrine, the foundations of which lay, as I believe, i n the book before me . . . i n the Hegelian theory of the god-state a l l that I had w i t nessed lay implicit." (S. 6). 85
Siehe Collini, S.: Liberalism and Sociology, S. 45. Besonders W i l l i a m Clarke u n d Graham Wallas waren persönlich m i t Idealisten w i e Ritchie, J. H. Muirhead u n d F. C. Montague verbunden; vgl. Collini, S.: Liberalism and Sociology, S. 66. 86
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jenseits der bloß instrumentellen Funktionen als selbständige Entität m i t grundsätzlich eigener Daseinsberechtigung: „The State has, as its end, the realisation of the best life by the individual. This best life can only be realised i n an organised society — i. e., i n the State; so that the State is not a mere means to i n d i v i d u a l welfare as an end; i n a way, the State is an end to itself 3 7 ."
Greens „soziales Ideal" interpretierte Ritchie als „certainly a democratic, some w o u l d call i t a socialist, sentiment. I t is only one outcome of the recognition that the ethical end of self-realisat i o n is an end for all human beings . . ." 3 8 .
Stärker als Green Schloß Ritchie an die Hegeische Unterscheidung von Staat und Gesellschaft an, um gegenüber dem eigennützigen Konkurrenzkampf i n der Gesellschaft die grundsätzliche Heilsamkeit der staatlichen Intervention herauszustellen 39 . Bernard Bosanquet, ein weiterer Green-Schüler, war ein Hauptträger der Verbreitung des philosophischen Idealismus i n England. Niemals war er jedoch — wie zuweilen fälschlich behauptet 4 0 — ein Mitglied der Fabian Society gewesen, sondern hatte vor ihr lediglich Vorträge gehalten 41 . Er leistete aktive Arbeit i n der „Charity Organisation Society" (COS), die sich als Verfechterin des Freiwilligkeitsprinzips i n sozialpolitischen Fragen i n scharfem Gegensatz zur Fabian Society befand. Auch Bosanquet bezeichnete sich als einen „moralischen Sozialisten" und entbreitete ein philosophisches Konzept vom absoluten Staat, der eine höhere moralische Natur besaß; praktisch jedoch war er, was die Befürwortung staatlicher Eingriffe i n den wirtschaftlichen Bereich anbetraf, wesentlich zurückhaltender nicht nur als Ritchie, sondern sogar noch als Green 4 2 . Die Spuren des philosophischen Idealismus i n der Lehre der führenden Fabier waren vor allem terminologischer Natur. Die Idealisten ermöglichten es den Fabiern, den Begriff „Staat" zu einer Zentralkate37 Ritchie, D. G.: The Principles of State Interference. Four Essays on the Political Philosophy of M r . Herbert Spencer, J. S. M i l l , and T. H. Green, London 1891 (Nachdruck New Y o r k 1969), S. 102. 38 Ebenda, S. 151. 39 Ebenda, Appendix, Note A : The Distinction between Society and the State, S. 155; ebenso der Fabier Sidney Ball, Oxforder Altphilologe u n d nach G. D. H. Coles Worten e i n „recognised head of university socialism" (zit. nach Collini, S.: Liberalism and Sociology, S. 59), i m Fabian Tract Nr. 72: The M o r a l Aspects of Socialism, 1896, S. 12 f.; vgl. auch Freeden, M . : The New Liberalism, S. 59. 40 Z . B . Wolfe, W.: F r o m Radicalism to Socialism, S. 274. 41 So z. B. i m F r ü h j a h r 1890 einen V o r t r a g m i t dem T i t e l „ T h e Antithesis between I n d i v i d u a l i s m and Socialism Philosophically Considered"; siehe Pease, E.: The History of the Fabian Society, S. 94. 42 Vgl. Letwin, S. R.: The Pursuit of Certainty, S.399; Bosanquets H a u p t w e r k w a r : The Philosophical Theory of the State, London 1899.
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gorie ihrer politischen Konzeption zu machen. Sie führten Hegels Staatsbegriff i n England ein und leisteten angesichts der Brisanz, die staatliche Eingriffe i m individualistischen England umgab, einen bedeutenden Beitrag, den Staat als höhere, politisch neutrale Instanz unverdächtig zu machen. Inhaltlich beschränkte sich die Bedeutung des Idealismus für die Fabier darauf, das bereits formulierte, von der wirtschaftlichen Organisation her gefaßte Verständnis des Staatssozialismus zu verstärken und moralisch zu überhöhen. Lediglich Sidney Webbs moralische und „metaphysische" Begründung des notwendigen menschlichen Aufgehens i m kollektiven Organismus durch die freiwillige Verinnerlichung der staatlichen Gesetze trug Züge eines Hegelianischen Freiheitsverständnisses 43 . Zwar machten die Fabier m i t Begriffen wie „State", „Social Ideal" und „Zeitgeist" terminologische Anleihen beim Idealismus und reihten Green i n die geistige Vorläuferschaft des Sozialismus ein 4 4 , doch seine Idee vom Staat als Form moralischer Selbstvervollkommnung der Individuen fand keinen präzisen Niederschlag. I m Gegenteil, die Fabier faßten den Staat, wie zu zeigen wird, ganz als rationale zweckgerichtete Apparatur. So waren es die sprachlichen Überlappungen, die vielen Beobachtern den Blick verstellten für den scharfen inhaltlichen Gegensatz zwischen Greens Idee vom Staat als geistigsittlichem Wesen und dem fabischen Begriff des Staates als rationaler Anstalt. 3. Der Staatsbegriff der Fabier a) Der Staat als „rationale Anstalt" Der Staat stand i m Zentrum fabischen Denkens. Greens Begriff vom sittlichen Staat war den Organisationsanforderungen i n der industriellen „Great Society" nicht gewachsen. Da auch die englische politische Tradition dafür keine Handhabe bot, orientierten sich die Fabier an Vorbildern, die England weitgehend fremd waren. Die enorme quantitative Ausdehnung, die die realgeschichtliche Entwicklung des modernen Staates i n England kennzeichnete, war von den Fabiern bereits theoretisch vorformuliert worden. G. B. Shaw erklärte einmal: „ A s a Socialist, I am on the side of the German conception of the organized State as against the American conception of i n d i v i d u a l ,freedom' 4 5 ." 43
Z. B. Webb, S.: Rome: A Sermon i n Sociology, i n : Our Corner, J u l i 1888, S. 59 u. Aug. 1888, S. 80 u. 89; Webb muß m i t einigen v o n Hegels Schriften vertraut gewesen sein; vgl. Wolfe, W.: F r o m Radicalism to Socialism, S. 275 f. 44 Webb, S.: Socialism i n England, S. 75 f.; u. ders.: Social Movements, i n : The Cambridge M o d e m History, hrsg. v. A . W. W a r d u.a., Bd. 12: The Latest Age, Cambridge 1910, S. 765. 45 Shaw, G. B.: The Solidarity of Social-Democracy (1906), i n : ders.: Practical Politics, S. 13.
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Es war die Idee vom Staat als einer herzustellenden und auszustattenden Organisation, als institutionellem Niederschlag des organisierten Zusammenwirkens der Nation, die die Fabier — i m Gegensatz zum englischen laissez faire-Individualismus — an der deutschen Tradition bewunderten. Shaw bezeichnete Hegel m i t seinem Konzept des vollkommenen Staates zwar als Lehrer aller Sozialisten 46 , doch die Fabier ihrerseits sahen i m Staat nicht eine metaphysisch begründete Instanz, durch die sich erst die Vernunft oder Moralität der Menschen verwirklichte, sondern zuallererst das faktisch vorfindbare institutionelle Instrument. Die Institution Staat als solche war neutral, Inhalt und Richtung ihres Handelns waren Gegenstand zweckhafter Gestaltung und somit prinzipiell veränderbar. Diesen Gedanken konnte Shaw auf Lassalle zurückführen und dessen Unterscheidung zwischen der repressiven Regierung des vorübergehenden Augenblicks und dem Staat als grundsätzlicher Quelle der sozialen Freiheit, ohne ihre metaphysische Wurzel übernehmen zu müssen 47 . „ T h e State . . . w i l l continue to be used against the people by the classes u n t i l i t is used by the people against the classes w i t h equal a b i l i t y and equal resolution 4 8 ."
Der Staat m i t seinen neutralen Institutionen war somit von den Sozialisten ohne Zertrümmerung einnehmbar. Die Zwecke ließen sich ihm beliebig eingeben, denn er konnte potentiell jedes Ziel erfüllen. So empfahlen die Fabier i n ihren Traktaten stets, sich an den Staat u m „help" und „protection" zu wenden 4 9 . Noch bevor die Fabier ihre ökonomische Theorie ausformuliert hatten, die dem Staat die Hauptfunktion als Empfänger der wirtschaftlichen Renten zuwies, sahen sie sich genötigt, gegenüber Anarchisten und utopischen Sozialisten aller A r t die prinzipielle Notwendigkeit der Staatsautorität zu begründen. Schon in seinen frühesten unveröffentlichten Aufzeichnungen war Sidney Webb für starke staatliche Organe mit weitreichenden Befugnissen eingetreten, die die Dynamik der gesellschaftlichen Kräfte beherrschen sollten: 46 Shaw, G. B.: The Transition to Social Democracy: Transition, i n : F a bian Essays, S. 168; u n d ders.: Freedom and the State (1888), i n : ders.: The Road to Equality, S.43; u. ders.: The New Politics: F r o m Lassalle to the Fabians (1889), i n : ders.: The Road to Equality, S. 58 u. 61 (deutsch i n : ders.: Der Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen, S. 34 u. 38). 47 Ebenda, S. 65 (deutsch S. 42). 48 Fabian Tract N r . 45: The Impossibilities of Anarchism (G. B. Shaw) 1893, S. 27. 49 v g l . Fabian Tract Nr. 207: Thomas Paine (Kingsley Martin) 1925, S. 21: „ W i t h the exception of the Tory democrats, there is no English school of thought w h i c h looked to the State for help between the early land reformers, the most important of w h o m was Paine, and the Fabian Society which began its propaganda nearly a century later."
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„We shall have more and more laws as Society progresses, dealing constantly w i t h more and more of the area of life. We shall require the laws to be imperative, w i t h deterrent sanctions, pour encourager les autres who have not yet entirely ,let the ape and tiger die'. A n d these laws w i l l still require a strong executive to administer them, independent of the public opinion of the moment than which no worse administrator could be found 5 0 ."
I n seiner aufschlußreichen soziologischen Abhandlung über das antike Rom bewunderte Sidney Webb die absolute Suprematie des römischen Staates als abstrakter Einheit gegenüber den Individuen und den gesellschaftlichen oder vorpolitischen Gruppierungen: „ W i t h the typical Roman all is subordinated to the preservation of Rome, and this is not the Rome composed of himself and his fellows but a pure abstraction , the State apart from the citizens. Other nations have e x h i b ited self-devotion u n d public spirit, but there can be but few instances of such persistent sacrifice, not of an i n d i v i d u a l but of a l l individuals, to the abstract entity which alone can survive , and which is accordingly the only abiding reality in the world of passage51."
Ein solcher Staat als „reine Abstraktion", unabhängig von den Bürgern, war i n der englischen politischen Tradition kaum jemals gedacht worden. Doch i n den Augen Webbs war gerade dieser Staat die Instanz, die für die Gesellschaft die oberste Ordnungsmacht darstellte. Die menschlichen Individuen nämlich hielt man für potentiell selbstsüchtig, wenn auch grundsätzlich aufklärungsfähig 5 2 ; so wies man, da auch die gesellschaftlichen Gruppierungen nicht die notwendigen rationalen Ordnungen hervorzubringen vermochten, dem Staat die Funktion zu, die Individuen zusammenzuführen und eine Einheit zu begründen. Der Staat war konkrete Herrschaft durch seine rationalen Institutionen, er war abstrakte Idee als Verkörperung einer kollektiven Einheit, unabhängig von den einzelnen Bürgern. Hatte Sidney Webb schon früh jene für England außergewöhnliche Idee des Staates als höchste Form menschlichen Zusammenlebens begründet, so ergaben sich die konkreten Aufgaben des Staates aus der ökonomischen Theorie der Fabier. Die Rententheorie hatte besagt, daß nicht nur eine Klasse, sondern die ganze Gesellschaft durch die private Rentenaneignung u m die Erträge ihrer Arbeit betrogen werde 5 3 . Die gesamte Gesellschaft bedurfte also eines Adressaten für die notwen50 Webb , S.: Considerations on Anarchism (1884 od. 1885), i n : Passfield Papers, section V I , Nr. 18, folio 11 (Rückseite). 51 Webb, S.: Rome: A Sermon i n Sociology, i n : Our Corner, J u l i 1888, S. 59 (Hervorhebungen von m i r , d. Verf.). 52 Vgl. die Andeutung eines Menschenbildes i n Fabian Tract Nr. 45: The Impossibilities of Anarchism (G. B. Shaw) 1893, S. 15. 53 Siehe oben S. 137 f.
13 Wittig
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digen Rentenabschöpfungen: es war dies der Staat als „the people's pocket" 5 4 . Der fabische Staat war Sammel- und Verteilungsstelle der Erträge menschlicher Produktion. Diese ökonomische, rein materielle Funktion machte den Staat zum Vereinigungspunkt der Menschen. Er war aber nicht nur rein instrumentelle Instanz der Gesellschaft, sondern stellte durch sein eigenes ökonomisches Tätigwerden selbst die Einheit des Menschen her: „We have the distinctive t e r m Social Democrat",
erklärte Shaw i n den Fabian Essays, „indicating the man or woman who desires through Democracy to gather the whole people into the State , so that the State may be trusted w i t h the land, the capital, and the organisation of the national industry — w i t h all the sources of production, i n short, which are now abandoned to the cupidity of irresponsible private individuals" 5 5 .
Die ökonomische Tätigkeit des Staates ließ die prinzipielle Unterscheidung von Staat und Gesellschaft verschwimmen. Die ökonomische Rententheorie machte den Staat zunächst bloß zum Treuhänder der Gesellschaft hinsichtlich der Rente, doch einmal i n deren Besitz, konnte der Staat nicht mehr nur „trustee" und „guardian" der Gesellschaft sein, sondern mußte für die Individuen darüber hinaus — wie es Shaw symbolhaft ausdrückte — als „their man of business, their manager, their secretary, even their stakeholder" tätig sein 5 6 . Der Staat wurde zum „housekeeping state" 5 7 . I n geradezu beispielhafter Weise führten die Webbs vor, wie sich durch die zunehmende Absorption von vormals privaten wirtschaftlichen und sozialen Funktionen durch den Staat die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die klassische Trennung von Polis und Oikos auflöst: „[The] transformation of the idea of the State has left us, i n England, i n characteristic confusion of thought. When we speak of the w o r k of Government, whether or not we approve of it, we habitually fail to distinguish between w h a t the Germans call respectively, Verwaltung and Wirthschaft, and the French autorité régalienne and gestion. Formerly the Government was w h o l l y Verwaltung and autorité régalienne : a supreme and coercive power, determining compulsorily w h a t people should do, and w h a t relations should exist between them. Nowadays national government has taken 54 Shaw , G. B.: The Transition to Social Democracy: Transition, i n : Fabian Essays, S. 168. 55 Ebenda, S. 169 (Hervorhebung von m i r , d. Verf.). 56 Ebenda, S. 168. 57 Webb, Β . : Our Partnership, S. 149; vgl. auch Webb, S. u. B.: What is Socialism? I V . Participation i n Power and the Consciousness of Consent, i n : The New Statesman, 3. M a i 1913 (Bd. 1), S. 108: „ T h e organised community, i n short, is to take upon itself w h a t i n the family is called housekeeping."
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on a specifically modern character, which we can only describe as National Housekeeping . . . The old State, w i t h its semi-civilised population, concerned itself solely w i t h the maintenance of order. The new State, able more and more to take order for granted, devotes its energies to securing progress 58 ."
Der Staat, der i n zunehmendem Maße zum wirtschaftlichen und sozialen Funktionsträger wurde, war zuallererst Handlungsinstrument, nicht sozialer Verband. Die Webbs normierten den Staat nicht durch einen werthaft gewonnenen Lebenszweck, sondern verliehen ihm den Charakter einer konstruierten Vorrichtung, einer formalen Apparatur, deren Zwecke variabel und von potentiell unbegrenzter Vielgestaltigkeit waren. Er wurde von den Fabiern als Konstrukt, als Artefakt, als Maschine gekennzeichnet: „the State is not merely an abstraction, i t is a machine to do certain w o r k ; and if that w o r k be increased and altered i n its character, the machinery must be m u l t i p l i e d and altered too 5 9 ."
Diese Maschine, die prinzipiell beliebigen Zwecken vorgespannt werden konnte, wurde allein unter dem Aspekt der institutionellen Organisierbarkeit betrachtet. So blieb als qualitatives Beurteilungskriterium dieses positivistischen Staatsbegriffs der Fabier lediglich — nach der A r t einer Betriebsorganisation — die Funktionalität der Zweckerfüllung übrig. Der Staat der Webbs war die rationale Anstalt i m Sinne Max Webers 60 . Die rationale Organisation der Institutionen bedingte eine Verminderung der Personalität staatlicher Herrschaft: „ T h e government has passed f r o m being an autocratic monarch, whether a person, a class, or an official hierarchy, to w h o m we owe loyalty and obedience, and has become a busy housekeeper, whose object is to serve the citizens, and to w h o m w e owe only such adherence to the common rules and such m u t u a l consideration as w i l l permit the civic household to be comfortable 6 1 ."
Das personale Element politischer Autorität wurde i m Modell der Webbs hinter die Sachnotwendigkeiten zurückgedrängt, die der unpar58
Webb, S. u. Β.: What is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 236. 59 Shaw, G. B.: The Transition to Social Democracy: Transition, i n : Fabian Essays, S. 174; vgl. auch ähnliche Charakterisierungen des Staates als „agency", „device", „ i n s t r u m e n t " z.B. i n Shaw, G. B.: The Basis of Socialism: Economic, i n : Fabian Essays, S. 4; u n d Fabian Tract Nr. 73: The Case for State Pensions i n o l d Age (G. Turner) 1896, S. 15; u n d Fabian Tract Nr. 80: Shop L i f e and its Reform (W. Johnson) 1897, S. 13. Siehe oben auch S. 67. 61 Webb, S. u. Β.: State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 2. 13*
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teiliche Experte („disinterested expert") der ganzen Gesellschaft i n objektiver Weise übermitteln sollte 6 2 . Der Staat i n seiner Eigenschaft als Inhaber der obersten Zwangsgewalt erschien zunehmend entbehrlicher. Herrschaftsdisziplin wurde ersetzt durch Sachdisziplin. Die Autorität der objektiven Sachnotwendigkeiten dagegen war absolut imperativ, da sie per se nicht strittig sein konnte. Widerstand gegen Autorität i n diesem Sinne wurde als "negativer Radikalismus" verurteilt. „The objection to authority is a radical, not a socialist objection 6 3 ." Politische Macht von Personen wurde organisatorisch und rechtlich auf bloße Kompetenzen reduziert. Politik i m Sinne der Auseinandersetzung kontroverser gesellschaftlicher Interessen oder geistig-weltanschaulicher Ordnungsprinzipien wurde zunehmend zugunsten von Verwaltung bzw. Management staatlicher Funktion hinfällig. Der fabische Staat, der unter dem Gesichtspunkt der Organisation hinsichtlich seiner Zieldurchsetzungsfunktion begriffen wurde, hatte vor allem instrumentellen Charakter und stand somit i n scharfem Gegensatz zur traditionellen englischen Vorstellung vom Staat als Lebensgemeinschaft, aber auch zum Staatsverständnis des englischen Idealismus. Der Staat als rationale Anstalt ließ aus dem zweckgerichteten Zusammenwirken der Individuen keine substantielle Allgemeinheit entstehen. Die möglichen Funktionen des Staates waren nach fabischer Vorstellung nicht nur inhaltlich beliebig veränderbar, sondern auch quantitativ unbegrenzt. Die Ausdehnung des Staates fand ihre praktischen Schranken lediglich i n der konkreten Durchführbarkeit und Funktionalität staatlicher Organisation 64 . So konnte i n den Augen der Fabier der „Zivilisationsgrad" eines Staates an der Höhe seines Haushaltsvolumens bestimmt werden: „The degree of civilisation which a state has reached may almost be measured by the proportion of the national income which is spent collectively instead of individually. To the Socialist the best of governments is that which spends the most 6 5 ."
I n etatistischer Manier setzten die Fabier also den Sozialismus bereits mit einer weitgetriebenen Staatsausdehnung ineins 6 6 . 62 Webb , S.: A Stratified Democracy. Fabian Society Lecture 14. Nov. 1919, i n : The New Commonwealth, 28. Nov. 1919, supplement Nr. 7, S. 8. 63 Ebenda, S. 8. 84 Siehe Shaw, G. B.: Freedom and the State (1888), i n : ders.: The Road to Equality, S. 40; vgl. auch Fabian Tract Nr. 128: The Case for a Legal M i n i m u m Wage (W. S. Sanders) 1906, S. 2. 65 Fabian Tract Nr. 127: Socialism and Labour Policy (H. Bland, Hrsg.) 1906, S. 4; siehe auch Webb, S.: The Policy of the National M i n i m u m , i n : The Independent Review, Jun.—Sept. 1904 (Bd. 3), S. 163. M Webb, S.: Socialism i n England, S. 114ff.
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Die Befürwortung der schieren Staatsausdehnung rein quantitativer Natur seitens der Webbs war das Korrelat zum anstaltlichen Charakter ihres Staatsbegriffs. Stand einmal eine formale institutionelle, nicht mehr auf persönliche Herrschaft bezogene Verwaltungsstruktur zur Verfügung, so konnten die Funktionen — sofern nicht vom Rechtlichen her eingegrenzt — unabhängig von jeweils personalen Entscheidungen, allein dem vorhandenen staatlichen Instrumentarium entsprechend, erweitert werden. Die anstaltsmäßige Organisation bot die formale Grundlage für die moderne Ausdehnung des Staates. Die Webbs verglichen ihr Modell des Staates mehrmals m i t einem Konsumverein („a sort of extended Co-operative Society") 6 7 , i n dem jeder Staatsbürger automatisch Mitglied war. Sie verstanden den Staat als einen riesigen Dienstleistungsbetrieb, dem jedermann angehörte und der durch seine Maschinerie fest definierte, doch grundsätzlich sämtliche Zwecke erfüllte, die ihm von den Menschen aufgegeben wurden. Er war kein gegliedertes Gefüge von eigenständigen Gruppierungen, wie es — i m Vergleichsbild der Webbs — der Organisation auf Produzenten- bzw. Berufsebene entsprochen hätte. Der Staat war eine allgemeine Leistungsanstalt für Konsumenten, kein sozialer Verband, keine Korporation. Das Politische des Staates war damit neutralisiert. b) Das neue Institutionenverständnis M i t dem Webbschen Modell des Staates als rationale Anstalt i m Gegensatz zur gelebten Korporation ging die Ausgestaltung einer formalen und rationalen institutionellen Struktur einher. Regieren und Verwalten, staatliches Handeln allgemein, mußte sich zu stetigen, einheitlich strukturierten und rational-berechenbaren Institutionen verdinglichen, um nur noch sachlichen und nicht mehr personalen Gesichtspunkten zu genügen. Jeremy Bentham war i n England der Pionier einer Veranstaltlichung der Institutionen gewesen. Vom Rechtlichen her hatte er versucht, dem aufklärerischen Impuls, nach dem die Übel und Konflikte unter den Menschen nicht i n der menschlichen Natur, sondern vor allem i n der Verderbtheit der Institutionen wurzelten, in der politischen Wirklichkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Bentham lehrte die Engländer fragen, ob eine Institution nützlich, wirksam und der menschlichen Glückseligkeit zuträglich sei, nicht ob sie m i t Gewohnheit, Tradition oder einem mythischen Gesetz übereinstimme. Reform bedeutete immer institutionelle Reform durch die K r a f t wachsenden Wissens. Den gebo67
Webb, S. u. Β.: What is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 236; u n d dies.: State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The N e w Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 2.
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tenen Versachlichungsprozeß der hergebrachten Institutionen staatlicher Herrschaft gedachte Bentham durch eine detaillierte rationale Rechtsnormierung hervorzubringen. Die Fabier reihten sich i n diese Tradition der Hochbewertung institutioneller Reform ein: „ I t is by . . . transformations of social institutions that man himself is transformed" 6 8 ,
hieß es bei den Webbs. Wissen vom sozialen und politischen Leben war nichts anderes als Wissen vom Wirken der Institutionen und dieses Wissen war Voraussetzung jeglicher Reform: „ W h a t is . . . needed . . . is greater knowledge of men: of the conditions of the successful w o r k i n g of social institutions 6 9 ."
So war die Sozialwissenschaft der Webbs eine reine Institutionenwissenschaft; sie war insbesondere Institutionengeschichte, denn w i r k liches Wissen über das Funktionieren von Institutionen war nur über das genaueste Registrieren der geschichtlichen Entwicklung ihrer „structures and functions" möglich 7 0 . Ebenso wie Bentham empfanden die Fabier das freigewachsene Geflecht staatlicher Institutionen ihrer Zeit als zutiefst irrational. Die traditionelle englische Sichtweise hatte politische Institutionen immer zuerst aus den ihnen eigenen Beschaffenheiten und Modalitäten heraus als geronnenes praktisches Handeln, als Niederschlag ihnen eigentümlicher Erfahrungen verstanden. Das fabische Verständnis von Natur und Funktion staatlicher Institutionen war davon grundsätzlich verschieden: sie betrachteten die Institutionen i n erster Linie als Derivat von Theorie, als Konstrukte m i t zweckrationalem Charakter, deren Bedeutsamkeit i n ihrer Zieldurchsetzungsfunktion lag 7 1 . I n ihrer späten soziologischen Methodenschrift „Methods of Social Study" nahmen die Webbs eine aufschlußreiche Unterscheidung sozialer Institutionen nach entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkten vor; sie nannten vier verschiedene Gruppen 7 2 : Institutionen, die sich erstens aufgrund animalischen Instinkts, zweitens aufgrund religiösen Glaubens, drittens aufgrund abstrakter Prinzipien über richtiges menschliches Verhalten herausgebildet hatten, sowie viertens solche Institutionen — und diese letzte Kategorie war die modernste geschichtliche Form —, 68 Webb, S. u. B.: A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, S. 99. 69 Ebenda, S. 354. 70 Siehe oben S. 111. 71 Vgl. Webb, S. u. B.: W h a t is Socialism? I I I . The Application to Society of the Scientific Method, i n : The New Statesman, 26. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 76. 72 Webb, S. u. Β . : Methods of Social Study, S.22ff.
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die durch bewußte Planung um der effizienten Durchführung eines variablen sozialen Zwecks willen entstanden waren. Nicht mehr die Teilnahme an dem der Institution eigenen Leben, an der aus ihr selbst heraus erwachsenden Zwecksetzung, sondern die technische Instrumentalität an sich wurde zum Charakteristikum dieses spezifisch modernen Institutionentypus : „ W h e n we come to the most modern of social institutions, we find that they are, for the most part, of the nature of devices or expedients consciously and deliberately adopted for the purpose of carrying out w i t h greater efficiency, i n some particular spheres, predetermined general ideals or purposes, to the nature of which they are themselves indifferent. Thus the purpose falls into the background, and i t is on the perfection of machinery used that the m i n d of man is concentrated. Efficiency is the sole object, as i t is the supreme test, of social institutions of this class.. , 7 3 ."
Sämtliche von den Fabiern ersonnenen Institutionen zur „Reorganisation" des politischen und sozialen Lebens entstammten dieser Kategorie. I n ihren Bemühungen um eine grundlegende Reform bzw. Neukonstruktion der Regierungs- und Verwaltungsmaschinerie machten die Webbs diesen Institutionentypus, die rational geschaffene, formale, personal unabhängige und stetige Apparatur mit festbestimmtem, von außen eingebbarem, aber beliebig veränderbarem Zweck — die rationale Anstalt —, zum eigentlichen Muster moderner staatlicher Organisation. Es war jene rationalistische Radikalität, die — i n scharfem Gegensatz zum geläufigen öffentlichen Bildnis von den gemäßigten, pragmatischen Reformern — einige Fabier später vollständig über den institutionellen Verfassungsrahmen Englands hinaustrug. 4. Die Infragestellung des fabischen Staates: „Pluralismus", „Gildensozialismus" und „Distributismus" Die Webbs interpretierten die staatliche Entwicklung vom Mittelalter bis zur Moderne als einen Ablösungsprozeß der personal gebundenen Produzentenvereinigung durch die allgemeine Konsumentenvereinigung als Organisationsgrundlage des Staates 74 . Die Modernisierung des öffentlichen Lebens bestand für sie i n der Veranstaltlichung des Staates, i n der Versachlichung des Regierens und Verwaltens, i n der Ausdehnung der rationalen institutionellen „Strukturen und Funktionen" des Staates. Sie glaubten einen Wandel von Organisation und Aufgabe des Staates zu beobachten, der sich i n England zwar faktisch, aber i m Gegensatz zu Deutschland und Frankreich noch nicht denkerisch vollzogen habe: 73
Ebenda, S. 28. Webb, S. u. Β.: State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, 8. M a i 1915 (Bd. 5), special supplement S. 2. 74
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
„There has been, i n the course of the century, a subtle transformation of the idea of the State, which has affected both the structure and the funct i o n of Governments. This transformation has been perceived and described by the learned German and the acute Frenchman. The Englishman, w i t h o u t describing the transformation, has felt it sufficiently to change i n fact, though not always i n phrase, his attitude towards Govern* ment enterprise 7 5 ." O h n e daß sich die F a b i e r eng a n e i n b e s t i m m t e s theoretisches M o d e l l a n l e h n t e n , w a r i h r S t a a t s b e g r i f f i m B l i c k a u f d e n K o n t i n e n t , besonders a u f D e u t s c h l a n d , gefaßt. D i e Siege Preußens b z w . Deutschlands ü b e r Österreich u n d F r a n k r e i c h h a t t e n E n g l a n d — w i e der H i s t o r i k e r der v i k t o r i a n i s c h e n Epoche, G. M . Y o u n g , schrieb — „ a n e w s t a n d a r d , a l m o s t a n e w conception, of e f f i c i e n c y " a u f e r l e g t 7 6 . A u c h d i e W e b b s w a r e n n i c h t f r e i v o n S y m p a t h i e n f ü r die r a t i o n a l e i n s t i t u t i o n e l l e O r g a n i s a t i o n u n d die w i r t s c h a f t l i c h e u n d v e r w a l t u n g s m ä ß i g e E f f i z i e n z des p r e u ß i schen Staates sowie f ü r dessen „ S t a t e - S o c i a l i s m " — die g e l ä u f i g e englische B e z e i c h n u n g f ü r B i s m a r c k s S o z i a l p o l i t i k 7 7 . D e r r a t i o n a l e A n s t a l t s staat, w i e i h n die W e b b s k o n z i p i e r t e n , w a r e i n t y p i s c h p r e u ß i s c h - d e u t sches P h ä n o m e n . N i c h t m e h r „ g o v e r n m e n t " , s o n d e r n „ S t a t e " , a b g e k a p p t v o n der idealistisch-metaphysischen W u r z e l , w u r d e f ü r sie n u n z u m H a n d l u n g s o r g a n der Gesellschaft. So f ü h r t e n die F a b i e r i n E n g l a n d einen d e m B o d e n P r e u ß e n - D e u t s c h l a n d s entwachsenen B e g r i f f des Staates ein, ohne die entsprechende T r a d i t i o n rechtlicher u n d staatstheoretischer R e f l e k t i o n z u r V e r f ü g u n g z u haben. I n der englischen K u l t u r w a r P r e u ß e n - D e u t s c h l a n d u n d dessen Staatsauffassung w e i t g e h e n d als F r e m d k ö r p e r e m p f u n d e n w o r d e n . D i e F a b i e r 75
Webb , S. u. Β . : What is Socialism? V I I I . National Housekeeping, i n : The New Statesman, 31. M a i 1913 (Bd. 1), S. 236. 76 Young , G. M . : Victorian England. Portrait of an Age, 2. A u f l . Oxford 1960, S. 103. 77 Vgl. z.B. Webb , S.: The Basis of Socialism: Historic, i n : Fabian Essays, S. 54; vgl. auch die kritische Beurteilung des französischen Historikers Elie Halévy , einem persönlichen Freund der Webbs: „Those numerous Englishmen who were actuated b y the desire to improve social institutions could not fail to be attracted by the success and efficiency of German State-Socialism. A m o n g those w h o came under its spell, the t w o heads of the Fabian Society, Sidney and Beatrice Webb, i n v i r t u e of the profound influence w h i c h they exercised over the formation of public opinion during this period of English history, hold the first place . . . they were obviously fascinated by the success of the Bismarckian State-Socialism." (A History of the English People i n the Nineteenth Century. V : Imperialism and the Rise of Labour, 2. A u f l . London 1951, S. 141 f.) Die Fabier hatten sich offenbar gegenüber dem V o r w u r f zeitgenössischer K r i t i k e r zu rechtfertigen, daß sie einem „State-Socialism" i m deutschen Sinne anhingen; siehe Fabian Society Executive Committee: Syllabus for speeches a t the Liebknecht meeting 1896 (G. B. Shaw), i n : Fabian Papers C/63/5, S. 1; u n d Fabian Tract Nr. 70: Report on Fabian Policy (G. B. Shaw) 1896, S. 5; zur Stellung Deutschlands i m Rahmen der „EffizienzBewegung" siehe unten 2. Kap., I V . 3. a).
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hingegen kultivierten den Gedanken der Unterordnung und des Dienstes gegenüber dem Staat, die Idee der prinzipiellen Suprematie von Staat über Individuum 7 8 . Der Etatismus, dem einige führende Fabier anhingen, sprengte die Traditionen englischen politischen Denkens. Die Sicht von einem Staat, welcher — i n den Worten Shaws — „ m i t einer größeren Anzahl von Beamten notgedrungen immer demokratischer und repräsentativer w i r d " 7 9 , brauchte eine Bürokratie nicht zu fürchten, sondern mußte i m Gegenteil ihre Ausdehnung fördern. Da für die Fabier eine Interessenidentität von Individuum und Staat möglich w a r 8 0 , konnten die Webbs als fabisches Credo formulieren: „we . . . believe i n extending the functions of the state i n all directions" 8 1 . Der rationale Anstaltsstaat, hinsichtlich Zweck und Aufgabenumfang beliebig veränderbar, war m i t Kategorien der englischen Geistes- und Rechtstradition nicht i n den Griff zu bekommen. Durch die frühe Eingrenzung des monarchischen Absolutismus war die Tradition des aufgeklärten Absolutismus, Leistungs- und Daseinsvorsorgestaat zu sein, nicht dem Kontinent vergleichbar zum Tragen gekommen und der A u f bau einer anstaltlichen Verwaltung und eines rationalen Rechtsordnungskodexes nur verzögert vonstatten gegangen. Da ein systematischer Kanon öffentlichen Rechts, insbesondere ein Verwaltungsrecht und auch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit weitgehend fehlten, standen vom Rechtlichen her keinerlei Handhaben zur Verfügung, einen anstaltlich begriffenen Staat zu begrenzen oder zu kontrollieren. Der deutschen rationalen Rechtsordnung m i t den i m Laufe des 19. Jahrhunderts vom Liberalismus abgerungenen Vorkehrungen des Rechtsstaates war i n England nichts vergleichbares gegenüberzustellen. Die große konstitutionelle Tradition der englischen „rule of l a w " ließ sich auf einen anstaltlichen Staatsbegriff wie den der Fabier nicht ohne weiteres übertragen. Nur eine per se nicht ständige, sondern stets gesellschaftlich neu zu legitimierende Regierung (im Gegensatz zum „Staat"), die für be78 Siehe von den zahlreichen etatistischen Äußerungen der Fabier ζ. B. Fabian Tract Nr. 108: T w e n t i e t h Century Politics (S.Webb) 1901, S. 12; u. Fabian Tract Nr. 121: Public Service versus Private Expenditure (Ο. Lodge) 1905, S. 10; vgl. auch das kritische U r t e i l von Bertrand Russell, einem Freund der Webbs: „ . . . but I disagreed w i t h her [B. Webb, d. Verf.] about religion, about imperialism, and about the worship of the State. This last was of the essence of Fabianism." (The Autobiography of Bertrand Russell , London 1975, [S. 74]). 79 Shaw , G. B.: Die einfache Wahrheit über den Sozialismus (1910), i n : ders.: Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen, S. 114 (englisch: ders.: The Road to Equality, S. 173)? siehe auch ders.: The Solidarity of Social-Democracy (1906), i n : ders.: Practical Politics, S. 13 („ . . . the huge bureaucracy and vast public revenue which Socialism needs"). 80 Vgl. Shaw , G. B.: Freedom and the State (1888), i n : ders.: The Road to Equality, S. 41. 81 Webb, B.: Our Partnership, S. 308.
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stimmte, inhaltlich festgelegte Zwecke eingesetzt wird, kann auch an ungeschriebene „fundamental laws" gebunden werden bzw. an einem Recht gemessen werden, das sich aus den i m Volk gemachten Erfahrungen der Unzulänglichkeit schon bestehender Normen je und je neu entwickelt. Ein unbegrenzt ausdehnbarer Staat, der m i t seinem ständigen Apparat seine i h m aufgegebenen, prinzipiell variablen Zwecke erfüllt, ist nur m i t einem Netz von fixierten Normen rechtlich zu binden. Das englische Rechtsdenken war deshalb dem fabischen Anstaltsstaat gegenüber nicht gewappnet. Jenseits rechtlicher, äußerer Bindungen fehlte dem fabischen Staatsbegriff ein innewohnender Beurteilungsmaßstab, ein konstitutiver Staatszweck. Green war es noch um eine inhaltliche Bestimmung des Staates i m Sinne seiner moralischen Aufgaben gegangen: aus der Assoziation der Bürger i m Staat ergaben sich bestimmte „rights" und „obligations". Der Staat als i n erster Linie funktionaler Apparat dagegen war hinsichtlich der Rechte und Pflichten nicht von inhaltlichen Prinzipien her begründet, sondern i n Zweckverfolgung und Mitteleinsatz variabel. Die Fabier standen hiermit i n der utilitaristischen Tradition. Der Utilitarismus war normativ leer, da er sich i n der Verfolgung des Nützlichkeitskalküls ausschließlich am rational Vorfindbaren, am Konkreten und Faktischen orientierte. Maßstab des staatlichen Handelns waren die vorhandenen Bedürfnisse, denen diese Funktion allein schon durch ihre Tatsächlichkeit zukam. Auch die Entsprechung zu einer inhaltlichen Verfaßtheit staatlichen Handelns, eine Vorstellung von individuellen Rechten staatlicher oder vorstaatlicher Natur, fehlte bei den führenden Fabiern vollständig. Wiederum ganz i n der Tradition Benthams lehnten sie eine naturrechtliche Begründung individueller Rechte ab 8 2 . Was der Staat t u n durfte, ohne die Rechte des einzelnen Menschen zu verletzen — eine Grundfrage des bürgerlichen Verfassungsstaates westlicher Prägung —, ließ sich daher nicht durch einen Rekurs auf eine materiale Vorstellung vom Menschen beantworten. Der Staatsbegriff der Fabier entzog sich den traditionellen Begrenzungsmöglichkeiten. I n den 90er Jahren und i m ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurde das fabische Konzept des Staatssozialismus zur dominierenden sozialistischen Theorie i n England. Noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es jedoch i m politischen Denken zur Konfrontation m i t dem für England neuen Staatsverständnis allgemein und dem Etatismus der Fabier i m besonderen. Ernest Barker stellte i m Jahre 1914 zur Situation 82 Vgl. z.B. Fabian Tract Nr. 108: T w e n t i e t h Century Politics: A Policy of National Efficiency (S. Webb) 1901, S. 3.
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des politischen Denkens fest: „ A certain tendency to discredit the State is now abroad 8 3 ." A u f einer eng begrenzten, akademischen Ebene stellten die neuen pluralistischen Theorien verschiedener Prägung die rechtlichen und historischen Rechtfertigungen der Souveränität des Staates i n Frage. Unter dem Einfluß des deutschen Juristen Otto von Gierke führten der Rechtsgelehrte F. W. Maitland und der Geistliche und Kirchenhistoriker J. N. Figgis die Doktrin von der selbständigen realen Persönlichkeit der Korporationen bzw. Verbände i n England ein. Maitland, der Teile von Gierkes Genossenschaftsrecht unter dem Titel „Political Theories of the Middle Ages" übersetzte 84 , betonte, daß feste soziale Gruppen mehr als nur die Summe von Individuen, nämlich reale Persönlichkeiten m i t Rechten und Pflichten, m i t eigenem Willen und Charakter seien, unabhängig davon, ob der Staat ihnen den formalen Status einer juristischen Person verliehen habe oder nicht. Obwohl Gierke und Maitland nicht unbedingt die Souveränität des Staates verneinten, lief die These von der realen Verbandspersönlichkeit auf die gattungsmäßige Gleichartigkeit des Staates m i t allen anderen sozialen Verbänden hinaus; die freien Assoziationen als Verbandspersönlichkeiten waren nach dieser Ansicht nicht von einer externen Macht, dem Staat, konstituierbar, sondern wuchsen aus sich selbst heraus zu ihrer eigenen Wesensheit. Figgis verwandte Gierkes Theorie i m Rahmen eines konkreten politischen Anliegens, nämlich die Position der Kirche als eigenständige Körperschaft gegenüber der öffentlichen Gewalt des Staates zu behaupten 85 . Er charakterisierte den Staat als eine communitas communitatum und erklärte, daß das wirkliche Freiheitsproblem der neueren Zeit darin bestehe, jenseits des Gegensatzes Staat — Individuum den kleinen substaatlichen Vereinigungen innerhalb der Ganzheit freie Lebensgestaltung zu gewährleisten. Doch auch Figgis konnte die Frage der Zuordnung von eigenständigen Gruppen zu staatlicher Entscheidungsgewalt bzw. die Problematik der Herausbildung einer obersten Machtgruppe in einer Gruppenhierarchie nicht eindeutig lösen. Während seiner frühen pluralistischen Phase war es besonders Harold Laski, der den monistischen Staat in allen seinen Begründungen angriff, um die Idee der Souveränität zu treffen. I n den Augen Laskis war 83 Political Thought i n England 1848 to 1914, S. 222; vgl. ferner ders.: The Discredited State, i n : The Political Quarterly, Feb. 1915 (Bd. 2), S. 101—121; u n d Lindsay , Α. D.: The State i n Recent Political Theory, i n : The Political Quarterly, Feb. 1914 (Bd. 1), S. 128—145, bes. S. 139 ff. 84 London 1900. 85 Figgis , J. Ν . : Churches i n the Modern State, London 1913; vgl. zur p l u ralistischen Theorie i n England auch die deutsche Monographie von Birke, A d o l f M . : Pluralismus u n d Gewerkschaftsautonomie i n England. Entstehungsgeschichte einer politischen Theorie, Stuttgart 1978, bes. S. 153 ff.
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
staatliche Souveränität sowohl rein faktisch nicht existent, da viele Menschen den Gehorsam gegenüber ihrer Kirche oder Gewerkschaft über den Gehorsam zum Staat stellten, als auch ethisch grundsätzlich fragwürdig, da staatliche Autorität dazu neigte, i n den Dienst der ökonomisch machtvollen Interessen zu treten 8 6 . Den Staat galt es zwar nicht gänzlich auszumerzen, doch sollte er kein natürliches Primat beanspruchen können, sondern vielmehr, was die Übereinstimmung m i t den Zielen der Gesellschaft anbetraf, nur eine unter vielen Formen menschlicher Assoziation sein. Zwischen der Natur des Staates und der Natur eines Baseball-Klubs bestand aus dieser Sicht kein fundamentaler Unterschied mehr 8 7 . Daraus erwuchs als politische Konsequenz, daß der Staat durch Teilung und Zerstreuung seiner Gewalten neutralisiert werden müsse. Der junge Laski, der Mitglied der Fabian Society war, kritisierte die Reformentwürfe der Webbs zur Ausdehnung der nationalen öffentlichen Kontrolle der Wirtschaft, da diese dem Staat und seiner Bürokratie neue Machtbefugnisse gegenüber den Arbeitern zuwachsen ließen 88 . War es Laski um die Konstitution eines substaatlichen, pluralistischen Gefüges freier Assoziationen zu tun, so wiesen die Webbs eindeutig dem demokratischen Staat — verstanden als universale anstaltliche Konsumentenorganisation — die ungeteilte autoritative Entscheidungshoheit zu 8 9 . I m Modell der Webbs war die Politik durch die technischen Sachnotwendigkeiten des Dienstleistungsbetriebs zwar neutralisiert, doch der Staat als solcher hatte die volle Souveränität inne. Laskis theoretische Entwicklung des Pluralismus war als akademische Übung in historischer Jurisprudenz entstanden; doch auch darüber hinaus, auf einer unmittelbareren Ebene geistig-politischer Auseinandersetzung wurde der fabische Staatssozialismus m i t wirksamen Infragestellungen konfrontiert. Hilaire Belloc, satirischer politischer Journalist und literarischer Kritiker, Verfasser historischer Werke und kurzzeitig radikaler Parlamentsabgeordneter machte sich m i t seinem 1912 erschie86 Vgl. dazu Deane, H.: The Political Ideas of H a r o l d Laski, New Y o r k 1955, S. 15 u. S. 18; die einschlägigen Werke Laskis waren: Studies i n the Problem of Sovereignty (1917), A u t h o r i t y i n the Modern State (1919), The Foundations of Sovereignty and other Essays (1921). 87 Deane, H.: The Political Ideas of H a r o l d Laski, S. 23. 88 Laski, H.: Democracy at the Crossroads, i n : Yale Review 1920, entnommen aus: Deane, H.: The Political Ideas of Harold Laski, S. 59; vgl. auch Laskis Fabian Tract Nr. 200: The State i n the New Social Order (1922), wo er „the absence of a common purpose binding men together i n the state" k o n statiert (S. 9). 89 Dies erfuhr erst i n i h r e m Verfassungsentwurf von 1920 eine Wandlung, i n dem die Webbs die staatliche Souveränität zerteilten (siehe unten 2. Kap., V. 4.). L a s k i seinerseits änderte seine Auffassungen, so daß er genau diesen Webbschen Vorschlag der verfassungsmäßigen Aufsplitterung staatlicher Souveränität einer K r i t i k unterzog: Laski, H.: A Grammar of Politics, L o n don 1925, S. 335 ff.
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nenen Buch „The Servile State" zu einem der lautstärksten Gegner eines staatlichen „Kollektivismus" Webbscher Prägung. Obwohl die politische Konzeption, die er und G. K. Chesterton entwickelten — der sogenannte „Distributismus" —, ohne breite Anhängerschaft blieb, fand seine K r i t i k des modernen Staates großen propagandistischen Widerhall i n der Öffentlichkeit. Bellocs Buch ging von der These aus, daß die neuzeitliche industrielle Gesellschaft des Kapitalismus wegen des ihr innewohnenden Konfliktes zwischen dem moralischen und rechtlichen Anspruch einerseits und der sozialen Wirklichkeit andererseits sowie wegen der materiellen Unsicherheit, zu der freie Menschen aufgrund ungleicher Eigentumsverhältnisse verurteilt seien, eine grundsätzlich unstabile Organisationsform sei 90 . Stabilität könnten nur drei Arten von Gesellschaften gewährleisten: der distributive Staat, der das Eigent u m unter der Masse der Menschen — organisiert als Familieneinheiten — verteile; der Kollektivismus (oder Sozialismus), der das Eigent u m der Produktionsmittel Amtsinhabern der Gemeinschaft anvertraue; sowie — als wahrscheinlichste Lösungsform — der „Servile State", den Belloc wie folgt definierte: „ T h a t arrangement of society i n which so considerable a number of the families and individuals are constrained by positive l a w to labor for the advantage of other families and individuals as to stamp the whole comm u n i t y w i t h the m a r k of such labor we call the servile state 9 1 ."
I n Maßnahmen wie der Einführung der nationalen Krankenpflichtversicherung und Arbeitslosenunterstützung von 1911/1912 sowie der Registrierung und Vermittlung von Arbeitslosen sah Belloc die ersten Marksteine auf dem Weg zum „Servile State". Dieser zerfalle in zwei Klassen von Menschen, i n Herren und Untergebene: den freien und „arbeitgebenden" Menschen stünden die rechtlich gebundenen, jedoch materiell minimal gesicherten Menschen gegenüber. Belloc hielt die Verwirklichung der sozialistischen Idee, von der sich die tatsächliche Entwicklung des Staates immer stärker entferne, für unrealistisch: statt der Kontrolle des Eigentums durch öffentliche Amtsinhaber kaufe der Staat faktisch die privaten Produktionsmittel auf und schaffe damit für die Masse der Arbeiter einen Zustand rechtlich unfreier, zwangsweise eintreibbarer Arbeit — den Zustand des „Servile State" 9 2 . Es war also der Sozialist, der entgegen seinem eigenen Ideal den Zustand der Sklaverei herbeiführte 9 3 . Belloc stellte dem modernen ausgedehn90 Belloc, H.: The Servile State (1912) (eingel. v. Robert Nisbet), Indianapolis 1977; vgl. auch die Monographie von McCarthy, John P.: Hilaire Belloc: Edwardian Radical, Indianapolis 1978. 91 Belloc, H.: The Servile State, S. 50. 92 Ebenda, S. 129. 93 Ebenda, S. 140.
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
ten Anstaltsstaat das Ideal einer mittelalterlichen Gilden- und Bauerngesellschaft gegenüber, die auf der Familie als autarker ökonomischer Einheit und dem Katholizismus als spiritueller Grundlage ruhte 9 4 . I n einer lebhaften Auseinandersetzung zwischen Belloc und den Fabiern, auf die diese sich wegen der starken propagandistischen Eigenwirkung der Parole vom „Servile State" — unabhängig von der „distributistischen" Lehre — einlassen mußten, hoben die Webbs erneut die staatlichen Organisationsnotwendigkeiten i n der modernen Industriegesellschaft hervor: „ W h a t Socialism teaches us is, that power there must be. I t is a fallacy to argue as if each i n d i v i d u a l could ever be i n a position to be producing and distributing to himself a l l that he requires! We have necessarily to serve i n the great productive a r m y 9 5 . "
Von Bellocs Attacke gegen den modernen Staat führten Einflußlinien und Berührungen zu der politisch bedeutsamsten Infragestellung des fabischen Staatskonzepts von sozialistischer Seite, dem Gildensozialismus. Vor dem Hintergrund militanter Herausforderungen an die staatliche Autorität durch Trade-Unions, Iren und Suffragetten konstatierte G. D. H. Cole zu Anfang seines Erstlingswerkes „The World of Labour" i m Jahre 1913: „There is a feeling that the great State has got out of touch w i t h the people, and that no mere democratic machinery at elections w i l l be able to b r i n g it back again 9 8 ."
Cole schrieb gegen die Theorie der Webbs, die sich nach seinem Urteil die Arbeiterbewegung i n der Vergangenheit vollständig zu eigen gemacht hatte 9 7 . Der Staat sollte nach Coles Verständnis auf den Willen 94
Ebenda, S. 32. Webb, S. u. Β . : W h a t is Socialism? X I X . Our Protection against the Disastrous Illusion of the D i s t r i b u t i v e State, i n : The New Statesman, 16. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 591; vgl. auch dies.: W h a t is Socialism? X V I I I . The real Safeguard against the Nightmare of the Servile State, i n : The New Statesman, 9. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 557—559; siehe auch den A n t w o r t b r i e f Bellocs i n : The New Statesman, 23. Aug. 1913 (Bd. 1), S. 619—621 sowie die erneute Replik der Webbs: ebenda, 30. Aug. 1913, S. 650 f.; vgl. außerdem Belloc , H.: On the w o r d „constructive", i n : The N e w Statesman, 6. Dez. 1913 (Bd. 2), S. 270; vgl. auch: The South West London Federation of the Independent Labour P a r t y : Socialism and the Servile State. A Debate between Messrs. Hilaire Belloc and J. Ramsay MacDonald , M. P., London 1911; sowie die kurze Schilderung einer Kontroverse zwischen Belloc u n d Shaw i m Jahre 1912 bei Cole , G. D. H.: The W o r l d of Labour, S. 417 f.; als Beispiel f ü r die propagandistische, sich gegen die Fabier kehrende W i r k u n g von Bellocs Parole des „Servile State" siehe den Brief von John Bums, Minister i m liberalen K a b i n e t t und früherer Arbeiterführer, an H. G. Wells v o m 16. M a i 1910: „ T h e new helotry i n the servile state r u n by the archivists of the School of Economics means a race of paupers i n a grovelling community ruled by uniformed prigs. Rely upon me saving you f r o m this plague." (zit. nach: Harris , J.: Unemployment and Politics, S. 267). 96 Cole, G. D. H.: The W o r l d of Labour, S. 5. 95
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der Menschen, den „General W i l l " , gegründet sein und als Erweiterung der menschlichen Persönlichkeit begriffen werden („ . . . the state exists and claims our obedience because i t is a natural extension of our personality") 9 8 . Er hatte Ausdruck der Gemeinschaft zu sein, die den Charakter einer realen Person m i t einem eigenen „Selbst" und einem eigenen Willen besaß 99 . Das bedeutete, daß es einer neuen Theorie der Souveränität bedurfte. Cole faßte den Staat nun — wie i n der pluralistischen Theorie — nur noch als eine Vereinigung unter vielen, die keinen Anspruch auf das Primat des sozialen Gehorsams mehr erheben konnt e 1 0 0 . Organisationskriterium des sozialen Gefüges war das funktionale Prinzip, so daß auch der Staat nur noch eine unter mehreren funktionalen Assoziationen darstellte. Die anstehende Organisationsaufgabe bestand darin, den Staat nach funktionalen Gesichtspunkten zu partikularisieren, so daß die Souveränität schließlich i m ganzen Komplex der sozialen Beziehungen verstreut sein w ü r d e 1 0 1 . Cole betonte gegenüber der bloßen Ausdehnung des Staates nach Webbschem Muster, die lediglich zur Übertragung der Machtbefugnisse vom Kapitalisten auf den Bürokraten führe, daß das fundamentale Übel der modernen Gesellschaft nicht die A r m u t — u m deren Beseitigung es den Webbs nur gehe —, sondern die Sklaverei sei. Die A r m u t sei das oberflächliche Symptom, die Sklaverei die wirkliche K r a n k h e i t 1 0 2 . Zwar konnten sich jene Reaktionen gegen den Etatismus der Fabier teilweise starkes Gehör verschaffen, doch langfristig erwies sich die fabische Konzeption gegenüber den Organisationsanforderungen der Industriegesellschaft — wie sich insbesondere i n Krisensituationen zeigte — als angemessener. Nachdem i n den voraufgegangenen zwei Kapiteln das sozialistische Gesellschafts- und Staatsmodell der Fabier systematisch aus ihrem Gesamtwerk herauspräpariert worden ist, soll i m folgenden versucht 97
Ebenda, S. 2 f. So Cole i n seiner Einleitung zu Rousseau: Social Contract and Discourses (1913), zit. nach: Wright , A . W.: G. D. H. Cole and Socialist Democracy, Oxford 1979, S. 35 f. 99 Cole, G. D. H.: The free state of the future I I , i n : Labour Leader, 26. März 1914, entnommen aus: Winter , J. M.: Socialism and the Challenge of War, S. 107. 100 Cole , G. D. H.: Selbstverwaltung i n der Industrie (engl.: Self-Government i n Industry, London 1917), eingel. v. Rudolf Hilferding, B e r l i n 1921, S. 123 f.: „uns erscheint der Staat nicht als ,göttlicher' u n d unbeschränkt a l l mächtiger Vertreter der Gemeinschaft, sondern als eine von vielen Formen der Vereinigung, i n denen sich Menschen j e nach ihren gemeinsamen Z w e k ken gruppieren." 101 Siehe dazu sowie zur wechselvollen, äußerst anpassungsbereiten Geistesentwicklung Coles insgesamt: Wright , A . W.: G. D. H. Cole and Socialist Democracy, S. 39 ff. 102 Cole , G. D. H.: Selbstverwaltung i n der Industrie, S. 32 98
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2. Kap.: Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier
werden, i n mehr chronologischer Weise die fabischen Schritte zur Konkretisierung ihres Modells i n der politischen Wirklichkeit zu verfolgen. Ausgangspunkt dafür war die Offenlegung der Krise Englands durch den Burenkrieg, der der fabischen Politik einen besonders geeigneten Ansatz bot.
IV. Die Politik der „nationalen Effizienz" 1. Die Krise Englands und ihre Offenlegung durch den Burenkrieg: Innerer Verfall und imperialer Niedergang I n seiner 1888 erschienenen soziologischen Kurzanalyse des römischen Reiches führte Sidney Webb Roms Größe auf einen bedingungslosen Kollektivismus, auf eine eindeutige Überordnung des staatlichen über das individuelle Interesse zurück. Die Lektion Roms für die moderne Welt sei die Einsicht, daß nur das selbstlose Einfügen des einzelnen i n die „große Sozialmaschine" das Überleben einer Gesellschaft sichern könne und daß die Duldung individualistischer Selbstkultivierung den Niedergang einer Zivilisation besiegeln müsse: Je besser die kollektive Sozialorganisation, desto höher die Stufe der Zivilisation 1 . Wurde diese Rom-Idee als „Leuchtfeuer für alle folgenden Zivilisationen" 2 auf das zeitgenössische England übertragen, so konnte eine entsprechende Beurteilung des Zivilisationsstandes nur vernichtend ausfallen. Bernard Shaw etwa erklärte i n den „Fabian Essays": „ T h a t our o w n civilisation is already i n an advanced stage of rottenness may be taken as statistically proved. That further decay instead of i m provement must ensue if the institution of private property be maintained, is economically certain 3 ."
Die aus dem radikalen oder liberalen Lager i n die Fabian Society kommenden jungen Intellektuellen besaßen, nachdem sie der viktorianischen Sicherheiten ihrer evangelikalen Religiosität verlustig gegangen waren, ein offenkundiges Krisenbewußtsein. Nichts Geringeres als die gesamte Weltanschauung des traditionellen viktorianischen Liberalismus befand sich i n ihren Augen in der Krise. Die Werte der liberalen Zivilisation i m Zeichen von Gladstone und John Stuart M i l l — wirtschaftlicher Individualismus, Freihandel und 1 Webb, S.: Rome: A Sermon i n Sociology, i n : Our Corner 1888, bes. S. 85—88. 2 Ebenda, S. 60. 3 Shaw , G. Β.: The Basis of Socialism: Economic, i n : Fabian Essays, S. 22.
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soziale Selbsthilfe, klassische Gelehrsamkeit und religiöse Moralität, „Respektabilität" und Vorrangstellung von „character" und Gewissensentscheidung, „responsible government", öffentliche Sparsamkeit und Redlichkeit sowie der Reformeinsatz für „great causes" — wurden für die Fabier zunehmend obsolet. Ihre Entwürfe trachteten vielmehr nach der vollständigen Überwindung der individualistischen Welt des Liberalismus, um die Niedergangstendenz Englands aufzuhalten. So war der Fabianismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts der profilierteste geistige Antipode des traditionellen englischen Liberalismus, und nicht — wie die Fabier aus taktischen Gründen zuweilen selbst glauben machen wollten — bloß dessen Weiterentwicklung. I n den 80er und 90er Jahren wurde die Krise des liberalen England am handgreiflichsten i m sozialen und wirtschaftlichen Bereich. Der Burenkrieg und die Befürchtungen u m den Niedergang des Imperiums und den Verlust der nationalen Weltstellung gaben der Krise des Liberalismus zusätzliche Nahrung. A l l e sozialistischen Konzeptionen der Fabier i n den späten 80er und 90er Jahren zielten auf die akute Lösung der sozialen Krise Englands. Der soziale und wirtschaftliche Niedergang wurde dem ökonomischen Individualismus zugeschrieben, Aufstieg winkte nur durch kollektivistische Gesellschaftsorganisation. Der Individualismus war i n den Augen der Fabier — wie oben gesehen — einerseits die Ursache für die aktuelle soziale Krise, andererseits enthielt die individualistische Ordnung selbst bereits die Strukturen zu ihrer eigenen Überwindung i n sich. Die sich dahinter verbergende Zweideutigkeit in der Bestimmung der sozialen Entwicklung — Niedergangsvisionen m i t Aufstiegserwartungen der neuen Gesellschaftsorganisation aus der Krise auf der einen Seite, lineare und bruchlose, quasi unsichtbare Evolution der neuen Sozialstrukturen auf der anderen Seite — blieb i n der sozialen Theorie der Fabier stets unaufgehoben enthalten. I n der Praxis wurden nun die Träger der individualistischen Ordnung durch die i n ihrem ganzen Ausmaß ins Allgemeinbewußtsein gerückte soziale Misere der Arbeiterklasse sowie durch die wirtschaftlichen Krisensymptome der „Great Depression" i n die Defensive gezwungen. Einerseits empfanden die Fabier Genugtuung über die offensichtliche Kapitulation des Individualismus, andererseits jedoch fürchteten auch sie die Herausforderung Englands durch andere Nationen. Noch bevor die ersten detaillierten Analysen zum wirtschaftlichen A b schneiden Englands gegenüber seinen Hauptkonkurrenten vorlagen 4 , 4 Vgl. etwa die 1906 erschienene Studie des Protektionisten Shadwell, A r t h u r : I n d u s t r i a l Efficiency: A Comparative Study of I n d u s t r i a l L i f e i n E n g land, Germany and America, i n der die deutschen Tugenden konstanter A r -
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
s t i m m t e n die F a b i e r i n die gegen E n d e des J a h r h u n d e r t s l a u t e r w e r d e n d e n K l a g e n ü b e r das a l l m ä h l i c h e i n d u s t r i e l l e U b e r h o l t w e r d e n E n g l a n d s d u r c h die U S A u n d D e u t s c h l a n d e i n 5 . Besonders D e u t s c h l a n d als das „ k o l l e k t i v i s t i s c h " v e r f a ß t e L a n d erntete v e r b r e i t e t R e s p e k t f ü r seine w i r t s c h a f t l i c h e n u n d sozialen O r g a n i s a t i o n s l e i s t u n g e n , o b w o h l sich m i t der B e w u n d e r u n g i m m e r auch e i n G e f ü h l des M i ß t r a u e n s gegenü b e r diesem F r e m d k ö r p e r i n der westeuropäischen K u l t u r p a a r t e 6 . A u c h das große soziale E l e n d der englischen A r b e i t e r k l a s s e h a t t e F o l g e n f ü r d e n K a m p f der N a t i o n e n u m s Ü b e r l e b e n , w i e S i d n e y W e b b i n s o z i a l d a r w i n i s t i s c h e r Sprache bereits 1891 beschwor: „ A more serious result of the inequality of income caused by the private ownership of land and capital is the e v i l effect on h u m a n character and the m u l t i p l i c a t i o n of the race . . . The depression of the w o r k e r to the product of the m a r g i n of cultivation often leaves h i m nothing b u t the barest livelihood. No prudential considerations appeal to such a class. One consequence is the breeding i n the slums of our great cities, and the overcrowded hovels of the r u r a l poor, of a horde of semi-barbarians, whose unskilled labour is neither required i n our present complex industrial organism, nor capable of earning a maintenance there 7 ." E n g l a n d steuere g e r a d l i n i g „ i n t o n a t i o n a l d e c a y " u n d k ö n n e „ t h e s t r u g g l e f o r existence b e t w e e n n a t i o n s " n i c h t bestehen, w e n n es die i n d i v i d u a l i s t i s c h e O r d n u n g n i c h t d u r c h R e f o r m e n der S o z i a l o r g a n i s a t i o n überwinde8. So w a r e n d i e p r a k t i s c h e n A k t i v i t ä t e n der F a b i e r i n d e n s p ä t e n 80er u n d 90er J a h r e n z u m g r o ß e n T e i l a u f F r a g e n d e r S o z i a l p o l i t i k gerichtet, u m die s c h l i m m s t e n K r a n k h e i t e n des S o z i a l o r g a n i s m u s z u h e i l e n . N a c h d e m m a n d u r c h die S t r e i k s v o n 1889 a u f d e n „ N e w U n i o n i s m " a u f m e r k s a m gemacht w o r d e n w a r , g a l t das Interesse d e r W e b b s als e m p i beit u n d disziplinierter Organisation als Ursache f ü r die höhere industrielle Effizienz der englischen Vorliebe für Freizeit u n d Spiel u n d f ü r das „ m u d d l i n g through" gegenübergestellt w u r d e n ; (entnommen aus: Hollenberg, G.: Englisches Interesse a m Kaiserreich, S. 225). 5 Vgl. z.B. Fabian Tract Nr. 108: T w e n t i e t h Century Politics: A Policy of National Efficiency (S. Webb) 1901, S. 7 u. 15 u n d Tract Nr. 116: Fabianism and the Fiscal Question (G. B. Shaw) 1904, S.24 u. 25; vgl. auch Webb, S.: London University: A Policy and a Forecast, i n : Nineteenth Century, J u n i 1902, wiederabgedruckt i n : Brennan, E. J. T. (Hrsg.): Education for National Efficiency. The Contribution of Sidney and Beatrice Webb, London 1975, S. 156 u. ders.: The Organisation of University Education i n the Metropolis, i n : The Times, 4. u. 8. Jun. 1901. 6 Der führende Experte f ü r die deutsche Social- u n d Wirtschaftspolitik u n d u n d Anhänger des Bismarckschen Staatssozialismus w a r William Dawson, vgl. dessen: Bismarck and State Socialism; A n Exposition of the Social and Economic Legislation of Germany since 1870, London 1890; zu Dawsons T ä tigkeit vgl. Hollenberg, G.: Englisches Interesse am Kaiserreich, S. 230 ff. 7 Fabian Tract Nr. 69: The Difficulties of I n d i v i d u a l i s m (S. Webb) 1896, S. 11 f. (Nachdruck eines A r t i k e l s aus dem „Economic Journal" von 1891). 8 Ebenda, S. 16 f.
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rische Sozialforscher und Reformer besonders dem Sozial- und Arbeitsschutz und der Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung 9 . Das Engagement von Sidney Webb und anderer Fabier bei den Progressiven i n der Londoner Lokalpolitik betraf besonders den Erziehungssektor. Die Fabian Society griff m i t Vorliebe einzelne Fragen wie die Forderung nach dem 8-Stunden-Tag oder die Armenrechtsreform auf 1 0 , bevor die Webbs etwa Mitte der 90er Jahre ihre Sozialpolitik unter dem Schlagwort „The National M i n i m u m " zu einem zusammenhängenden Programm systematisierten. Das Anliegen der Fabier um die Webbs war es, einen staatlich garantierten, minimalen soizalen Lebensstandard festzulegen, unter den die Gesellschaft keines ihrer Mitglieder sinken lassen durfte. Ihre sozialpolitische Programmatik war der Versuch, „social degradation and decay" des englischen Sozialorganismus zu überwinden 1 1 . I m politischen Tagesgeschäft waren die Fabier zunächst darauf aus, der liberalen Partei ein konstruktives Programm der Sozialreform aufzudrücken 12 . Die führenden Politiker der Liberalen jedoch — abgesehen vom radikalen Flügel, der nach Joseph Chamberlains Abfall geschwächt war — hatten eine ausgesprochene Abneigung gegen jede Programmpolitik. Asquith etwa beklagte „the political fashion which has been i n vogue that is equally injurious to both parties of the State, of presenting to the country . . . not a policy but a catalogue" 13 . Sidney Webbs schriftlicher Appell an die liberale Partei, ein arbeiterfreundliches sozialpolitisches Programm anzunehmen, hatte somit schon aus Gründen des verschiedenartigen Politikverständnisses zunächst wenig Aussicht auf Erfolg 1 4 . So versuchten die Fabier ihre Beeinflussung der Liberalen hauptsächlich über den Hebel der radikalen Bewegung anzusetzen. Nachdem die Regierung Gladstone nach 1892 aber keinerlei Anstalten machte, das sozialpolitisch weitgehende, von den Radikalen initiierte 9 Vgl. zum Engagement f ü r die Gewerkschaften, besonders zum Beitrag S. Webbs f ü r den Minderheitenbericht der „Royal Commission on Labour" (1891—94) u n d der „Royal Commission on Old Age Pensions" (1893—95): Webb, B.: Our Partnership, S. 12 ff. 10 Vgl. ζ. Β . die Fabian Tracts Nr. 9, 16, 23 u. 48 (An Eight Hours Bill), Nr. 17, 44 u. 54 (Reform of the Poor Law) u. Nr. 50 (sweating). 11 Webb, S.: The Necessary Basis of Society, i n : Contemporary Review, Jun. 1908 (Bd. 93), S. 668 ( = Fabian Tract Nr. 159); dazu auch schon Webb, S. u. B.: I n d u s t r i a l Democracy (1897), S. 766 ff. (Ausgabe 1920). 12 Vgl. z.B. Webb, S.: The M o r a l of the Elections, i n : Contemporary Review, Aug. 1892 (Bd. 62), S. 272—287 u n d ders.: What M r . Gladstone Ought to Do, i n : F o r t n i g h t l y Review, Feb. 1893 (Bd. 53 Ν . S.), S. 281—287. 13 A s q u i t h i n Auchtermuchty, i n : The Times, 13. Oct. 1896 zit. nach: Matthew , H. C. G.: The Liberal Imperialists, Oxford 1973, S. 126. 14 Webb, S.: Wanted a Programme: A n Appeal to the Liberal Party, priv. printed 1888 (entnommen aus Pease, E.: The History of the Fabian Society, S. 111).
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
„Newcastle Programme" (1891) politisch umzusetzen, kam es zur formellen Aufkündigung der „Durchdringungs"-Taktik („permeation") gegenüber den Liberalen. I n einem aufsehenerregenden A r t i k e l gegen die Politik des Gladstoneschen Liberalismus Ende 1893 wurden die Trade-Unions aufgerufen, ihre eigenständige parlamentarische Repräsentation zu organisieren 15 . Doch sowohl die Abkehr von der etablierten liberalen Partei, als auch die Unterstützung der neugegründeten „Independent Labour Party" unter K e i r Hardie (1893) wurde halbherzig betrieben. Die Fabian Society als intellektuelle „pressure group" wollte sich ungern parteilich binden, vielmehr alle politisch bedeutsamen Kräfte m i t ihren Reformvorstellungen durchdringen. Die Sozialpolitik der Fabier war nicht als Interessenpolitik der Arbeiterklasse, sondern als Intellektuellen-Programmatik zur Überwindung einer nationalen sozialen Krise angelegt. Der Verlauf des Burenkrieges brachte eine plötzliche Dramatisierung der Krisendiskussion i n der englischen Politik. Die Stimmen des Zweifels und der Besorgnis über Englands schwindende industrielle Weltstellung, die i n den letzten Jahren des alten Jahrhunderts immer hörbarer wurden 1 6 , verdichteten sich i n der politischen Öffentlichkeit nun vielfach zu düsteren Niedergangsvisionen und einer wachsenden Bereitschaft zur politischen Fundamentalkritik. Nicht nur die Kriegsführung der Armee, sondern auch die Organisation des gesamten Regierungssystems, ja die Werte des viktorianischen Liberalismus überhaupt standen für breite, nicht-sozialistische Kreise i n Frage 1 7 . Nicht mehr nur die wirtschaftliche Vorherrschaft, sondern die Erhaltung des Imperiums, die nationale Behauptung gegenüber anderen Mächten und die „Fitness" der Rasse generell wurden i n zunehmendem Maße thematisiert. Der Burenkrieg bewirkte ein Schwinden nationalen Selbstbewußtseins i n großem Stile. Das Empire stand i m Zentrum politischen Interesses, die Wiederherstellung „nationaler Effizienz" i n allen Lebensbereichen war die populärste Parole des Tages. 15 The Fabian Society: To Your Tents, Oh Israel!, i n : The F o r t n i g h t l y Review, Nov. 1893 (Bd. 54 N. S.), S. 569 ff. Die lebhafte, meist negative Resonanz der Presse findet sich i n : Fabian Papers, Β 4/2, Nr. 1: To Y o u r Tents, Oh I s rael" — Mounted Press Cuttings. Vgl. bes. „ T h e Speaker" 4. Nov. 1893. Siehe auch die detaillierten Vorschläge zu einer parlamentarischen Repräsentation der Arbeiterinteressen i n Fabian Tract Nr. 49: A Plan of Campaign For L a bour (G. B. Shaw) 1894, S. 19 ff.; Fabian Tract Nr. 40: Fabian Election M a n i festo (G. Β . Shaw), 1892, hatte sich noch ablehnend zum sofortigen A u f b a u einer Labour-Organisation geäußert (S. 10). 16 Vgl. ζ. B. Roseberys Ruf nach einer Kommission zur Untersuchung der verschlechterten Handelsposition Englands i m Jahre 1896; siehe Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 224. 17 Die liberale Partei geriet durch die Kriegsfrage dicht an eine Spaltung heran; die starren Parteifronten zwischen Liberalen u n d Konservativen w a ren unterhöhlt. Z u m Ganzen ausführlich 2. Kap., I V . 3, S. 220 ff.
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Die Ineffizienz des gesamten sozialen und politischen Systems war schon seit den 80er Jahren ein Hauptgegenstand fabischer Politik gewesen ; doch nun — etwa für den Zeitraum des 1. Jahrzehnts i m neuen Jahrhundert — stellten die führenden Fabier die weitergehenden Ziele ihres Sozialismus ganz und gar zugunsten ihres Eintretens für die „nationale Effizienz" zurück. Die neuen Umstände machten die Fabier für gewisse Zeit bei früher entgegengesetzten politischen Kräften respektabel, da sie m i t Recht als die schon vor dem Burenkrieg führenden Effizienz-Experten angesehen werden konnten. Während sie so beispielsweise m i t der Gruppe der „liberalen Imperialisten" in engen Kontakt traten, entfernten sie sich i m Zuge der neuen Effizienz-Kampagne völlig von ihren alten Alliierten, den Radikalen und den Sozialisten. George Dangerfield hat auf faszinierende A r t i n seiner klassischen Analyse der Ereignisse der letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg den „Strange Death of Liberal England" diagnostiziert 18 . Nicht der Krieg, sondern die kurze Phase von 1910—1914, als militante Suffragetten und streikende Arbeiter die traditionellen politischen Prozeduren mißachteten und dafür staatliche Gewaltsamkeit ernteten, als die Lords das demokratische Unterhaus herausforderten und als wegen Irland Armeeoffiziere m i t Unterstützung der konservativen Partei gegen parlamentarisch verabschiedete Gesetze meuterten, hätte das Ende der einzigartig englischen liberalen Zivilisation — „the death of security and respectability" — bedeutet 19 . Mögen diese Ereignisse äußere Entladungen einer nicht immer bewußten Revolte gegen die Werte der liberalen Ordnung Englands gewesen sein, so begannen doch die geistigpolitischen Infragestellungen früher und erreichten m i t der EffizienzBewegung i n den ersten Jahren nach der Jahrhundertwende einen Höhepunkt. Sich auf das Terrain der „politischen K u l t u r " vorwagend, kann man eine pointierte Kennzeichnung der „Edwardian mood" durch Samuel Hynes unterschreiben, wenn man — m i t der bedeutenden Ausnahme des „New Liberalism" — die Diskussionen breiter konservativer und liberalimperialistischer Kreise nach dem Burenkrieg betrachtet: „,decay', ,decline and fall', ,decadence' are the language of the time and not of a p a r t y " 2 0 . Bei der Abrechnung mit den geistigen Grundlagen des Liberalismus standen die Fabier und die Webbs m i t i n der ersten Reihe. Die Webbs hatten jedoch stets ein konstruktives Modell einer Sozial18
Dangerfield,
G.: The Strange Death of L i b e r a l England (1935), London
1966. 19
Ebenda, S. 123; vgl. auch Hobsbawm, E.: I n d u s t r y and Empire, S. 193. Hynes, S.: The Edwardian T u r n of Mind, Princeton 1968, S. 45; vgl. dort auch die Ausführungen über die Entstehung eines eigenen literarischen Genres der Niedergangsliteratur (S. 24 ff.). 20
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Ordnung i m Visier, das aus der Krisensituation evolutionär erwachsen konnte. Erst i n den 1920er und 30er Jahren hielten sie „the decay of capitalist civilisation" 2 1 für endgültig und gaben den Gedanken der Reformfähigkeit des englischen Systems auf. 2. Die fabischen Anfänge einer modernen Sozialpolitik: Das „Nationale Minimum" I n keinem europäischen Land waren die Opfer der industriellen Revolution einem solchen sozialen Elend ausgesetzt gewesen wie i m kapitalistischen England. Nirgendwo anders hat ein europäischer Staat die Arbeiterklasse i n einer Weise herabsinken lassen wie i m Pionierland der industriellen Revolution und i n der Heimat calvinistischer Religiosität. I m Vergleich dazu war etwa der deutsche bürokratisch-polizeistaatlich regierte Territorialstaat aktiver bei Daseinsvorsorge und Linderung sozialer Ubelstände tätig 2 2 . I m Schatten der zahlreichen philanthropischen Hilfs- und sozialen Selbsthilfe-Einrichtungen ist i n England die staatliche Initiative der Armenrechts- und Fabrikgesetzgebung i n ihrer begrenzten Tragweite zumeist nur Ausfluß unmittelbarer sozialer Situationserfordernisse gewesen; erst die Schüler Benthams suchten durch umfassendere Pläne zur staatlichen Sozialpolitik den ad hocCharakter staatlicher Intervention zu überwinden. Die Fabier dürfen zusammen m i t den Benthamschen Utilitaristen den w o h l größten geistigen A n t e i l für die Durchsetzung des modernen Wohlfahrtsstaates i n England in Anspruch nehmen 2 3 . Die i m Jahre 1897 i n ihrem Buch „Industrial Democracy" von den Webbs erstmals vorgetragene Konzeption des „nationalen Minimums" goß einen Großteil der einzelnen sozialpolitischen Vorschläge der Fabier i n eine zusammenhängende Form. Die Politik des „nationalen M i n i mums" war kein spezifisch sozialistisches Programm; sie sollte vielmehr nur die „Basis" einer gesunden Sozialordnung schaffen, unabhängig davon, ob die „Superstruktur" der Gesellschaft individualistischen oder kollektivistischen Organisationsprinzipien gehorchte 24 . Es ging den Webbs zu diesem Zeitpunkt noch nicht primär um die staatliche Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern zunächst u m die national einheitliche gesetzliche Einführung von Arbeitsbedingungen, die den A r 21 Vgl. zum so betitelten Buch der Webbs aus dem Jahre 1923 u n d ihrer späteren E n t w i c k l u n g unten 2. Kap., V I I . , S. 320 ff. 22 So Herbert Schöfflers Ergebnis seines Vergleichs absolutistischer Festlandstaaten m i t England, i n : W i r k u n g e n der Reformation, S. 351 ff. 23 Z u r Entstehungsgeschichte des englischen Wohlfartsstaates siehe unten ausführlicher 2. Kap., I V . 4., S. 253 ff. 24 Vgl. Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, S. 10.
I V . Die P o l i t i k der „nationalen Effizienz"
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beitern i m Interesse der Gesamtgesellschaft ein garantieres Maß an gesundheitlichem Schutz, materieller Sicherheit und geistig-beruflicher Ausbildung gewährleisteten. Der Impuls dieser sozialpolitischen Programmatik, die erst später auf immer weitere Sozialbereiche übertragen wurde, war nicht karitativer Natur; i m Gegenteil, sie zielte gerade i n bewußter Frontstellung zur philanthropischen Politik der „Charity Organisation Society", die mittels Linderungs- oder Abschreckungsmethoden lediglich für die Förderung des moralischen Charakters der notleidenden Individuen sorgen wollte, auf die rationale Konstruktion eines „gesunden sozialen Ganzen": „ — the prohibition of a l l such conditions of employment as are inconsistent w i t h the maintenance of the workers i n a state of efficiency as producers and citizens — < < 2 5 .
Die Politik des „nationalen Minimums" i n der frühen engumschriebenen Ausprägung, begriffen als Realisierung eines „umfassenden K o dex' des Arbeitslebens" 3 6 , bedeutete die planvolle und einheitliche Ausweitung der bisher ad hoc betriebenen Fabrikgesetzgebung auf alle wirtschaftlichen Sektoren 27 . Sie setzte sich aus folgenden Einzelmaßnahmen zusammen 28 : a) Ein „nationales M i n i m u m " der Erziehungs- und Ausbildungsmöglichkeiten. Neben der Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht und des Ausbaus der Ausbildungsinstitutionen und finanziellen Förderungsmöglichkeiten für alle talentierten Kinder befürworteten die Webbs die Festlegung einer unteren Altersgrenze für den E i n t r i t t ins A r 25 Webb , S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 771. Bezüglich der Gegnerschaft der Fabier zur „ C h a r i t y Organisation Society", der die junge Beatrice Webb einstmals nahegestanden hatte, siehe Fabian Tract N r . 158: The Case Against the Charity Organisation Society (Mrs. Townsend), 1911. 26 Webb , S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 767. 27 Webb , S.: The Policy of the National M i n i m u m , i n : The Independent Review, Jun.—Sept. 1904 (Bd. 3), S. 174. 28 Z u r folgenden Aufstellung vgl.: Webb , S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 766—784; ebenso dies.: Problems of Modern I n d u s t r y (Ausgabe 1902), V o r w o r t S. X X I V ff. ( = W e b b , S.: Trusts, Trade-Unions, and the National M i n i mum, i n : International Quarterly, 1902 [Bd. 5], S. 127—148); zur späteren breiten Ausgestaltung der Konzeption siehe: Webb, Β . : The Economics of Factory Legislation, i n : Webb, B., Hutchins, B. L. u. Fabian Society: Socialism and National M i n i m u m , London 1909 (Fabian Socialist Series Nr. 6), S. 5—49 u n d Webb, S.: The Economic Theory of a Legal M i n i m u m Wage, i n : The Journal of Political Economy, Dez. 1912 (Bd. 20), S. 973—998; aus den vielen thematisch verwandten Fabian Tracts vgl. zum ganzen Konzept des „ n a t i o nalen M i n i m u m s " besonders: Fabian Tract Nr. 50: Sweating: Its Cause and Remedy (W. H. Macrosty), 1894 u. Nr. 67: Women and the Factory Acts (Β. Webb), 1896 sowie Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, w o das „nationale M i n i m u m " v o m Arbeitsbereich auf weitere Sozialfelder ausgedehnt w i r d .
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
beitsleben, um eine obligatorische technisch-praktische aller jungen Arbeitskräfte zu ermöglichen 29 .
Schulung
b) E i n „nationales M i n i m u m " des Gesundheits- und Arbeitsschutzes. Ebenso wie ein Hauseigentümer für die sanitäre Ordnung seines Hauses verantwortlich sei, sollten i n den Augen der Webbs sämtliche Industriebetriebe, insbesondere die kleinen Arbeitsstätten des Hungerlohngewerbes („sweated industries"), einem einheitlichen Gesundheits- und Sicherheitsstandard entsprechen müssen, der die Effizienz der Arbeiter gewährleisten konnte 3 0 . c) Ein „nationales M i n i m u m " an Freizeit und Erholung. Diese Forderung zur Arbeitszeitbegrenzung wurde von den Fabiern i n ihren Gesetzentwürfen und Kampagnen zur Durchsetzung des 8-Stunden-Tages konkretisiert 3 1 . d) Ein national einheitlicher Minimallohn für jeden Industriebereich 32 . Die Festsetzung des „nationalen Minimums" i n dieser vierfachen Ausprägung sollte nicht den Kollektiwerhandlungen der Gewerkschaften überlassen bleiben, welche ja berufsspezifisch organisiert waren; es mußte vielmehr durch parlamentarische Gesetzgebung für alle sektoralen und regionalen Wirtschaftsbereiche einheitlich eingeführt werden. Die Funktion der Gewerkschaften zum Nutzen der gesamten Volkswirtschaft bestand darin, mittels ihrer spezifischen Methoden der innergewerkschaftlichen sozialen Sicherung („mutual insurance") und der Kollektivverhandlungen („collective bargaining") den Lebens- und Arbeitsstandard innerhalb ihres Berufszweiges ständig über das Niveau des „nationalen Minimums" zu heben. Die Grenze für diese Überschreitung des Minimums sollte erst dann erreicht sein, wenn ein durch Preissteigerungen hervorgerufener Nachfragerückgang der Verbraucher auf diesen Wirtschaftsbereich i n Form der Einbuße von Arbeitsplätzen zurückschlüge 33 . Die aus heutiger Sicht scheinbar allgemein konsensfähige Programmatik der Webbs war i n der zeitgenössischen sozialpolitischen und öko29 Vgl. z.B. auch Fabian Tract Nr. 8: Facts for Londoners (S. Webb), 1899, S. 22—25 u n d Nr. 52: State Education at Home and Abroad (J. W. Martin), 1894; zur fabischen Erziehungspolitik siehe unten 2. Kap., I V . 3. c). 80 Vgl. auch Fabian Tract Nr. 50 u. 67. 81 Siehe auch die Fabian Tracts Nr. 9, 16, 23 u. 48 zum 8-Stunden-Tag. 32 Siehe auch Fabian Tract Nr. 83: State A r b i t r a t i o n and the L i v i n g Wage (H. W. Macrosty), 1897 u n d Nr. 128: The Case for a Legal M i n i m u m Wage ( W . S. Sanders), 1906. 83 Webb, S. u. B.: I n d u s t r i a l Democracy, S. 791 ff ., vgl. auch die m o d i f i zierte Übertragung eines Teüs ins Deutsche: dies.: Die englischen Gewerkvereine nach i h r e m volkswirtschaftlichen Wert, i n : Archiv f ü r Soziale Gesetzgebung u n d Statistik, 1897 (Bd. 11), S. 364.
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nomischen Diskussion durchaus strittig. Gegen die Behauptung aus der politischen Ökonomie, daß die Einführung eines „nationalen M i n i mums" die industrielle Produktion senke, betonten die Webbs unter ständiger Verwendung des Effizienz-Kriteriums, daß i m Gegenteil eine derartige Gesetzgebung sowohl bei den Unternehmern als auch bei den Arbeitern eine Steigerung der Produktivität bewirke 5 4 . Durch den Minimalstandard würden die untauglichen, schlecht ausgestatteten Unternehmungen allmählich ausgerodet, was zu einer Konzentration der Industrie auf die günstigst gelegenen und bestausgestattetsten Unternehmungen führe und somit die höchste technische Entwicklung der Produktion fördere. Die durch die Lohn- und Arbeitsschutzverpflichtungen des „nationalen Minimums" erhöhten Produktionskosten für den Unternehmer würden durch die gesteigerte Leistung des A r beiters nicht nur aufgewogen, sondern i n eine Produktionssteigerung umgewandelt. Die Politik des „nationalen Minimums" ließe den ökonomischen Wettbewerb prinzipiell intakt, lenke i h n vielmehr bloß i n eine „Aufwärts-Richtung", d. h. verschöbe den Konkurrenzdruck vom Preis der Ware auf die Qualität, vom Lohn bzw. Preis der Arbeit auf die Qualität und Produktivität der A r b e i t 5 5 . So war auch i m fortbestehenden Wettbewerb der Arbeiter um Arbeit eine Anhebung der Auswahlgrenze zugunsten der leistungsfähigeren Arbeiter vorgesehen, da diese nicht mehr durch die weniger leistungsfähigen Arbeiter mit geringeren Lohnansprüchen unterboten werden könnten. Gegen die Einwände, die die rein karitativ orientierte Sozialhilfe gegenüber einer rationalen, uniformen Fabrikgesetzgebung geltend machte, argumentierten die Webbs, daß die Verdrängung der „physical and moral weaklings and degenerates" 36 durch die tüchtigen und leistungsfähigen Arbeiter ebenso wie die Ausmerzung der kleinen parasitären Hungerlohnwerkstätten durch die rationalen und effizienten Unternehmungen aus Gründen der industriellen Produktivität und „sozialen Gesundheit" geboten sei. Daß der Unternehmer gehindert würde, den alten oder den physisch und „moralisch" invaliden Arbeiter gegenüber dem leistungsfähigeren und teureren Arbeiter vorzuziehen, erschien nicht nur zur Steigerung der industriellen Produktivität, sondern auch zur gesonderten, vom Arbeitsmarkt isolierten Behandlung dieser wirtschaftlich verwendungsunfähigen Menschen („unemployables") notwendig 3 7 . 34
Ebenda, S. 340. Ebenda, S. 327 u n d Webb , Β.: The Economics of Factory Legislation, i n : Webb, B. et al.: Socialism and National M i n i m u m , S. 24 u. 37. 36 Webb , S. u. B.: Industrial Democracy, S. 786. 37 Ebenda, S. 784 ff. 35
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Schließlich waren die Webbs davon überzeugt, daß die gesetzliche Einführung des „nationalen Minimums" auch nicht eine Benachteiligung der englischen Industrie gegenüber den ausländischen Konkurrenten i m Exportgeschäft zur Folge hätte, da das gewonnene Maß an Effizienz und Produktivität die gestiegenen Kosten der Produktion wettmache. Die anvisierte Sozialgesetzgebung führe lediglich zu einer gesunden Selektion solcher Güter, die w i r k l i c h exportfähig seien, w e i l sie Vorteile gegenüber der ausländischen Produktion besäßen; dagegen würden die unrentablen Exportgeschäfte, die mittelbar — durch notwendig werdende äquivalente Importgeschäfte — nur andere heimische Industrien schädigten, zwangsläufig vom Export abgehalten werden 3 8 . Ein Hauptziel der Politik des „nationalen Minimums" war die Vernichtung des wirtschaftlichen Parasitentums, insbesondere i n Gestalt des Hungerlohngewerbes („sweating industries"); dieses war durch die Niedriglöhne und schlechten Arbeitsbedingungen i n der Lage, das gesamte industrielle Niveau der Nation zu senken. W i r d der wirtschaftlichen Konkurrenz — so erklärten die Webbs i n Einlassung auf die sozialdarwinistische Diskussion ihrer Zeit — ungehinderter Lauf gelassen, so führe dies nicht notwendig zum Überleben der „Fittesten", sondern zum Wachstum des parasitären Gewerbes auf Kosten der höheren wirtschaftlichen Entwicklungsarten. Eine solchermaßen unkontrollierte Evolution konnte i n ihren Augen i n eine Degeneration der gesamten menschlichen Gesellschaft münden 3 9 . Demgegenüber stellten die Webbs m i t dem Hinweis auf die Evolutionstheorie Spencers fest, daß durch die staatlich bewirkte Ausschaltung des Parasitentums und die minimale Sicherung eines gesunden sozialen Lebens der Kampf ums Dasein die Gestalt einer sich fortentwickelnden „funktionalen Anpassung" annehme 40 . Jede Schicht der Arbeiterklasse — Analoges galt auch für die Unternehmer — versuche, zur „funktionalen Anpassung" ihre Position durch Verbesserung ihrer fachlichen Qualitäten zu halten bzw. sich durch größere technische Spezialisierung soweit wie möglich von der nicht-spezialisierten und ungelernten Arbeit, welche lediglich den Minimallohn erhalte, zu entfernen, u m so i n den Genuß einer entsprechenden „Vorzugsrente" zu kommen 4 1 . Je mehr durch die Politik des „nationalen Minimums" die technische Ausbildung gefördert werde, 38 Webb, S. u. Β . : Die englischen Gewerkvereine nach ihrem v o l k s w i r t schaftlichen Wert, i n : A r c h i v f ü r soziale Gesetzgebung u n d Statistik, 1897, S. 347 ff. u n d Webb, Β.: The Economics of Factory Legislation, i n : Webb, B. et al.: Socialism and National M i n i m u m , S. 19 ff. 39 Webb, S. u. B.: I n d u s t r i a l Democracy, S. 752. 40 Ebenda, S. 790 f. 41 Webb, S. u. B.: Die englischen Gewerkvereine nach ihrem v o l k s w i r t schaftlichen Wert, i n : Archiv f ü r soziale Gesetzgebung u n d Statistik, 1897, S. 363 f.
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und je weiter sich die Wirtschaft spezialisiere, desto besser könne die Auswahl der „Fittesten", also die „funktionale Anpassung" auf der je höheren Ebene, vonstatten gehen. A l l e i n ein solchermaßen staatlich eingegrenzter und kontrollierter „Kampf ums Dasein" bewirkte nach Ansicht der Webbs eine Evolution als Fortschritt i m Sinne der technischen Höherentwicklung und Effizienzsteigerung der Industrie. Das wichtigste Anliegen der Webbschen Politik des „nationalen Minimums" war es, die „Degeneration" der Menschen und den industriellen Niedergang der Nation aufzuhalten. Z u verhindern galt, daß „ t h e entire nation would, generation by generation, steadily degrade i n character and industrial efficiency" 4 2 .
Es war also nicht nur das technisch-industrielle Produktionsniveau, welches durch eine rationale Sozialpolitik angehoben werden mußte, sondern auch der „national character", die physische und moralische Konstitution der Menschen 43 . Schon i m Zusammenhang m i t den Londoner Sozialuntersuchungen von Charles Booth hatte Beatrice Webb festgestellt, i n welchem Ausmaß das Übel der Gelegenheitsarbeit nicht nur ökonomische Unsicherheiten und soziale Not, sondern auch unmoralische Lebensgewohnheiten hervorbrachte 44 . Moralische Degeneration von einzelnen konnte i n den Augen von B. Webb auch auf die ganze Gemeinschaft übergreifen. So sollte über die Förderung der Rechtschaffenheit i m Arbeitsleben („industrial righteousness"), d.h. Regelmäßigkeit, Selbstkontrolle, Vertrauenswürdigkeit und technisches Geschick 45 , auch auf das Privatleben der Arbeiter Einfluß genommen werden. Rationale Fabrikdisziplin konnte also einen moralischen Schliff der Lebensgewohnheiten bewirken: „Habits of regularity, punctuality, self-control, and even good manners learnt i n a well-regulated factory, sooner or later become customary i n the home 4 6 ."
So war selbst die ganz und gar rational angelegte Sozialpolitik der Webbs, insbesondere i n der Akzentsetzung von Beatrice Webb, nicht frei von einer paternalistischen Haltung, die — wie i m Fall vieler karitativer Organisationen — soziale Unterstützungsmaßnahmen an die Annahme des bürgerlichen Moralstandards durch die Arbeiter koppelte. Sozialpolitik w a r auch, wie dies später die Armenrechtsreformpläne der Webbs noch stärker hervorkehrten, M i t t e l zur charakterlichen 42
Webb, S. u. Β.: I n d u s t r i a l Democracy, S. 752. Ebenda, S. 766. 44 Potter (Webb), Β . : The Dock L i f e of East London, i n : The Nineteenth Century, Okt. 1887, S. 494—499. 45 Webb, Β . : The Economics of Factory Legislation, i n : Webb, B. et al.: Socialism and National M i n i m u m , S. 32. 48 Ebenda, S. 32. 43
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Disziplinierung der einzelnen, soweit sie i m Interesse des ganzen Sozialorganismus geboten schien 47 . Letzter Bezugspunkt der rationalen Sozialpolitik der Webbs war die „efficiency of the race" 4 8 . Wollte die englische Zivilisation nicht durch tiefer stehende Formen des Soziallebens niedergerungen werden, wollte sie der „Degenerierung und dem Verfall" entkommen, so verkündeten die Webbs, mußte der Boden des Sozialorganismus durch die rationale Organisation des „nationalen Minimums" befestigt werden 4 9 . 3. Ideologie und Programm der „nationalen Effizienz" a) Neue Wertsetzungen und neue politische Verbündete der Fabier: Effizienz versus Liberalismus War hinter den Webbschen Reformentwürfen der 90er Jahre schon immer das Anliegen der industriellen Effizienz der ganzen Nation durchgeschienen, so wurde i n der Öffentlichkeit die Politik des „nationalen Minimums" doch vor allem als Plan zur Verbesserung der konkreten Lage der Arbeiter präsentiert. U m die Jahrhundertwende, als der Burenkrieg seine Schatten auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen zu werfen begann, verschoben sich auch bei den führenden Fabiern die Akzente. I n den Vordergrund rückte nun die von Webb sogenannte „Politik der nationalen Effizienz", zu deren Gunsten den Interessen der Arbeiterklasse nur noch instrumenteller Charakter zugemessen wurde. Die der Sozialismus- bzw. Arbeiterbewegung spezifischen Ideen wurden jetzt ganz zurückgedrängt. I n dieser Phase, die etwa bis zum Abschluß der Kampagne zur Armenrechtsreform i m Jahre 1911 andauerte, propagierte man eine vermeintlich unideologische Politik der Rationalisierung aller Lebensbereiche nach dem Gesichtspunkt „nationaler Effizienz", welche i n ihren Grundannahmen schon immer i m Denken der führenden Fabier angelegt gewesen war. I m Zuge der „Politik der nationalen Effizienz" trat bei den Fabiern die aggressive Haltung gegenüber dem organisierten Liberalismus, die Verachtung der Werte der „liberalen Zivilisation" überhaupt, immer offener zutage. Prägnantesten Ausdruck fand die neue Akzentsetzung i n einem aufsehenerregenden A r t i k e l Sidney Webbs i n der Zeitschrift „Nineteenth Century" vom September 1901 m i t dem Titel: „ L o r d Rosebery's Escape from Houndsditch" 5 0 . Dieser Beitrag gebietet hier als 47
Dazu unten S. 262 f. Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb) 1911, S. 9. 49 Webb , Β . : The Economics of Factory Legislation, i n : Webb, B. et al.: Socialism and National M i n i m u m , S. 43. 48
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eine A r t P r o g r a m m s c h r i f t d e r englischen „ E f f i z i e n z - B e w e g u n g " besondere A u f m e r k s a m k e i t . A l s seinen A n k n ü p f u n g s p u n k t g r i f f sich S i d n e y W e b b die F i g u r L o r d Roseberys heraus, des k u r z z e i t i g e n u n d e r f o l g losen P r e m i e r m i n i s t e r s der L i b e r a l e n (1894—95), der besonders i n d e n ersten b e i d e n J a h r e n des n e u e n J a h r h u n d e r t s f ü r seine A t t a c k e n gegen d e n L i b e r a l i s m u s Gladstonescher P r ä g u n g u n d seine ü b e r p a r t e i l i c h e n Sammlungsversuche unter der Parole „ i m p e r i a l e r " bzw. „nationaler Effizienz" breite öffentliche A u f m e r k s a m k e i t e r h i e l t 5 1 . Webb begann m i t e i n e r A b r e c h n u n g der T r a d i t i o n des L i b e r a l i s m u s : „ . . . the political force of this old liberalism is spent. D u r i n g the last t w e n t y years its aspirations and its watch-words, its ideas of daily life and its conceptions of the universe, have become increasingly distasteful to the ordinary citizen as he renews his y o u t h f r o m generation to generation. Its worship of individualism evokes no enthusiasm. Its reliance on ,freed o m of contract 4 and »supply and demand', w i t h its corresponding ,voluntaryism' i n religion and phüanthropy, now seems to w o r k out disastrously for the masses, w h o are too poor to have w h a t the economists call an ,effective demand' for even the m i n i m u m conditions of physical and ment a l health necessary to national well-being. Of a l l this the rising generations of voters are deadly tired, and liberalism has collapsed i n consequence" 5 2 . D e n G r u n d f ü r d e n desolaten Z u s t a n d der l i b e r a l e n P a r t e i u n d die v e r b r e i t e t e A b n e i g u n g gegen die G e d a n k e n des „ G l a d s t o n i a n i s m u s " sah W e b b i n der g r u n d l e g e n d e n l i b e r a l e n V e r f e h l u n g des „ p r o g r e s s i v e n I n s t i n k t s des 20. J a h r h u n d e r t s " 6 3 . D i e E n g l ä n d e r seien i n d e n l e t z t e n 20 oder 30 J a h r e n e i n neues V o l k g e w o r d e n . Das f r ü h v i k t o r i a n i s c h e E n g l a n d läge e f f e k t i v bereits J a h r h u n d e r t e z u r ü c k . D e r d u r c h s c h n i t t liche W ä h l e r , ob A r b e i t e r oder F a b r i k a n t , k l e i n e r K r ä m e r oder K a u f m a n n , habe sein Interesse a n i n d i v i d u e l l e n „ R e c h t e n " oder a b s t r a k t e r „ G l e i c h h e i t " , p o l i t i s c h e r oder r e l i g i ö s e r N a t u r , v e r l o r e n : „The freedom t h a t he now wants is not i n d i v i d u a l but corporate freedom — freedom for his Trade Union to bargain collectively, freedom for his 50 I n : Nineteenth Century, Sept. 1901 (Bd. 50), S. 366—386. Jene Zeitschrift wurde i n den folgenden Jahren zum inoffiziellen Organ der „Effizienz-Bewegung". Z u r Resonanz des A r t i k e l s : Webb, Β . : Our Partnership, S. 224; eine leicht gekürzte Form veröffentlichte die Fabian Society als Fabian Tract Nr. 108: Twentieth Century Politics: A Policy of National Efficiency (S. Webb) 1901. 51 I n einer berühmt gewordenen Rede vor dem „ C i t y L i b e r a l Club" am 19. J u l i 1901 hatte Rosebery scharf seine Distanz zur offiziellen liberalen Parteiführung zum Ausdruck gebracht u n d von den Liberalen einen „reinen Tisch" („clean slate") hinsichtlich der Gladstoneschen Prinzipien sowie des „Newcastle Programmes" gefordert; dazu Matthew, H. C. G.: The Liberal Imperialists", S. 71. 52 Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape, i n : Nineteenth Century 1901, S. 367 u. Fabian Tract Nr. 108: Twentieth Century Politics, S. 2. 58 Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape, S. 368.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
co-operative society to buy and sell and manufacture, freedom for his m u n i c i p a l i t y to supply a l l the common needs of the town, freedom, above all, f r o m the n a r r o w insularity which keeps his nation backing, ,on p r i n ciple 4 , out of its proper place i n the comity of the world. I n short, the opening of the t w e n t i e t h century finds us all, to the dismay of the oldfashioned Individualist, ,thinking i n communities' 5 4 ."
Es war dieses zuletzt genannte schwache nationale Auftreten i n der Welt, die mangelnde imperiale Organisation und das insulare Bewußtsein der liberalen Politiker, was i n den Augen Webbs die Masse der Bürger am meisten abstieß. Nicht mehr für die Arbeiterklasse, sondern für diese „millions of citizens . . . quietly pursuing their ordinary business", für diese „unpolitical citizens" trat Webb bezeichnenderweise als Fürsprecher auf 5 5 . Sie waren nach seiner Ansicht zu Recht nicht an Ideologien oder politischen Idealen interessiert, wie noch die liberale Partei; für diese bedeutete jedwede Reform nicht einfach M i t t e l zu einem sozialen Zweck, sondern immer gleich eine „Kampagne von Gut gegen Böse". Selbst die Konservativen, die keine abstrakten Prinzipien besäßen, seien i n dieser Hinsicht i n der Vorhand 5 6 . Dem durchschnittlichen Bürger gehe es dagegen zu Recht um nichts weiter als die nationale Leistungsfähigkeit Englands: „They are not t h i n k i n g of Liberalism. W h a t is i n their mindis is a burning feeling of shame at the »failure 4 of England — shame for the lack of capaci t y of its governors, shame for the i n a b i l i t y of Parliament to get through even its routine business, shame for the absence of g r i p and resourcefulness of our statesmen, shame for the pompous inefficiency of every branch of our public administration, shame for the slackness of our merchants and traders that transfers our commercial supremacy to the U n i t e d States, shame for the supdness w h i c h looks on unmoved at the continued degradation of our race b y drunkenness and gambling, slum life, and a l l the horrors of the sweated trades, as rampant today i n a l l our great centres of population as they were w h e n officially revealed fifteen years ago 5 7 ."
Dem Eintreten S. Webbs für eine „policy of National Efficiency", die die traditionelle Parteipolitik sprengen und das Ende aller Ideologie bedeuten sollte, entsprach die vollständige Leugnung früherer sozialistischer Ideale der Fabier; Webb ging i n seiner Abschwörung vom Sozialismus sogar so weit, die sozialistischen Führer Englands als „administrative Nihilisten" zu bezeichnen, was alle Bereiche außerhalb von Industrie und Lokalverwaltung, also besonders die Frage des Empires anbetreffe 58 . Eine „Politik der nationalen Effizienz" hätte i n Form und 54 55 56 57 58
Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,
S. 369. S. 374 u. 375. S. 370 u. 372. S. 375. S. 374.
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Inhalt dagegen die Erstellung eines „comprehensive and definite programme" zur Voraussetzung 59 . Webb skizzierte folgende Programmatik 6 0 : Zwecks Heranziehens einer imperialen Rasse („to insure the rearing of an Imperial race") befürwortete er die staatliche Garantie des „nationalen Minimums" i m A r beitsbereich; weitgehende Verantwortlichkeiten der Lokalverwaltungen für örtliche Wohnbedingungen, sanitäre Einrichtungen und das Gesundheitswesen 61 ; Verbesserungen von Verwaltungsstruktur und öffentlicher Finanzverfassung durch zentralstaatliche Beihilfen für die lokale Selbstverwaltung („grants i n aid"); Reformen des Armenrechts zur menschlichen Behandlung der Alten, zur wissenschaftlich optimalen Versorgung der Kranken, vor allem aber zum bestmöglichen Großziehen der „children of the State"; die Errichtung eines umfassenden öffentlichen Erziehungssystems vom Kindergarten bis zur Universität, insbesondere unter Einschluß von technischen Hochschulen; eine Parlamentsreform zur Effizienzsteigerung der politischen Arbeit; sowie eine Reform des Militärwesens zur Schaffung eines „system of scientific fighting". Zum Abschluß sonderte Webb vier liberale Politiker aus, denen allein er die Erstellung eines derartigen Programms zutraute und die er — kaum verhüllt — zur Allianz m i t den Fabiern und anderen Effizienz-orientierten Kräften aufforderte: Neben Rosebery wurden Asquith, Haidane und Grey genannt, die alle der Gruppe der sogenannten „liberalen Imperialisten" angehörten 62 . Damit hatte Webb eine personelle politische Verbindung offengelegt, die auf informeller Ebene schon seit einiger Zeit Bestand hatte. Es war Shaw gewesen, der Webb zu einer Allianz m i t Rosebery gedrängt hatte, w e i l er glaubte, daß dieser das geeignetste „politische Werkzeug" für den Kollektivismus sei 63 . Als Vermittler hatte der langjährige persönliche Freund der Webbs, Richard B. Haidane gewirkt, der eifrigste Organisator einer neuzugründenden liberal-imperialistischen Partei 6 4 . Die Persönlichkeit von Rosebery, Ex-Premierminister und klas59
Ebenda, S. 375. Ebenda, S. 376—386. 61 Zwecks „ b u i l d i n g u p of the nervous and muscular v i t a l i t y of the race" (ebenda S. 382). 62 Die „liberalen Imperialisten" hatten i n der „ L i b e r a l Imperialist League" bzw. später i n der „ L i b e r a l League" i h r organisatorisches F o r u m u n d standen insbes. während des Burenkrieges i n scharfem Gegensatz zum radikalen bzw. traditionellen Gladstoneschen Flügel der liberalen Partei. 63 Siehe den Brief von G. B. Shaw an S. Webb, 26. J u l i 1901, i n : Laurence, Dan H. (Hrsg.): Bernard Shaw Collected Letters, Bd. I I , S. 230; Shaw w a r es auch, der Webb zum oben behandelten A r t i k e l anregte u n d inhaltliche A n weisungen gab; vgl. den Brief von Shaw an B. Webb, 30. J u l i 1901, ebenda, S. 232—235. 64 Z u Haldane vgl. Spiers , Edward: Haldane: an A r m y Reformer, E d i n burgh 1980. 60
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2. Kap. : Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
sische Verkörperung des reichen Whig-Aristokraten, umgab eine A u r a theatralischer Politik und eine Publizitätswirksamkeit, die nur noch von Joseph Chamberlain erreicht wurde. Bedingt durch sein hohes persönliches Prestige, seine Distanz zur aktuellen Tagespolitik und sein leidenschaftliches Eintreten für das Empire und die nationale Effizienz, konzentrierten sich auf i h n kurzzeitig die Hoffnungen starker konservativer und liberal-imperialistischer Kreise als möglichen Premierminister einer überparteilichen Regierung i n der Stunde nationaler Krise 6 5 . Rosebery nahm durchaus Gedanken des nun führenden Effizienz-Theoretikers Webb auf, u m sie politisch, etwa i n der berühmten Chesterfield-Rede, umzumünzen 6 6 . Rosebery fand nicht nur für Webb lobende Worte, sondern auch für Shaw — wegen seines Fabier-Manifests zum Empire 6 7 . Praktisch unterstützte Rosebery durch die Annahme des Präsidentenamtes der „London School of Economics" und durch finanzielle Beihilfen sogar Webbs Erziehungspolitik, insbesondere auf dem Feld der Reform technischer Ausbildung 6 8 . Doch trotz der von Haidane organisierten Zusammenkünfte auf Salonebene 69 , trotz M i t arbeit Webbs i n der von Rosebery präsidierten „Liberal League", hegte Rosebery gegenüber den Webbs, die er aus seinem Engagement i n der „Progressiven Partei" Londons kannte, ein gewisses Mißtrauen; so kam es tatsächlich nicht zu der von den Webbs und Shaw offenbar gewünschten intensiven Zusammenarbeit m i t Rosebery 70 . Roseberys politisches Taktieren blieb undurchsichtig, so daß auch die Webbs bald i h r Vertrauen i n ihn verloren. Immerhin hatten i h m die Webbs noch die Aufgabe zugetraut, die Kräfte des Gladstoneschen Liberalismus zu zerschlagen, u m den Weg für den fabischen Kollektivsmus zu ebnen; dagegen verband sie m i t den Führern des anderen liberalen Flügels keinerlei politische Übereinstimmung mehr, sie konnten ihnen vielmehr nur noch Verachtung entgegenbringen 71 . I n der Öffentlichkeit trug die von Haidane i n die Welt gesetzte Legende einer kommenden politischen Allianz Webb — Rosebery jedoch ihre Früchte, so daß der radikalliberale Parteiführer und scharfe Gegner der „liberalen Imperialisten" Campbell-Bannerman — und m i t i h m viele Liberale — Sidney Webb als den eigentlichen Hintermann von Roseberys Effizienz-Kampagnen 65
Vgl. dazu Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 108 ff. Vgl. Matthew , H. C. G.: The Liberal Imperialists, S. 79 ff. 67 Webb, B.: Our Partnership, S. 224 u. S. 203. 68 Dazu näher unten S. 252 f. 69 Scally, Robert J. (The Origins of the L l o y d George Coalition. The P o l i tics of Social-Imperialism 1900—1918, Princeton 1975) f ü h r t die Verbindung Rosebery — Fabier i r r i g auf die I n i t i a t i v e Roseberys zurück (statt Haldanes) u n d überschätzt ihre politische W i r k u n g (S. 38). 70 Webb, Β . : Our Partnership, S. 198 u n d Searle , G. R.: The Quest for N a tional Efficiency, S. 123. 71 Webb, B.: Our Partnership, S. 220 u. 228. 66
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ansehen konnte 7 2 . M i t dem Ende des Burenkriegs und der Wiederformierung der alten Parteigegensätze waren auch Roseberys kurzzeitige Chancen als nationaler Führer in der Krise dahin. Enger und dauerhafter jedoch war die Beziehung der Webbs zu den übrigen „liberalen Imperialisten". Haldane auf der einen Seite war bestrebt, Sidney Webb als liberal-imperialistischen Parlamentskandidaten zu gewinnen 7 3 . Webb seinerseits fand sich zumindest bereit, seine Sympathie für die „liberalen Imperialisten" öffentlich durch die Teilnahme am berühmten „Asquith-Dinner" i m J u l i 1901 zu dokumentieren, mit welchem die liberal-imperialistischen Parlamentsabgeordneten u m Asquith, Haldane und Grey ihre Frontstellung und fraktionelle Eigenständigkeit gegenüber der liberalen Parteiführung und deren A n t i Kriegspolitik demonstrierten 74 . Darüber hinaus nahm Sidney Webb aktiven Anteil an den organisatorischen und propagandistischen Tätigkeiten der liberal-imperialistischen „Liberal League" 7 5 . Obwohl die Webbs weitaus geringere politische Übereinstimmung m i t Asquith und Grey als mit Haldane verband, und obwohl sie an den „liberalen Imperialisten" insgesamt mangelnde Führungsfähigkeit und fehlenden W i l len zu einer konsequenten kollektivistischen Programmpolitik beklagten 7 6 , hielten sie diese dennoch für die potentiell empfänglichsten Objekte der fabischen kollektivistischen Reformen. Zumindest wurde den „liberalen Imperialisten" die Zerstörung des negativen, „alten Liberalismus" zugetraut, so daß notwendigerweise eine Lücke für die konstruktiven Programmentwürfe der Fabier entstehen müsse. Die Annäherung an die liberal-imperialistischen Parlamentsabgeordneten um Haldane, Asquith und Grey und der kurzzeitige, hohe Einsatz auf die politische Zukunft Lord Roseberys als dem kommenden Staatsmann i m Dienste eines Programms der „nationalen Effizienz" zeigt klar, wie weit sich die führenden Fabier u m die Webbs zu diesem Zeitpunkt von der sozialistischen und radikalen Tradition Englands entfernt hatten. So ist es nicht verwunderlich, daß die Vertreter des radikalen und des Gladstoneschen Flügels i n der liberalen Partei sowie die libe72 „ A l l that he [Lord Rosebery] said about the clean slate a n d efficiency was an affront to Liberalism and was pure claptrap. Efficiency as a watchword! Who is against it? This is all a mere réchauffé of M r . Sidney Webb, who is evidently the chief instructor of the whole faction." Brief von Campbell-Bannerman an Herbert Gladstone, Sept. 1901, zit. nach: Halévy, Elie: A History of the English People i n the Nineteenth Century, Bd. 5: I m p e rialism and the Rise of Labour, S. 105. 73 Siehe Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 127. 74 Siehe Webb, B.: Our Partnership, S. 218. 75 Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 92. 76 Z. B. Webb, B.: Our Partnership, S. 224 f. u. S. 232.
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ralen Intellektuellen des sog. „New Liberalism", wie J. A. Hobson und L. T. Hobhouse, am schärfsten gegen den Effizienz-Kult und dessen theoretischen Unterbau der Fabier Stellung bezogen. Hobhouse etwa glaubte — stellvertretend für viele radikal-Liberale — in der EffizienzIdeologie eine grundsätzliche Stoßrichtung gegen die liberalen Grundsätze des „responsible government", gegen die individuellen Rechte der Menschen und gegen den ethischen Gehalt des Liberalismus entlarven zu können 7 7 . Voraussetzung einer „Politik der nationalen Effizienz", so hatte S, Webb seinen grundlegenden A r t i k e l zur Effizienz-Idee beschlossen, war die geistige Fähigkeit, ein umfassendes Programm zu entwerfen 7 8 . Als einen Versuch, diese Aufgabe durch eine A r t „Brain Trust" von Effizienz-Experten zu lösen, kann die Tätigkeit der sog. „Co-Efficients" betrachtet werden, eines informellen Kreises bedeutender Persönlichkeiten, den die Webbs vom Dezember 1902 an u m sich scharten. Wenn man den Schilderungen einiger Teilnehmer sowie jüngeren Bewertungen einiger Historiker Glauben schenkt, dann sollte dieses, sich als DinnerK l u b formierende Forum in der Planung der Webbs die geistige und personelle Grundlage für eine neuzugründende Partei der „nationalen Effizienz" bilden 7 9 . So sehr eine derartige Parteigründung für die kurze Zeit der Krisensituation des Burenkriegs tatsächlich Gegenstand politischer Spekulation gewesen sein mag und durchaus i m Rahmen des geistig-politischen Horizonts der Webbs dieser Zeit gelegen haben 77
Vgl. dazu bes. Freeden, M.: The N e w Liberalism, S. 177 ff. Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape, i n : Nineteenth Century 1901, S. 386. 79 Siehe vor allem Amery, L. S.: M y Political Life, London 1953, Bd. I, S. 223 (entnommen aus: Semmel, Β.: Imperialism and Social Reform. English Social-Imperial Thought 1895—1914, London 1960, S. 75). Semmel (S. 72 ff.) u n d R. S. Scally (The Origins of the L l o y d George Coalition, S. 73 ff.) messen den „Co-Efficients" diese große Bedeutung als Pflanzschule oder sogar Schattenkabinett einer neuen politischen K r a f t bei. Vgl. auch MacKenzie, N. u. J.: The First Fabians, S. 291 f., vorsichtiger Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 151. H. G. Wells schildert i n seinem politischen Roman „The New Machiavelli" ([1911] Harmondsworth 1966, S. 254—269) die Diskussionen dieses Kreises unter dem Namen „Pentagram Circle", vgl. bes. S. 264 ff. über die Themen Demokratie (die S. Webb alias O. Bailey als bloße Fassade für eine tatsächliche Beamtenherrschaft bezeichnet), über Zollreform u n d die Frage eines bevorstehenden internationalen Krieges. Die Webbs äußerten sich zu einer anvisierten Parteigründung nie explizit. Der A r t i k e l S. Webbs „Rosebery's Escape" jedoch endet m i t einer A r t Sammlungsaufruf f ü r alle Kräfte, die einer Effizienzsteigerung des nationalen Lebens P r i o r i t ä t einräumen wollen (S. 386). Siehe dazu auch Shaws zeitweilige Befürwortung eines offensichtlich auf H. G. Wells zurückgehenden Vorschlags zur Gründung einer „Fabian Parliamentary Party", die — unabhängig von der Labour Part y — als A n t w o r t gedacht w a r auf „a big middle class demand for an educated middle class handling of the new problems i n parliament". B r i e f von G. B. Shaw an S. Webb, 25.11.1906, i n : Laurence, Dan H. (Hrsg.): Bernard Shaw Collected Letters, Bd. I I , S. 662. 78
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konnte, so politisch unrealistisch war eine Parteiengründung unter diesen Vorzeichen bereits 1902/1903 geworden. I n jedem Fall kam der Kreis der „Co-Efficients" zu keiner Zeit über die informelle Diskussionsebene hinaus und war i m engen Sinne politisch folgenlos 80 . Wenn er dennoch Aufmerksamkeit verdient, dann vor allem deshalb, um die politischen Verbündeten und das geistige Umfeld der führenden Fabier zu erhellen und die Wirkungsweise des fabischen Denkens aufzuzeigen. Der Kreis der „Co-Efficients", der von B. Webb angeregt und m i t Namen versehen worden war, sollte i n den Worten Sidney Webbs „the aims, policy and methods of Imperial Efficiency at home and abroad" zum Gegenstand seiner Diskussionen haben 8 1 . Er war als „geistiger Generalstab" der Effizienzbewegung angelegt und enthielt Experten, die jeweils für ein Fachgebiet zuständig waren. Die Mitglieder waren grob drei politischen Lagern zuzuordnen: den „liberalen Imperialisten" unter der Flagge Roseberys, den konservativen Imperialisten aus dem Kreis Chamberlains oder Milners sowie den Fabiern. Neben S. Webb als Experten für Fragen der Lokalpolitik sowie Haldane und Grey als Experten für das Rechtswesen bzw. die Außenpolitik nahmen an der Runde folgende Persönlichkeiten teil: H. J. MacKinder, Geograph der Universität Oxford und ab 1903 Direktor der „London School of Economics" (LSE), war zuständig für Fragen von Geopolitik und Empire; L. S. Amery, ehemals Mitbegründer der Oxford Fabian Society, „Times"-Militärkorrespondent während des Burenkriegs sowie Freund und Schüler von Milner, war Militärexperte; Clinton Dawkins, einst hoher Beamter i n der Kolonialverwaltung, dann Bankier bei Morgan, war der Finanzfachmann der Gruppe; W. A . S. Hewins, Ökonom und erster Direktor der LSE, dann Zollreformer um Chamberlain, war W i r t schaftsexperte; Bertrand Russell war zuständig für die Wissenschaften (schied aber alsbald wegen seiner antiimperialistischen Haltung und Differenzen i n Fragen der europäischen Außenpolitik Englands aus) 8 2 ; Pember Reeves, Fabier u n d Generalagent der neuseeländischen Regierung i n London sowie ab 1908 dritter Direktor der LSE, war Fachmann für Kolonialangelegenheiten; Leo Maxse, Herausgeber des „National Review" und bekannt für seine panisch germanophobe Haltung, war der Verantwortliche für das Pressewesen; Carlyon Bellairs, ehemals Marineoffizier und Verfasser von Presseartikeln zu Marinefragen, besonders für die „Times", war auf ebendiesem Gebiet auch Experte der „Co-Efficients"; H . G . Wells, Science-fiction-Autor u n d 1903 von den 80
So auch Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 167 A n m . 1. Brief von S. Webb an H. G. Wells, 12. 9.1902, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 170. 82 Vgl. den Brief von B. Webb an B. Russell, M a i 1903, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 185. 81
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Webbs als aktives Mitglied für die Fabian Society gewonnen und dort bis zum Bruch 1908 prägende Persönlichkeit, war zuständig für Literatur. Die „Co-Efficients" vermochten die Erwartungen der Webbs hinsichtlich einer detaillierten Programmdiskussion nicht zu erfüllen. Denn schon bald gerieten sie i n das Fahrwasser der von Joseph Chamberlain i m Mai 1903 gestarteten Zollreform-Kampagne und ließen sich auf prinzipiengeladene Debatten u m den Wert des Empires ein. Die Zollfrage zerstörte also nicht nur auf nationaler Ebene die Möglichkeit einer Allianz von Unionisten, „liberalen Imperialisten" und fabischen Sozialisten zur Formung einer politischen K r a f t unter der Parole „nationaler Effizienz", sondern verurteilte auch die Treffen der „CoEfficients", die sich unregelmäßig noch bis 1908 hinzogen, zur politischen Unwirksamkeit 8 3 . Bald begann auch die Mitgliederzusammensetzung stark zu wechseln; unter den neu hinzustoßenden bzw. gelegentlich teilnehmenden Persönlichkeiten sind als die bedeutendsten zu nennen: J. J. Garvin, konservativer Journalist und Zollreformer, ab 1908 Herausgeber des „Observer"; Alfred Milner, bis 1905 englischer Hochkommissar i n Südafrika und der eigentliche Initiator des Burenkrieges 8 4 ; dessen Freund und politischer Anhänger Henry Birchenough, Präsident der Südafrika-Gesellschaft; A r t h u r Balfour, 1902—1905 konservativer Premierminister und besonders m i t B. Webb gut bekannt; sowie G. B. Shaw. Standen die führenden Fabier auch nicht m i t jeder dieser Persönlichkeiten i n enger Verbindung, so konstituierten diese insgesamt doch wesentlich i h r politisches Umfeld i m ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Die Fabier selbst wiederum waren durch ihr Vehikel der „Co-Efficients" i n der Lage, wenn auch nicht die politische Parteienlandschaft, so doch die Sprache und die Gehalte der geistig-politischen Auseinandersetzungen i m Edwardianischen England mitzuverändern. 83 Die Meinungsverschiedenheiten i n der Frage Freihandel versus Z o l l reform gingen quer durch die Führung der Fabier. Shaw hatte protektionistische Symphatien, Webb w a r Verfechter des Freihandels; selbst die Webbs untereinander schienen sich hier ausnahmsweise uneinig, denn B. Webb neigte, ζ. T. w o h l aus alter Anhänglichkeit zu J. Camberlain, der Z o l l reform zu. Das offizielle fabische Traktat „Fabianism and the Fiscal Quest i o n " (Fabian Tract Nr. 116, 1904) w a r ein von Shaw verfaßtes K o m p r o m i ß papier, welches sowohl die Freihandelspolitik der Liberalen als auch Chamberlains Zollpläne geißelte. Dennoch w a r es ζ. B. f ü r Graham Wallas Anlaß genug, sich aus der Fabian Society zurückzuziehen, nachdem er sich schon i n der Effizienz-Kampagne sowie i n der Imperialismus-Frage u n d der Erziehungspolitik von der offiziellen P o l i t i k der Fabier entfernt hatte. M Vgl. auch die spätere, sehr aufschlußreiche Lobpreisung des konservat i v e n Imperialisten M i l n e r durch den von den Fabiern gegründeten „New Statesman"; M i l n e r w i r d bei seinen Bemühungen u m ein starkes Empire i n die Nähe sozialistischer Reform i n der I n n e n p o l i t i k gerückt. I n : The New Statesman, 17. 5.1913 (Bd. 1), S. 167—169.
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Daher erscheint es sinnvoll, die Haltung der Fabier i n den Werten und politischen Konzeptionen der gesamten englischen „Effizienz-Bewegung", die von dem Historiker G. R. Searle jüngst i n ihrer übergreifenden geistigen und politischen Wirkung herauspräpariert wurde, zu spiegeln 8 5 . M i t der Bereitschaft zur politischen Fundamentalkritik, die durch die Schlappe des Burenkriegs angeregt wurde, und m i t der Abwendung von den Werten des englischen Liberalismus korrespondierte die Hochschätzung andersartiger politischer Systeme. Deutschland nahm dabei bei den Vertretern der „Effizienz-Bewegung" stets eine Sonderstellung ein. Einerseits war Preußen-Deutschland geradezu die Metapher für Geist und Organisation nationaler Effizienz, andererseits wurde es als Bedrohung und militärischer Feind Nummer Eins in einer verbreitet für möglich gehaltenen baldigen Auseinandersetzung der Großmächte betrachtet 86 . So standen beispielsweise die „liberalen Imperialisten" den Bemühungen des Kolonialministers Joseph Chamberlain ab 1898, ein imperialistisches deutsch-englisches Machtbündnis zustande zu bringen, überwiegend skeptisch gegenüber 87 . Auch i n Presse und Literatur w u r den die Warnungen vor der Bedrohung Deutschlands während der Edwardianischen Zeit immer lauter 8 8 . Doch diese weitverbreitete Aversion gegenüber dem Deutschen Reich als der größten äußeren Gefahr für England und das Empire ist zu trennen von der Orientierung vieler Anhänger der „Effizienz-Bewegung" an der inneren Verfaßtheit des Leitbildes Preußen-Deutschland i n sozialen und wirtschaftlichen Fragen, insbesondere aber auf dem Gebiet des M i l i t ä r - und Bildungswesens. 85 Vgl. Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency. A Study i n B r i t i s h Politics and Political Thought 1899—1914, Berkeley and Los Angeles 1971. Die „Co-Efficients stellten das w o h l wichtigste geschlossene Personenkontingent für die „Effizienz-Bewegung", die ihre Bedeutsamkeit jenseits traditioneller Parteigrenzen entfaltete. 8e Auch auf den Tagungen der „Co-Efficients" w a r die deutsche außenpolitische Bedrohung offenbar ein wichtiger Gegenstand der Diskussion; siehe Wells, H. G.: The N e w Machiavelli, S. 265—267. 87 Der entschiedenste Gegner einer außenpolitischen A l l i a n z unter ihnen w a r Grey, aber auch A s q u i t h äußerte sich streng ablehnend zur außenpolitischen Annäherung gegenüber Deutschland, als der Hauptbedrohung englischer Interessen, während der stark anti-französische Rosebery zwar i m Gegensatz zur Mehrzahl aller Liberalen eine englisch-französische Entente verurteilte, aber auch einer Allianz m i t Deutschland negativ gegenüberstand; selbst der deutschfreundliche Haldane zog eine englisch-französische V e r ständigung vor. Siehe Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 203— 215. 88 Symptom dafür w a r das deutliche Ansteigen einer eigenständigen identifizierbaren Gattung der „Invasdonsgeschichten", die — meist i m Bereich der T r i v i a l l i t e r a t u r — fast ausschließlich Deutschland als k a u m verschlüsselten Aggressor ausmachten; vgl. dazu Hynes, S.: The Edwardian T u r n of Mind, S. 34—59; siehe besonders H. G. Wells Roman: The War i n the A i r (1908), m i t den Deutschen als Invasoren.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Niemals diente beispielsweise das außenpolitisch näherstehende Frankreich als Modell innerer Reformen. Deutschland w a r für Rosebery „above all, a systematic nation . . . a scientific nation", dessen ökonomischer Aufstieg vor allem auf das Erziehungssystem, i m besonderen auf das System der technischen Ausbildung zurückzuführen sei — ein Produkt von „German system and science" 89 . Der wichtigste Anhänger deutscher Geistestradition und deutscher Organisation war der germanophile R. B. Haidane. Haidane setzte bei den von i h m vorangetriebenen Reformbemühungen i m M i l i tär- und Erziehungswesen, vor allem i m Bereich der Universitäten und technischen Hochschulen, auf die Nachahmungsfähigkeit des deutschen Modells, doch seine Bewunderung für Deutschland erstreckte sich auch auf die idealistische Philosophie und deren Staatsbegriff. Deutschlands Entwicklung i m 19. Jahrhundert bedeutete für i h n „perhaps the most remarkable case of organisation based on culture", wobei er nicht nur die idealistische Unterordnung des einzelnen unter die Ziele des Staates, sondern generell die Unterstellung des praktischen Handelns unter die Maxime von Geist und Wissenschaft als Voraussetzung einer Organisation des sozialen Lebens, die Herrschaft des „organising spirit" also, zum Vorbild nahm 9 0 . Auch die führenden Fabier hielten Deutschland für die „better organized nation" 9 1 . Die Webbschen Erziehungsreformen sind nicht ohne das deutsche Vorbild zu denken, und auch ihre sozialpolitischen Entwürfe, ζ. B. hinsichtlich der Organisation von Arbeitslosen, wuchsen teilweise auf deutschen Erfahrungen 9 2 . Der französische Historiker Elie Halévy, ein persönlicher Freund der Webbs, schrieb über ihre starke Orientierung am System von Preußen-Deutschland: „They were influenced by the success attained i n Germany by Bismarckian ideas and by the w o r l d - w i d e prestige of the Bismarckian state 9 3 ."
Angesichts einer offensichtlichen Affinität der Webbs zum etatistischen Modell deutscher Sozialorganisation ist es verwunderlich, daß sie — 89 Rosebery i n Epsom u. Colchester, i n : The Times, 25. Jul. u. 21. Okt. 1896, zit. nach: Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 228. 90 Haidane, R. B.: Universities and National L i f e (1910), S. 74 ff., zit. nach: Hollenberg, G.: Englisches Interesse am Kaiserreich, S. 257. 91 Shaw, G. B. (Hrsg.): Fabianism and the Empire. A Manifesto by the Fabian Society, London 1900, S. 7; vgl. auch den Vortrag „Social Evolution and the Fiscal Question" des „Sozialdarwinisten" Benjamin Kidd vor der Fabian Society: „Progress is now amongst the organised peoples. That is w h y Germany has made such astonishing advances: her people are organised from top to bottom." I n : Fabian News, Jun. 1904 (Bd. 14), S. 22. 92 Vgl. dagegen jedoch die Webbsche K r i t i k an der Übernahme des deutschen Versicherungssystems unten S. 267 f. 93 Halévy, E.: The Era of Tyrannies. Essays on Socialism and War, L o n don 1967, S. 124, siehe auch S. 144.
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nach dem Kenntnisstand des Verfassers — über vereinzelte Anmerkungen hinaus* 4 keine zusammenhängende schriftliche Äußerung über ihre Sicht Deutschlands hinterließen. Dies u m so mehr, als Sidney Webb m i t den deutschen Verhältnissen genauestens vertraut gewesen sein muß 9 5 : Er verfügte über einige gute persönliche Kontakte nach Deutschland, etwa zu dem „Kathedersozialisten" L u j o Brentano, so daß beispielsweise Webbs Schützling W i l l i a m Beveridge bei seinen Sozialuntersuchungen i m Jahre 1907 durch Webbs Name und Empfehlung sämtliche für die Sozialpolitik bedeutsamen amtlichen Stellen für sich offen fand 9 6 . Zudem hatte Webb i n Gestalt seines Freundes Haldane die beste Verbindung zum wichtigsten englischen Deutschlandkenner 97 . Symptomatisch für die Abwendung von den Werten des liberalen England war auch eine unter einigen Anhängern der „Effizienz-Bewegung" sich ausbreitende Bewunderung für Japan, vor allem nach dessen Sieg über das zaristische Rußland i m Jahre 1904/1905. Rosebery etwa schrieb eine Lobpreisung an Japan als Vorwort zu einem Buch m i t dem bezeichnenden Titel „Great Japan: A Study of National Efficiency" 9 8 , während H. G. Wells in seinem Werk „ A Modern Utopia" die herbeigesehnte asketische Herrscherklasse als „Order of the Samurai" verherrlichte 9 9 . Beatrice Webb nahm den Ausgang des japanisch-russischen Krieges, den auch sie als Triumph des kollektivistischen Prinzips über eine dekadente laissez faire-Ordnung deutete, zum Anlaß, die japanische K u l t u r mit der englischen zu vergleichen. Den japanischen Kriegserfolg schrieb sie der Überlegenheit der intellektuellen phy94 Beatrice Webb bspw. hob i n ihrem Tagebuch die „magnificent elements i n the German state" hervor, äußerte sich bewundernd über „public spirit and scientific intelligence" der deutschen Herrschaftselite, diie der englischen w e i t überlegen sei, geißelte aber hinsichtlich der Weltpolitik gleichzeitig „the sheer b r u t a l d e v i l r y of the German w o r l d purpose"; i n : Diaries 1912—1924, S. 115 u. 117 (7. u. 20. März 1918). 95 Durch einen zweijährigen Schulaufenthalt i n Deutschland w a r S. Webb der deutschen Sprache mächtig geworden und w a r bspw. m i t den von i h m hochgeschätzten Werken Goethes u n d Hegels vertraut. 96 Siehe Harris, José: W i l l i a m Beveridge. A Biography, Oxford 1977, S. 134 f. A u f Vorschlag ihres guten Bekannten L u j o Brentano erhielten die Webbs i m Jahre 1926 einen Ehrengrad der Universität München; siehe den Brief von S. Webb an L. Brentano, 27.11.1926, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I I , S. 276. 97 Haldane w a r neben Shaw der einzige enge lebenslange Freund von S. Webb; siehe Webb, Β . : Our Partnership, S. 9. 98 I n : Stead, Α.: Great Japan: A Study of National Efficiency, London 1905 (entnommen aus: Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 58). 99 A M o d e m Utopia (1905), Wells Works Bd. 9, London 1925, S.229ff.; vgl. auch Webb, S.: Our Partnership, S. 305, wo Wells zitiert w i r d , w i e er — dieses Buch den Webbs überbringend — i n Anspielung auf i h r Ideal einer asketischen Herrschaftselite bemerkt: „ T h e chapters on the Samurai w i l l pander to all your worst instincts."
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
sischen und moralischen Konstitution des ganzen Volkes zu, welche auch eine Herausforderung für die westliche Zivilisation bedeute: „They seem both more scientific and more religious than ourselves — a nobler purpose and more ably contrived processes w h e r e w i t h to carry out this purpose. Their success w i l l alter not merely the balance of power, but the balance of ideas — i t w i l l t e l l against Christianity as the one religion, against materialistic individualism, against autocracy, against l u x u r y , i n favour of organisation, collective regulation, scientific education, physical and mental t r a i n i n g — but on the whole not i n favour of democracy. They have suddenly raised the standard of international efficiency — exactly i n those departments of life where we Western nations imagined ourselves supremely superior to the Eastern races 1 0 0 ."
Der Reformer i n der englischen Gesellschaft könne — so Beatrice Webb — den japanischen Kollektivismus als Erfolgsbeweis seiner Sache verbuchen. Ebenfalls unter dem Eindruck des militärischen Erfolges Japans drückte der Physiker Oliver Lodge, ein guter Bekannter der Webbs, in einem Fabian Tract seine Bewunderung für den Geist des japanischen Kollektivismus aus: „Witness the magnificent spectacle of Japan to-day: the State above the i n d i v i d u a l ; common good above personal good; sacrifice of self and devotion to the community; these great qualities, on which every nation has risen to glory, were never displayed more brightly, i n the history of the w o r l d than n o w before our eyes. I t is a nation which is saturated and i n fused w i t h public spirit, the spirit of the race, enthusiasm for the comm u n i t y and welfare of humanity. This is the spirit which elevates cities; i t is this which makes a nationality; i t is this which some day w i l l renovate m a n k i n d 1 0 1 . "
Die frühe Hochschätzung der Webbs für die japanische Rasse und die Organisation ihres Staates fand Bestätigung während einer Reise i n den fernen Osten i m Jahre 1911/1912. Anschließend hoben sie i n mehreren englischen Zeitungsartikeln das japanische Volk ganz besonders positiv von anderen, i n ihren Augen niedergehenden Rassen des Ostens ab. Es w a r nicht nur die eigentümliche japanische Kombination von hartem physischen D r i l l m i t geistiger Disziplin, die Fähigkeit, „mental perturbation" sofort unter Kontrolle zu bringen, die die Webbs faszinierte 1 0 2 . Ihre Bewunderung galt vor allem der vorbildhaften Herrschaft einer professionellen Elite, einer Expertenbürokratie, die mit großer Hingabe — und i n allen Landesteilen einheitlich — i m Dienst der Öffentlichkeit regierte 1 0 3 . 100
Ebenda S. 299. Fabian Tract Nr. 121: Public Service versus Private Expenditure, (Sir Oliver Lodge) 1905, S. 10 f. 102 Webb , Β . : The Soul of Japan, i n : The New Statesman, L i t e r a r y Supplement, 12. 4.1913 (Bd. 1), S. X I I I . 101
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Wenn die Anhänger der „Effizienz-Bewegung" auf die Tugenden fremder Völker hinwiesen, dann ging damit immer die Besorgnis um die rassische Degeneration Englands einher. Der Begriff „Rasse" war i m allgemeinen Sprachgebrauch zu Anfang des Jahrhunderts überwiegend nicht ideologisch-sozialdarwinistisch besetzt, sondern wurde meist als Synonym für „Nation", „Gemeinschaft" oder „Gesellschaft" verwandt; „Rasse" bezeichnete speziell die physische Verfaßtheit eines Volkes unter sozialhygienischen Aspekten 1 0 4 . Der Burenkrieg hatte enthüllt, daß ein großer Teil der Kriegsfreiwilligen, i n einzelnen Arbeiterstädten bis zu zwei Dritteln, für den Militärdienst körperlich untauglich war. Die Veröffentlichung eines Regierungsberichts zum Gegenstand physischer Degeneration i n England i m Jahre 1904 löste i n Politik und Öffentlichkeit alarmierte, zuweilen panische Reaktionen aus 1 0 5 . I n diesem geistigen K l i m a erhielten auch solche Strömungen besonderen Auftrieb, die — wie etwa die Eugenik-Bewegung — die Sozialhygiene und physische Konstitution des Volkes durch biologische Eingriffe verbessern w o l l t e n 1 0 6 . Einige Effizienz-Befürworter sahen eine Lösung in der Einführung der allgemeinen Militärpflicht nach deutschem Muster, die den jungen Arbeitern aus den Slums die notwendige Ernährung und körperliche Ausbildung angedeihen lassen und eine allgemeine Disziplinierung der Lebensgewohnheiten zur Folge haben w ü r d e 1 0 7 . Die Fabier machten bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt den ungewöhnlichen Vorschlag, eine Zivilarmee zu errichten: Durch Halbierung der Arbeitszeit aller Jugendlichen unter 21 Jahren sollte die notwendige Zeit für körperliche Ertüchtigung, technische Ausbildung, Staatsbürgerkunde und Geländeausbildung i m Gebrauch moderner Waffen geschaffen werden. Der gewünschte Disziplinierungseffekt ließ sich demnach auch ohne Zwang erreichen: „No payment beyond a supper would be needed to make the drills popular 1 0 8 ." Was die sozialen Reformvorstellungen der „Effizienz-Bewegung" anging, war es die „racial efficiency" i m engeren Sinne der gesunden, „fitten" physischen Konstitution des Volkes, welche das entscheidende K r i t e r i u m abgab. Beatrice Webb hatte zwar über die „liberalen Imperia103 Vgl. Webb , S. u. Β . : The Social Crisis i n Japan, i n : The Crusade, Jan. 1912 (Bd. 3), S. 2—4 u. 17—19; u n d Webb , S. u. B.: China i n Revolution, i n : The Crusade, März 1912 (Bd. 3), S. 43—44 u. S. 53—55. 104 Z u m Sprachgebrauch u n d zur Diskussion u m rassische Degeneration siehe Searle , G. R.: Eugenics and Politics i n B r i t a i n 1900—1914, Leyden 1976, S. 39 u. S. 20 ff. 105 Bericht des „Inter-Departmental Committee on Physical Deterioration" (1904). 106 Dazu unten S. 242 ff. 107 Vgl. Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 65 f. 108 Shaw, G. B. (Hrsg.): Fabianism and the Empire, London 1900, S. 41. Der Vorschlag w a r bereits ein Jahr zuvor von den Webbs i n einem Leserbrief an die „Times" unterbreitet worden.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
listen" gesagt, daß sie nicht nur Imperialisten, sondern auch Kollektivisten seien 1 0 9 , doch tatsächlich verfügten diese ebensowenig wie die konservativen „Effizienz-Anhänger" über ein systematisches Programm sozialer Reform, wie es von Sidney Webb immer wieder gefordert worden war. Ein soziales Reformanliegen m i t Überlegungen zu legislativen Initiativen war bei den „liberalen Imperialisten" nur in der Frage der Temperenzreform und der Verbesserung der Wohnbedingungen vorhanden. Darüber hinaus verbanden sie m i t sozialer Reform hauptsächlich die Verbesserung des Erziehungswesens und den Aufbau eines technischen Ausbildungssektors 110 . Die Erziehungs- und Ausbildungsreform, die besonders von Haidane und Rosebery vorangetrieben wurde, bedeutete für sie fast ausschließlich Hochschulreform; sie w a r direkt auf das Ziel der Anhebung von Englands sinkender Industrie- und Handelsposition bezogen. Es war dies das Feld fruchtbarster Zusammenarbeit zwischen „liberalen Imperialisten" und dem Fabier S. Webb, der i m Londoner Erziehungs- und Bildungsbereich bereits Pionierarbeit geleistet hatte. Von der mageren sozialpolitischen Konzeption der meisten „Effizienz-Anhänger" hob sich die umfassende Programmatik der Fabier deutlich ab. Doch auch der fabische Leitfaden sozialer Reformpolitik war i m Prinzip zuvörderst die „national" bzw. „racial efficiency". Zwar dehnten die Fabier das Konzept des „nationalen Minimums" auf immer weitere Sozialbereiche aus, wie etwa auf die Gesundheits- und Altersfürsorge, das Wohnungs- und Erziehungswesen; i m Rahmen der „Royal Commission on the Poor L a w " legten sie auch Entwürfe zu Fragen von Arbeitslosigkeit bzw. Sozialversicherung vor. Doch entscheidend war die Reformperspektive: nicht zuerst um der sozialen Gerechtigkeit willen, also aus ethisch-humanitären Beweggründen, auch nicht zur Befriedigung von Interessen der Arbeiterklasse, also vom Klassenstandpunkt her motiviert, sondern zwecks Steigerung der industriellen Effizienz der Nation wurde die Sozialpolitik für die Fabier zur Notwendigkeit. Das „nationale Minimum", so erklärte S. Webb unmißverständlich i n seinem programmatischen Effizienz-Aufsatz, sei „imperatively required, not merely, or even m a i n l y for the comfort of the workers, but absolutely for the success of our industry i n competition w i t h the w o r l d " 1 1 1 .
Aus diesem Blickwinkel war A r m u t und soziales Elend nicht vor allem ungerecht, sondern zuallererst effizienzmindernd. Wie es G. K. Chester109
Webb , Β . : Our Partnership, S. 104. Vgl. Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 228—242. 111 Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape, i n : Nineteenth Century 1901, S. 376; siehe auch Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, S. 7. 110
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ton von Shaw sagte, stieß die englische Gesellschaft die Fabier nicht ab, weil sie ihnen als ein „unrighteous kingdom", sondern als ein „untidy room" erschien 112 . Zum wichtigsten Anliegen der „Effizienz-Reformer" gehörte eine grundlegende Überholung der Verwaltungs- und Gesetzgebungsmaschinerie i m englischen Regierungssystem. Den Reformern stach beispielsweise das verbreitete, geschichtlich gewachsene Gefüge von lokalen, selbständigen ad hoc-Behörden als Hindernis für eine rationale Verwaltung ins Auge 1 1 3 . Der Fabier H. G. Wells wartete mit dem Vorschlag auf, die traditionellen lokalen Verwaltungsgrenzen durch große wissenschaftlich konstruierte Einheiten zu ersetzen, u m den Platz für große einheitliche Verwaltungsbehörden zu bereiten 1 1 4 . M i t der Forderung nach administrativer Effizienz ging bei den Reformern i n der Regel eine Abneigung gegen das traditionelle Amateurideal i n der Verwaltung einher. Rosebery, der Präsident der „Administrative Reform Association" war, machte sich für die Einführung von „business"-Methoden i n der Verwaltung s t a r k 1 1 5 . Besonders kräftig wurde die Forderung nach Professionalisierung des gesamten Regierungs- und Verwaltungssystems, nach verstärktem Einsatz von wissenschaftlich geschulten Experten i m öffentlichen Leben, von S. Webb und H. G. Wells vertreten 1 1 6 . Dabei bezogen die „Effizienz-Reformer" vor allem Stellung gegen die Vorherrschaft des restriktiven Schatzamtes, welches noch i n Gladstoneschem Liberalismus und überkommener Finanzorthodoxie befangen war. Es sollte Aufgabe der „London School of Economics" werden, das notwendige Maß an wissenschaftlichem Expertenverstand i n Regierung und Verwaltung hineinzutragen. Auch das Parlament galt es durch ein verbessertes Ausschußsystem und eine vermehrte Delegation von Verantwortlichkeiten an die Lokalverwaltung für eine gesteigerte Aufgabenerfüllung zu befähigen. M i t der Befürwortung einer stärkeren Herrschaft der Experten ging bei annähernd allen „Effizienz-Reformen" eine Abneigung gegen die Parteipolitik der Massendemokratie einher. Gleichsam stellvertretend erklärte Rosebery: „The fact is that party is an evil . . . Its operation blights efficiency" 1 1 7 . 112
S. 82. 113
Chesterton ,
Gilbert K . : George Bernhard Shaw (1909), London 1925,
Dazu unten näheres S. 247 f. Siehe den Bericht von Wells Vortrag v o r der Fabian Society m i t dem Thema: „The Question of Scientific Administrative Areas i n Relation to M u n i c i p a l Undertakings", i n : Fabian News, A p r i l 1903 (Bd. 13), S. 13—14. 115 Siehe Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 257. 116 Vgl. dazu ausführlich unten S. 271 ff. 117 I n : Stead , Α.: Great Japan. A Study of National Efficiency, zit. nach: Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 93. 114
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Der Effizienz-Kult hatte i n seiner K r i t i k am liberalen Regierungssystem Englands zuweilen autoritäre Untertöne 1 1 8 . Bei den meisten „Effizienz-Reformern" war der letzte Bezugspunkt die Vorherrschaft des englischen Empire. Die Haltung der führenden Fabier war gleichfalls imperialistisch, doch unterschied sie sich in ihren Beweggründen und ihrer Stoßrichtung von der der traditionellen englischen Imperialisten. b) Effizienz nach außen: Die Fabier und der Imperialismus Schon frühzeitig hatte S. Webb „sozialdarwinistisch" anmutende Gedanken vorgetragen. Die Begründung für eine auf Kooperation beruhende kollektivistische Gesellschaftsorganisation i m Inneren sollte aus dem Überlebenskampf der staatlichen Sozialorganismen i m Äußeren hergeleitet werden 1 1 9 . Dieser „externe Sozialdarwinismus" war jedoch von Webb vorwiegend aus Opportunitätsgründen vorgetragen worden, da er die modische biologische Evolutionsdiskussion für das fabische Anliegen der Sozialreform nutzbar machen wollte. Daraus hatte sich aber kein wirkliches Interesse für die großen internationalen Auseinandersetzungen der Staaten entwickelt. I m Gegenteil, die führenden Fabier betrachteten Fragen des Empire und der Außenpolitik stets als unerheblich für die wirtschaftliche und soziale Lage i m Inneren Englands; sie witterten i n den großen Diskussionen u m die imperiale Polit i k — etwa i n der die ganze englische Politik bestimmenden Problemat i k irischer Selbstbestimmung — lediglich Manöver zur Ablenkung von sozialen Fragen. M i t dem Burenkrieg, der ebenfalls innenpolitische Diskussionen der ganzen Nation entfachte, ließ sich diese gleichgültige Haltung nicht mehr aufrechterhalten. Noch i m Oktober 1899 hatte Shaw davor gewarnt, die Fabian Society durch eine offizielle Stellungnahme zum frisch ausgebrochenen Krieg zu spalten, da es sich bei dieser Angelegenheit um „a non-socialist point of policy" handele 1 2 0 . Doch die bald innerhalb der fabischen Mitgliedschaft aufbrechenden Diskussionen zwangen die führenden Fabier, Position zu beziehen. Die Auseinandersetzung m i t der englischen äußeren Politik anläßlich des Burenkrieges hatte für das Denken der Fabier zwei Folgen: Z u m ersten kristallisierte sich nun ein fabisches Anliegen um die institutionelle, soziale Organisation des Empires heraus; und 118 Vgl. bes. zu Roseberys H a l t u n g Matthew, H. C. G.: The L i b e r a l Imperialists, S. 146. 119 Vgl. Webb, S.: The Basis of Socialism: Historic, i n : Fabian Essays, S. 53 f. u n d ders.: Rome: A Sermon i n Sociology, i n : Our Corner, Aug. 1888, S. 87—89. 120 Brief von G. B. Shaw an E. Pease, 30. 10.1899, i n Laurence, Dan H. (Hrsg.): Bernhard Shaw Collected Letters, Bd. I I , S. 115.
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zum zweiten verstärkte sich die Besorgnis um die „national" bzw. „racial efficiency" Englands i m internationalen Vergleich. Zwar war die „nationale Effizienz" auch i n den 90er Jahren schon der Bezugspunkt fabischer Sozialreform gewesen, doch nun bildeten sich „sozialdarwinistische" Ideen heraus, die über die rein gesellschaftshygienischen Gesichtspunkte der sozialen Umweltreform i m Inneren hinausgingen. Jetzt erhielten zuweilen auch rassenanthropologische Bewertungskriterien für die Politik der Fabier Bedeutung. Zweck war nicht mehr nur die effizienteste Sozialorganisation Englands, sondern die Behauptung der höherwertigen Gesellschaftstypen i m internationalen Bereich. Damit war eine weitere Begründung für die Sozialreform i m Inneren gefunden. Die direkte Konfrontation der Fabian-Society mit der ImperialismusProblematik hatte bereits 1898 begonnen, als der erste Direktor der LSE, W. A. S. Hewins, einen Vortrag m i t dem Titel „Imperial Policy i n Relation to the Social Question" hielt. Einer kriegerischen, machtstaatlichen Version des Imperialismus stellte er eine erstrebenswerte Form gegenüber, welche von Pflichterfüllung zu den Kolonien getragen sei: „ I m p e r i a l i s m w o u l d be the basis of a wise policy. I t means efficiency i n all classes; it means men i n place of money 1 2 1 ."
Hewins sprach sich für staatliche statt private Wirtschaftsbeziehungen zum Empire aus und betonte i n sozialimperialistischer Manier, daß i m Interesse der imperialen Stellung Englands die inneren Arbeitskonflikte zwischen Unternehmern und Gewerkschaften einer staatlichen Regelung Platz machen müßten. Folgen für die Politik der Fabian-Society zeitigte jedoch erst der Ausbruch des Burenkriegs: Noch bevor eine Vortragsreihe zu Problemen des Empires begonnen werden konnte 1 2 2 , brach anläßlich eines Mitglieds-Antrags, eine fabische Sympathieerklärung für die Buren abzugeben, eine lebhafte Diskussion u m den englischen Imperialismus aus 1 2 3 . Die fabische Haltung zum Imperialismus war i n jüngerer Zeit häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, wurde jedoch insbeson121 Fabian News, Dez. 1898 (Bd. 8), S. 37. Hewins w a r nicht M i t g l i e d der Fabian Society. 122 Diese wurde ebenfalls von Hewins m i t einem Vortrag über „Foreign Trade and Foreign Politics" eröffnet, Fabian News, Nov. 1899 (Bd. 9), S. 33. 123 Die fabische F ü h r u n g w o l l t e zuerst jede Stellungnahme zum Burenkrieg verhindern, was nach knapper B i l l i g u n g durch die Mitgliedschaft zum A u s t r i t t einiger sog. „ P r o - B u r e n " führte, unter ihnen Ramsey MacDonald. Auch W i l l i a m Clarke w a r ein Gegner des Burenkriegs. Dennoch sah sich die fabische F ü h r u n g durch die Welle nationaler Diskussion zur Einlassung auf die Imperialismus-Frage genötigt, was zu dem von Shaw verfaßten FabierManifest „Fabianism and the Empire" aus dem Jahre 1900 führte; zum ganzen A b l a u f Pease, E.: The History of the Fabian Society, S. 128—138.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
dere wegen der unterschiedlichen Bedeutungszuweisung des Begriffs „Imperialismus" nicht immer i m richtigen Licht gesehen 124 . Auch i n der hitzigen innenpolitischen Atmosphäre des Burenkriegs wurden die Fabier sowohl von Sozialisten als auch i n der nicht-sozialistischen Öffentlichkeit alsbald als „Jingoes" eingestuft. Tatsächlich akzeptierten die führenden Fabier das englische Empire als notwendige Gegebenheit, setzten sich aber für eine Reform seiner Verwaltung ein. Prinzipiell begrüßten sie die imperialen Organisationsformen als Rationalisierungsfortschritte i m Weltmaßstab, verteidigten aber niemals die konkreten Handlungen der englischen Politik, die zum Krieg geführt hatten und verabscheuten auch die kriegerischen Auseinandersetzungen selbst 1 2 5 . Sie stimmten deshalb niemals i n den Chor chauvinistischer Verherrlichungen des englischen Empire ein, sondern betrachteten es lediglich unter dem Aspekt einer höheren Form der Sozialorganisation. Bereits i m November 1899 stellte Frederick Whelen, der auf der Seite der Fabierführung stand, i n einem Vortrag vor der Fabian Society die „Ideale des 17. Jahrhunderts der Buren" den „Anforderungen des 19. Jahrhunderts der Briten" gegenüber: da es einmal zum kriegerischen K o n f l i k t der beiden Zivilisationsstufen gekommen sei, werde die Annektion der niedriger stehenden Burenrepubliken unumgänglich 1 2 6 . Ebenfalls i n einem Vortrag der Fabian Society führte Shaw drei Monate später erstmals die spezifisch fabische Bedeutung des ImperialismusBegriffes vor: Der Britische Imperialismus enthalte ein neues Element, das i h n verteidigenswert mache: „What, then, is the new element that has produced the change? Clearly, the application of Socialism to current politics — i n other words, the w o r k of the Fabian Society."
Die alte individualistische Freiheitskonzeption in Staat und Wirtschaft sei abgelöst worden durch die Prinzipien des Fabier-Sozialismus, als die Shaw nannte: „a sense of the supreme importance of the Duties of the Community, w i t h State Organisation, Efficient Government, I n d u s t r i a l C i v i l Service, Regu124 Vgl. bes. McBriar, A. M.: Fabian Socialism and English Politics, S. 119— 130; Porter , Bernard: Critics of Empire. B r i t i s h Radical Attitudes to Colonianism i n Africa 1895—1914, London 1968, S. 109—123; Schneider , Fred D.: Fabians and the U t i l i t a r i a n Idea of the Empire, i n : Review of Politics 1973 (Bd. 25), S. 501—522. — Μ . E. verzerrende Darstellungen geben Semmel, B.: Imperialism and Social Reform, S. 27, 64—72 u. 140 sowie Halévy , E.: A History of the English People i n the 19th Century, Bd. 5: Imperialism and the Rise of Labour, S. 105. 125 Z. B. Webb, B.: Our Partnership, S. 218. ΐ2β England müsse allerdings — so Whelen — die Nationalisierung der M i n e n u n d die Errichtung der Selbstregierung folgen lassen; siehe Fabian News, Dez. 1899 (Bd. 9), S. 38 f.
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lation of all private enterprise i n the common interest, and dissolution of Frontiers through international industrial organization" 1 2 7 .
Die Organisation des englischen Empire war nach Shaw also nichts weiter als eine logische Ableitung aus diesen Prinzipien: „For good or evil, i t is we who have made England Imperialist 1 2 8 ." Analog zum Sozialismus i m innergesellschaftlichen Bereich verstand Shaw den Imperialismus als kollektiven Zusammenschluß verschiedener Einzelgemeinschaften zur Organisationsform des Empire, welcher gegenüber der Vielzahl kleiner unabhängiger Staaten zivilisatorische Höherwertigkeit zukam. Imperiale Expansion war für Shaw zu rechtfertigen, nicht weil die Angelsachsen gegenüber einer anderen Rasse sozio-biologisch höherwertig seien, sondern w e i l die entwickelten „great powers" den zivilisatorischen Fortschritt verkörperten: „Expansion must proceed u n t i l the frontiers of civilised States are conterminous 1 2 9 ." I m selben Geiste erklärte Shaw i n dem bekannten offiziellen FabierManifest „Fabianism and the Empire" aus dem Jahre 1900, daß die gesamte Welt von den hochindustrialisierten Großmächten internationalen Ranges geordnet werden müsse: „The p a r t i t i o n of the greater part of the globe among such Powers is, as a matter of fact that must be faced, approvingly or deploringly, now only a question of t i m e " ; „ . . . the fact remains that a Great Power, consciously or unconsciously, must govern i n the interests of civilisation as a w h o l e 1 3 0 . "
Es ist darauf hingewiesen worden, daß Shaw m i t dieser Position analytische Aussagen über die Zivilisationsentwicklung (daß die A u f teilung der Erde unter den Großmächten nur noch eine Frage der Zeit sei) m i t normativen Handlungsmaximen (daß die Welt i m Interesse der Zivilisation durch Großmächte regiert werden müsse) vermenge 1 3 1 . Das war gerade die Ratio der fabischen Argumentation: Staaten, die durch die industrielle Entwicklung, also durch den Geschichtsprozeß anachronistisch würden, wie ζ. B. die kleinen Burenrepubliken, dürften von den großen Staaten annektiert werden, u m die Entwicklung der Z i v i l i sation zu gewährleisten. Shaw geriet jedoch i n Schwierigkeiten, wo nicht die Größe eines Staates auch gleichzeitig seinen Zivilisationsgrad ausmachte (China) und mußte sich i n die These flüchten: „The State which obstructs international civilisation w i l l have to go, be it big or 127 v o r t r a g von Shaw über „Imperialismus", i n : Fabian News, März 1900 (Bd. 10), S. 2. 12β Ebenda S. 2. 129 Ebenda S. 3. 130 Shaw, G. Β . (Hrsg.): Fabianism and the Empire, S. 3 u. 23. 131 Siehe Schneider, F. D.: Fabians and the U t i l i t a r i a n Idea of the Empire, i n : Review of Politics 1973, S. 513.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
l i t t l e 1 3 2 . " Zugrundeliegendes Zivilisationskriterium war die Stufe der industriellen Entwicklung sowie Grad und Effektivität der sozialen Organisation; beides war i n den großen Staaten Europas und Nordamerikas i n fortgeschrittenster Form verwirklicht. Entsprechend bestand das Hauptanliegen des Fabier-Manifests zum Empire nicht etwa in der Förderung des nationalen rassischen oder kulturellen Sendungsbewußtseins Englands, sondern es lag charakteristischerweise auf administrativem Gebiet: Zielrichtung war die „effektive soziale Organisation des ganzen Empires und seine Befreiung vom Kampf der Klassen und privaten Interessen" 1 3 3 . Erster Gegenstand institutioneller Reform sollte die Reorganisation des gesamten staatlichen Konsularwesens nach Kriterien wirtschaftlichen Expertentums sein, u m Handel und nationaler Industrie verbesserte wirtschaftliche Möglichkeiten i m Ausland zu eröffnen. Neben dieser „Anwendung des Sozialismus auf den Außenhandel mittels des Konsularsystems" 1 3 4 galt es, durch die oben erwähnte Armeereform die militärische Effektivität i m Empire zu erhöhen, ohne sich einen „kontinentalen Militarismus" aufzwingen zu lassen 135 . Durch Nationalisierung von Privatunternehmungen in A f r i k a sollten die wirtschaftlichen Ressourcen des Imperiums besser genutzt werden. Die Kolonialverwaltung hatte den einheimischen Völkern i n ihrer Unabhängigkeit so weit wie möglich entgegenzukommen. Neben der Gewährung voller konstitutioneller Rechte und Garantien sollte je nach Reifegrad der Kolonien sogar weitgehende Selbstbestimmung ermöglicht werden 1 3 6 . Auch die sozialpolitischen Sicherungen des „nationalen Minimums" wollte man für die Kolonialbevölkerung gewährleistet wissen 1 ^ 7 . Es w i r d ersichtlich, daß der fabische Imperialismus nicht um die wirtschaftliche Ausbeutung der Ressourcen abhängiger Kolonien kreiste. Der sozialistische Begriff des Imperialismus i n seinen verschiedenen Schattierungen, der i m Anschluß an John A . Hobsons klassische Analyse von 1902 die imperiale Expansion als Ausfluß der kapitalistischen Dynam i k deutete und seither weithin dominierte, kann der Position der Fabier von ihrem Anliegen her nicht gerecht werden. Die Fabier selbst hielten ihrem scharfen K r i t i k e r Hobson 1 3 8 entgegen, daß er nicht zwi132
Shaw, G. B. (Hrsg.): Fabianism and the Empire, S. 46. Ebenda, S. 6. 134 Ebenda S. 10. 135 Ebenda S. 38 ff. 138 I n Kolonien m i t farbigen Einheimischen allerdings seien nicht demokratische Institutionen, sondern eine „bürokratische P o l i t i k " angebracht (ebenda S. 16). 137 Ebenda S. 54. 138 Vgl. Z i β . Hobson, J. Α.: Socialistic Imperialism, i n : International J o u r nal of Ethics, Okt. 1901 (Bd. 12), bes. S. 50 ff. u. S. 57. 133
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sehen der rationalen Sozialorganisation und dem kapitalistischen und national-machtlüsternen „Jingoismus" trenne 1 3 9 . Mehrfach ist auch der heute gängige Begriff des „Sozialimperialismus" auf das Denken der Fabier angewandt worden 1 4 0 . Die Konzeption des „Sozialimperialismus", begriffen als sozialökonomisch motivierte „Herrschaftstechnik, um der Bewahrung des sozialen und politischen Status quo willen die inneren Bewegungskräfte und Spannungen nach außen abzulenken" (Wehler) 1 4 1 , kann, selbst wenn sie weniger auf die Absichten der Führungsschichten, sondern mehr auf die Befriedigung von Arbeiterinteressen mittels w i r t schaftlicher Expansion nach außen abstellt 1 4 2 , die Position der Fabier nicht zutreffend erfassen. Das Anliegen der Fabier bei ihrer Verteidigung des „Imperialismus" w a r die administrative, institutionelle Rationalisierung des Empire, das sie i m Vergleich zu einer kleinstaatlichen Welt als höhere Organisationseinheit des Soziallebens akzeptierten 1 4 3 . Der Imperialismus der Fabier war von seiner Absicht her ein „administrativer Imperialismus". Wenn sich Shaw für „Imperial Statesmanship" aussprach, dann meinte er damit eine aktive und effiziente staatliche Politik, die sich vom Druck der Presse und kapitalistischen Plutokratie zu befreien vermochte. Es ging den Fabiern darum, das seit langer Zeit privatwirtschaftlich getragene „Informal Empire" zu „verstaatlichen", d.h. es den zivilisatorisch höherwertigen Organisationsformen zu unterwerfen, um allen beteiligten Nationen zivilisatorischen Fortschritt zu bringen. Imperialistische Politik sollte nicht das Ventil für inneren sozialen Druck, sondern gerade die logische Erweiterung innerer sozialer Reformen auf internationaler Ebene sein. 139 Siehe die Rezension von Hobsons Buch „Imperialism", i n : Fabian News, Feb. 1903 (Bd. 13), S. 7 f. 140 So m i t einem unscharf gefaßten Begriff von „Sozialimperialismus" bei: Koch, Hansjoachim: Der Sozialdarwinismus. Seine Genese u n d sein Einfluß auf das imperialistische Denken, München 1973, S. 127 ff. Ebenso ungenau, ζ. T. unrichtig die Zuordnung der Fabier i n eine grobschlächtig bestimmte „Politics of Social Imperialism 1900—1918" bei Scally, R. J.: The Origins of the L l o y d George Coalition, Einleitung z.B. S. 7, u. S. 35—47 u. S. 73—95; ebenso Semmel, B.: Imperialism and Social Reform, S. 27 u. 140. Unzutreffend auch die Inhaltsbestimmung u n d Wirkungseinschätzung des fabischen Imperialismus-Manifests bei Kluxen, K u r t : Geschichte Englands, 2. A u f l . Stuttgart 1976, S. 667. 141 Wehler, Hans-Ulrich: Bismarck u n d der Imperialismus, 4. Aufl. M ü n chen 1976, S. 115. 142 Semmel, B.: Imperialism and Social Reform, S. 24—28. 143 Vgl. zum institutionellen, verwaltungsorganisatorischen Schwerpunkt des fabischen Imperialismus das persönliche Zeugnis von Elie Halévy: „ . . . the t w o Webbs and their friend Bernard Shaw . . . were ostentatiously imperialistic. The independence of small nations could w e l l mean something to believers i n liberal individualism, but not to them, precisely because they were collectivists. I can still hear Sidney Webb explaining to me that the future lay w i t h great administrative nations, where governing was done by the bureaucrats and order was maintained by the policemen". I n : The Era of Tyrannies, S.209.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Der Imperialismus war für die fabische Sozialtheorie nicht konstitutiv, sondern war von ihren Grundannahmen nachträglich abgeleitet worden; auch wurde er von den Fabiern nicht mit Inbrunst verfochten. Die Ereignisse des Burenkriegs hatten sie i n ihrer außenpolitischen Gleichgültigkeit überrascht und ihnen eine Position aufgenötigt, die sie am ehesten i m Einklang m i t den Prinzipien rationaler und effizienter Sozialorganisation wähnten. Ihre imperialistische Stellungnahme war nicht unmittelbarer Ausfluß von „sozialdarwinistischem" Gedankengut gewesen, dem Sidney und Beatrice Webb früher schon sporadisch angehangen hatten, vielmehr war es erst eine Folge des Burenkriegs und der Beschäftigung m i t der Imperialismus-Problematik, daß sich einige Fabier nun verstärkt der Stellung der englischen „Rasse" i n der Welt annahmen 1 4 4 und dabei „sozialdarwinistische" Positionen vertraten. I m Vordergrund stand zumeist der rein sozialhygienische Aspekt der englischen Gesellschaft, zuweilen wurde jedoch auch die Bedrohung der Angelsachsen und ihrer Zivilisation durch fremde Rassen betont. Viele der fabischen Traktate hatten die Sorge u m die physische, aber auch die geistige und moralische Degeneration der englischen Rasse zum Gegenstand 145 . A l l e führenden Fabier beschäftigten sich nun intensiv m i t sozialen, aber z. T. auch biologischen Maßnahmen zur Hebung der „racial efficiency". Einige unter ihnen, z. B. Shaw und Wells, brachten zunächst sogar ihre Zustimmung zu den Prinzipien der Eugenik zum Ausdruck 1 4 6 . Shaw befaßte sich besonders i n seinem künstlerischen 144 v g l . auch dje Vortragsreihe der Fabian Society ab Herbst 1903 m i t dem generellen Thema: „The Biological Aspects of Progress"; gehalten w u r d e n u. a. die Vorträge: „Neo-Darwinism (Weismannism) and Modern Social Questions" (F. W. Headley), „Alcoholism and Race Progress" (E. Pease), „Socialism, Civilisation and the Survival of the Fittest" (F. Montague), „Racial Degeneration" (J. B. Atkins), „Social Evolution and the Fiscal Problem" (B. Kidd), siehe: Fabian News, Nov. 1903—Jun. 1904 (Bd. 13 u. 14). 145 Z. B. Fabian Tract Nr. 120: A f t e r Bread, Education (H. Bland), 1905, bes. S. 2—7 u. S. 12; Nr. 127: Socialism and Labour Policy (H. Bland, Hrsg.), 1906, bes. S. 12; Nr. 128: The Case for a Legal M i n i m u m Wage (S. Sanders), 1906, S. 2—3, 5, 12; Nr. 130: Home Work and Sweating (B. L. Hutchins), 1907, S. 16 u. 18; Nr. 131: The Decline of the B i r t h - r a t e (S. Webb), 1907, S. 17—19; Nr. 140: C h i l d Labour under Capitalism (H. Dale), 1908, S. 8, 17, 19; Nr. 149: The Endowment of Motherhood (H. D. Karben), 1910, S. 9; Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911. 146 Anlaß w a r ein Vortrag von Francis Galton, dem eigentlichen Begründer der Eugenik, vor einem bedeutenden A u d i t o r i u m der Soziologischen Gesellschaft, wo er die Prinzipien dieser neuen Disziplin vorführte; Galton, F.: Eugenics: Its Definition, Scope and Aims, i n : Sociological Papers, 1904 (Bd. 1), S. 45—51. Wells äußerte sich zustimmend (ebenda, S. 58—60), Shaw enthusiastisch: „ . . . n o t h i n g but a eugenic religion can save our civilisation from the fate that has overtaken all previous civilisations" (ebenda S. 74). Die Eugenik-Bewegung fand nach Galtons Tod i n K a r l Pearson ihren geistigen K o p f u n d formierte sich i n der „Eugenic Education Society": sie forderte Maßnahmen zur „ A u f a r t u n g " des Erbgutes, w i e die (freiwillige) Ausstellung
I V . Die P o l i t i k der „nationalen Effizienz"
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W e r k i n t e n s i v m i t d e m G e d a n k e n der biologischen Z ü c h t u n g eines h ö h e r w e r t i g e n M e n s c h e n t y p u s , o h n e daß dies j e d o c h u n m i t t e l b a r e R ü c k w i r k u n g e n a u f die T h e o r i e des F a b i e r - S o z i a l i s m u s h a t t e 1 4 7 . I m F a l l e H . G . W e l l s ' w a r jedoch die T h e m a t i k d e r menschlichen Z ü c h t u n g z e n t r a l f ü r das S o z i a l i s m u s - V e r s t ä n d n i s 1 4 8 . N e b e n F o r t p f l a n z u n g s h e m m nissen f ü r N i c h t - „ F i t t e " f o r d e r t e er als p o s i t i v e ö f f e n t l i c h e M a ß n a h m e i m m e r w i e d e r , daß der S t a a t d i e v o l l e m a t e r i e l l e V e r a n t w o r t u n g f ü r die M u t t e r s c h a f t t r a g e n müsse { „ e n d o w m e n t s of m o t h e r h o o d " ) . D i e M u t t e r s c h a f t w a r f ü r i h n e i n ö f f e n t l i c h e r D i e n s t , so daß d e m S t a a t als „ O v e r p a r e n t " eine G e w ä h r l e i s t u n g s p f l i c h t f ü r die b e s t m ö g l i c h e A u f zucht der Menschen z u k a m . A u c h S. W e b b u n d die F a b i e r m a c h t e n die F o r d e r u n g n a c h staatlicher F i n a n z i e r u n g der M u t t e r s c h a f t z u e i n e m E c k s t e i n i h r e r S o z i a l p o l i t i k 1 4 9 . Die ebenfalls b e i d e n F a b i e r n zugrundeliegende V o r s t e l l u n g v o m Staat als „ O v e r p a r e n t " w a r m i t a n d e r e n A k z e n t e n auch v o n d e m E u g e n i k e r von Heiratszertifikaten, die finanzielle Unterstützung derjenigen Eltern, deren Nachkommenschaft allgemein erwünscht war, ζ. T. auch Sterilisation und Gewahrsam („custodial care") f ü r geistig u n d körperlich „ U n f i t t e " ; vgl. zur Eugenik-Bewegung die Monographie von Searle , G. R. : Eugenics and Politics i n B r i t a i n 1900—1914, Leyden 1976. Shaw w a r einmal sogar als Vortragsredner f ü r die „Eugenic Education Society" t ä t i g gewesen; sein Vorschlag, eine allgemeine Gleichheit aller Einkommen einzuführen, u m die sozialen Hindernisse f ü r die biologisch günstigste Partnerwahl u n d Fortpflanzung zu beseitigen, stieß jedoch bei den Eugenikern auf wenig Gegenliebe (siehe Searle , G. R.: Eugenics and Politics, S. 14 u. 58). I m übrigen w a r auch H a r o l d Laski v o r 1914 ein überzeugender Anhänger der Eugenik (ebenda S. 13). 147 Vgl. z . B . das dramatische W e r k „ M a n a n d Superman" (1903), insbes. das Vorwort. B. Webb äußerte i n einer lobenden Stellungnahme zu diesem Stück, daß das Thema der menschlichen Züchtung „the most important of a l l questions" sei, w e n n auch noch nicht reif f ü r die Zeit. (Our Partnership, S. 257, siehe auch S. 83). Shaws eigenwillige eugenische Vorschläge, die sich gegen die traditionellen Eheschließungsbedingungen richteten, stießen bei vielen Eugenikern auf moralische Bedenken. Shaw hatte z. B. anläßlich Galtons Vortrag vor der soziologischen Gesellschaft erklärt: „ W h a t we need is freedom for people who have never seen each other before and never intend to see one another again to produce children under certain definite public conditions, w i t h o u t loss of honour." I n : Sociological Papers, 1904 (Bd. 1), S. 75. 148 Vgl. ζ. Β . Wells Schrift: New Worlds for Old, London 1908; u. ders.: The Endowment of Motherhood (1912) (Wells Works, Bd. 18), S. 399 ff.; siehe Hyde, W i l l i a m J.: The Socialism of H. G. Wells i n the early Twentieth Century, i n : Journal of the History of Ideas, 1956 (Bd. 17), S. 220 ff. Wells w a r zuweilen auch nicht frei von rassistischen Ideen. 149 Fabian Tract Nr. 131: The Decline i n the B i r t h - r a t e (S. Webb) 1907, S. 19 und Fabian Tract Nr. 149: The Endowment of Motherhood (H. D. Harben), 1910; die humanitäre Komponente w i r d betont v o n dem fabischen Mediziner McCleary, G. F.: The State as Over-Parent, i n : A l b a n y Review 1907 (Bd. 2), S. 46—59; vgl. dagegen Fabian Tract Nr. 175: The Economic Foundations of the Women's Movement (Mabel Atkinson) 1914, S. 24: „Woman, too, must be citizens and f u l l y conscious of the privileges and duties of their citizenship if socialism is to be attained. Not at least among the duties of that citizenship should be w h a t Plato long ago demanded of his women guardians: — that they should bear children for the service of the State." 16*
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
K a r l Pearson verfochten worden 1 ** 0 . I n den Augen Webbs mußte die „Erzeugung von gesunden, moralischen und intelligenten Bürgern" als „sozialer Dienst" aufgefaßt und vom Staat gefördert werden 1 5 1 . Webb äußerte sich besorgt über das Abfallen der Geburtenrate i n den w i r t schaftlich vorsorgenden und verantwortungsbewußt handelnden Bevölkerungsschichten bei gleichzeitigem Ansteigen der Rate i n den geistig, physisch und moralisch niedrigsten Schichten. Er beschwor die Gefahr von „degeneration of type — that is, race deterioration, if not race suicide" 1 5 2 . Deutlich zeigten sich i n diesem Zusammenhang auch die Niederschläge des „sozialdarwinistischen" Gedankenguts, welches die Bedrohung der höherstehenden angelsächsischen Rasse vor fremden, niedrigeren Rassen zum Gegenstand hatte: „ T w e n t y - f i v e per cent, of our parents, as Professor K a r l Pearson keeps w a r n i n g us, is producing 50 per cent, of the next generation. This can hardly result i n anything but national deterioration; or, as an alternative, i n this country gradually falling to the I r i s h and the Jews. Finally, there are signs t h a t even these races are becoming influenced. The ultimate future of these islands may be to the Chinese 1 5 3 !"
Bei der Verhinderung des „rassischen Selbstmordes" setzten die Fabier jedoch — trotz vereinzelter Berührungspunkte — 1 5 4 i m Ganzen nicht auf die Theorien der Eugenik. Diese stellten zu sehr auf biologische Maßnahmen zur Hebung des Erbgutes ab, orientiert an Mittelund Oberklasse-Maßstäben, und neigten zu stark dazu, weitgehende Sozialreformen als künstliche Begünstigung der Nicht-„Fitten" abzuwehren. Die fabische Akzentsetzung w a r eine andere: Anhebung der „racial efficiency" und Heranziehen einer „imperial race" durch gründliche Sozialreformen zugunsten der untersten Klassen 1 5 5 . Die offizielle fabische Stellungnahme zum Imperialismus war von der Überlegenheit der europäischen und nordamerikanischen Z i v i l i sation gegenüber der Asiens und Afrikas ausgegangen. Nicht das Recht 150
Semmel, B.: Imperialism and Social Reform, S. 47. Fabian Tract Nr. 131: The Decline of the Birth-rate, S. 19. 152 Ebenda, S. 19; siehe auch Β . Webb: Personal Rights and the Women's Movement, T e i l I I : The falling Birth-rate, i n : The N e w Statesman, 11. Jul. 1914 (Bd. 3), S. 429 f. 153 Fabian Tract Nr. 131: The Decline of the B i r t h - r a t e (S. Webb), S. 17. 154 Vgl. S. Webbs auf einem Vortrag v o r der Eugenic Society beruhenden A r t i k e l i n der eugenischen Zeitschrift: Eugenics a n d the Poor L a w : The M i n o r i t y Report, i n : Eugenics Review, Apr. 1910—Jan. 1911 (Bd. 2), S. 233— 241, wo er den Webbschen Minderheitenbericht der königlichen Armenrechtskommission — w o h l vor allem aus taktischen Gründen — als eugenisches Dokument präsentiert (S. 240). iss v g l . die fabische K r i t i k an den Eugenikern: Webb, S. u. Β . : What is Socialism? X I V . Protection for the Child, i n : The N e w Statesman, 12. Jul. 1913 (Bd. 1), S. 430 u n d dies.: The Prevention of· Destitution, London 1912, S. 45 ff.; falsch ist die völlige Vereinnahmung der Fabier f ü r die Eugenik-Bewegung bei Koch, H.: Der Sozialdarwinismus, S. 134. 151
I V . Die P o l i t i k der „nationalen Effizienz"
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der angelsächsischen Rasse, sondern das Recht der großen entwickelten Sozialorganisationen, das Recht der „Great Powers" über die nicht zur effektiven Staatlichkeit fähigen Völker, war begründet worden. Die dann nach dem Burenkrieg hinter den Reformplänen zur Sozialhygiene durchscheinenden Äußerungen über die höherwertige Stellung der englischen Rasse, denen ein „sozialdarwinistisches" Ideengerüst zugrunde lag, dürfen rückblickend i n ihrem rassistischen Gehalt nicht überbewertet werden. Gemessen an den Maßstäben ihrer ed war dianischen Zeitgenossen können die fabischen Äußerungen noch als relativ gemäßigt gelten. Dennoch werfen die zahlreichen, auch privat getätigten Bemerkungen über die niedrigeren Qualitäten anderer Rassen und deren Schutzbedürftigkeit ein bezeichnendes Licht auf die paternalistische, wohlwollend autoritäre Haltung der Fabier i n der Politik. Besonders für Beatrice Webb war der rassische Faktor ein bedeutsames Element in der Politik. Bereits i m Zusammenhang von Booths Sozialuntersuchungen hatte sie einen schlechten Einfluß der jüdischen Einwanderer auf die Sozialverhältnisse i m Londoner Osten konstat i e r t 1 5 6 . Spätere Zeugnisse enthielten schroffe Abwertungen fremder Rassen wie der Juden, Iren und Asiaten 1 5 7 . Die Webbs gingen von Unterschiedlichkeiten i n den moralischen und intellektuellen Qualitäten der verschiedenen Rassen aus, so daß ihnen manche unfähig erschienen, jemals die Stufe der rationalen europäischen Sozialorganisation zu erΐδβ Vgl. Potter (Webb), Β . : East London Labour, i n : Nineteenth Century, Aug. 1888, S. 176 f. u n d dies.: The Jewish Community, i n : Booth, Charles (Hrsg.): Labour and L i f e of the People i n London, Bd. 1, London 1889, S. 586 u. 589. 157 Vgl. etwa den Brief von S. Webb an G. Wallas, 29. 7.1892: „We w i l l t e i l about Ireland when w e come back. The people are charming but we detest them, as we should the Hottentots — for their very virtue. Home Rule is an absolute necessity [the sentence was completed by Beatrice (d. Hrsg.] — i n order to depopulate the country of this detestable race!" I n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I, S. 437; zahlreiche Beispiele auch i n Winter, J. M . : The Webbs and the n o n - w h i t e W o r l d : a Case of socialist Racialism, i n : Journal of Contemporary History, Jan. 1974 (Bd. 9), S. 181—192 ( = ders.: Socialism and the Challenge of War. Ideas and Politics i n B r i t a i n 1912—1918, London 1974, S. 42—50). Z u m V o r w u r f des Antisemitismus bzw. Rassismus der Webbs vgl. die lebhafte Diskussion i m „Encounter" : Geltman, M.: Socialist Anti-Semitism. M a r x , Engels and others. März 1976, S. 92— 93; Cole, M . : Beatrice Webb and Whitechapel, ebenda, M a i 1976; Wistrich, R.: Cole, Webb, M a r x , ebenda Aug. 1976, S. 92; Feaver, G.: The Webbs and the Jews, ebenda Sept. 1976, S. 89—90; Geltman, M.: Cole and Webb, ebenda Sept. 1976, S. 91; Cole, M . : M. Cole replies, ebenda Sept. 1976, S. 94—95; Wistrich, R.: The Webbs and Racism, ebenda Jan. 1977, S. 93; Feaver, G.: Beatrice Webb's „Racism", ebenda Jan. 1977, S. 94; Letwin, S. R.: Manichean Antipathies, ebenda Jan. 1977, S. 95; Hirsch, H.: Bernstein and the Webbs, ebenda März 1977, S. 94—95. Der V o r w u r f des Antisemitismus gegen Beatrice Webb ist verfehlt. Die Ursache ihrer einzelnen verächtlichen Bemerkungen über bestimmte Rassen ist generell i n einem lebensabgewandten, szientistischen u n d elitären Politikverständnis zu suchen.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
reichen. Eine zu weit getriebene Rassenmischung innerhalb Englands mußte nach ihrer Ansicht daher auch die K r a f t zur Organisation des Sozialorganismus hemmen 1 5 8 . Die Verstärkung des rassischen Faktors i m Denken der Webbs nach ihrer Asien-Reise fand Niederschlag in einem Plädoyer für eine „Vormundschaft der nicht-erwachsenen Rassen" 1 5 9 . Die zivilisierten „Great Powers" müßten die Verantwortung für die unterentwickelten Rassen i n deren eigenem und i m gesamten Menschheits-Interesse übernehmen: „We must . . . legislate for these races to save them from themselves 160 ." Zwar grenzten die Webbs diese Beschützer-Rolle vom Imperialismus alten Stils ab; doch kontrastiert man ihre Haltung zu der der meisten radikalen Intellektuellen, welche aus prinzipiellen Freiheits- und Gleichheitserwägungen gegen die imperiale Politik Englands Front machten 1 6 1 , so w i r d deutlich, daß die führenden Fabier nicht nur i m nationalen Bereich gegenüber der Arbeiterklasse, sondern auch i m internationalen Bereich gegenüber weniger entwickelten „Rassen" eine wohlwollende, doch straff-elitäre Herrschaft von Sozialexperten einer Konkretisierung abstrakter Gleichheitsprinzipien vorzogen. I m innenpolitischen wie i m globalen Bereich sollte die soziale Effizienz das ausschlaggebende K r i t e r i u m für die Herrschaftsbestellung sein. c) Effizienz im Inneren: Der Schwerpunkt der Erziehungs- und Bildungsreform I m fabischen Imperialismus-Manifest hatte Shaw abschließend resümiert: „The moral of i t a l l is that w h a t the B r i t i s h Empire wants most urgently i n its government is not Conservatism, not Liberalism, not Imperialism, but brains and political science 162 ."
Die Rationalisierung des Erziehungs- und Ausbildungssektors hatte also i m Rahmen einer Politik der „nationalen Effizienz" alleroberste Priorität. Schon frühzeitig hatten es die Fabier zu ihrem Anliegen gemacht, für ein rationales, staatliches, von herkömmlichen Privilegien befreites Schulsystem, unter Einschluß des noch weitgehend privaten höheren Schulwesens, einzutreten 1 6 3 . I m Zuge der Forderung nach einem „natio158 Webb, Β.: Personal Rights and the Women's Movement, T e i l I I : The falling Birth-Rate, i n : The New Statesman, 11. Jul. 1914 (Bd. 3), S. 429. 159 Webb, S. u. B.: What is Socialism? X V I I . The Guardianship of the NonA d u l t Races, i n : The New Statesman, Aug. 1913 (Bd. 1), S. 525—526. 160 Ebenda, S. 525. 161 Vgl. dazu Porter , Β . : Critics of Empire, bes. Kap. 6, 7 u. 9. 162 Shaw, G. B. (Hrsg.): Fabianism and the Empire, S. 93. 163 Vgl. z.B. Fabian Tract Nr. 52: State Education at Home and Abroad (J. W. Martin) 1894.
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nalen M i n i m u m " der Erziehung war bereits der Wert einer systematischen staatlichen Erziehungsstruktur für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nation betont worden. I m folgenden soll nicht versucht werden, sämtliche schon i n den 90er Jahren intensiven Bemühungen der Fabier auf dem Gebiet der Erziehungsreform i m Detail nachzuzeichnen 164 ; vielmehr geht es hier lediglich u m die Herausarbeitung der zugrundeliegenden politischen Voraussetzungen. Die Webbs interessierten sich vor allem für das höhere Schulwesen und den Universitätssektor, da sie dort den Hebel für die Herausbildung von Experten i m Sinne einer Politik der „nationalen Effizienz" am wirksamsten ansetzen zu können glaubten. Diese Konzentration der Reformbemühungen zu Lasten des Volksschulwesens stieß besonders bei den Reformern aus der Arbeiterbewegung und der Progressiven Partei Londons auf Mißtrauen. Zwar war es auch den Fabiern um die Webbs u m einen Ausbau des staatlichen Erziehungswesens für die breite Allgemeinheit zu tun, doch gingen sie grundsätzlich von einer begrenzten Entwicklungsfähigkeit des Potentials der Massen aus; die Webbs wollten einer echten nationalen Meritokratie den Weg öffnen 1 6 5 . Der Höhepunkt der Auseinandersetzung zwischen führenden Fabiern einerseits und Sozialisten und Radikalen andererseits war m i t den „Education Acts" von 1902 und 1903 erreicht, als die Webbs die konservative Regierung gegen den radikalen Widerstand stützten 1 6 6 . Die Diskussionen u m die Entstehung dieser Gesetze, die „Drahtzieher"-Manöver der Webbs i n der höchsten Politik und ihre Taktik in der Fabian Society brauchen i n diesem Zusammenhang nicht näher ausgebreitet zu werden 1 6 7 ; bedeutsam sind jedoch die inhaltlichen Positionen der Webbs i n zwei Streitfragen. Zum einen traten die Webbs für die Abschaffung der lokalen, demokratisch gewählten Schulbehörden ein. Diese Vertretungskörperschaften standen als autonome ad hoc-Institutionen i n bestimmten Bereichen 194 Siehe dazu McBriar , Α . M . : Fabian Socialism and English Politics, S. 206—222 u. Brennan , E. J. T. (Hrsg.): Education for National Efficiency; The Contribution of Sidney and Beatrice Webb, S. 3—56. 165 Die Kontrastposition bezog bspw. R. H. Tawney m i t seiner sozialistischen Erziehungspolitik. 168 Innerhalb der Fabian Society waren außerdem Graham Wallas u n d Stuart Headlam scharfe Gegner der von den Webbs verantworteten Erziehungsreform. 167 Die Erziehungsfrage brachte die Webbs i n engen K o n t a k t m i t dem k o n servativen Premierminister A r t h u r Balfour, für den besonders Beatrice Webb stets eine besondere Wertschätzung empfunden hatte, u n d m i t Robert M o rant, dem Beamten aus dem Erziehungsamt u n d eigentlichen Schmied der Erziehungsreform von 1902/03. Z w a r w a r S. Webb als Berater f ü r A r t h u r Balfour tätig, doch hatten die Webbs an der Ausarbeitung der Gesetze — w i e zuweilen behauptet — keinen A n t e i l ; dazu die Fallstudie von Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 207 ff., bes. S. 215.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
m i t den allgemeinen städtischen bzw. grafschaftlichen Verwaltungsbehörden i n Kompetenzstreit. Während die Radikalen und die Sozialisten von der „Independent Labour Party" (ILP) die lokalen Schulkörperschaften als ihre Wahlhochburgen schätzten und i n ihrer Auflösung einen politisch motivierten Schlag gegen urdemokratische Verwaltungsformen erblickten, ging es den Webbs allein um die Rationalisierung der Verwaltung. Nach dem Prinzip der Verwaltungsvereinheitlichung traten sie für die Zusammenziehung aller Erziehungskompetenzen, vom Volksschul- bis zum Hochschulwesen, i n einer einzigen lokalen Behörde ein, welche als eine m i t Experten durchsetzte Untergliederung der Stadt- bzw. Grafschaftsräte konstituiert werden sollte. Die lokale Selbstverwaltung durch ad hoc-Körperschaften stellte in ihren Augen ein Prinzip des 18. Jahrhunderts dar, das für die undurchsichtige Verwaltungswirrnis verantwortlich sei und den verschachtelten Aufgaben einer modernen Verwaltungseinheit nicht mehr gerecht würde 1 6 *. Die Errungenschaft des Gesetzes von 1902 sah S. Webb darüber hinaus darin, daß es den ganzen Erziehungsbereich i n toto eindeutig zu einer öffentlichen Aufgabe erklärte 1 6 9 . Zum zweiten steckte i n der von Webb geförderten Erziehungsreform eine brisante religiöse Problematik. Die Reform hob die traditionelle Unterscheidung zwischen den von Gemeindesteuern und den von freiwilligen, zumeist religiösen Trägern finanzierten Schulen auf; auch die letzteren wurden nun aus Gemeindemitteln unterstützt und der Kontrolle der einheitlichen Erziehungsbehörde unterworfen. Zwar bezog sich diese Kontrolle nur auf die Effektivität der „weltlichen" Erziehung, um die es in vielen dieser freien, religiösen Schulen schlecht bestellt war, und ließ die Ausübung der religiösen Erziehung unberührt; dennoch liefen die nonkonformistischen Freikirchen und die nonkonformistisch geprägten Radikalen gegen den Reformentwurf Sturm, da sie nach Verlust der von ihnen geprägten autonomen Erziehungskörperschaften die Einflußnahme der anglikanischen Staatskirche mittels der neuen Grafschaftsräte-Behörden fürchteten. Der radikale Dissent weigerte sich aus Gewissensgründen, über die Gemeindeabgaben zur Finanzierung von Schulen eines von ihm verworfenen Glaubens beizutragen. Den Webbs fehlte für die bittere, religiös begründete Opposition des Radikalismus gegen die Erziehungsreform jegliches Verständnis. Abgesehen davon, daß die prinzipiell agnostisch denkenden Webbs sich immer mehr zur anglikanischen Hochkirche hingezogen fühlten, weil diese sich als Institution am besten für eine positivistisch-asketische „Religion 168 Fabian Tract Nr. 106: The Education Muddle and the way out (S. Webb) 1901, S. 9 ff. 169 Webb , S., i n : D a i l y Mail, 17. Okt. 1902, entnommen aus: Halévy , E.: A History of the English People i n the Nineteenth Century, Bd. 5: Imperialism and the Rise of Labour, S. 203.
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as mental hygiene" eigne 1 7 0 , sahen sie i n der „sektenhaften Bigotterie" des radikalen Dissent ein Hemmnis für eine möglichst effiziente Ausgestaltung des Erziehungssystems 171 . M i t dem Modell des einheitlich verwalteten, öffentlich finanzierten und staatlich kontrollierten Schulsystems entschieden sich die Webbs für die Vorrangigkeit von Effizienzvor Gewissensgesichtspunkten 172 . aa) Das Gründungskonzept
der „London School of Economics "
Schon lange bevor die Fabier das Konzept der „nationalen Effizienz" m i t ihren neuen Verbündeten propagandistisch wirksam machten, stand der höhere Bildungsbereich i m Mittelpunkt ihrer Reformbemühungen. Obwohl man in England seit Matthew Arnolds Bericht über die Vorzüge des höheren Schul- und Universitätswesens Deutschlands und Frankreichs informiert w a r 1 7 3 , war es Sidney Webb, der wie kein zweiter die Dringlichkeit einer Hochschulreform, besonders bezüglich der technischen Ausbildung, für ein Abfangen von Englands wirtschaftlichem Niedergang erkannte. Als Vorsitzender des „Technical Education Board" des Londoner Stadtparlaments avancierte S. Webb bereits 1892 zu einer der führenden Autoritäten des höheren Schulwesens, unermüdlich für eine Professionalisierung des Ausbildungswesens kämpfend. So ist auch die Gründung der „London School of Economics" (LSE) i m Jahre 1895 ausschließlich dem Bemühen der Webbs zu danken. Die LSE, welche die Webbs als ihr „Lieblingskind" bezeichneten, erhielt schon zu diesem Zeitpunkt ihre Daseinsbegründung vom Anliegen der „nationalen Effizienz": „ W e believe i n a school of administrative, political and economic science as a way of increasing national efficiency 1 7 4 ."
170 Webb, B.: Our Partnership, S. 206; die Webbs pflegten enge Beziehungen zum Bischof von London, Mandell Creighton („One of our best friends", ebenda S. 205). Beatrice hatte sich seit jeher schon zur katholischen A m t s kirche hingezogen gefühlt, an der sie die geistige u n d seelische Disziplinierungsleistung bewunderte. (My Apprenticeship, S. 87; Our Partnership, S. 170). I m m e r wieder stellte sie i n Comtischer Manier die Notwendigkeit einer „neuen Kirche" (ebenda S. 367), eines „neuen religiösen Ordens" (S. 340) heraus, der die Menschen i n „mentaler Hygiene" anzuleiten imstande wäre. 171 Vgl. Fabian Tract Nr. 117: The London Education Act, 1903 (S. Webb) 1904, S. 18; siehe auch Nr. 114: The Education Act, 1902 (S. Webb) 1903, S. 2. 172 Fabian Tract Nr. 114; The Education Act, 1902 (S. Webb) 1903, S. 15; Fabian Tract Nr. 106: The Education Muddle and the Way out (S. Webb), 1901, S. 14 u n d Webb, B.: Our Partnership, S. 253. 173 Vgl. Arnold, M.: Higher Schools and Universities i n Germany, i n : The Works of M a t t h e w A r n o l d Bd. 12, Neudruck der Ausgabe von 1903/04, New Y o r k 1970. 174
Webb, Β.: Our Partnership, S. 230; s. auch S. 246.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
A u f keinem anderen Feld fabischer Tätigkeit ist dieses Anliegen zu größerer Wirksamkeit gelangt als i n dem Webbschen Projekt der „London School of Economics". Die Entstehungsgeschichte der LSE, die mit dem unerwarteten Vermächtnis eines reichen Fabiers i m Jahre 1894 begann, ist heute gut dokumentiert 1 7 5 . Hier interessiert vor allem die gedankliche Konzeption der Webbs. Bereits während einer Amerika-Reise i m Jahre 1888 hatte sich S. Webb äußerst beeindruckt vom „Massachusetts Institute of Technology" gezeigt 1 7 6 . Direktes Vorbild i m Jahre 1894 war aber vor allem die Pariser „Ecole libre des Sciences Politiques" 1 7 7 . Gegen Widerstand aus den eigenen Reihen der Fabian Society fochten die Webbs für einen rein wissenschaftlichen Charakter der LSE; ihr sollte die Aufgabe strikt unabhängiger sozialwissenschaftlicher Forschung und Lehre, keinesfalls aber propagandistischer Tätigkeit für die Fabian Society zugedacht werden: „ W h a t is needed is hard t h i n k i n g . . . Above all, we w a n t the ordinary citizen to feel that reforming society is no light matter, and must be u n dertaken by experts specially trained for the purpose 1 7 8 ."
Die LSE sollte nach der Vorstellung der Webbs die Experten ausbilden, die auf administrativem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet künft i g die Nation führen w ü r d e n 1 7 9 . Von ihrer institutionellen Struktur her hatte die LSE vor allem zwei Zielgruppen i m Auge: zum einen die professionellen Angestellten, denen durch berufsorientierte Abendkurse Spezialistenkenntnisse vermittelt werden sollten, zum anderen — als Schwerpunkt der „Schule" — Postgraduierte und Forscher, denen die besten wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten geboten werden sollten 1 8 0 . Webb gründete die LSE m i t der 175 Siehe Hayek , F. A . v.: The London School of Economics, 1895—1945, i n : Economica, Feb. 1946 (Bd. 13), S. 1—31; Calne, Sidney: The History of the Foundation of the London School of Economics and Political Science, London 1963 u n d Beveridge , W.: The London School of Economics and the University of London, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 41—53. 176 Brief von S. Webb an G. Wallas, 13.10.1888, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I , S. 116. 177 Webb, B.: Our Partnership, S. 86. 178 Ebenda, S. 86; Widerstand gegen eine derartige Verwendung des der Fabian Society vererbten Geldes k a m besonders von Ramsey MacDonald, der vergeblich auf eine Berufung i n den Lehrkörper der LSE gehofft hatte. 179 Insofern sich die Webbs über die LSE u m die Bereitstellung u n d A n w e n dung von Fachwissen für wirtschaftliches u n d administratives Handeln des Staates bemühten, ist der Vergleich von Fabianismus u n d Kameralismus, den Michael Oakeshott anstellt, treffend: On h u m a n Conduct, Oxford 1975, S. 311. (Bemerkenswert ist, daß Oakeshotts Vater, J. F. Oakeshott, einer der a k t i v sten Fabier-Sozialisten der ersten Stunde w a r ; siehe Caine, S.: The History of the Foundation of the London School of Economics S. 35).
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Absicht, sie später i n eine neuzuschaffende Universität von London zu integrieren. Organisationseinheit sollte die Fakultät, keinesfalls das College sein 1 5 1 . Auch i n der Auswahl der Disziplinen und der Gestaltung der Lehrpläne verstand sich die LSE als Gegenstück zur klassischen Oxbridge-Erziehung. Ihre gesamte geistige Ausrichtung stand unter der Maxime: „ . . . we must apply the scientific method to social questions" 1 8 2 . S. Webb kontrastierte die für das 20. Jahrhundert notwendige „science" m i t der i n Oxbridge betriebenen „culture": die klassische Allgemeinbildung bezeichnete er ironisch als „leisurely curriculum" — ein Luxus, der den beruflichen Anforderungen der modernen Welt nicht mehr Genüge t u n könnte 1 8 3 . Nach seiner Auffassung war nun nicht mehr die „allseitige Kultivierung des individuellen Geistes", nicht mehr die Ausbildung von „character", sondern die praktische Aneignung von „knowledge" gefragt 1 8 4 . Webb plädierte für eine „science", die „ i m Baconschen Sinne" betrieben werden sollte 1 8 5 . Das galt auch für die Sozialwissenschaften der LSE: Die Ökonomie ζ. B. war als „science" anerkannt und aus der „Faculty of Arts" herausgelöst worden, wo sie i n der akademischen Tradition Englands ihren angestammten Platz hatte. Die vorbereitenden Studien für einen akademischen Grad i n Ökonomie sollten nach den Plänen der Webbs der Mathematik und Biologie gelten 1 8 6 . Die Trennung der Ökonomie von „Metaphysik" und „shoddy history" wurde als großer Gewinn begrüßt: „We have always claimed that the study of the structure and function of society was as much a science as the study of any other f o r m of life, and 180 Vgl. Brief von S. Webb an L u j o Brentano, 9. 6.1895, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I I , S. 37 und S. Webb: Reminiscences (by Sidney and Beatrice Webb) I V : The London School of Economics and Political Science, i n : St. Martin's Review, Jan. 1928, S. 28. 181 So erhielt London durch die LSE als erste englische Universität eine F a k u l t ä t f ü r Sozialwissenschaften m i t eigenem Prüfungs- u n d Titelverleihungsrecht: „Faculty of Economics and Political Science (including Commerce)"; siehe Beveridge, W.: The London School of Economics, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 46. 182 Brief von B. Webb an Ch. Payne-Townsend (später Shaw), 28. 6.1896, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I I , S. 47. tes Webb, S.: London University: A Policy and a Forecast, i n : Nineteenth Century, J u n i 1902, wiederabgedruckt i n : Brennan, E. J. T. (Hrsg.): Education for National Efficiency, S. 143; vgl. auch Β . Webbs Schilderung über die Schwierigkeiten, f ü r eine ausgeschriebene Stelle i m Fach „Political Science" („a science which does not yet exist") einen geeigneten Dozenten zu finden, der nicht am Oxbridge-orientierten „ K l a s s i k e r " - K a n o n haftete (Our P a r t nership, S. 94). 184
Webb, S.: London University: A Policy and a Forecast, S. 146. iss Webb, S.: London University: A Policy and a Forecast, S. 147.
186 Dies wurde tatsächlich jedoch nicht durchgeführt; siehe Beveridge, W.: The London School of Economics, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 47.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
ought to be pursued by the scientific methods used i n other organic sciences 187 ."
Neben der stark geförderten Ökonomie, die i n den traditionellen Lehranstalten nur i n bescheidenem Umfang vertreten war, wurden unter anderem auch Lehrstühle i n Fächern wie Politikwissenschaft (Graham Wallas), Soziologie (L. T. Hobhouse), Geographie (H. MacKinder), Jurisprudenz und Statistik eingerichtet, welche ζ. T. als eigenständige Disziplinen noch an keiner britischen Universität gelehrt worden waren 1 8 8 . Stets wurden Direktoren und Professoren der LSE unabhängig von ihrer politischen Haltung zum Sozialismus ausgewählt. Ideologiefreiheit w a r gerade das entscheidende Prinzip von Sidney Webbs positivistischer Sozialwissenschaft, womit er bei vielen Sozialisten, die i n der LSE die hohe Schule des englischen Sozialismus sehen wollten, auf Unverständnis stieß. Webb war überzeugt, daß die Erkenntnisfortschritte eines rein wissenschaftlichen Studiums der Gesellschaft — wurde es nur gründlich genug betrieben — unweigerlich die kollektivistischen Sozialentwürfe bestätigen mußten. Doch hinsichtlich Forschungsausrichtung und Wissenschaftsverständnis trugen die Sozialwissenschaften an der LSE eindeutig den Stempel Webbs. Gleich die erste Vorlesungsankündigung machte die empirisch-institutionelle Orientierung der Sozialwissenschaft deutlich: „ W h i l e much attention w i l l be given to the study of economic and political theory, the special aim of the School w i l l be, from the first, the study and investigation of the concrete facts of industrial life and the actual w o r k i n g of economic and political institutions as they exist or have existed, i n the United K i n g d o m or i n foreign countries 1 8 9 ."
Es war der sozialwissenschaftliche Positivismus i n der Webbschen Ausprägung des empirisch-historischen Studiums von Struktur und Funktion sozialer Institutionen, welcher die ursprüngliche Wissenschaftskonzeption der LSE prägte 1 9 0 . Weniger das konkrete politische Modell des Fabier-Sozialismus, als vielmehr die Ideen des Webbschen Positivismus wurden so über die LSE zu ihrer bedeutenden Wirksamkeit gebracht. Was die LSE für Politik und Verwaltung bedeutete, mußte i n den Augen Webbs auch für den Bereich von Technik und Wirtschaft möglich sein. I m Jahre 1901 hatte Webb i n einem A r t i k e l der „Times" dar187
Webb, Β . : Our Partnership, S. 195. Siehe ζ. Β. Hayek, F. A . v.: The London School of Economics 1895—1945, i n : Economica 1946, S. 6; zum ganzen: Caine, S.: The History of the Foundation of the London School of Economics, S. 48—50, S. 54—55. 189 Zit. nach Beveridge, W.: The London School of Economics, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 44. 190 Ebenda S. 45 u n d Webb, Β . : Our Partnership, S. 195. 188
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auf hingewiesen, daß der wirtschaftliche Vorsprung des Auslands, insbesondere Deutschlands, vor allem auf seine technologische Überlegenheit bzw. größere produktionstechnische Flexibilität zurückzuführen sei 1 9 1 . Die Konsequenz für England mußte heißen: „ W h a t London University w a n t s . . . is, to put i t briefly, a B r i t i s h ,Charlottenburg' — an extensive and f u l l y equipped institute of technology . . . 1 9 2 . "
Webb war bei diesem Reformprojekt der technischen Ausbildung von Haidane mitgeprägt worden, für den das deutsche System der Technischen Hochschulen Vorbild war. Haidane — als politischer Promotor — und Sidney Webb gewannen nicht nur Rosebery, der schon beim Aufbau der LSE beteiligt worden war, sondern auch kapitalkräftige Mäzene aus der Wirtschaft für ihren P l a n 1 9 3 . So konnte tatsächlich i m Jahre 1907 die Gründung des „Imperial College of Science and Technology" i n London erfolgen. Die Erziehungs- und Ausbildungsreform war der unmittelbar w i r k samste Bereich, i n dem die Fabier ihre Ideologie der „nationalen Effizienz" auszugestalten vermochten. Beatrice Webb konnte mit Recht zufrieden feststellen, daß „no young man or woman who is anxious to study or to w o r k i n public affairs can fail to come under our influence" 1 8 4 .
4. Entwurf für einen rationalen Sozialstaat: Der „Minderheitenbericht" zur Reform des Armenrechts (1909) Als die Webbs i n ihrer „Industrial Democracy" von 1897 erstmals ihre Sozialpolitik unter der programmatischen Formel „Politik des nationalen Minimums" systematisch zusammenfaßten, lag der Schwerpunkt auf dem Industrie- und Arbeitsbereich. I n den folgenden Jahren wurde diese propagandistisch sehr wirksame Konzeption auf immer mehr soziale Sektoren übertragen, z.B. auf das Wohnungswesen, den Erziehungsbereich, die Krankenversorgung und Altersfürsorge 1 9 5 . Es 191 (Webb, S.:) The Organisation of University Education i n the Metropolis, i n : The Times, 4. u. 8. J u n i 1901; vgl. zum Bereich der technischen A u s b ü dung auch Fabian Tract Nr. 114: The Education A c t 1902 (S. Webb) 1903, S. 17 und Nr. 116: Fabianism and the Fiscal Question (G. Β . Shaw) 1904, S. 22—24. 102 Webb, S.: London University: A Policy and a Forecast (1902) i n : Brennan, E. J. T. (Hrsg.): The Education for National Efficiency, S. 156. 193 Besonders die beiden südafrikanischen Großkapitalisten Sir Julius Wernher u n d A l f r e d Beit. 194 Webb, B.: Our Partnership, S. 145. 195 Z . B . Webb, S.: The Policy of the National M i n i m u m , i n : Independent Review, 1904 (Bd. 3), S. 174 u n d Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, S. 8 ff.
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war jene Idee eines einheitlichen, allgemeinen, staatlich durchzusetzenden Standards sozialen Lebens, „below which the individual, whether he likes i t or not, cannot, i n the interest of the well-being of the whole, ever be allowed to f a l l " 1 9 6 ,
die auch das Prinzip für die Reform des Armenrechts abgab. Schon frühzeitig hatte die Fabian Society einzelne Reformvorstöße unternommen, um den Sumpf des Pauperismus von verschiedenen Seiten her auszutrocknen. Bereits 1890 war Sidney Webb beispielsweise für eine staatliche Altersversorgung eingetreten, wobei er „the State" als „vast benefit society" auffaßte 1 9 7 ; ein detaillierter Entwurf eines FabierTraktats zum selben Thema ging i n der Frage der staatlichen Finanzierung so weit, daß sogar viele Sozialisten Einwände hinsichtlich seiner Praktikabilität erhoben 1 9 8 . I n einer Zeit, als das Phänomen der Arbeitslosigkeit i n seiner sozialen Bedeutung gerade erst entdeckt wurde, unterschieden die Fabier m i t als erste bereits zwischen saisonaler, zyklischer und durch Gelegenheitsarbeit bedingter Arbeitslosigkeit und brachten sie — unabhängig vom individuellen Arbeitswillen — i n Zusammenhang mit dem Pauperismus 1 9 9 . Ebenso hatten, lange bevor das Thema i n den Mittelpunkt der sozialpolitischen Diskussionen i n England rückte, Sidney Webb und nach i h m mehrere andere Fabier bereits i n ihren Traktaten nach einer weitgehenden Revision der traditionellen Armenrechtsgesetzgebung gerufen und sich insbesondere für eine tiefgreifende Reorganisation der Verwaltungsmaschinerie eingesetzt 200 . Als i m Jahre 1905 der konservative Premierminister A r t h u r Balfour — vermutlich, um eine Entlastung vom Erwartungsdruck sozialer Reformen innerhalb und außerhalb der eigenen Reihen zu schaffen 201 — eine königliche Kommission zum Armenrecht einsetzte, berief er auch seine gute Bekannte Beatrice Webb, mittlerweile eine führende Sozial196
S. 8.
Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911,
197 Fabian Tract Nr. 17: The Reform of the Poor L a w (S. Webb), 1891, S. 8 ( = Teilabdruck eines Artikels i n : Contemporary Review, J u l i 1890). 198 Fabian Tract Nr. 73: The Case for State Pensions i n Old Age (George Turner) 1899; vgl. d a r i n auch den Ausdruck des neuen Staatsverständnisses: „The State is but the instrument by which the collective w i l l shapes the destinies of the nation" (S. 15). Z u r Reaktion auf den E n t w u r f vgl. Pease, E.: The History of the Fabian Society, S. 159. 199 Fabian Society: The Government Organisation of Unemployed Labour, Report by a Committee of the Fabian Society, 1886, S. 3. 200 Fabian Tract Nr. 17: The Reform of the Poor L a w (S. Webb), 1891, S. 17—19; u n d Nr. 44: A Plea for Poor L a w Reform (Frederick Whelen ), 1893; Nr. 54: The Humanising of the Poor L a w (J. F. Oakeshott), 1897; Nr. 126: The A b o l i t i o n of the Poor L a w Guardians (E. Pease) 1906. 201 So Harris, José: Unemployment and Politics. A Study i n English Social Policy 1886—1914, Oxford 1972, S. 247.
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forscherin i n England, zum Mitglied. Diese Untersuchungskommission zum Armenrecht war für die Webbs der Anlaß und die institutionelle Plattform, i n eigener Regie große empirische Untersuchungen zur „Struktur und Funktion" der englischen Armenrechtsverwaltung durchzuführen, u m schließlich m i t dem „Minderheitenbericht" der „Royal Commission" einen umfassenden Neuentwurf für eine rationale staatliche Sozialpolitik vorzulegen. Das Armenrecht Englands i m 19. Jahrhundert war durch die „Royal Commission on the Poor L a w " von 1832 bestimmt worden. Diese vom Geiste des Benthamschen Utilitarismus getragene Untersuchung hatte direkt die berühmt gewordene Armengesetzgebung von 1834 zur Folge, die eine Vereinheitlichung und Straffung des öffentlichen Sozialhilfewesens beabsichtigte. Hauptgrundsatz war das sogenannte „less eligibility"-Prinzip, welches bedeutete, daß öffentliche Armenunterstützung von der Form her abschreckender auszugestalten sei als das unterste Niveau selbständiger Lebenserhaltung. Zugrunde lag die Annahme, daß die Unterstützung gesunder, arbeitsfähiger Menschen aus Steuermitteln nicht nur eine ungerechtfertigte Belastung der Öffentlichkeit darstelle, sondern langfristig eine demoralisierende Wirkung auf Charakter und Verhalten der Armen haben müsse, da diese immer i n Versuchung seien, die öffentliche Hilfe der selbstverantwortlichen Lebenserhaltung vorzuziehen. Hinzu kam, daß nach der gängigen ökonomischen Theorie eines fixen „Lohn-Fonds" jede gegenleistungsfreie Geldunterstützung den zur Verfügung stehenden Gesamtlohnbetrag verminderte und som i t die Arbeiterklasse um einen Lohnanteil beraubte. Entsprechend galt es, materielle Hilfe außerhalb des Armenhauses („outdoor relief") so w e i t wie möglich einzustellen und den Aufenthalt i m Armenhaus für gesunde, arbeitsfähige Menschen so abstoßend zu machen, daß tatsächlich nur zur selbständigen Existenzerhaltung Unfähige von der Filterung des Armenhauses erfaßt wurden („workhouse-test"). Damit war eine Unterscheidung geschaffen worden zwischen dem selbständig lebenden Armen („poor"), der i m Zuge dieser Reform seine früher gewährte Geldunterstützung verlor, und dem Pauper, der als solcher gekennzeichnet war durch seinen Eintritt ins Armenhaus und dort annähernd eine Strafbehandlung erfuhr. Der Armenrechtsgesetzgebung von 1834 war insbesondere auch an einer Vereinheitlichung des Verwaltungshandelns gelegen, um das ständige Wandern der Bedürftigen von einer Gemeinde zur anderen zu unterbinden. So wurde neben einer Zentralbehörde („Poor L a w Board") auch — nach rationalem Benthamschen Muster — ein künstliches System von Verwaltungseinheiten geschaffen, die jeweils m i t einem gewählten Armenrat aus der Bürgerschaft („Board of Guardians") und einem Stab besoldeter Beamter ausgestattet waren.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Hinter den harschen Prinzipien von 1834 stand die unausgesprochene Grundannahme — die das ganze 19. Jahrhundert überlebte —, daß es i n der Verfüngungsgewalt eines jeden arbeitsfähigen Menschen stehe, durch Sparsamkeit und vorausschauende Lebensführung dem Pauperismus zu entkommen. Entsprechend scharf war das moralische Unwerturteil, das dem Pauper anhaftete. Der Pauper-Status zog den weitgehenden Verlust von Freiheits- und Bürgerrechten nach sich. I n den Armenhäusern kam es selten zu einer Trennung der arbeitsfähigen, gesunden Menschen von den Kranken, Behinderten und Alten. Die Romane von Dickens überliefern, wie tief sich Demütigung und Schrekken des Elends dieser gemischten Armenhäuser („general mixed workhouses") i n das Bewußtsein der Arbeiterklasse eingruben. Zusätzlich war die innere Stringenz der Armenrechtsprinzipien dadurch unterhöhlt, daß i n der Praxis die Gewährung von freier Unterstützung für Arbeitsfähige außerhalb des Armenhauses nie ganz aufhörte. Das Armenrecht war für arbeitsfähige und nicht-arbeitsfähige Notleidende die einzige staatliche Hilfsinstanz. So nahmen daneben — entsprechend dem viktorianischen Freiwilligkeitsprinzip — die privaten karitativen Hilfsorganisationen aller Schattierungen und die sozialen Selbsthilfeeinrichtungen, wie die Freundschaftsgesellschaften („Friendly Societies"), breiten Raum ein. Das Geflecht von öffentlichen Armenrechtsinstitutionen — die als ad hoc-Behörden außerhalb der regulären Lokalverwaltungen standen — und von privaten Hilfs- und Selbsthilfeorganisationen machte eine Einheitlichkeit und rationale Ordnung i n der englischen Sozialpolitik unmöglich und vermochte so die katastrophalen sozialen Elendszustände nicht zu beseitigen. Es muß als ein großes Verdienst der Webbs angesehen werden, m i t ihrem „Minderheitenbericht" die sozialen Ursachen der A r m u t ins Zentrum der Armenrechtsdiskussion gerückt und das moralisierende, oft nur palliativ verfahrende soziale Unterstützungswesen durch einen rationalen staatlichen Verwaltungsentwurf für eine moderne, umfassende Sozialpolitik herausgefordert zu haben. Die königliche Untersuchungskommission zum Armenrecht von 1905 enthielt neben Mitgliedern aus Ministerial- und lokaler Armenrechtsverwaltung einige führende Sozialexperten der Zeit: neben B. Webb waren u. a. Charles Booth, Octavia Hill, die Reformerin des Wohnungswesens und große Figur der englischen Wohltätigkeitsarbeit, C. S. Loch und Mrs. Bernard Bosanquet von der „Charity Organisation Society" sowie der Sozialist George Lansbury vertreten. Uberzeugt davon, daß die Mehrheit der Kommission unter dem Einfluß der konservativen Beamtenschaft des „Local Government Board" zu den Prinzipien von 1834 zurückkehren wolle, ging Beatrice Webb sehr bald ihren eigenen Untersuchungen nach. Sie war bestrebt, den Gegenstandsbereich der
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Kommission auf die Ursachen der A r m u t h i n auszudehnen, während nach ihrer Ansicht den meisten anderen Kommissionsmitgliedern nur daran gelegen war, den Pauperismus (im oben abgegrenzten Sinne) auf Methoden der Abhilfe zu überprüfen, mit der Grundannahme, daß A r m u t an sich nicht zu verhindern sei 2 0 2 . Tatsächlich unterschätzte sie erheblich den Reformwillen der übrigen Kommissionsmitglieder, die ebenfalls die traditionelle Verwaltungsstruktur des Armenrechts ablösen wollten; Beatrice verprellte sie gleich zu Anfang durch ihre kompromißlosen Versuche, die Königliche Kommission für den Entwurf und die Verbreitung einer eigenständig Webbschen Sozialpolitik zu instrumentalisieren 2 0 3 . Sie hielt sich für ihre großangelegte Eigenuntersuchungen private Forschungsassistenten, die von Shaws vermögender Frau und einem Geheimfonds der Fabian Society finanziert wurden. Zudem gelang es ihr, als außerordentliche Mitarbeiter hervorragende Fachmänner der Sozialpolitik wie Canon Barnett, den fabischen Historiker Robert Ensor, R. H. Tawney und den jungen W i l l i a m Beveridge zu gewinnen; letzterer bestimmte durch seine Studien zur Organisation des Arbeitsmarktes die Vorschläge des „Minderheitenberichts", insbesondere hinsichtlich der Einrichtung von obligatorischen Arbeitsvermittlungsstellen, entscheidend m i t 2 0 4 . Sidney Webb hatte an der Erstellung des i n die Geschichte der englischen Sozialpolitik eingehenden „Minderheitenberichts" der „Royal Commission" von 1909 ebensoviel A n t e i l wie Beatrice. Der Bericht war i n Inhalt und Form „a thoroughly Webbian document" 2 0 5 . Die Kommissionsminderheit wollte — i n Abgrenzung zu den privaten Wohltätigkeitsorganisationen — einen unemotionalen, wissenschaftlichen Zugang zur Behandlung der sozialen Ursachen von A r m u t schaffen 2 0 8 . Die Untersuchungen der Kommission hatten als empirisches Ergebnis zutage gebracht, daß hauptsächlich drei Wege zur sozialen Verelendung („destitution") führten: a) Krankheit und Schwachsinn, b) Vernachlässigung der Menschen i m Kleinkind- und Jugendalter aus den verschiedensten Ursachen, sowie c) Arbeitslosigkeit, einschließlich „Unterbeschäftigung" 2 0 7 . A n die Stelle der alten Abschreckungspolitik 202 Webb, Β . : Our Partnership, S. 341 f.; vgl. die Chronik der gesamten Tätigkeit der Königlichen Kommission aus Webbscher Sicht: ebenda S. 316 ff.; vgl. auch Beatrices ausführliche K r i t i k an der Prozedur der Kommission i m Brief von B. Webb an G. Lansbury, 6. 1.1906, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 224—228. 203 V g l Harris, J.: Unemployment and Politics, S. 249. 204 Siehe dazu Harris, José: W i l l i a m Beveridge. A Biography, Oxford 1977, S. 312 ff. 205 Webb, Β.: Our Partnership, S. 397. 208 Z u r Abgrenzung gegenüber der „ C h a r i t y Organisation Society" vgl. den Brief von B. Webb an E. Pease, 1.1.1907, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The L e t ters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 244.
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wollten die Webbs nun die beiden Hauptprinzipien der Vorbeugung („principle of prevention") u n d der allgemeinen Fürsorge („principle of universal provision") setzen 208 . Die staatlichen Sozialleistungen sollten nicht mehr nach Pauper- oder Nicht-Pauper-Empfängern unterschieden werden; vielmehr galt es, die gesamte Armenrechtsstruktur i n ihre Einzelteile aufzubrechen und die verschiedenen Kompetenzen der Armenrechtsorgane vom Erziehungs- über den Gesundheits- bis zum Altenfürsorgebereich jeweils speziellen Institutionen der reguläreren Lokalverwaltung zuzuschlagen, die dann als Expertenstellen auf ihren jeweiligen Gebieten einheitlich für die gesamte Bevölkerung zuständig sein sollten. Damit ging nicht nur eine Verpflichtung der öffentlichen Sozialverwaltung zu vorbeugendem Handeln einher, sondern die staatlichen Organe waren nun gegenüber der Allgemeinheit für die Leistung bestimmter minimaler Sozialdienste verantwortlich, unabhängig von einem Pauper-Status der Empfänger. Das Anliegen des Webbschen „Minderheitenberichts" war wiederum die Idee eines öffentlich durchzusetzenden Minimums eines „zivilisierten Lebens" für alle Bürger 2 0 9 . So formulierte Beatrice Webb die Beweggründe ihrer Armenrechtspolitik wie folgt: „ I a m becoming more and more convinced that the Community has to take hold of the problem of clearing-up the base of society — using a l l its powers to improve the circumstances — physical and mental — of the lowest class. M a i n l y f r o m the stand point of material welfare w e have to do that — i n order to hold our o w n w i t h such h i g h l y regulated races as the Germans and the Japanese 2 1 0 ."
Auch die Armenrechtsreform war also nicht von einer sozial-humanitären Ethik oder einer proletarischen Interessenpolitik geleitet worden, sondern erhielt ihre Ratio für die Webbs zuallererst aus der Steigerung der „nationalen Effizienz". Der Webbsche Charakter des „Minderheitenberichts" wurde schon durch seinen logischen Aufbau offenkundig; klar und systematisch war die Masse der detaillierten Vorschläge von wenigen eindeutigen Prämissen abgeleitet. Die Webbs gingen davon aus, daß nicht der Pauperismus — die Hauptbeschäftigung des alten „Poor L a w " —, sondern die A r m u t jenseits des Armenhauses {„destitution") das Hauptproblem sei und daß eine entsprechende Lösung nur durch Prävention, nicht durch 207 Webb, S.U.B.: English Poor L a w Policy, London 1910 (Nachdruck L o n don 1963, English Local Government Bd. 10), S. 300). Dieses Buch wuchs aus den Webbschen Forschungen i n der Armenrechtskommission heraus, ist aber zu unterscheiden v o m offiziellen „Minderheitenbericht". 208 Ebenda, S. 296 ff. 209 Webb, Β . : Our Partnership, S. 452. 210 Brief von Β . Webb an M a r y Playne, 21. 8. 1907, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 272.
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Linderung zu erreichen wäre. Da A r m u t kein einheitliches Phänomen war, hatte eine wirksame Armutsbekämpfung zunächst die Klassifikation der A r m e n hinsichtlich der Ursachen ihrer Lage zur Voraussetzung. Dem mußte sich auch die institutionelle Struktur der Verwaltung fügen: öffentliche Dienstleistungen sollten nicht der „Klientel" gemäß, sondern der Funktion entsprechend organisiert werden. Dieses funktionale Verwaltungsprinzip, dem die Webbs auch 1918 i m sogenannten „Haldane-Committee" m i t zum Durchbruch verhalfen 2 1 1 , konnte angewandt auf die Armenrechtsverwaltung nur die radikale Sprengung der herkömmlichen Armenräte zur Folge haben. Die zahlreichen, m i t ihren vielen Funktionen überlasteten „Boards of Guardians" standen nämlich — ebenso wie die gewählten Schulbehörden — als ad hoc-Institutionen zu den Lokalbehörden häufig i n einem Verhältnis der Funktionsüberlappung und des Kompetenzstreites 212 . Daher sollten alle Funktionen der Armenräte der Verantwortung der lokalen Verwaltungsbehörden übergeben werden, die mittels spezieller Ausschüsse und unter Einsatz von beamteten Experten die sozialen Dienstleistungen jeweils getrennt zu versehen hätten 2 1 3 : die lokalen Erziehungsbehörden sollten für Erziehung und Wohlergehen der geistig gesunden Kinder zuständig sein, die lokalen Gesundheitsbehörden für Kranke, Behinderte, Kinder i m Vorschulalter und Alte i m Pflegezustand, die lokalen Irrenasylämter für die geistig Behinderten sowie die lokalen Pensionsämter für alle pensionsberechtigten Alten; die Verantwortlichkeit für die fünfte Funktion, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sollte dagegen auf nationaler Ebene i n die Hände eines neuzuschaffenden Arbeitsministeriums gelegt werden, welches auf lokaler Ebene Arbeitsvermittlungsstellen einzurichten hätte — vielleicht der bedeutendste Organisationsvorschlag der Webbs 2 1 4 . Eine Armenrechtsbehörde als eigenständige Institution w a r nach diesem Plan abgeschafft, die moralische und politische Herabwürdigung, die m i t dem Pauper-Status einherging, w a r aufgehoben, soziale Dienstleistungen durch den Staat waren der Allgemeinheit zugänglich gemacht. Alle kranken Bürger, 211
Siehe dazu unten S. 303 ff. Vgl. dazu bereits Fabian Tract Nr. 126: The A b o l i t i o n of the Poor L a w Guardians (E. Pease), 1906, wo von der „ i n a b i l i t y of existing boards of guardians to keep abreast of modern social science" ausgegangen w i r d (S. 6). Die Schrift beinhaltet bereits wesentliche Rationalisierungsprinzipien des M i n derheit enberichts. 213 Webb, S. u. Β . (Hrsg.): The M i n o r i t y Report of the Poor L a w Commission, T e i l I : The B r e a k - U p of the Poor L a w , London 1909, Wiederabdruck Clifton, N. J. 1974, S. 522—528 ( = Abdruck von Cd. 4499/1909 Royal Commission on Poor Laws a n d Reliefs of Distress. The M i n o r i t y Report of the Poor L a w Commission); zur fabischen Popularisierung dieses amtlichen D o k u ments vgl. A n m . 247 i n diesem Abschnitt. 214 Webb, S.U.B.: (Hrsg.): The M i n o r i t y Report of the Poor L a w Commission, T e i l I I : The Public Organisation of the Labour Market, S. 309—323. 212
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ob arm oder nicht, alle Kinder, ob von pauperisierten Eltern oder nicht, sollten dieselben minimalen Sozialdienste der Lokalverwaltung i n A n spruch nehmen können 2 1 , 5 . Dieses Modell funktionaler Reform des Armenrechts setzte den Sozialexperten an die Stelle des traditionellen, überwiegend der Laienschaft entstammenden Armenrechtsverwalters („Guardian"). Die noch personal bestimmte, durch Wahl eingesetzte Armenrechtsverwaltung war der Verschiedenartigkeit der spezialisierten Dienstleistungsaufgaben nicht mehr gewachsen. Das Webbsche Modernisierungsbemühen u m „expert administration i n a l l human affairs" 2 1 6 rechtfertigte sich hier besonders von den Präventivaufgaben der Verwaltung her. Die Behörden hatten aktiv Ausschau zu halten nach behandlungsbedürftigen Fällen, die — unter Umständen m i t Einsatz weitgehender Zwangsvollmachten — öffentlicher Obhut zu unterstellen waren 21 " 7 . Eine neue Struktur und ein veränderter Aufgabenumfang der Verwaltung bedeuteten nach den Plänen der Webbs jedoch keinesfalls eine staatliche Ausgabensteigerung, i m Gegenteil: zum einen wurde durch die Verwaltungsrationalisierung ein Wegfall der kostspieligen Aufgabenüberlappung verschiedener Institutionen erwartet, zum anderen sollten materielle Unterstützung und soziale Dienstleistungen keineswegs kostenlos und ohne Bedingungen gewährt werden. So empfahl der „Minderheitenbericht" die Ernennung von amtlichen Registratoren („Registrar of Public Assistance"), die über Zulässigkeit und Höhe von Geldunterstützung zu entscheiden und entsprechend der Finanzkräftigkeit der Empfänger die Kosten für gewünschte Sozialleistungen zu berechnen hätten 2 1 8 . I n jedem einzelnen F a l l hätte nicht nur eine genaue Untersuchung über die sozialen und finanziellen Verhältnisse der Leistungsempfänger stattzufinden, sondern materielle Unterstützung und soziale Dienstleistungen sollten m i t strikten Konditionen für die Bedürftigen, besonders hinsichtlich einer geordneten Lebensführung und der Erfüllung von Arbeits- bzw. Ausbildungsverpflichtungen, verbunden werden 2 1 9 . Nach Ansicht der Webbs waren es allein die regulären staatlichen Behörden, nicht private Vereinigungen oder öffentliche ad hoc-Institutionen, die die notwendigen Zwangsmaßnahmen wirksam durchsetzen konnten. Denn auch das sogenannte „Principle of Com215
Der „Mehrheitsbericht" wollte zwar auch die alten „Boards of Guardians" abschaffen, aber den Allzweckcharakter der lokalen Armenrechtsbehörde beibehalten. 218 Webb, Β . : Our Partnership, S. 464. 217 Webb, S. u. B.: English Poor L a w Policy, S. 301—304. 21β Webb, S. u. B.: The M i n o r i t y Report, T e i l I, S. 564—567. 219 Ebenda z.B. S. 134f., 291 u. 517 u n d Webb, S.: The Problem of U n employment i n the United Kingdom, i n : Annals of the American Academy of Political and Social Science, 1909 (Bd. 33), S. 205—208.
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pulsion" war für die Webbs integraler Bestandteil einer rationalen staatlichen Armenrechtspolitik 2 2 0 . Sollte die staatliche Sozialpolitik vor allem die Effizienz der Gesellschaft steigern, dann mußte auch die Gegenleistung der Individuen für die öffentlichen Sozialdienste eintreibbar sein. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Webbschen Vorschläge zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die ihnen als eine wesentliche Ursache der A r m u t erschien. Ein ganzes zweites Buch des „Minderheitenberichts" ist diesem Problem gewidmet. Die Webbs begriffen die Arbeitslosigkeit vor allem als ein Problem des sozialen Elends, weniger dagegen als eine konjunkturelle Bedingtheit der Ökonomie. So liegt i h r Reformschwerpunkt charakteristischerweise auf administrativem Gebiet: sie hielten die Arbeitslosigkeit innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems prinzipiell für vermeidbar, sofern durch institutionelle Methoden der Arbeitsmarkt organisiert wurde und die Arbeitslosen selbst einer Behandlung unterworfen wurden. Obwohl die Webbs erste bedeutsame Ansätze für eine institutionell organisierte, antizyklische Beschäftigungspolitik erkennen ließen, fanden ökonomische Maßnahmen zur Steuerung der wirtschaftlichen K o n j u n k t u r noch keinen Niederschlag i n ihrem Entwurf. Die „vorkeynesianischen" Thesen des „neuen Liberalen" J. A. Hobson zur Unterkonsumption als Ursache der W i r t schaftskrise hatten i m „Minderheitenbericht" der Webbs keine Parallele. Die Webbs unterteilten die Arbeitslosen i n folgende, neuartige Kategorien: Arbeiter aus regulären Arbeitsverhältnissen, Arbeiter m i t häufig wechselnden Arbeitsplätzen, unterbeschäftigte Gelegenheitsarbeiter sowie Beschäftigungsunfähige bzw. -unwillige. Für jede Klasse schlugen sie eine gesonderte Behandlung v o r 2 2 1 . Da eine derart aufgefächerte Arbeitslosenpolitik sinnvoll nur i m gesamten nationalen Rahmen angesetzt werden konnte, sahen die Webbs eine tiefgreifende Umstrukturierung der Regierungsmaschinerie vor. Das zu errichtende Arbeitsministerium mußte beim Handelsamt, beim Innenministerium und beim A m t für Lokalverwaltung („Local Government Board") ressortierende Kompetenzen abziehen. E i n Netz von Arbeitsvermittlungsstellen als dem Arbeitsministerium untergeordnete Behörden sollte über das ganze Land gezogen werden 2 2 2 . I m Ganzen erwuchs so aus dem Maßnahmenkatalog zur Arbeitslosigkeit ein vierfaches Programm 2 2 3 : 220
Webb, S. u. Β . : English Poor L a w Policy, S. 296. Webb, S. u. B. (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I I , S. 164ff. 222 Ebenda, S. 248—267 u n d S. 309—323. I m Jahre 1907 hatten die Webbs die Idee der Arbeits vermittlungssteilen von Beveridge übernommen. I n ihrer Variante w u r d e die A r b e i t s v e r m i t t l u n g obligatorisch, während Beveridge von ihrem Freiwilligkeitscharakter ausgegangen war. 223 Vgl. schon einen ähnlichen Plan Beveridges aus dem Jahre 1906, den er — i n A b s t i m m u n g m i t den Webbs — i n der L S E vor der „Sociological So221
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
1. Organisation des Arbeitsmarktes durch obligatorische Registrierung aller Arten von Arbeitslosen an den lokalen Arbeitsvermittlungsbüros; diese sollten durch ihre Organisationskompetenz für die „Verregelmäßigung" der Gelegenheitsarbeit bzw. Unterbeschäftigung sorgen; 2. antizyklische Beschäftigungspolitik; das hieß Ausgleich der durch wirtschaftliche Depressionen hervorgerufenen Beschäftigungsfluktuationen mittels öffentlicher Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ζ. B. Landkultivierung, Küstenschutz, Bauaufträge) i m Rahmen von 10-Jahr esProgrammen; 3. Einrichtung von Ausbildungs- und Besserungsanstalten („reformatory training"); während Mütter von Kleinkindern vom A r beitsmarkt abgezogen werden sollten, waren jugendliche Arbeiter durch die lokale Erziehungsbehörde i n technischer Ausbildung zu unterweisen. Für arbeitssuchende Arbeitslose waren spezielle Ausbildungszentren als A r t „Human Sorting Houses" 2 2 4 zu erstellen, wo sie sich entsprechend einer Testeinstufung Schulungen bzw. Umschulungen zu unterziehen hätten. Arbeitsscheue und Landstreicher schließlich sollten i n Zwangsarbeitslagern („detention colonies") interniert werden; 4. staatliche Unterstützungszahlungen an die Gewerkschaften für ihre freiwilligen Arbeitslosenversicherungen, vorbehaltlich ordentlicher Lebensführung der Empfänger und Sicherungen gegen Drückeberger („malingerers"). Der „Minderheitenbericht" trug keinen spezifisch sozialistischen Stempel, denn sein Ziel — „clearing up the base of society" — war von der Grundentscheidung für eine bestimmte wirtschaftlich-politische Ordnung unabhängig. Doch der Tenor des Berichts i n seiner Gesamtheit hatte antiliberale Züge. Die weitgehenden Vorstellungen zur Ordnung und Regulierung von A r m e n bzw. Arbeitslosen nahmen auf traditionelle Freiheitsrechte wenig Rücksicht. Den staatlichen Behörden sollte es obliegen, die A r m e n i n Kategorien einzuteilen u n d sie unabhängig von ihren eigenen Wünschen einer entsprechenden Behandlung zuzuordnen. Die Verwaltungsexperten der Behörden sollten über die nötigen Zwangsmittel verfügen, diejenigen Menschen zu internieren, die unter eine von der Gesellschaft angenommene Minimalgrenze geistiger und physischer Leistung oder sozialer Effizienz fielen 2 2 5 . Beatrice Webb brachte ihre Bewunderung für den Geist puritanischer Disziplinierung zum Ausdruck, m i t dem die Heilsarmee ihre Anstalten für Arbeitslose und Beschäftigungsunfähige leitete, und spielte sogar m i t dem Gedanken, diese als soziales Auffangbecken i n ein staatliches System der Regleciety" vorgetragen hatte; vgl. Harris, J.: W i l l i a m Beveridge, S. 119 u n d die Briefe von S. Webb an W. Beveridge, 13. 2.1908 u. 17. 2.1909, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 282. 224 Webb , S. u. B. (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I I , S. 301. 225 Siehe z.B. Webb , S.u. Β.: (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I, S. 291 u. 293 u n d T e i l I I , S. 305 f.
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mentierung von sozial Unterstützungsbedürftigen einzubauen 2 2 6 . Bei der Organisation des Arbeitsmarktes erschienen den Webbs persönliche Disziplinierungen und Zwangs Verpflichtungen unentbehrlich zu sein: obligatorische technische Ausbildung sowie militärisches oder körperliches Training hielt Beatrice Webb bei den gesunden Arbeitslosen für das geeignete Mittel, während Sidney Webb sogar dafür plädierte, die unterlassene Registrierung eines Arbeitslosen bei den Arbeitsvermittlungsstellen zu einem kriminellen Vergehen zu machen 2 2 7 . Dieses „principle of compulsion" begründet sich durch den hohen Stellenwert, den die Webbs dem „moralischen Faktor" einräumten. A r m u t hatte für sie i m wesentlichen soziale Ursachen, doch die Rückwirkungen der sozialen Übel auf die private Lebensführung schienen ihnen so verderblich und durch einfache Umweltreformen so wenig umkehrbar zu sein, daß bei einer Bekämpfung der A r m u t die disziplinierende Behandlung des individuellen Charakters Voraussetzung dafür war, daß soziale Strukturmaßnahmen überhaupt greifen konnten 2 2 8 . Der sich i n A r m u t befindliche Mensch mußte also strengen moralischen Zwängen unterworfen werden, um i h n ständig vor einem A b gleiten i n eine i m Webbschen Sinne schädliche Lebensführung zu bewahren. Einer der Einwände der Webbs gegen die privaten, überwiegend religiösen Wohltätigkeitsorganisationen, für die ja auch die individuelle Charakterstärkung ein Hauptanliegen ihrer Hilfstätigkeit war, ergab sich aus dem Tatbestand, daß diese nicht über die nötigen Zwangsmittel verfügten, um das Verhalten der Bedürftigen zu disziplinieren, sondern daß sie nach Ansicht der Webbs durch bloßes Almosengeben ihre unmoralische Lebensweise noch unterstützten. M i t dem moralischen Unwerturteil, das das viktorianische Hilfsethos überwiegend an die A r m u t geknüpft hatte, wollten die Webbs durch die Verallgemeinerung und Vereinheitlichung der Sozialdienste Schluß machen; doch Unterstützung und Behandlung von Bedürftigen sollte an strikte Bedingungen der Disziplin und der moralischen Lebensführung gekoppelt sein: Bedürftigen, die dazu nicht bereit waren, drohte die Internierung i n Besserungsanstalten.
226 B r i e f von B. Webb an M a r y Playne, 2. 2.1908, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I , S. 280 u n d Webb , Β . : Our Partnership, S. 400. 227 Siehe Harris , J.: Unemployment and Politics, S. 254 u. 207; vgl. auch Webb , S.: The Problem of Unemployment i n the United K i n g d o m w i t h a remedy by organisation and training, i n : The A n n a l s of the American Academy of Political and Social Science, 1909 (Bd. 33), S. 204—209. 228 Webb, S. u. Β . (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I I , S. 233—237 u n d Webb. S. u. B.: The Prevention of Destitution, S. 293 ff.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Die Frontstellung, die der „Minderheitenbericht" bezog, war besonders gegen die unsystematische und amateurhaft verwaltete Armenhilfe der privaten karitativen Hilfsorganisationen und gegen das personale Laienelement i n der staatlichen Armenverwaltung gerichtet („keeping at bay the mere irresponsible amateur" 2 2 9 ). U m einer wirksamen Beseitigung der Ursachen von A r m u t w i l l e n hatte das personale Hilfselement weitgehend zugunsten wissenschaftlicher Organisationsverfahren zurückzutreten 2 3 0 . Von daher erhielt auch die Auflösung eines einheitlichen Armenrates und die funktionale Zuweisung der Bedürftigen an spezialisierte Behörden ihre wesentliche Begründung. Moderne rationale Sozialpolitik und -Verwaltung mußte ausgebildeten Experten obliegen, die den Maßstäben professioneller Effizienz entsprachen. a) Die Webbs und die Sozialreformen der Liberalen (1906—1914)
Die hohen Erwartungen, die die Webbs an den unmittelbaren politischen Einfluß des „Minderheitenberichts" nach seiner Veröffentlichung i m Jahre 1909 stellten, erfüllten sich nicht. Z u groß waren die Vorbehalte der regierenden Liberalen gegen das vorgeschlagene Maß an Reglementierung des gesamten Sozialbereichs. Die Webbs schöpften das Vertrauen i n die Umsetzbarkeit ihres Reformentwurfs aus ihren guten Verbindungen zu Schlüsselpersonen i n Politik und Verwaltung. I n der Verwaltung waren es beispielsweise die Ärzte i m öffentlichen Dienst, speziell die ärztlichen Beamten i m Erziehungsministerium, die dem „Minderheitenbericht" besonders gewogen waren; dieser befürwortete neben einer Reform des lokalen Gesundheitswesens auch die mögliche Errichtung eines nationalen Gesundheitsministeriums 231 . Der oberste Beamte i m Erziehungsministerium und einer der fähigsten und einflußreichsten Staatsdiener i n der englischen Politik überhaupt, Sir Robert Morant, stand ebenfalls auf der Seite der Webbs. Morant war bestrebt, ins „Local Government Board" überzuwechseln, i n dessen Hauptzuständigkeit die Sozialreformen fielen, das i n den Reihen seiner Beamtenschaft aber noch zahlreiche, feste Anhänger der traditionellen Armenrechtsprinzipien besaß. Der Minister dieses Amts für Lokalverwaltung, John Burns, den die Webbs anfangs m i t einigen Reformhoffnungen bedacht hatten, wurde während der Beratungszeit der „Royal 229 Webb, S. u. Β . (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I, S. 548. 230 w ä h r e n d die Webbs traditionelle, philanthropische Hilfsorganisationen ganz ausgeschaltet sehen wollten, sollte freiwilligen (ebenfalls ausgebüdeten) Helfern eine Unterstützungsfunktion zukommen („a touch of friendly sympathy"), die insbesondere beim Aufspüren behandlungsbedürftiger Fälle nutzbar gemacht werden konnte. Siehe Webb, S. u. Β . (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I, S. 546—550. 231 Vgl. Webb, S. u. B.: The Prevention of Destitution, S. 287 ff., S. 498 u. 555 f.; dazu auch Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 243.
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Commission" zu einem scharfen Gegner der Minderheitenposition und betrieb i n der Armenrechtsfrage faktisch eine Politik des Status quo. Haldane war den Webbschen Sozialreformen gegenüber aufgeschlossen, saß i m Kriegsministerium jedoch weit von den entsprechenden Reformhebeln entfernt. Trotzdem unternahm Haldane, der selbst daran dachte, das „Local Government Board" einmal zu übernehmen, mehrere A n läufe, um den zurückhaltenden, späteren Premierminister Asquith zur Initiative i m Sinne der Webbschen Armenrechtsreform zu bewegen 2 3 2 . Kurz vor der Debatte zur gesetzlichen Einführung der Altersrente i m Juni 1908 schien der i n der Frage der Sozialreform stets zaudernde Asquith den Webbschen Vorschlag einer Sprengung der Armenrechtsstruktur aufnehmen zu wollen. I n der parlamentarischen Auseinandersetzung u m die Altersversorgung w a r es dann jedoch allein Haldane, der m i t seiner Befürwortung eines wissenschaftlichen Klassifikationsverfahrens bei staatlichen Sozialleistungen eine Verbindung zum Geiste der Webbschen Sozialreform anklingen ließ 2 3 3 . Der radikale Schatzkanzler L l o y d George war zur Zeit der Veröffentlichung der Armenrechtsreformberichte m i t dem kontroversen Budget von 1909 und dem Veto der Lords beschäftigt („the people's budget") und hatte frühzeitig i m Handelsamt bereits eigene Pläne zur Sozialversicherung entwickelt. Für kurze Zeit hielten die Webbs m i t Winston Churchill ihren wichtigsten Brückenkopf i m liberalen Kabinett. Sie hatten ihn ursprünglich gering geachtet, doch als Churchill sein Interesse für die Sozialreform entdeckte und Anfang 1908 begann, die Ratschläge der Webbs i n sozialen Fragen einzuholen, änderte sich ihr Urteil schnell; fortan hofften sie auf ihn als politischen Promotor ihrer Reformen 2 3 4 . Als Churchill Präsident des Handelsamtes wurde, vermittelten i h m die Webbs den jungen W i l l i a m Beveridge als Mitarbeiter und Arbeitslosen-Experten. So waren sie es auch, die Churchill von der Notwendigkeit der Arbeitsvermittlungsstellen überzeugten. Von ihnen übernahm er darüber hinaus die Konzeption des „nationalen M i n i mums", m i t dessen Hilfe er seine Sozialpolitik propagandistisch w i r k sam machte 2 3 5 . I n Churchills Bewunderung für den deutschen „Staatssozialismus", i n seinem Eintreten für eine stärkere Reglementierung der Sozialorganisation erwies sich die Nähe zu den Prinzipien der 232
Vgl. Harris, J.: Unemployment and Politics, S. 267. Siehe Searle, G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 247. 234 Brief von B. Webb an M a r y Playne, 22. 2.1908, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I I , S. 287; vgl. auch Webb, Β . : Our P a r t nership, S. 402, 404 u. 416 f. 235 Vgl. Gilbert, Bently B.: Winston Churchill versus the Webbs: The Origins of B r i t i s h Unemployment Insurance, i n : American Historical Review, A p r . 1966 (Bd. 71), S. 850; zu Churchills Übernahme des Webbschen „National M i n i m u m " siehe Webb, Β.: Our Partnership, S. 404. 233
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Webbschen Sozialreform. Es war Churchill, der i m Laufe des Jahres 1908 i m liberalen Kabinett immer stärker auf soziale Reformmaßnahmen drängte: „ I say — thrust a big slice of Bismarckianism over the whole underside of our industrial system, and await the consequences, whatever they may be, w i t h a good conscience 238 ."
Doch gegen Ende des Jahres 1908, nach einer Zeit engen, geistig-politischen Austausches, begann sich Churchill vom Einfluß der Webbs zu lösen. Er hatte sich von den Webbs die Ideen geholt, die er für seine politischen Vorstöße benötigte; doch Churchill war nicht der Mann, der sich als politisches Werkzeug einer intellektuellen „pressure group" gebrauchen ließ. Er mußte, u m ein ungleichartiges, ζ. T. traditionell denkendes liberales Kabinett zu überzeugen, den anvisierten Sozialreformen einen spezifisch liberalen Anstrich geben, zumal das kompromißlose Eintreten der Webbs für die rigorosen Organisationspläne ihres „Minderheitenberichts" i n liberalen Kreisen bereits anrüchig geworden war. Zudem w a r Churchill in seiner neuen politischen Funktion als Präsident des Handelsamts mehr und mehr i n den Einflußkreis L l o y d Georges geraten, dessen Versicherungspläne der Webbschen Sozialreform entgegenstanden. Auch hatten die Untersuchungen Beveridges, der für Churchills Handelsamt arbeitete, den Akzent auf das industriellorganisatorische Problem der Unterbeschäftigung gesetzt, was von der Webbschen Sicht der Arbeitslosigkeit als Problem primär des sozialen Elends und ihrer starken Beschäftigung mit der Disziplinierung der Arbeitslosen wegführte 2 3 7 . Die beiden wichtigsten Männer im liberalen Kabinett zu diesem Zeitpunkt, Asquith und L l o y d George, waren gegenüber den massiven taktischen Einflußmanövern der Webbs am mißtrauischsten geworden. Auch aus prinzipiellen politischen Erwägungen versperrten sie einer tiefgreifenden Reform der sozialen Umwelt, welche die Freiheit des Individuums beeinträchtigte, den Weg. Die Webbs verstanden nur langsam, daß ihre Gunst i m Schwinden begriffen war. Noch Ende des Jahres 1909 hoffte B. Webb, daß Churchill als möglicher Präsident des „Local Government Board" zusammen mit Morant den „Minderheitenbericht" durchsetzen w ü r d e 2 3 8 . Andererseits war ihr Glauben an den Reformwillen der Liberalen niemals unbegrenzt gewesen; wegen des individualistischen, radikal-demokratischen Gedankenguts in der liberalen Partei setzten die Webbs ihre Hoffnung zum Teil auf eine kon238
Brief von W. Churchill an H. H. Asquith, 29.12.1908, zit. nach: Gilbert, Β . B.: Winston Churchill versus the Webbs, i n : American Historical Review, 1966, S. 854. 237 Siehe Harris, J.: W i l l i a m Beveridge, S. 118. 238 Webb , Β . : Our Partnership, S. 437.
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servative Regierung, von der sie eine Sozialpolitik mehr etatistischen Charakters erwarteten: „ M y own idea is that the Liberals w i l l adumbrate the scheme, but the Tories w i l l carry i t out. Which I should prefer i n many ways — there w o u l d be no nonsense about democracy 2 3 9 ."
Als schließlich die Liberalen — entgegen den Webbschen Erwartungen — auf das große Projekt der Sozialversicherung zusteuerten, bezogen die Webbs dagegen eine eindeutige Frontstellung. Die obligatorische Krankenversicherung, als Teil I der „National Insurance A c t " unter der Verantwortung L l o y d Georges entstanden, war für die Webbs ein besonderer Stein des Anstoßes 240 . L l o y d George hatte sich — ebenso wie Churchill bei seiner Arbeitslosenversicherung als Teil I I der „National Insurance A c t " — vom Vorbild deutscher Organisation i n der Sozialpolitik leiten lassen 241 . Beide Modelle der obligatorischen Versicherung, zu der der Staat ein Drittel (Arbeitslosigkeit) bzw. zwei Neuntel (Krankheit) beisteuerte, waren vom Prinzip her ähnlich gedacht, aber verwaltungsmäßig unterschiedlich ausgestaltet; dabei erregte die Krankenversicherungsverwaltung durch ihre ad hoc-Behörden die besondere K r i t i k der Webbs. Die Versicherungspläne der Liberalen liefen der Webbschen Sozialreform i m Ansatz zuwider, weil es ihnen u m die Abmilderung der Folgen von ökonomischen Unwegsamkeiten zu tun war, während die Webbs bei der Behandlung der Ursachen anzusetzen gedachten. I m Falle der Arbeitslosigkeit beispielsweise zahlte der Staat nach den liberalen Gesetzesplänen Unterstützung, ohne die von den Webbs für notwendig befundenen Bedingungen zu stellen, d. h. die Arbeitslosen zu organisieren und zu verpflichten; die völlige Freiheit des Individuums blieb gewährt. Churchill erklärte die Ratio des Gesetzes: „ O u r concern is w i t h the evil, not w i t h the causes. W i t h the fact of u n employment, not w i t h the character of the unemployed 2 4 2 ."
Gerade das machte die staatliche Zwangsversicherung i n den Augen der Webbs zu einer „most unscientific state a i d " 2 4 3 . Eine staatliche Versicherung, die ein automatisches Recht auf Unterstützungszahlung ver239
Ebenda, S. 418. Webb, S . U . B . : (Hrsg.): The M i n o r i t y Report, T e i l I I , S. 290—293; vgl. auch Webb, S. u. Β . : The Prevention of Destitution, S. 159. 241 Die Bismarcksche Sozialgesetzgebung hatte allerdings keine staatliche Versicherung gegen Arbeitslosigkeit gekannt. 242 W. Churchill an L l e w e l l y n Smith, 6.6.1909, zit. nach: Gilbert , Β . B.: Winston Churchill versus the Webbs, i n : American Historical Review, 1966, S. 856. 243 Webb, Β.: Our Partnership, S. 468. 240
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
lieh, verstieß gegen das Grundaxiom der Webbschen Sozialpolitik: staatliche Gelder sollten nach ihrer Ansicht nur unter der Bedingung ausgegeben werden, daß sie eine reformerische W i r k u n g auf die Umwelt oder eine Besserung von Charakter und Verhalten der Empfänger versprachen. B. Webb erklärte: „The unconditionality of a l l payments under insurance schemes constitutes a great defect. The State gets nothing for its m o n e y . . . 2 4 4 . "
Der liberale Charakter der Reformen Churchills und L l o y d Georges verbot es jedoch, die staatliche Gewalt zu einem anderen Zweck zu gebrauchen als zur einfachen Notlinderung. Der Staat durfte keine moralische Besserungsanstalt werden. Churchill erklärte: „ I do not like mixing up moralities and mathematics 2 4 5 ." Die Webbs dagegen befürchteten bezeichnenderweise den Mißbrauch staatlicher Leistungen und Gelder durch Drückeberger („malingerers") und Arbeitsscheue und somit das Anwachsen einer parasitären Klasse 2 4 6 . Obligatorischen Charakter sollte nach den Webbs nicht die Versicherung haben, für welche der Staat lediglich i n Form einer Unterstützung an die leistungsmoralisch einzig wirksamen, nämlich die freiwilligen Versicherungsverbände aufzukommen hätte, sondern die Arbeitsvermittlungsstellen als Erziehungsund Disziplinierungsinstitutionen. Churchills Teil I I der „National Insurance A c t " verfuhr genau umgekehrt: obligatorische Versicherung und freiwillige Arbeitsvermittlung. Doch bevor das Sozialversicherungsgesetz der Liberalen i m Jahre 1911 verabschiedet wurde, hatten die Webbs nochmals alle propagandistischen Anstrengungen unternommen, ihren „Minderheitenbericht" politisch wirksam zu machen. Das öffentliche Echo auf ihren Bericht war überproportional groß gewesen 247 . Dennoch waren die Webbs über die Skepsis enttäuscht, m i t der Presse und Politiker ihre tiefgreifenden Organisationspläne aufnahmen. Die „Times" etwa hielt den Webbschen „Minderheitenbericht" für die französische Revolution i n anderer F o r m 2 4 8 . So riefen sie m i t einer organisatorischen Meisterleistung eine 244
Ebenda S. 430. W. Churchill an L l e w e l l y n Smith, 6.6.1909, zit. nach: Gilbert , Β . B.: Winston Churchill versus the Webbs, i n : American Historical Review, 1966, S. 856. 246 Siehe ζ. B. Webb, Β . : Our Partnership, S. 468, 474, 487. 247 Die Fabier besaßen auch i n diesem Falle ein großes Vermarktungsgeschick: Der „Minderheitenbericht" als offizielles Dokument w u r d e von der Fabian Society i n einer Billigausgabe u n d von einem Privatverlag (Longmans) i n einer wertvollen Ausgabe nachgedruckt; ein Druckverbot von Regierungsseite m i t dem Hinweis auf das staatliche Urheberrecht wurde auf Intervention Haldanes zurückgezogen. So erreichte der „Minderheitenbericht" eine w e i t größere Auflage als der „Mehrheitsbericht". 245
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großangelegte Propagandakampagne ins Leben, die m i t allen modernen Techniken der Massen-Einflußnahme die englische Öffentlichkeit m i t den Prinzipien des „Minderheitenberichts" überschüttete. I h r „National Committee for the Promotion of the Break-up of the Poor L a w " , später umbenannt i n „National Committee for the Prevention of Destitution", war eine überparteiliche „single issue"-Organisation, die mitsamt ihren regionalen Zweigstellen insgesamt an die 20 000 Mitglieder besaß. A n der Spitze eines hauptamtlichen Büros und eines Stabs freiwilliger Helfer — meist junge fabische Intellektuelle — organisierten die Webbs große Vorlesungstouren, Konferenzen, Sommerkurse, Studienzirkel, die Veröffentlichung von Propagandaschriften und die Herausgabe einer eigenen Zeitung namens „The Crusade" 2 4 9 . M i t dem wachsenden Widerhall ihrer Armenrechtsreformkampagne i n allen Teilen der Öffentlichkeit ging jedoch gleichzeitig eine Abkühlung der Beziehungen zur offiziellen Regierungspolitik und Verwaltung einher. Beatrice Webb konnte m i t Recht behaupten, daß als Erfolg der perfekten Propaganda-Kampagne das Bewußtsein der Öffentlichkeit verändert worden sei und eine „Konversion Englands" bevorstehe 250 . Sie hatte sogar den Aufbau einer ständigen Organisation — gleichsam eine neue Version der Partei der „nationalen Effizienz" — i m Auge: „an organisation to maintain the standard of life i n all its aspects" 2 5 1 . M i t der Verabschiedung der „National Insurance A c t " 1911/12 wurde der Reformbewegung jedoch plötzlich der Wind aus den Segeln genommen. Erstaunlicherweise ließ die i n anderen sozialen Fragen so reformfreudige liberale Regierung die Reform des Armenrechts schließlich unangetastet liegen. Kurzfristig war damit die Politik der Webbs gescheitert. Eine vorsichtige liberale Sozialpolitik, die das Individuum so wenig staatlichen Reglementierungen wie möglich unterwerfen wollte, hatte vorläufig obsiegt. Langfristig jedoch wurde der Webbsche „ M i n derheitenbericht" zu einem Markstein i n der Geschichte des englischen Wohlfahrtsstaates: so waren beispielsweise die „Local Government A c t " der Konservativen von 1929, die die alten Armenrechtsbehörden abschaffte, die „Unemployment A c t " von 1934, die die Arbeitslosigkeit vollständig aus dem Armenrecht herauslöste, sowie die gesamte LabourSozialgesetzgebung unter Attlee nach 1945 den Grundprinzipien des 248
Siehe Webb, Β.: Our Partnership, S. 455. Mitglieder der Webbschen Organisation aus Intellektuellenkreisen w a ren u. a. : Rupert Brooke, Graham Wallas, L . T. Hobhouse, J. A . Hobson, G. P. Gooch, H. G. Wells, Gilbert M u r r a y . Die Zeitung „Crusade" wurde 1912 wieder eingestellt u n d ging i m 1913 von den Fabiern gegründeten „ N e w Statesman" auf. Das Buch „Prevention of Destitution" der Webbs enthält i n überarbeiteter Form A r t i k e l aus „ T h e Crusade". 250 Webb, Β.: Our Partnership, S. 434 und 454. 251 Ebenda, S. 428. 249
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Webbschen „Minderheitenberichtes" verpflichtet 2 5 2 . W i l l i a m Beveridge selbst hat erklärt, daß die Vorschläge seines „Beveridge-Planes" von 1942 dem Gedankengut der Webbs entstammten und eine Anwendung des Konzepts des „nationalen Minimums" gewesen seien 2 5 3 . Beveridges legendärer Plan w a r i n der Tat ein direkter Abkömmling des „Minderheitenberichts": Seine Vorschläge zur Sozialversicherung verknüpften — ebenso wie einstmals der Webbsche Bericht — die Gewährung von staatlicher Unterstützung m i t systematischen staatlichen Maßnahmen der Prävention und Behandlung von Krankheit und anderen Ursachen von Armut. Doch nicht nur die institutionellen Reformvorschläge, die z. T. durch das epochemachende funktionale Verwaltungsprinzip der Webbs hervorgebracht wurden (z. B. Arbeitsvermittlungsstellen, A r beitsministerium, Gesundheitsministerium, staatlicher Gesundheitsdienst, Instrumentarium zur antizyklischen Beschäftigungspolitik, A b schaffung der „Boards of Guardians"), sind Wirklichkeit geworden, sondern — prinzipieller — die rationalen Grundannahmen der Webbschen Sozialpolitik: Der Staat handelt heute nicht nur notlindernd, sondern aktiv und präventiv; die Sozialdienste sind weitgehend universalisiert, d. h. nicht mehr Unterstützung nur für Bedürftige, sondern die Garantie eines bestimmten sozialen Lebensstandards für jeden ist die anerkannte Maxime des modernen Wohlfahrtsstaates i m Gegensatz zum bloß sozial verpflichteten Staat; die Gewährung der staatlichen Sozialleistungen obliegt Spezialisten und auch das funktionale Organisationsprinzip der Verwaltung hat sich — vorübergehend — durchgesetzt. Der „Minderheitenbericht" und die anschließende Kampagne veränderten auf Dauer die Haltung des gesamten englischen Gemeinwesens zum Problem der Armut, insbesondere zum Problem der Arbeitslosigkeit. Seine Leistung war es, die sozialen Bedingungen der A r m u t deutlich zu machen und die grundlegende Verantwortung des Staates dafür festzusetzen. Der „Minderheitenbericht" leistete den entscheidenden geistigen Beitrag zur Modernisierung der Sozialpolitik und -Verwaltung und half mit, die Wertentscheidung für den englischen Wohlfahrtsstaat zu treffen.
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Andere Gesetze, deren Urheber ausgesprochen oder unausgesprochen die Webbschen Reformprinzipien übernahmen, sind z.B.: Labour Exchange A c t (1909), Education A c t (1921 und 1944), O l d Age and Widows Pensions A c t (1940); vgl. auch Clarke , J. S.: The Break-up of the Poor Law, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 114. 253 L o r d W. Beveridge: Power and Influence, London 1953, S. 86: „The Beveridge Report of 1942 stemmed from w h a t all of us had imbibed from the Webbs."
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V. Die Rationalisierung von Regierung und Verwaltung 1. Die neue Demokratievorstellung: Repräsentativregierung nach funktionalem Prinzip und Herrechaft der Experten Hatten sich die Fabier bereits seit Ende der 80er Jahre bemüht, die politischen Ideen des Radikalismus zu überwinden und — ohne einen politischen Bruch herbeizuführen — die radikale Bewegung für ihren Sozialismus zu gewinnen, so war es i m Zuge der „Effizienz-Bewegung" zur offenen geistig-politischen Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern gekommen. Die Webbs waren nun bemüht, die letzten Traditionsbestände des ohnehin i m Absterben begriffenen englischen Radikalismus von ihrer fabischen Lehre abzuschütteln. Dies galt besonders für das demokratische Repräsentationsverständnis der Radikalen. Beim Versuch, einen neuen Demokratiebegriff auszuformulieren, der den fabischen Plänen zur rationalen Organisation der Industriegesellschaft entsprechen konnte, mußte S. Webb zunächst seinen Abstand von allen radikalen und sozialistischen Vorläufern feststellen: „Socialists have contributed so far very l i t t l e to the theory or practice of Democracy . . . Socialists have uncritically accepted the Radical conception of democracy . . . i n the t w e n t i e t h century this Radical conception of democracy is found to be h o r r i b l y imperfect and irksome 1 ."
Das Repräsentationsverständnis der englischen Radikalen hatte, seitdem Tom Paine „hereditary" und „representative government" voneinander abgehoben hatte, nur die Monarchie, nicht die parlamentarische Demokratie i n Gegensatz zum Begriff der Repräsentation gesetzt. Die kontinentale Theorie der reinen, unvermittelten Volkssouveränität konnte i n England keinen starken Rückhalt finden. Niemals hat sich die Anschauung durchsetzen können, daß die repräsentative Demokratie gegenüber der direkten Demokratie minderwertig sei. So behielt zwar der englische Radikalismus die Zentralvorstellung „government of the people, for the people, by the people", doch er bettete sie i n den Rahmen eines zu reformierenden parlamentarischen Systems m i t Geltung der Doktrin der Parlamentssouveränität ein, bestand also nicht unbedingt auf direkter — von Webb sogenannter — „primitive Democracy". Idealtypisch bedeutete Vertretung des Volkes als radikales Repräsentationsprinzip, daß alle Individuen — durch einen einheitlichen und autoritativen Willen zusammengebunden — i m Medium eines Organs von gewählten Bürgern verkörpert sein sollten 2 . Trotz ihres Menschen1 Webb , S.: A Stratified Democracy, i n : The New Commonwealth, Supplement Nr. 7, 28.11.1919, S. 2 u. 5. 2 Siehe dazu auch Beer, Sam: Modern B r i t i s h Politics, 2. A u f l . London 1969, S. 39—43.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
bildes vom rationalen und unabhängigen Individuum beharrte die radikalistische Vorstellung auf der Einheit des Volkswillens. Diese Einheit sollte durch eine Reihe von Einzelentscheidungen Zustandekommen, wobei der einzelne vom Prinzip her nicht u m h i n konnte, m i t dem Gemeinwillen übereinzustimmen. Dieser vom Individuum denkende Radikalismus war daher jeglicher Interessen- oder Gruppenrepräsentation gegenüber feindlich gesinnt. Bentham dann verkürzte den Repräsentationsbegriff auf die mehr technische Bedeutung des Wahlsystems. Das Aggregat der Einzelinteressen war für ihn schon m i t den Interessen der ganzen Nation identisch. Er verortete die Souveränität i n einer natürlichen Instanz: i n der Mehrheit der Einzelwähler, nicht i n der künstlichen, von der Summe der Einzelwillen verschiedenen Instanz des Gemeinwillens 3 . Die Fabier folgten zunächst der utilitaristischen Verengung des radikalen Repräsentationsverständnisses auf die Wahlrechtsproblematik. Die Forderung nach einem verbesserten allgemeinen Wahlrecht begründete sich nicht naturrechtlich wie bei den alten Radikalen, sondern aus Zweckmäßigkeitsüberlegungen: Es galt der arbeitenden Mehrheit des Volkes i m ganzen Sozialorganismus zu größerem politischen Gewicht zu verhelfen, nicht jedoch angeborene Ansprüche der Individuen einzulösen. K l a r hatten die Webbs bereits i n ihrer „Industrial Democracy" die Rolle des Volksrepräsentanten von einem Verständnis des extremen Radikalismus abgegrenzt, indem sie i h m jenseits eines bloßen Delegiertenstatus die Verfechtung einer eigenständigen Politik aufgaben und für ihn das Berufspolitikerdasein und Expertenkenntnisse zur Voraussetzung machten 4 . Der eigentliche Bruch m i t den alten radikalen und auch sozialistischen Repräsentationsvorstellungen vollzog sich erst, als die Webbs aus ihrer Analyse der Industriegesellschaft als Gefüge unterschiedlicher Funktionszusammenhänge Folgerungen für die politische Organisation der Demokratie ableiteten. Die Vorstellung vom einheitlichen Volkswillen löste sich auf und machte schließlich einer funktionalen Organisation der Repräsentativregierung Platz. Sidney Webb nahm — gemäß einer eigenen Forderung 5 — die Prinzipien der Demokratie unter die Lupe der neuen Sozialwissenschaft. Er erklärte den einheitlichen Volkswillen zur Fiktion: „the community . . . is not itself endowed w i t h any corporate consciousness6." E i n Volk zerfalle vielmehr in funktionale Einheiten: 8
Streifthau, K . : Die Souveränität des Parlaments, S. 28 ff. Webb , S. u. Β.: Industrial Democracy, S. 60 ff. 5 Webb , S. u. B.: What is Socialism? I V . Participation i n Power and the Consciousness of Consent, i n : The New Statesman, 3. M a i 1913 (Bd. 1), S. 108: „Democracy . . . is the most dependent (of a l l studies) on the advancement of Science." 6 Fabian Tract Nr. 187: The Teacher i n Politics (S. Webb), 1918. S. 7. 4
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„ . . . the people as a whole consists of minorities" ;
das bedeute für die Organisation der Regierung: „ . . . the most important business of t w e n t i e t h century government must be to provide not only for minorities, but even for quite small minorities, and actually for individuals" 7 .
Dem Radikalismus des 19. Jahrhunderts wurde es nun zum Vorwurf gemacht, daß er i m Zuge seines Kampfes gegen eine ständisch priviligierende „ class-legislation" die Vielheit der intermediären Gruppen hatte zerstören wollen. Die radikale Sicht vom einheitlichen Volkswillen habe die Einbindung des einzelnen i n funktionale gesellschaftliche Interessenformationen zu unrecht angegriffen: „,Class legislation 4 , i n short, is not only not bad, or wicked, or undemocratic, b u t actually the only good, the only useful, the only really effective legislation 8 ."
Die Regierung dürfe daher ihre Dienste nicht mehr — an einem abstrakten einheitlichen Volksbegriff orientiert — allgemein und gleichförmig ableisten, sondern müsse für jede Kategorie der gesellschaftlichen M i n derheiten gemäß deren Bedürfnis und Status eine „spezielle wissenschaftliche Behandlung" bereitstellen: „Accordingly legislation and governmental administration necessarily become, i n all h i g h l y organized communities — however Democratic they may be — more and more the business of persons elaborately trained and set apart for the task and less and less the immediate outcome of popular feeling 9 ."
Dem Repräsentanten komme somit als Fachmann eine eigenständige, vom direkten Volkswillen weitgehend unabhängige Funktion zu. Damit w a r der einheitliche Wille des Volkes als maßgebliche Instanz für die Regierung zwar aufgegeben, doch die Fabier hielten dennoch an der zweckausgerichteten gesellschaftlichen Einheit als letzter Begründung des Regierens fest. Diese Einheit ergab sich aus dem fabischen B i l d der Gesellschaft als Organismus bzw. Maschine, welches eine wechselseitige Abhängigkeit aller funktionalen Teile bedingte. I n radikalistischer Vorstellung w a r das Volk eine Einheit durch die prinzipielle Interessenidentität der unabhängigen und rationalen Individuen als gleichwertige Einzelbestandteile des Ganzen, die trotz je individueller Entscheidung zur Einheit des Willens und Handelns vorstießen. I n der kollektivistischen Vorstellung der Fabier hingegen begründete sich die 7 Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society ( S. Webb), 1911, S. 3 u n d ders.: The Necessary Basis of Society, i n : Contemporary Review 1908, S. 65&—668. 8 Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, S. 3. 9 Ebenda, S. 6.
Wittig
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Einheit des Volkes durch die strukturelle Verflochtenheit und gegenseitige Abhängigkeit der verschiedenen, ungleichen sozialen Funktionen. Das fabische Grundkonzept einer gleichsam organischen Ausdifferenziertheit der Funktionen i n der industriellen Gesellschaft machte auch eine funktionale Organisation der Regierung notwendig. Dabei dachten die Fabier zunächst nicht an eine Auflösung des traditionellen geographischen Repräsentationsmodus i m Parlament. Ansatzpunkt w a r vielmehr der Bereich der Exekutive: es galt erstens, dort alle Interessenund Gruppenformationen einzubringen, die für das Zusammenspiel des gesamten Sozialorganismus Bedeutung hatten, und zweitens, die bei ausgedehnter Regierungstätigkeit immer heterogener, oft sogar gegensätzlich werdenden Regierungsfunktionen voneinander abzusondern 10 . Eine sogeartete funktionale Organisation der Regierung unterschied sich wesentlich vom Syndikalismus bzw. Gildensozialismus oder den verschiedenen Ausformungen der pluralistischen Gruppentheorie. Die Gildensozialisten betrachteten allein die Produzentengruppen als die maßgeblichen Einheiten funktionaler Repräsentation. Für die Fabier waren es jedoch nicht die Funktionseinheiten der Industrie, sondern vor allem die neuentstehenden verzweigten Berufsorganisationen, deren Interessen und Spezialkenntnisse i n die Regierungstätigkeit zu integrieren waren 1 1 . Darüber hinaus mußten auch die anderen intermediären Organisationen, wie etwa die Verbände von Industrie und Handel, die Gewerkschaften, die Genossenschaften und Verbraucherorganisationen, als funktionale Glieder des Sozialorganismus i n das Handeln der Exekutive einbezogen werden. Die Webbs zogen damit die politischen Konsequenzen aus ihren sozialwissenschaftlichen „Entdeckungen": es war das Verdienst ihrer Untersuchungen gewesen, die kommende soziale Bedeutung dieser ζ. T. neuartigen Organisationen zwischen Individuum und Staat herausgestellt zu haben 1 2 . Die Gildensozialisten wollten den Produzentengruppen, denen sie eine eigene Identität zusprachen, i m demokratischen Prozeß Gehör verschaffen, u m ihre höchstmögliche Autonomie und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Die Fabier dagegen wollten aus regierungstechnischer Perspektive bei der Organisation des Regierungssystems sämtliche Gliederungen m i t wichtigen sozialen Funktionen repräsentiert sehen, u m die Steuerungsfähigkeit des Gesamtorganismus zu erhöhen. 10 Vgl. z.B. Webb, S. u. Β . : Professional Associations, T e i l I I (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, special suppl., 28. 4.1917 (Bd. 9), S. 47 f. 11 Vgl. auch Webb, S.: Can the M i d d l e Class Be Organised? I n : The New Commonwealth, 9.1.1920, S. 13 f. 12 Vgl. ζ. Β . ihre Untersuchungen über die Gewerkschaften, die Berufsorganisationen, die Genossenschaften.
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So kristallisierte sich bei den Fabiern u m die Webbs ein Konzept funktionaler Repräsentation heraus, das sie neben den traditionellen Modi geographischer parlamentarischer Repräsentation ansiedelten. Korporatismus-Ideen aus der „Effizienz-Bewegung" wurden organisatorisch zu konkretisieren gesucht. Die Webbs bemühten sich, die Kontakte zwischen den Regierungsbehörden und den funktionalen sozialen Gliederungen, insbesondere den Berufsorganisationen, zu institutionalisieren, etwa i n Form von gesetzlichen Beiräten und Beratungsgremien 13 . Die Webbschen Ansätze zu korporativen staatlichen Organisationsformen fanden schließlich einen Höhepunkt i n ihrem Verfassungsentwurf von 1920, der die Errichtung eines Sozialparlamentes und die Regierungsbeteiligung der funktionalen Gruppen vorsah 1 4 . Die Webbsche Konzeption funktionaler Repräsentation stellte — folgt man Samuel Beers klassischer Typeneinteilung der englischen Politik — ein entscheidendes K r i t e r i u m für den Übergang zum Typus moderner kollektivistischer Politik dar 1 6 . Die Kanäle funktionaler Repräsentation, die die Webbs zu den Regierungsstellen h i n öffnen wollten, sollten die Höherrangigkeit der parlamentarischen, geographisch organisierten Repräsentation zunächst nicht antasten. Die von den Steuerungsanforderungen des Gesamtsystems her gedachte funktionalistische Theorie der Fabier hatte dem syndikalistischen Primat der Produzenteninteressen immer ablehnend gegenübergestanden. Doch i n seiner Abhandlung über die Demokratie aus dem Jahre 1919 16 machte S. Webb erstmals Zugeständnisse an die syndikalistische Herausforderung, indem er die Mängel einer rein geographisch organisierten, auf dem „Konsumentenstatus" beruhenden Demokartie ausformulierte. Zwar hielt S. Webb weiterhin daran fest, daß die Organisation des Sozialismus auf den drei Pfeilern Staat, Gemeinde, Konsumgenossenschaft beruhen müsse, welche i n ihrem Charakter allesamt Verbraucherorganisationen, nicht Produzentenorganisationen seien. Doch die wachsende Heterogenität der sozialen Funktionen habe eine Heterogenität der Interessen zur Folge, nicht n u r innerhalb des ganzen Sozialorganismus, sondern bereits innerhalb jedes Menschen; so könne 13
Webb , S. u. Β . : Professional Associations, T e i l I I (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, special suppl. 28.4.1917 (Bd. 9), S. 37 u n d S. 47 f. sowie Fabian Tract Nr. 187: The Teacher i n Politics (S. Webb), 1918, S. 15; vgl. auch den Brief von B. Webb an Herbert Samuel v o m 27.11.1917, i n dem sie sich — i m Zusammenhang m i t den Beratungen des „Haldane-Committee" — für die Einrichtung gesetzlicher Beratungsgremien der Berufsorganisationen bei der V e r w a l t u n g ausspricht, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β. Webb, Bd. I I I , S. 94. 14 Siehe u n t e n S. 307 ff. 15 Beer, S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 69—79. 18 A Stratified Democracy, i n : The New Commonwealth, Special Supplement, 28.11.1919. 18*
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
die Repräsentation der Wähler als Konsumenten nach geographischen Gesichtspunkten nicht mehr sämtlichen Interessen der Menschen Genüge tun. Wie es Webb i m Verfassungsentwurf von 1920 formulierte: „ . . . the democratic organisation of a community involve [s] the acceptance of the representation, not of man as man, but of m a n i n the leading aspects of his life i n society: m a n as a producer, man as a consumer, man as a c i t i z e n . . . ; possibly also man as a seeker after knowledge, or man as a religious believer" 1 7 .
Eine solche Interessen Vielfalt ging jedoch auch über den Gildensozialismus, der auschließlich die Produzenten i m Auge hatte, hinaus: „ M r . Cole said y o u culd not represent a citizen, y o u could only represent his purpose. That was imperfect. Most citizens have a hundred different purposes 18 ."
Politische Konsequenz w a r die verstärkte Übertragung von Verantwortung auf organisierte Interessengruppen aller A r t , von Kirchen bis zu Wirtschafts- und Berufsverbänden 19 . Oberste Einheit war immer noch die gesamte staatliche Gemeinschaft, doch wie S. Webb m i t dem Hinweis auf L l o y d Georges korporative Organisationsform einer „National Industrial Conference" ausführte, müßten politische Entscheidungen mehr und mehr aus organisierten Konsultationen der sozialen Gruppen statt aus den Institutionen der geographisch organisierten Demokratie herauswachsen. Die neuen Repräsentationsmodi hoben die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft auf. Der politischen Repräsentation der Menschen als Bürger, welche Staatlichkeit demokratisch konstituierte, w a r die soziale und wirtschaftliche, korporative Repräsentation gleichrangig zur Seite gestellt. Die Webbsche Demokratie i n der ökonomisch überlagerten „Great Society" 2 0 hatte das Primat der Politik aufgegeben. Daraus ließ Webb für den Charakter der modernen politischen Organisation zweierlei folgen: Zum einen wurde politische Autorität notwendigerweise entpersonalisiert. Politische Autorität w a r keine Autorität qua Bürgerdasein mehr, sondern reine soziale und wirtschaftliche Expertenautorität; als solche war Autorität grundsätzlich nicht mehr bestreitbar: „The objection to authority is a radical not a socialist objection 2 1 ." War politische Auto17 Webb, S. u. B.: A Constitution for a Socialist Commonwealth of Great B r i t a i n (London 1920), Neuaufl. eingel. v. S. Beer, Cambridge 1975, S. X L . 18 Webb, S.: A Stratified Democracy, i n : The N e w Commonwealth, Supplement, 28.11. 1919, S. 5. 19 Ebenda, S. 6. 20 So der T i t e l eines Buches von Graham Wallas aus dem Jahre 1914, einem Terminus von D u r k h e i m entlehnt. 21 Webb, S.: A Stratified Democracy, i n : The New Commonwealth, Supplement, 28.11.1919, S. 8.
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rität reine Sachautorität, dann konnte sie weitgehend universalisiert werden, d. h. politische Entscheidungen konnten i n der Gesellschaft problemlos dorthin delegiert werden, wo Fachwissen vorhanden war. Das bedingte zum zweiten, daß die Idee der Souveränität tatsächlich, wenn auch nicht nominell, hinfällig geworden war. Es gab nun viele Quellen politischer Autorität — überall dort, wo für die Funktionalität des Gesamtsystems notwendiges Expertentum vorhanden war. Durch eine Zweiteilung des Parlaments vollzogen die Webbs i n ihrem Verfassungsentwurf von 1920 den Bruch mit der traditionellen englischen Souveränitätsdoktrin dann auch formell. Die Prinzipien traditioneller demokratischer Repräsentation, welche eine eindeutig verantwortliche und einheitlich zuständige politische Regierungsautorität legitimierten, waren damit abgelegt worden. Die Auflösung des bürgerlich-politischen Repräsentationsverständnisses ließ auch die grundlegende Herrschaftsproblematik der Demokratie, die Frage nach dem Grad der Bindung der Repräsentanten an den Willen der Repräsentierten, überfällig erscheinen. Gegenstand der Repräsentation waren nun nicht mehr einzelne Anliegen von Bürgern, sondern vor allem Fachfragen, die durch die verschiedenen funktionalen Gruppen an die Regierung herangetragen wurden. I n den Augen der Webbs stellte sich das Problem, ob Regierung „von oben" oder „von unten", welches auch die Sozialisten zu Unrecht noch beschäftigte, nicht mehr: nun hatte allein objektives Fachwissen die Entscheidungshoheit. „ A combination of independent measurement w i t h complete publicity is destined to sweep away the present arbitrariness . . . The deliberate intensification of the searchlight of published knowledge is the corner-stone of successful democracy . . . [A] common consent w i l l be reached by the cogency of accurately ascertained and authoritatively reported facts, d r i v e n home b y the silent persuasiveness of the public opinion of those concerned 2 2 ."
Die Advokaten- und Beratungs-Aufgabe des parlamentarischen Repräsentanten traditioneller A r t w a r hinfällig, übrig blieb allenfalls noch seine Funktion als — wie es B. Webb freimütig ausdrückte — „foolometer" für den Experten, dem jetzt allein das Entscheidungsfeld gehörte 23 . Die Fakten, die der unparteiliche Experte offenkundig machte, trugen die imperative Entscheidungsautorität bereits i n sich und waren nicht mehr politisch disputationsfähig 24 . Ratio der Repräsentation war 22 Fabian Tract Nr. 203 : The Need for a Federal reorganisation of the Cooperative Movement (S. Webb), 1923, S. 23 f.; siehe auch Webb, S.: A S t r a t i fied Democracy, S. 8, sowie Webb, S. u. B.: W h a t is Socialism? I V . Participation i n Power and the Consciousness of Consent, i n : The New Statesman, 3. M a i 1913 (Bd. 1), S. 107. 23 Webb, Β.: Our Partnership, S. 231. 24 Webb, S.: A Stratified Democracy, S. 8.
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es nun nicht mehr, wie bei den Radikalen, dem Volkswillen Gehör zu verschaffen, sondern Zustimmung der Regierten zu vollendeten Taten der Regierung zu besorgen: „What Democracy requires is assent to results", hatten die Webbs bereits i n ihrer „Industrial Democracy" erk l ä r t 2 5 . Nun bekannte Beatrice Webb noch schärfer: „Moreover i t is only consent that is needed, not understanding or intellect u a l appreciation, i. e., feeling not thought. A l l the defects of elections and the stupidities of voters — though they may detract f r o m the intellectual value of the decision — do not detract f r o m the feeling of consent 2 6 ."
Bestand das Wesen einer erfolgreichen Demokratie i m Sinne der Webbs in der Unterwerfung aller kontroversen Fragen unter die Autorität des Wissens, dann war ihr am besten m i t einer größtmöglichen Ausdehnung der Sphäre des Experten i n der Repräsentativregierung gedient. Es w a r ein das gesamte Tun der Fabier durchziehendes A n liegen, Regierung bzw. Exekutive neu nach fachmännischen Maßstäben auszurichten. So sollte die Verwaltung nicht nur quantitativ ausgedehnt werden — Shaw erklärte, daß „eine Regierung . . . m i t einer größeren Anzahl von Beamten notgedrungen immer repräsentativer und demokratischer [werde]" 2 7 —, sondern vor allem mußte die Beamtenschaft vom traditionellen englischen Ideal des gebildeten Gentleman und Laien gelöst werden. Die gesamte staatliche Exekutive bedurfte einer gründlichen Professionalisierung, wobei schon hinsichtlich der Einstellungsvoraussetzungen die klassische Oxbridge-Ausbildung durch die Kenntnisse der neuen Wissenschaften zu ersetzen w a r 2 8 . Spezialwissen und Expertentum waren die Voraussetzungen zur Steuerung des komplexen gesellschaftlichen Funktionsgefüges und darüber hinaus Bedingung für die angestrebte Neutralisierung traditioneller politischer K o n flikte zugunsten eines Konsenses per Sachentscheid. Die Demokratie-Theorie der Fabier hatte elitären Charakter. A l l e führenden Fabier hegten Mißtrauen gegenüber dem sogenannten „gemeinen Mann", den die Radikalen gern als den einzig maßgeblichen Legitimationsspender des Regierens ansahen. B. Webb erklärte: 25
Webb, S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 61. Brief von Β . Webb an G. Wallas, 23. 7.1908, zit. nach: Searle , G. R.: The Quest for National Efficiency, S. 95. 27 Shaw , G. B.: Die einfache Wahrheit über den Sozialismus, i n : ders.: Der Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen, S. 114 (engl.: i n : ders.: The Road to Equality, S. 173). 28 Webb, S. u. B.: Professional Associations, Teil I I (Report for the Fabian Research Department), i n : The New Statesman, spec, supplement, 28.4.1917 (Bd. 9), S. 31 und dies.: State and M u n i c i p a l Enterprise (Report for the F a bian Research Department), i n : The New Statesman, spec, supplement, 8.5. 1915 (Bd. 5), S. 20 u. 31; vgl. auch Fabian Tract Nr. 159: The Necessary Basis of Society (S. Webb), 1911, S. 5 u. 6. 26
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„ . . . we have l i t t l e f a i t h i n the »average sensual man 4 , we do not believe that he can do much more than describe his grievances, we do not t h i n k that he can prescribe the remedies" 2 9 .
Die Regierung wollten sie i n die Hände von wissenschaftlich geschulten Verwaltungsexperten gelegt sehen, deren technisches Fachwissen die demokratische Diskussion ersetzen können würde. Diese gänzlich interessenungebundene und überparteiliche Elite ließe sich nach der Vorstellung der Fabier jenseits aller persönlichen Machtbegierden nur von einem starken Ethos des Dienstes für die Gemeinschaft leiten 3 0 . Die Mitglieder jener technokratischen Herrscher-Kaste waren die asketisch-selbstlosen Experten, die Wells als die „New Samurai" anpries, und denen bereits Auguste Comte die Regentschaft der Welt des positiven Stadiums i n die Hände legen wollte. Die Fabier hatten ihre Wunschelite nach ihrem eigenen A b b i l d entworfen: sie selbst waren die administrativ und ökonomisch geschulten, wissenschaftlichen Fachleute aus der professionellen Mittelklasse, den Traditionen von Aristokratie und Arbeiterklasse gleichermaßen fremd, von säkularem Dienstund Unterordnungsimpuls erfüllt, aber persönlich i n der Machtpolitik ohne Ehrgeiz, welche ihre Aufgabe darin sahen, zum Nutzen des K o l lektivs „überlegene Köpfe zu sein" 3 1 . 2. Die Haltung zu Parlament und Parteien Das veränderte Repräsentationsverständnis und die neue Rolle, die die Fabier den Experten i n der Politik zuschrieben, erschütterte auch die traditionelle Sicht der parlamentarischen Institutionen. Zwar hatten die Fabier einstmals i n einem Programm für einen internationalen Sozialistenkongreß das britische parlamentarische System als ein „firstrate practical instrument of democratic government" bezeichnet 32 , was ihnen überall den kaum auslöschbaren Ruf von konstitutionellen, „demokratischen Sozialisten" eintrug; tatsächlich aber hatten sich be29
Webb , Β . : Our Partnership, S. 120. Ebenda, S. 97 u. Webb , S. u. B.: What is Socialism? I I . A Change of Heart, i n : The New Statesman, 19. 4.1913 (Bd. 1), S. 46. 31 Shaw, G. Β . : Die englischen Fabier und die deutsche Sozialdemokratie, i n : Deutsche Worte, (Jahrg. 24) 1904, S. 375: verschiedentlich ist auf die Ä h n lichkeit einiger Ideen der Webbs u n d W. I. Lenins hingewiesen worden, insbes. hinsichtlich der entscheidenden Rolle der professionellen, intellektuellen V o r h u t iin der sozialistischen Strategie; z.B. Winter, J. M.: Socialism and the Challenge of War, S. 278 f. u n d Harrison . R.: The Young Webb 1859--1892, i n : Society for the Study of Labour History Bulletin, Herbst 1968 (Nr. 17), S. 17 f. L e n i n übersetzte die „ I n d u s t r i a l Democracy" der Webbs u n d brachte deren Idee einer erweiterten Rolle des professionellen Experten i n seine Schrift „Was tun?" ein. 82 Fabian Tract Nr. 70: Report on Fabian Policy and Resolutions presented by the Fabian Society to the International Socialist Workers and Trade Union Congress, London 1896 (G. B. Shaw), 1896, S. 5. 30
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sonders die Webbs und Shaw zu keiner Zeit m i t den traditionellen Prinzipien des englischen Parlamentarismus geistig w i r k l i c h verbunden gefühlt. So ist ihre allmähliche Abwendung von der parlamentarischen Regierungsweise, welche schließlich i m Bruch mit dem gesamten politischen System Englands zugunsten autoritärer und diktatorischer Regime kulminierte, schon frühzeitig i n ihrem Denken angelegt gewesen. Die Fabier u m die Webbs waren seit jeher K r i t i k e r der herkömmlichen institutionellen Maschinerie der Parlamente gewesen. Das Vermächtnis Benthams aufnehmend, erklärte Webb die Gesetzgebung zu einer „special art"; sie sei „far too complicated for the amateur to be his o w n legislator. . . . modern legislation, to be useful, must be specialised, technical and minute, and on subjects which directly affect only one section of the nation" 3 3 .
Das Parlament mußte folglich „a body of expert representatives" sein 3 4 . I n ihrer „Industrial Democracy" meldeten die Webbs bereits ihre Zweifel an, ob die englische Parlamentsmaschinerie der anwachsenden Fülle und Spezialisiertheit gesetzlicher Regelungen überhaupt noch gewachsen sei 35 . I n jedem Falle hatte der Parlamentarier als Amateur und Gentleman dem hauptamtlichen Politiker m i t beruflicher Fachqualifikation Platz zu machen. Bezeichnenderweise hielten die Webbs die soziale Schicht der neuen Mittelklasse für am besten geeignet, einen solchermaßen professionalisierten Abgeordnetentypus zu stellen 3 6 . M i t der Einsetzung des professionellen Experten als Repräsentanten sollten grundsätzliche Veränderungen des parlamentarischen Verfahrens einhergehen: kürzere Reden, eine rigorose Anwendung der „closure" und eine weitgehende Ersetzung langwieriger mündlicher Stellungnahmen der Fraktionsspitzen durch Drucksachen würden die Effizienz des Parlaments steigern 37 . I m Webbschen Programm für eine „Politik der nationalen Effizienz" wurde als Geschäftsordnungsreform des Unterhauses eine Begrenzung der Redezeit auf eine Viertelstunde vorgeschlagen, während sich die gesamte Parlamentsarbeit verstärkt auf ein neuzuschaffendes System spezialisierter Fachausschüsse verlagern sollte 3 8 . Das „House of Lords", das nach ihrer Ansicht als ständisches 33 Bericht des Vortrags von Webb, S.: Representative Institutions, i n : Fabian News, Dez. 1896 (Bd. 6), S. 40. u Bericht des Vortrags von Webb, S.: The Sphere of the Expert, i n : F a bian News, Jan. 1897 (Bd. 7), S. 43. 35 Webb, S. u. Β . : I n d u s t r i a l Democracy, S. 799. 36 Ebenda, S. 56. 37 Ebenda, S. 66. 38 Fabian Tract Nr. 108: Twentieth Century Politics: A Policy of National Efficiency (S. Webb), 1901, S. 15; so auch der I n h a l t eines Memorandums, das S. Webb dem „Select Committee on National Expenditure" (1916—17) des Unterhauses unter dem Vorsitz Herbert Samuels unterbreitete; vgl. Webb, Β . : Diaries 1912—1924, London 1952, S. 127.
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Organ seine Legitimität verloren hatte, sollte durch eine echte, vom Unterhaus zu wählende zweite Kammer ersetzt werden 3 9 . Die Einführung von Expertentum und „business"-Methoden zielte auf eine Veränderung der Natur parlamentarischer Tätigkeit: Aus Prinzipiendebatten sollten Arbeitssitzungen werden. Diese fabische Sicht vom Parlament als aktives, praktisches und gestalterisches Reformorgan war i n der englischen Politik neu. Die alte Whig-Konzeption hatte i m Parlament i n erster Linie ein würdiges Beratungsorgan gesehen, das die Abgeordneten — neben ihrer Aufgabe des individuellen „redress of grievances" — gemäß Burkes Theorie der virtuellen Repräsentation dazu bestimmte, die großen Anliegen der ganzen Nation, die Prinzipienfragen der Politik, in freier Überzeugung gemeinsam zu beraten. Die Tories sahen stets auch die sektionale Interessenvertretung, die Repräsentation der einzelnen ständischen Gruppen und Klassen als legitime Aufgabe des Parlaments an, doch weit bis zum Ende des 19. und bis ins 20. Jahrhundert hinein hielten die traditionellen Parteien das Parlament für ein ungeeignetes Forum, Fachfragen des sozialen und ökonomischen Bereichs zu erörtern. Parlamentarische Politik war weitgehend ein Disput über „principles and men", aber nicht über „policies". Das Parlament war keine „policy-making"-Instanz für Dinge, die den Abgeordneten als „simply a question of economics" erschienen 40 . So waren es erst die Fabier, die i n Anknüpfung an Bentham auf die Möglichkeit eines expertenhaften Arbeitsparlaments aufmerksam machten, das als Instrument für gesetzgeberische Programmpolitik i m sozialen und wirtschaftlichen Bereich nutzbar gemacht werden konnte. Die Webbs steigerten diesen Gedanken soweit, bis sie schließlich das Parlament selbst ganz zu einer administrativen Institution umzuschaffen gedachten. I n ihrem Verfassungsentwurf bestanden die parlamentarischen Einrichtungen nur noch aus spezialistischen Fachausschüssen, die nicht mehr klar von der Exekutive getrennt waren; als eine A r t von Außenstellen der Verwaltung dienten sie als Mittler zwischen ernannten (nicht gewählten) Experten — denen faktisch die Entscheidungen oblagen — und der Öffentlichkeit und hatten keinerlei Beratungsund Diskussionsfunktion mehr inne. Wurden parlamentarische Prinzipiendebatten, ja politische Konflikte überhaupt durch Wissenschaft und Spezialistenkenntnisse hinfällig, dann hatten auch die traditionellen Parteien ihre Daseinsberechtigung verloren. Die ideologiefreien Steuerungsmechanismen der Sozialexperten waren nicht mehr prinzipiell-parteimäßig diskussionsfähig, sondern 89 Fabian Tract Nr. 183: The Reform of the House of Lords (S. Webb) 1917, S. 12 f. 40 Nach einem D i k t u m von Sir L. Play fair, zit. nach: Emy, H. V.: Liberais, Radicals and Social Politics 1892—1914, S. 11.
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wissenschaftlich beweisbar falsch oder richtig. Die Fabier waren seit jeher dem gesamten englischen Parteiengefüge eigentümlich fremd geblieben. Der Erfolg der „Durchdringungs"-Taktik („permeation") gegenüber den politischen Parteien beruhte unter anderem darauf, sich personell an keine Partei zu stark zu binden, u m alle etablierten Kräfte für sich offen zu halten. So waren auch die führenden Fabier — entgegen einer sich hartnäckig haltenden Legende — an der Gründung und parlamentarischen Formierung der Labour Party nicht aktiv beteiligt, sondern verharrten zunächst nur i n der Rolle von wohlwollenden Zuschauern. I n der Labour Party, die aus der Schutz- und Kampfvereinigung der Arbeiterklasse erwachsen war, wurde Politik als „parteilich" verstanden. Voraussetzung politischen Handelns w a r Parteieinheit und Parteidisziplin, die auf der Zugehörigkeit u n d Solidarität zur gemeinsamen Klasse, letztlich auf der „Fabrikdisziplin" beruhte. Der Abgeordnete wurde damit i n erster Linie zum Parteidelegierten. So wurde es über die Labour Party hinaus charakteristisch für die moderne englische Politik i m 20. Jahrhundert, daß parlamentarisches Regieren — für Whigs und Radikale noch ganz undenkbar — als „party government" begriffen wurde 4 1 . Gerade eine solche „Parteiregierung" zu verhindern, war das Anliegen der Webbschen Pläne zur Gründung einer Partei der „nationalen Effizienz" gewesen. Die Fabier, der „nouveau couche sociale" der intellektuellen und professionellen Mittelklasse zugehörig, standen von ihrer Herkunft betrachtet jenseits der traditionellen Klassenstruktur, konnten sich also auch nicht starren, klassenstrukturell bedingten Parteiformationen fügen. Die zentrale Rolle, die sie der Wissenschaft und dem Expertenwissen bei der Reform der Gesellschaft zusprachen, machte herkömmliche Parteiauseinandersetzungen zu einem untergeordneten Faktor i n der Politik. S. Webb wandte sich gegen H. G. Wells* Ansinnen, aus der Fabian Society eine parteipolitische sozialistische Kampf organisation zu machen, m i t der Argumentation: „ A s a matter of fact w h a t moves me is a desire to get things done. I w a n t to diminuish the sum of human suffering. I am not concerned about this party or that, b u t about getting things done, no matter who does them. Elections and parties are quite subordinate — even trivial — parts of political action. More is done i n England i n politics w h i l s t ignoring elections and parties than by or w i t h them 4 2 ." 41
Beer, S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 79 ff. Brief von S. Webb an H. G. Wells, 15. 6.1907, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. a n d B. Webb, Bd. I I , S. 264; vgl. auch das erste Editorial des v o n den Fabiern gegründeten „ N e w Statesman": „ T h e w o r l d movement towards collectivism is altogether beyond and above party, and our belief i n i t rests neither upon dogma nor upon a desire t o support any sectional interest, b u t simply upon a process of reasoning applied to the k n o w n facts of modern industrial organisation and political democracy." I n : The N e w Statesman, 12. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 5. 42
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So rechneten die Webbs i m zukünftigen sozialistischen Staat ihrer Prägung m i t einem zwangsfreien Absterben des Parteiensystems. Der zukünftige Abgeordnete, dessen „Beruf" das gleiche Maß an „technique" wie der des professionellen Beamten mit sich brächte, entschied aufgrund faktischer bzw. wissenschaftlicher Vorgaben, nicht aufgrund von Parteizugehörigkeit 43 . Sollten außenstehende Reformer noch „Ideale" an die parlamentarische Institution herantragen, würde eine Bewertung unparteiisch, nach rein rationalen Kriterien stattfinden. Den letzten Rest voluntaristischer Politik, der unter Umständen aus Konflikten der verschiedenen Berufs- oder sektionalen Interessen entstehen konnte, behielten die Webbs sporadischen, „propagandistisch" und erzieherisch tätigen Organisationen v o r 4 4 . Die politische Theorie der Fabier war i m Grundsatz parteifeindlich. I n der praktischen Politik entschieden sich die Webbs dennoch — wenn auch zu einem späteren Zeitpunkt — zur aktiven Unterstützung der bereits etablierten Labour Party. Beweggründe und Wirksamkeit ihres Engagements i n der Parteipolitik — ihrer eigenen Ansicht nach ja nur ein untergeordneter Faktor der Politik — sind i m folgenden Exkurs zu erhellen. Exkurs: Sidney Webb und die Labour Party Die fabische Taktik zielte darauf ab, die Einflußmanöver i m Hintergrund der etablierten politischen Parteien m i t einem gleichzeitigen Anspornen der radikalen und sozialistischen Opposition zu verbinden 4 5 . Während so die Fabian Society anfänglich die radikale Bewegung Londons als politische „pressure group" instrumentalisieren wollte, diente sie sich parallel dazu bei konservativen und liberalen Regierungspolitikern als Reformexpertenstelle und als wissenschaftlicher Informationsdienst an. Die fabische Stellung i n der praktischen Parteipolitik bedingte eine ständig neue Verlagerung der momentanen Loyalität entsprechend den jeweiligen Opportunitätserfordernissen. Dieser Schwebetaktik der Fabier entsprach es auch, wenn ihre Unterstützung für die sich in den 90er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts abzeichnende Formierung einer eigenständigen Partei der Arbei43 Webb , S. u. B.: A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, S. 144 A n m . 1. 44 Ebenda, S. 145 A n m . 1. Auch Shaw hatte aus seinem Mißtrauen gegen das englische Parteiensystem seit jeher keinen Hehl gemacht; am schärfsten dann i n : Shaw, G. B. (Hrsg.): Fabian Essays, V o r w o r t zur Ausgabe von 1931, S. X I I u. X I V . Auch die Labour Party w a r von Shaws K r i t i k nie verschont worden; siehe z.B.: Shaw, G. B.: Socialism and the Labour Party (1920), i n : ders.: Practical Politics, hrsg. ν. L l o y d J. Hubenka, S. 145. 45 Vgl. Shaw, G. B. u. Cole, M . : Early Days, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 11.
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terschaft äußerst zurückhaltend w a r 4 6 . Zwar hatten die Fabier bereits Ende 1893 öffentlich den Bruch m i t der liberalen Partei erklärt und sich für den Aufbau einer eigenständigen, von den Gewerkschaften getragenen Wahlorganisation der Arbeiter ausgesprochen 47 , doch ist dies i m nachhinein vor allem als eine A r t „Drohgebärde" gegenüber den Liberalen zu interpretieren, m i t der man diese doch noch für die Ideen des radikal-sozialen „Newcastle-Programmes" öffnen wollte. Die Gründung der „Independent Labour Party" (ILP) unter dem Arbeiterführer K e i r Hardie i m Jahre 1893, welche die Gewerkschaften für den Aufbau einer eigenen Partei gewinnen wollte, geschah nicht nur ohne ein bedeutsames aktives Zutun der Fabier, sondern stieß teilweise sogar auf ihr Mißtrauen. Als i m Jahre 1900 auf die Initiative der I L P der eigentliche Vorläufer der Labour Party, das sogenannte „Labour Representation Committee" (LRC) entstand, das vorerst noch nicht als Partei, sondern als Gruppenföderation die Gewerkschaften m i t den sozialistischen Gesellschaften (neben I L P die Fabian Society und die SDF) zusammenbrachte, verharrten die Fabier wiederum nur i n einer Haltung „wohlwollender Passivität" 4 8 . Das LRC, 1903 zur Partei umstrukturiert und 1906 i n „Labour Party" umbenannt, verfügte kaum über eine politische Programmatik, sondern hielt seine Funktion in der Förderung von Parlamentskandidaten für erschöpft. Zwar vertrat E. Pease die Fabian Society über lange Jahre i m Parteivorstand, doch die führenden Fabier waren während dieser Zeit mit den politischen Kräften der „Effizienz-Bewegung" liiert. Sie verurteilten die programmlose, i n ihren Augen partikularistische Interessenpolitik der Gewerkschaften, welche ihrerseits wiederum der sozialistischen Lehre der Fabier überwiegend ablehnend gegenüberstanden: „They were a l l for seats i n Parliament and state regulation of employers (not of Trade Unions) b y means of factory legislation: but they were out to exploit Capitalism, not to abolish i t " ,
erklärte Shaw später, auf die Lage u m 1908 zurückblickend 49 . I h r Urteil über die politischen Fähigkeiten der Gewerkschaftsführer fiel vernichtend aus 50 . Die Fabier wollten gegen eine populistische Politik, die das Interesse des Arbeiters, des „average sensual man" zur Richtschnur machte, den wissenschaftlichen Reform-Experten als maßgebliche poli46 Eine Ausnahme unter den führenden Fabiern bildete Hubert Bland; vgl. ders.: The Organisation of Society: The Outlook, i n : Fabian Essays, S. 200 ff. 47 The Fabian Society: To your Tents, Oh Israel, i n : F o r t n i g h t l y Review, Nov. 1893 (Bd. 54 N. S.), S. 569—589 u n d Fabian Tract Nr. 49: A Plan of Campaign for Labour ( G. Β. Shaw), 1894. 48 Pease, E.: The History of the Fabian Society, S. 151. 49 Shaw, G. B.: Fabian Quarterly 1944, S. 2, zit. nach: McBriar, A. M.: Fabian Socialism and English Politics, S. 340 f. w Z. B. Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 43 (9. 9.1915) u n d S. 109 (19. 2.1918).
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tische Instanz eingeführt sehen. Der sozialen Ethik, die die Arbeiterbewegung hervorgebracht hatte, standen sie fremd gegenüber. Politik als Wissensprozeß konnte sich nicht bloßen Schutzinteressen der Arbeiterklasse fügen, sondern mußte jenseits von Klassenschranken alle verfügbaren, intellektuell bedeutsamen Potenzen der Nation ansprechen. Es muß daher die Behauptung angezweifelt werden, daß die Fabier von Anfang an einen durchgängigen Plan für eine Labour Party auf sozialistischer Grundlage verfolgten und seine Verwirklichung nur von der Erfüllung organisatorischer und bewußtseinsmäßiger Rahmenbedingungen abhängig machten 61 . Dem widersprach nicht nur die „permeation"-Taktik, welche ein Wechseln der Ansprechpartner gebot, sowie die Unterschiedlichkeit der sozialen Klassenzugehörigkeit, welche den Fabiern eine Allianz mit der Arbeiterklasse bzw. den Intellektuellenfeindlichen Gewerkschaften als nicht erstrebenswert erscheinen ließ; auch ihre gesamte politische Theorie war einem politischen Engagement, das Parteierfordernissen und Klassenloyalitäten verpflichtet war, entgegengesetzt. Daß es dennoch zu einer mehr als bloß organisatorischen Zusammenführung von Fabiern und der Labour Party — hauptsächlich durch die Person Sidney Webbs — kam, w a r nicht Ausfluß eines Plans, sondern einer konkreten, nicht vorhergesehenen politischen Konstellation. Nach der Verabschiedung der „National Insurance A c t " von 1911 mußte die „permeation"-Politik als gescheitert angesehen werden. Die Kontakte zu Regierung, Beamtenschaft und führenden Parlamentariern waren eingefroren, da die großangelegte Propagandakampagne der Webbs gegen die offizielle Sozialpolitik ihren Hintergrund-Einfluß bei den für ebendiese Politik verantwortlichen Stellen zu einem großen Teil zunichte gemacht hatte. Da Konservative und Liberale sich den Fabiern verschlossen, mußten diese sich — fast notgedrungen — der Labour Party als neuem Einflußobjekt zuwenden. Die Labour-Bewegung ihrerseits bedurfte zu diesem Zeitpunkt dringend einer geistigen Führung. Die schweren Arbeitskämpfe der Jahre 1911/12, von einem zunehmenden Geist der Militanz und einem Vordringen des Syndikalismus gekennzeichnet, waren größtenteils über die Köpfe der Labour Party hinweggegangen. Sie besaß noch keinerlei sozialistische Konzeption, sondern hatte den Charakter eines losen Wahlvereins aus einer „coalition of pressure groups" 6,2 . 51 So ζ. Β . Wolfe, W.: F r o m Radicalism to Socialism, S. 309 ff. Auch S. Webb selbst hat retrospektiv diese These vertreten u n d z. T. sogar die Formierung der Labour Party kausal auf das W i r k e n der Fabian Society zurückgeführt: Webb, S.: Reminiscences (by S. u. B. Webb) V. The B i r t h of the Labour P a r ty, i n : St. Martin's Review, Feb. 1929, S. 74—78. 52 Beer , S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 105 ff.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
„ T h e Labour and Socialist Movement is i n a state of disruption, there is more evil speaking and suspicion than there has ever been before, and there is less enthusiasm",
notierte Β. Webb 5 3 . Die Webbs fühlten sich aufgefordert, der LabourBewegung i n dieser Lage eine konzeptionelle Orientierung zu vermitteln, zumal die gewerkschaftlich dominierte Labour Party angesichts kämpferischer Infragestellungen ihrer Politik durch die „Basis" den Diensten der Intellektuellen nun weniger skeptisch gegenüberstand. Die Webbs sahen jetzt die historisch günstige Situation gekommen, ihr großes, aus der Armenrechtsreform entwachsenes Modell einer „social reconstruction" bei der geistig konturenlosen Labour Party unterzubringen. So kann die engere Hinwendung der Fabier zur Labour Party recht genau auf das Jahr 1912, den Zeitpunkt der Rückkehr der Webbs von ihrer Asienreise — nach dem Scheitern der Armenrechtsreformkampagne —, datiert werden. Die Webbs gründeten zunächst eine Forschungsgruppe, die sich mit Labour-Fragen beschäftigte. Dieses „Fabian Research Department" war aus dem Webbschen „National Committee for the Prevention of Destitution" herausgewachsen und bemühte sich, das Potential des fabischen Universitätsnachwuchses für Forschungen insbesondere zu aktuellen Problemen der Kontrolle des Industriebereichs nutzbar zu machen 54 . Zum Mißbehagen der Webbs wurde ihr „Fabian Research Department" alsbald eine Sammelstelle der Gildensozialisten innerhalb der Fabian Society, m i t dem jungen G. D. H. Cole an der Spitze. Doch als dieses fabische Gremium nach dem Ersten Weltkrieg organisatorisch der Labour Party unter der Bezeichnung „Labour Research Department" angegliedert wurde, bildete es für die gesamte fabische Intelligenz ein wichtiges Einlaßtor zu Einflußpositionen i n der Partei. Die von der Labour Party eingesetzten Beratungsausschüsse {„advisory committees") zu allen wichtigen Politikbereichen rekrutierten sich ganz überwiegend aus fabischen Intellektuellen; neben den Webbs waren u.a. vertreten: G. D. H. Cole, E. Pease, R. H. Tawney, R. C. K . Ensor, L. Woolf, Arnold Toynbee, A r t h u r Greenwood, H. N. Brailsford und C. Delisle Burns. Doch nicht über das „Fabian Research Department", von dem sich die Webbs i m Laufe der Kriegszeit immer mehr lösten, sondern mittels eines aus den akuten Herausforderungen des Weltkrieges geborenen ad hoc-Gremiums wurde S. Webb die überragende geistige Einflußposition i n der Labour Party zuteil. Es war dies das sogenannte „War Emergency Workers' National Committee" (WEWNC), welches von der histo53
Webb, Β . : Diaries 1912—1924 (5. 7.1913), S. 13. Vgl. die Spezialbeilagen zum Genossenschaftswesen, zu Staats- u n d Kommunalunternehmen, zu den Berufsorganisationen etc. i m „ N e w Statesm a n " 1914—1917. 54
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rischen Forschung erst jüngst i n seiner erstrangigen Bedeutsamkeit für die Entwicklung der Labour Party entdeckt worden ist 0 5 . Webb avancierte durch das WEWNC zum „intellectual leader of the Labour Part y " 6 6 . Die spezifischen organisatorischen Anforderungen, die der Krieg an die innere Politik Englands stellte, machte das Webbsche Sozialismus-Konzept aufgrund seiner institutionellen Praktikabilität plötzlich für die Labour Party interessant. Alte fabische Reformforderungen zur gesellschaftlichen Organisation gewannen i m Krieg neue Aktualität, so daß nun der Webbsche Einfluß i n der Labour-Bewegung seinen Zenit erreichte. Die Arbeit Webbs i m WEWNC bereitete das Bekenntnis zum Sozialismus vor, das die Labour Party 1918 i n ihrer Partei-Verfassung und ihrem Programm ablegte. Das „War Emergency Committee" repräsentierte sämtliche maßgeblichen Organisationen der Arbeiterbewegung, vom „Trade Union Congress" (TUC) über die Labour Party zu den Genossenschaften und lokalen „Trade-Councils". Da sich die Labour Party durch die Unterstützung der Regierungspolitik während der Kriegszeit ihrer politischen Unabhängigkeit begeben hatte, stellte das WEWNC — konzipiert als eine A r t Labour-Parlament — die einzige unabhängige Stimme der vereinigten britischen Arbeiterschaft dar. Es übernahm die „pressure group"-Rolle der sich ganz i n nationaler Loyalität übenden Labour Party. Die Politik des Kommittees trug zunächst den Charakter einer defensiven Interessenverteidigung der Arbeiter als Produzenten und Konsumenten. Webbs Arbeit kreiste vor allem um Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und materielle Not. Entgegen einer deflationären Polit i k räumte er der Vollbeschäftigung allerhöchste Priorität ein. Bald schon mußte Webb jedoch die Gegenstandslosigkeit des Arbeitslosenproblems i n der Kriegswirtschaft feststellen 67 ; seine anfänglichen Befürchtungen einer Erschütterung der gesamten industriellen und sozialen Ordnung hatten sich nicht bewahrheitet, so daß Webb von nun an Englands Kriegsbeteiligung uneingeschränkt positiv gegenüberstand. Seine Vorschläge zur Organisation des Arbeitsmarktes sowie seine Neuordnungspläne staatlicher Unterstützungsleistungen knüpften genau an das Webbsche Armenrechtsreformmodell der Vorkriegszeit an 5 8 . A l t e Ideen trafen i m Krieg plötzlich auf günstigeren Resonanzboden. 55 Harrison, Royden: The War Emergency Workers' National Committee, 1914—1920, i n : Briggs, A. u. Saville, J. (Hrsg.): Essays i n Labour History 1886—1923, London 1971, S. 211—243 u n d Winter, J. M.: Socialism and the Challenge of War, Kap. 7. δβ So Webb, Β . : Diaries 1912—1924 (11.12.1917), S. 99. 57 Harrison, R.: The War Emergency Workers' National Committee, 1914— 1920, i n : Briggs, A . u. Saville, J. (Hrsg.): Essays i n Labour History 1886-1923, S.227. 58 Vgl. Fabian Tract Nr. 176: The War and the Workers (S. Webb) 1914.
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Eine Wende i n der primär auf den Schutz der Arbeiter bedachten Politik des WEWNC trat ein, als 1916 i n Großbritannien die allgemeine Militärpflicht eingeführt wurde. Das Kommittee unter Webb sah nun die Chance, sich über den Arbeiterschutz hinaus m i t einem sozialistischen Organisationsplan an alle von dieser Maßnahme betroffenen sozialen Schichten zu wenden. Das „War Emergency Committee" protestierte gegen die Wehrpflicht und startete eine sogenannte „Conscription of Riches"-Kampagne, u m Kapital und Eigentum ebenfalls den Kriegsanforderungen zu unterwerfen. Webb lehnte die allgemeine M i l i tärpflicht i m Prinzip nicht ab, doch er erkannte, daß diese Frage sich als ein Aufhänger, gleichsam als ein Tauschgegenstand für eine sozialistische Politik benutzen ließ. Wenn schon die Unterwerfung der Nation unter militärische Erfordernisse geboten war, dann zumindest die allgemeine und vollständige Unterwerfung, die nicht nur die militärischen Dienstleistungen der arbeitenden Mehrheit, sondern auch die Eigentumswerte der wohlhabenden Minderheit einschloß. So forderte das Kommittee neben regulären Nationalisierungen und Kommunalisierungen sowie einer vollständigen staatlichen Inbesitznahme der bereits öffentlich kontrollierten Industriebetriebe eine weitgehende Besteuerung von privatem Eigentum und K a p i t a l 0 9 . S. Webb deutete nun die kriegsbedingten, seit L l o y d Georges Amtsantritt Ende 1916 noch verstärkten Staatsinterventionen als beschleunigende Faktoren für die Heraufkunft des Sozialismus. I n seinen Augen bot der K r i e g folgende zwei Möglichkeiten: i n der Praxis die Ausnutzung des militärisch notwendigen „ w a r socialism" für den Fortschritt sozialistischer Organisation i n Friedenszeiten; und geistig-theoretisch die Verpflichtung der Labour Party auf eine sozialistische Programmatik. I m Gegensatz zu vielen Sozialisten, die den K r i e g entweder als moralisches Übel oder als Verderbnis für den Fortschritt der internationalen Arbeiterbewegung verdammten, begrüßte S. Webb seine vorteilhaften Wirkungen als erstrangige Faktoren des sozialen Wandels. Sein ratonal-institutioneller Ansatz i n der Politik war am ehesten geeignet, die politische und wirtschaftliche Dynamik des Krieges i n bleibende organisatorische Erfolge für den Sozialismus fabischer Provinienz umzumünzen. Der Krieg bewirkte bei Webb noch eine Verstärkung der etatistisch-kollektivistischen Elemente seines Denkens. I n einer Abhandlung zur Problematik der Kriegsdienstverweigerung erklärte er: „ I do not myself see h o w w e can deny to the State, acting through its constitutionally formed Government — s t i l l less to the Democratic State ascertaining the General W i l l by the machinery of popular elections — the r i g h t to put any duty whatsoever on the i n d i v i d u a l citizens, irrespec59
Siehe Winter , J. M . : Socialism and the Challenge of War, S. 214 f.
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t i v e of their personal opinione, or of their i n d i v i d u a l Consciences . . . N o r can we logically m a i n t a i n a right i n the i n d i v i d u a l citizen — who is born into the State, nurtured by the State, protected by the State, cared for by the State i n sickness, even fed b y the State — to t u r n round on the State whenever the State does anything, or commands anything, of which he disapproves. Is this abstract r i g h t of the State to p u t a new duty on the citizen quite absolute? I n extreme necessity I t h i n k w e cannot but answer i n the affirmative 6 0 ."
Der Krieg hatte i n den Augen Webbs die positive Wirkung, die Regulierungsbereitschaft der Menschen zu stärken. Die sozialen und w i r t schaftlichen Strukturprobleme, die die Nachkriegszeit m i t sich bringen würde, bedürften nämlich ausgedehnterer staatlicher Kontrollbefugnisse oder — wie sich Sidney Webb wörtlich ausgedrückt haben soll — eines „super-policeman to keep the nation i n order" 6 1 . Die „Conscription of Riches"-Kampagne des WEWNC bedeutete eine Forderung nach öffentlicher Inbesitznahme und Kontrolle aller wesentlichen Sektoren der Wirtschaft. Nicht mehr vereinzelte Maßnahmen zur Nationalisierung oder Kommunalisierung dieses oder jenes Industriebereichs, sondern ein globales Programm für eine sozialistische Organisation der Wirtschaft, für eine „managed economy", w a r postuliert worden. Die Labour-Bewegung war damit auf eine sozialistische Politik verpflichtet worden. Das sozialistische Bekenntnis der Labour Party i m neuen Programm und Parteistatut von 1918 — oft als Beginn dieser Partei i n ihrer modernen Form apostrophiert — ist somit schwerlich ohne die Politik des „War Emergency Workers' National Committee" unter der intellektuellen Führung von Webb zu denken 6 2 . Webb hatte seit Ende 1915 die Fabian Society i m Vorstand der Labour Party vertreten. I m Laufe des Jahres 1916 war er i n seiner Eigenschaft als führender Kopf des „War Emergency Committee" i m mer stärker i n politische Arbeitsgremien der Labour Party eingebunden worden, so daß das Kommittee selbst seine bedeutsame eigenständige Position einzubüßen begann. Es liegt auf der Hand, weshalb sich die Labour Party die Dienste eines Intellektuellen vom T y p Sidney Webbs 60 Webb, S.: Conscience and the „Conscientious Objector", i n : N o r t h A m e r ican Review, März 1917, S. 418 f.; Webb hielt f ü r die Z u k u n f t eine A r t B ü r gerwedhe, „ a sort of secular Confirmation Service" f ü r erstrebenswert, m i t der der Bürger seine öffentlichen Pflichten anerkenne, andernfalls er e m i grieren müsse (S. 419). 61 So die Wiedergabe eines Vortrags von Webb durch den Fabier Slesser, H. H.: Judgement Reserved, London 1941, S. 81, zit. nach: Winter, J. M.: Socialism and the Challenge of War, S. 231 A n m . 156; vgl. auch Webb, S.: B r i tish Labour under War Pressure, i n : N o r t h American Review, J u n i 1917, S. 874—885. 62 So bes. Harrison, R,: The War Emergency Workers' National Committee, 1914—1920, i n : Briggs, A . u .Saville, J. (Hrsg.): Essays i n Labour History 1886—1923, S. 256—259.
ittig
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zunutze machen wollte: sein administrativer Sachverstand, sein Ansatz rationaler institutioneller Organisation, seine Betonung der Staatlichkeit und seine Fähigkeiten als „committee-man" ermöglichten es ihm, die geeignetste A n t w o r t auf die drängenden Herausforderungen des Krieges zu geben. M i t seiner „conscription of Riches"-Kampagne i m „War Emergency Committee" hatte er bereits eine Grundlage für die Hinwendung der Labour Party zu sozialistischen Prinzipien gelegt. Als die beiden politischen Hauptfiguren der Labour Party, Ramsay MacDonald und A r t h u r Henderson, gegen Ende der Kriegszeit aus je verschiedenen Beweggründen zur Überzeugung gelangt waren, daß es zur Schaffung einer starken, tatsächlich unabhängigen Labour Party eines einheitlichen ideologischen Gerüstes und einer Neuorganisation der Parteistruktur bedürfe, war es deshalb nicht verwunderlich, daß sie Sidney Webb an der Aufbauaufgabe maßgeblichen geistigen A n t e i l einräumen wollten. So ist die Formulierung der Parteiverfassung von 1918 m i t ihrem ideologischen Herzstück, der sogenannten „Clause I V " als dem bis heute gültigen Bekenntnis zum Gemeineigentum an Produktionsmitteln, sowie des Parteiprogramms „Labour and the New Social Order" zum großen Teil das Werk Sidney Webbs geworden. Die Gründe, welche die Labour-Party bei ihrer Konstituierung als unabhängige nationale Parteiorganisation i m Jahre 1918 zur Annahme des sozialistischen Bekenntnisses bewegten, sind heute wissenschaftlich stark umstritten 6 3 . Unmittelbarer historischer Auslöser für den forcierten Aufbau einer unabhängigen Parteiorganisation m i t einem unterscheidbaren Programm w a r der Bruch zwischen dem Labour PartyVorsitzenden Henderson und Premierminister L l o y d George anläßlich der geplanten Beteiligung Labours an einer internationalen Sozialistenkonferenz i n Stockholm, der Hendersons Austritt aus dem Kriegskabinett i m August 1917 zur Folge hatte. Henderson w a r als Regierungsbeobachter der Revolutionsereignisse i n Rußland zur Uberzeugung gelangt, daß dem Bolschewismus eine starke parlamentarisch-demokratische Sozialismus-Alternative entgegengesetzt werden müsse. Von seiner Loyalitätspflicht gegenüber L l o y d Georges Regierung entbunden, konnte er sich nun — vor dem Hintergrund einer wachsenden Annäherung von Kriegsgegnern und Befürwortern i n der Labour Party — ganz dem Aufbau einer Parteiorganisation für die i n Friedenszeiten anstehenden Wahlkämpfe widmen. Die zweite entscheidende Figur der Labour Party, 63 Vgl. z.B. Beer, S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 137ff.; Harrison , R.: The W a r Emergency Workers' National Committee, 1914—1920, i n : Briggs, A . u. S avilie, J. (Hrsg.): Essays i n Labour History 1886—1923, S. 257 ff.; Winter , J. M . : Socialism and the Challenge of War, S. 234 ff.; McKibbin, R.: The Evol u t i o n of the Labour Party 1910—1924, Oxford 1974, S. 88 ff.; siehe auch den Konferenzbericht „ L a b o u r and Politics i n the Great War", i n : Society for the Study of Labour History Bulletin, F r ü h j a h r 1977 (Nr. 34), S. 3—7.
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Ramsay MacDonald, hatte wegen seiner Kriegsgegnerschaft den Parteivorsitz niederlegen müssen. MacDonald, von Hause aus ein ILP-Mann, hielt den Labour-Führern intellektuelles Versagen vor und trat aus seinen Erfahrungen i n der Kriegsfrage heraus für eine geistige Neuformierung der Labour Party ein; gleichzeitig wollte er durch eine U m strukturierung der Parteiorganisation dem Übergewicht der Gewerkschaftsführer und einer Oligarchisierungstendenz i n der Partei entgegentreten 64 . So konnte Henderson, ohne auf Widerspruch des so verschiedenartigen MacDonald zu stoßen, Webbs Hilfe zur Schaffung von Organisation und Programm der Partei i n Anspruch nehmen. Das entscheidende, von Webb formulierte sozialistische Bekenntnis i n „Clause I V " der Parteiverfassung lautete: „ T o secure for the producers by hand or brain the f u l l fruits of their i n dustry, and the most equitable distribution thereof that may be possible, upon the basis of the common ownership of the means of production and the best obtainable system of popular administration and control of each industry or service 6 5 ."
Die Labour Party verfügte damit über eine eindeutige ideologisch-programmatische Aussage, die ihre Unabhängigkeit, ja ihren Gegensatz zur liberalen Partei deutlich zu machen geeignet war. I n der Geschichtswissenschaft ist heute kontrovers, ob dieses Bekenntnis — eingeleitet durch die Politik des „War Emergency Committee" — zuallererst Ausfluß einer ideologischen Linksbewegung der Labour Party zum Sozialismus war oder ob die sozialistische Ideologie vor allem als Funktion bzw. als Instrument für den Kampf der Labour Party um politischorganisatorische Unabhängigkeit von den Liberalen bewertet werden muß 6 6 . Mögen die Intellektuellen „Clause I V " als einen geistigen T r i umph sozialistischen Gedankenguts interpretiert haben, so waren für die gewerkschaftliche Labour-Führung die programmatischen Inhalte doch eindeutig von zweitrangiger Bedeutung. Das sozialistische Bekenntnis der Parteiverfassung muß vielmehr i m Zusammenhang eines innerparteilichen Machtkampfes zwischen Gewerkschaften und sozialistischen Gesellschaften u m die Parteiorganisation gesehen werden 6 7 . 64
Mar quand, D a v i d : Ramsay MacDonald, London 1977, S. 227 u n d Winter, J. M.: Socialism and the Challenge of War, S. 234 ff. 65 Labour Party Seventeenth A n n u a l Report, London 1918, S. 140, zit. nach: Pelling, H e n r y : A Short History of the Labour Party, 5. Aufl. London 1976, S. 44. 66 Harrison , R.: The W a r Emergency Workers' National Committee 1914— 1920, i n : Briggs, A . u. Saville, J. (Hrsg.): Essays i n Labour History 1886—1923, S. 257—259 u n d Winter, J. M.: Socialism and the Challenge of War, Kap. 7 u. 8 einerseits, Beer, S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 139 ff. andererseits. β7 McKibbin, R.: The Evolution of the Labour Party, 1910—1924, S. 91 ff. Vgl. dazu auch Wittig, P.: Intellektuelle i n der P o l i t i k : Z u r Entwicklung des englischen Fabier-Sozialismus, i n : Neue Politische Literatur, Heft 1, 1980 (25. Jahrg.), S. 57 f. 1*
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2. Kap.: Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier
Angesichts der bevorstehenden Ausdehnung des Wahlrechts durch die „Representation of the People A c t " von 1918 war insbesondere Henderson für den Aufbau einer neuen Parteiorganisation aktiv tätig. Zwar sollte Labour seine Struktur als Föderation von sozialistischen Gesellschaften und Gewerkschaften behalten, doch wurde nun die Errichtung einer eigenständigen nationalen Partei m i t lokalen, auch individuellen Mitgliedern zugänglichen Parteiorganisationen geplant, die zur Aufstellung einer großen Anzahl von Parlamentsabgeordneten imstande sein sollte. Der entscheidende innerparteiliche Streitpunkt war die Besetzung des nationalen Parteivorstands, i n dem die Gewerkschaften i h r durch die sogenannte „block-vote" gesichertes Ubergewicht gegenüber den mit Mißtrauen bedachten Mittelklasse-Sozialisten aus den sozialistischen Gesellschaften noch verstärken wollten 6 8 . Die Gewerkschaften stimmten dem Programm und Organisationsstatut der neuen Partei erst dann zu, als ihre Repräsentation i m Parteivorstand erweitert wurde und die Richtlinienkompetenz i n der parteilichen Wahlpolitik der gewerkschaftlich dominierten Parlamentsfraktion zugewiesen wurde. Ihre Zustimmung zum sozialistischen Bekenntnis von Parteiverfassung und Programm ist also als eine A r t Beschwichtigungsversuch und Zugeständnis gegenüber den Mittelklasse-Sozialisten, deren Machtposition i n der Partei geschwächt worden war, zu werten 6 9 . Die Fabier und andere Intellektuelle erhofften sich von „Clause I V " nicht nur die W i r k u n g einer Unabhängigkeitsdemonstration gegenüber der liberalen Partei, sondern sie wollten damit auch aus wahltaktischen Gesichtspunkten die neue professionelle Mittelklasse — die „producers by brain", wie es hieß — ansprechen, da man deren Interessen- und Bewußtseinslage als zunehmend sozialistisch einstufte. Obwohl insgesamt nicht die Linke, sondern die Rechte der Labour Party aus dem K r i e g gestärkt hervorgegangen w a r 7 0 , und obwohl die Annahme des programmatischen Bekenntnisses zum Sozialismus vor allem Resultat des organisatorischen Unabhängigkeitsstrebens sowie eines Kompromisses in innerparteilichen Machtauseinandersetzungen war, so ist es doch auch als Frucht der Tätigkeit der Intellektuellen um S. Webb zu beurteilen, daß die Partei für die Annahme einer sozialistischen Ideologie überhaupt vorbereitet war. Letztlich ist i m vorliegenden Zusammenhang die Frage nach den Motiven für die programmatische Festlegung zweitrangig; entscheidend ist die Wirkung dieses Schrittes: w a r die Partei den Intellektuellen i n der Formulierung des programmatischen Ziels des Sozialismus einmal gefolgt, so mußte diese Programm68
Z u diesem Gegensatz vgl. Webb, Β . : Diaries 1912—1924, S. 106 (21.1.1918). So überzeugend McKibbin, R.: The Evolution of the Labour Party 1910-1924, S. 97. 70 Ebenda, S. 88 f. 69
V. Die Rationalisierung v o n Regierung u n d V e r w a l t u n g
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aussage — unabhängig von den Beweggründen — eine verselbständigte politische Dynamik entfalten. Derselbe Unterausschuß der Labour Party, der mit der Ausarbeitung der neuen Parteiverfassung betraut worden war, erhielt auch den Auftrag, ein Parteiprogramm für die Wiederaufbaupolitik der Nachkriegszeit auszuarbeiten. Erneut fiel Sidney Webb, der schon ein Manifest zu „Labour's War Aims" verfaßt hatte 7 1 , die Verantwortung zu. I n seinem Entwurf „Labour and the New Social Order" nahm er wiederum die Gelegenheit wahr, alte fabische Reformpläne den veränderten Umständen gemäß neuaufbereitet zu präsentieren. Webbs von der Parteikonferenz gutgeheißenes Dokument erlangte überragende Bedeutung: für die nächsten 30 Jahre — bis zur Wahl 1950 — bildete „Labour and the New Social Order" die programmatische Grundlage der Partei 7 2 . Es w a r eine vom Geist der Systematik her typische Webb-Schrift: „ W h a t we now promulgate as our policy . . . is not merely this or that specific reform, b u t a deliberately thought out, systematic and comprehensive plan for that immediate social rebuilding which any Ministry, whether or not i t desires to grapple w i t h the problem, w i l l be driven to undertake 7 8 ."
Das Programm zerfiel i n vier Teile: das erste Prinzip bildete das alte Webb-Konzept des „nationalen Minimums". Das zweite forderte die „demokratische Kontrolle der Wirtschaft", wobei die Notwendigkeit einer Nationalisierung der Schlüsselindustrien gemäß „a genuinly scientific reorganisation of the nation's industry" unterstrichen wurde 7 4 . Die Vagheit der Formulierungen ließ auch für gildensozialistische Ideen einen gewissen Raum, obwohl S. Webb selbst eine staatliche Kontrolle der Wirtschaft i m Auge hatte. Der dritte Grundsatz, den Webb m i t der Formel „The Revolution i n National Finance" zusammenfaßte, forderte die weitgehende Besteuerung hoher Einkommen, betonte aber auch die Interessenübereinstimmung der professionellen und hausbesitzenden Mittelklasse m i t der Arbeiterklasse i n der Steuerfrage. Schließlich postulierte das Programm unter dem Stichwort „The Surplus for the Common Good", daß der Uberschuß an nationalem Reichtum der sozia71
Gerhard A. Ritter betont die Bedeutung, die die erstmalige Formulier u n g einer eigenständigen außenpolitischen Konzeption f ü r die Etablierung der Labour Party als unabhängige Partei hatte: Z u r Geschichte der b r i t i schen Labour Party 1900—1918. Die U m b i l d u n g einer parlamentarischen Pressure Group i n eine politische Partei, i n : ders.: Parlament u n d Demokratie i n Großbritannien, Göttingen 1972, S. 165 f.; vgl. auch Webb, Β . : Diaries 1912—1924, S. 93 f. 72 Vgl. Veiling , Η . : A Short History of the Labour Party, S. 44. 73 Labour and the N e w Social Order. A Report on Reconstruction by the Sub-Committee of the B r i t i s h Labour Party, i n : The New Republic, 16. 2.1918 (Bd. 14), Suppl. S. 4. 74 Ebenda, S. 7.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
len Versorgung, Erziehung und Kulturförderung des ganzen Volkes zugute kommen sollte. „Labour and the New Social Order" Schloß m i t einer charakteristisch Webbschen Anrufung der Fortschrittskraft der Wissenschaft: „ . . . no Labour Party can hope to maintain its position unless its proposals are, i n fact, the outcome of the best political science of its time . . . I f l a w is the mother of freedom, science, to the Labour Party, must be the parent of l a w " 7 5 .
M i t der Verfassung und dem Programm von 1918 w a r die Labour Party endgültig als eigenständige, unabhängige politische Partei identifizierbar. Die außergewöhnlichen Umstände des großen Krieges hatten den fabischen Ideen Webbscher Prägung nach einer Phase relativer Abseitsstellung plötzlich zu unerwartetem Einfluß verholfen. Zwar hatte S. Webb 1918 nur das formuliert, was bereits Gemeingut vieler Sozialisten war, doch die Annehmbarkeit dieser Politik w a r durch seine Arbeit i m „War Emergency Worker's National Committee" und in den Gremien der Labour Party während des Krieges vorbereitet worden. Die Labour Party verdankte es nicht zuletzt dem taktischen Geschick S. Webbs und seiner Vorliebe für einen praktikablen, institutionellen Problemzugang i m „War Emergency Committee", daß die Arbeiterbewegung zum einen von den schmerzlichen Spaltungen anderer sozialistischer Organisationen Europas verschont blieb, und daß zum anderen eine Grundlage für die Annäherung von Gewerkschaftlern und intellektuellen Sozialisten gelegt wurde, welche Voraussetzung für die Abwendung der Partei von einer engen Interessenpolitik und für den Aufstieg zu einer nationalen politischen K r a f t war. Dennoch kann nicht behauptet werden, daß es den Fabiern gelungen wäre, i h r spezifisches Politikverständnis der Labour Party einzupflanzen. Die Labour Party ist stets eine der undogmatischsten sozialistischen Parteien der Welt gewesen. I n ihr waren zum einen starke Traditionsbestände einer sozialen „fellowship"-Ethik aus der Arbeiterbewegung, zum anderen alte Ideen aus der radikalen Bewegung lebendig, die dem technokratischen Politikbegriff der Fabier widersprachen. So waren es die konkreten institutionellen Beformentwürfe, weniger die rationalistische soziale Theorie der Fabier, welche für die Labour Party dauerhaft akzeptabel waren. Z w i schen Sidney Webbs Engagement für die Labour Party einerseits, das er m i t Ministerposten i n den beiden Labour-Kabinetten 1924 und 1929—31 krönte, und seiner fabischen Politiktheorie andererseits, der es letztlich um die Ablösung der Parteiauseinandersetzung durch die wissenschaftliche Expertenentscheidung ging, blieb eine K l u f t , die er zumindest innerhalb der Labour Party selbst nicht zu überbrücken hoffen konnte. Die rationalistische Politiktheorie der Fabier war in ihrer tatsächlichen Wirkung parteiübergreifend. 75
Ebenda, S. 12.
V . Die Rationalisierung von Regierung u n d V e r w a l t u n g
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3. Die Rationalisierung der Verwaltung a) Die Reform der Lokalverwaltung I m Rahmen des großen fabischen Unternehmens der Modernisierung des politischen Systems bildeten die Institutionen der Lokalverwaltung einen Hauptangriffspunkt. I n kaum einem anderen Bereich hatte die Abwesenheit von formaler Rationalität der politischen Institutionen so krasse Auswirkungen gezeitigt wie auf dem Feld des „local government": dort war das Berufsbeamtentum durch die Einrichtung des Friedensrichters fast völlig verdrängt und die patrimoniale Verwaltung durch Grundherren oder Krone annähernd bedeutungslos geworden. Wie Max Weber herausgestellt hat, war das traditionelle englische „selfgovernment" „einer der radikalsten Typen der Durchführung der reinen ,Honoratiorenverwaltung', welche die Geschichte auf dem Boden großer Länder gekannt hat"76.
Diese Honoratiorenverwaltung der meist der „gentry" entstammenden Friedensrichter trug Gelegenheitscharakter; sie war das genaue Gegenteil eines „Betriebs" i m Sinne stetiger und planvoller Verwaltungsarbeit zur Verfolgung bestimmter Ziele. Das Verwaltungshandeln wurde durch das personale Element beherrscht, Anzeichen einer „Veranstaltlichung" der Verwaltung, d. h. der Einführung rational gesetzter Ordnungen und eines abhängigen, professionellen Verwaltungsstabs m i t entsprechenden Betriebsmitteln zeigten sich nur spärlich. Die Zentralverwaltung Englands war fast völlig von der Lokalverwaltung getrennt. Die zunehmende Übertragung von Verwaltungsbefugnissen an lokale Verwaltungsorgane oder sonstige halbprivate Instanzen durch parlamentarische „private member bills" verlief w i l l k ü r l i c h und unsystematisch. Dieses klassische Modell des englischen „seif government", das i n Rudolf Gneist den ersten bedeutenden, v o l l Lobpreisungen erfüllten Historiker fand 7 7 , war durch die utilitaristisch inspirierten Reformen des Armenrechts (1834) u n d der Städteverfassung (1835) wesentlich modifiziert worden. Doch eine große Systematik der Verwaltungsorganisation fehlte weiterhin, so daß die rational geschaffene Bürokratie tatsächlich nur flickwerkartig, als Ausfluß je konkreter Situâtionserfor76
Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 618. Gneist, R.: Geschichte u n d heutige Gestalt der englischen Communalverfassung oder des Selfgovernment, 2. A u f l . B e r l i n 1863, S. 1—400. M i t Stoßricht u n g gegen Gneists idealisierte Version des alten „Selfgovernment" schrieb Joseph Redlich seine 1901 veröffentlichte „Englische Lokalverwaltung". Es gehört zu den Besonderheiten der England-Historiographie, daß die englische Verwaltungsgeschichte i n bedeutendem Maße v o n deutschsprachigen Autoren zu schreiben begonnen wurde. 77
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
dernisse m i t der traditionellen Honoratiorenverwaltung verwoben wurde 7 8 . Die Verwaltungsreformen von 1888 („Local Government A c t " und „County Council Act") und 1894 („Parish" und „District Council Acts") entzogen zwar den Friedensrichtern außer ihren richterlichen Funktionen alle Verwaltungs- und Kontrollbefugnisse und übertrugen sie auf gewählte Grafschaftsräte, die nun ähnlich wie die städtischen Räte klar von der fachlich-bürokratischen Verwaltung getrennt w u r den; doch der Wildwuchs der Verwaltungsfunktionen, die Disparitäten der Verwaltungsgebiete und die Überlappung der Verantwortlichkeiten waren aus der englischen Struktur der lokalen Selbstverwaltung nicht ausgemerzt. I n ihrer Eigenschaft als praktische Reformer hatten die Fabier seit jeher ihr besonderes Interesse einer Neuordnung der so wenig rational strukturierten Lokalverwaltung gewidmet. Der besondere Stellenwert, den sie ihrem „Gas- und Wasser^Sozialismus" gaben, machte einen nicht unbeträchtlichen Teil der Anziehungskraft ihrer politischen Doktrin aus 7 9 . Darüber hinaus hatten sich die Webbs als Sozialwissenschaftler anheischig gemacht, i n einer Pionierarbeit monumentalen Ausmaßes eine noch nicht existierende Gesamtgeschichte der englischen Lokalverwaltung zu schreiben. I n dieser sich annähernd 30 Jahre hinziehenden Forschungstätigkeit widmeten sie sich der „analytical and historical description" von „structure and functions" der englischen Lokal Verwaltung 8 0 . Die Webbs studierten die Lokalverwaltung nicht — wie eine Reihe von Gelehrten vor ihnen —, u m daraus eine Staats- oder Rechtstheorie, etwa i m Rekurs auf die mittelalterlichen Korporationen, zu destillieren; sie waren vielmehr am tatsächlichen Funktionieren der Verwaltungsinstitutionen interessiert. So ist ihre 9- bzw. llbändige, bis heute nicht überholte Institutionengeschichte der englischen Lokalverwaltung eine gigantische Anhäufung von Fakten, die sich nicht auf Rechts- bzw. Verfassungsurkunden, sondern auf die Protokolle und A k t e n der Verwaltungsinstitutionen selbst stützt 8 1 . Diese Verwaltungsgeschichte als exakte Beschreibung von Struktur und Funktion der Institutionen wollte den i n seiner Kühnheit Comteschen Anspruch der Webbs einlösen, eine wirkliche Wissenschaft von der Gesellschaft zu begründen 82 . I n der Tat war für Politiker und politische Denker, welche über die Prinzipien der englischen Verfassung nachgedacht hatten, eine 78
Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 620. Vgl. dazu oben S. 149 ff. 80 Webb, S. u. Β . : English Poor L a w History, T e i l I I : The Last H u n d r e d Years. Bd. 1, London 1927 (Nachdruck 1963, English Local Government Bd. 8), S. V I I . 81 Webb, S. u. B.: English Local Government (9 Bände), London 1906—1927, Nachdruck (11 Bände) London 1963. 82 Webb, B.: Our Partnership, S. 170. 79
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derartige anatomische Betrachtungsweise von Institutionen, wie der Lokalverwaltung, i n ihrem tatsächlichen Wirken neu. Für die Webbs dagegen hatte die institutionelle Geschichte der Verwaltung „ K u l t u r bedeutsamkeit". Die moderne behördliche Verwaltungsinstitution war die charakteristische, reinste Betriebsform rationalistischer Politik. So war die Verwaltungsgeschichte imstande, den Rationalisierungsprozeß i n der Entwicklung des politischen Handelns zu veranschaulichen. Die lokale Verwaltungsgeschichte Englands wurde von den Webbs nach einem durchgängigen Muster interpretiert: allmähliche Ablösung der Verwaltungsinstitutionen als Produzentenorganisationen durch solche als Konsumentenorganisationen. Die alten oligarchisch-berufsständisch strukturierten Zünfte und Korporationen, die Lokalorganisationen der Stadtgemeinden, Kirchspiele oder Grundherrschaften hätten durch ihre wirtschaftliche, religiöse und politische Exklusivität, durch das Rotationsprinzip bei der Amtsführung und durch das Zusammenfallen von Leitung und Exekution der Amtsgeschäfte eine solche Mißwirtschaft der Verwaltung herbeigeführt, daß sich i m Laufe des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts durch „local Acts" des Parlaments abgesicherte Assoziationen von Bürgern als Konsumenten gebildet hätten, um gegen eine Abgabenpflicht Dienstleistungen wie Straßenbeleuchtung und -pflasterung, A b wässerung oder polizeiliche Aufsicht zur Verfügung zu stellen; die Städteverfassung von 1835 habe diesem Organisationsprinzip der Zwangsmitgliedschaft beitragspflichtiger Bürger zu einem allgemein beanspruchbaren Dienstleistungsbetrieb zum Durchbruch verholfen 8 3 . „This transformation of the very basis of local administration f r o m A s sociations of Producers to Associations of Consumers . . . has made Social Democracy possible 84 ."
Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Webbs den gesetzlichen Behörden für besondere Zwecke („Statutory Authorities for Special Purposes"), auch ad hoc-Behörden genannt. Denn jene speziellen Verwaltungsinstitutionen, die einen fest bestimmten Zweck zu verfolgen hatten, wie beispielsweise Chadwicks zentrale und lokale „Health Boards", waren die Pioniere für die modernen administrativen Methoden gewesen, etwa für die Anstellung besoldeter, professioneller Beamten oder für die Entwicklung des Ausschußsystems 85 . 88 Webb , S. u. Β . : Statutory Authorities for Special Purposes, London 1922 (Nachdruck London 1963, English Local Government Bd. 4) Kap. V u. V I (wiederabgedruckt auch als: The Development of English Local Government 1689—1835, Oxford 1963). 84 Webb , S. u. B.: W h a t is Socialism? V I I . The Expansion of Local Government, i n : The New Statesman, 24. M a i 1913 (Bd. 1), S. 204. 85 S. u. Β . Webbs : Statutory Authorities for Special Purposes ist das bedeutendste Buch der Reihe „English Local Government".
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Die monumentale Verwaltungsgeschichte der Webbs ist ein Torso geblieben. Ursprünglich wollten sie ihren Startpunkt bei den Reformen von 1834/1835 ansetzen, dann drei Jahrzehnte bis zu den „antiquities" zurückverschieben 86 , bis sie sich schließlich genötigt sahen, bei der „Revolution" von 1688 zu beginnen. Jede ihrer Untersuchungen über die einzelnen Verwaltungsinstitutionen (mit Ausnahme des Armenrechts) beendeten sie beim Jahre 1835, u m sich für die nächste Geschichtsbetrachtung einer einzelnen Institution erneut bis 1688 zurückzuwenden. Das Unvermögen oder die Hemmungen der Webbs, die Vergangenheit m i t der Gegenwart zu verknüpfen, ist angesichts ihrer eigenen Forschungsabsicht bemerkenswert: Die charakteristischste „ k u l turbedeutsamste" Erscheinung der modernen Politik, die rationale behördliche Verwaltungsinstitution, sollte i n ihren historischen Entwicklungslinien m i t dem Ziel aufgezeigt werden, die Notwendigkeit einer Neuordnung des staatlichen Institutionensystems nach rationalen Gesichtspunkten zu bekräftigen. Institutionengeschichte sollte die politische Reform sanktionieren und Wege zur rationalen Neukonstruktion der Gesellschaft aufzeigen: „ O u r w o r k on local government w i l l be an indictment, not only of the eighteenth century, b u t also of the present-day local government 8 7 ."
Über die Beweggründe, weshalb die Webbs i n ihrer Verwaltungsuntersuchung letztlich vor dem Brückenschlag von entfernter Vergangenheit zu Gegenwart und Zukunft auswichen, läßt sich nur spekulieren. Sicher ist jedoch, daß eine solchermaßen hergestellte Verbindung enthüllt hätte, wie radikal, wie jenseits aller historischen Kontinuität Englands die Webbschen rationalistischen Neukonstruktionen der staatlichen Institutionen tatsächlich waren 8 8 . So versagten es sich die Webbs als Sozialwissenschaftler selbst, ihre Verwaltungsgeschichte m i t einem systematischen Entwurf zur Neuorganisation der Lokalverwaltung zu krönen. Es müssen daher ersatzweise aus den zahlreichen, ζ. T. oben bereits behandelten Einzelvorschlägen, die die Fabier als Reformer i n die aktuelle politische Diskussion einbrachten, die Grundprinzipien einer von ihnen anvisierten Verwaltungsreform bruchstückhaft und skizzenartig zusammengetragen werden. 86
Webb , Β . : Our Partnership, S. 150. Ebenda, S. 173. 88 Diese Feststellung gilt weniger f ü r die einzelnen, auf Annehmbarkeit bedachten Reformentwürfe der Tagespolitik, als vielmehr f ü r die großen sozialwissenschaftlich erstellten Modelle, w i e bspw. i n ihrer „Constitution". Vgl. auch Himmelfarb, G.: The Intellectual i n Politics: The Case of the Webbs, i n : Journal for Contemporary History 1971 (Bd. 6), S. 8. 87
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Die umfassendsten Strukturreformen der Lokalverwaltung waren i m Rahmen der Vorschläge zur Schulreform 1902/03 und zur Armenrechtsreform 1909 gemacht worden. Die Webbs hatten für die völlige Abschaffung der ad hoc-Behörden und die Übertragung aller Kompetenzen auf ein einheitliches System von regulären, spezialistischen Lokalverwaltungsbehörden plädiert. Der institutionelle Aufbau der einheitlichen Dienstleistungsverwaltung sollte sich ausschließlich nach funktionalen Gesichtspunkten richten, d. h. sämtliche Erziehungsfragen einer speziellen Erziehungsbehörde, sämtliche Gesundheitsfragen einer speziellen Gesundheitsbehörde usw. zugeteilt werden. Die strenge Trennung der Stadt- und Grafschaftsräte einerseits von den entsprechenden Verwaltungsbehörden andererseits — ein zentrales Charakteristikum des englischen Kommunalsystems — sollte aufgehoben werden. Die Behörden sollten sich als Unterausschüsse der gewählten Räte konstituieren und m i t ernannten Experten durchsetzt sein. Dabei hätten sich nicht nur die Verwaltungsbeamten — i m Gegensatz zum traditionellen Beamtenideal des gebildeten Laien und Gentleman — als wissenschaftlich ausgebildete Fachmänner auszuweisen, sondern auch die gewählten Ratsmitglieder sollten fachgeschult, vollbesoldet und deshalb ganztägig abkömmlich sein. Die verschiedenen Berufsorganisationen m i t ihrem Fachwissen, wie etwa die der Ärzte, Lehrer und Architekten, waren mittels gesetzlicher Beratungsgremien i n die Lokalverwaltung einzubeziehen. Eine derart organisierte Verwaltung würde nach Einschätzung der Webbs die Hälfte der gesamten nationalen Güterproduktion (durch Kommunalisierung von Industriebetrieben) und Dienstleistungen unter kommunale Kontrolle bringen können 8 9 . Immer wieder beschäftigten sich die Fabier auch m i t einer rationalen Neugliederung der Verwaltungsgebiete, angefangen m i t Wells' Vorschlag, die traditionellen lokalen Verwaltungsgrenzen durch große wissenschaftlich konstruierte Einheiten m i t Verwaltungsbehörden von entsprechender Ausdehnung zu ersetzen 90 , bis h i n zu Beatrice Webbs Idee, die historischen Gliederungen zugunsten uniformer Repräsentationseinheiten (ein Repräsentant für 10 000 Einwohner) aufzulösen, welche dann flexibel, je nach funktionalen Erfordernissen zu unterschiedlichen Verwaltungsgremien zusammenzusetzen wären 9 1 . Ein Sy89 Webb, S. u. B.: A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, S. 238. 90 Vortragsbericht zu Wells , H. G.: The Question of Scientific A d m i n i s t r a t i v e Areas i n relation to M u n i c i p a l Undertakings, i n : Fabian News, A p r i l 1903, S. 13—14. 91 Webb, B.: Our Partnership, S. 175; siehe auch den Bericht eines fabischen Kommittees zur Lokalverwaltungsreform: Fabian Tract Nr. 125: M u n i c i p a l i sation by Provinces (W. Sanders) 1905, der f ü r die Schaffung von neuen V e r waltungs-Großprovinzen plädierte. Vgl. auch: Fabian News, J u n i 1905 (Bd. 15), S. 30.
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2. Kap.: Politische Konzeption und politische Praxis der Fabier
stem zentralstaatlicher Unterstützungszahlungen für die Lokalverwaltung sollte die Angleichung der Lebensverhältnisse bewirken und für eine Effizienz-Kontrolle der lokalen Behörden sorgen 92 . Die Webbs wollten m i t diesen zentralstaatlichen „Grants i n A i d " an die Stelle der alten Vorstellung lokaler Autonomie, die durch die Geschichte faktisch bereits durchlöchert sei, ein neues Verhältnis von zentraler und lokaler Verwaltung setzen, indem der Zentralverwaltung das an die Finanzierung geknüpfte Recht der „Inspizierung, der Rechnungsprüfung, der Überwachung, der Initiative und der K r i t i k " von Verwaltungshandeln der Lokalbehörden eingeräumt würde 9 3 . Entsprechend ihrem Vertrauen i n die K r a f t der Ratio sahen die Webbs als die beiden Bausteine für das erfolgreiche Funktionieren der Lokalverwaltung — wie i n anderen staatlichen Institutionen auch — die exakte faktische Messung („measurement") und die öffentliche Kundgabe der Fakten-Meßergebnisse („publicity") an: ,,[A] common consent w i l l be reached by the cogency of accurately ascertained and authoritatively reported facts . . . there w i l l come, as a matter of course, a stream of reports f r o m independent and disinterested experts, retained expressly for this professional service, w h i c h w i l l carry w i t h them no coercive authority, b u t w h i c h w i l l graphically reveal the results, material and m o r a l . . ," 9 4 . b) Neuordnung der zentralen Regierungsmaschinerie: Die Webbs im „Reconstruction"- und „Haldane-Committee" (1917/1918)
Als i m Februar 1917 der neue Premierminister L l o y d George sein eigenes „Reconstruction-Committee" bildete, legte er auch auf eine Beteiligung der Webbs Wert: „Yes, we w i l l have one of the Webbs . . . Mrs. Webb, I think . . . Webb w i l l be angry, Mrs. Webb w o n ' t 9 5 . " Der Ausschuß, dem L l o y d George selbst nominell vorstand, sollte die Planungen hinsichtlich der sozialen Probleme der Nachkriegszeit koordinieren und den Rahmen für Untersuchungen zur institutionellen Neuordnung des Regierungssystems beim Übergang zur Friedenswirtschaft abstecken. Der Krieg war, wie Sidney Webb frühzeitig erkannt hatte, zum erstrangigen Faktor für innere Wandlungen geworden und hatte i n einzigartiger Weise die Notwendigkeit politischer und sozialer Reform aufgezeigt. L l o y d George gab dem allgemeinen Reformenthusias92
15 ff. 93
Webb, S.: Grants i n A i d : A Criticism and a Proposal, London 1911, S.
Ebenda, S. 6. Webb, S. u. Β . : A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great B r i t a i n , S. 239 u. S. 196 f. 95 So Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 82 (22.2.1917) nach Angaben v o n Thomas Jones, dem stellvertretenden Sekretär des Kriegskabinetts. 94
V . Die Rationalisierung v o n Regierung u n d V e r w a l t u n g m u s A u s d r u c k , als e r z u A r b e i t s b e g i n n des tees" — l a u t P r o t o k o l l — e r k l ä r t e :
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„Reconstruction-Commit-
„ T h e Committee . . . had power to assist i n painting a new picture of B r i t a i n . . . No such opportunity had ever been given to any nation before — not even by the French Revolution. The nation n o w was i n a molten condition: i t was malleable now and w o u l d continue to be so for a short time after the War, b u t not for long. I t was for the Committee to advise the Government on the w a y to give to the nation a shape which w o u l d endure to the advantage both of the nation itself and of the whole E m pire 9 6 ." D i e D o p p e l g e s i c h t i g k e i t , die i m „ R e c o n s t r u c t i o n " - K o n z e p t angelegt w a r , einerseits A u f l ö s u n g der K o n t r o l l e n der K r i e g s z w a n g s w i r t s c h a f t z u r H e r s t e l l u n g des V o r k r i e g s z u s t a n d e s i m S i n n e eines „business as u s u a l " , andererseits U b e r g a n g z u e i n e r n e u e n sozialstaatlichen O r d n u n g , w a r zu diesem Z e i t p u n k t noch d u r c h die e i n d e u t i g e V o r r a n g s t e l l u n g der N e u o r d n u n g s p l ä n e ü b e r l a g e r t 9 7 . So b e g a n n f ü r die W e b b s m i t der P l a n u n g f ü r eine „ R e c o n s t r u c t i o n " des N a c h k r i e g s - E n g l a n d eine neue, k u r z e Phase d e r W i r k s a m k e i t i n d e r o f f i z i e l l e n R e g i e r u n g s p o l i t i k , w o m a n n u n d e n fabischen W e r t e n der E f f i z i e n z , des E x p e r t e n t u m s u n d der wissenschaftlichen O r g a n i s a t i o n besondere D r i n g l i c h k e i t z u m a ß 9 8 . V o n d e n 15 M i t g l i e d e r n des „ R e c o n s t r u c t i o n - C o m m i t t e e s " w a r e n d r e i A n g e h ö r i g e der F a b i a n S o c i e t y 9 9 . O b w o h l B e a t r i c e W e b b der A r t d e r S t e u e r u n g des Ausschusses d u r c h K a b i n e t t u n d B e a m t e äußerst k r i t i s c h g e g e n ü b e r s t a n d 1 0 0 , ließ sie k e i n e G e l e g e n h e i t aus, seine A r b e i t d u r c h einen S t r o m v o n gemeinsam m i t Sidney erarbeiteten M e m o r a n d e n a k t i v z u gestalten. A l s sich das „ R e c o n s t r u c t i o n - C o m m i t t e e " nach a n f ä n g l i c h e r 96 Offizielles Protokoll einer Ansprache Lloyd Georges v o r dem „Reconstruction-Committee" (16.3.1917), zit. nach: Johnson, Paul B.: L a n d F i t For Heroes. The Planning of B r i t i s h Reconstruction 1916—1919, Chicago 1968, S. 38. 97 Siehe Wendt, Bernd-Jürgen: W a r Socialism — Erscheinungsformen u n d Bedeutung des Organisierten Kapitalismus i n England i m Ersten Weltkrieg, i n : Winkler, Heinrich August (Hrsg.): Organisierter Kapitalismus, S. 143f. 98 Vgl. die bereits i m J u l i u n d August 1916 i n den „ D a i l y News" unterbreiteten Vorschläge von S. Webb zur „ I n d u s t r i a l Reconstruction", wiederabgedruckt i n : Fabian Tract Nr. 181: When Peace cornes — The w a y of Indust r i a l Reconstruction (S. Webb) 1917, u n d ders.: I n d u s t r i a l Reconstruction, i n : Problems of Reconstruction (eingel. von Marquess of Crewe), London 1918, S. 150: „ W h a t is indispensable . . . i s . . . science, i n this ca9e principally economic and political science, w i t h o u t which w e can no more bridge the gulf of reconstruction than we can bridge the Thames." 99 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 81 (19.2.1917); zur Zusammensetzung auch Johnson, P. Β . : L a n d F i t For Heroes, S. 37. 100 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 85 u. 88 (3.6.1917); frühzeitig plädierte sie auch schon für die Ersetzung des Ausschusses durch ein reguläres „ R e construction"-Ministerium: „The essential requirement is one b i g brain at the top: Sidney and I t h i n k the best man available is Winston C h u r c h i l l . . . " (ebenda, S. 88).
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Unproduktivität i n Unterausschüsse teilte, war Beatrice Webb i n den drei Ausschüssen für Lokalverwaltung, Arbeit und Wirtschaft beteil i g t 1 0 1 . I m Ausschuß für „local government", dem sogenannten „Maclean-Committee", gelang ihr das unverhoffte Kunststück, die Prinzipien des „Minderheitenberichts" über die Armenrechtsreform zur allgemeinen Annahme zu bringen, obwohl auch ihr Kontrahent aus der Königlichen Armenrechtskommission, Lord George Hamilton, zugegen war. Der 1918 veröffentlichte „Maclean-Bericht" plädierte für die völlige Abschaffung der alten ad hoc-Institutionen des Armenrechts und für eine Übertragung ihrer Aufgaben auf spezialisierte, reguläre Lokalbehörden — entsprechend der funktionalistischen Logik —, und sah sogar die Schaffung eines neuen Gesundheitsministeriums auf zentraler Ebene v o r 1 0 2 . Nach dem Kriege allerdings blieb der „Maclean-Bericht" lediglich ein papiernes Dokument und wurde — wie so viele „Reconstruction"-Pläne — politisch nicht umgesetzt. Bereits i m März 1917 hatte das „Reconstruction-Committee" durch die Veröffentlichung des sogenannten „Whitley-Reports" (1. Teil) A u f sehen erregt. Der Bericht hatte, angefangen vom Einzelbetrieb bis hinauf zur gesamtvolkswirtschaftlichen Ebene, die Errichtung von ständigen, gemeinsamen Wirtschaftsräten aus Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern vorgeschlagen; diese sogenannten „Whitley-Councils" sollten Demobilisierungsaufgaben übernehmen, aber i n Friedenszeiten auch m i t ständigen Aufgaben der Regelung von Arbeits- und W i r t schaftsbeziehungen betraut werden. Die Wirtschaftsräte schienen einen dritten Weg jenseits einer Wiederherstellung des laissez faire-Zustandes der Vorkriegszeit und einer möglichen Beibehaltung der Staatskontrollen aufzuzeigen. B. Webb war die einzige K r i t i k e r i n des „WhitleyReports" i m „Reconstruction-Committee" 1 0 3 . Ihre detaillierten Einwände gegen Struktur und Funktionen der „Whitley-Councils" — laut Lloyd George „a torrent of destructive c r i t i c i s m " 1 0 4 — waren ein Widerhall von Vorbehalten i n Teilen der Arbeiterbewegung gegen zu weitgehende Einbindungen i n korporative Beratungsgremien und bewirkten allgemein ein grundsätzliches Nachdenken über die Prinzipien der „Reconstruc101 Außerhalb des „Reconstruction-Committee" w a r Β . Webb M i t g l i e d i m „Statutory Pensions Committee" sowie i n einem Spezialausschuß des Kriegskabinetts über „Women i n Industry", f ü r welchen sie den Minderheitenbericht m i t d e m T i t e l „ T h e Wages of Men and Women: Should they be equal?" (London 1920) verfaßte. 102 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 98 f. (11.12.1917) u n d Fabian Tract N r . 195: The Scandal of the Poor L a w (C. M. Lloyd) 1920, S. 14ff.; siehe auch Johnson, P. B.: L a n d F i t For Heroes, S. 80—84. 103 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 87 (3. 6.1917). 104 Lloyd George, D.: W a r Memoirs, Bd. I I , London 1938, S. 1161; siehe auch Johnson, P. B.: L a n d F i t For Heroes, S. 48—52.
V . Die Rationalisierung von Regierung u n d V e r w a l t u n g
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tion". Ob Beatrice Webb den ersten „Whitley-Report" aus prinzipiellen Gründen oder wegen der weiten und unscharfen Funktionszuweisung der „Councils" oder nur aufgrund der mangelhaften institutionellen Verpackung einer grundsätzlich begrüßten Idee ablehnte, bleibt unklar. Die amtliche Annahme des „Whitley-Reports" konnte sie nicht verhindern; sie erreichte lediglich, daß den Gewerkschaften das Vertretungsmonopol der Arbeitnehmerinteressen i n den „Councils" eingeräumt wurde. Die größte Bedeutung erlangten die Webbs i m berühmt gewordenen „Haldane-Committee", das i m J u l i 1917 unter dem offiziellen Titel „Machinery of Government Committee" als Unterausschuß des „Reconstruction-Committee" formiert worden war. Der dem Ausschuß vorgegebene Untersuchungsgegenstand war außerordentlich weit gefaßt und Schloß sowohl Fragen der Kabinettsstruktur als auch Probleme der inter- und innerministeriellen Organisation ein. Das „Haldane-Committee" ging von der unausgesprochenen Voraussetzung aus, daß die Regierung auch i n Friedenszeiten ihre erweiterten Kompetenzen behalten würde und daher einer grundlegenden Reorganisation bedürfe. Die Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes traf genau das Reforminteresse der Webbs. Die notwendigen zentralstaatlichen Eingriffe i n bisher unberührte Bereiche machten i n ihren Augen bedeutsame, institutionelle Rationalisierungsmaßnahmen unabdingbar, die i h r eigenes soziales Modell begünstigten: „ — the subject matter of the Machinery of Government Committee is immense and the importance of the questions raised v i t a l to the success of the Equalitarian state" 1 0 5 .
Der Vorsitzende Haldane, der Spitzenbeamte Morant und Beatrice Webb waren die drei einflußreichsten Mitglieder des Ausschusses, i n dem die Vertreter der parlamentarischen Parteien eher passiv blieb e n 1 0 6 . Beatrice sah nun die Gelegenheit gekommen, die spezifisch Webbsche Sozialwissenschaft der Institutionen praktisch anzuwenden. So war sie es i m wesentlichen, die die systematischen Untersuchungen der Exekutive und die ausführlichen Beamtenbefragungen i m „HaldaneCommittee" initiierte. I h r K r i t e r i u m bei der Reorganisation des Kabinetts bzw. der Ministerienstruktur entsprach den alten Webbschen A n liegen administrativer Effizienz u n d wissenschaftlicher politischer Betriebsführung: „The Allocation among Departments of the Functions of the National Government Pias to] bear i n m i n d the need for constantly developing 105
Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 98 (14.11.1917). Z u r Mitgliedschaft u n d Tätigkeit des „Haldane-Committee" vgl. Daalder, Hans: The Haldane Committee and the Cabinet, i n : Public Administration, Sommer 1963 (Bd. 41), S. 117—137. 106
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
technique so as to raise efficiency i n maximising results i n proportion to cost; ensuring i n i t i a t i v e and promoting research and discovery 1 0 7 ."
Die anderen Mitglieder besaßen keinen ähnlich starken Glauben an die K r a f t wissenschaftlich geleiteter Administration, doch auch Morant, i n Fragen von Erziehungs- und Armenrechtsreform bereits m i t den Webbs liiert, hegte eine starke Aversion gegen die „archaische Regierungsmaschinerie", die zur Lösung der drängenden sozialen Probleme außerstande sei 1 0 8 . Haidane w a r bekannt für sein als unenglisch empfundenes Denken i n Form von „first principles". Sein Ruf nach „Science i n Government", seine Forderung nach Voranstellung systematischen Denkens und Planens i n der Politik, war schon innerhalb der „EffizienzBewegung" hervorgestochen. So machte er diese „Vordenker"-Funktion auch seinem „Machinery of Government Committee" zur Aufgabe: „ I t is not too much to say that half of the waste of public resources that n o w takes place is due to the w a n t of thoroughly thought out and settled plans. . . . W h a t is needed is a habit of mind, a disposition to insist on the systematic study of questions before action is taken i n regard to them. As this cannot be done on the spur of the moment i t must be provided for i n advance, by imposing on qualified persons organised for the purpose the d u t y of anticipation and of t h i n k i n g i n advance 1 0 9 ."
Der schlagendste Zug des „Haldane-Report" — der Grund, weshalb der Bericht als ein klassisches, gar ein „revolutionary document" 1 1 0 i n die Geschichte der englischen Verwaltungsreform einging — war die i n England erstmalige Formulierung eines rigorosen und logisch konsistenten Organisationsprinzips, das alle einzelnen Reformvorschläge zur Struktur der Regierungsmaschinerie zusammenhielt. Es war dies der Grundsatz, daß alle Verwaltungsbereiche ausschließlich nach funktionalen Gesichtspunkten, entsprechend den Dienstleistungen der Verwaltung, nicht entsprechend der „Klientel", d. h. der zu behandelnden Personen bzw. Gruppen, strukturiert sein sollten. Die Vermischung beider Organisationsprinzipien war es, was nach Ansicht des „HaldaneCommittee" für die Überlappung und den Kompetenzwirrwarr, für „waste and inefficiency" der englischen Verwaltung verantwortlich gemacht werden konnte. So erklärte B. Webb i n einem Memorandum: „ I t is suggested that some definite choice of a guiding principle should be made, however numerous are the modifications and exceptions w i t h which 107 [Webb, B J : The Scope of E n q u i r y [? 1917], i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 696. 108 Daalder , H.: The Haldane-Committee and the Cabinet, i n : Public A d m i nistration, Sommer 1963, S. 124. 109 L o r d Haldane: Memorandum: Machinery of Government Committee (11.1.1918), i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 781. 110 So Daalder , H.: Cabinet Reform i n B r i t a i n 1914—1963, Stanford, Cal. 1963, S. 276.
V. Die Rationalisierung v o n Regierung u n d V e r w a l t u n g
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i t is applied. The haphazard adoption first of one principle, and then of another, prevents any one department from being concentrated. I t is this conflict of categories w h i c h has led directly to the present m u l t i p l i c a t i o n of Ministries, and to the overlapping and confusion of their functions. I f this conflict is pursued to the end, i t w i l l not only gravely i n j u r e Local Government (because i t leads to the setting u p by each M i n i s t r y of its o w n dependent local Authorities on equally conflicting bases) but w i l l also gradually eviscerate the Ministries formed on the basis of one or other of the t w o categories, which ever proves the weaker (not necessarily the less efficient or less economical) i n the rough and tumble of political l i f e 1 1 1 . "
Das „Haldane-Committee" entschied sich dementsprechend für ein einzelnes Prinzip: das funktionale Prinzip. W. J. M. MacKenzie beurteilt es als „a great principle — the first principle ever enunciated on the subject i n England" 1 1 2 . Es ist nicht unangemessen, die Urheberschaft für die Ausformulierung des funktionalen Verwaltungsprinzips i n England ganz den Webbs zuzuschreiben. Bereits der Verwaltungsentwurf i m „Minderheitenbericht" zur Armenrechtsreform war einheitlich nach dem funktionalen Prinzip konstruiert; und auch schon vor dem ersten Zusammentreffen des „Haldane-Committee" hatten die Webbs die rivalisierenden Organisationsprinzipien gegenübergestellt und sich für das funktionale Prinzip ausgesprochen 113 . So folgte der Haldane-Bericht schließlich den Vorstellungen der Webbs und listete 10 Funktionen auf, die die Struktur der einzelnen Verwaltungsbereiche vorgeben sollten. Zumindest für die Webbs bedeutete das jedoch nicht, daß die Exekutive lediglich aus 10 zusammengeschmolzenen Riesenministerien bestehen sollte. Anfangs hatten sie sogar bis zu 40 „Departments" ins Auge gefaßt, obwohl sie sich i m Verlaufe der Ausschußberatungen dann für eine starke Konzentration aussprachen. Das von ihnen verfochtene Prinzip des „selfcontainment" verlangte, daß jedes „Department" eine abgetrennte und eigenständige Existenz führen sollte, u. a. u m eine spezialistenhafte Verwaltung zu ermöglichen. So blieb bei den Webbs unklar, ob sie die einzelnen „Departments", deren es mehr als 10 geben sollte, lediglich zu funktionalen Kategorien zusammenbündeln oder ob sie kompakte M i n i sterien, geführt von Ministern m i t Kabinettsrang, schaffen w o l l t e n 1 1 4 . 111 [Webb, Β . ] : Paper 11, Machinery of Government Committee, i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 694. 112 MacKenzie , W. J. M . : The Structure of Central Administration, i n : Campion, Gilbert u.a.: B r i t i s h Government since 1918, London 1950, S. 58. us [Webb, B J : Conspectus of Existing Government Departments, i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 378—387 u n d [Webb, S. oder Webb , B J : Notes on the Conspectus, i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 388—393. 114 Ebenda, folio 388 u. [Webb, B J : Paper 11: Machinery of Government Committee, i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 685 sowie Daalder, H.: The Haldane-Committee and the Cabinet, i n : Public Administration, Sommer 1963, S. 128.
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Der Haldane-Report jedenfalls sah als neue Funktionsbereiche der Regierung u. a. die Errichtung eines Justizministeriums, eines Arbeitsministeriums und eines Gesundheitsministeriums v o r 1 1 5 . Es w i r d dabei ersichtlich, daß die anscheinend „objektive" Funktionseinteilung auch i m Hinblick auf die Durchsetzung bestimmter sozialer und administrativer Reformen vorgenommen worden w a r 1 1 6 . Ein ganz vordringliches Anliegen der Architekten des Haldane-Reports war jedoch vor allem die Schaffung eines zentralen Forschungs- und Informationsministeriums, eines „Intelligence Department for the Government as a w h o l e " 1 1 7 . Beatrice Webb gab dem alten fabischen Streben nach Verwissenschaftlichung der Politik Ausdruck: „ . . . perhaps the most permanently important [question] of all, is the need for definite provision, outside any one of the Departments for continuous enquiry a n d research, and deliberate t h i n k i n g at large, for the improvement of Government" 1 1 8 .
Die Kontinuität des Gedankenguts der „Effizienz-Bewegung" zu den Annahmen der maßgeblichen Mitglieder des „Haldane-Committee" w i r d auch besonders deutlich bei Haldanes Konstruktionsplan für eine zentrale Forschungsbehörde. Den Kopf dieses „Departments" gelte es nicht m i t einem Politiker, sondern m i t einem „trained thinker", „detached from Party Politics" zu besetzen: „ . . . the best talent f r o m a l l parts of a nation is . . . to converge on research and general i n q u i r y at the headquarters of the n a t i o n " 1 1 9 .
Damit verwies Haidane auf die unausgesprochenen Grundannahmen hinter dem großen, explizit gemachten funktionalen Verwaltungsprinzip. Die Organisation der Regierungsmaschinerie und des Kabinetts wurde vom „Haldane-Committee" unabhängig von der Politik, vor allem unabhängig von den Eigengesetzlichkeiten der Parteipolitik vorgenommen. Dem Kabinett, das der Haldane-Bericht auf eine Größe von 10—12 Mitgliedern veranschlagte, sollte die „determination of the policy to be submitted to Parliament" und die verwaltungsmäßige Koordination obliegen; es war aber nicht eigentlich als politisches Organ konzipiert, in dem politische Konflikte ausgetragen und entschieden w ü r den 1 2 0 . Die Strukturierung der Regierungs- und Verwaltungsarbeit 115 M i n i s t r y of Reconstruction: Report of the Machinery of Government Committee (Haldane Committee), Cd. 9230, London 1918, S. 43—50 u. S. 58—78. 116 Siehe auch Daalder, H.: Cabinet Reform i n B r i t a i n 1914—1963, S. 276. 117 Webb, B.: Memorandum. Reconstruction Committee. Sub-Committee on Functions of Government Departments [ = Haldane Committee], J u l i 1917, i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 370. 118 Ebenda, S. 369. 119 L o r d Haldane: Memorandum: Machinery of Government Committee (11.1.1918), i n : Passfield Papers, section V I I I : Reconstruction Papers, folio 784 u. 785.
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wurde ausschließlich i n Kategorien administrativer Effizienz gedacht. W. J. M. MacKenzie hat darüber hinaus darauf hingewiesen, daß das „Haldane-Committee" die Existenz von großen bürokratisch-strukturierten „Departments" einfach voraussetzte und diesen i m Vergleich zum persönlichen Einfluß des Ministers einen größeren Stellenwert beim Handeln der Exekutive zumaß. I m Gegensatz dazu hatte die Verfassungstheorie des 19. Jahrhunderts die Regierungsinstitutionen noch als „offices" aufgefaßt, die rechtlich verfaßte Macht begründeten, welche von individuellen Politikern ausgeübt wurde, keinesfalls aber als „Departments", i n denen die fachgeschulte Bürokratie eigenständig das Handeln der Exekutive gestaltete 121 . Auch hinsichtlich des modernen Verständnisses der Exekutive war der Haldane-Bericht also ein „revolutionary document". Die Verwaltungsexperten B. Webb und R. Morant sowie der u m „Science i n Government" bemühte Haldane hatten i n ihrer Ausschußarbeit, zu einer Zeit außergewöhnlich starker nationaler Formiertheit, die Dynamik der Politik ganz zugunsten effizienter Administration und wissenschaftlicher Steuerung des Regierungshandelns ausgeblendet. Beatrice Webb hat selber bezeugt, wie stark die Verachtung des „Haldane-Committee" für die Arbeit der parlamentarischen Institutionen und der Minister war, die „sensible, leave alone scientific, administration" unmöglich machten 1 2 2 . M i t Recht also konnte sie auch den „Haldane-Report" als Ausfluß spezifisch Webbscher Prinzipien rühmen: „The Report embodies all the right ideas and follows closely the lines laid down i n the Webb document 1 2 3 ." Die intellektuelle Arbeit der Webbs hatte i n einem weiteren Bereich den Nährboden für die Modernisierung des englischen politischen Systems bereitet. 4. Der Verfassungsentwurf der Webbs von 1920 A u f Ersuchen der 2. Internationale, i n der der englische Fabianismus zu diesem Zeitpunkt beträchtliches Ansehen besaß, verfaßten die Webbs zwei Entwürfe zur Sozialisierung der Wirtschaft und zur Verfassung eines zukünftigen sozialistischen Staates; daraus wuchs die i m Jahre 1920 vorgelegte Verfassungskonstruktion der Webbs, „ A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain", hervor. Der Einfluß 120 M i n i s t r y of Reconstruction: Report of the Machinery of Government Committee (Haldane Committee), Cd. 9230, London 1918, S. 5; u n d Daalder , H.: The Haldane Committee and the Cabinet, i n : Public Administration, Sommer 1963, S. 125. 121 MacKenzie, W. J. M . : The Structure of Central Administration, i n : Campion, Gilbert u. a.: B r i t i s h Government since 1918, S. 58. 122 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 98 (14.11.1917). 123 Ebenda, S. 137 (8.12.1918). *
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dieses eilig zusammengestellten Entwurfes ist sowohl auf die Arbeiterbewegung als auch auf die allgemeine verfassungspolitische Diskussion i n England minimal geblieben. Wenn er dennoch Aufmerksamkeit verdient, dann zum einen, weil ihn die Webbs selbst als eine Krönung ihres Gesamtwerkes betrachteten — „an advent in our lives — the summing up of our observation and reasoning about political and industrial organisation" 1 2 4 —, und zum anderen, w e i l die in i h m gebündelten Grundannahmen des fabischen Politikverständnisses die Webbs erstmals ausdrücklich über den Rahmen des englischen Regierungssystems i m Grundsatz hinausführten. Die A r t der Webbschen Verfassungsbetrachtung war utilitaristisch. So wie Bentham i n seinem „Constitutional Code" die alte Verfassungstheorie unter Berufung auf bestimmte Prämissen, vor allem auf die des „Principle of U t i l i t y " , ablöste und durch einen geschriebenen Kodex präziser formaler und rationaler Vorschriften und Regeln ersetzte, verzichteten die Webbs auf die traditionelle Wesensergründung der englischen Verfassung i m Sinne eines Rekurses auf die „literarische Theorie" der Verfassung und der Anrufung von „first principles" der hergebrachten Verfassungsdoktrinen. Sie behandelten die Verfassung vielmehr als empirisches Phänomen und machten eine Beschreibung der „lebenden Wirklichkeit" („the l i v i n g tissue of society"), eine Verortung der tatsächlichen sozialen Machtstruktur zum Ausgangspunkt ihres Neuentwurfs 1 2 5 . Der diagnostizierten Machtverlagerung von den traditionellen politischen zu neuen ökonomischen und sozialen Instanzen wurde dann — ausgehend von der Prämisse der Notwendigkeit umfassender sozialer Kontrolle — ein hochdifferenziertes Netz von Institutionen und rechtlichen Regulierungen des Soziallebens gegenübergestellt. Subjekt der Kontrolle der neuen ökonomischen und sozialen Machtphänomene war für die Webbs jedoch nicht der formierte Volkswille, sondern vielmehr die Autorität der objektiven Wissenschaft. So war es nicht verwunderlich, daß der Webbsche Entwurf zu einem „Musterbeispiel einer schematischen und unhistorischen Verfassungskonstruktion" 1 2 6 geriet und i n seiner radikalen Abwendung vom traditionellen englischen Verfassungsgefüge selbst unter den Gefährten i n der Fabian Society auf K r i t i k stieß 1 2 7 . 124
Ebenda, S. 203 (1.1.1921). Webb , S.u. Β . : A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, S. X L I f . 128 Ritter, G. Α.: Probleme u n d Tendenzen der britischen Verfassungsentwicklung seit 1914, i n : ders: Parlament u n d Demokratie i n Großbritannien, S. 238. 127 Z . B . Laski , H.: A Grammar of Politics, 4. Aufl. London 1937, S. 339 u. Cole , Μ . ; The Webbs and Social Theory, i n : B r i t i s h Journal of Sociology, 1961 (Bd. 12), S. 102. 125
V. Die Rationalisierung v o n Regierung u n d V e r w a l t u n g
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Die rationalistische Radikalität der Webbschen Verfassungskonstruktion, die tabula rasa m i t der gesamten englischen Verfassungsentwicklung machte, markierte eine neue Phase i m Denken der Webbs. Zurückgelassen wurde nun der einstige Optimismus der deterministischen Evolutions-Anhänger, die überall i n der individualistischen Gesellschaftsstruktur bereits die neuen sozialen Organisationsprinzipien eingekapselt sahen und auf die stückwerkartige und ungleichzeitige Transformation zum Sozialismus vertrauten. Die Webbs dachten nun nur noch i n Kategorien des Gesamtsystems und gingen vom völligen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems i n toto aus 1 2 8 . So zielte der Neuentwurf der Verfassung auch auf die Totalrevision der institutionellen Struktur des englischen Gemeinwesens. Entsprechend hochgehangen wurde die Erwartung der Wirksamkeit institutioneller Neukonstruktionen für das soziale Handeln der Menschen: „ I t is by such transformations of social institutions that m a n himself is transformed 1 2 9 ."
Der Webbsche Verfassungsentwurf traf detaillierte Regulierungen nicht nur für den politischen, sondern auch für den sozialen und w i r t schaftlichen Bereich; i m vorliegenden Zusammenhang ist jedoch ausschließlich die Organisation der Regierungs- und Parlamentsmaschinerie von Interesse. I n ihrer Analyse der tatsächlichen Verfassungslage konstatierten die Webbs die vollständige Aufhebung der traditionellen Balance der politischen Gewalten; über den Kopf des Parlaments hinweg hätte sich bereits eine „Diktatur des Kabinetts" herausgebildet, die sich immer stärker auf eine Dominanz des Premierministers h i n zuspitze. Praktisch übertrüge diese kleine Politikergruppe das immer fachspezifischer werdende Regierungsgeschäft auf die Bürokratie, welche ihrerseits zunehmend auf die Konsultation mächtiger gesellschaftlicher Interessengruppen angewiesen sei 1 5 0 : „The great mass of government to-day is the w o r k of an able and honest but secretive bureaucracy, tempered by the everpresent apprehension of the revolt of powerful sectional interests, and mitigated b y the spasmodic interventions of imperfectly comprehending Ministers 1 3 1 ."
Zwar war die Theorie von der Vorherrschaft des Kabinetts schon seit Ende des 19. Jahrhunderts herrschende Verfassungslehre 132 , doch m i t ihrer Analyse des Trends zur Beamten- und Interessengruppen128
Webb, S.U.B.: A Constitution, S . X X X V I I . Ebenda, S. 99. 130 Ebenda, S. 72. 131 Ebenda, S. 69. 132 Siehe Nuscheier, Franz: Walter Bagehot u n d die englische Verfassungstheorie, Meisenheim 1969, S. 99 ff. 129
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Herrschaft — angedeutet schon i m Haldane-Bericht — stießen die Webbs auf Neuland vor. Ihre K r i t i k an der Funktionsuntüchtigkeit der parlamentarischen Institutionen, die mit ihrer „obsolete internal machinery" der zunehmenden Aufgabenfülle und wachsenden Verschiedenartigkeit der Funktionen nicht gewachsen seien 1 3 3 , stand allerdings i m Kontext einer mächtigen Herausforderung der Verfassungskritik, die zumeist die konservativen Vorbehalte gegen die Massendemokratie artikulierte und m i t dem Schlagwort „Dekadenz des Parlaments" aufzutreten beliebte 1 3 4 . Die Anhäufung ungleichartiger sozialer und ökonomischer Aufgaben i n den parlamentarischen Institutionen, welche allenfalls zur Debatte politischer Prinzipienfragen fähig seien, verhinderte nach A n sicht der Webbs die Erfüllung der wichtigsten neuen Regierungsfunktion i n der industriellen Gesellschaft: „the scientific anticipation of the future" 135. Das institutionelle Heilmittel für die Überlastung der traditionellen Institutionen war so einfach wie verfassungspolitisch radikal: Zweiteilung von Unterhaus u n d Regierung (bei ersatzloser Auflösung des Oberhauses) i n ein politisches und ein soziales Parlament m i t einer jeweils eigenen politischen und sozialen Exekutive. Nicht zu verkennen war die Einwirkung des Syndikalismus, dem die Webbs m i t der Abtretung des Sozialparlaments offensichtlich ein Stück weit entgegenkamen; allerdings sollte sich der Repräsentationsmodus beider Parlamente — wie gehabt — ausschließlich nach territorialen, nicht nach wirtschaftlichproduktionsspezifischen Gesichtspunkten richten. Dem politischen Parlament wurden die ersten drei Exekutivfunktionen der Haldane-Liste zugeordnet (Außenpolitik, öffentliche Sicherheit, Justizwesen); die „politische Verwaltung" sollte am Kabinettsystem m i t Premierminister und den Grundsätzen individueller und kollektiver Ministerverantwortlichkeit festhalten. Anders dagegen das Sozialparlament, dem die restlichen Funktionen der Haldane-Liste einschließlich der entscheidenden Finanzgewalt sowie der Kontrollgewalt über die nationalisierten Industrien zugeschlagen wurden; das Sozialparlament war nach dem Modell des Londoner Grafschaftsrates konstruiert und sollte ausschließlich durch Fachausschüsse arbeiten, die — assistiert von speziellen Forschungsund Informationsstellen — d i e entsprechenden Verwaltungszweige und nationalisierten Industrien 1 3 6 zu kontrollieren hätten. Es kannte weder 183
Webb, S.u. B.: A Constitution, S. 72. Dazu Nuscheier, F.: Walter Bagehot u n d die englische Verfassungstheorie, S. 104ff. sowie Beer, S.: Introduction, i n : Webb, S. u. Β . : A Constitution, S. X X f f . (wiederabgedruckt als: The Webbs confront the t w e n t i e t h century, i n : Politics, Nov. 1974 [Bd. 9], S. 129—139). 135 Webb , S. u. Β . : A Constitution, S. 76 u. S. 90 f. 186 Die ständige V e r w a l t u n g der nationalisierten Industrien sollte v o m Sozialparlament ernannten, drittelparitätisch besetzten „National Boards" aus staatlichen Managern, Arbeitern u n d Konsumentenvertretern obliegen. 134
V. Die Rationalisierung von Regierung u n d V e r w a l t u n g
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Kabinett noch Premier oder eine sonstige einheitliche Führungsinstanz. Das politische Parlament wäre der Ort für „politics" i m alten Sinne, wo die jungen Gentlemen von Oxbridge i n traditioneller Manier ihre Debatten über Außenpolitik und andere für die Webbs uninteressante Prinzipienfragen führen könnten 1 3 7 . Das eigentliche, wissenschaftliche Regierungsgeschäft jedoch würde i m Sozialparlament betrieben, i n dem die Graduierten der LSE die soziale und ökonomische Facharbeit leisteten. Die Webbs proklamierten die alte saint-simonistische Devise, daß „government of men" von „administration of things" zu trennen sei 1 3 8 , wobei die letztere, dem Sozialparlament zufallende Aufgabe i n Zukunft allein bedeutsam sein werde, da die konfliktregulierende K r a f t der menschlichen Ratio die Herrschaft über Menschen i m traditionellen Sinne auf Dauer hinfällig mache. Zwar erklärten die Webbs, daß sie das Sozialparlament auf Kontrollaufgaben beschränken und streng von der detaillierten Verwaltung trennen w o l l t e n 1 3 9 , doch i m Ergebnis war das Parlament ebenfalls zu einer rein administrativen Institution umgeschaffen 140 . Verantwortliche M i n i ster als Leiter der Verwaltungsbereiche, denen das Parlament politische Vorgaben hätte machen können, existierten nicht mehr. So beschränkten sich die Kontrollaufgaben der parlamentarischen Spezialausschüsse auf detaillierte empirische Untersuchungen und faktische Leistungsüberprüfungen. Keine Entscheidung des Sozialparlaments war mehr politisch i m alten Sinne. Die Experten, die den Parlamentsausschüssen zur A n leitung beigegeben waren, führten ihre wissenschaftlichen Kontrolluntersuchungen unabhängig durch, hatten aber dennoch einen beamtengleichen Status inne 1 4 1 . A u f die beamteten Experten verlagerte sich die eigentliche Kompetenz des Parlaments. Der Strom der Berichte des „disinterested professional expert, who invents, discovers, inspects, audits, costs, tests or measures" 1 4 2 war für das Sozialparlament als Quelle der Entscheidung verpflichtend, nicht w e i l dieser etwa über Machtbefugnisse verfügte, sondern w e i l seine Sachautorität schlechthin imperativen Charakter besaß. Neben dem „measurement" der Verwaltungsleistungen bestand die zweite Aufgabe des Sozialparlaments vor allem i n der „publicity" der faktischen Meßergebnisse gegenüber der öffentlichen Meinung, u m deren Zustimmung zu sichern: „ . . . the more effectively we can educate public opinion the greater w i l l be the success of any administration" 1 4 8 . 137 138 139 140 141 142 143
Webb, S. U . B . : A Constitution, S. 137. Ebenda, S. 111. Ebenda, S. 146 u. S. 173 ff. Dies w i r d ausdrücklich festgestellt; ebenda, S. 355. Ebenda, S. 191 f. Ebenda, S. 198. Ebenda, S. 195.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
M i t ihrer Verfassungskonstruktion vertrieben die Webbs den eigentlich politischen Prozeß des Regierens aus dem parlamentarischen System. Das Verschwinden von politischen Auseinandersetzungen durch „measurement" und „publicity" der Sachgesetzlichkeiten machte i m Denken der Webbs auch jegliche verantwortliche politische Autorität hinfällig. Nicht nur die parlamentarische Souveränität — i m Sinne von Dicey „the very keystone of the Constitution" 1 4 4 —, sondern jede einheitliche und zentrale, politisch letztlich verpflichtende Entscheidungsinstanz wurde aufgegeben. Vielmehr ruhte die abstrakt postulierte Volkssouveränität i n „various co-ordinate organs for different purposes, which may f r o m time to time w a x and wane i n importance" 1 4 5 .
Konflikte zwischen den verschiedenen Organen, insbesondere zwischen sozialem und politischem Parlament erschienen nur noch als technische Fragen der Kompetenzabgrenzung denkbar. Während ein Absterben der traditionellen politischen Parteien von selbst erwartet wurde, f aßten die Webbs für eine Ubergangsphase ein zwangsweises Verbot bestimmter kapitalistischer Presseerzeugnisse ins A u g e 1 4 6 . I m Ganzen jedoch reklamierten sie für ihre Verfassungskonstruktion das Anliegen der Freiheitsverbürgung. Die Aufteilung der Kompetenzen durch ein kompliziertes institutionelles Gefüge („a systematic complication of social machinery" 1 4 7 ) sollte den durch das Zusammenfallen von alten politischen und neuen sozialen und ökonomischen Funktionen bedingten „overload" der traditionellen Institutionen nicht nur aus Gründen der Leistungsverbesserung abbauen, sondern sollte auch u m der individuellen Freiheit w i l l e n einer Machtzusammenballung Einhalt gebieten. So gelte es beispielsweise die Trägerschaft staatlicher Zwangsgewalt von der Verwaltung der nationalisierten Industrien zu scheiden, u m weiterh i n die Ausübung des Streikrechts zu gewährleisten 1 4 8 . Die radikale und schematische Trennung der institutionellen Gewalten einschließlich ihrer Unterstellung unter die Aufsicht von Gerichten, die dann die Einhaltung der Kompetenzbegrenzungen zu überwachen hätten, sollte i n den Augen der Webbs „a new safeguard for personal freedom" darstellen 1 4 9 . Nicht nur hinsichtlich dieses Anliegens individueller Freiheitssicherung, welches ohne eindeutige Verantwortlichkeit politischer Entschei144
Dicey, Α. V.: Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, 8. A u f l . London 1945, S. 70. 145 Webb, S. u. B.: A Constitution, S. 107. 146 Ebenda, S. 270. 147 Ebenda, S. 202. 148 Ebenda, S. 142 f. 149 Ebenda, S. 140.
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dungsautoritäten nicht zu gewährleisten war, entpuppte sich die Webbsche Verfassung als reine Konstruktion: ganz bewußt hob sie i n ihrem Neuordnungsbemühen von der historischen Wirklichkeit ab. Es waren die rationalistischen sozialen Grundannahmen, die für den Mangel an konkreter politischer Urteilskraft als einer der wichtigsten Voraussetzungen der Verfassungsgebung verantwortlich waren.
VI. Ergebnis der fabischen Entwicklung: Eine neue Auffassung von Politik 1. Die Veränderung des politischen Modus: Fabianismus versus Radikalismus Z u Beginn ihrer Tätigkeit, Mitte der 80er Jahre, hatten die Fabier Anknüpfung beim englischen Radikalismus gesucht, der als linker Flügel der liberalen Partei fungierte. Zwar war das Bemühen der führenden Fabier um eine Allianz m i t den Radikalen zum Teil nur taktisch begründet, denn bereits zu diesem Zeitpunkt bestanden bedeutende ideologische Unterschiede; doch kann die gesamte spätere Entwicklung der Fabier als eine einzige Wegbewegung vom Ausgangspunkt liberaler und radikaler Politik interpretiert werden. Sam Beer hat in einer bekannten Entwicklungstypologie britischer Politik ein Modell moderner „kollektivistischer Politik" entworfen, das er von früheren Typen der „Old Tory"-, „Old Whig"-, liberalen und radikalen Politik abgrenzt 1 . Beers Typus „kollektivistischer Politik" ist nicht ausschließlich auf die Sozialisten bzw. die Labour Party bezogen, sondern umfaßt gleichfalls das Politikverständnis der modernen Konservativen. Zur Formulierung dieser Anschauung von Polit i k nun, welche Beer als „kollektivistisch" bezeichnet, leisteten die Fabier einen bedeutenden Beitrag. I n der fabischen Politik war das Spezifikum nicht die traditionell sozialistische Komponente — es ist oben ausgeführt worden, wie fremd ihr Denken den Traditionen der Arbeiterbewegung war —, sondern die rationalistisch-technische Komponente. Natürlich waren sie nicht die alleinigen geistigen Urheber dieses Politikverständnisses i n England, das ja dort bereits seit Bacon Tradition hatte. Doch den Fabiern gelang es, soweit dies überhaupt m i t „ideenpolitischen" M i t t e l n möglich ist, diesen Politikansatz — gezielter noch als die Utilitaristen — i n einer breiten geistigen Öffentlichkeit zu popularisieren und auf Dauer zu verhaften. 1
Beer, S.: Modern B r i t i s h Politics, S. 69 ff.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Bevor das fabische Politikverständnis näher charakterisiert wird, soll zunächst eine knappe, rein idealtypisch verfahrende Kontrastierung mit der Politikauffassung des Radikalismus vorgenommen werden, damit deutlich wird, wie vollständig die Abwendung der fabischen — heute fast Allgemeingut gewordenen — Haltung zur Politik von den Modi traditioneller Reformpolitik im Umfeld ihrer eigenen Zeit war. Die englischen Radikalen seit den Levellers lebten vom Appell an oberste Prinzipien — seien dies Prinzipien des Naturrechts oder Prinzipien der Nützlichkeit — als den grundlegenden Imperativen für die Politik. Das oberste Prinzip war souverän; ihm wurden alle Verzweigungen und Komplexitäten des Lebens angepaßt. Galt es als gültig, mußte es unverzüglich und universell angewandt werden. Die radikale Auffassung, daß Politik immer ausschließlich „about principles" sei, hob sich scharf vom gemäßigten Verständnis der Whigs von Politik als „practical, careful and deliberate government" ab. Radikale Ideologie hatte fundamentale Anliegen, „great causes", und brachte eine völlig neue, einheitliche und vollständige Sichtweise des menschlichen Lebens hervor. Die Fabier hingegen besaßen nicht einzelne, punktuelle A n liegen, sondern betrachteten die politische Sphäre als ein geschlossenes System, als ein soziales Funktionsgefüge, i n dem es mittels Programmen Reformprozesse pragmatisch, graduell und stückweise zu steuern galt. Der Radikalismus lehnte die praktischen Modalitäten und Klugheitsregeln der herrschenden Politik ab; er neigte zur Verschmähung des politischen Alltags und machte gegen jede A r t von „political bargaining" Front. Sein eigenes Selbstverständnis bezog er immer auch aus einer prinzipiellen Abgrenzung zur politischen Praxis der bestehenden Gesellschaft. Die Fabier dagegen verstanden sich stets als praktische und fachgeschulte Reformexperten in der detaillierten Alltagspolitik; darüber hinaus scheuten sie niemals vor den Niederungen des geschäftigen politischen Taktierens zurück. Der Radikalismus machte das Gewissen zur höchsten Instanz in der Politik. Er war ja i n England durchweg durch religiöse Konflikte motiviert gewesen: i m 17. Jahrhundert durch die Religionskämpfe des Puritanismus 2 , i m ausgehenden 18. und i m 19. Jahrhundert durch die protestantischen Wiedererweckungsbewegungen des Evangelikaiismus bzw. Nonkonformismus, sowie i m Laufe des 19. Jahrhunderts durch das Ringen der säkularistischen Bewegung m i t der etablierten Religion. Die Autorität des Gewissens durfte nicht durch politische Kompromisse 2 Z u r Entstehung der Methoden radikalistischer P o l i t i k aus den religiösen K ä m p f e n des Puritanismus vgl. die klassische A r b e i t von Walzer, Michael: The Revolution of the Saints, Cambridge, Mass. 1965.
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unterhöhlt werden. Politik und Moral waren untrennbar. Die Radikalen waren immer „Gesinnungsethiker". I h r politischer Rigorismus hatte seine Wurzeln meist in tiefen seelisch-emotionalen Peinigungen. Auch i n der öffentlichen Präsentation hatte radikalistische Politik einen stark emotionalen Anstrich; sie wollte den „inneren Menschen" bewegen. Die Fabier dagegen machten die Wissenschaft zum alleinigen Maßstab in der Politik. Die „Entspiritualisierung" der Politik war Bedingung für die Heraufkunft des technisch-rationalen, „kollektivistischen" Politiktyps. Die Fabier verschmähten rein gesinnungsethisches Handeln, welches die politischen Konsequenzen nicht bedachte und Reform ausschließlich als „a campaign of Good against E v i l " betrachtete 3 . Gegenüber einer ethisch rigorosen Politik des Radikalismus betonten sie die wissenschaftlich bestimmbare Zweckrationalität des politischen Handelns und die sachliche Unausweichlichkeit des Kompromisses — „necessitated by the complicated facts of practical life" 4 . I n ihrer Vorgehensweise waren die Radikalen typischerweise durch diszipliniertes, der Anlage nach starres Eiferertum gekennzeichnet. Radikale Bewegungen verlangten von ihren Anhängern eine strikte, prinzipiengesteuerte Lebensführung und eine ständige Huldigung der gemeinsamen Ziele. Radikalistische Politik war i n der Lage, m i t quasimilitärischen Methoden Massen für ein Anliegen, „cause", zu mobilisieren und durch Disziplinierung schlagkräftig zu machen. Radikale Massenpolitik war abhängig von herausragenden politischen Persönlichkeiten, von charismatischen Führerfiguren. Die rationale Disziplin in den politischen Methoden, die — ohne daß auch die politischen Inhalte vernunftbegründet sein mußten — die instrumentale Seite des Vorgehens der Radikalen kennzeichnete, war dem fabischen Politikansatz ebenfalls zu eigen. Die rationalistische Politik der Fabier jedoch strebte nach Aufhebung der persönlichen Autorität in der Politik zugunsten einer Steuerung durch die Wissenschaft. Radikale Bewegungen rekrutierten ihre Anhänger in der Regel aus Schichten, die durch die soziale Entwicklung bedrängt oder bereits zurückgesetzt waren. Deren Ängste münzten sie zu einer aktiven politischen K r a f t um. Sie gaben sich zumeist einen populistischen Anstrich und appellierten an das U r t e i l des „common man". Die soziale Herkunft der Fabier war davon grundsätzlich verschieden: sie entstammten der neuen, aufsteigenden intellektuellen und professionellen Mittelklasse und machten deren Wissen und Fachschulung zum Maßstab ihrer Politik. 3 Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape from Houndsditch, i n : The Nineteenth Century, Sept. 1901, S. 370. 4 Webb, S. u. B.: Industrial Democracy, S. 55.
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Radikale Politik war Sache von rationalen und unabhängigen Individuen, die als einzelne Freie und Gleiche zur Einheit, zum Gemeinwillen vorstoßen sollten. Radikalismus war Individualismus. So kämpfte er in seiner ursprünglichen Form vor allem u m individuelle Rechte, wie Religions- und Glaubensfreiheit, Meinungs- und Pressefreiheit. Die fabische Haltung zur Politik verstand sich als „kollektivistisch": man ging von der Verflechtung und wechselseitigen Abhängigkeit funktionaler, dabei ungleichartiger Einheiten und Interessen i n der Gesellschaft aus, nicht von einer Verbindung von „independent men". Auch der politische Betrieb mußte sich den Anforderungen des zusammenhängenden Sozialorganismus fügen: das Primat galt den Notwendigkeiten des gesellschaftlichen Ganzen, nicht den Rechten des einzelnen „common man". Die idealtypische Haltung des Radikalismus zur Politik war voluntaristisch. Instanz der Zwecksetzung, somit Legitimitätsspender politischen Handelns war Wille und Impuls der Individuen, nicht die Autorität von Tradition oder Fachkompetenz. Die typische politische Betriebsform des Radikalismus war die auf dem Boden der freien Eigeninitiative geschaffene, auf freier Werbung beruhende Assoziation, insbesondere als Parteiorganisation oder politische „pressure group" 6 . So sind die Radikalen häufig Vorreiter moderner Massenparteiorganisationen geworden, obwohl sie ideologisch grundsätzlich der partikularistischen politischen Interessenvertretung durch Parteien feindlich gegenüberstanden. Der Fabianismus war voluntaristischer Politik entgegengesetzt; er gehörte zum Typus rationalistischer Politik. Die Fabier wollten die Gesellschaft der Steuerung der menschlichen Ratio, besonders ihrer höchsten Erscheinungsform — der modernen Wissenschaft — unterwerfen. Die idealtypisch reinste Betriebsform rationalistischer Politik war die behördliche Verwaltungsinstitution 6 . Hinsichtlich Auftreten und Lebensführung, hinsichtlich Ausübung des politischen Instrumentariums bestand eine enge Verwandtschaft zwischen Radikalismus und fabischem „Kollektivismus". Beide politischen Handlungssysteme hatten ja gemeinsame Wurzeln i m englischen Evangelikalismus. Doch was die inhaltliche Zwecksetzung, was den Begründungsmaßstab politischen Handelns anbetraf, w a r es allein der Fabianismus, der der Rationalität der modernen Industriegesellschaft Rechnung trug. Erstmals die Fabier betrieben eine reine, modern „sozialwissenschaftliche" Politik. Ihre Bedeutung liegt i n ihrem erfolgreichen Unterfangen begründet, die Muster des neuen wissenschaftlichen Denkens 5 Über die voluntaristischen Vereinigungen siehe Weber, M a x : Wirtschaft u n d Gesellschaft, S. 167 f. 6 Siehe ebenda, S. 125.
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in den Bereich der praktischen Politik zu übertragen und allgemein gebrauchsfertig aufzubereiten, um die englische Politik zur Lösung der neuen, durch die fortgeschrittene Industriegesellschaft gestellten Steuerungs- und Kontrollaufgaben zu befähigen. 2. Das fabische „social engineering" als Ende der traditionellen Politik Beatrice Webb selbst hat das fabische Politikverständnis m i t einem neuen Terminus aus der amerikanischen Soziologie auf den Begriff gebracht und damit das Etikett für eine moderne A r t politischen Denkens geliefert: „ . . . someone must begin to think things out, and our task i n life is to be pioneers i n social engineering" 7 . Die Fabier — i n Abgrenzung zu den anderen, auch den radikalen Reformbewegungen i m viktorianischen England — „applied the method of social engineering to questions hitherto left to the realm of sentiment" 8 . Das zentrale Anliegen der Fabier war die Unterwerfung der Politik unter die Erkenntnisse der neuen Sozial Wissenschaft: „the application of the scientific method to the problems of industrial and political society" 9 . M i t dem Fortschritt der „soziologischen Wissenschaften", der i n ihrer Erwartimg i m 20. Jahrhundert ähnliche Ausmaße annehmen würde wie der Fortschritt der Chemie und Physik i m 19. Jahrhundert 1 0 , m i t einer „universal dissemination of the scientific methods of thinki n g " 1 1 , sei auch in der politischen Sphäre ein ebenso hoher Rationalitätsgrad zu erreichen wie i m Bereich der Technik, insbesondere der modernen industriellen Produktion. So wurden die Kategorien des industriellen Bereichs auf den politischen Bereich übertragen. Die politischen Institutionen erschienen als konstruierte Apparaturen, die durch Anwendung des Wissens um ihre technischen Gesetzlichkeiten funktionsfähig erhalten bzw. i n ihrer Effizienz gesteigert würden. Das staatliche Gemeinwesen stellte sich den Fabiern gleichsam als riesiges Soziallaboratorium dar, i n dem nicht mehr normative Willensbildung stattfände, sondern i n dem den sozialen Sachgesetzlichkeiten entsprechend operiert würde 1 2 . Das Betreiben von Politik fiel i m Prinzip m i t der Aus7
Webb, Β.: Diaries 1912—1924, S. 179. Lynd, Helen M.: England i n the Eighteen-Eightees, Oxford 1945, S. 400. 9 Webb, S. u. Β . : What is Socialism? I I I . The Application to Society of the Scientific Method, i n : The New Statesman, 26. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 76. 10 Ebenda, S. 77. 11 Webb, S. u. B.: A Constitution, S. 352. 12 Z u diesem B i l d vgl. das erste Editorial des „ N e w Statesman", i n dem f ü r eine P o l i t i k plädiert w i r d , „ i n the isame spirit i n which the chemist or the biologist faces and examines his test-tubes or his specimens". I n : The New Statesman, 12. A p r i l 1913 (Bd. 1), S. 5. 8
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
Übung von Sozialwissenschaft zusammen. Die neuen Politiker wären die Vertreter der wissenschaftlich-technischen Intelligenz, deren Führungsanspruch sich allein durch ihre Fachqualifikation begründete. M i t dem Ersatz normativer politischer Willensbildung durch die wissenschaftliche Erfüllung der Sachnotwendigkeiten entfiel auch die politische Herrschaft i m klassischen Sinne, ja mehr noch, es entfiel die Herrschaft von Menschen über Menschen schlechthin. Denn die wissenschaftlich-technischen Sozialexperten herrschten nicht mehr auf herkömmliche Weise; es würde nichts mehr gestalterisch entschieden, sondern lediglich Imperative der Wissenschaft erfüllt, die die funktionsgerechte Entwicklung des Sozialorganismus garantierten. Persönliche Autorität i n der Politik würde hinfällig durch „measurement" und „publicity" von Fakten, was die rein rational handelnden Menschen schon von selbst zur Sachdisziplin anhielte. A l l e nicht-rationalen A n triebskräfte politischen Handelns, die Leidenschaftsnatur des Menschen überhaupt, waren dabei ausgeklammert. Wie stark die Entpersönlichung der Politik der traditionellen politischen K u l t u r Englands widersprach, welche m i t „policies" immer auch „men" und „character" verband, haben sogar die Webbs selbst gespürt: „The Englishman hates the impersonality of science", mußte Beatrice Webb bekennen 13 . I n dem Webbschen Modell des Staates als „allgemeine Konsumentenanstalt" war durch die völlige Verschmelzung von Staat und Gesellschaft eine Neutralisierung der politischen Sphäre schon i n der Konstruktion angelegt. Politik war „vergesellschaftet" und nicht mehr unterscheidbar von jedem anderen, funktional organisierten Sozialbereich. Die Institutionen als zweckrationale Anstalten etablierten sich zu starren Wirklichkeiten, die jeder voluntaristischen Politik entgegenstanden. Der Webbsche Staat kannte nicht mehr die Gewährleistung eines Spielraums für die Politik i m Sinne ethisch-normativer Wertbildung oder auch i m Sinne eines bloßen Dezisionismus. Die Kategorie der „Regierungskunst", welche die Fähigkeit zur situationsbezogenen politischen Urteilskraft voraussetzt, war aus dem Modell der Fabier verbannt. Dagegen war Polit i k i n ihrem Sinne — ebenso wie technisches Wissen — durch Präzision und Gewißheit gekennzeichnet, auch was die Vorwegnahme der Zukunft betraf. Politik hörte auf, disputationsfähig zu sein, da es nun nur noch um „richtige" oder „falsche" Anwendung des Wissens ging. Auch die Webbs verspürten wegen der Rigorosität ihrer Abkehr vom herkömmlichen Stil politischen Denkens i n England zuweilen eine Unsicherheit. Die Fabier hatten nicht wie andere szientistische Denker, ζ. B. Bacon oder Saint-Simon, ein vollständiges, utopisches Gesellschafts13
Webb, Β.: Diaries 1912—1924, S. 119.
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modell entworfen, das als verlockendes Ziel präsentiert werden konnte. Die bloße fabische Sozialtechnik war kalt und unattraktiv. So sahen sich auch die Webbs, insbesondere Beatrice, genötigt, nach Komplementärideologien Ausschau zu halten. „ . . . science deals only w i t h processes, i t has nothing to say of the purpose, either of our own life, or of the universe" 1 4 , hieß es i n der Webbschen Methodenschrift. Da durch die Sozialtechnik allein kein substantieller Begriff von einer guten politischen Herrschaft, vom bonum commune, mehr zu gewinnen war, griffen auch die Webbs auf Formen einer säkularisierten, bürgerlichen Religion zurück. Beatrice hatte ihren alten Glaubenskonflikt niemals aufzulösen vermocht. Das Ringen ihrer beiden „Egos", wie sie die wissenschaftliche und die religiöse Komponente i n sich bezeichnete, führte nie zur vollständigen Unterdrückung eines starken religiös-rituellen Dranges. So erkannte sie „a need for a new religious order" und „a need for a new church" 1 5 zur Erfüllung der rituellen und spirituellen Bedürfnisse der Menschen und zur Einübung einer disziplinierten „mentalen Hygiene". „ . . . I desire to see the minister of religion practising the art of mental hygiene. . . . We need the expert here as elsewhere. . . . A n d I desire that the national life should have its consciously religious side. If, as a state, w e are purely rationalistic and selfish i n our motives and aims, w e shall degrade the life of the individuals who compose the state. I should desire the Church to become the home of national communal aspirations as w e l l as of the endeavour of the i n d i v i d u a l towards a better l i f e " 1 6 .
Auch Bernard Shaw sah für den zukünftigen sozialistischen Staat eine „tolerably stiff State religion" voraus 1 7 , die einen allgemein verbindlichen moralischen Kodex vorschreiben würde: „Der Sozialismus braucht unbedingt eine positive Religion, charakteristisch für u n d zugeschnitten auf die Epoche, die es einzuleiten gilt, m i t auf i h r basierenden Glaubensartikeln u n d Geboten, die anerkannt werden als die Grundlagen für den sozialistischen Staat. U n d es muß eine wissenschaftliche Religion sein . . . " ,
erklärte Shaw 1918 in einem Vortrag vor der Fabian Society 1 8 .
14 Webb, S. u. Β.: Methods of Social Study, S. 255 f.; siehe auch Webb , Β . : (Credo), i n : Leach, Henry G. (Hrsg.): L i v i n g Philosophies, New Y o r k 1931, S. 300; u n d Webb , B.: Reminiscences (by S. u. B. Webb) V I . Science, Religion and Politics, i n : St. Martin's Review, März 1929, S. 135—138. 15 Webb, Β . : Our Partnership, S. 340 u. S. 367. 10 Ebenda, S. 209 f. 17 Shaw, G. Β . : The Impossibilities of Freedom (1925), i n : ders.: Practical Politics (hrsg. v. L . Hubenka), S. 185. 18 Shaw, G. B.: Sozialismus u n d Büdung, i n : ders.: Der Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen, S.264 (engl.: Socialism and Culture, i n : ders.: The Road to Equality [hrsg. v. L . Cromton], S. 323).
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2. Kap.: Politische Konzeption u n d politische Praxis der Fabier
I h r Buch „Methods of Social Study" aus dem Jahre 1932 schlossen die Webbs bezeichnenderweise m i t einem Rekurs auf Auguste Comtes „Religion der Humanität" 1 9 . Beatrice Webb hatte persönlich zwar eher metaphysisch-spirituelle Sehnsüchte, doch bedeutende soziale Aufgaben verliehen der von ihr anvisierten Religion — ebenso wie bei Comte — einen säkularen Charakter. Die bürgerliche Religion war eine A r t „seelisches Schmieröl", welches das „social engineering" für die Menschen akzeptabel und damit erst funktionsfähig machte.
V I I . Schlußpunkt des „klassischen" Fabianismus : Abkehr von England — Der Weg der Webbs und Shaws zum Totalitarismus Sidney Webbs Beitrag zu Verfassung und Programm der Labour Party von 1918 und Beatrice Webbs Arbeit i m „Reconstruction-Committee" bildeten einen Höhepunkt und gleichzeitig den Abschluß des geistigen Einflusses der Fabier als „Denker-Schule" i n der Politik. M i t dem aktiven parteipolitischen und parlamentarischen Engagement Sidneys ging eine Abnahme des intellektuellen Gewichts der Fabier einher. Gleichzeitig begannen die Webbs von sich aus, ihre eigene geistige Isolation voranzutreiben. Der Webbsche Verfassungsentwurf von 1920 leitete formell ihre offene Abwendung vom geistigen und institutionellen Gerüst des englischen politischen Systems ein, eine Entwicklung, die schließlich i n der annähernd vorbehaltlosen Zustimmung seitens der Webbs und Shaws zum sowjetischen Regierungssystem unter Stalin kulminierte. Die einstigen Führer der i m öffentlichen Bewußtsein so „erzbritischen" Fabian Society wurden die engsten intellektuellen Verbündeten der Sowjetunion i n Großbritannien. Diese scheinbare Konversion der als „konstitutionell" und demokratisch geltenden Sozialisten ist oftmals m i t Verblüffung aufgenommen worden. Deshalb muß, obwohl der Fabianismus als eigenständige „Denker-Schule" i n den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg so gut wie aufgelöst war, dieser Spätphase der Webbs und Shaws genaue Aufmerksamkeit geschenkt werden. Erst dann kann die hier vertretene These plausibel gemacht werden, daß i m Falle Shaws und der Webbs die Krise der westlichen Staaten Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre nicht die alleinige Ursache, sondern lediglich letzter Auslöser für die Bejahung des sowjetischen Systems unter Stalin (bei Shaw auch für die Sympathie zur faschistischen Herrschaft Mussolinis) war, daß viel19
Webb, S. u. Β . : Methods of Social Study, S. 258 f.
V I I . A b k e h r v o n England — Der Weg zum Totalitarismus
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mehr eine Kontinuität von Grundannahmen fabischen Denkens zu ihrer Sicht des Sowjetsystems verläuft. Der formelle Bruch m i t dem frühen fabischen „Konstitutionalismus" kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Fabier lediglich einige ihrer Prämissen zur äußersten Konsequenz trieben, also von einer „Konversion" i m strengen Sinne eigentlich nicht gesprochen werden kann 1 . Allerdings standen die Webbs zunächst der russischen Entwicklung i n den ersten nachrevolutionären Jahren noch äußerst skeptisch gegenüber. Die Machtübernahme der Bolschewiki interpretierten sie als einen Triumph des Anarchismus und Syndikalismus. Das neue sowjetische Regime verurteilten sie als „Despotismus", „a new creed autocracy", „a servile state run by fanatics" 2 . Lenins Politik i n den ersten Jahren nach der Revolution wurde als „bakunistisch" charakterisiert 3 . I m „International Advisory Committee" der Labour Party verfaßte Sidney Webb i m J u l i 1918 sogar ein Memorandum zugunsten der militärischen Intervention der Alliierten gegen die Bolschewiki 4 . Noch bis ins Jahr 1927 finden sich i n Beatrice Webbs Aufzeichnungen k r i tische Bemerkungen zum Sowjetsystem, das als autokratisches Regime auf eine Stufe m i t dem faschistischen Italien gestellt wurde 5 . Weil Beatrice Webb durch ein mögliches Übergreifen dieser „Epidemien" 6 eine Anstiftung der britischen Arbeiterbewegung zu revolutionären, irrationalen Aktionen befürchtete, die sie beim Gildensozialismus schon seit jeher kritisiert hatte, ging sie sogar soweit, die russische Revolution als „the greatest misfortune i n the history of the Labour Movement" zu bezeichnen 7 . George Bernard Shaw indessen begann schon frühzeitig — etwa ab 1919 —, seine Symphatie für die antiparlamentarischen Methoden der russischen Revolutionäre, insbesondere für Lenins Kader-Konzeption zum Ausdruck zu bringen: „There is no use i n w a i t i n g u n t i l the mass of the people throughout the country, w h o k n o w a l i t t l e about football and very much less about politics, whose business is not politics and you cannot move t h e m i n the matter at all, there is no use i n w a i t i n g to get the m a j o r i t y of votes from 1 So auch Hobsbawm , E.: The Fabians Reconsidered, i n : ders.: Labouring Men, S. 254. 2 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 97 (5.10.1917) u. S. 183 (1. 7.1920); kritisch gegenüber der russischen Revolution auch dies.: i n : Fabian News, J u n i 1921 (Bd. 32), S. 27 f. (Rezension eines Rußland-Buches von M. P. Price). 3 Webb, S. u. B.: The Decay of Capitalist Civilisation, New Y o r k 1923, S. 98. 4 Siehe Winter , J. M . : Socialism and the Challenge of War, S. 141. 5 Webb, B.: Diaries 1924—1932, S. 106 f. (30.6.1926). « Ebenda, S. 107. 7 Zit. nach: Drake, Β.: The Webbs and Soviet Communism, i n : Cole, M. (Hrsg.): The Webbs and their Work, S. 221.
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them w i t h all the powers of the press and newspapers bemusing and bew i l d e r i n g and bedevilling them w i t h a l l sorts of nonsense. We Socialists w h e n w e are a l i t t l e comfortable are perfectly w i l l i n g to w a i t , but the people w h o really w a n t to have something done, l i k e Lenin, do not wait. When L e n i n saw a Constituent Assembly m u d d l i n g about doing nothing he did not w a i t but went ahead and like our governing classes there was no nonsense about democracy 8 ."
Peinlich wurde es jedoch auch für die Webbs, als Shaw i m Jahre 1927 nicht nur i m prinzipiellen die Regierungsform der Diktatur und die Existenz eines Tyrannen m i t der Fähigkeit zur erfolgreichen Gewaltanwendung — als Voraussetzung wirkungsvoller Machtausübung — verteidigte, sondern auch ausdrücklich den Faschismus Mussolinis i n seine Lobpreisungen des Sowjetsystems miteinbezog 9 . Hatte Beatrice Webb bereits i m Jahre 1924 geäußert, daß sie trotz aller Vorbehalte das sowjetische System für imstande halte, einige „interessante Experimente" hervorzubringen 1 0 , so w a r es doch nicht vor 1929/30 — nach Anlaufen des ersten Fünf jahresplanes —, daß sie sich ernsthaft dem Studium der russischen Verhältnisse zuwandte. I m Prozeß der Abwendung vom westlichen Regierungsmodell stellte aber bereits die Veröffentlichung des Webbschen Werkes „The Decay of Capitalist Civilisation" i m Jahre 1923 einen wichtigen Einschnitt dar. Erstmals machten sich die Webbs hier nicht die Reform und Neukonstruktion von sozialen Institutionen zur Aufgabe. Sie lieferten vielmehr eine Negativbilanz des Kapitalismus i n Form einer Beschreibung seines anfänglichen Erfolges und schließlichen Niedergangs, die sie dann in eine moralische und ökonomische Bankrotterklärung des gesamten westlichen Wirtschaftsystems ausmünden ließen. Der enormen Steigerung der Produktion von Gütern und Dienstleistungen, für die die m i t tels Wissenschaft hervorgerufene Rationalisierung verantwortlich wäre, stünde keine entsprechende Steigerung des Lebensstandards und der Sicherung der Arbeiterklasse oder eine Linderung der sozialen Verelendung gegenüber; das Entstehen einer neuen „leisure class" des moder8 Shaw, G. B.: Socialism and the Labour Party (1920), i n : ders.: Practical Politics (hrsg. v. L . Hubenka), S. 158; vgl. dort auch die A r t i k e l „ T h e Dictatorship of the Proletariat" (1921) u n d „The Impossibilities of Freedom" (1925); siehe zudem auch Caute, D a v i d : The Fellow-Travellers. A Postscript to the Englightenment, London 1973, S. 113 ff. 9 Vgl. Beatrice Webbs Aufzeichnung u n d K r i t i k des Shaw-Vortrags „Democracy and Delusion" v o m Nov. 1927 v o r der Fabian Society, der auch bei der fabischen Zuhörerschaft keinen A n k l a n g fand: Diaries 1924—1932, S. 158f. (14.11.1927); vgl. auch Shaw, G. B.: I n Praise of Guy Fawkes (1932), i n : ders.: Platform and P u l p i t (hrsg. v. Dan. H. Laurence), London 1962, S. 235 ff. u n d ders.: The Politics of Unpolitical Animals (1933), i n : ders.: The Practical Politics (hrsg. v. L . Hubenka), S. 233 f f.; außerdem Caute, D.: The Fellow-Travellers, S. 114 f. 10 Brief von Β . Webb an Charles Sarolea, 16.6.1924, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I I I , S. 207.
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nen Kapitalismus hätte zudem eine allgemeine Z e r r ü t t u n g des alten kapitalistischen Wirtschaftsethos zur Folge. Die Webbs sprachen n u n auch ausdrücklich von einem fortschreitenden, universellen Klassenkampf i m Kapitalismus u n d führten selbst die internationalen kriegerischen Auseinandersetzungen der an Überproduktion u n d Rohstoffmangel leidenden Länder auf das kapitalistische Wirtschaftssystem zurück 1 1 . Obwohl ausdrücklich weder ein katastrophenartiger Kollaps des Kapitalismus prophezeit, noch die revolutionäre politische A k t i o n befürwortet wurde, hatten die Webbs die früheren optimistischen Evolutionserwartungen der Fabier, die von einem selbsttätigen Herauswachsen der neuen Sozialordnung aus den kapitalistischen S t r u k t u r e n ausgegangen waren, bereits ad acta gelegt. Besonders Beatrice Webb wurde daher i n den 20er Jahren erneut zur Suche nach einer neuen geistigen Orientierung getrieben, während sich Sidney vorübergehend ganz von seinen Pflichten als Labour-Abgeordneter u n d Minister einnehmen ließ. Beatrice w a r n u n ganz beherrscht vom Gedanken einer nicht mehr aufzuhaltenden Dekadenz der westlichen W e l t 1 2 . Wenig Hoffnung vermochte i h r die britische Arbeiterbewegung einzuflößen: Sie bestritt nicht n u r der Labour P a r t y die Regierungsfähigkeit 1 3 , sondern verurteilte m i t Sidney auch den Generalstreik v o n 1926 auf das schärfste 14 . Das konsolidierte sowjetische System, das nach einer Dekade alle Webbschen Befürchtungen eines anarcho-syndikalistischen Regimes gegenstandslos gemacht hatte, bot Beatrice n u n einen geeigneten Ersatz für i h r V a k u u m politisch-geistiger Identifikation i n den 20er Jahren. Schon k u r z nach 1918 hatten die Webbs bereits persönliche Bekanntschaft m i t Vertretern der bolschewistischen Regierung gemacht, namentlich m i t L i t v i n o v , Kamenev u n d K r a s i n 1 5 . Die beiden letzteren hatten 1920 i n der „Fabian Summer School" gesprochen u n d dabei bei Beatrice erste Anzeichen einer Sympathie für die zentrale bolschewistische Idee des „Working to a plan, elaborated by scientific experts, under the instructions of the Communist P a r t y " geweckt 1 6 . Anfang 1930 dann begann eine enge Bekanntschaft der Webbs m i t dem russischen Botschafterpaar Sokol'nikov 1 7 . Beatrice stürzte sich i n ein intensives Studium der stark zunehmenden, ausländischen Rußland-Berichte sowie der rus11
Webb, S. u. Β.: The Decay of Capitalist Civilisation, S. 194ff. Ζ. B. Webb, B.: Diaries 1924—1932, S. 99 (18. 5.1926) u. S. 186 (29.11.1928); siehe auch Liebmann, Marcel: Fabianisme et Communisme: Les Webb et l'Union Soviétique, Teil I, i n : International Review of Social History, 1960 (Bd. 5), S. 412. 13 Webb, B.: Diaries 1924—1932, S. 65 (22. 6.1925). 14 Ebenda, S.94ff. (14.5.1926). 15 Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 105 f. (10.1.1918) u. S. 191 ff. (4.9.1920). 16 Ebenda, S. 192. 17 Webb, B.: Diaries 1924—1932, S. 236 (20.2.1936). 12
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sischen Literatur (u. a. auch Lenin), welches für sie eine Herausforderung an die fabische „philosophy of the Inevitability of Gradualness" darstellte 18 . Sie konstatierte nun bereits, daß hinsichtlich des Dienstes an der öffentlichen Sache und der persönlichen Selbstdisziplin die russische herrschende Klasse der angelsächsischen überlegen sei: „ A humiliating thought for the two English-speaking races 19 !" Auch die enthusiastischen Schilderungen Shaws nach der Rückkehr von seiner berühmten Rußland-Reise i m August 1931 dürften die Webbs i n ihrer Hinwendung zum Sowjetsystem bestärkt haben. Shaw hatte einer erstaunten fabischen Zuhörerschaft erklärt: „ T h e y [the Russians] always made f u n of the Fabians. We have our revenge i n the fact that they have come round to our opinions . . . B o l s h e v i s m became Fabianism, called Communism 2 0 ."
Shaw verkündete jetzt den endgültigen Zusammenbruch des westlichen kapitalistischen Systems und präsentierte das Sowjetsystem als einzige Alternative: „ T h e success of the Five Year Plan is the only hope of the w o r l d 2 1 . "
Spaltung und Fall des Labour-Kabinetts i m August 1931, besonders die undurchsichtigen Umstände von MacDonalds Abfall und seiner B i l dung eines „National Government" ohne Beteiligung der Labour Party, gaben den Webbs den letzten Stoß für die völlige Abwendung vom politischen System Englands. Beatrice begriff den Sturz der Regierung, die über die kontroverse Frage einer Kürzung der Arbeitslosenunterstützung als Zugeständnis an die ausländischen Kreditgeber zu Fall gekommen war, als Resultat einer Verschwörung des internationalen Finanzkapitals gegen die Arbeiterbewegung: „ A victory for the American and B r i t i s h Financiers — a dangerous one, because i t is an open declaration, w i t h o u t any disguise, of Capitalist Dictatorship; and a b r u t a l defiance of the Labour Movement 2 2 ."
Von den Verpflichtungen des Kolonialministers entbunden, konnte sich nun auch Sidney ganz dem sowjetischen System verschreiben. Für das 18
Ebenda, S. 245 (22. 6.1930). Ebenda, S. 246. 20 Shaw, G. B.: What Indeed? (Bericht eines Vortrags vor der Fabian Society i m Nov. 1931), i n : ders.: Practical Politics (hrsg. v. L . Hubenka), S. 212. 21 Shaw , G. B.: The Only Hope of the W o r l d (1931), i n : ders.: Platform and P u l p i t (hrsg. v. Dan H. Laurence), S. 222; vgl. dort auch ders.: L e n i n (1931), S. 216—218 sowie ders.: Look, Y o u Boob (1931), S. 226—234; außerdem ders.: The Politics of Unpolitical Animals (1933), i n : ders.: Practical Politics (hrsg. v. L. Hubenka), S. 233—240, sowie das posthum veröffentlichte Manuskript von Shaw: The Rationalisation of Russia (hrsg. u. eingel. v. H a r r y M . Geduld), Bloomington, Indiana 1964. 22 Webb , B.: Diaries 1924—1932, S. 283 (24. 8.1931). 19
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Jahr 1932 wurde eine Reise i n die UdSSR arrangiert, „a pilgrimage to Mecca" 2 3 , wobei jetzt bereits keinerlei Zweifel mehr an der Indienststellung für die neue Sache aufkamen: „ . . . without doubt we are on the side of Russia . . . " , erklärte Beatrice i m September 1931 24 . Das zu diesem Zeitpunkt bereits feststehende Gesamturteil über das sowjetische System wurde durch die ausgedehnten Studienreisen i m Jahre 1932 und 1934 nur noch endgültig bestätigt. Bemerkenswert ist vor allem, daß nicht nur der sich stets unkonventioneller Rhetorik bedienende Shaw, sondern auch die Webbs das Sowjetsystem als Erfüllung der fabischen „Utopia" präsentierten: „ W h a t attracts us i n Soviet Russia . . . is that its constitution, on the one hand, bears out our Constitution of a Socialist Commonwealth , and, on the other, supplies a soul to that concepion of government — which our paper constitution lacked 2 5 ."
I n der Sowjetunion glaubten sie die institutionelle Trias ihres eigenen Verfassungsentwurfs — politische Demokratie, Berufsorganisation, Konsumgenossenschaftswesen — wiederzufinden, wobei sich die Berufsund Gewerkschaftsorganisationen i n der von ihnen erstrebten untergeordneten Position befänden: „There is no d . . . d nonsense about Guild Socialism 26 ." I n der institutionellen Struktur des sowjetischen Staates schien ihr Wunsch nach einer umfassenden Planung des w i r t schaftlichen und sozialen Lebens verwirklicht, schien die Voraussetzung einer effizienten Regierung durch die Herrschaft einer bürokratischen und technischen Experten-Elite ohne Hindernisse der herkömmlichen, parlamentarischen Massendemokratie gewährleistet zu sein; doch das eigentliche Novum, welches die lebende Verfassung der Sowjetunion über ihren eigenen, papiernen Entwurf erhob, war für die Webbs das Vorhandensein seiner säkularen Religion, einer neuen Ethik, und eines religiösen Ordens als Hüter dieser „spiritual power": „ . . . [the] difference . . . is the presence, as the dominant and decisive force, of a religious order: the Communist Party, w i t h its strict discipline, its vows of obedience and poverty . . . I t is the invention of the religious order, as the determining factor i n the life of a great nation, that is the magnet which attracts me to Russia. Practically that religion is Comteism — the religion of H u m a n i t y . Auguste Comte comes to his o w n " 2 7 . 23
Ebenda, S. 298 (4.1.1932). Ebenda, S. 287 (10.9.1931); vgl. auch den Brief von B.Webb an R. Clay, 28. 9.1931, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I I , S. 366. 25 Webb, Β . : Diaries 1924—1932, S. 298 (4.1.1932). 26 Ebenda, S. 29S (4.1.1932). 27 Ebenda, S. 298 f.; vgl. auch den Brief von B. Webb an A r n o l d Toynbee, 20.5.1935, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I I , S. 406 sowie Webb, S.: On the Emergence of a New World-Religion, i n : The International Journal of Ethics, 1932—33 (Bd. 43), S. 170. 24
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Damit war der Kreis des Webbschen Denkens wieder geschlossen. Wie schon i n den 80er Jahren konnte erneut eine Versöhnung von Wissenschaft und Religion unter den Vorzeichen des Positivismus stattfinden. Der unbedingte Ernst der alten Evangelikalen, ihr Streben nach einer rigorosen Unterwerfung unter die „gute Sache" — „the great cause" — ließ die Sowjetunion, begriffen als Träger des Positivismus, zur Endstation der Webbschen „pilgrimage" werden. Nicht genug konnten sie die kommunistische Ethik, die das westliche Bereicherungsmotiv vollständig hinter sich gelassen habe, als den „neuen Puritanismus" preisen 28 . Die Kommunistische Partei als religiöser Orden erlege den Menschen einen strikten Moralkodex des Gehorsams, der Armut, der Selbstaufopferung zugunsten des Gemeinwohls, der Selbstdisziplin und sogar der persönlichen Hygiene und sexuellen Mäßigkeit auf, welchen die Webbs positiv von der westlichen Lebensführung abhoben 29 . Einer Kirche gleich besäße die Partei Dogmen und Katechismen und i n den Werken von Marx und Lenin eine „Heilige Schrift"; darüber hinaus ließen sich sogar Anzeichen für die Herausbildung von quasi-religiösen Ritualen erkennen 3 0 . Das religiöse Credo der Kommunistischen Partei — der „Service of Man", der schließlich einmal die gesamte menschliche Gattung umfassen sollte 3 1 — ging i n den Augen der Webbs m i t der Wissenschaft eine ideale Synthese ein. Der „ K u l t der Wissenschaft" sei der öffentlich bekannte Glaube der herrschenden Klasse i n der Sowjetunion. „Science" bedeute für diese „the Salvation of M a n k i n d " 3 2 . Aus kommunistischer Ethik und universeller Wissenschaftlichkeit erwachse als Weltanschauung „the living philosophy of scientific humanism" 3 3 . Die Mitglieder der russischen Kommunistischen Partei, welche als ein religiöser Orden wissenschaftlicher Experten diesen Geist verkörpere, wurden nun ohne Scheu auch von den Webbs — i n Anknüpfung an eine alte Vorstellung von Wells — als die neuen „Samurai" bezeichnet 34 . 28
Webb, S.: On the Emergence of a New World-Religion, i n : The I n t e r national Journal of Ethics, 1932—33, S. 174. 29 Ebenda, S. 174—176; „there is no spooning i n the Parks of Recreation and Rest" konnte Beatrice positiv über Rußland anmerken (zit. nach: Drake, Β . : The Webbs a n d Soviet Communism, i n : Cole, M . [Hrsg.]: The Webbs and their Work, S. 226) — „The exact opposite of the D. H. Lawrence cult of sex which I happen to detest." (Diaries 1924—1932, S.299 [4.1.1932]); vgl. auch Webb, S. u. B.: Soviet Communism: A N e w Civilisation?, London 1935, Bd. I I , S. 1047 u. 1054 ff. 80 Webb, S.: On the Emergence of a new World-Religion, i n : International Journal of Ethics, 1932—33, S. 176 u. Webb, B.: Diaries 1924^1932, S. 307 (14. 5.1932). 31 Ebenda, S. 307. 32 So eine Kapitelüberschrift i n Webb, S. u. B.: Soviet Communism: A New Civilisation?, Bd. I I , S. 944. 33 Brief von B. Webb an H. Laski, 18.11.1941, in:MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I I I , S. 452. 34 Webb, S.: On the Emergence of a New World-Religion, i n : International Journal of Ethics, 1932—33, S. 177; vgl. auch den Brief von Β . Webb an H. G.
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I m Jahre 1935 publizierten die Webbs ihre voluminöse, zweibändige Rußland-Studie m i t dem Titel „Soviet Russia: A New Civilisation?", welche fortan zum Standardwerk der Russophilen in England wurde 3 5 . Folgende Hauptelemente, welche der Sowjetunion die Qualität einer neuen Zivilisation verliehen, wurden von den Webbs herauskristallisiert: die vollständige Veränderung des ökonomischen Lebens durch eine konsequente Planwirtschaft; die Ausmerzung des privaten Profitmotivs, die die gesamte Ethik und K u l t u r der Nation umstülpe; die Realisierung der sozialen Gleichheit; ein neues, vielförmiges Repräsentationssystem, das auf dem Prinzip „umfassender Partizipation" beruhe; die Existenz einer organisierten Herrscherelite in der Kommunistischen Partei; die Entstehung einer A r t säkularen Religion, welche den „ K u l t der Wissenschaft" statt des Aberglaubens zu ihrem Credo mache; die Formierung einer neuen puritanischen Ethik des K o m munismus, die die totale Verschreibung an den Gemeinschaftsdienst gebiete 36 . Hier ist weniger der Inhalt ihres detaillierten Bildes des Sowjetsystems, als vielmehr die A r t ihres Analyseansatzes von Interesse: Die Verfassung des sowjetischen Staates wurde gemäß der Webbschen Praxis der Sozialwissenschaft als Institutionengeschichte wiederum nur in ihrer formalen institutionellen Struktur begriffen. Die formalen Verfassungsregeln, die Vorschriften für die Funktionen der Institutionen, wurden bereits für politische Wirklichkeit genommen. Die nicht institutionell oder regulativ faßbaren Triebkräfte der Politik, die Dynamik politischer Machtausübung, geriet den Webbs dabei völlig aus dem Blick. So waren die kapitalen Fehleinschätzungen der tatsächlichen Machtlage i m sowjetischen System zu erklären, etwa daß es keine Diktaturgewalt, vielmehr nur kollegiale Entscheidungen auf allen Ebenen mit vorausgehenden allgemeinen Diskussionen gebe, daß somit auch Stalin kein Diktator, sondern lediglich ein „skilful manager" sei 3 7 , oder daß die Sowjetunion nach der Stalin-Verfassung von 1936 die ausgeprägteste, wahrhaft egalitäre Demokratie der Welt besitze 38 . Auch das Ubersehen oder die Rechtfertigung der totalitären Charakterzüge des Regimes, etwa hinsichtlich Säuberungen, geheimpolizeilicher NachWells 1.11.1934, i n MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I I I , S. 405; und den Brief Shaws an „ T h e N e w Statesman and Nation", Dez. 1934, wiederabgedruckt i n : Stalin-Wells Talk. The V e r b a t i m Report and a Discussion by G. B. Shaw, H. G. Wells, J. M. Keynes, E. Toller, veröff. v. The New Statesman and Nation, London Dez. 1934, S. 39 (Nachdruck: Seeds of Conflict. Series 4: The Russian Revolution f r o m the October Revolution to the Moscow trials, 1917—1936, Bd. 3: The Detached Sympathizers, Nendeln/Liechtenst. 1975). 35 Der Vorbehalt des Fragezeichens fiel dann i n späteren Ausgaben weg. 36 Webb , S. u. B.: Soviet Communism: A New Civilisation?, Bd. I I , S. 1122—1143. 37 Webb , S. u. B.: Soviet Communism: A New Civilisation?, Bd. I , S. 437. 38 Webb, S. u. B.: The T r u t h about Soviet Russia, London 1944, S. 16.
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Stellungen und Meinungsunterdrückung sowie i n der Außenpolitik, ζ. B. hinsichtlich des Hitler-Stalin-Paktes 3 9 und des Finnland-Einfalls, ist nur vor dem Hintergrund der Erkenntnisbeschränkung auf die formal gesatzte Verfassungsstruktur zu begreifen. Mitverantwortlich für den völligen Ausfall der politischen Urteilskraft bei den Webbs war die Blockade, die ihnen die engen Methoden ihrer ultrapositivistischen Sozialwissenschaft auferlegten. I n diesen Konstanten des Webbschen Denkens sind die Gründe für ihr gänzliches Abschütteln aller liberalen Traditionsreste zugunsten des sowjetischen Regimes unter Stalin zu suchen. Wie aus einem eigenhändigen Bericht Sidney Webbs über die Ereignisse des englischen Regierungssturzes von 1931 hervorgeht, war die akute Krise Englands nicht die eigentliche Ursache, sondern lediglich ein Beschleunigungsfaktor für seine Abwendung vom westlichen politischen System 4 0 . Von gewisser Bedeutung war allerdings ein persönlich-biographischer Aspekt i m Leben der Webbs: beide suchten i n ihrem hohen Alter nach einem letzten Zielpunkt, nach einer Bestimmung ihrer „pilgrimage", die ihrem lebenslangen Einsatz als Sozialforscher und Reformer einen Sinn verleihen konnte. So interpretierten sie auch ihr neues Identifikationsobjekt Sowjetunion als Verwirklichung des fabischen Modells, welches die alte Krise des evangelikalen Gewissens durch eine Versöhnung von säkularer Religion und Wissenschaft endgültig zu überwinden vermocht hätte. Von ausschlaggebender Bedeutung für die fast vorbehaltlose Zustimmung zum Sowjetsystem m i t seinen totalitären Zügen w a r jedoch der übersteigerte Rationalismus i m Denken der führenden Fabier bei gleichzeitiger Abwesenheit eines materialen Freiheitsbegriffes. Bemerkenswert ist dabei, daß die Webbs erst dann ihre Verbundenheit m i t dem Sowjetsystem ausdrückten, als es unter Stalin einen streng totalitären Charakter annahm, während die Leninsche Politik noch mit einem 39 Dazu m i t Zitaten aus Beatrice Webbs spätem Tagebuch: Letwin, S. R.: The Pursuit of Certainty, S. 375. Die Moskauer Säuberungen u n d Prozesse nach 1936 i r r i t i e r t e n die Webbs u n d w u r d e n niemals gänzlich gerechtfertigt, jedoch als „ K i n d e r k r a n k h e i t e n " e r k l ä r t : Webb , S. u. Β . : The T r u t h about Soviet Russia, S. 43 ff. 40 Webb, S.: W h a t Happened i n 1931: A Record, i n : The Political Quarterly 1932 (Bd. 3), S. 1—17; dort stellte Webb zwar „the extraordinary strength of the position of the B r i t i s h Capitalist System and the B r i t i s h governing class" fest (S. 15), zog daraus aber noch keine Schlüsse f ü r eine grundsätzliche Wendung i n der P o l i t i k der Labour Party. Schon 1924 w a r die Labour Party Opfer eines feindlichen Intrigenspiels gewesen, als ein T e i l der konservativen Presse m i t dem (aller Wahrscheinlichkeit nach gefälschten) „ Z i n o v i e v - L e t t e r " die Labour Party vor Neuwahlen zu diskreditieren suchte. Vgl. i m übrigen zur ersten Labour-Regierungszeit das posthum veröffentlichte Memorandum S. Webbs: The First Labour Government, i n : The Political Quarterly, 1961 (Bd. 32), S. 6—44.
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„asiatischen Anarchismus" i n Verbindung gebracht wurde. Ein vollständig von der allmächtigen Autorität der Wissenschaft reguliertes soziales und wirtschaftliches Leben stellte für sie die Erfüllung der Politik dar. Es war die technische und wissenschaftliche Rückständigkeit Rußlands, die dieses System zu einem geeigneten Experimentierlaboratorium für eine derartige rationalistische Politik Webbscher Prägung ausersah; die tabula rasa-Situation in diesem vormodernen, autokratischen Land garantierte, daß nicht wie i m Westen antiratiomalistische Gegenkräfte und individualistisch-demokratische Traditionen als Störungen auftreten konnten. Die Idee des „working to a plan, elaborated by scientific experts" 4 1 war stets das Wesen Webbscher Politik gewesen, die sie nun in der Sowjetunion unter der elitären, wissenschaftlichen Führung eines Parteikaders verwirklicht sahen. Die Webbs und Shaw standen mit ihrer Russophilie — nun i m Gegensatz zum 19. Jahrhundert das Credo des Fortschritts schlechthin — i n England nicht allein. Ein beträchtlicher Teil der englischen Intelligentsia, unter anderen beispielsweise Stafford Cripps, John Strachey, m i t einigen Vorbehalten sogar Tawney, allen voran jedoch Harold Laski, schlugen sich auf die Seite der Sowjetunion 4 2 . Die Ideologie der meisten dieser „Fellow-Travellers" w i r d von David Caute i n seiner einschlägigen Studie als „left w i n g technocratic totalitarianism" bezeichnet; SaintSimon mehr als jeder andere sei ihr Vordenker gewesen 43 . I n der Tat war es nicht etwa ein Ästhetizismus totaler politischer Macht, sondern i m Gegenteil, das Ideal einer gesamtgesellschaftlich akzeptierten und zwangsfrei funktionierenden rationalen Planung aller Lebensbereiche, welches die englischen Bewunderer am Sowjetsystem lockte. Die englische russophile Intelligentsia hatte ihre geistige Verwurzelung i n der „social engineering"-Tradition der Aufklärung, wenigjer dagegen i m Marxismus oder i n den Traditionen der englischen Arbeiterbewegung. So kann Caute behaupten: „ O n l y w h e n Stalin turned towards positivistic social engineering did they identify Soviet Communism w i t h a recovery of nerve, w i t h a reaffirmation of man's capacity to master his environment and his o w n nature. Yet their spiritual ancestors were Condorcet, Bentham, Owen and Saint-Simon rather than M a r x or Engels. They were heirs to the p r e - M a r x i a n E n lightenment 4 4 ." 41
Webb, B.: Diaries 1912—1924, S. 192 (4.9.1920). Auch das „ N e w Fabian Research Department", wesentlich i n i t i i e r t von Cole, fertigte nach einer Studienreise i m Jahre 1933 eine große, i n den E r gebnissen äußerst positive Studie über die Sowjetunion an. Distanzierter äußerten sich bspw. H. G. Wells, B. Russell u n d J. M. Keynes , siehe: StalinWells Talk. The V e r b a t i m Report and a Discussion by G. B. Shaw, H. G. Wells, J. M . Keynes, E. Toller, pubi, b y The New Statesman and Nation, London Dez. 1934. 43 Caute, D.: The Fellow-Travellers, S. 261. 44 Ebenda, S. 251. 42
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Zwar hatte auch die organisierte Labour-Bewegung oftmals ihre Sympathie für das revolutionäre Rußland zum Ausdruck gebracht, doch war die englische Arbeiterklasse mit ihren lebendigen ethischen Traditionen insgesamt weniger anfällig für Blindheit gegenüber dem Totalitarismus des Sowjetsystems als die rationalistische Intelligentsia m i t den Webbs an der Spitze. Die englischen „Fellow-Travellers" entstammten der „nouveau couche sociale" der Intellektuellen, Wissenschaftler, Lehrer, Beamten, die selbst zulasten der alten Eliten Macht und Einfluß erstrebten, die Arbeiterklasse aber grundsätzlich an ihrem Platz belassen wollten 4 5 . Das rationalistische Verständnis von Politik als „social engineering" konnte bei den Webbs — ins Extrem gesteigert — i m totalitären System Stalins aufgehen, weil es nicht durch einen Freiheitsbegriff von Substanz abgesichert war. Die Freiheitsvorstellung der Fabier war durch die eigentümliche Vermengung einer utilitaristischen m i t einer „hegelianischen" Geisteskomponente gekennzeichnet. Ebenso wie Bentham und die „Philosophie Radicals" lehnten die Fabier individuelle Naturrechte als bloße Fiktionen ab 4 6 . Verhaftet i m utilitaristischen „selfpreference"-Prinzip drückte sich Freiheit zuallererst auf der materiellen Vitalebene des Individuums aus. So konnte Shaw, ganz i n der Manier utilitaristischer Glücksaufrechnung, Freiheit durch nichts anderes als die Abwesenheit von Arbeit bestimmen: „What is Liberty? Leisure. What is Leisure? L i b e r t y 4 7 . " Auch für die Webbs blieb ein Freiheitsbegriff jenseits materieller Existenzsicherung gestaltlos, da sie weder ethische Maximen oder vorstaatliche Naturrechte, noch einen positivierten Katalog bestimmter bürgerlicher Rechte und Freiheiten zur Hand hatten. I n gröbster utilitaristischer Kalkulationslogik — „kollektivistisch" gewendet — notierte Beatrice Webb nach ihrer ersten RußlandReise zum Thema Menschenrecht und Nützlichkeit i n ihr Tagebuch: „There is no conception of the Rights of M a n in Soviet Philosophy; there is only the welfare of the Community, present and future. I f the death of one man w i l l raise the standard of life, mental and physical, of the masses, then the one man must die — a painless death. A n d w h y trouble about it? No man can avoid death, the only question is the time and the manner of 45 So ging m i t ihrer Sympathie für das sowjetische System zumeist eine A b neigung gegen die K P i m eigenen Lande, gegen die großen Streiks (Generalstreik 1926) u n d gegen die A k t i v i t ä t e n der K o m i n t e r n einher. 46 Z. B. Fabian Tract Nr. 108: T w e n t i e t h Century Politics: A Policy of N a tional Efficiency (S. Webb), 1901, S. 4 u. Olivier, S.: The Basis of Socialism: Moral, i n : Fabian Essays, S. 98. 47 Shaw, G. B.: The Intelligent Women's Guide to Socialism, Capitalism, Sovietism and Fascism, (Shaw Works) London 1932, S. 320 (deutsch: Wegweiser für die intelligente F r a u zum Sozialismus u n d Kapitalismus [neu hrsg. u n d übertr. v. U. Michels-Wenz] F r a n k f u r t 1978, S. 265); siehe zudem ders.: The Impossibilities of Freedom (1925), i n : ders.: Practical Politics (hrsg. v. L . Hubenka), S. 180 ff.
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it. T i m e is of no account, w h e n the alloted spell is over; and the manner of dying w i t h o u t illness is merciful and to be desired 4 8 ."
Daneben fanden sich i m Denken der Fabier Züge eines „hegelianischen" Freiheitsbegriffs. Besonders Sidney Webb betonte immer wieder, daß die würdigere Freiheit des Menschen die „higher freedom of corporate life" sei 4 9 , die der einzelne durch das Aufgehen i m kollektiven Sozialorganismus mittels freiwilliger Verinnerlichung der staatlichen Gesetze erfahre. I m wesentlichen bedingt durch die radikale utilitaristische Ausmerzung ethischer Traditionen verfügten die Fabier über keine in einem werthaften Menschenbild wurzelnde Vorstellung von einer anzustrebenden individuellen Freiheit, welche vor dem totalen rationalistischen „social engineering" hätte Schranken aufbauen können. Die vollständige Hinwendung zur „neuen Zivilisation" der Sowjetunion, der die Webbs bis an ihr Lebensende treu blieben, hatte demonstriert, wie lose der Webbsche Rationalismus dem liberaldemokratischen System Englands geistig verbunden gewesen w a r und wie leicht sie eine Steigerung ihrer politischen Grundannahmen über die Sicherungen des parlamentarisch-rechtsstaatlichen Regierungssystems hinausschießen ließ.
48 Webb, Β . : Diaries, 31.8.1932, zit. nach Letwin, S. R.: The Pursuit of Certainty, S. 375. 49 Webb, S.: L o r d Rosebery's Escape from Houndsditch, i n : Nineteenth Century, Sept. 1901, S. 370.
Drittes
Kapitel
Zur aktuellen und geschichtlichen Wirksamkeit der Fabier : Die Bedeutung einer intellektuellen „pressure group" in der Politik I . Funktion und Arbeitsweise der Fabian Society als intellektuelle 99preesure group" Die Fabian Society erlangte i n den Jahren nach Veröffentlichung der „Fabian Essays" einen solchen Bekanntheitsgrad, daß sie zu einer A r t „nationalen Institution" wurde. Die Fabier reihten sich damit i n eine Tradition organisierter geistiger Zirkel ein, die die englische Geschichte i m 19. Jahrhundert maßgeblich mitgeprägt hatten; die Gesellschaften der Utilitaristen, der Positivisten und der Radikalen sind die augenfälligsten Exponenten dieser Tradition. Selbst wenn man den optimistischen Erfolgsbilanzen, die die Fabier selbst über ihre Wirkung verbreiteten, skeptisch gegenübersteht, ist die Behauptung nicht übertrieben, daß die fabische Wirkungsgeschichte als intellektuelle Gruppierung im England des 20. Jahrhunderts ohne Parallele ist. Die Fabier setzten sich zum Ziel, durch intellektuelle Arbeit Politik zu machen. Der Nährboden dafür war i n England günstig. Der Sozialismus der 80er Jahre, soweit er i n den folgenden Jahrzehnten geschichtsmächtig wurde, war vorwiegend ein Ideensozialismus. Ein proletarischer Sozialismus, der dem Deutschlands vergleichbar gewesen wäre, konnte sich i n England zunächst nur schwach ausbilden; die englische Arbeiterbewegung war trade-unionistisch, weniger sozialistisch gesinnt. Auch die Entwicklung der Sozialpolitik ist in England stets stark mit geistigen Disputen um sozialethische und politische Grundprinzipien verbunden gewesen und kann nicht ausschließlich als Ausfluß konkreter realgeschichtlicher Ereignisse begriffen werden. Ideen entfalteten i n England um die Jahrhundertwende eine besonders kräftige, eigenständige Dynamik i n der Politik 1 . Die Fabier — hierin ganz das Erbe der Positivisten aufnehmend — hielten intellektuelles Tätigwerden, besonders durch die Verfügung über exaktes Wissen, für die höchste Produktivkraft i n der geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft. Wenn 1
So auch Freeden, M.: The New Liberalism, S. 195.
I. F u n k t i o n u n d Arbeitsweise der Fabian Society
333
modernes Wissen der oberste Bestimmungsfaktor der Gesellschaft war, dann galt es für die Fabier zuallererst, die Träger dieses Wissens zu Sozialisten zu machen, um der ganzen geschichtlichen Entwicklung der Gesellschaft eine sozialistische Richtung zu geben. So visierten die Fabier als ihren Ansprechpartner vornehmlich die „thinking people" an, die der neuen professionellen und intellektuellen Mittelklasse entstammten. Die fabische Distanz zur Arbeiterbewegung machte Beatrice Webb anläßlich einer Auseinandersetzung m i t Ramsay MacDonald — aus der Arbeiter-orientierten I L P — deutlich, als sie i m Jahre 1896 notierte: „ . . . the t r u t h is that we and MacDonald are opposed on a radical issue of policy . . . do we w a n t to organise the u n t h i n k i n g persons into socialist societies or to make thinking persons socialistic? We believe i n the latter policy" 2 .
Damit war die Strategie der Fabier umschrieben: Die Bekehrung der kleinen intellektuellen Klasse zum Sozialismus w a r Voraussetzung gesamtgesellschaftlicher Umformung. Sidney Webb erläuterte das strategische Ziel konkret: „ I t h i n k w e are doing good w o r k . . . i n attracting one bourgeois after another. Nothing i n England is done w i t h o u t the consent of a small i n tellectual yet h i g h l y practical class i n London not 2000 i n number. We alone could get at this class . . A "
I n ihren politischen Methoden und i n der Präsentation ihres Sozialismus-Konzepts mußten die Fabier daher besonders bemüht sein, dem Selbstverständnis, ja den Respektabilitätsnormen der intellektuellen und professionellen Mittelklasse entgegenzukommen. Die Fabian Society trat an — wie Shaw formulierte —, es dem „respectable Englishman" ebenso leicht zu machen, ein Sozialist zu sein wie ein Liberaler oder Konservativer 4 . Die spezifische Tätigkeit der Fabier bestand also i m Betreiben von „Ideenpolitik" 5 . Voraussetzung für die Gewinnung der „thinking people" war zunächst, daß ihnen i n der fabischen Theorie inhaltlich eine Bedeutung zugemessen wurde, die geeignet war, den Sozialismus für sie sozial attraktiv erscheinen zu lassen. Diese Sozialstatus-Garantien als Vorbedingung ideologischer Anziehungskraft wurden in der fabischen Theorie gegeben: es war die wissenschaftliche Intelligenz und die professionelle 2 Webb, Β.: Diaries 18.4.1896, i n : MacKenzie, Ν. (Hrsg.): The Letters of S. and Β. Webb, Bd. I I , S. 44. 3 Brief von S. Webb an E. Pease, 24.10.1896, i n MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and B. Webb, Bd. I, S. 101. 4 Shaw , G. B.: V o r w o r t zur Neuauflage 1908, i n : Fabian Essays, S. X X X I I I . 5 Der Begriff ist entnommen aus Lübbe, H.: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, 2. Aufl. Freiburg 1975, S. 17 ff.
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3. Kap.: Wirksamkeit einer intellektuellen „pressure group"
Experten-Schicht, nicht die Arbeiterschaft, der i n ihrem Modell die oberste Autorität ziukam. Darüber hinaus bedurfte es bestimmter ideenpolitischer Strategien, u m die Konzeptionen der herrschenden intellektuellen Schicht umzugestalten. So bemühten sich die Fabier zunächst um die Schaffung eines Gemeinsamkeit stiftenden „Ideenklimas" 6 . Dies geschah vor allem durch das eklektische Zusammenfügen verschiedener, bereits vorhandener theoretischer Konzepte oder Werthaltungen und durch die Vereinnahmung allgemein angesehener Geistesautoritäten, wie etwa John Stuart Mills. Ein solches „Ideenklima" vermochte viel eher eine Zusammenbündelung verschiedener Geistesströmungen zu leisten als eine scharf ausgegrenzte, präzise Theorie, zumal i m kulturellen Kontext Englands ehedem geschlossene, abstrakte Theoriesysteme verpönt waren. Gerade dieses Anzapfen unterschiedlicher, oft gegensätzlicher Geistestraditionen ließ das Gedankengut der Fabier bei verschiedenartigsten Denkrichtungen zu seiner großen W i r k u n g gelangen. Wenn Shaw das fabische Programm als „Meisterstück der Zweideutigkeit" preisen konnte 7 , dann verwies dies auf die breite Anziehungswirkung, die gerade durch seine geistige Ungleichartigkeit zustande kam. Die Fabier waren bestrebt, ihrem Sozialismus einen „catch all"-Charakter zu geben. Das Rezept fabischer Ideenpolitik bestand i n der selektiv verfahrenden Nutzbarmachung verschiedener Konzepte, i m Sinne ihrer Bündelung zu einem gemeinsamen Ideen-Fundus. Sie erfuhren dabei jeweils eine Veränderung, indem ihnen eine neue Stoßrichtung verliehen wurde: „ . . . Giving intelligent direction to a thought wave of terrific potency", beschrieb der Fabier H. Bland die fabische Transformierungsfunktion 8 . Ein typisches Beispiel w a r die Verwendung des Spencerschen Organismus-Konzepts in einem Sinne, der Spencers ursprünglichen Absichten zuwiderlief, nämlich zwecks Begründung staatlicher Interventionen i m Sozialbereich. Bei der Transformation der Ideen spielten die plakativen Leitbegriffe eine besondere Rolle. Begriffe wie „collectivism" und „socialism", ebenso wie auf der anderen Seite „individualism", waren „Freund"- bzw. „Feindbenennungen", die zur Sammlung eines eigenen Lagers dienten. Gleichzeitig mußten diese Begriffe so vage w i e möglich gehalten werden, um für ein breites Spektrum der Ideensammlung als Banner tauglich zu sein. Der Begriff „socialism" etwa konnte von den Fabiern gebraucht werden i m Sinne des moralischen Ideals einer altruistischen Gesellschaft, die lediglich durch das gemeinsame Streben β Z u r Vorstellung des Fabianismus als „ I d e e n - K l i m a " siehe Jouvenel, B. de: Les débuts de l'État moderne, Paris 1976, S. 241. 7 Shaw, G. B.: Der Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen (1890), i n : ders.: Der Sozialismus u n d die N a t u r des Menschen, S. 73. 8 Bland, H.: The Transition to Social Democracy: Outlook, i n : Fabian Essays, S. 195.
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nach dem Gemeinwohl gekennzeichnet w a r 9 , oder er konnte das rein ökonomische Modell einer vollständigen Abschaffung des Privateigentums i n jeglicher Form bezeichnen 10 . Wenn es die Anhängerwerbung gebot, so wurde „Sozialismus" auch bereits m i t einer ausgedehnten Fabrikgesetzgebung ineins gesetzt, wie das Sidney Webb i n einem charakteristischen ideenpolitischen Überzeugungsversuch bei dem prominenten Ökonomen Alfred Marshall tat: „ Y o u r difficulty appears to be i n realising adequately that the course of social evolution is m a k i n g us a l l Socialists against our w i l l . Y o u cannot doubt that i t is »practicable 4 for a m u n i c i p a l i t y to o w n gasworks or t r a m ways, and so on. Y o u cannot doubt the practicability of a Factory Act, or an Income Tax levied practically on Rent, Interest and Salaries only. Yet extend these, and you have an enormous stride towards Collectivism. We may differ as to time (and this is unimportant, for t i m e itself w i l l settle that), b u t I believe w e agree absolutely i n Economics, and practically i n politics. A n d I am accepted by the Socialists as one of t h e m 1 1 . "
Verwoben m i t der ideenpolitisch vorangetriebenen Propagierung gesellschaftlicher Reform war bei den Fabiern stets die empirische wissenschaftliche Arbeit. Da von der Wissenschaft die Beherrschung der Gesellschaft erwartet wurde, mußte jeder Sozialreformer, i m Grunde jeder zukünftige Politiker gleichzeitig eine wissenschaftliche Schulung besitzen. Die Fabier sahen sich aufgrund ihrer empirischpraktischen Untersuchungen sozialer und ökonomischer Fragen gleichsam als Lieferanten des zukünftigen Herrschaftswissens. Diese Orientierung an detaillierten Praxisfragen unterschied sie von der klassischen liberalen Intelligentsia; diese „men of letters" — m i t aristokratischen oder klassisch-akademischen Traditionen verbunden — hatten sich vor allem für philosophische und ethische Prinzipienfragen der Pol i t i k interessiert 12 . Je stärker die Webbs ihre Führungsposition geltend machen konnten, desto mehr konzentrierten sich die Fabier auf Problemstellungen eines positivistischen Empirismus u n d klammerten weltanschauliche Fragestellungen weitgehend aus. Sicherlich liegt in dieser Beschränkung auf die unmittelbare soziale Praxis, in dem Verzicht auf philosophische Theoriedebatten, auch ein Großteil fabischer Wirkung begründet. I n jener Pionierzeit systematischer Sozialforschung, in der ein bloßer Empirismus vor dem Hintergrund tiefer sozialer K r i sen allein schon zu einer kritischen K r a f t werden konnte, hatte der I n tellektuelle als Sozialwissenschaftler die größere Nutzwirkung als der 9
Vgl. Olivier, S.: The Basis of Socialism: Moral, i n : Fabian Essays, S. 96 ff. Shaw, G. B.: „ T h e Fabian Society consists of Socialists" (Vortragsbericht), i n : Fabian News, Nov. 1908 (Bd. 19), S. 86. 11 Brief von S. Webb an A . Marshall, 29.2.1889, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. u. B. Webb, Bd. I , S. 124. 12 Vgl. dazu Hall, J. Α . : The curious Case of the English Intelligentsia, i n : The B r i t i s h Journal of Sociology, Sept. 1979 (Bd. 30), S. 292 ff. 10
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3. Kap.: Wirksamkeit einer intellektuellen „pressure group"
Intellektuelle in der Eigenschaft als moralische Instanz 1 3 . So wurde die Fabian Society für viele Reforminteressierten zu einer A r t von sozialwissenschaftlichem Informationsdienst, der die praktischen Vorgaben für soziale Reformen machte. Die Vorschläge der Fabier hatten gegenüber denen anderer Reformer den Vorteil direkter politischer und administrativer Umsetzbarkeit. Langfristig jedoch barg die Ausklammerung von ethisch-philosophischen Grundsatzfragen Nachteile für die Wirksamkeit fabischen Denkens: sie erblindeten nicht nur gegenüber Rahmenbedingungen und Grenzen rationaler Reformmodelle, welche durch die geistig-politischen Traditionen Englands gesetzt wurden; auch ihre Reformanweisungen verloren an Orientierungskraft, sobald die geschichtlichen Voraussetzungen ihrer empirisch-praktischen Problemstellungen hinfällig wurden und eine wie immer geartete politische Ethik als möglicher Leitfaden fehlte. Ist damit i n allgemeiner Form die Funktion der Fabier als „Ideenpolitiker" umschrieben, so bedarf es nun noch einer näheren Kennzeichnung ihrer Arbeitsweise, also der Methoden und Instrumentarien, die die Fabian Society zu einer erfolgreichen intellektuellen „pressure group" i n der Politik werden ließen. Dabei bietet sich zunächst der Vergleich m i t den Gesellschaften der Utilitaristen und — in geringerem Maße — der Positivisten an. Zumindest bei Utilitaristen und Fabiern verlief die Entwicklung ihrer organisierten Aktivitäten ähnlich. I n einem der zahlreichen Beiträge zur Selbsthistorisierung der Fabian Society unterschied ein Fabier — W i l l i a m Clarke — stark vergröbernd drei Phasen der Entwicklung seiner Gesellschaft: Eine Formierungsphase, eine Phase der Erziehungsarbeit, eine Phase politischer A k t i o n 1 4 . Auch Benthams Freundeskreis bzw. die von John Stuart M i l l ins Leben gerufene „Utilitarian Society" hatten, ebenso wie die Fabian Society in den 80er Jahren, zunächst eine reine Diskussions- und Schulungsfunktion inne. Beide Gruppierungen nahmen dann — einmal als „Schulen" konstituiert — Aufgaben der Erziehung, Propaganda, Forschung und Wissensverbreitung wahr, bevor sich schließlich einige ihrer Vertreter i n die aktive, vor allem parlamentarische Politik begaben 15 . Die parlamentarische Tätigkeit trug i n beiden Fällen nicht zu einer Einflußsteigerung der Schulen bei, so daß die intellektuelle Arbeit, insbesondere 13 Anders dagegen Hall , J. Α.: The Roles and Influence of Political I n t e l lectuals: Tawney vs. Sidney Webb, i n : The B r i t i s h Journal of Sociology, Sept. 1977 (Bd. 28), S. 351—362. 14 Clarke , W.: The Fabian Society and its Work, i n : Socialism versus A n a r chy. Fabian Essays i n Socialism (Einleit. zur amerik. Ausgabe von E d w a r d Bellamy), Boston 1894, S. X X V I I (auch i n : New England Magazine, März 1894, N. S. Bd. 10). 15 Vgl. zu den Utilitaristen Mack, M . P.: The Fabians and Utilitarism, i n : Journal of the History of Ideas, Jan. 1955 (Bd. 16), S. 85 ff.
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die Erziehung der Öffentlichkeit und die geistige Beeinflussung von Regierung und Verwaltung den K e r n ihres Tuns bildete. Utilitarier und Fabier wurden nicht als Akteure i n der praktischen Politik, sondern als Denker, als intellektuelle „pressure group" bedeutsam. Royden Harrison hat i n seiner Untersuchung über die englischen Positivisten für den Erfolg einer intellektuellen „pressure group" i n der Politik mehrere Bedingungen hinsichtlich ihrer Organisation und A r beitsweise genannt, die mit einigen Abwandlungen auch für die Fabier als Raster einer Beurteilung dienen können 1 6 : a) Die führenden Köpfe einer intellektuellen Schule müssen über längere Zeit durch persönliche Freundschaften verbunden sein; erst diese menschlichen Beziehungen ermöglichen die Entstehung eines geistigen Gemeinschaftsproduktes und die dauerhafte persönliche Verschreibung an eine gemeinsame ideelle „Sache". b) Aus ihren theoretischen Prinzipien müssen legislative Programme herleitbar sein, u m die intellektuelle Schule für die praktische Polit i k überhaupt fruchtbar zu machen. c) Die Gruppe muß einen gewissen Organisationsgrad besitzen, ohne den die notwendige Popularisierung ihrer Ideen undurchführbar ist. Diese Popularisierung setzt die Verfügung über Zeitschriften oder die Schaffung anderer geistig wirksamer Plattformen voraus. Die Gruppe muß sich Zugang zu einflußreichen Trägern der öffentlichen Meinung verschaffen können. d) Die intellektuelle Schule muß das Vertrauen von politisch bedeutsamen und auf Veränderung drängenden Gruppen haben. Es gilt, die persönliche Beziehung zu den Führern dieser Gruppen m i t einem gewissen Zugang zu den höchsten Kreisen der etablierten politischen Macht und der Verwaltung zu verbinden. e) Sie muß i n der Lage sein, die direkte politische A k t i o n zu initiieren oder zu fördern, sei es durch Beeinflussung oder Druck gegenüber den existierenden politischen Parteien oder durch die Aufstellung von eigenen Kandidaten. Die führenden Köpfe der Schule jedoch werden meist i m Interesse der Erhaltung ihrer intellektuellen W i r k samkeit der aktiven hohen Politik fernbleiben, da die durch Kompromißnotwendigkeiten gebotene Begrenzung ihrer geistigen Unabhängigkeit fast immer auch negativ auf die K r a f t von Forschung und Propaganda der intellektuellen Schule zurückschlägt. Diese Bedingungen für den Erfolg einer intellektuellen „pressuregroup" wurden von den Fabiern mehr oder minder vollständig erfüllt: 1β Harrison, R.: The Positivists: A Study of Labour's Intellectuals, i n : ders.: Before the Socialists, S. 254 f.
22 W i t t i g
3 3 8 3 . Kap.: Wirksamkeit einer intellektuellen „pressure group"
Zu a): Die Führungsgruppe der Fabier war durch enge persönliche Beziehungen verbunden. So ist die D o k t r i n der „Fabian Essays" tatsächlich als ein Gemeinschaftsprodukt i m Sinne der Synthese mehrerer Geister entstanden. „ I t has been, and is, a very pretty piece of intellectual communism, and trust i n each other —willingness to obey each other, and subordinate ourselves to the group" 1 7 ,
beschrieb S. Webb die persönliche und geistige Atmosphäre i n der Fabian Society. Bedingung für die persönliche Verbundenheit der führenden Mitglieder der Fabian Society war die relativ große soziale Homogenität und Überschaubarkeit der Organisation. Abgesehen von der geistig wirren Formierungsphase hatte die Fabian Society einen akademischwissenschaftlichen und bürokratischen Mittelklasse-Anstrich 1 8 . Sie war auf Exklusivität bedacht: „ I t does not ask the English people to join the Fabian Society", erklärte Shaw lapidar i n einem offiziellen Fabier-Manifest 1 9 . Auch die interne Organisationsstruktur der Fabian Society förderte den freien persönlichen und geistigen Austausch. Die Gesellschaft kannte keinen Präsidenten, sondern lediglich einen gewählten Vorstand von zumeist 15 Mitgliedern als kollegiales Führungsorgan. Die sich um den Vorstand sammelnde aktive Führungsgruppe bestimmte faktisch die Theorie und Politik der ganzen Gesellschaft, während der Rest der Mitglieder weitgehend in der Rolle von Diskussionsteilnehmern verblieb. Sidney Webb w a r nicht nominell, aber tatsächlich der unbestrittene intellektuelle Führungskopf, insbesondere was die Formulierung der sozialen und ökonomischen Konzeptionen anbetraf. G. B. Shaw — stets loyal gegenüber Webb und nach diesem die wichtigste Figur der frühen Fabian Society — war weitgehend für Stil und innere Atmosphäre sowie für die Außenwirkung der Fabier verantwortlich. Etwa u m 1913 wurde Webb von seiner Frau in der intellektuellen Führungsposition der Gesellschaft abgelöst. Für die kleine Führungsgruppe w a r die Fabian Society Instrument gezielten geistig-politischen Einflusses, während das einfache Mitglied die Gesellschaft vor allem als eine A r t Diskussionsklub verstand. So läßt sich von einer ideologischen Einheitlichkeit nur innerhalb der Führungsgruppe sprechen, während unter der Masse der Mitglieder eine geistige und politische Heterogenität vorherrschte. Männer wie Keir Hardie, Ramsay MacDonald, A r t h u r Henderson, R. H. Tawney oder G. D. H. Cole, die alle 17 Brief S. Webb an B. Potter (Webb), 26. 8.1890, i n : MacKenzie, N. (Hrsg.): The Letters of S. and Β . Webb, Bd. I, S. 182; s. a. Webb, B.: Our Partnership, S. 36. 18 Z u r genauen sozialen Zusammensetzung siehe oben bereits das 1. Kap., I. 2., S. 23 ff., zur Größe u n d Mitgliederanzahl der Fabian Society vgl. i n diesem K a p i t e l P u n k t c), S. 340. 19 Fabian Tract Nr. 70: Report on Fabian Policy (G . Β . Shaw), 1896, S. 3.
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einmal der Fabian Society angehörten, als Fabier i m Sinne Webbscher Doktrin zu behandeln, ist daher zumindest mißverständlich 20 . Daß die Fabian Society sich i n wichtigen weltanschaulichen Fragen bewußt offiziell nicht festlegte 21 , half ihr, trotz der geistigen Uneinheitlichkeit i n der einfachen Mitgliedschaft, Spaltungen zu verhindern; dies war, verglichen m i t anderen geistigen Zirkeln, bereits eine große Leistung. So wie die Fabian Society für die kleine Führungsgruppe Forum intensiver und zäher wissenschaftlicher und politischer Arbeit war, so hatte sie für die breite Mitgliedschaft auch die Funktion eines gesellschaftlichen Zentrums. Soziale Treffpunkte waren nicht nur die Diskussions- und Vortragsveranstaltungen, sondern auch die zahlreichen Untergliederungen der Gesellschaft, wie ζ. B. die „Fabian Women's Group", „Fabian Nursery", „Fabian University Societies". Auffallend hoch war der A n t e i l der Frauen (im Jahre 1890 etwa 28 "%), die meist der neuen professionellen Mittelklasse zuzurechnen waren. So umgab die Fabian Society i m B i l d der Öffentlichkeit eine Aura moderner, freier Lebensform, die oftmals auch mit einem Bohème-Milieu assoziiert wurde. Der Fabier wurde so zu einem gesellschaftlichen T y pus des emanzipierten, freidenkerisch-sozialistischen Mittelklasse-Aufsteigers, ja, er wurde gar zur Romanfigur 22 . Dieses B i l d von einer A r t fabischen „Szene", welches dazu beitrug, den Fabier-Sozialismus i m Londoner Intellektuellen-Milieu „fashionable" zu machen und ein entsprechendes „Ideen-Klima" zu verbreiten, hat oftmals jedoch den Blick verstellt für die zähe Ernsthaftigkeit, m i t der die führenden Fabier ihre Reformanliegen verfolgten, und für die Enge der geistigen Spielräume, die ihre rationalistisch-technischen Sozialtheorien und ihren institutionell-bürokratischen Politikansatz kennzeichnete. Zu b): Die evolutionäre Sozialtheorie der Fabier eignete sich vorzüglich zur Ableitung praktischer legislativer Reformprogramme. Sobald sie gegen Ende der 80er Jahre ihr Sozialismus-Verständnis formuliert hatten, widmeten sie sich ganz vordringlich der Ausarbeitung detaillierter Reformmaßnahmen. Da der „collectivism" fabischer Provenienz allein schon durch graduelle Ausdehnung staatlicher Aktivitäten erreichbar war, galt es nun, der Öffentlichkeit und dem Gesetzgeber Bereiche und Methoden praktikabler Staatsintervention aufzuzeigen. A b 1885 deckten die Fabier i n ihren „Fabian Tracts" von der lokalen Gasversorgung und Kanalisation über die Sozial- und Familienpolitik bis 20 So verfährt bspw. Hirsch, H.: Der „Fabier" Eduard Bernstein, Bonn-Bad Godesberg 1977. 21 Siehe Fabian Tract Nr. 70: Report on Fabian Policy (G. Β . Shaw) 1896, S. 3. 22 „Fabier-Romane waren z . B . : Mary Ward: Marcella, 1893 u n d Emma Brooke: Transition, 1895.
22*
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3. Kap.: Wirksamkeit einer intellektuellen „pressure group"
zur Nationalisierung großer Industrien annähernd alle sozialen und ökonomischen Bereiche für einen potentiellen „Kollektivismus" m i t präzisen, sozialwissenschaftlich begründeten Vorschlägen zur gesetzlichen Reform ab. Die Verbindung von Wissenschaftlichkeit und Praxisbezogenheit, die die Fabian Society von anderen sozialistischen Gruppierungen unterschied, verlieh ihnen als „Reformexperten" selbst bei respektablen Liberalen und Tories starkes Gehör 2 3 . Die Berufung von Fabiern in offizielle Expertengremien und Königliche Kommissionen durch nicht-sozialistische Regierungen ist dafür ein Beweis. Z u c): Gerieten die Fabier nach den 80er Jahren zusehends i n Gefahr, Theorie und Prinzipienfragen zugunsten sozialtechnischen Expertentums zu vernachlässigen, so mangelte es ihnen niemals an organisatorischem Geschick, u m eine maximale Außenwirkung für ihre Vorschläge zu schaffen. Sie hatten ja nicht nur hervorragende Verwaltungsfachleute i n ihren eigenen Reihen