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German Pages [266] Year 2016
Christina Kreuzwieser
Der Begriff natura und seine ethische Relevanz in Senecas Prosaschriften
V& R unipress Mainz University Press
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Für Christian
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragestellung und Forschungsüberblick Methode und Aufbau . . . . . . . . . . . Bemerkungen zur Zitation . . . . . . . .
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13 13 21 23
Kapitel 1: Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Sind Natur und Gott identisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung . . . . . . . . 1.3 Senecas Beschreibung des ethischen Ziels als Rückkehr der Seele zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Die stoische Ursachen-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Seneca über Körper und Seele des Menschen . . . . . . . . 1.3.3 Welche Art von Wissen geht nach Seneca aus der contemplatio hervor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Senecas Bestimmungen der menschlichen ratio . . . . . . . . . . 1.4.1 Die ratio als Gott im Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Die Vernunft des Nicht-Weisen . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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27 27 30 32
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37 37 39
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42 46 46 53 56
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61 61 64 64 68
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Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen
Kapitel 2: Einflüsse der philosophischen Tradition auf Senecas Naturbegriff: Die quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Der soziopolitische Kontext der quattuor-personae-Theorie . 2.1.1 Überblick über die quattuor-personae-Theorie . . . . . 2.1.2 Der Begriff persona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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8
Inhalt
2.1.3 Der Einzelne als Angehöriger der politischen Elite . . . . . . 2.1.4 Die Beziehung zwischen den persönlichen Eigenschaften und der (politischen) Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Systematischer Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Verhältnis zwischen der ersten und zweiten persona . . . 2.2.2 Die Darstellung von Catos Selbsttötung (Cic. off. 1, 111f.) – Beleg für einen ethischen Partikularismus? . . . . . . . . . . 2.2.3 Textanalyse von Cic. off. 1, 111f. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Die biographische Dimension konsistenten Handelns . . . . . 2.2.5 Exkurs: Odysseus, Aias und die Schlacht bei Thapsus . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Kapitel 3: Senecas Begriff der menschlichen natura . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das artspezifische Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Die begriffliche Bestimmung des Menschen . . . . . . . . . . 3.1.2 Die begriffliche Bestimmung des guten Handelns . . . . . . . Exkurs und überleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Die natura des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die unterschiedlichen ›Startbedingungen‹ für die sittliche Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Die natura des Menschen als sein Temperament . . . . . . . . 3.2.3 Der Zusammenhang zwischen der natura des Einzelnen und dessen Lebensweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Der Mensch als sein eigenes Kunstwerk? . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95 95 96 96 101 104 106
74 75 75 78 80 87 89 92
106 112 117 120 124
Teil II: Die Bedeutung der menschlichen natura für die Erziehung und die sittliche Entwicklung Kapitel 4: Der Zusammenhang von sozialer Rolle, sittlicher Entwicklung und menschlicher Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Nicht-gelungene soziale Interaktion als fremdbestimmtes Handeln . 4.2 Magnam rem puta unum hominem agere – Rollenhandeln und Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Identität als normativer Begriff der stoischen Ethik . . . . . . 4.2.2 Nicht-gelungenes Rollenhandeln durch Änderung des Wollens? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Das Verhältnis der Rollen zueinander . . . . . . . . . . . . . 4.2.4 Identität als dynamische Größe . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 127 130 134 137 139 141 143
9
Inhalt
4.2.5 Die Bedeutung der natura des Einzelnen für dessen Identität . 4.3 Absolute und relative Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Das Erkennen der ›sittlich guten Identität‹ . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Anleitungen zu einem Leben nach dem eigenen Gesetz . . . . . . . 4.5.1 Die biographische Dimension der ›sittlich guten Identität‹ . .
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Kapitel 5: Exempla als Mittel ethischer Unterweisung . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Literarische exempla in epist. 120 und 104 . . . . . . . . . . . . . . 5.1.1 Senecas Theorie der exempla . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2 Die Darstellung der historischen exempla Horatius Cocles und Fabricius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Die Darstellung sittlich guten Handelns . . . . . . . . . . . . 5.1.3.1 Das exemplum des Weisen (epist. 120) . . . . . . . . . 5.1.3.2 Sokrates und Cato als exempla (epist. 104) . . . . . . . 5.2 Exempla und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die richtige imitatio von Vorbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.1 Das Bienengleichnis und das Verdauungsgleichnis in epist. 84 5.3.2 Die Person des imitator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Der Vergleich des imitator mit einer Ahnenmaske (imago) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Dem Vorbild die ›eigene Form eindrücken‹ . . . . . .
159 159 161 161
184 185
Kapitel 6: Die Methode der Selbstprüfung in Sen. dial. 5 (= De ira 3), 36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Selbstprüfung als Dialog der ratio mit sich selbst 6.2 Der Prüfende als ›Augenzeuge‹ . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Selbstprüfung als ›Blick in den Spiegel‹ . . . . .
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189 189 190 193 199
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205 205
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208
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208 212 217
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164 166 166 170 172 177 177 182
Teil III: Die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Epistulae morales Kapitel 7: Senecas Funktionalisierung des Briefes für die Erziehung . . Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Der Zusammenhang von Freundschaft, Anwesenheit und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Die Bedeutung der physischen Anwesenheit von Lehrer und Schüler im contubernium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.2 Anwesenheit trotz räumlicher Distanz . . . . . . . . . . . . 7.1.3 Entindividualisierung der Freundschaft? . . . . . . . . . . .
10
Inhalt
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217
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219 220
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223 225 228 231 235
Zusammenfassung und Auswertung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . .
243
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
251
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
261
7.1.3.1 Die beiden Formen der societas . . . . . . . . . . . 7.1.3.2 Die Beschreibung der Freundschaft als engere Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.4 Die literarische Funktion des Adressaten Lucilius . . . . . 7.2 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremd- und Selbsterziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Die Funktion der Selbstzeugnisse für die Fremderziehung 7.2.2 Selbstprüfung ›vor den Augen‹ des anderen . . . . . . . . 7.2.2.1 Der Gott im Inneren des Menschen . . . . . . . . . 7.2.2.2 Die Spiegelfunktion des Briefpartners . . . . . . .
Teil IV: Zusammenfassung
Vorwort
Beim vorliegenden Buch handelt es sich um die überarbeitete Version meiner Dissertation, die unter demselben Titel im Wintersemester 2013/14 von der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle meiner Doktormutter, Prof. Dr. Therese Fuhrer, die diese Arbeit mit größter Sorgfalt betreut und mir in zahlreichen Gesprächen wertvolle Hinweise und konstruktive Rückmeldungen gegeben hat. Auch bei meinem Zweitkorrektor, Herrn Prof. Dr. Christoph Horn, möchte ich mich sehr herzlich bedanken. Unsere oftmals kontroversen Diskussionen über das Senecanische Philosophieren haben sich als ein fruchtbarer Nährboden für die vorliegende Arbeit erwiesen. Herrn Prof. Dr. Bernhard Uhde, der mein Studium durch die Vermittlung seines umfassenden Wissens sowie seine unkonventionelle Art in hohem Maße bereichert und nachhaltig geprägt hat, sei an dieser Stelle mein großer Dank ausgesprochen. Anna-Lena Stock hat mit ihrer gewohnten Umsicht und Genauigkeit die Arbeit korrekturgelesen, wofür ich ihr großen Dank schulde. Mein Dank gilt der Mainz University Press bei V& R unipress für die Aufnahme der Arbeit sowie die reibungslose Zusammenarbeit während der Drucklegung; insbesondere bei Herrn Prof. Dr. Thomas Hieke bedanke ich mich in diesem Zusammenhang herzlich. Mein besonders herzlicher Dank gilt auch meinen Freunden Tobias Uhle und Stefan Merkle. Danke für die vielen schönen Stunden und Euren Beistand in schwierigen Zeiten! Auch meinen lieben Eltern danke ich von Herzen für ihre Unterstützung und dafür, dass ich mich immer auf sie verlassen konnte. Mein größter Dank gilt jedoch meinem Mann Christian. Ohne ihn hätte ich den Weg, den ich gegangen bin, nicht gehen können. Ihm ist dieses Buch gewidmet. Mainz im August 2015
Einleitung
Fragestellung und Forschungsüberblick In der vorliegenden Arbeit geht es um die Frage, welchen Begriff von natura Seneca in seinen Prosaschriften verwendet und welche Relevanz dieser für seine Ethik besitzt. Besonders die Frage nach dem Begriff der natura des Menschen und dessen Bedeutung für die praktische Ethik stehen im Zentrum der Untersuchung. Diese Studie ist allerdings nicht primär philosophisch ausgerichtet, d. h. es geht in erster Linie nicht darum, den Zusammenhang von Naturbegriff und praktischer Ethik unter philosophisch-systematischen Gesichtspunkten darzustellen; ebenso wenig steht die Frage nach der philosophiegeschichtlichen Einordnung von Senecas Aussagen im Vordergrund. Seine Prosaschriften, von denen besonders die Epistulae morales eine eingehendere Behandlung erfahren, werden als pädagogische Werke gelesen. Seneca selbst tritt in seinen ethischen Schriften in der Rolle des Pädagogen auf; er stellt die praktische Seite der stoischen Philosophie in den Vordergrund und wendet sich an den in der Philosophie fortschreitenden Menschen (proficiens), dessen Fortschritt nicht in einem bloßen Zugewinn an ›theoretischem‹ Wissen, sondern in erster Linie in der Verbesserung seines konkreten alltäglichen Handelns besteht und in diesem erkennbar sein muss. Auf den sittlichen Fortschritt, wie Seneca ihn darstellt, sowie auf die praktische Ausrichtung seiner erzieherischen Bemühungen legt auch die vorliegende Studie den Fokus. Sie nimmt also nicht in erster Linie das ethische Ziel, sondern den Weg, auf dem sich der proficiens dem Ziel anzunähern versucht, in den Blick. Die Arbeit beabsichtigt aufzuzeigen, dass Seneca mit dem Begriff natura nicht nur die Vernunft als die Gattungsnatur des Menschen bezeichnet, sondern darunter auch die nicht-rationalen, jedem Einzelnen gegebenen Anlagen und
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Einleitung
Eigenschaften versteht, durch die er sich von anderen Menschen unterscheidet. In der Forschung ist hier bisweilen von der individuellen natura die Rede1. Es soll also nachgewiesen werden, dass Seneca gerade aufgrund seiner Konzentration auf die praktische Ethik vom Menschen nicht nur als Gattungswesen und damit in seiner allgemeinsten Bestimmung spricht, sondern ihn auch als besonderen und einzelnen Menschen in den Blick nimmt. In diesem Zusammenhang soll herausgearbeitet werden, welche moralische Bedeutung er der nicht-rationalen natura beimisst. Insbesondere die Frage, inwiefern diese neben der ratio als der menschlichen Gattungsnatur den sittlichen Fortschritt und auch das sittliche Handeln des sapiens, der das ethische Ziel erreicht hat, bestimmt, steht im Zentrum der Untersuchung. Mit dieser Fragestellung reagiert die vorliegende Arbeit einerseits auf Forschungsbeiträge, welche die nicht-rationale natura als für die moralische Entwicklung irrelevant ansehen und in Senecas Philosophica keinerlei Neuerung gegenüber der philosophischen Tradition erkennen wollen. Andererseits knüpft sie auch an die entgegengesetzte Position an, der zufolge in Senecas philosophischen Schriften vom Menschen als Individuum die Rede sei und sich seine Aussagen mit neuzeitlichen Konzepten von Individualität (weitgehend) deckten. In der nun folgenden Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Forschungspositionen soll die Fragestellung meiner Studie weiter präzisiert werden. I. Hadot befasst sich in ihrer Dissertation mit Senecas Naturbegriff und bestimmt diesen vor dem Hintergrund der stoischen Philosophie. Sie hebt hervor, dass schon die Alte Stoa unter der natura des Menschen zweierlei verstanden habe, und zwar »seine ›Logos-Natur‹, aus der sich sein Normbewusstsein und die daraus resultierende angeborene Tendenz zur Wertung herleite, und seine individuelle Natur«2. Mit Blick auf die Bedeutung dieser individuellen Natur kommt sie zu dem Schluss: »Das Individuelle ist also wohl erkannt, nur hat es sich der überindividuellen Norm zu beugen, die nicht zu Gunsten des Individuellen verletzt werden darf«3. Den individuellen Unterschieden komme, so Hadot, ohnehin wenig Bedeutung für die Seelenleitung zu; mit fortschreitendem Unterricht trete das individuelle Moment zu Gunsten der überindividuellen Norm (universa natura) zurück. Auch bei ungünstigen Anlagen könne der Mensch das ethische Ziel grundsätzlich erreichen. Hadot legt den Fokus ihrer Studie auf die Beschreibung des ethischen Ziels, wodurch Senecas Fort1 Vgl. die Darlegung des Forschungsstandes auf S. 14ff. Zu den Begriffen ›Individuum‹ und ›Individualität‹ s. S. 19ff. 2 I. Hadot (1969) 32. 3 I. Hadot (1969) 33.
Fragestellung und Forschungsüberblick
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schrittsgedanke und die Frage, inwiefern dieser durch die besondere, oder in Hadots Worten: individuelle natura des Menschen bestimmt sein könnte, zu wenig in den Blick kommt. Sie scheint diese als tugendirrelevante Kontextbedingung aufzufassen, d. h. als eine Größe, welche keinerlei moralische Bedeutung hat. Hengelbrock, der in seiner Dissertation den sittlichen Fortschritt in Senecas ethischen Schriften ausführlich untersucht, richtet seinen Blick anders als Hadot auf den proficiens selbst und den von ihm zu beschreitenden Weg. Anhand einer Analyse einzelner Briefe stellt er wichtige Wegmarken des philosophischen Fortschritts heraus, wie z. B. die Bedeutung des otium, des philosophischen Lehrers oder der Freunde. Er zeigt auch, welche didaktischen Mittel Seneca einsetzt und in welcher literarischen Gestaltung der Fortschrittsgedanke erscheint4. Zudem erwähnt er mit Rekurs auf Hadot kurz die »individuelle« Natur des Menschen und hebt mit Verweis auf DL 7, 89 und Cic. off. 1, 107–109 hervor, dass der proficiens »neben dieser allgemeinen Natur noch die individuelle zu betrachten«5 habe. Allerdings geht er nicht näher darauf ein, was an den beiden genannten Stellen unter der individuellen natura zu verstehen sein könnte und welche Relevanz sie für den ethischen Fortschritt besitzt. Er lässt im Unklaren, inwieweit hier vom Fortschritt eines einzelnen, oder in Henlgebrocks Worten: individuellen Menschen die Rede sein könnte. Neben diesem durch I. Hadot eröffneten Forschungsparadigma der ›Seelenleitung‹ greift die vorliegende Studie eine weitere aktuelle Forschungslinie auf, und zwar diejenige zum Problem des personalen Selbst in der Antike. Die im Folgenden angeführten Studien unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Grundausrichtung, Fragestellung und Methodik zwar teilweise stark von der vorliegenden Arbeit, sind für sie aber dennoch von Bedeutung. In der jüngeren und jüngsten Forschung (s. u.) ist ein verstärktes Interesse an der Untersuchung des Selbst in der antiken Philosophie, der Stoa im engeren Sinne und bei Seneca im Besonderen zu beobachten, wobei die einzelnen Positionen bisweilen stark voneinander abweichen. Diese Studien haben eine philosophisch-systematische Grundausrichtung gemeinsam, und sie schreiben sich mitunter ein in die Erforschung der Ontologie des Geistes. Das ihnen gemeinsame Hauptaugenmerk gilt der Frage, ob und inwieweit sich in der antiken Philosophie ein Konzept des Selbst ausmachen lässt und welche Stellung es innerhalb der philosophischen Tradition einnimmt. Diese Arbeiten beziehen sich zum großen Teil auf die Werke Michel Foucaults. Er sieht in der Philosophie des ersten nachchristlichen Jahrhunderts eine verstärkte Hinwendung zum
4 Vgl. Hengelbrock (2000) 130ff. 5 Vgl. Hengelbrock (2000) 91.
16
Einleitung
Selbst und zieht als Zeugnis hierfür die in der kaiserzeitlichen Stoa stark betonte Aufforderung zur Selbstprüfung und -formung heran6. In seiner Monographie Self. Ancient and Modern Insights about Individuality, Life, and Death (2006) nimmt Sorabji den Menschen nicht als Gattungswesen, sondern als Individuum in den Blick7. Ihm zufolge nehme der Mensch als ein mit sich selbst identisches und seiner selbst bewusstes Individuum die Welt subjektiv aus der Perspektive der ersten Person wahr8. Sorabji überträgt damit Konzepte und Vorstellungen, die wesentlich neuzeitlich bestimmt sind, auf die antike Philosophie und versucht eben diese moderne Sichtweise in antiken Texten nachzuweisen. Auch Long vertritt die These, dass insbesondere die stoische Philosophie den Menschen als Individuum begreife. In seinem Aufsatz Representation and the Self in Stoicism führt er als Beleg dafür die stoische Erkenntnistheorie an, für welche die subjektive Perspektive der ersten Person kennzeichnend sei9. Der im Jahr 2009 erschienene Sammelband Seneca and the Self10 vereint Aufsätze, welche sich aus philosophischer, literaturwissenschaftlicher und kulturgeschichtlicher Perspektive der Untersuchung des Selbst in Senecas Prosaschriften und Tragödien widmen. Diese Studie erhebt nicht, wie ausdrücklich betont wird, den Anspruch, ein einheitliches Konzept des Senecanischen Selbst zu eruieren11; sie verfolgt vielmehr das Ziel, die Rede vom Selbst bei Seneca stärker zu konturieren und zu schärfen. Die einzelnen Beiträge – im Folgenden gehe ich auf die im engeren Sinne philosophischen ein – sind durchaus heterogen: Long will in Senecas Texten einen Beleg für Individualität erkennen, wohingegen Gill und Inwood dies für unzutreffend halten. Während Long in Representation and the Self in Stoicism nicht auf Seneca eingeht, bezeichnet er ihn in Seneca and the Self: Why now? in Anlehnung an Foucault als ›Theoretiker des Selbstseins‹ (»theorist of selfhood«), was selbst dann zutreffe, wenn man seine Aussagen nicht in Beziehung zur stoischen Lehre
6 Vgl. Foucault (1986) 64. 7 Sorabji (2006) 20: »In asking about the self, I am not asking what it is to be a human being or higher animal in general, but about what it is to be an individual one«. 8 Vgl. Sorabji (2006) 20: »Each of them needs to relate to the world in terms of me and me again«. Vgl. auch den Abschnitt »Importance of the ›I‹-perspective« (ders., 22ff.). 9 Vgl. Long (1996) 265: »The self in this sense is something essentially individual – a uniquely positioned viewer and interlocutor, a being that has interior access of a kind that is not available to anyone else«. Die stoische Erkenntnistheorie lasse sich beschreiben (ebd. 266) »as a new focus on consciousness, on the individuality of the perceiving subject, as a fundamental feature of the mental«. 10 Bartsch/Wray (2009). 11 Bartsch/Wray (2009) 7.
Fragestellung und Forschungsüberblick
17
von der Göttlichkeit der menschlichen Vernunft oder zur Güterlehre setze12. Long bestimmt den Menschen als »unique centre of agency and consciousness«13 und als einheitliches Subjekt (»unitary subject«), und er überträgt ausdrücklich die neuzeitliche Definition der Person, die Taylor vornimmt, auf Senecas Texte14. Neben dieser subjektiven sei aber auch eine objektive Perspektive (»one objective and the other subjective«) wie z. B. Körperlichkeit, Geschlecht, Ethnie etc. von Bedeutung. Durch diese einander überschneidenden Perspektiven werde die Identität eines Individuums bestimmt15. Gill kritisiert m. E. zu Recht die Übertragung neuzeitlicher Konzepte von Individualität auf antike Texte16. Ihm geht es, anders als Long und Sorabji, um die Frage, mit welchen Begriffen und Konzepten der Mensch in antiken philosophischen Texten als moralisch verantwortlich handelnder beschrieben wird. Seine Studien sind also methodisch so ausgerichtet, dass sie diese Texte auf Begriffe und Vorstellungen befragen, die zu modernen analog sind17. In seinem Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration (s. u.) rekurriert Gill auf seine beiden Monographien Personality in Greek Epic, Tragedy, and Philosophy (1996) und The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought (2006). Darin vertritt er die These, dass die antike Philosophie den Menschen als Vernunftwesen18, das objektives Wissen generieren kann und als Teil einer Gemeinschaft verstanden wird, bestimmt19. Diese Sichtweise, welche er mit dem Begriffspaar ›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«20) beschreibt, 12 Vgl. Long (2009) 23: »Yet Seneca’s value as a theorist of selfhood is not vitiated, in my opinion, if we completely reject his Stoic commitment to the divinity of human rationality, for instance, or the indifference of all values except virtue and vice«. 13 Vgl. Long (2009) 26. 14 Vgl. Long (2009) 35 mit Rekurs auf Taylor (1985) 257–281: »[…] Taylor proposes the following sets of attributes for what we mean by a person: (a) an agent with purposes, desires, aversions, and so forth; (b) an agent with a sense of yourself as an agent capable of making plans for your life, holding values in virtue of which different plans seem better or worse, with the capacity to choose between them; (c) a unitary subject; (d) a self-interpreting animal, whose consciousness is determined by what it finds significant; (e) reflexivity and self-awareness; (f) linguistic capacity and disclosure in public space«. 15 Vgl. Long (2009) 25f.: »Perhaps the clearest approach to the concept of selfhood is to take it as a name for one’s individual and temporal identity from two distinct but necessarily overlapping perspectives – one objective and the other subjective«. 16 Vgl. Gill (1996) 424. 17 Vgl. Gill (2008b) 81: »Rather, my interest lies in locating ancient concepts that are analogous in function to those of the modern ›self‹ or ›person‹. This function, as just suggested, is that of identifying what matters about, or is essential to, the person as a psychological whole, or specifying what psychological capacities are criterial of full moral or social status«. 18 Vgl. Gill (1990) 8: »Furthermore, the criteria of normative human status in ancient philosophy were, typically, rationality and sociability«. Vgl. auch ders. (2006) Introduction und ebd. Kapitel 6. 19 Vgl. Gill (2006) 340. 20 Vgl. Gill (1996) Kapitel 6.4 und dort v. a. 427: »The approach implied is ›objectivist‹ in the
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Einleitung
erfolge aus der Perspektive der 3. Person und sei kennzeichnend für die gesamte antike Philosophie. Hingegen sei die als ›subjektiv-individuell‹ (»subjectiv-individual«) bezeichnete Sichtweise, die wesentlich auf die Perspektive der 1. Person abstelle, neuzeitlich und für die antike Philosophie nicht kennzeichnend21. Gill kommt zu dem Schluss, dass die antike Philosophie keineswegs über ein Konzept von Individualität verfügt, welches sich mit neuzeitlichen Aussagen deckt22. In seinem Aufsatz Seneca and Selfhood. Integration and Disintegration fragt Gill nach der Senecanischen Konzeption des Selbst. Vor dem Hintergrund der stoischen Psychologie untersucht er, wie Seneca den inneren Konflikt der Tragödienfiguren Medea und Phaedra darstellt. Er bezeichnet diesen als Konflikt zwischen einem tatsächlichen, affektgeleiteten Selbst (»actual self«) und einem idealen, vollkommenen Selbst (»natural self«)23, wobei letzteres durch die Vollendung der menschlichen Vernunft bestimmt sei. Die sittliche Entwicklung vom tatsächlichen zum vollkommenen Selbst beschreibt Gill als einen Prozess, auf den sich die Beschreibungskategorie ›objektiv-partizipierend‹ (»objectiveparticipant«) anwenden lasse24. Reydams-Schils nimmt in ihrer Monographie das Konzept des Selbst in der Römischen Stoa in den Blick und bestimmt dieses in Anlehnung an Gill mit dem Begriffspaar »objective-participant«, wobei sie den Fokus auf das Element »participant« legt25. Ziel ihrer Studie ist es nämlich aufzuzeigen, dass die Vertreter der römischen Stoa, also Seneca, Musonius Rufus, Epiktet und Marc Aurel, das Selbst sowohl unter soziologischen als auch unter ontologischen Gesichtspunkten als in größere Zusammenhänge eingebettet verstehen: Das Selbst sei also wesentlich dadurch bestimmt, dass es in soziale Beziehungen sowie die rationale Ordnung des Kosmos eingebunden sei26.
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sense that it assumes that there are objectively determinable (knowable) concepts of this type (such as being normatively ›human‹). It is objective-participant in that it assumes that the knowledge of such concepts depends on full and effective participation in interpersonal engagement and reflective debate«. Vgl. auch ebd. Kapitel 6.7. Vgl. Gill (2006) 338: »The use of subjectivity as a criterion of selfhood or personhood reflects the influence of Descartes’ move of taking the ›I‹, conceived as a self-conscious, unitary subject, as fundamental to our understanding of reality. […] The objective approach rejects the idea that there is a peculiarly private, first-personal sphere of experience to which the person as subject has privileged access«. Vgl. Gill (2006) 391. Vgl. Gill (2009) 73f.: »There is thus a continuing conflict between (what one might call) our ›natural self‹, that is, the capacity for full rationality that is constitutive of our nature as rational animals, and our ›actual self‹, which imperfectly realizes this capacity«. Vgl. Gill (2009) 77: »Also, this development, and the view of psychological experience associated with it, is conceived in strongly objectivist, indeed, in a sense, ›naturalist‹ terms, rather than giving a privileged status to the subjective, first-personal view«. Vgl. Reydams-Schils (2005) 37. Vgl. Reydams-Schils (2005) 17: »[…] the Roman Stoic self is […] fundamentally embedded.
Fragestellung und Forschungsüberblick
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Wie Gill, so wendet sich auch Inwood in seinem Aufsatz Seneca and Self Assertion gegen die Auffassung, dass sich in Senecas Schriften eine Innovation hinsichtlich des Selbst erkennen lasse. Nach Inwood generiere Seneca diesen Eindruck durch seine literarische Technik: Durch die Briefform, die zahlreichen Selbstzeugnisse sowie die Schilderung seiner Selbstprüfung bemühe er die Perspektive der 1. Person und erzeuge so den Eindruck gesteigerter Subjektivität27; seine Philosophie sei aber gegenüber der stoischen Tradition nicht innovativ28. Senecas Selbst sei nichts weiter als das Kunstprodukt seiner literarischen Tätigkeit29. Die Verwendung neuzeitlicher Begriffe wie ›Selbst‹ oder ›Individuum‹ zur Interpretation antiker Texte erscheint mir methodisch nicht sinnvoll. Denn indem Sorabji und Long die grundsätzliche Anwendbarkeit dieser Begriffe auf antike Texte postulieren, wird eine neuzeitliche und damit anachronistische Perspektive der Interpretation von vornherein festgelegt, welche Gefahr läuft, Aussagen antiker Autoren aus dem Bezugsrahmen ihrer jeweiligen philosophischen Ausrichtung herauszulösen. Insbesondere bei Sorabji findet sich kaum oder nur in unzureichendem Maß eine Rückbindung an antike philosophische Systeme, und die Formulierung Longs, dass Seneca auch ohne Rücksicht auf die stoische Philosophie als ›Theoretiker des Selbstseins‹30 gelten könne, zeugt m. E. von dieser äußert problematischen Methodik. Da ich also der Auffassung bin, dass sich neuzeitliche Begriffe wie ›individuell‹ oder ›Individuum‹ und die mit ihnen verbundenen (neuzeitlichen) Konzepte und Vorstellungen nicht auf antike Texte übertragen lassen, möchte ich auf die Verwendung dieser Termini verzichten. Wenngleich der methodische Ansatz von Long und Sorabji als fragwürdig bezeichnet werden muss, so zeigen ihre Studien doch, dass Seneca vom Menschen offensichtlich nicht bloß allgemein, d. h. als Gattungswesen spricht. Aus ihren Arbeiten geht hervor, dass Seneca auch die besonderen Eigenschaften eines einzelnen Menschen in den Blick nimmt, welche nicht durch die Vernunft als die Gattungsnatur bestimmt sind und durch die sich ein Mensch von einem anderen unterscheidet.
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On the ontological level, this embeddedness indicates that the self is anchored both in a body and in a rational order that, the Stoics would claim, structures all of reality as ultimately proceeding from an immanent divine principle. The social counterpart to this ontological aspect indicates that the self is intrinsically connected to others in a network of relationships that each has its specific claims and standards of behaviour«. Vgl. Inwood (2009) 56–60. Vgl. Inwood (2009) 46: »I would like to suggest that despite Foucault’s claims even Seneca’s conception of the self doesn’t involve anything more substantial or robust in the way of mental ontology«. Vgl. Inwood (2009) 63. Vgl. Anm. 12.
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Einleitung
Anstelle des neuzeitlichen Terminus ›Individuum‹ verwende ich den Begriff ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, der als Antonym zur Bezeichnung ›Gattungswesen‹ fungiert. Während der Begriff ›Gattungswesen‹ all diejenigen Merkmale bezeichnet, die allen Vertretern einer Gattung gemeinsam sein müssen, erfasst der Begriff ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹ – beide Begriff verwende ich synonym – einen Vertreter dieser Gattung in seiner Singularität und bezeichnet diejenigen Eigenschaften, die bei den einzelnen Vertretern der Gattung ›Mensch‹ in unterschiedlicher Ausprägung vorgefundenen werden können. Im Unterschied zum neuzeitlichen Begriff ›Individuum‹, der in Senecas Texten weder eine terminologische31 noch eine inhaltliche Entsprechung hat, weisen die Termini ›der Einzelne‹ oder ›der Besondere‹, mit denen sich die lateinischen Ausdrücke proprius, singulus und quisque übersetzen lassen, eine solche Entsprechung auf. Da die Begriffe proprius (›eigentümlich‹/›besonders‹) und universus (›allgemein‹) in der stoischen Philosophie als Attribute zum Nomen natura verwendet werden – ein prominentes Zeugnis ist die quattuorpersonae-Theorie in Cic. off. 1, 107–11632 –, scheint mir die Rede vom Einzelnen und dessen besonderer natura und die Frage, inwieweit diese neben der Vernunft als der allen gemeinsamen universa natura als tugendrelevant beschrieben wird, legitim. Aufbauend auf dem gerade dargelegten Forschungsstand, untersucht die vorliegende Arbeit Senecas Texte stets mit Rekurs auf die stoische Philosophie. Dabei bildet der Begriff natura, dem in dieser philosophischen Schule eine zentrale Bedeutung für die Anthropologie und Ethik zukommt, einen geeigneten Ausgangpunkt für die Frage nach Senecas Auffassung vom Menschen und dessen sittlicher Entwicklung. Die vorliegende Studie soll deutlich machen, dass Cicero und Seneca – anders als Ilsetraut und Pierre Hadot behaupten – den sittlichen Fortschritt (und das ethische Ziel) nicht nur allgemein über die Vernunftnatur des Menschen, sondern auch durch die besonderen angeborenen Eigenschaften eines Menschen – seine besondere natura – bestimmen und die moralische Entwicklung so als den Weg des Einzelnen beschreiben. Die Kenntnis der natura des Einzelnen und der 31 Seneca verwendet den Begriff indivuduus (›ungeteilt‹) in seinen Prosaschriften nur vier Mal, wobei er ihn als physikalischen Terminus gebraucht (vgl. dial. 1 [= De providentia], 5, 9 und dial. 8 [= De otio], 5, 6) oder ihn als Attribut zu Abstrakta verwendet (vgl. epist. 67, 10 und epist. 73, 8); niemals wird individuus auf Menschen bezogen. Cicero übersetzt in fin. 1, 17 den physikalischen Begriff %tola, der bei den Atomisten die kleinsten, nicht weiter teilbaren Einheiten bezeichnet, durch individua; zu den Begriffen ›Individuum‹ und ›Individualität‹ in der Antike und Frühscholastik vgl. Kobusch (1976) 300–304. 32 Mit Ciceros quattuor-personae-Theorie in Cic. off. 1, 107–116 befasst sich Kapitel 2 ausführlich.
Methode und Aufbau
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vernunftgeleitete Umgang mit ihr stellen meiner Ansicht nach gerade keine tugendirrelevante Kontextbedingung dar, sondern werden in den Texten als condicio sine qua non für das Erreichen der Tugend beschrieben. Senecas Philosophica zeigen, wie im Verlauf der Arbeit verdeutlicht werden soll, dass das richtige Urteil, in dem der stoischen Philosophie zufolge die Tugend besteht, nur mit Rücksicht auf die natura des Einzelnen gefällt werden kann und diese somit als notwendige Bedingung der Tugend ausgewiesen wird. In diesem Zusammenhang soll auch aufgezeigt werden, dass Senecas Philosophieren über eine bloße Adaptation stoischer Dogmen an praktische Bedürfnisse hinausgeht; die allgemeinen stoischen Lehrsätze werden von ihm nicht einfach auf konkrete Situationen ›heruntergebrochen‹. Senecas Ausführungen zeigen vielmehr, dass die stoischen Dogmen und insbesondere die stoische Lehre von der Zweiseitigkeit der menschlichen natura ein breites Spektrum an unterschiedlichen tugendrelevanten Handlungsmöglichkeiten zulassen; dieses Differenzierungspotential wird von ihm mit Blick auf die praktische Philosophie ausgeleuchtet. Da er den sittlichen Fortschritt und das ethische Ziel als den Weg des Einzelnen beschreibt, werde ich Gills Junktur ›objektiv-partizipierend‹ (»objective-participant«) abzuwandeln suchen in ›objektiv-vereinzelt‹.
Methode und Aufbau Die vorliegende Arbeit versteht sich dezidiert als philologische Studie. Aus diesem Grund dienen ausgewählte lateinische Textpassagen aus Senecas Prosaschriften, die zusammen mit ihrer deutschen Übersetzung zitiert werden, als Ausgangs- und stetiger Bezugspunkt der Interpretation. Durch die Methode des close-reading werden die lateinischen Texte einer genauen sprachlichen und inhaltlichen Analyse unterzogen, deren Ergebnisse für die Interpretation fruchtbar gemacht werden sollen. Die Auswahl der Textpassagen konzentriert sich nicht nur auf diejenigen Stellen der Senecanischen Prosaschriften, in denen expressis verbis von der menschlichen natura die Rede ist, sondern berücksichtigt auch Passagen, in denen ohne explizite Verwendung dieses Terminus Senecas Konzept der menschlichen natura verhandelt wird. In den ersten drei Kapiteln steht neben einer Analyse des Begriffs Natur (rerum natura) die Frage, welchen Begriff der menschlichen natura Seneca in seinen Prosaschriften verwendet, im Zentrum der Untersuchung; diese wird im Zusammenhang mit der philosophischen Tradition, in die er sich stellt, durchgeführt. Damit fungieren die Kapitel 1–3 als Grundlagenkapitel und bilden den ersten Teil der vorliegenden Arbeit. Darauf aufbauend wird im zweiten Teil, den die Kapitel 4–6 umfassen, die Bedeutung der menschlichen natura für
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Einleitung
die praktische Ethik in den Blick genommen; hier soll gezeigt werden, wie Seneca seine pädagogischen Bemühungen auf den Einzelnen ausrichtet. Der dritte Teil der Studie (Kapitel 7) nimmt die Beziehung von Form und Inhalt der Epistulae morales in den Blick und eruiert, wie Seneca die Briefform für seine erzieherischen Bemühungen funktionalisiert. Im vierten und letzten Teil werden die in den ersten drei Teilen erzielten Ergebnisse überblicksartig zusammengefasst. Die Fragestellung der einzelnen Kapitel lässt sich folgendermaßen skizzieren: Im ersten Kapitel erfolgt eine Untersuchung des Begriffs der Natur (rerum natura). Dabei wird gefragt, in welchem Verhältnis Naturwissenschaft und Ethik zueinander stehen und welche anthropologischen Bestimmungen Seneca aus naturwissenschaftlichen Aussagen ableitet. In diesem Zusammenhang soll geklärt werden, ob und inwieweit er die rerum natura als Maßstab für seine Ethik begreift. Das zweite Kapitel befasst sich mit der Untersuchung der menschlichen natura. Allerdings geht es noch nicht um Senecas Konzeption derselben, sondern um die Frage, wie die stoische Tradition, in die Seneca sich stellt, die natura des Menschen beschreibt. Ciceros Ausführungen, die er im Rahmen der quattuorpersonae-Theorie über die menschliche natura macht und die in der Forschung wiederholt als Beleg für eine Individualisierungstendenz in der stoischen Philosophie herangezogen werden, sind Gegenstand der Analyse. Vor diesem Hintergrund können in den darauffolgenden Kapiteln die Spezifika des Senecanischen Naturbegriffs, die sich einerseits aus der Anknüpfung an die quattuor-perosonae-Theorie, andererseits aus deren Modifikation ergeben, deutlich gemacht werden. Kapitel 3 wendet sich wieder Seneca zu und beabsichtigt zu zeigen, dass er mit dem Begriff der menschlichen natura Aussagen aus der quattuor-personaeTheorie aufgreift, indem er über den Naturbegriff den Menschen sowohl als allgemeinen als auch als besonderen erfasst. Es soll aber auch deutlich gemacht werden, dass Seneca Ciceros Aussagen über die menschliche natura insofern modifiziert, als er den Bezug zwischen der natura und den gesellschaftlichen Normen anders fasst als Cicero. Mit dem dritten Kapitel wird der Grundlagenteil abgeschlossen. Kapitel 4, welches den zweiten Teil der Arbeit einleitet, nimmt den Menschen in seinem sozialen Umfeld in den Blick und befasst sich mit Senecas Begriff der sozialen Rolle. Dabei wird mit Rekurs auf die quattuor-personae-Theorie gezeigt, welche sozialen Faktoren zusammen mit der natura des Menschen dessen Lebensweg und sittliche Entwicklung bestimmen und welcher Zusammenhang zwischen sozialer Rolle, menschlicher natura und Identität besteht. Insbesondere Senecas Aussagen über die Bedeutung der natura für gelungenes Rollen-
Bemerkungen zur Zitation
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handeln lassen Modifikationen der quattuor-personae-Theorie erkennen und machen die Eigentümlichkeiten seines Naturbegriffs erneut deutlich. Im 5. und 6. Kapitel wende ich mich den Methoden der Erziehung bzw. Selbsterziehung zu. Im Zentrum von Kapitel 5 stehen die Untersuchung von Senecas Verwendung von exempla sowie die Frage nach deren pädagogischer Funktion. Dabei soll aufgezeigt werden, dass gerade Senecas Theorie der richtigen imitatio von Vorbildern von einem auf den Einzelnen ausgerichteten Erziehungskonzept zeugt. Kapitel 6 untersucht die Methode der Selbstprüfung als Mittel der Selbsterziehung. Der Fokus der Analyse richtet sich auf die Frage, welche Tragweite Seneca der menschlichen Erfahrung für die moralische Entwicklung beimisst und welche Bedeutung er dem aus der Selbstprüfung hervorgehenden Wissen für das Handeln zuschreibt. Kapitel 7, das den dritten Teil der Studie umfasst, nimmt eine Sonderstellung ein: Es fragt nach der Bedeutung, welche die Briefform für die Vermittlung der stoischen Philosophie in ihrer Senecanischen Ausprägung haben könnte und nimmt so die Beziehung zwischen Form und Inhalt in den Blick. Im Zusammenhang mit einer Untersuchung des Senecanischen Freundschaftsbegriffs, der für das Verständnis des Absender-Adressaten-Verhältnisses zentral ist, wird auch nach der literarischen und philosophischen Funktion des Adressaten Lucilius gefragt. Die Ausführungen dieses letzten Kapitels zielen auf den Nachweis, dass Seneca über die Form der Epistel die Aussage transportiert, dass Erziehung eine auf den Einzelnen, auf ein konkretes ›Du‹ ausgerichtete Tätigkeit sei. Abschließend folgt in Teil IV eine Zusammenfassung der Ergebnisse.
Bemerkungen zur Zitation Die Zitation von Senecas Epistulae morales und Dialogi richtet sich nach den kritischen Ausgaben von Reynolds, die Naturales quaestiones werden nach der Ausgabe von Hine zitiert. Die aus Ciceros De officiis entnommenen Textstellen werden gemäß der Ausgabe von Winterbottom wiedergegeben. Bisweilen habe ich die Interpunktion geändert; ebenso wird die Schreibweise vereinheitlicht (v wird durchgehend mit v statt mit u wiedergegeben). Die Übersetzung der lateinischen Textpassagen erfolgt in Anlehnung an die im Literaturverzeichnis angeführten Übersetzungen, die ich jedoch größtenteils abgeändert habe. Antike Autoren und Werke werden nach dem Abkürzungsverzeichnis in Der Neue Pauly zitiert; die bibliographischen Abkürzungen der Forschungsliteratur richten sich nach den Angaben in der Ann¦e philologique.
Teil I: Der Senecanische Naturbegriff und seine Grundlagen
Kapitel 1: Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
Vorbemerkung Kennzeichnend für die stoische Philosophie ist, dass ihre Vertreter von Anfang den engen Zusammenhang von Physik und Ethik herausstellen und den Erwerb ethisch relevanten Wissens an die Naturforschung binden33. Dies tut auch Seneca, wovon einige Passagen der Naturales quaestiones und der Epistulae morales zeugen. Anhand einer Analyse dieser Textpassagen soll in diesem Kapitel herausgearbeitet werden, wie er das Verhältnis von Physik und Ethik beschreibt und welche Bedeutung er der Naturforschung für das Generieren sittlich relevanten Wissens beimisst. Ziel ist der Nachweis, dass Seneca nicht die rerum natura, sondern die menschliche natura zum Referenzpunkt des Handelns macht. Zunächst wird in Kapitel 1.1 untersucht, welchen Begriff von Natur – Seneca gebraucht hierfür die Ausdrücke natura, rerum natura und natura rerum34 – er in seinen naturwissenschaftlichen Aussagen verwendet. Im Anschluss daran soll in Kapitel 1.2 gezeigt werden, dass Seneca die Erkenntnis Gottes als des obersten Prinzips als Ziel der Naturforschung ausweist und daraus ein ethisch relevantes Wissen ableitet. Vor diesem Hintergrund wird in Kapitel 1.3 die Art des aus der Naturforschung hervorgehenden Wissens genauer untersucht, wobei gezeigt werden soll, dass dieses für die Frage nach dem konkreten Handeln Seneca zufolge auskunftslos ist. In diesem Zusammanhang soll in Kapitel 1.4 eruiert werden, wie Seneca das Verhältnis von menschlicher natura und Natur (rerum 33 Vgl. Plut. de stoic. rep.: 1035c: oq c±q 5stim erqe?m t/r dijaios}mgr %kkgm !qwµm oqd’ %kkgm c]mesim C tµm 1j toO Di¹r ja· tµm 1j t/r joim/r v}seyr· 1mteOhem c±q de? p÷m t¹ toioOtom tµm !qwµm 5weim, eQ l]kkolem aqh_r ti 1qe?m peq· !cah_m ja· jaj_m. 34 Zu Verwendung und Wortstellung der Begriffe natura, rerum natura, natura rerum nicht nur bei Seneca vgl. Pellicer (1966) 232–239. Er stellt die präzisierende Funktion des Attributs rerum heraus, welche anzeige, dass mit natura die ›Universalnatur‹ (»nature universelle«, 234) gemeint sei. Ein Bedeutungsunterschied zwischen natura, natura rerum bzw. rerum natura lasse sich nicht erkennen (ebd. 237).
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Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
natura) bestimmt; ebenso möchte ich plausibilisieren, dass sich in seinen Philosophica eine Fokusverschiebung von der contemplatio caeli auf die contemplatio sui erkennen lässt. Der Untersuchung werden v. a. Textpassagen aus den Naturales quaestiones sowie den sog. »Systemepisteln«35, welche die Briefe 58, 65 und 66 umfassen, zugrunde gelegt. Insbesondere in der Vorrede des ersten Buchs der Naturales quaestiones36 sowie in der inhaltlich sehr ähnlichen epist. 65 spricht Seneca ausführlich über die Aufgabe der Naturforschung (inspectio rerum naturae) und deren Bedeutung für die Ethik, wobei seine Aussagen stark von einem erkenntnistheoretischen Interesse bestimmt sind. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen den ethischen Aussagen (v. a. in den Vorreden und Epilogen) und den rein naturwissenschaftlichen Ausführungen, die den Großteil der Naturales quaestiones ausmachen, wird in der Forschung seit längerem diskutiert. Während Stahl der Ansicht ist, dass die Naturphilosophie, im Dienst der Ethik stehend, auf eine Verbesserung der Seelenhaltung des Menschen ausgerichtet sei37, vertritt Dihle die Auffassung, dass die moralphilosophischen Partien keinen engeren Bezug zum naturwissenschaftlichen Inhalt des Werkes erkennen ließen38 ; auch Gaulys Ausführungen weisen in diese Richtung39. In den hier zu untersuchenden Textpassagen (nat. 1 praef. sowie epist. 65) operiert Seneca stark mit platonischen Philosophemen40. Damit sind Aussagen und Motive gemeint, die auf Äußerungen in Platons Dialogen anspielen, wie z. B. der Gegensatz eines himmlischen und eines irdischen Bereichs oder die Vorstellung einer an den Körper gefesselten Seele. In dieser Redeweise sieht ein Teil der Forschung einen Widerspruch zu der in Senecas Schriften prominent behandelten stoischen Philosophie und bezeichnet diese Aussagen als unorthodox41 bzw. zieht sie als Zeugnisse für einen »Eklektizismus«42 oder »Synkretis-
Küppers (1990) 68. Vgl. auch Anm. 88. Zur Buchfolge der nat. vgl. Gauly (2004) 53–67. Vgl. Stahl (1960) und dies. (1987) 267f. und 294. Vgl. Dihle (1990) 88. Gauly (2004) stellt im 3. Kapitel seiner Studie heraus, dass es in den moralphilosophischen Partien eigentlich um eine radikale Abkehr von der Welt des römischen Prinzipats und nicht um ethische Aussagen gehe. Die rein naturwissenschaftlichen Ausführungen in den nat. sieht Gauly als Bild für die aktuellen politischen Verhältnisse, wie er in Kapitel 5 herausarbeitet. 40 Vgl. Gauly (2004) 166 und Stahl (1987) 283. 41 Vgl. Rist (1989) 2010, der epist. 58 und 65 als Abweichungen vom traditionellen Stoizismus versteht und hervorhebt: »We know, of course, that Seneca’s ›unorthodoxies‹ tend towards Platonism […]«. Rist kommt zu dem Schluss (ebd. 2011): »He should be accounted more or less orthodox (indeed in some ways ultra-orthodox) […]«. Vgl. auch Dihle (1990) 90, der von einem »wenig orthodoxen Umgang mit der stoischen Lehrtradition« spricht. 42 Vgl. Stahl (1960) 222 und dies. (1987) 304.
35 36 37 38 39
Vorbemerkung
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mus«43 heran. Besonders der Gottesbegriff lasse sich nicht mehr mit stoischen Lehrsätzen vereinbaren, da Seneca Gott nicht mehr als sinnlich wahrnehmbar, sondern als transzendent und intelligibel bezeichne, ihn von einem irdischen Bereich abhebe und eine Scheidung von deus und natura vornehme44. Die dualistische Sichtweise sei mit dem stoischen Monismus und Materialismus unvereinbar45. Diese Auffassung wird allerdings nicht von Kullmann46, Wildberger47 und Inwood48 geteilt; sie äußern sich hinsichtlich der o. g. Widersprüche weitaus zurückhaltender bzw. erweisen diese als unzutreffend. Es kann nicht bestritten werden, dass die Ausführungen von epist. 65 und nat. 1 praef. in sprachlicher Hinsicht stark platonisch gefärbt sind. Allerdings soll der Schluss, den die o. g. Forscher und Forscherinnen von einer unorthodoxen Ausdrucksweise auf einen unorthodoxen Inhalt ziehen, als unzutreffend erwiesen werden. Zu diesem Zweck wird hier die Funktion49 der Verwendungsweise von platonischen Motiven und Vorstellungen sowie der metaphorische Charakter dieser Redeweise untersucht; hierüber geben die Begriffe ›Synkretismus‹ und ›Eklektizismus‹ nämlich keinen Aufschluss50. In diesem Zusammenhang möchte ich herausarbeiten, dass Senecas Aussagen keinen platonischen Dualismus artikulieren, er also keine ontologische Differenz zwischen einem irdischen und einem himmlischen Bereich annimmt. Des Weiteren soll im Verlauf dieses Kapitels plausibel gemacht werden, dass die platonisch gefärbte Redeweise nicht auf epist. 65 und nat. 1 praef. beschränkt ist, sondern
43 Vgl. Stahl (1987) 284; Küppers (1996) 71 bezeichnet das philosophische Werk Senecas als synkretistisch; Gersh (1986) 194 zu epist. 65: »A classic piece of Platonic, Aristotelian, and Stoic syncretism«. 44 Vgl. Donini (1979) 209–242 (v. a. 210–212 und 221–225). Rosenmeyer (2000) 109 zufolge komme in den Praefationes die natura noch als rational lenkende Instanz in den Blick, im Rest des Werkes sei dies nicht der Fall. Rosenmeyer kommt zu dem Schluss (ebd. 112): »The uncoupling of the gods from nature, and the idea that nature can be known for its uses as well as its visual magnificence, is symptomatic: […] the Stoic deification of Natura is mostly dropped from sight«. 45 Vgl. Gauly (2004) 35: »[…] wir [haben] es bei den Platonismen im Spätwerk Senecas anders als bei den Epikureismen mit einem systemwidrigen Nebeneinander verschiedener Philosopheme zu tun«. Weitaus zurückhaltender bezüglich der ›unstoischen‹ Formulierungen Senecas äußert sich Kullmann (2005) 144: »Doch erscheint es mir nicht möglich, hier etwas prinzipiell Unstoisches zu entdecken«. 46 Vgl. Kullmann (2005) 144. 47 Vgl. Wildberger (2006) 3–5; sie zieht die Möglichkeit in Betracht, dass stoische Gedanken in bildhafter Sprache ausgedrückt werden, indem sich Seneca einer platonisierenden Redeweise bedient (ebd. 223). 48 Vgl. Inwood (2007a) 136–155. 49 Vgl. Donini (1988) 33: »When we acknowledge that a doctrine is composite, we can hardly avoid asking ourselves how and why it was put together«. 50 So auch Gauly (2004) 34 und 166f. im Anschluss an Donini (1988) 33.
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Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
sich in einer Vielzahl der Briefe findet; sie nimmt keine Sonderstellung im Corpus der Prosaschriften ein und kann so als spezifische Senecanisch gelten.
1.1
Sind Natur und Gott identisch?
Seneca verwendet die Begriffe ›Natur‹ und ›Gott‹ nicht in exakt derselben Bedeutung. Dies lässt sich der Textstelle benef. 4, 7, 1–8, 2 entnehmen. Wenngleich die Schrift De beneficiis nicht zu den Dialogi gehört, die in der vorliegenden Studie neben den Episteln einer eingehenden Untersuchung unterzogen werden, so ist die Passage benef. 4, 7, 1–8, 2 für die Frage nach dem Verhältnis von deus und natura aufschlussreich und soll deshalb kurz analysiert werden. »Natura« inquit »haec mihi praestat.« Non intellegis te, cum hoc dicis, mutare nomen deo? Quid enim aliud est natura quam deus et divina ratio toti mundo partibusque eius inserta? Quotiens voles, tibi licet aliter hunc auctorem rerum nostrarum conpellare. […] 8, 2 […] Ergo nihil agis, ingratissime mortalium, qui te negas deo debere, sed naturae, quia nec natura sine deo est, nec deus sine natura, sed idem est utrumque, distat officio. »Die Natur«, sagt er, »gewährt mir das.« Siehst du nicht ein, dass du, indem du dies sagst, Gott nur einen anderen Namen gibst? Was ist Gott nämlich anderes als die Natur und die göttliche Vernunft, die der ganzen Welt und ihren Teilen eingefügt ist? Sooft du willst, kannst du diesen Urheber unserer Welt anders anrufen. […] 8, 2 […] Folglich bewirkst du nichts, Undankbarster der Menschen, der du behauptest, nicht Gott, sondern der Natur etwas schuldig zu sein, weil weder die Natur ohne Gott ist, noch Gott ohne die Natur, sondern beides dasselbe ist und es sich nur in der Wirkweise unterscheidet.51
In dieser Textstelle geht es darum, dem Interlokutor, der deus und natura als voneinander verschieden betrachtet und behauptet, er sei nur der Natur, nicht aber Gott zu Dank verpflichtet, die Untertrennbarkeit von deus und natura aufzuzeigen, um so dessen Einwand als unhaltbar zu erweisen52. Seneca behauptet, dass die natura nichts anderes sei als Gott und die göttliche Vernunft (quid enim aliud est natura quam deus/idem est utrumque). Sie sei sowohl dem ganzen Kosmos (mundus)53 als auch seinen Teilen immanent, wörtlich: eingefügt (inserta). Der Begriff natura bezeichnet also keine von Gott unabhängige Instanz, sondern stellt nur eine andere Bezeichnung für Gott dar, 51 Übersetzung in Anlehnung an Rosenbach (1989). 52 Vgl. zu dieser Stelle sehr ähnlich Wildberger (2006) 35f. 53 Zum Begriff ›Kosmos‹ (mundus) vgl. Wildberger (2006) 3: Für die Stoiker bestehe das Universum aus Kosmos (mundus) und Vakuum, wobei der Kosmos als ein ununterbrochenes Kontinuum aus Gott und Materie angesehen werde. Allerdings verwende Seneca (vgl. dies. Anm. 93) den Begriff mundus bisweilen auch, um die differenzierte Welt zu bezeichnen.
Sind Natur und Gott identisch?
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was sich der Aussage entnehmen lässt, dass die Begriffe natura und deus austauschbar seien (non intellegis te, cum hoc dicis, mutare nomen deo?). Der Interlokutor soll also verstehen, dass er durch die Annahme einer Verschiedenheit von natura und deus nicht eine Position vertreten kann, die es ihm erlaubt, sich aus seiner Dankespflicht gegenüber Gott zurückzuziehen54. Wenngleich Seneca hier von deus und natura sagt, sie seien dasselbe (idem est utrumque), so kann streng genommen aber dennoch nicht von einer Identität die Rede sein, denn im letzten Satz wird deutlich, dass deus und natura sich nicht in jeder Hinsicht gleichen; zwischen ihnen besteht ein Unterschied hinsichtlich des officium. Was mit der Aussage distat officio gemeint sein könnte, erklärt Seneca allerdings nicht. Dies geht aus dem folgenden Text (nat. 2, 45, 1–3) hervor, in dem er auf den Unterschied zwischen deus und natura eingeht. Dort wird ein Überblick über die verschiedenen Bezeichnungen Gottes und seiner unterschiedlichen Aktivitäten gegeben: 45 (1) Ne hoc quidem crediderunt Iovem, qualem in Capitolio et in ceteris aedibus colimus, mittere manu sua fulmina; sed eundem quem nos Iovem intellegunt, rectorem custodemque universi, animum ac spiritum mundi, operis huius dominum et artificem, cui nomen omne conveniet. (2) Vis illum fatum vocare, non errabis: hic est ex quo suspensa sunt omnia, causa causarum. Vis illum providentiam dicere, recto dic: is est enim cuius consilio huic mundo providetur, ut inoffensus exeat et actus suos explicet. Vis illum naturam vocare, non peccabis: hic est ex quo nata sunt omnia, cuius spiritu vivimus. (3) Vis illum vocare mundum, non falleris: ipse enim est hoc quod vides totum, partibus suis inditus, et se sustinens et sua. 45 (1) Auch dies glaubten sie nicht, dass Jupiter, wie wir ihn im Kapitol und in den übrigen Tempeln verehren, mit eigener Hand Blitze schleudere, sondern sie stellen sich Jupiter genauso wie wir vor, nämlich als Lenker und Hüter des Alls, als Seele und Lebensatem des Kosmos, als Herrn und Baumeister dieses Kunstwerks, auf den jeder Name passen wird. (2) Willst du ihn Schicksal nennen? Du wirst dich nicht irren: er ist es, von dem alles abhängt, Ursache der Ursachen. Willst du ihn Vorsehung nennen, so hast du (auch) recht, ist er es doch, nach dessen Rat für diese Welt55 gesorgt wird, damit sie ohne Beeinträchtigung ihren Lauf nimmt und ihre Tätigkeiten erfüllt. Willst du ihn Natur nennen? Du wirst nicht fehlgehen: ist er es doch, aus dem alles entstanden ist, durch dessen Lebensatem wir leben. (3) Willst du ihn Welt nennen? Du wirst dich nicht täuschen: denn er selbst ist das Ganze, das du siehst, und er ist seinen Teilen eingegeben und erhält sich und das Seine.56
Hier ist eine Auseinandersetzung mit traditionellen religiösen Vorstellungen erkennbar, welche das Ziel verfolgt, die stoische Auffassung, wer Jupiter sei, 54 So auch Wildberger (2006) 35f. zur Stelle. 55 Vgl. Anm. 53. 56 Alle Übersetzungen von Sen. nat. lehnen sich an die Übersetzung von O. und E. Schönberger (1998) an.
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Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
darzulegen. Dabei unterstellt Seneca, dass auch die Anhänger dieser Tradition Jupiter nicht als ein anthropomorphes, Blitze schleuderndes Wesen angesehen57, sondern im Grunde die stoische Auffassung geteilt hätten58. Gott wird hier als der eine Träger vieler unterschiedlicher Eigenschaften benannt, die Seneca erst anführt und dann erläutert, wie z. B. »Lenker und Hüter des Alls« oder »Lebensatem des Kosmos« usw. Er macht deutlich, dass alles auf Gott zurückgeht und durch ihn bestimmt ist (ex quo suspensa sunt o m n i a / ex quo nata sunt o m n i a / est hoc quod vides t o t u m ). Die Rede von seinen unterschiedlichen Wirkweisen besagt hier nicht, dass Gott etwa zu einem Teil providentia, zu einem anderen Teil natura usw. sei; Gott setzt sich nicht aus diesen ›Teilen‹ zusammen. Seneca macht hier vielmehr deutlich, dass Gott nicht in jeder Hinsicht natura oder mundus ist: Er ist natura, sofern er die Dinge hervorbringt; sofern er sich als geordnete Erscheinungswelt zeigt, ist er mundus59. Aus dem Text geht also hervor, dass die natura nur eine von mehreren Wirkweisen Gottes ist. Dies scheint mir auch in der oben angeführten Stelle benef. 4, 7, 1–8, 2 implizit angesprochen zu sein, wo Seneca betont, dass hinsichtlich des officium ein Unterschied bestehe (idem est utrumque, distat officio). Gott kann als natura, also als Instanz des Hervorbringens60 wirken, aber auch auf andere Weise tätig sein. Seneca zufolge lässt sich deus also nicht auf natura, die nur eine von vielen Wirkweisen Gottes darstellt, reduzieren. Gott wird also als das höchste Prinzip dargestellt. Er ist natura nicht in jeder, sondern nur in einer bestimmten Hinsicht. Seneca unterscheidet also durchaus deus und natura, von einem ontologischen Dualismus zu sprechen ginge aber zu weit.
1.2
Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung
In den nachstehenden Texten weist Seneca Gott als letzten Gegenstand menschlicher Erkenntnis aus. Die Einsicht in Gott als das erste Prinzip wird von ihm als Ziel der Naturforschung benannt und als für die Ethik relevant ausgewiesen. In der Vorrede zu Buch 1 der Naturales quaestiones wird eine Zweiteilung der Philosophie unternommen, bei der die Logik, welche in epist. 89 als dritter Teil der Philosophie bezeichnet wird61, unerwähnt bleibt: Derselbe Unterschied, der zwischen der Philosophie und den übrigen Wissenschaften bestehe, sei auch in 57 So auch Wildberger (2006) 37 zur Stelle. 58 Zur Entmythologisierung der Theologie in der Stoa vgl. Bayera/Peters (1998) 1081f. 59 Indem Seneca hier die sinnlich wahrnehmbare Seite des mundus herausstellt (quod vides), bezeichnet er mit dem Begriff mundus die Gesamtheit der geordneten Erscheinungswelt. 60 Als »puissance de g¦n¦ration«, so Pellicer (1966) 71. 61 Vgl. epist. 89, 9.
Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung
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der Philosophie selbst erkennbar, und zwar zwischen dem Teil, der sich auf die Götter, und demjenigen, der sich auf die Menschen beziehe62. Damit werden Physik und Ethik benannt, wobei erstere im engeren Sinn als Theologie erscheint. Im Anschluss daran wird eine Hierarchisierung dieser beiden Teile vorgenommen, bei der die Theologie, entsprechend der Erhabenheit Gottes über den Menschen, den höheren Rang einnimmt63. Seneca erklärt dies damit, dass sich die Theologie nicht auf den Bereich des Augenfälligen beschränke, d. h. sich nicht wie die Ethik nur auf einen innerweltlichen Bereich beziehe, sondern diesen übersteige und das erforsche, was der sinnlichen Wahrnehmung unzugänglich sei (quod extra conspectum natura posuisset). Damit erscheint der Gegenstand der Theologie nur mit dem Denken erfassbar. Im Anschluss an diese Ausführungen geht er näher auf das Gebiet der Ethik und der Theologie ein64 : (2) Denique tantum inter duas interest quantum inter deum et hominem: altera docet, quid in terris agendum sit, altera, quid agatur in caelo, altera errores nostros discutit et lumen admovet quo discernantur ambigua vitae, altera multum supra hanc in qua volutamur caliginem excedit, et e tenebris ereptos perducit illo unde lucet. (2) Schließlich ist der Unterschied zwischen beiden (Teilen) so groß wie derjenige zwischen Gott und Mensch: Der eine lehrt, wie man auf Erden handeln muss, der andere, was im Himmel geschieht; der eine zerstreut unsere Irrtümer und bringt Licht, um die Zweifelsfragen des Lebens zu entscheiden; der andere steigt hoch über dieses Dunkel, in dem wir umherirren, hinauf, er entreißt uns der Finsternis und führt uns dorthin, von wo es leuchtet.
Indem Seneca hier mit der Zweiteilung Ethik – Theologie operiert, kann er auch mit dem Gegensatz Mensch – Gott arbeiten, der durch das entsprechende Gegensatzpaar terra – caelum und caligo – lumen weitergeführt wird. Die Redeweise in der Praefatio ist von Beginn an antithetisch geprägt und bestimmt deren weiteren Verlauf. Daher verwundert es nicht, dass Seneca zu Beginn seiner Ausführungen die Logik auslässt, würde sie die Antithese Himmel – Erde, in die die Zweiteilung Theologie – Ethik mündet und die als Leitmotiv65 der Praefatio fungiert, als dritter Teil der Philosophie nur stören66. Dem irdischen Bereich werden hier die errores und die ambigua vitae zuge62 Sen. nat. 1 praef. 1: Quantum inter philosophiam interest, Lucili virorum optime, et ceteras artes, tantum interesse existimo in ipsa philosophia inter illam partem quae ad homines et hanc quae ad deos pertinet. 63 Sen. nat. 1 praef. 1f.: altior est haec et animosior; multum permisit sibi; non fuit oculis contenta: maius esse quiddam suspicata est ac pulchrius quod extra conspectum natura posuisset. (2) Denique tantum inter duas interest quantum inter deum et hominem. 64 Sen. nat. 1 praef. 2. 65 Vgl. Gauly (2004) 165. 66 Wenn Rosenmeyer (2000) 107 die Auslassung der Logik als »a peculiar but ultimately significant paradox« bezeichnet, so verkennt er die Funktion dieser Zweiteilung.
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Seneca über die Bedeutung der Naturforschung für die Ethik
ordnet; außerdem wird er als Dunkelheit (caliginem/tenebris) bezeichnet, in welcher der Mensch hin- und hergerissen wird (volutamur), wodurch dieser Bereich negativ qualifiziert wird. Der göttliche Bereich hingegen erscheint als gänzlich frei von diesen Dingen und wird als Lichtquelle (unde lucet) beschrieben, von der die Ethik Gebrauch macht, um so Licht ins irdische Dunkel zu bringen (lumen admovet, quo discernantur). Der irdische Bereich verfügt also nicht über eine eigene Lichtquelle. Seneca sagt dies zwar nicht expressis verbis, doch muss der Leser schließen, dass der himmlische Bereich als Gegensatz des irdischen frei ist von Irrtum und jeglicher Unsicherheit, wodurch er e contrario als Ort des Wissens erscheint. Durch die Aussage unde lucet wird die Physik bzw. Theologie als Wissensquelle für die Ethik ausgewiesen. Aus dem Text geht also hervor, dass erst im Licht dieses Wissens das Dunkel des Nichtwissens, das auf Erden herrscht, erhellt werden kann. Nur wer weiß, was im Himmel getan wird (quid agatur in caelo), kann lehren, was auf Erden getan werden muss (quid in terris agendum sit). In epistemologischer Hinsicht wird hier der Physik/Theologie der Vorrang vor der Ethik eingeräumt; das aus ihr gewonnene Wissen erscheint als Voraussetzung für das Handeln67. Die Aufgabe der Physik/Theologie wird also darin gesehen, zur Lichtquelle vorzudringen. Allerdings scheinen der irdische und der himmlische Bereich hier unverbunden nebeneinander zu stehen. Wie der Mensch erkennend zum himmlischen Bereich aufsteigt, wird erst in § 3 deutlich68 : Equidem tunc rerum naturae gratias ago cum illam non ab hac parte video qua publica est, sed cum secretiora eius intravi, cum disco quae universi materia sit, quis auctor aut custos, quid sit deus, totus in se tendat an et ad nos aliquando respiciat […]. Ich jedenfalls sage der Natur dann Dank, wenn ich sie nicht (nur) von der Seite sehe, durch die sie sich allen darbietet, sondern wenn ich in ihre entlegenere Bereiche eingedrungen bin: wenn ich lerne, aus welchem Stoff das All besteht, wer sein Urheber oder Hüter ist, worin das Wesen Gottes besteht, ob er sich ganz auf sich selbst richtet oder bisweilen auch auf uns sieht […].
Als Verbindungsglied zwischen dem irdischen und dem himmlischen Bereich wird hier die rerum natura eingeführt69. Seneca hebt an ihr eine sinnlich 67 Einen Abriss über die Forschungsdiskussion bezüglich des Verhältnisses von Physik und Ethik in der Stoa und bei Seneca bietet Wildberger (2006) Anm. 1301. 68 Sen. nat. 1 praef. 3. 69 Zum Begriff natura in den nat. insgesamt vgl. Chaumartin (1996) 182, der die folgenden vier Bedeutungen von natura ausmacht als 1) »force irrationelle« 2) »l’ensemble de ce qui est« 3) »principe original, agent la fois cr¦ateur, r¦gulateur et destructeur« 4) »¦l¦ment constitutive, caractÀre propre«. Rosenmeyer (2000) nimmt seine Begriffsbestimmung von natura in den nat. vor dem Hintergrund einer Analyse der Geschichte des Wortes von physis bzw. natura vor (ebd. 100–104) und kommt zu dem Schluss: »Seneca is […] heir to the deification of Nature. But […] he is also, like Cicero and Pliny, familiar with the many uses of physis and
Die Erkenntnis Gottes als Ziel der Naturforschung
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wahrnehmbare (ab hac parte video, qua publica est) und eine sich dem Anblick entziehende, verborgene Seite ab (secretiora). Erstere lässt sich also dem irdischen Bereich zuordnen, der zu Beginn der Praefatio ebenfalls als sinnlich wahrnehmbar bezeichnet wird; die intelligible Seite der rerum natura entspricht dem himmlischen Bereich70. Die Funktion dieser beiden Seiten für das menschliche Erkennen soll nun näher untersucht werden. Der sinnfällige Teil der rerum natura (›Außenseite‹) wird von Seneca nur als Ausgangspunkt für das menschliche Erkennen dargestellt, was aus der Aussage hervorgeht, dass man von dort in den intelligiblen Bereich vordringen müsse (cum illam non ab hac parte video, qua publica est, sed cum secretiora eius intravi). Die Vorstellung, dass die menschliche Erkenntnis von den Sinnesdaten ausgeht, findet sich auch in Platons Dialogen. Während bei Platon die Erkenntnis ihr Ziel aber in einem Bereich findet, welcher von der Sinnenwelt ontologisch geschieden ist, lässt sich diese Sichtweise bei Seneca gerade nicht feststellen. Der Erkenntnisprozess, wie Seneca ihn darstellt, lässt sich eher beschreiben als Vordringen in die Sinnenwelt denn als deren Transzendieren. Nicht nur in der oben angeführten Textpassage, sondern auch an anderen Stellen ist davon die Rede, dass die Göttlichkeit der Natur nur geistig erfasst werden könne und die rein sinnliche Erkenntnis derselben unzureichend sei71. Das Erkennen findet also erst in der ›Innenseite‹ der rerum natura sein Ziel, als Gegenstand desselben wird das Wesen Gottes (quid sit deus) genannt72. Indem Seneca die Erforschung der ›Innenseite‹ der rerum natura als ein »Eintreten in ihre entlegeneren Bereiche« (cum secretiora eius intravi) beschreibt, erweckt er den Anschein, als spreche er vom Eintreten in das Innerste eines Tempels, wodurch seine Aussagen einen religiösen Charakter erhalten73. Es lässt sich also festhalten, dass Gott (deus) für Seneca das oberste Prinzip74 und den letzten
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natura which the literary tradition offers. […] In his Epistles and most of the Dialogues, he is free to employ the term natura as the context calls for it«. In den nat. werde Rosenmeyer zufolge (ebd. 116) natura bisweilen sogar in einander widersprechenden Bedeutungen verwendet. Vgl. auch Sen. dial. 8 (= De otio), 5, 5: Nec enim omnia nec tanta visimus quanta sunt, sed acies nostra aperit sibi investigandi viam et fundamenta vero iacit, ut inquisitio transeat ex apertis in obscura et aliquid ipso mundo inveniat antiquius […]. Vgl. Sen. nat. 6, 3, 2: Quare autem quicquam nobis insolitum est? Quia naturam oculis, non ratione comprehendimus. Ebenso kommt in Sen. epist. 90, 34 zum Ausdruck, dass die natura göttlich sei und nicht nur mit den Sinnen wahrgenommen werden könne: quid sapiens investigaverit, quid in lucem protraxerit quaeris? Primum verum naturamque, quam non ut cetera animalia oculis secutus est, tardis ad divina. So auch Rosenmeyer (2000) 108: »In fact, one of the roles ascribed to natura is to be penetrated […]. In sum, nature is a barrier to be broken, to be left behind, to get one’s proper bearings on – nature«. Vgl. Gauly (2004) 33 zur Auffassung von Naturphilosophie als »Eindringen in die göttlichen Geheimnisse des Kosmos«. Vgl. auch Dihle (1990) 90f. und Gauly (2004) 31. Zur stoischen Prinzipienlehre vgl. Kapitel 1.3.1
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Gegenstand menschlichen Erkennens darstellt. Aus dieser Einsicht, dem Vordringen zur Lichtquelle (unde lucet) im himmlischen Bereich, geht, wie zu Beginn der Praefatio deutlich wird, ein sicheres, für den irdischen Bereich relevantes Wissen hervor (lumen admovet, quo discernantur ambigua vitae). Diese These lässt sich anhand der Aussagen in § 13 der Praefatio des ersten Buches der Naturales quaestiones erhärten. Auch dort wird Gott als letztes Ziel physikalischen Suchens und Fragens benannt (illic demum discit, quod diu quaesivit, illic incipit deum nosse). Wer Gott erkannt hat und um sein Wesen weiß (quid est deus), der weiß, dass es nichts gibt außer Gott (solus est omnia): Sowohl die sich offen darbietende, vielheitliche ›Außenseite‹ der Natur als auch ihre nicht sichtbare ›Innenseite‹ ist Gott (quid est deus? quod vides totum, et quod non vides totum)75. Vor dem Hintergrund der hier zitierten Textstelle sowie der oben angeführten Passage aus nat. 2, 45 geht hervor, dass Seneca keineswegs wie Platon einen ontologischen Dualismus zwischen einem himmlischen und dem irdischen Bereich oder zwischen Gott und Natur annimmt, also in ontologischer Hinsicht ein materielles Diesseits von einem intelligiblen Jenseits oder einem Reich der Transzendenz trennt76. Seine Ausführungen widersprechen nicht dem stoischen Monismus, sondern bestätigen ihn, denn Seneca macht deutlich, dass Gott keineswegs außerhalb oder jenseits der Natur (rerum natura) steht77. Gott kommt in den Naturales quaestiones und auch in epist. 6578 als die eine, nicht weiter deduzierbare Erstursache in den Blick, auf welche die sinnlich erfassbare Welt zurückgeht, wobei er sie gerade nicht als ein von ihr Verschiedener transzendiert, sondern ihr immanent ist. Somit führt der Erkenntnisweg, den Seneca hier mit Rekurs auf platonische Vorstellungen beschreibt, das menschliche Erkennen gerade nicht aus der Natur hinaus in einen von ihr geschiedenen Bereich79, sondern sozusagen nur in sie selbst hinein (vgl. cum secretiora eius intravi)80. Mit dem Ausdruck secretiora rerum naturae wird das für die Sinne Entlegene, nicht das ontologisch Abge75 Vgl. zur Stelle auch Stahl (1987) 278. Sie zieht diese Passage als Zeugnis für die »monistische Konzeption der pantheistischen Naturgottheit, wie sie aus der stoischen Schule bekannt ist«, heran. Allerdings werde – wie in epist. 65 – so auch in den nat. die stoische Sichtweise durch die Einführung platonischen Gedankenguts unterlaufen (vgl. 281–285), was von einem »spezifisch Senecäischen Synkretismus der >N.Qu.