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German Pages 70 [72] Year 2022
ABHANDLUNGEN
DER
DEUTSCHEN
DER WISSENSCHAFTEN Klasse für Sprachen, Literatur
ZU und
AKADEMIE
BERLIN
Kunst
Jahrgang 1962 Nr. 2
Dr.habil.
WOLFGANG
SEYFARTH
DER CODEX FULDENSIS U N D DER CODEX E DES AMMIANUS MARCELLINUS Zur Frage der handschriftlichen Überlieferung des Werkes des letzten römischen Geschichtsschreibers
A K A D E M I E - V E R L A G 1962
•
B E R L I N
Vorgelegt von Hrn. Hartke in der Klassensitzung vom 12. Oktober 196-1 Zum Druck genehmigt am gleichen Tage, ausgegeben am 13. August 1962
Erschienen Im Akademie-Verlag G m b H , Berlin .W 8, Leipziger Straße 3-4 Copyright 1962 by Akademie-Verlag G m b H , Berlin Lizenznummer 202 • 100/192/62 Gesamtherstellung: I V / 9 f l 4 • V E B Werkdruck Gräfenhainichen • 1806 Bestellnummer: 2001/82/V/2 • E S 7 M • Preis: DM 8,70
Die vorliegende Untersuchung entstand als Vorarbeit für eine neue Ausgabe des Werkes des Ammianus Marcellinus, mit deren Bearbeitung die Arbeitsgruppe „Spätrömische Philologie und Geschichte" der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin betraut ist. Für die verständnisvolle Unterstützung und vielseitigen Anregungen während der Entstehung dieser Untersuchung spreche ich dem Leiter der Arbeitsgruppe, dem Präsidenton der Deutschen Akademie der Wissenschaften, Herrn Professor Dr. Werner Hartke, meinen aufrichtigen Dank aus. Berlin, im September 1961
Wolfgang Seyfarth
Inhalt
Einleitung
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I . Teil: Die Frage der Lücken in den Codices V und E
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1. Kapitel: Lücken, die durch Freilassung eines bestimmten Baumes als solche gekennzeichnet sind
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2. Kapitel: Niohtgekennzeichnete Lücken im Text des Fuldensis . .
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I I . Teil: Die Bandbemerkungen des Codex E
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1. Kapitel: Die Gruppe von Bandbemerkungen, die sich auf den Inhalt beziehen
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2. Kapitel: Die Bandbemerkungen, die sich auf den Wortlaut beziehen
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I I I . Teil: Schlußbetrachtung Inwieweit bestätigen oder widerlegen weitere Beobachtungen am Codex E die gewonnenen Erkenntnisse ?
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Einleitung
Die Ausgabe des Geschichtswerkes des Ammianus Marcellinus, die Ch. U. Clark in den Jahren 1910—1915 erscheinen ließ, gilt mit Recht als Musterleistung moderner philologischer Methode.1 Der Textgestaltung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß der Codex Fuldensis (Vat. lat. 1873 — mit dem Sigel V) die direkte oder indirekte Vorlage aller späteren erhaltenen Handschriften ist und daher allein authentisch den Text wiedergibt, der aus dem Altertum gerettet worden ist. Neben dem Fuldensis existierte noch im 16. Jahrhundert ein Codex Hersfeldensis, den Clark als Schwesterhandschrift des Fuldensis ansah. Von ihm sind bekanntlich heute nur einige Blätter erhalten2, aber Gelenius hat ihn eingesehen und für seine Ausgabe3 benutzt. Dadurch hat er viele Lesarten dieses alten Codex und einige Passagen des Textes erhalten, die im Fuldensis fehlen und die ohne Gelenius heute ebenfalls verloren wären.4 Alle Handschriften außer V und dem Hersfeldensis (M) haben für Clark keinen authentischen Wert. Ihre abweichenden Lesarten sieht er allenfalls als Konjekturen an.5 Im ersten Band seiner Ausgabe, die in der Fachliteratur eingehend besprochen wurde6, hat Clark ein Stemma der handschriftlichen Überlieferung veröffentlicht, das seine Auffassung der Überlieferungsverhältnisse zum Ausdruck bringt: V und M stammen nach ihm von einer gemeinsamen Vorlage ab; alle übrigen Handschriften und die Ausgabe des Accursius gehen direkt oder indirekt auf V zurück, und nur Gelenius vereinigt in seiner Ausgabe beide Zweige der Überlieferung, die sich von V und M herleiten. Clarks Auffassung von der Textüberlieferung des Ammianus Marcellinus hat in späteren Jahren in zweifacher Hinsicht Widerspruch erfahren. R. P. Robinson hat nämlich — nach unserer Meinung — überzeugend bewiesen, daß V eine direkte Abschrift von M ist.7 Wo also M vorhanden ist, gebührt M der Vorrang vor V. 8 Im übrigen können wir Robinsons Beweisführung noch durch eine einfache Berechnung unterstützen: Bekanntlich steht im V ein größeres Stück des Textes an falscher Stelle. Es sind die Paragraphen 29,3,5—29,5,39, die im V unmittelbar auf 29,1,17 folgen. Im V weist keine Bemerkung darauf hin, daß hier der Zusammenhang gestört 1
Vgl. die Rezension A. Gudemanns zum 2. Band (Berl. Phil. Woohenachr. 36, 1916, 1335-1339) und Baehrens' Urteil in Bursians Jbb. 203, 1925, 46. 2 Fragmenta Marburgensiä, hrsg. von H. Nissen 1876. 3 Basel in officina Frobeniana 1533. 4 Clark hat seine Ansichten über den Wert der einzelnen Handschriften ausführlich in seiner bekannten Dissertation begründet (The text tradition of Ammianus Marcellinus, New Häven 1904). 5 Clark a. O. 67. 6 W. A. Baehrens in Bursians Jbb. 203, 1925, 4 5 - 5 6 und E. Bickel, G. G. A. 180, 1918, 274-305. Für Bd. I F. Leo, G. G. A. 173, 1911, 132-134. 7 R. P. Robinson, The Hersfeldensis and the Fuldensis of Ammianus Marcellinus, The University of Missouri Studies, a Quarterly of Research vol. XI, Missouri 1936, 118—140 mit 12 Abb. 8 Durch die Ausgabe des Gelenius (vgl. Anm. 3) sind viele Lesarten und ganze Zeilen des Hersfeldensis mittelbar erhalten. Da Gelenius aber selbst viel emendierte, läßt sioh bei abweichenden Lesarten, die seine Ausgabe enthält, fast nie mit Bestimmtheit entscheiden, ob sie wirklich auf M beruhen oder Emendationen des Herausgebers sind (vgl. hierzu W. Hartke, Gnomon 15, 1939, 262). Bei den allein bei Gelenius erhaltenen ganzen Zeilen des Codex M wird man höchstens mit Schreibfehlern rechnen müssen.
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Wolfgang Sbvtarth
ist, wohl aber hat der Schreiber des Codex E (Vat. lat. 2969) bemerkt, daß hier etwas nicht in Ordnung ist, und eine entsprechende Randnotiz gemacht. Wenn wir die Buchstaben zählen, die das verstellte Stück enthält, läßt sich eindeutig berechnen, daß diese Umstellung erst im Hersfeldensis vor sich gegangen ist. Offenbar hat man den einen — etwas beschädigten — Quaternio aus dem Codex herausgelöst—vielleicht, um ihn zu reparieren —und später versehentlich an falscher Stelle, nämlich um einen Quaternio zu weit nach vorn, wieder eingefügt.1 Der Schreiber des Codex E hat die Zerreißung des Zusammenhangs bemerkt, und Gelenius konnte für seine Ausgabe die Umstellung rückgängig machen; denn ihm lag der Codex Hersfeldensis vor, und an diesem war leicht zu erkennen, daß die beiden in Frage stehenden Quaternionen lediglich vertauscht waren. Accursius war dagegen auf V angewiesen und konnte, selbst wenn er die Randbemerkung im E gelesen hat, für seine Ausgabe daraus keine Folgerungen ziehen; denn er konnte ja den Hersfeldensis nicht einsehen. Daher behielt er die Reihenfolge des Textes des Fuldensis bei. Der zweite Einwand gegen Clarks Darstellung der Textüberlieferung des Werkes des Ammianus Marcellinus richtet sich gegen Clarks Ansicht, daß alle jüngeren Handschriften von V abstammen und keinen Eigenwert besitzen. Vor allem V. Gardthausen hat die Auffassung vertreten, es bestünden noch Spuren einer selbständigen, von M V unabhängigen Textüberlie1 Über diese Quaternionenverschiebung hat bereits Gardthausen eine Berechnung angestellt. E r brachte sie mit einer Lorscher Handschrift in Verbindung (Berl. Phil. Wochenschr. 37, 1917, 1479 f.): Die verstellte Partie umfasse 380 Zeilen seiner Ausgabe, dies ergäbe durch 16 — die postulierte (!) Zeilenzahl einer Seite des Lorscher Codex — dividiert „beinahe 24", d. h. für einen Quaternio zu viel, für zwei zu wenig. Man könne — mit dieser Feststellung beschließt Gardthausen seine recht oberflächliche Berechnung — „ruhig annehmen, daß die verstellte Partie in der Lorscher Vorlage des Vaticanus-Fuldensis nicht einen, sondern zwei Quaternionen umfaßte"! Gardthausens Berechnung charakterisiert sich selbst als unannehmbar und willkürlich. Wir sind dagegen in der Lage, einen fast mathematisch genauen Beweis zu führen, daß die Umstellung eines Quaternio erst im Hersfeldensis erfolgte; denn wir können, gestützt auf Robinsons Angaben über die Zeilenlänge dieses Codex, eine genaue Berechnung aufstellen (vgl. Robinson a. O. 138). Eine Zeile des Hersfeldensis umfaßte im Durchschnitt 46 Buchstaben, eine Seite 24 Zeilen = (46 X 24) 1104 Buchstaben; ein Quaternio muß also 16mal soviel Buchstaben enthalten haben = 17 664. Wenn nun im Hersfeldensis die Quaternionenumstellung erfolgte, müssen sowohl das verstellte Stück als auch das Stück, das diesem an sich vorherging, nach der Umstellung jedoch folgte, dieselbe Buchstabenzahl haben, wie wir sie für einen Quaternio des Hersfeldensis errechneten. Denn es sind zwei Quaternionen, die miteinander vertauscht worden sind. Die Rechnung wird allerdings dadurch erschwert, daß der an die erste Stelle gerückte Quaternio zahlreiche Lücken aufweist; aber auch diese Schwierigkeit muß zu überwinden sein. Wenden wir uns nunmehr zunächst dem an die zweite Stelle gerückten ersten Quaternio zu. E r reicht von 29, 1, 17 (Clark S. 490, 14 quorum) bis 29,3,4 (503,8). Wir errechneten für ihn 325 Zeilen der Clarkschen Ausgabe, von denen wir rund 20 für Zeilenausgänge, kleinere Lücken usw. abziehen. Dann erhalten wir die Zahl 305. Die Zeile der Clarkschen Ausgabe enthält im Durchschnitt 58 Buchstaben, somit kommen wir für das ganze Stück auf 3 0 5 x 5 8 = 17 690 Buchstaben. Man wird zugeben, daß die Entsprechung mit der von uns errechneten Buchstabenzahl für einen Quaternio des Hersfeldensis nicht genauer sein kann. Der zurückversetzte Quaternio muß nun, wenn unsere Berechnung stimmt, denselben Wert aufweisen, obwohl die Berechnung für ihn durch die vielen Lücken erschwert ist. Wir müssen zunächst errechnen, wie viele Buchstaben in den Lücken dieses Quaternio gestanden haben, dann den erhaltenen Wert von der Buchstabenzahl eines Quaternio abziehen und erhalten damit die Buchstabenzahl, die das umgestellte Stück heute noch haben muß. Dies läßt sich leicht errechnen. In dem Stück, das dem nach hinten gerückten Quaternio entspricht, machen die größeren Lücken usw. rund 27 Zeilen aus, das sind 2 7 X 4 6 = 1242 Buchstaben. Diese Zahl müssen wir von 17 664 abziehen, die wir für einen Quaternio errechnet haben: 17664—1242 = 16422. Wenn unsere Rechnung stimmt, muß das nach vorne gerückte Stück ebenso viele Buchstaben enthalten. Dieses Stück macht bei Clark 282 Zeilen aus. Mit 58 multipliziert ergibt diese Zahl 16356 Buchstaben, also fast dieselbe Zahl, die wir für dieses Stück soeben auf anderem Wege errechnet haben. Anders herum gerechnet: Das verstellte Stück zählt heute 16356 Buchstaben, plus 1242 Buchstaben für die in ihm enthaltenen Lücken ergibt 17 598, also fast genau soviel, wie ein Quaternio des Hersfeldensis nach unserer Rechnung haben mußte. Wäre ein Fehler in dieser ganzen Rechnung, dann hätte sie nicht so gut aufgehen können, vielmehr hätten sich Differenzen zeigen müssen. Wir haben also mathematisch bewiesen, daß die Umstellung des Quaternio im Hersfeldensis erfolgt ist. Gardthausens Lorscher Hypothese kann als widerlegt gelten.
Der Codex Fuldensis und der Codex E des Ammianus Marcellinus
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ferung. Er glaubte, solche Spuren neben der Vm 3 vor allem im Codex Vaticanus lat. 2969 (E) feststellen zu können.1 Gardthausen baute mit Hilfe eines von ihm postulierten Lorscher Codex eine neue Theorie der Textüberlieferung des Ammianus Marcellinus auf.2 Sie wurde zwar schon nach kurzer Zeit als unbegründet bezeichnet3, ist aber von J. B. Pighi aufgegriffen worden und liegt nunmehr dessen Stemma der Ammianüberlieferung zugrunde.4 Wenn wir von der komplizierten Frage der Vm 3 zunächst absehen, müssen wir feststellen: Wie mit Sicherheit erwiesen ist, ist E von V direkt abgeschrieben worden.5 Wir hoffen, die Argumente, die für diese Erkenntnis vorliegen, noch um einige vermehren zu können. Der Schreiber des Codex E, den Clark als „a brilliant, if erratic, scholar" charakterisierte6, könnte bei der Tätigkeit des Schreibens einen anderen Codex zum Vergleich herangezogen haben, der die von Gardthausen vermutete Überlieferung wiedergab. Dagegen spricht zunächst schon der Umstand, daß der Schreiber E überall, wo er seine Vorlage erwähnt, stets nur im Singular spricht.7 Der Schreiber E könnte jedoch eine solche selbständige Handschrift später eingesehen und abweichende Lesarten nachgetragen haben. Ein solches Vorgehen müßte sich besonders an Lücken und am Bande bemerkbar machen. Darum müssen diese Stellen besonders genau untersucht werden. Schließlich könnten spätere Gelehrte derartige Nachträge im Codex E vorgenommen haben. Es besteht also der Verdacht, daß sich eine von M V unabhängige Textüberlieferung im Kontext des Codex E oder in seinen zahlreichen Randbemerkungen erhalten hat. Wir müssen nun die schwierige Arbeit in Angriff nehmen, alle Stellen, an denen dieser Verdacht Nahrung finden kann, gründlich zu untersuchen und immer wieder die Frage zu stellen, wo die Text1 S. seine S. 8 Anm. 1 zitierte Abhandlung. Wie die Hypothese des Lorscher Codex entstanden ist, läßt sich am besten an Gardthausens Studien zu Ammianus Marcellinus (a. O. 1474ff.) erkennen. Diese Hypothese entsprang letzten Endes dem Bestreben, eine Texttradition festzustellen, die gegenüber den erhaltenen Handschriften eine gewisse Selbständigkeit aufweisen sollte. Seinerseits ist dieses Bestreben wiederum auf den Wunsch zurückzuführen, die abweichenden Lesarten der Vm 3 und des Codex E im Gegensatz zu Clark als Reste einer selbständigen Ammian-Überlieferung zu werten (vgl. Clarks Praefatio p. IV). Auf der Suche nach einer solchen Handschrift, die natürlich älter als die uns ganz oder teilweise erhaltenen Codices V und M sein mußte, stieß man auf Zeugnisse von Gewährsmännern wie Seb. Müller, der in seiner 1550 in Basel erschienenen Kosmographie Lorsch im Zusammenhang mit dem 31. Buch Ammians nannte und den Mommsen bereits als „wenig zuverlässig" bezeichnete (Hermes 7, 1873, 172 Anm.), oder Cuspinian, der in einem Brief an Pirckheimer vom Jahre 1515 die Behauptung aufstellte, am Rhein sei noch ein „unversehrter Ammianus" verborgen. Eine weitere vage Vermutung Cuspinians in einem Brief an Reuchlin v o m April 1512, in dem Speyer oder Worms als mögliche Fundorte einer solchen Ammian-Handschrift genannt werden, bezieht G. ebenfalls auf Lorsch. Schließlich spricht er direkt von einem Codex Laureshamensis u n d behauptet, diese Handschrift sei im 16. Jahrhundert im Kloster Lorsch in Hessen gewesen. G. operiert lediglich mit Vermutungen. Charakteristisch hierfür sind seine Ausführungen über die Ausgabe des Aeeursius. Von diesem behauptet er nämlich, er werde seine Handschrift in einem deutschen Kloster gefunden haben, Fulda und Hersfeld ausgenommen. Also käme nur Lorsch in Frage. Bei Accursius werde man also die zuverlässigsten Angaben über die Lorscher Handschrift haben. (Im Gegensatz zu dieser Hypothese werden wir im Laufe unserer Untersuchung zeigen, daß Accursius den vatikanischen Codex E wohl gekannt hat. Entgegen der Ansicht Gardthausens wird man also nicht fehlgehen in der Annahme, daß Accursius die Ammian-Handschriften des Vatikans benutzte.) Auf Grund derartiger aus der Luft gegriffener Behauptungen kommt G. schließlich zur Aufstellung eines Handschriften-Stemmas für Ammianus Marcellinus, neben das er jedoch bezeichnenderweise sofort eine Variante stellt. Nach G.'s Stemma wäre der Lorscher Codex direkt oder indirekt die Vorlage für M und V. Immerhin muß G. selbst zugeben, daß wir „keine einzige seiner Lesarten kennen". Durch Robinsons Erkenntnis, daß M und V nicht von einer gemeinsamen Vorlage-abstammen, sondern V von M abgeschrieben ist (vgl. S . 7 A n m . 7), wurde G.'s Stemma der AmmianHandschriften bereits als unwahrscheinlich gekennzeichnet. 2
3 4 5 6 7
So von Baehrens a. O. 56. J . B. Pighi, Ammiani Marcellini Rerum Gestarum Capita Selecta, Neuchatel 1948, p. X I X . Das hat grundsätzlich bereits Clark erkannt (a. O. 60). A. O. 64. Auf diesen Umstand kommen wir im Laufe unserer Untersuchung noch zu sprechen.
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WOLFGANG SBYFAUTH
Verbesserungen, abweichenden Lesarten und Randbemerkungen des Codex E herstammen. Ergibt sich bei dieser Untersuchung, daß hier wirklich bessere und ältere Zeugnisse zugrunde liegen, dann hat Gardthausen recht, und wir werden Pighis Stemma anerkennen müssen. Findet sich dagegen keine Randbemerkung oder Textvariante, die der Schreiber E nicht aus seinem Wissen und aus seiner eigenen Auffassung der betreffenden Stelle machen konnte, dann müssen wir Gardthausens These ablehnen und wieder zum Clarkschen Stemma zurückkehren, soweit es die jüngeren Handschriften betrifft. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir nicht nur den Text und die Randbemerkungen des Codex E untersuchen, sondern uns auch ein Bild von der Persönlichkeit und der Arbeitsweise seines Schreibers zu machen versuchen und nach den wissenschaftlichen Hilfsmitteln fragen, die er benutzen konnte. Erst wenn wir uns ein derartiges umfassendes Bild von dem Schreiber E und seinem Werk machen können, gelangen wir zu einem methodisch begründeten Urteil. Jede isolierte Betrachtung einer Stelle im Text oder einer Randbemerkung muß als unmethodisch abgelehnt werden; sie müßte zu falschen Ergebnissen führen.1 Soweit uns bekannt ist, ist noch nirgends in der wissenschaftlichen Literatur der Versuch gemacht worden, Gardthausens Theorie einer gründlichen Überprüfung zu unterziehen. Dies muß jedoch geschehen, wenn eine neue Ausgabe des Werkes des Ammianus Marcellinus in Angriff genommen wird. Wir stellen uns daher für die folgende Untersuchung die Frage: Gibt es im Codex E Anzeichen dafür, daß er mit einer älteren und von M V unabhängigen Texttradition kontaminiert worden ist ? Wenn wir diese Frage wirklich positiv oder negativ entscheiden können, werden wir in der Beurteilung der Textüberlieferung des Ammianus Marcellinus einen festen Standpunkt einnehmen können. Nebenbei wird auch einiges Licht auf den Wert der Vm 3 fallen. 1 Vor allem wenden wir uns gegen die Auffassung, als müßte eine gute Konjektur im Codex E unbedingt auf einer besseren Textüberlieferung als V beruhen. Wir nehmen den Standpunkt ein, daß auch eine gute Konjektur nur im Zusammenhang mit den anderen Textabweichungen kritisiert werden darf.
I. T E I L
Die Frage der Lücken in den Codices V und E
Im ersten Teil unserer Untersuchung werden wir uns mit den Lücken beschäftigen, die in den Codices V und E in großer Anzahl vorhanden sind. Wir können im Hinblick auf sie folgenden Grundsatz aussprechen: Entweder hat Codex E an Zahl weniger und an Umfang geringere Lücken alsV, dann liegt es auf der Hand, daß der Schreiber E den Text, den er über V hinaus hat, von anderer Seite her bezogen haben muß. Dann müssen wir untersuchen, welches die Quelle des Schreibers E für solche Zusätze ist — eine von M V unabhängige Texttradition oder eigene Konjektur des Schreibers. Oder die Lücken des Codex E entsprechen hinsichtlich Anzahl und Umfang den Lücken des Fuldensis bzw. des Hersfeldensis, dann ist es sehr unwahrscheinlich, daß eine ältere Texttradition zur Verbesserung des Codex E herangezogen worden ist. Schließlich muß auch untersucht werden, aus welchem Grunde E Lücken aufweist, die V nicht hat. Die Lücken lassen sich in zwei Gruppen einteilen: 1. Lücken, die in V und E oder in einer von beiden Handschriften durch Freilassung eines bestimmten Raumes als solche gekennzeichnet sind, und 2. nichtgekennzeichnete Lücken des Fuldensis, die aber in E und bei Clark oder nur bei Clark ausgefüllt sind.
1. Kapitel Lücken, die durch Freilassung eines bestimmten Baumes als solche gekennzeichnet sind
Die Gesamtzahl der Lücken, die zu dieser Gruppe gehören, beträgt nach unserer Zählung 262. 1 Sie lassen sich ihrerseits wiederum in mehrere Untergruppen einteilen: a) Lücken des V, die bei E ausgefüllt oder übergangen werden und die in der Clarkschen Ausgabe ebenfalls entweder ausgefüllt oder übergangen sind. b) Lücken in V und E, die bei Clark entweder ebenfalls als Lücken gekennzeichnet, ausgefüllt oder übergangen sind. c) Lücken in E, die der Fuldensis nicht hat. d) Lücken in V, die Vm 2 oder eine jüngere Hand ausgefüllt hat. Die Gesamtzahl 262 verteilt sich auf diese vier Gruppen folgendermaßen: a — 74, b — 129, c _ 47, d - 12. Hinzu kommen noch 86 Lücken, die Clark durch Punkte angedeutet hat, obwohl hier rein äußerlich in den Handschriften keine Lücke zu erkennen ist. Diese Lücken bedürfen keiner 1 Wir betonen, daß diese Zahlenangabe wie auch spätere zwar auf sorgfältiger Prüfung unseres Materials beruht, daß sie aber trotzdem nur bedingt richtig sein kann, weil Grenzfälle auftreten, die man verschieden einordnen kann.
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WOliFGANO SEYFABTH
näheren Untersuchung; denn sie besagen nichts weiter, als daß E hier keine andere und vollständigere Texttradition neben V herangezogen hat, also völlig von V abhängig ist.
a) Lücken des Codex V, die bei E ausgefüllt oder übergangen werden Die Lücken des Fuldensis, die in E ausgefüllt oder übergangen sind, beanspruchen hervorragendes Interesse für unsere Untersuchung. Man wird fragen müssen, woher der Schreiber des Codex E seine Ergänzungen genommen hat oder warum er die betreffende Lücke stillschweigend überging. Im allgemeinen sind die Lücken in der Textüberlieferung des Ammianus Marcellinus von den Kopisten sehr getreu übernommen worden. Diese Beobachtung kann man hinsichtlich des Verhältnisses V-M ebenso machen wie hinsichtlich des Verhältnisses E-V. Wir unterscheiden bei den hier zur Debatte stehenden Lücken mehrere Möglichkeiten eines Verhältnisses V zu E und zur Ausgabe von Clark; denn diese letztere können wir nicht übergehen, wenn wir den Wert einer Textergänzung oder Konjektur des Codex E in das richtige Licht rücken wollen: Entweder steht bei Clark dieselbe Ergänzung wie im E, oder E hat eine andere Ergänzung, als Clark aufgenommen hat, oder E und Clark übergehen eine Lücke mit Stillschweigen, oder E allein übergeht die Lücke, während sie bei Clark angedeutet oder ausgefüllt ist, oder E ergänzt allein, während Clark die Lücke beibehält, oder E übernimmt eine bereits im V angemerkte Ergänzung, die dann auch bei Clark im Text steht. Wie wir bereits erwähnten, haben wir in dieser Gruppe im ganzen 74 Lücken zusammengefaßt, aber nur in sieben Fällen lautet die Ergänzung bei Clark so wie bei E. Das bedeutet, daß — soweit wir nach unseren heutigen Maßstäben urteilen können — nur in fast 9% aller Fälle E eine vermutlich richtige Ergänzung hat. Dabei darf man nicht unberücksichtigt lassen, daß in mehreren von den erwähnten sieben Fällen die Ergänzung so nahelag, daß sie einfach selbstverständlich war, während sich in anderen Fällen die richtige Ergänzung aus dem Zusammenhang ergab. 14,8,11 (24,23) hat V ad Tionor — 1 litt. — etc. Der Schreiber E, der offensichtlich gewohnt war, Abkürzungen aufzulösen, schrieb natürlich richtig ad honorem, was auch bei Clark undBG steht. 15,3,11 (43,21) die Ergänzung des confes desV, nach dem eine Lücke von drei Buchstaben gelassen ist, in confessi war ebenfalls selbstverständlich, zumal im Hinblick auf die vorhergehenden Partizipien ducti und excruciati. 30,10,2 (553,9) überliefert V avulso ponte que — 11 litt. — paginarat. Die Ergänzung zu quem compaginarat war nicht besonders schwierig. Clark hat sie in den Text aufgenommen, obwohl es auch möglich wäre — zumal in Anbetracht der Länge der Lücke —, daß hier ein anderes Wort ausgefallen ist, vielleicht ein Attribut zu necessitas. Der Wert einer Überlieferung kommt der erwähnten Ergänzung jedenfalls nicht zu, auch wenn Accursius dieselbe hat. Die auffallenden Übereinstimmungen zwischen der Ausgabe des Accursius und E werden im letzten Teil unserer Abhandlung noch einmal zur Sprache kommen. Etwas schwieriger war die Richtigstellung der Stelle 31,2,4 (558,1). Hier ist überliefert peregre tec — 8 litt. — adimente maxima necessitate non sub. Ammianus Marcellinus schildert hier die Lebensgewohnheiten der Hunnen und berichtet von ihnen, daß sie keine Häuser kannten und sich, wie im folgenden Satz ausgeführt wird, sub tectis nicht sicher fühlten. So wies allerdings der Zusammenhang auf die richtige Ergänzung hin: peregre tecta nisi adigente maxima necessitate non subeunt. Darum braucht man auch hier keine besondere Quelle für die Textverbesserung anzunehmen. Erwähnenswert ist hier wiederum die Übereinstimmung allein mit Accursius.
Der Codex Fuldensis und der Codex E des Ammianus Marcellinus
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Die behandelten vier Stellen zwingen nicht dazu, die Heranziehung einer besonderen Texttradition, die über M V hinausführt, zu postulieren. Es bleiben drei Stellen übrig, bei denen eine eingehendere Überlegung notwendig wird. 15,4,7 (45,15) ist der Text sowohl vor als auch nach der Lücke stark verderbt. Es heißt hier im Fuldensis in occultas delatus insi — 6 litt. — immobilis. Die Ergänzung des insi zu insidias war wegen der vorhergehenden Wörter nicht schwierig, dagegen führte erst eine weitere Erwägung zu der Ergänzung stetit. Interessant ist, daßValesius dieselbe Textform hat, während BG mit veluti offenbar herumraten. Wir glauben aber kaum, daß diese Ergänzung über den geistigen Horizont des Schreibers E hinausging, der, wie wir noch zeigen werden, recht frei mit dem Text umsprang, konjizierte, änderte und sogar interpolierte. 29,4,7 (507,1 f.) barbarosque optimales, veritate tormentis expressa. Der Fuldensis überliefert barbarosque opti — 5 litt. — veritator mentis exoressa mit falscher Worttrennung nach der Lücke. Nun war es kein allzu schwieriges Problem, das überlieferte opti zu vervollständigen und die richtige Worttrennung herzustellen. Schließlich mußte verita zu veritate ergänzt und das o von exoressa in ein p verwandelt werden. Die hier im Fuldensis gemachten Fehler sind in dieser Handschrift häufig. Der Schreiber E wußte das, und so kann man ihm wohl zutrauen, daß er diese Fehler selbst richtigstellte. An dieser Stelle ist die Übereinstimmung mit AG zu erwähnen. 30,7,10 (547,15) Africam deinde malo repentino perculsam. V hat hier anstelle des letzten Wortes nur per und danach eine Lücke von 6 Buchstaben, in die die Ergänzung — culsam genau hineinpaßt. Solche Wortergänzungen liegen durchaus im Bereich des Möglichen des Schreibers E. Accursius stimmt wieder mit E überein, G hat perturbatam — ob auf Konjektur beruhend oder aus M, bleibt fraglich. Die Untersuchung der erwähnten sieben Stellen führt zu folgendem Ergebnis: Der Schreiber E hat den Text mit Sicherheit oder wenigstens mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit richtiggestellt. Zum Teil sind seine Ergänzungen durch eine richtige Beurteilung des Zusammenhangs hervorgerufen worden, zum anderen Teil lag die Ergänzung auf der Hand, und es bedurfte kaum eines längeren Nachdenkens, um das Richtige zu treffen. Es besteht daher bis jetzt keine zwingende Notwendigkeit, die Heranziehung eines anderen Textes als V zu postulieren. Es ist nicht anzunehmen, daß die Ergänzungen des Codex E eine selbständige Überlieferung darstellen. Sie sind Verbesserungen eines Philologen, die auf Konjektur beruhen. Diese Feststellung wird erhärtet, wenn man die Stellen untersucht, an denen der Schreiber E andere Ergänzungen für die Lücken des Fuldensis fand, als Clark aufgenommen hat. Denn jenen zuerst behandelten sieben richtig verbesserten Stellen stehen 27 gegenüber, an denen der Schreiber E offensichtlich falsche Ergänzungen vornahm. Diese Stellen sind für die Arbeitsweise des Schreibers E besonders bezeichnend. 14,7,21 (22,26) Ammianus Marcellinus hält es für gegeben, die Ostprovinzen zu beschreiben mit Ausnahme Mesopotamiens, über das er in einem früheren — jetzt verlorenen — Buch gesprochen habe, und Ägyptens, dessen Beschreibung er für einen späteren Zeitpunkt aufschiebt. Der Fuldensis überliefert quam necessario aliud reici — 4 litt. — ad tempus. E und G machen aus reici: reieci, stellen also zwar einen Sinnzusammenhang her, aber paläographisch genügt diese ,,Verbesserung" nicht. Die Überlieferung verlangt keine Abänderung, sondern nur eine Ergänzung, und so hat Clark sicher mit Recht reiciemus in den Text aufgenommen. 1 14,9,1 (26,1) Das nächste Beispiel ist für die Art und Weise des Schreibers E, den Text zu „verbessern", noch bezeichnender. Wie Ammianus Marcellinus berichtet, wurde Ursicinus gezwungen dispicere litis exitialis crimina. V überliefert lites exitia lese — 2 litt. — mina, eine Korruptel, deren Entstehung völlig klar ist und die letzten Endes durch falsche Worttrennung beim Ab1
Für den Plural in solchen Wendungen vgl. z. B. 27,4,14 pedem referamus ad eoepta. Vielleicht hätte man an der oben erwähnten Stelle auch reiciamus schreiben können. Eine vollständige Liste dieser revocationes bei Ammianus Marcellinus bringt A. M. Harmon, The Clausula in Ammianus Marcellinus, New Häven, Connectitut 1910, 176 Anw. 2.
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WOLFGANG
SEYPABTH
schreiben des Archetypus verursacht wurde, der in Scriptio continua geschrieben war. Auch die Verwechslung von e und i ist im Fuldensis häufig. Die Lücke ließ der Schreiber des Fuldensis, nachdem er aus dem c von crimina ein e gemacht hatte, weil er die beiden Buchstaben ri nicht mehr unterzubringen wußte. Dies alles erkannte der Schreiber E nicht, aber das Wörtchen lese, als laesae gedeutet, brachte ihn auf die Verbindung laesae maiestatis, die so häufig ist und ihm sicher geläufig war, und nun lag es für ihn auch nicht fern, aus mina crimina zu machen. Dieses Beispiel ist ein typischer Fall für die unbekümmerte, den paläographischen Befund nicht berücksichtigende Art und Weise zu konjizieren, die wir an dem Schreiber E immer wieder beobachten können. Er schrieb: dispicere Utes exitia lese maiestatis crimina. 27,5,4—5 (429,2f.) An dieser Stelle hat sich der Schreiber E durch eine anscheinend richtige Überlegung aufs Glatteis führen lassen. Hier endet ein Paragraph mit accepto, der nächste beginnt bei Clark mit anno secuto. An der Stelle des anno hat der Fuldensis zwei Punkte, um den Ausfall eines Wortes anzudeuten. Es ist ganz klar, daß hier vom Jahresbeginn die Rede ist, zumal es im Anfang des nächsten Absatzes heißt tertio quoque anno. Der Schreiber E erinnerte sich jedoch, daß kurz vorher die Rede vom Frühling und Sommer war (pubiscente vere 27,5,2; aestate omni consumpta 27,5,4), und fuhr demzufolge mit autumno secuto fort. Denselben Fehler zeigt auch Accursius, während Gelenius das richtige anno vor und Wm 2 dasselbe hinter secvito einfügte. Vielleicht bewahrte Gelenius das richtige Wort auf Grund von M auf; aber mit Sicherheit läßt sich dies nicht sagen, da er bekanntlich vielfach konjizierte. 29,4,5 (506,2) Hier beseitigte der Schreiber E die Lücke dadurch, daß er den davorstehenden Rest eines Wortes einfach ausließ und so fortfuhr, als ob hier gar keine Lücke wäre. Der Fuldensis hat fre — 4 litt. — equitatu, und Clark übernahm von Eyssenhardt die Ergänzung frequenti equitatu — allem Anschein nach zu Recht. Der Schreiber E ließ dagegen fre und die Lücke fort und schrieb nur equitatu. Hiermit stellte er zwar einen Sinnzusammenhang her, erzielte aber keine Vollständigkeit und verschleierte die Überlieferung. 29,5,7 (508,17) Im Bericht über Kampfhandlungen in Afrika werden Überlegungen des Theodosius erwähnt, wie er die nicht an das Klima gewöhnten Soldaten am besten führen könne: qua via . .. per exustas caloribus terras, pruinis adsuetum duceret militem. Der Fuldensis hat hier . . . terra. Finis . . ., zwischen beiden Wörtern eine Lücke von zwei Buchstaben, die vielleicht eine Rasur ist, von Clark jedoch im Apparat nicht verzeichnet wird. Der Schreiber E ergänzte richtig das s von terras, hat aber finis stehengelassen, also nur die Hälfte der Verderbnis erkannt und beseitigt. Gelenius hat als einziger pruinis — ob aus Moder durch Konjektur, bleibe wiederum dahingestellt. 31,13,5 (590,9) Als letztes Beispiel aus dieser Gruppe sei eine Stelle angeführt, an der der Schreiber E falsch konjizierte, obwohl die richtige Lesung für jemanden, der seinen Ammian gut kannte, nicht fernlag. Hier beginnt ein Paragraph mit den Worten in hoc tanto tamque confusae rei tulmultu. Der Fuldensis überliefert in hoc ta — 2 litt. — tamque . .. tumultum. Der Schreiber E stellte zwar tumultu richtig, gelangte aber durch eine ganz unmethodische Umstellung zu der Lesung in hoc itaque tarn confusae. Diese Lesart ist paläographisch völlig unannehmbar, während sich Parallelen zu der Lesart, die Clark aufgenommen hat, in großer Anzahl finden.1 Das Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: Der Schreiber E versuchte mit besserem oder geringerem Erfolg, lückenhafte Stellen seiner Vorlage V zu ergänzen. Denn daß V seine Vorlage war, ist sicher2, und wir werden im Laufe unserer Untersuchung noch zusätzliche Argumente bringen, die dies bestätigen. Bei seinen Verbesserungen ging der Schreiber E jedoch recht willkürlich zu Werke. Seine Methoden zu konjizieren 1 Weitere Stellen dieser Gruppe sind 14,2,18 (7,21); 14,2,20 (8,8); 14,5,4 (10,20); 14,6,1 (12,8); 14,7,21 (22,25); 14,11,28 (36,19); 15,4,2(44,13); 15,5,18 (51,8f.); 15,8,4(58,21); 16,8,3(81,7); 16,11,5(89,2); 19,12,2 (180,3); 26,1,8 (391,12); 28,2,11 (463,1); 28,4,2 (466,11); 29,4,5,(506,2); 29,4,7 (507,1); 29,5,37 (514,16); 29,5,37 (514,18); 30,1,3 (524,11); 31,2,4 (557,21-558,1). 2 Vgl. R. P. Robinson a. O. 140.
Der Codex Fuldensis und der Codex E des Ammianus Marcellinus
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lassen sich — wie dies auch natürlich ist — mit den heutigen Methoden nicht im entferntesten vergleichen. Sprachlich war der Schreiber E, soweit sich bisher erkennen läßt, gut geschult, und dieser Umstand ermöglichte es ihm, einfache Wortergänzungen gut zu bewerkstelligen. Manche richtige Überlegung über den ganzen Textzusammenhang einer lückenhaften Stelle führte ihn zu weiteren annehmbaren Ergänzungen. Aber viele von seinen Textverbesserungen beruhen auch auf falschen Erwägungen und sind leicht als falsch zu erweisen. 7 annehmbaren Ergänzungen stehen immerhin 27 offensichtlich falsche gegenüber! An weiteren Stellen des Fuldensis finden sich Lücken, die durch schreibtechnische Gründe hervorgerufen worden sind. Hier hat der Schreiber E in vielen Fällen ein zutreffendes Urteil gehabt und stimmt mit Clark überein. Es sind 18 Stellen, vor allem solche, bei denen der Schreiber des Fuldensis am Seiten- oder Zeilenende eine Lücke gelassen hat, z. B. 16,5,5 (76,5): Mit dem Wort nitentibus und einer Lücke von sieben Buchstaben endet hier eine Seite des Fuldensis, die folgende beginnt, im Satz fortfahrend, mit sed unmittelbar anschließend. Der Schreiber E hat den Tatbestand richtig erkannt, und Clark selbstverständlich auch. Darum wird bei beiden die Lücke einfach übergangen. 1 Ähnlich sind die Fälle, in denen der Abschreiber im Fuldensis am Zeilenende eine Lücke vorfand und sie überging, da er keine Lücke im Zusammenhang entdecken konnte. Z. B. ließ der Schreiber des Fuldensis 16,11,15 (91,2) nach den Worten ut solebat eine Lücke von 6 Buchstaben. Die folgende Zeile beginnt mit einem neuen Kapitel, und diesen Gedankeneinschnitt wollte wohl der Schreiber des Fuldensis andeuten. Der Abschreiber begnügte sich hier, wie üblich in solchen Fällen, damit, daß er das Satzende mit einem schrägen Strich bezeichnete.2 Man darf jedoch dem Schreiber E hierbei keine Konsequenz oder Verläßlichkeit zutrauen; denn zwei Zeilen vorher fand er eine Lücke am Ende einer Seite des Fuldensis vor und übernahm sie in gleicher Länge (16,11,14/90,28 — nach ad suos), obwohl hier kein Gedankeneinschnitt vorliegt. Auf ähnliche Fälle kommen wir noch später zurück. Wiederum an anderen Stellen sind die im Fuldensis vorhandenen Lücken nichts weiter als Rasuren, die mehr oder weniger deutlich als solche zu erkennen sind. Der Schreiber E hat sie auch als solche angesehen und in seinem Text übergangen. Es erübrigt sich, Beispiele hierfür einer Untersuchung zu unterziehen.3 Wesentliches sagen die zuletzt behandelten Lücken für unser Problem nicht aus. Wir mußten sie jedoch der Vollständigkeit halber erwähnen und wenden uns nunmehr den Stellen zu, an denen eine im Fuldensis vorgefundene größere oder kleinere Lücke im Codex E übergangen wurde, während Clark sie entweder durch eine Ergänzung ausfüllte oder durch Punkte als Lücke kenntlich machte. Der Schreiber E hat dagegen in all diesen Fällen — es handelt sich im ganzen um 12 — den wirklichen Zustand der Überlieferung verschleiert. An einer Stelle ist er dabei sehr leicht zu überführen. Im Nachruf für Konstantius (21,16,3/ 245,21) gibt Ammianus Marcellinus Regierungs- und Lebensdauer des Kaisers an: imperii tricésimo octavo vitaeque anno . . . Im Fuldensis ist nach imperii eine Rasur, der die Anzahl der Regierungsjahre zum Opfer gefallen ist. Er fährt fort mit vitaeque. E hat imperii vitaeque anno ohne Lücke, als ob Regierungs- und Lebenszeit identisch wären. Der Schreiber hat also abgeschrieben, ohne sich über den Inhalt des Geschriebenen Rechenschaft zu geben. 1 Weitere derartige Stellen sind 16,12,52 (100,5) abscessit. . .; 17,1,12 (106,19) intervallum,. . 17,2,3 (107,26) perveniret. . .; 18,10,1 (155,7f.) circumspeeti . . . 2 Zwei weitere Beispiele sind 16,12,27 (95,16), wo V am Ende der Zeile nach torvum eine Lücke von drei Buchstaben hat, und 29,5,9 (509,3), wo V ebenfalls am Ende einer Zeile nach tuebantur vier Buchstaben freiließ. 29,5,12 (509,22) ließ der Schreiber des Fuldensis einen Kaum am Ende der Zeile frei, um den Gedankeneinschnitt anzudeuten. Den Anfangsbuchstaben des nächsten Wortes hoc rückte er nach links hinaus. 3 Derartige Fälle sind 14,3,1 (8,12); 17,12,10 (126,5); 19,11,8 (177,22); 19,11,15 (179,3); 19,11,17 (179,17); 20,4,18 (192,19f.); 21,5,2 (223,6); 21,6,2 (225,23); 21,7,7 (228,17).
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W O L F G A N G SEYFARTH
Gleich gedankenlos verfuhr er an der Stelle 21,9,5 (230,8), wo Clark eine im Fuldensis vorhandene Lücke richtig ausgefüllt hat: ex stationibus propinquis, während der Schreiber E die Lücke nicht beachtete und leicht konjizierend ex propriis schrieb. Auf derselben Gedankenlosigkeit beruhen die argumenta ceca, die er anstelle der richtigen argumenta scaenica hat, wie die Stelle bei Gelenius aussieht (28,4,2/466,12), der übrigens auch an der vorigen Stelle stationibus ergänzte oder von M übernahm. An den übrigen 9 Stellen dieser Gruppe 1 hat Clark die Lücken durch Punkte angedeutet. Wenn unsere Überlieferung hier nur auf dem Codex E beruhte, würden wir vielfach kaum vermuten, daß der Text an sich verderbt ist. Schließlich hat der Schreiber E einige Stellen ergänzt, während Clark die Lücke durch Punkte andeutet und somit die Möglichkeit der Ergänzung offenläßt. Diese Gruppe umfaßt 7 Fälle. In einem Fall hat der Schreiber E so ergänzt, daß er einen anscheinend guten Sinnzusammenhang herstellte: 15,7,3,(56,21 f.) berichtet Ammianus Marcellinus über das mannhafte Verhalten des Praefectus Praetorio Leontius. Als ihn seine gesamte Begleitung bei einem Tumult der römischen Plebs angsterfüllt bat, sein Leben keiner Gefahr auszusetzen, ließ er sich nicht von seinem Weg abbringen. Der Fuldensis überliefert diesen Teil der Szene folgendermaßen: difficilis ad pavorem recti (!) tetendit adeo ut eum obsequen — 12 litt. — desereret licet in pericuium festinantem abruptum. Clark druckt den Text des Fuldensis ab, ändert nur recti in recta. Der Schreiber E füllt die Lücke aus, behält aber recti bei und läßt eum aus: difficilis ad pavorem recti tetendit adeo ut obsequentiwm turba ministrorum desereret licet etc. Diese Ergänzung lag nahe und stellt einen gewissen Sinnzusammenhang her, sie entspricht aber nicht den wirklichen Vorgängen, da aus dem weiteren Verlauf der Schilderung bei Ammianus Marcellinus hervorgeht, daß zumindest ein Teil des Gefolges dem Präfekten weiterhin folgte. Sinngemäß müßte man also ungefähr schreiben: ut eum obsequenter pars ministrorum sequeretur, cum pars desereret. Offensichtlich die gleiche Überlieferung führte Gelenius zu der Ergänzung obsequentium pars. Sie beruht wohl ebenfalls auf Konjektur und nicht auf M und füllt ebensowenig wie die Ergänzung von E die Lücke im Zusammenhang ganz aus. Wir können nicht glauben, daß die Ergänzung, die wir im Codex E vorfinden, eine bessere und gegenüber dem Fuldensis selbständige Texttradition darstellt. Der Schreiber E hat die Lücke durch eine dem Sinn nach passend erscheinende Ergänzung überdeckt, ohne sich auf eine bessere Vorlage zu stützen. Methodisch steht seine Ergänzung auf demselben Niveau wie die des Gelenius. Clark hat sicher recht, wenn er keine von diesen Ergänzungen in den Text aufnahm. Eine weitere Stelle ist ebenfalls äußerlich in Ordnung gebracht, jedoch ist hier die Willkür noch deutlicher erkennbar als an der zuletzt behandelten Stelle. Bei der Beschreibung der gallischen Provinzen führt Ammianus Marcellinus aus, daß man von einem bestimmten Punkt an nicht mehr nach Meilen rechnet . . . sed leugis itinera metiuntur (15,11,17/67,21f.) Der nächste Paragraph ist zu Anfang sehr zerstört. Er beginnt nach einer Lücke von drei Buchstaben mit han — 2 litt. — Rhodanus aquis advenis locupletior (27,22). Clark hat die Stelle so aufgenommen, wie sie der Fuldensis überliefert, nur hat er aus dem überlieferten adquis das richtige aquis gemacht. Dasselbe hat der Schreiber E berichtigt, darüber hinaus hat er aber die Lücken beseitigt und statt han iam geschrieben. Diese Beseitigung der beiden Lüoken ist paläographisch kaum zu rechtfertigen, und die Umwandlung des han in iam macht ebenfalls keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Wahrscheinlich liegt eine größere Lücke vor. An Versuchen, sie zu beseitigen, hat es nicht gefehlt, jedoch sind all diese Versuche nioht besser oder schlechter als die