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German Pages [427] Year 2021
Der Arbeit nachgehen?
Auseinandersetzungen um Lebensunterhalt und Mobilität (Österreich 1880–1938)
Sigrid Wadauer
Industrielle Welt
Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte Herausgegeben von Ulrike von Hirschhausen und Sebastian Conrad Band 99 Sigrid Wadauer Der Arbeit nachgehen?
Sigrid Wadauer
Der Arbeit nachgehen? Auseinandersetzungen um Lebensunterhalt und Mobilität (Österreich 1880–1938)
BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch: IGK „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ (re:work) an der Humboldt Universität zu Berlin Amt der N.Ö. Landesregierung Historisch-Kulturwissenschaftliche Fakultät der Universität Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Rudolf Spiegel: Mann mit Leiter (1931); © Österreichische Nationalbibliothek, Wien Lektorat: Nikola Langreiter, Lustenau Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52354-1
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 I.1 Forschungskontexte und Forschungsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 I.2 Forschungsprogramm und forschungspraktische Umsetzung . . . . . . 32 Die Auseinandersetzungen zum Gegenstand machen . . . . . . . . . . . . . 32 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Sampling . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Spezifische multiple Korrespondenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Aufbau und Prinzipien der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 II Umstrittene Lebensunterhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 II.1 Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens . 47
Die verwaltungstechnische Erzeugung von Vagabunden und arbeitslosen Wanderern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Die Einführung der Naturalverpflegsstationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Die registrierten Besucher/innen der Naturalverpflegsstationen und Herbergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Auseinandersetzungen um Ansprüche und Gebrauchsweisen der Herbergen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Das Landstreichereigesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II.2 Gerichtsakten und Datensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Datengrundlage für die spezifische multiple Korrespondenzanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Die polizeiliche Anzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Weitere Aktenbestandteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II.3 Der Raum der Lebensunterhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 II.3.1 Die eindimensionalen Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 II.3.1.1 Die erste Dimension: Umherziehen . . . . . . . . . . . . . . . 119 Das Variations- und Kontrastprinzip: (Un-)Redlichkeit der Zwecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Dominanz: legitimes Umherziehen – der unwiderstehliche Zwang der Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 Dominiertheit: unredliches Umherziehen – Mangel und Skandal der offiziellen Zwecklosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
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Inhalt
II.3.1.2 Die zweite Dimension: Mittel zum Unterhalt . . . . . . Das Variations- und Kontrastprinzip: (Un-)Redlichkeit der Mittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz: redliche Mittel zum Unterhalt . . . . . . . . . . . . . Zentralere Dominanz: unbescholten oder noch nicht aktenkundig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominiertheit: unredliche Mittel zum Unterhalt . . . . . . . II.3.2 Die primäre Fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz: Redlichkeit in der Not . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Arten des Unterhalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prätention: notorisch kleinkriminell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominiertheit und Skepsis: Vagabundieren . . . . . . . . . . . . . . . II.4 Zusammenfassung: Variationen und Kontraste von Lebensunterhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
151 151 154 162 164 172 172 182 185 194 207
III Selbstständige Erwerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
III.1 Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des selbstständigen Erwerbs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Brot auf der Straße suchen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gewerbegesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.2 Gewerbeakten und Datensatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3 Der Raum der selbstständigen Erwerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1 Die eindimensionalen Annäherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.1.1 Die erste Dimension: Gewerberecht . . . . . . . . . . . . Das Variations- und Kontrastprinzip: Legitimierung durch Gewerbeverwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz: Anspruch erheben und auf einer Bewilligung bestehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominiertheit: die Vermeidung von Verwaltung . . . . . . . III.3.1.2 Die zweite Dimension: soziale Ansprüche . . . . . . . Das Variations- und Kontrastprinzip: Rücksichtswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz: die anerkannte Rücksichtswürdigkeit . . . . . Dominiertheit: die Vermeidung der Rücksichtswürdigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.3.2 Die primäre Fläche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominanz: (Hausier-)Bewilligungen als offizieller Notbehelf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dominiertheit: unbefugte und vielleicht auch unredliche Erwerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
214 214 240 248 256 256 256 256 259 274 279 279 282 292 297 301 310
Inhalt
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Prätention: ein Fremder als Geschäftsmann und Bürger? . 316 III.3.3 Exkurs: KarlHasch und die Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 III.4 Zusammenfassung: Variationen und Kontraste selbstständiger Erwerbe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 IV Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 V Ergebnisse der spezifischen multiplen Korrespondenzanalysen . . . 357 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Grafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Legenden zu den Grafiken 10–26 und 33–47 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407
Vorwort
In diesem Buch setze ich mich mit strittigen Arten des Lebensunterhalts und Erwerbs auseinander. Es beruht auf Forschungen mehrerer Jahre, in denen sich die Forschungsfragen verändert haben. Ausgangspunkte der Untersuchung waren zunächst die unterschiedlichen Darstellungen und Wahrnehmungen verschiedener Arten von Mobilität. Wie wurden Mobilität und Sesshaftigkeit sowie die Varianten des Unterwegsseins im 19. und frühen 20. Jahrhundert differenziert und hierarchisiert? Während einige Formen der Mobilität – vor allem Reisen, aber auch handwerkliches Wandern – als Möglichkeiten zur Bildung und Bewährung idealisiert wurden, und ich dazu zahlreiche Schilderungen und Ego-Dokumente las, war zu anderen Erscheinungsformen des Unterwegsseins nur wenig zu finden, etwa zum Umherziehen von Händler/inne/n und Handelsreisenden. Diese Phänomene wurden, so hatte es oft den Anschein, stets nur von anderen und dabei als zweckbestimmt, als Zwang, Not und Last beschrieben. Arbeit und Beruf boten historisch wichtige Bezugspunkte für die Unterscheidung und Kategorisierung von Mobilität. Aber was Arbeit oder Beruf waren und sein sollten, verstand sich keineswegs von selbst. Mit dem Entstehen einer neuen Arbeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts veränderten sich auch all jene Tätigkeiten, die nicht Arbeit oder nicht richtige Arbeit zu sein schienen. Auch wogegen die neue Arbeit (langfristig und keineswegs zwangsläufig) durchgesetzt wurde und was traditionell erschien, unterlag einem Wandel. Wie Arbeit, Erwerbe und Lebensunterhalte verstanden und getan wurden, rückte somit in den Fokus meines Interesses. Diese Studie postuliert nicht, was Arbeit war oder ist, auch nicht aus einer Per spektive, die oft als analytische bezeichnet wird. Sie macht sich – mit Fokus auf den cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie bzw. Österreich von 1880 bis 1938 – die Auseinandersetzungen um Arbeit und um die Legitimität von Lebensunterhalten und Erwerben im Umherziehen zum Forschungsgegenstand. Indem ich die Erzeugung sozialer Phänomene als Zusammenhänge von Praktiken konstruiere, unternehme ich eine konsequente Historisierung. Ich gehe dabei über die Darstellung politischer und gelehrter Debatten hinaus und untersuche, wie Lebensunterhalte praktisch definiert, unterschieden, hierarchisiert und sanktioniert wurden. Jene, die auf verschiedene Art herumzogen, erscheinen dabei nicht nur als Objekte der Beschreibung und Verwaltung: Indem sie einen Lebensunterhalt suchten, sich repräsentierten, mit den Behörden argumentierten oder versuchten, sich der Verwaltung zu entziehen, trugen sie in Konsens und Konflikt zu ihrer Verwaltung und zur Erzeugung von Phänomenen wie Arbeit und Erwerb bei. Auch wenn meine Arbeit wesentlich auf Verwaltungsmaterialien beruht, so werden solche Praktiken und Perspektiven doch
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Vorwort
als unverzichtbares Element historischer Rekonstruktion sichtbar. In diesem Buch stelle ich darüber hinausgehend eine Möglichkeit vor, mit komplexen und vielfältigen seriellen Aktenfällen umzugehen, die darin dokumentierten Argumentationen und Handlungsweisen systematisch zu untersuchen. Die Förderung des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF, START-Projekt Y367-G14) und des European Research Council (ERC-Starting Grant 200918 The Production of Work) gestattete zeitaufwendige Recherchen und Auswertungen, sie erlaubte es mir, meinen Forschungen längerfristig und mit einem Team nachzugehen. Meine Arbeit hat durch den Austausch und die Diskussionen mit Kolleg/inn/en, durch Hinweise und praktische Unterstützung viel gewonnen. Ganz besonders möchte ich mich bei Alexander Mejstrik bedanken, für eine anregende Zusammenarbeit im Production of Work-Team danke ich auch: Jessica Richter, Irina Vana, Sonja Hinsch, Georg Schinko, Thomas Buchner, Peter Angerer und Márton Villányi. Ein Teil des Manuskriptes entstand am Internationalen Geisteswissenschaftlichen Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ (re:work) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Josef Ehmer danke ich für seine Unterstützung über viele Jahre hinweg, Lutz Raphael, Sandrine Kott und vor allem Theresa Wobbe für Kritik und Anregungen. Mit Therese Garstenauer, Reinhild Kreis und Anke Sczesny konnte ich über Arbeit, das Buch und vieles andere mehr reden und diskutieren. Last but not least – Alexander Profous: Ich bin glücklich und dankbar, dass ich den Herausforderungen und Widrigkeiten der letzten Jahre nicht alleine gegenüberstand.
Anmerkung zur Schreib- und Zitierweise Die Wiedergabe der Quellen folgt dem Original. Zeitgenössische bzw. fehlerhafte Rechtschreibung, Grammatik und Zeichensetzung wurden deshalb nicht gekennzeichnet. Wenn es sinnvoll erschien, wurde im Text die männliche und weibliche Schreibweise verwendet. Es wurde darauf verzichtet, historische Termini unter Anführungszeichen zu setzen, wenn es sich nicht ausdrücklich um Zitate handelt – wenngleich sie möglicherweise nicht dem Selbstverständnis der bezeichneten Person entsprachen (etwa jüdisch), heute nicht mehr gebräuchlich sind oder als abwertend verstanden werden (wie Zigeuner, Bettler, Vagabund, Landstreicher, Hausierer, Ausländer, arbeitsscheu, unredlich etc.). Solche historischen Vorstellungen, Zuschreibungen und Kategorisierungen zu untersuchen, war ein Ziel dieser Arbeit.
I Einleitung I.1 Forschungskontexte und Forschungsprobleme In den letzten Jahren wurde viel darüber diskutiert, was Arbeit ist und sein soll. Arbeit scheint in der Krise.1 Manche prognostizieren ihr Verschwinden,2 ihren Bedeutungsverlust oder zumindest den Bedeutungsverlust bestimmter Formen von Arbeit. Überkommene Definitionen und Grenzziehungen werden problematisiert.3 Damit scheinen auch die an Arbeit geknüpften Sicherheiten mehr oder minder infrage gestellt und gefährdet. Solche Debatten evozieren oft eine Vergangenheit als Kontrast zu den postulierten (allerdings recht unterschiedlich eingeschätzten) Erosions- und Prekarisierungstendenzen.4 Sie haben das Interesse an einer Geschichte von Arbeit belebt und neue Fragen aufgeworfen. Bei genauer Betrachtung ist das „goldene Zeitalter“ des Normalarbeitsverhältnisses5 allerdings kurz – und umso kürzer, je genauer die Betrachtung ausfällt.6
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Vgl. etwa Catharina Lis, Josef Ehmer: Introduction. Historical Studies in Perceptions of Work. In: Dies. (Hg.): The Idea of Work in Europe from Antiquity to Modern Times. Farnham, Burlington 2009, 1–30. 2 Vgl. Jeremy Rifkin: The End of Work. The Decline of the Global Labour Force and the Dawn of the Post-Market Era. New York 1996; dagegen kritisch Wolfgang Bonß: Zwischen Erwerbsarbeit und Eigenarbeit. Ein Beitrag zur Debatte um die Arbeitsgesellschaft. In: Arbeit 11/2002/14, 5–20, hier 5, 17. 3 Vgl. Jürgen Kocka: Work as a Problem in European History. In: Ders.: Work in a Modern Society. The German Historical Experience in Comparative Perspective. New York, Oxford 2010, 1–15; Marcel van der Linden: Studying Attitudes to Work Worldwide, 1500–1650: Concepts, Sources, and Problems of Interpretation. In: International Review of Social History 56/2001, 25–43, hier 28; Andreas Eckert: Why All the Fuss About Global Labour History? The New Obscurity. In: Ders. (Hg.): Global Histories of Work. Berlin, Boston 2016, 3–22; Jörn Leonhard, Willibald Steinmetz (Hg.): Semantiken von Arbeit: diachrone und vergleichende Perspektiven. Köln, Weimar, Wien 2016; Marie Jahoda: Wieviel Arbeit braucht der Mensch? Arbeit und Arbeitslosigkeit im 20. Jahrhundert. Weinheim, Basel 1983, 25f. 4 Vgl. etwa Ralf M. Damitz: Prekarität. Genealogie einer Problemdiagnose. In: Mittelweg 36 16/2007/4, 67–86; Robert Castel, Klaus Dörre (Hg.): Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung. Die soziale Frage am Beginn des 21. Jahrhunderts. Frankfurt/Main, New York 2009. 5 Vgl. Ulrich Mückenberger: Krise des Normalarbeitsverhältnisses – ein Umbauprogramm. In: Zeitschrift für Sozialreform 56/2010/4, 403–420. 6 Vgl. Peter Gutschner: Normen und Realitäten. Kritische Anmerkungen zum Goldenen Zeitalter. In: Zeitgeschichte 31/2004/1, 36–47.
Forschungskontexte und Forschungsprobleme
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Aus historiografischer Perspektive ist diese nun prekär gewordene Arbeit jung,7 vielleicht sogar ein historischer Ausnahmefall und vor allem alles andere als ein einfaches, eindeutiges Phänomen. Unschärfen und Strittigkeit von Arbeit sind nicht neu.8 Auf Schwierigkeiten, Arbeit zu definieren, wiesen schon Schriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hin.9 Die Grenzen zwischen Arbeit, Spiel, Zeitvertreib, Haushalt usw. waren auch in dieser Zeit Gegenstand der Erläuterung und Diskussion. War etwa Dienst nun Lohnarbeit, Beruf oder Liebe? Bedeutete Haushalt oder Mutterschaft Arbeit?10 Konnte man Diebstahl, Betteln oder Kunst als Arbeit oder Beruf betrachten?11 Arbeiteten Arbeitslose?12 Diese Debatten adressierten eine Vielfalt an Tätigkeiten, sie blendeten diese nicht einfach aus, wie oft behauptet wird. Einem breiten, alltäglichen Gebrauch des Wortes wurde jedoch häufig ein enger wissenschaftlicher Begriff der „wirtschaftlichen Arbeit“ als Terminus technicus gegenübergestellt.13 Was Arbeit war oder ist, war oder ist allerdings nicht nur eine Frage gelehrten Definierens oder ideologischen (Miss-)Deutens.14 Seit dem Ende des 19. Jahr7
Vgl. Sigrid Wadauer: Immer nur Arbeit? Überlegungen zur Historisierung von Arbeit und Lebensunterhalten. In: Leonhard/Steinmetz (Hg.): Semantiken von Arbeit, 225–245; Sebastian Conrad, Elisio Macamo, Bénédicte Zimmermann: Die Kodifizierung der Arbeit: Individuum, Gesellschaft, Nation. In: Jürgen Kocka, Klaus Offe (Hg.): Geschichte und Zukunft der Arbeit. Frankfurt/Main, New York 1999, 449–475. 8 Vgl. Eckert: Fuss. 9 Vgl. Wilhelm Heinrich Riehl: Die deutsche Arbeit. 3. Aufl., Stuttgart 1883, 4f.; Karl Elster: Was ist „Arbeit“? In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik F 3/57/1919 (= 112/119), 609– 627; Fritz Giese: Philosophie der Arbeit. Halle/Saale 1932, 11f. 10 Vgl. Jessica Richter: Den Dienst als offizielles Erwerbsverhältnis (re-)konstruieren. Hauswirtschaftliche und landwirtschaftliche DienstbotInnen in Österreich (1918–1938). In: Franziska Schößler, Nicole Colin (Hg.): Der Produktivitätsdiskurs und seine Ausschlüsse. Heidelberg 2013, 189–213. 11 Vgl. Elster, Was ist Arbeit, 613, 623f.; Werner Sombart: Die Elemente des Wirtschaftslebens. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 37/1913, 1–45, hier 7. 12 Frauen in Marienthal seien nur verdienstlos, nicht arbeitslos im strengsten Wortsinn, heißt es etwa bei Maria Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Frankfurt/Main 1975 (Orig. 1933), 89. Vgl. auch Raymond E. Pahl: Does Jobless Mean Workless? Unemployment and Informal Work. In: The Annals of the American Academy of Political and Social Science 493/1987/1, 36–46; Louis Ferman, Louise E. Berndt, Stuart Henry: Preface. In: Dies. (Hg.): Work Beyond Employment in Advanced Capitalist Countries. Classic and Contemporary Perspectives on the Informal Economy. Lewiston, Lampeter 1993, VII–X, hier VII. 13 Vgl. Bernhard Harms: Arbeit. In: Ludwig Elster, Adolf Weber, Friedrich Wieser (Hg.): Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 4. Aufl., Jena 1923, Bd. 1, 368–387, hier 369. Die Grenze zwischen „wirtschaftlicher Arbeit“ und Arbeit zur Bedarfsdeckung, so meinte etwa Bernhard Harms 1923, sei schwer zu ziehen. Ebd., 368; vgl. auch Fritz Giese: Arbeit. In: Ders. (Hg.): Handwörterbuch der Arbeitswissenschaft. Halle/Saale 1930, Bd. 1, 179–191, hier 180; Werner Sombart: Sozialismus und Soziale Bewegung. Jena 1919, 28. 14 Über die Schwierigkeiten des Definierens vgl. Sandra Wallmann: Introduction. In: Dies. (Hg.): Social Anthropology of Work. London et al. 1979, 1–23.
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Einleitung
hunderts wurde Arbeit immer mehr auch zur Staatsangelegenheit, in der Habsburgermonarchie, in Österreich wie in anderen europäischen Ländern. Es entstand eine moderne staatliche Sozialpolitik, die in bereits bestehende Arbeitsverhältnisse intervenierte und bereits bestehende Arbeit neu verwaltete und die zugleich langfristig neue soziale Tatsachen mit hervorbrachte:15 Arbeit in einem neuen Sinn, Arbeitslosigkeit, nationale (bzw. gesamtstaatliche)16 Arbeitsmärkte.17 Arbeit wurde nun immer mehr als berufliche Erwerbstätigkeit normalisiert, als besondere Erwerbsarbeit, die Eignung und Neigung verlangte und ausreichend Einkommen, Stabilität, Dauerhaftigkeit, Status und eine Karriere versprach.18 Mit dieser Arbeit waren bestimmte Rechte (etwa Versicherungsleistungen)19 und Verbindlichkeiten (Arbeitswilligkeit insbesondere) verknüpft.20 Sie wurde von neuen Arten legitimer Nichtarbeit komplementiert (Krankheit, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Freizeit, Kindheit, Alter21).
15 Vgl. Christoph Conrad: Was macht eigentlich der Wohlfahrtsstaat? Internationale Perspektiven auf das 20. und 21. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft 39/2013/4, 555–592. 16 Vgl. Peter Wagner, Claude Didry, Bénédicte Zimmermann: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Arbeit und Nationalstaat. Frankreich und Deutschland in europäischer Perspektive. Frankfurt/Main, New York 2000, 15–22. 17 Vgl. Sigrid Wadauer, Thomas Buchner, Alexander Mejstrik: The Making of Public Labour Intermediation. Job Search, Job Placement, and the State in Europe, 1880–1940. In: International Review of Social History, Special Issue 57/2012, 161–189; dies. (Hg.): The History of Labour Intermediation. Institutions and Finding Employment in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. New York, Oxford 2015 (= International Studies in Social History 26). 18 Vgl. Alexander Mejstrik, Sigrid Wadauer, Thomas Buchner: Editorial. Die Erzeugung des Berufs. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 24/2013/1, 5–10. 19 In Österreich ab den 1880er Jahren vgl. Emmerich Tálos, Karl Wörister: Soziale Sicherung im Sozialstaat Österreich. Entwicklung – Herausforderungen – Strukturen. Baden-Baden 1994, 13; zu den verschiedenen Typen des Wohlfahrtsstaates und dem unterschiedlichen Stellenwert von Arbeit vgl. Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism. Cambridge 1990, 22; kritisch dazu: Steven King, John Stewart: Welfare Peripheries in Modern Europe. In: Ders. (Hg.): Welfare Peripheries. The Development of Welfare States in Nineteenth and Twentieth Century Europe. Oxford et al. 2007, 9–38; für internationalen Vergleich siehe auch Gerhard A. Ritter: Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich. 3., erw. Aufl., München 2010. 20 Vgl. Kocka: Work, 10; zur unterschiedlichen Bedeutung von Erwerbsarbeit in Wohlfahrtstaaten vgl. Esping-Andersen, Worlds of Welfare; zur konkreten Entwicklung sozialstaatlicher Politik in Österreich vgl. Tálos/Wörister: Soziale Sicherung. 21 Vgl. Josef Ehmer: Alter und Arbeit in der Geschichte. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 49/2008/1, 23–30; ders.: Sozialgeschichte des Alters. Frankfurt/Main 1990; Christoph Conrad: Vom Greis zum Rentner. Der Strukturwandel des Alters in Deutschland zwischen 1830 und 1930. Göttingen 1994.
Forschungskontexte und Forschungsprobleme
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Damit veränderten sich Lebensläufe,22 das Verhältnis der Geschlechter23 und jenes von Staatsbürger/inne/n und Staat.24 An der Erzeugung dieser sozialen Tatbestände waren auch die Wissenschaften nicht unwesentlich beteiligt,25 die in ihrem Bemühen, Arbeit zu erfassen, zu beschreiben und zu verändern diese zugleich als abstrakte Kategorie und als konkrete Situation mit hervorbrachten26 (und sich dabei mit mehr oder weniger Erfolg als Arbeitswissenschaften konstituierten). Normalisierung in diesem Sinn bedeutete also, dass Arbeit klarer definiert, normiert und institutionalisiert wurde. Doch nicht einmal im „goldenen Zeitalter“ des Sozialstaats und der Normalarbeitsverhältnisse arbeiteten alle in einer Gesellschaft auf die neue legitime Art. Nicht alle konnten und/oder wollten ihren Lebensunterhalt so verdienen. Dafür sind viele Erwerbstätigkeiten, Lebensunterhalte und Biografien von Frauen das prominenteste Beispiel. Normalisierung bedeutete auch nicht, dass sich sämtliche konkurrierenden Worte und Vorstellungen – Beruf27, Erwerb, Dienst, Lebensunterhalt, Auskommen, Fortkommen usw. – umstandslos unter Arbeit sub-
22 Vgl. Martin Kohli: Arbeit im Lebenslauf: Alte und Neue Paradoxien. In: Kocka/Offe: Geschichte und Zukunft, 362–382; ders.: Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes. In: Hanns-Georg Brose, Bruno Hildenbrand (Hg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende. Opladen 1988, 33–53; Ehmer: Alter und Arbeit. 23 Vgl. etwa Karin Hausen: Arbeit und Geschlecht. In: Kocka/Offe: Geschichte und Zukunft, 343– 361; Josef Ehmer: „Innen macht alles die Frau, draußen die grobe Arbeit macht der Mann“. Frauenerwerbsarbeit in der industriellen Gesellschaft. In: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Michael Mitterauer (Hg.): Frauen-Arbeitswelten. Zur historischen Genese gegenwärtiger Probleme. Wien 1993 (= Historische Sozialkunde Beiheft 3/1993), 81–104. 24 Vgl. etwa Yeheskel Hasenfeld, Jane A. Rafferty, Mayer N. Zald: The Welfare State, Citizenship, and Bureaucratic Encounters. In: Annual Review of Sociology 13/1987, 387–415, hier 388; Dieter Gosewinkel: Staatsangehörigkeit und Nationszugehörigkeit in Europa während des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Andreas Gestrich, Lutz Raphael (Hg): Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main et al. 2004, 207–229. 25 Vgl. etwa Karl Ulrich Mayer: Arbeit und Wissen: die Zukunft von Bildung und Beruf. In: Kocka/ Offe: Geschichte und Zukunft, 383–409. 26 Vgl. allgemein dazu Alain Desrosières: Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise. Heidelberg 2000; in Hinblick auf Arbeitsmarkt vgl. etwa Thomas Buchner: Organising the Market? Labour Offices and Labour Markets in Germany, 1890–1933. In: Ders./ Wadauer/Mejstrik: History of Labour Intermediation, 74–91; ders: Arbeitsämter und Arbeitsmarkt in Deutschland, 1890–1935. In: Ders., Annemarie Steidl, Werner Lausecker, Alexander Pinwinkler, Sigrid Wadauer, Hermann Zeitlhofer (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion. Wien, Köln, Weimar 2008, 133–158. 27 Vgl. Mejstrik/Wadauer/Buchner: Editorial; zu verschiedenen Theorien und Konzeptionen von Beruf vgl. auch Manfred Stock: Arbeiter, Unternehmer, Professioneller. Zur sozialen Konstruktion von Beschäftigung in der Moderne. Wiesbaden 2005.
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Einleitung
sumieren ließen.28 Es stand nicht per se fest, dass, inwieweit und für wie lange diese neue Arbeit durchgesetzt werden würde. Arbeit war und blieb ein Produkt von Konsens und Kritik, von praktischen Auseinandersetzungen und Kämpfen, an denen nicht nur Verwaltung und Staat, nicht nur Organisationen und Verbände beteiligt waren, sondern auch alle jene, die sich auf unterschiedliche Weise – ob mit oder ohne solche Arbeit – einen Lebensunterhalt suchten. Arbeit hörte nie auf, strittig, vieldimensional29 und vielfältig zu sein.30 Normalisierung bedeutete also nicht das Ende der Auseinandersetzungen um Arbeit. Sie bezeichnete, dass diese neue Arbeit als normal und als Norm durchgesetzt wurde, indem immer mehr Tätigkeiten auf sie bezogen, an ihr gemessen, nach ihrem Vorbild reformiert oder verworfen wurden.31 Damit erhielten alle Tätigkeiten auch einen Arbeits-Sinn und sei es nur den, nicht richtige oder gar nicht Arbeit zu sein.32
28 Die Gebrauchsweisen dieser Worte sind nicht kohärent, sie folgen einer praktischen Logik. „Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre.“ Pierre Bourdieu: Die Kodifizierung. In: Ders.: Rede und Antwort. Frankfurt/Main 1992, 99–110, hier 103. 29 Vgl. Jahoda: Arbeit, 24. 30 Vgl. Keith Thomas: Introduction. In: Ders. (Hg.): The Oxford Book of Work. Oxford 1999, XIII– XXIII. 31 Das lässt sich etwa an den Debatten über Arbeit im Haushalt und anhand von Dienst verdeutlichen. Handelte es sich dabei um einen Beruf, um Arbeit? Sollte die Ausbildung formalisiert, die Tätigkeiten in Sozialversicherungssysteme einbezogen werden? Aber auch Diebstahl oder Bettelei wurden als Arbeit oder Beruf diskutiert. Vgl. Richter: Dienst; dies.: A Vocation in the Family Household? Household Integration, Professionalization and Changes of Employment in Domes tic Service (Austria, 1918–1938). In: Wadauer/Buchner/Mejstrik: History of Labour Intermediation; dies.: What is ‚Domestic Service‘ Anyway? Producing Household Labourers in Austria (1918–1938). In: Dirk Hoerder, Elise van Nederveen Meerkerk, Silke Neunsinger (Hg.): Towards a Global History of Domestic and Care and Caregiving Workers. Leiden 2015 (= Studies in Global Social History 18), 484–510; Mareike Witkowski: Arbeit ohne Ansehen oder idealer Frauenberuf ? Hausgehilfinnen in Deutschland 1918–1960er Jahre. In: Mejstrik/Wadauer/Buchner: Erzeugung, 59–79; das Beispiel des Musizierens erläutert Georg Schinko: Annäherungen an den Musikerberuf (Österreich ca. 1900–1938). In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16/2013/1, 150–171. 32 Zum Beispiel: „Wir können die gesamte Bevölkerung eines Landes vom volkswirtschaftlichen Standpunkte aus einteilen in arbeitende und nichtarbeitende. Eine strenge Durchführung dieser Unterscheidung in jedem einzelnen Fall ist allerdings nicht möglich. Diejenigen, welche wir zum arbeitenden Teile der Bevölkerung rechnen, müssen naturgemäß die Arbeitsstunden und Ruhestunden abwechseln lassen; sie ruhen im allgemeinen regelmässig an einem Teile des Jahres (freie Tage, Feiertage, Urlaub etc.) und innerhalb des Arbeitstages arbeiten sie nur eine gewisse Anzahl von Stunden. Andererseits ist die Einteilung nicht so aufzufassen, dass diejenigen Gruppen der Bevölkerung, die wir als ‚nichtarbeitende‘ bezeichnen, sich durchgehend thatsächlich jeglicher Art von ‚Arbeit‘ enthalten. Trotz dieser Ausnahmen läßt unsere Scheidung im allgemeinen sich
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Deshalb lässt sich die Erzeugung von Arbeit auch nicht, wie oft behauptet, einfach als „Verengung“, als simpler Ein- und Ausschluss begreifen, sondern muss vielmehr als Durchsetzung neuer Unterschiede und Hierarchien verstanden werden. Es entstand nicht nur eine neue Arbeit. Mit und im Kontrast zu dieser Arbeit veränderte sich das gesamte Spektrum an Tätigkeiten, mit denen Menschen ihren Lebensunterhalt organisierten: von Lohnarbeit, Gelegenheitsarbeit und selbstständigem Erwerb über Dienst, Mithilfe und Aushelfen im Haushalt bis hin zum Erhalten-Werden.33 Zur Geschichte von Arbeit gehören deshalb auch die Tätigkeiten und Lebensunterhalte, gegen die sie durchgesetzt wurde. Diese Studie macht in Konsequenz dieser Überlegungen Auseinandersetzungen um Lebensunterhalt und Arbeit, die Erzeugung von neuen Unterschieden und Hierarchien zum Gegenstand. Ich nehme dabei Tätigkeiten zum Ausgangspunkt, die als Erwerb, aber nicht unbedingt als Arbeit, sondern eher als Mangel an Arbeit, Vermeidung und Gegenteil von Arbeit34 betrachtet wurden. Ich behandle eine Bandbreite von nicht klar abgrenz- und unterscheidbaren Tätigkeiten, die mehr oder minder mit (temporärer, zirkulärer oder dauerhafter) Mobilität verknüpft durchführen. Der nichtarbeitende Teil der Bevölkerung würde sich dann aus folgenden Gruppen zusammensetzen: 1. Die Arbeitsunfähigen, und zwar: Kinder und Greise Invalide Durch Krankheit dauernd oder vorübergehend Arbeitsunfähige. 2. Die Arbeitslosen, d. h. trotz disponibler Arbeitskraft und vorhandener Arbeitslust wegen nicht vorhandener Arbeitsgelegenheit feiernden. 3. Die Strikenden. 4. Die Arbeitsscheuen; und zwar: Solche, die vom eigenen Besitze leben, z. B. arbeitsfähige, aber nicht arbeitende Rentiers etc. Solche, die auf Kosten der übrigen Bevölkerung leben, Vagabonden etc. Die Begriffe ‚nichtarbeitend‘ und ‚arbeitslos‘ decken sich, wie wir aus unserer Einteilung ersehen, keineswegs: die Arbeitslosen sind nur ein Teil der Nichtarbeitenden.“ John Schikowski: Ueber Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenstatistik. Leipzig 1894, 2f. (Hervorhebungen im Original). Vgl. zur Frage der Erwerbsbevölkerung etwa auch Christian Topalov: A Revolution in Representations of Work. The Emergence over the 19th Century of the Statistical Category „Occupied Population“ in France, Great Britain and the United States. In: Revue française de sociologie (Supplement) 42/2001, 79–106; Theresa Wobbe: Making up People: Berufsstatistische Klassifikation, geschlechtliche Kategorisierung und wirtschaftliche Inklusion um 1900 in Deutschland. In: Zeitschrift für Soziologie 41/2012/1, 41–57; dies., Léa Renard, Katja Müller: Nationale und globale Deutungsmodelle des Geschlechts im arbeitsstatistischen sowie arbeitsrechtlichen Klassifikationssystem: ein vergleichstheoretischer Beitrag (1882–1992). In: Soziale Welt 2017/68, 63–85. 33 Vgl. Kocka: Work, 8f; ders., Jürgen Schmidt: Arbeitergeschichte. In: Geschichte und Gesellschaft 43/2017, 181–196. 34 Als negative Arbeit, etwa bei Rotering: Die negative Arbeit. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 16/1896, 198–223.
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waren: zunächst verschiedene Arten des Handels (vom Hausieren, Straßen- und Markthandel, Lumpensammeln bis hin zum Vertreten und Agentieren), Gewerbe (wie Scherenschleifen, Kesselflicken, Schirmreparatur, Korbflechten) bis zur Schaustellerei und zum Bettelmusizieren. Darüber hinaus beziehe ich verschiedene Arten des Umherziehens – um eine Stelle, Arbeit, Unterkunft und Verpflegung oder sonst etwas für den eigenen Lebensunterhalt zu suchen und zu finden – ein. Diese Tätigkeiten verlangten verschiedene formelle/informelle Qualifikationen, sie wurden manchmal kombiniert, teils selbstständig, teils unselbstständig betrieben, mit Bewilligung (Gewerbeschein, Wanderbuch, Bettelerlaubnis u. ä.), in Übertretung einer Bewilligung (Handelsvertreter/innen hausierten, Hausierer/innen bettelten oder nahmen Bestellungen auf ) oder als Schwarzarbeit, Pfusch, Schleichhandel, Bettelei oder Landstreicherei unbefugt und illegal ausgeübt und kriminalisiert. Tätigkeiten ohne fixen Standort, Betrieb35, Arbeitsplatz36 und/oder Wohnort schienen den Behörden oft unkontrollierbar. Sie waren – nicht erst im 20. Jahrhundert37 – besonders umstritten und wurden oft verdächtig, nicht richtige Arbeit(suche), sondern nur Deckmantel für Arbeitsscheu oder Kriminalität zu sein. Sie schienen den Zeitgenoss/inn/en meist ärmlich, aber auch skandalös ertragreich.38 Sie wurden als traditionell, obsolet und dem Untergang geweiht betrachtet. Häufig wurde aber auch ihr krisenhaftes Überhandnehmen beklagt und von Behörden und Konkurrenz bekämpft. Ebenso wurden sie als nützlich, redlich oder unvermeidlich verteidigt und ausgeführt. Auseinandersetzungen über Arbeit, die mit ihr verknüpften neuen sozialen Rechte und die damit einhergehende staatliche Verwaltung veränderten auch die Möglichkeiten von Mobilität und Sesshaftigkeit,39 brachten derartige umstrittenen Lebensunterhalte und Erwerbe ohne stabilen Standort jedoch nicht zum Verschwinden. Von der Geschichtsschreibung wurden solche Praktiken oft als marginal oder peripher betrachtet. Diese Vorstellung ist, wie ich zeigen werde, irreführend, nicht nur, weil zahlreiche Schilderungen in lebensgeschichtlichen
35 Vgl. Jürgen Kocka, Claus Offe: Einleitung. In: Dies.: Geschichte und Zukunft, 9–15, hier 10. 36 Vgl. etwa Marek Korczynski, Randy Hodson, Paul K. Edwards: Introduction: Competing, Collaborating, and Reinforcing Theories. In: Dies. (Hg.): Social Theory at Work. Oxford, New York 2006, 1–25, hier 2. 37 Vgl. Josef Ehmer: Perceptions of Mobile Labour and Migratory Practices in Early Modern Europe. In: Ders./Lis: Idea, 307–320, hier 309. 38 Vgl. Ute Hinrichsen: „Das Hausiren mit allerhand Waaren“. Zum Hausierhandel in den Herzogtümern Schleswig und Holstein 1774–1846. In: Dies., Sabine Hirschbiegel: „Gewerbe welche eine herumtreibende Lebensart mit sich führen“. Hausierer und Schausteller in Schleswig-Holstein zwischen 1774 und 1846. Neumünster 1999, 9–122, hier 60–62. 39 Vgl. John Torpey: Coming and Going: On the State Monopolization of the Legitimate „Means of Movement“. In: Sociological Theory 16/1997/3, 239–259, hier 254.
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Aufzeichnungen, Interviews und zeitgenössischen Studien40 sie als durchaus üblich erscheinen lassen.41 Sie wurden auch in vielen „zentralen“ Auseinandersetzungen über die mit Arbeit verbundenen Rechte und Pflichten thematisiert: etwa im Zusammenhang mit Arbeitslosigkeit und Arbeitsvermittlung,42 bei der Reform des Heimatrechts (und der damit verbundenen Aufenthaltsberechtigungen und Unterstützungsansprüche), als Gefahr für „bodenständiges“ Gewerbe. In der europäischen Geschichte der Arbeit wurden die Lebensunterhalte, die hier im Mittelpunkt stehen, jedoch bisher kaum systematisch einbezogen. Dies mag zum einen daran liegen, dass sie als Arbeiterbewegungs- und Arbeitergeschichte begonnen hatte und über weite Strecke eng mit der Selbstsicht, den politischen Anliegen und Interessen der Arbeiterbewegung verknüpft war – oder im Sinne einer „labour history“ nach wie vor ist.43 Arbeitergeschichte befasste sich mit den politischen Kämpfen und Organisationen, den Lebensweisen und Alltagskulturen, dem Konsum und der Migration von jenen Arbeiter/inne/n, welche die Arbeiterbewegung und Historiker/ innen in Abgrenzung von Lumpenproletariat und Pöbel44 als „richtige“ Arbeiter/ innen, als „Kern“ der Arbeiterschaft definierten.45 In Debatten über die „Klassenkonstituierung“ stellte (und stellt) sich aber durchaus die Frage, wen man überhaupt als Arbeiter/in betrachten und einbeziehen sollte und wen nicht.46 Spätestens seit den 40 Vgl. etwa Paul Lazarsfeld: Die psychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit (1935). In: Ders.: Empirische Analyse des Handelns. Ausgewählte Schriften, hg. von Christian Fleck und Nico Stehr. Frankfurt/Main 2007, 163–193. 41 Vgl. etwa Michael Grüttner: Die Kultur der Armut. Mobile Arbeiter während der Industrialisierung. In: Soziale Bewegungen Jahrbuch 3/1987, 12–32, hier 14f.; Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel: Arbeitslosen, 37, 42; Lazarsfeld: Psychologische Folgen, 168f., 172f.; Wolfgang Ruß: Verarbeitungsformen von Arbeitslosigkeit im Wien der Zwischenkriegszeit. Unveröff. Hausarbeit aus Geschichte und Sozialkunde, o. O. o. J., 77; ders.: Zwischen Protest und Resignation. Arbeitslose und Arbeitslosenbewegung in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 1/1990/2, 23–52, hier 50; Hans Safrian: „Wir ham die Zeit der Orbeitslosigkeit schon richtig genossen auch.“ In: Gerhard Botz, Josef Weidenholzer (Hg.): Mündliche Geschichte und Arbeiterbewegung. Eine Einführung in Arbeitsweisen und Themenbereiche der Geschichte „geschichtsloser“ Sozialgruppen. Wien, Köln 1984, 293–331, hier 308. 42 Vgl. Wadauer/Buchner/Mejstrik: Making of Labour Intermediation, 164, 171. 43 Vgl. Joan Allen, Alan Campbell, John McIlroy: Histories of Labour. National and International Perspectives. In: Dies. (Hg.): Histories of Labour. National and International Perspectives. London 2010, 7–25, hier 7. 44 Vgl. Michael Schwartz: „Proletarier“ und „Lumpen“. Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens. In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42/1994/4, 537–570; Michael Denning: Wageless Life. In: New Left Review 66/2010, 79–97. 45 Vgl. etwa Klaus Tenfelde: Einführung. In: Ders. (Hg.): Arbeit und Arbeitserfahrung in der Geschichte. Göttingen 1986, 5–8, hier 5; ders. (Hg.): Arbeiter im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1991. 46 Vgl. etwa Thomas Welskopp: Das Banner der Brüderlichkeit. Die deutsche Sozialdemokratie vom Vormärz bis zum Sozialistengesetz. Bonn 2000, 60; Jürgen Kocka: Arbeitsverhältnisse und Ar-
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1980er Jahren gerieten Vorstellungen einer „reinen“ und klar abgrenzbaren indus triellen Arbeiterklasse zunehmend in Zweifel und zwar angesichts der im Lauf vieler Leben vielfältigen Gleichzeitigkeit von Fabrikarbeit, Handwerk, Landwirtschaft, selbstständiger Arbeit und anderen Versuchen der Existenzsicherung.47 Dennoch galt Arbeit zumeist selbstredend als das, was „freie“ Lohnarbeiter/innen und auch Handwerker/innen, Bauern/Bäuerinnen, Angestellte48 – typischerweise taten respektive tun sollten. Aus der Perspektive der Sozialgeschichte war Arbeit in ihren Erscheinungsformen durchaus vielgestaltig und unterlag historischem Wandel: Tätigkeiten, Techniken, Produkte, Arbeitsorganisationen, Besitzverhältnisse und Konsumptionen veränderten sich.49 Doch in ihrem Wesen, wurde unterstellt, sei sie eine anthropologische Konstante: Arbeit an sich wäre ahistorisch, universell menschlich.50 Dieser Sichtweise zufolge arbeiteten Menschen immer schon, unabhängig davon, welche Vorstellungen sie selbst von ihrer Tätigkeit hatten (und ob sie überhaupt eine Vorstellung davon hatten).51 Welche konkreten Tätigkeiten als Arbeit in die Geschichte von Arbeit einbezogen, ob etwa Hausarbeit, Reproduktion, informelle oder gar kriminelle Aktivitäten integriert wurden oder nicht, hing von den Grenzziehungen der jeweiligen Historiker/innen ab.
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beiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert. Bonn 1990; ders.: Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse. Unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt. Bonn 2015; Jürgen Schmidt: Arbeiter in der Moderne. Arbeitsbedingungen, Lebenswelten, Organisation. Frankfurt/Main, New York 2015; Peter N. Stearns: Arbeiterleben. Industriearbeit und Alltag in Europa 1890–1914. Frankfurt/Main, New York 1980. Vgl. Josef Ehmer, Helga Grebing, Peter Gutschner: Vorwort: Einige Überlegungen zu Aspekten einer globalen Geschichte der Arbeit. In: Dies. (Hg.): „Arbeit“: Geschichte – Gegenwart – Zukunft. Wien 2002, 9–18, hier 13f. Oder gar Jäger und Sammler, siehe Rifkin: End of Work, 3. Zum „Gestaltwandel“ vgl. etwa Kocka/Offe: Einleitung, 9–15; das veränderliche „Antlitz“ der Arbeit beschreibt etwa Manfred Füllsack: Arbeit. Wien 2009, 7; Hans Frambach: Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg 1999, 12; Reinhold Reith: Praxis der Arbeit. Überlegungen zur Rekonstruktion von Arbeitsprozessen in der handwerklichen Produktion. In: Ders. (Hg.): Praxis der Arbeit. Probleme und Perspektiven der handwerksgeschichtlichen Forschung. Frankfurt/Main, New York 1998 (= Studien zur historischen Sozialwissenschaft 23), 11–54. Vgl. etwa Herbert Applebaum: The Concept of Work. Ancient, Medieval, and Modern. New York 1992, IX, XII. Vgl. Patrick Joyce: The Historical Meanings of Work: An Introduction. In: Ders. (Hg.): The Historical Meanings of Work. Cambridge et al. 1987, 1–30, hier 2; Kurt Beck, Gerd Spittler: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Arbeit in Afrika. Hamburg 1996 (= Beiträge zur Afrikaforschung 12), 1–24; zur Notwendigkeit, die Ideen zu untersuchen, die das soziale Leben organisieren vgl. etwa Maurice Godelier: Aide-Mémoire for a Survey of Work and its Representations. In: Current Anthropology 21/1980, 831–835, besonders 833f.
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Die klassische Begriffsgeschichte, die sich mit der Veränderbarkeit der Vorstellungen und Bewertungen von Arbeit beschäftigt, stand dazu nicht unbedingt im Gegensatz.52 Auch sie ging davon aus, dass in jeder Epoche gearbeitet wurde und dass jede Zeit und jede Gesellschaft, wenn zwar nicht (immer) eine Bezeichnung für, so doch einen Begriff, ein Verständnis von Arbeit hatte.53 Auf der Grundlage eines bestimmten Kanons vor allem gelehrter Texte, der „Höhenkammliteratur“, bildete sich eine „Standarderzählung“54 heraus, die in der Fachliteratur wieder und wieder reproduziert wurde.55 Ausgehend von einem nahezu ausschließlich negativen Bild der Arbeit in der klassischen Antike, wäre es im Lauf der Geschichte zu einer immer deutlicheren Aufwertung durch Judentum und Christentum, schließlich mit Reformation und Kapitalismus zur Durchsetzung eines modernen Arbeitsethos gekommen: Menschen müssen nicht nur arbeiten, sie arbeiten meistens (doch nicht immer),56 so hieß es, freiwillig.57 Dabei wurde unterstellt, dass ausgewählte Philosophen und 52 Eine Kombination von objektivistischem Zugang und Begriffsgeschichte bietet z. B. Andrea Komlosy: Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert. Wien 2014. 53 Arbeit als universelle und zugleich historische Kategorie etwa bei Karl Marx: „Arbeit erscheint eine ganz einfache Kategorie. Auch die Vorstellung derselben in dieser Allgemeinheit – als Arbeit überhaupt – ist uralt. Dennoch, ökonomisch in dieser Einfachheit gefaßt, ist ‚Arbeit‘ eine ebenso moderne Kategorie wie die Verhältnisse, die diese einfache Abstraktion erzeugen.“ Karl Marx: Einleitung [zu den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie]. In: Ders., Friedrich Engels: Werke. Berlin 1983, Bd. 42, 15–45, hier 38. 54 Josef Ehmer: Geschichte der Arbeit als Spannungsfeld von Begriff, Norm und Praxis. In: Bericht über den 23. Österreichischen Historikertag in Salzburg. Salzburg 2003 (= Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 32), 25–44, hier 28f. 55 Vgl. etwa Werner Conze: Arbeit. In: Ders., Otto Brunner, Reinhard Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Stuttgart 1979, Bd. 1, 154–215; Michael S. Aßländer: Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg 2005; Hans A. Frambach: Zum Verständnis von Arbeit im historischen Wandel. Eine Untersuchung aus nationalökonomischer Perspektive. In: Arbeit 11/2002/3, 226–243; Rudolf Walther: Arbeit – Ein begriffsgeschichtlicher Überblick von Aristoteles bis Ricardo. In: Helmut König, Bodo von Greiff, Helmut Schauer (Hg.): Sozialphilosophie der industriellen Arbeit. Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderheft 11/1990. Opladen 1990, 3–25. 56 Dazu kritisch Ludwig Mises: Die Arbeit im sozialistischen Gemeinwesen. In: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik NF 1/1921/1–3, 459–476; Arbeitsscheu als natürlicher Zustand bei Julius Wagner-Jauregg: Die Arbeitsscheu. In: Archiv für Kriminologie (Kriminalanthropologie und Kriminalistik) 74/1922, 104–119. 57 Es wird gar das Erwerben Zweck des Lebens. Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann. Gütersloh 1991, 44; Applebaum: Concept of Work, 571; dagegen Mises: Arbeit; Arbeit als Lust und Bürde etwa bei Joan Campbell: Joy in Work, German Work. The National Debate 1800–1945. Princeton 1989; Ehmer: Geschichte der Arbeit, 27; Kocka/Offe: Einleitung, 10; Joyce: Historical Meanings, 4; zu den unterschiedlichen und widersprüchlichen Haltungen der Gesellen zur Arbeit vgl. Sigrid Wadauer: Die Tour der Ge-
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Denker die Mentalität ganzer Epochen und Gesellschaften zum Ausdruck brachten. Störendes und Konträres (z. B. die Idealisierung der Faulheit) blieb meist ausgeklammert.58 Quellen jenseits des gelehrten Schreibens kamen nur selten in Betracht, und wenn, dann wurde oft vorschnell – etwa von Vorstellungen der Zünfte oder Arbeiterbewegungen – auf individuelle Handlungen, Vorstellungen oder Identitäten59 geschlossen.60 Demgegenüber erschlossen Katharina Lis und Hugo Soly in ihrer materialreichen Studie die in jeder historischen Epoche gegebene kontroverse Vielfalt von Vorstellungen.61 Auch ein von Jörg Leonhard und Willibald Steinmetz herausgegebener Sammelband zu historischen Semantiken von Arbeit verweist auf nichtlineare Entwicklungen und die Heterogenität der Wahrnehmungen, Bewertungen und Beschreibungen von Arbeit. Eine systematische Untersuchung von Repräsentationen jenseits gelehrter oder organisiert-politischer Debatten, etwa von Ego-Dokumenten oder seriellen Quellen aus Verwaltungskontexten ist allerdings nach wie vor ein Forschungsdesiderat. Auch durch die Verschiebung von einer vorwiegend europäischen zu einer mehr und mehr globalen Sicht wurden Annahmen und Konzepte der Geschichte von Arbeit oder zumindest deren universelle Gültigkeit hinterfragt. Vieles, das in der europäischen Geschichte der Arbeit als typisch galt, schien anderorts die Ausnahme zu sein.62 Phänomene, die aus modernisierungstheoretischer Perspektive längst verschwunden hätten sein sollen, dauerten fort. Unzureichende Einkommen aus freier Lohnarbeit und formeller Beschäftigung, Lebensunterhalte, die verschiedene, auch illegale, unselbstständige und selbstständige Tätigkeiten und Eigenarbeiten kombinierten, schienen außerhalb Europas normal und üblich.63 Wobei, wie Marcel van der Linden hervorgehoben hat, zwischen freier und unfreier, selbstständiger und
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sellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main, New York 2005 (= Studien zur Historischen Sozialwissenschaft 30), 140, 315, 350. Vgl. Aßländer: vita activa, 134; Wadauer: Tour der Gesellen, 315. Vgl. etwa Robin Leidner: Identity and Work. In: Korczynski/Hodson/Edwards: Social Theory, 424–463. Dazu kritisch Joyce: Historical Meanings, 12. Vgl. Catharina Lis, Hugo Soly: Worthy Efforts: Attitudes to Work and Workers in Pre-Industrial Europe. Leiden, Boston 2012; Jörg Leonhard, Willibald Steinmetz: Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von „Arbeit“. In: Dies. (Hg.): Semantiken von Arbeit, 9–59. Vgl. Andreas Eckert: What is Global Labour History Good For? In: Kocka: Work, 169–181, hier 175. Vgl. Jan Breman: Footloose Labour. Working in India’s Informal Economy. Cambridge 1996; Frederick Cooper: African Labor History. In: Jan Lucassen (Hg.): Global Labour History. A State of the Art. Bern et al. 2006, 91–116; Keith Hart: Informal Income Opportunities and Urban Employment in Ghana. In: The Journal of Modern African Studies 11/1973/1, 61–89, hier 78; Ximena Bunster, Elsa M. Chaney: Sellers & Servants. Working Women in Lima, Peru. Massachusetts 1989, 2.
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unselbstständiger Arbeit und den Tätigkeiten, die dem Lumpenproletariat zugeschrieben wurden, zahlreiche Übergänge existierten.64 Eine Globalgeschichte der Arbeit kann daher bestimmte Vorstellungen der europäischen Geschichte von Arbeit korrigieren, relativieren oder „provinzialisieren“, wie es Andreas Eckert in Anschluss an Dipesh Chakrabarty formuliert hat.65 Sie kann die Aufmerksamkeit auf Praktiken, Zusammenhänge, Aspekte lenken, die bisher außen vor gelassen wurden. In den gegenwärtigen Debatten über die Geschichte von Arbeit werden neben Freiheit und Unfreiheit von Arbeit (in allen Abstufungen) und dem Stellenwert „freier“ Lohnarbeit im Kapitalismus vor allem Prekarität und Informalität von Arbeit bevorzugt zum Thema gemacht.66 Im Kontext der Forschungen zu informeller Ökonomie67 finden sich auch zahlreiche Studien zum Straßenhandel,68 die explizit oder implizit grundlegende Fragen 64 Vgl. Marcel van der Linden: Workers of the World. Essays toward a Global Labour History. Leiden, Boston 2008, insbes. Kap. 2: „Who are the workers?“, 17–37. Zur Frage freier und unfreier Arbeit vgl. etwa Tom Brass, Marcel van der Linden (Hg.): Free and Unfree Labour. The Debate Continues. Bern et al. 1997; Marcel van der Linden, Magaly Rodriguez Garcia (Hg.): On Coerced Labor: Work and Compulsion after Chattel Slavery. Leiden 2016; Thomas Welskopp: Kapitalismus und Konzepte von Arbeit. Wie systematisch zentral ist „freie Lohnarbeit“ für den Kapitalismus? Geschichte und Gesellschaft 43/2017, 197–216. 65 Eckert: Global Labour History, 175; ders.: Von der „freien Lohnarbeit“ zum „informellen Sektor“? In: Geschichte und Gesellschaft 43/2017, 297–307. 66 Vgl. etwa Eloisa Betti: Historicizing Precarious Work: Forty Years of Research in the Social Sciences and Humanities. International Review of Social History 63/2018, 273–319; Nicole MayerAhuja: Die Globalität unsicherer Arbeit als konzeptionelle Provokation. Zum Zusammenhang zwischen Informalität im „Globalen Süden“ und Prekarität im „Globalen Norden“. In: Geschichte und Gesellschaft 43/2017, 264–296. 67 Vgl. Hart: Informal Income Opportunities. 68 Vgl. etwa Kristina Graaff, Noa Ha: Introduction. Street Vending in the Neoliberal City. A Global Perspective on the Practices and Policies of a Marginalized Economy. In: Dies. (Hg.): Street Vending in the Neolilberal City. A Global Perspective on the Practices and Policies of a Marginalized Economy. New York, Oxford 2015, 1–15; M. Estellie Smith: Overview: The Informal Economy and the State. In: Gracia Clark (Hg.): Traders Versus the State. Anthropological Approaches to Unofficial Economies. Boulder, London 1988, 189–199; John C. Cross: Street Vendors, Modernity and Postmodernity: Conflict and Compromise in the Global Economy. In: The International Journal of Sociology and Social Policy 20/2000/1–2, 29–51; Gordon Mathews, Gustavo Lins Ribeiro, Carlos Alba Vega: Globalization from Below. The World’s Other Economy. London, New York 2012; Sharit Bhowmik: Street Vendors in the Global Urban Economy. New Delhi, Abingdon 2010; Bunster/Chaney: Sellers & Servants; Susanne Teltscher: Small Trade and the World Economy: Informal Vendors in Quito, Ecuador. In: Economic Geography 70/1994/2, 167–187; Regina Austin: „An Honest Living“: Street Vendors, Municipal Regulation, and the Black Public Sphere. In: The Yale Law Journal 103/1994/8, 2119–2131; Alfonso Morales: Peddling Policy: Street Vending in Historical and Contemporary Context. In: The International Journal of Soci ology and Social Policy 20/2000/4, 76–98.
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der Erforschung von Arbeit adressieren, die auch hier im Folgenden im Zentrum stehen. Der Straßenhandel wurde oft pauschal einer „Kultur der Armut“ zugerechnet und als Überlebenskampf betrachtet. Klein- und Kleinsthändler, darauf hat Pierre Bourdieu in seinen Schriften zu Algerien hingewiesen, konnten den Arbeitslosen zugerechnet werden. Ihre Tätigkeit galt dann als reines Provisorium, als Versuch, noch irgendwie (und sei es nur „symbolisch“) zu arbeiten.69 Informelle Arbeit bedeutet jedoch, wie Manuel Castells und Alejandro Portes betont haben, nicht per se Armut oder Marginalität.70 Handel solcherart ist mit unterschiedlichem Status, Einkommen und Perspektiven verbunden.71 Einschlägige Forschungsbeiträge erläuterten nicht nur, was eigentlich als formell, informell, legal oder illegal galt,72 sondern warfen auch die Frage auf, was jeweils in bestimmten sozialen und historischen Kontexten73 als Arbeit und mehr oder minder regulärer Teil einer Ökonomie74 getan und betrachtet wurde und was nicht.75 Je nach Bezugssystem finden sich kontroverse Vorstellungen darüber, was Arbeit war und sein sollte: „Wenn er keine Arbeit findet“, so etwa ein Informant Bourdieus, „kann er immer noch den fliegenden Händler spielen. Wenn Arbeit aber heißt, einen Beruf zu haben, diesen dauerhaft auszuüben 69 Vgl. Pierre Bourdieu: Algerische Skizzen, hg. und mit einer Einleitung versehen von Tassadit Yacine. Frankfurt/Main 2010, 274, Fußnote 1, 289. 70 Vgl. etwa Manuel Castells, Alejandro Portes: World Underneath: The Origins, Dynamics, and Effects of the Informal Economy. In: Dies., Lauren A. Benton (Hg.): The Informal Economy. Studies in Advanced and Less Developed Countries. Baltimore, London 1989, 11–37, hier 12f.; Cross: Street Vendors, 29; Patricia Fernández-Kelly: Introduction. In: Dies., Jon Shefner (Hg.): Out of the Shadows. Political Action and Informal Economy in Latin America. University Park Pennsylvania 2006, 1–22. 71 Vgl. Teltscher: Small Trade, 171f; Colin C. Williams, Anjula Gurtoo: Evaluating Competing Theories of Street Entrepreneurship: Some Lessons from a Study of Street Vendors in Bangalore, India. In: International Entrepreneurship and Management Journal 8/2012, 391–409. 72 Dazu kritisch Thomas Buchner, Philip R. Hoffmann-Rehnitz: Introduction: Irregular Work and Shadow Economies as a Topic of Modern History – Problems and Possibilities. In: Dies. (Hg.): Shadow Economies and Irregular Work in Urban Europe. 16th to Early 20th Centuries. Münster, Wien, New York 2011, 3–36; Stuart Henry, Stephen Sills: Informal Economic Activity: Early Thinking, Conceptual Shifts, Continuing Patterns and Persistent Issues – A Michigan Study. In: Crime, Law and Social Change 45/2006, 263–284; Alejandro Portes: The Informal Economy and its Paradoxes. In: Neil J. Smelser, Richard Swedberg (Hg.): The Handbook of Economic Sociology. Princeton, New York 1994, 426–449; Alfonso Morales: Epistemic Reflections on the „Informal Economy“. In: The International Journal of Sociology and Social Policy 17/1997/3–4, 1–17. 73 Über die Schwierigkeit, diese Kategorien auf historische Kontexte anzuwenden, etwa Ivan Illich: Shadow Work. New Hampshire, London, Melbourne 1981, 1. 74 Vgl. etwa Timo Luks: Prekarität. Eine nützliche Kategorie der historischen Kapitalismusanalyse. In: Archiv für Sozialgeschichte 56/2016, 51–80. 75 Zum Betteln als informelle Arbeit vgl. etwa Stef Adriaenssen, Jef Hendrickx: Street-Level Informal Economic Activities: Estimating the Yield of Begging in Brussels. In: Urban Studies 48/2011/1, 23–40, hier 24.
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und davon richtig leben zu können, dann ist das etwas ganz anderes. Wenn Arbeit bedeutet, etwas zu machen, irgendetwas, um nicht einfach bloß die Arme zu kreuzen, wenn es bedeutet, sein Brot irgendwie zu verdienen, ja dann sind es wirklich nur die Faulenzer, die nicht arbeiten.“76 Als Streit- und Grenzfälle,77 die oft weder den „echten“ Proletariern78 noch den bürgerlichen Gewerben zugerechnet wurden,79 wurden die Tätigkeiten, mit denen ich mich im Folgenden befasse, nicht nur kontrovers wahrgenommen, auch ihre Zugehörigkeit zu etablierten (Forschungs-)Bereichen schien unklar. Wenngleich bislang kaum in der Geschichte von Arbeit, so fanden sie doch in anderen historiografischen Subdisziplinen Erwähnung. In Forschungen zur Frühen Neuzeit wurden sie noch am ehesten als ökonomisch relevante Aktivitäten beschrieben.80 Publikatio nen zu Wanderhandel und -gewerbe verwiesen auf dessen wichtige Bedeutung für Vertrieb und Konsum sowie als Erwerbsmöglichkeit.81 Für das 20. Jahrhundert wurde in den meisten Studien der Nieder-, wenn nicht Untergang dieser Gewerbe angenommen: Sie seien entweder durch sesshaften Handel oder durch andere Formen des 76 Pierre Bourdieu: Die zwei Gesichter der Arbeit. Interdependenzen von Zeit und Wirtschaftsstrukturen am Beispiel einer Ethnologie der algerischen Übergangsgesellschaft. Konstanz 2000, 76f.; eine ähnliche Formulierung findet sich in ders.: Algerische Skizzen, 290. 77 Bourdieu: Algerische Skizzen, 289. 78 „Ganz anders natürlich gestaltet sich das Bild, sobald man jenen ‚echten‘ Proletariern, dem Vollblut, das zahllose Halbblut zuzählt. Darunter sind also zu verstehen alle ‚Habenichtse‘, die besitzlose Bevölkerung, il popolino, ‚die kleinen Leute‘, zu denen auch jene ganz winzigen, wir sagen richtig proletarischen Existenzen unter den ‚selbständigen‘ Landwirten und Gewerbetreibenden, sowie die untersten Schichten des Beamtentums (z. B. in der Post- und Eisenbahnverwaltung) zu rechnen sind.“ Sombart: Sozialismus, 7. 79 Vgl. Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Soziographischer Versuch auf statistischer Grundlage. Stuttgart 1932 (= Soziologische Gegenwartsfragen 1), 85; Sergio Bologna: Die Zerstörung der Mittelschichten. Thesen zur Neuen Selbständigkeit. Graz, Wien 2006, 131; Heinz-Gerhard Haupt: Besitz und Selbstständigkeit als Teil von Arbeiterstrategien im 19. und 20. Jahrhundert. Beispiele aus West- und Südeuropa. In: Geschichte und Gesellschaft 43/2017, 240–263. 80 Vgl. etwa Christina Brauner: Wanderhändler als Grenzfiguren. Mobile Lebensformen und politische Ökonomie in der Frühen Neuzeit. In: Anne Friedrichs, Susanne L. Gössl, Elisa Hoven, Andrea U. Steinbicker (Hg.): Migration. Gesellschaftliches Zusammenleben im Wandel. Leiden 2018, 101–123. 81 Vgl. Uwe Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft. Entstehung und Entwicklung des modernen Kleinhandels in Deutschland 1850–1914. München 1999, 37–41; Christian Glass: Mit Gütern unterwegs. Hausierhändler im 18. und 19. Jahrhundert. In: Hermann Bausinger, Klaus Beyrer, Gottfried Korff (Hg.): Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. München 1991, 62–69; Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus. Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, 1. Teilbd. München, Leipzig 1928, 448; Robert Büchner: Tiroler Wanderhändler. Die Welt der Marktfahrer, Straßenhändler und Hausierer. Innsbruck, Wien 2011.
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Vertriebs (etwa durch Handelsvertreter) ersetzt oder transformiert worden.82 Analog wurde zumindest dem Wandern von Gesellen und Facharbeitern auch nach der Aufhebung der Zünfte bis ins späte 19. Jahrhundert eine große Bedeutung und wichtige Funktion zugeschrieben. So meinte etwa Josef Ehmer: The peculiarities of central Europe can be seen in this fact that master artisan’s workshops kept their dominant position as places and units of production. […] The circulation of single, in-living journeymen between and within the large cities such as Vienna created a highly flexible trans-regional labour market and served to maintain a balance between labour demand and labour supply, as it had done for centuries. As it seems, the old journeymen’s tramping system fitted perfectly into the new economic environment.83
Im Handwerk (wenn auch nicht in jedem Gewerbe gleichermaßen) war das Wandern als Ausbildungs-, Bewährungs- und Übergangsphase durchgesetzt und kollektiv abgesichert.84 Es konnte zwar prinzipiell in Landstreicherei münden, ließ sich jedoch nicht auf Armuts- oder Notwandern,85 nicht einmal auf bloße Arbeitssuche reduzieren. Wie sich dieses Wandern zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte und/oder 82 Vgl. Laurence Fontaine: History of Pedlars in Europe. Padstow 1996, 3, 143; Hannelore Oberpenning: Migration und Fernhandel im „Tödden-System“: Wanderhändler aus dem nördlichen Münsterland im mittleren und nördlichen Europa. Osnabrück 1996 (= Studien zur Historischen Migrationsforschung 4), 38, 66; Wilfried Reininghaus: Wanderhandel in Deutschland. Ein Überblick über Geschichte, Erscheinungsformen und Forschungsprobleme. In: Ders. (Hg.): Wanderhandel in Europa. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung in Ibbenbüren, Mettingen, Recke und Hopsten vom 9.–11. Oktober 1992. Dortmund 1993, 31–45; Michael French: Commercials, Careers, and Culture: Travelling Salesmen in Britain, 1890s–1930s. In: The Economic History Review NS 58/2005/2, 352–377, hier 353; Boris Franz Leo Bromm: Die Entstehungsgeschichte des Berufs des Handelsvertreters. Frankfurt/Main et al. 2000; Roman Rossfeld: Handlungsreisende – travelling salesmen – voyageurs de commerce: eine Einführung. In: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 2014/2, 129–134. Ein finnisches Forschungsprojekt „Dealing with Difference“ unter der Leitung von Ann-Catrin Östman hebt hingegen die Bedeutung von (informellem) Wanderhandel für den Konsum im Finnland des späten 19. und frühe 20. Jahrhundert hervor. Vgl. etwa Johanna Wassholm, Anna Sundelin: Emotions, Trading Practices and Communication in Transnational Itinerant Trade: Encounters between ‚Rucksack Russians‘ and their Customers in the Late Nineteenth- and Early Twentienth-Century Finnland. In: Scandinavian Economic History Review 66/2018/2, 132–152. 83 Josef Ehmer: Tramping Artisans in Nineteenth-Century Vienna. In: David Siddle (Hg.): Migration, Mobility and Modernization. Liverpool 2000, 164–185, hier 84; vgl. auch Annemarie Steidl: Auf nach Wien! Die Mobilität des mitteleuropäischen Handwerks im 18. und 19. Jahrhundert am Beispiel der Haupt- und Residenzstadt. Wien, München 2003. 84 Eine ausführlichere Argumentation dazu in Wadauer: Tour der Gesellen, Kap. 2. 85 Vgl. etwa Olwen H. Hufton: The Poor of Eighteenth-Century France 1750–1789. Oxford 1974, 70.
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verschwand,86 ist bislang kaum untersucht.87 Es schien nach dem Ersten Weltkrieg und insbesondere in der Zeit der Weltwirtschaftskrise den Charakter von Arbeitsmigration einzubüßen. In der Migrationsforschung wurden Gesellenwanderung wenig, Wandergewerbe, Wanderhandel88 und das Wandern von Arbeitslosen oder Landstreichern89 noch weniger beachtet.90 Am wenigsten wurden Zusammenhang oder Überschneidungen dieser Praktiken untersucht.91 Im Gegensatz zu transnationalen und transkontinentalen Wanderungen erregten temporäre und zirkuläre Arten von Mobilität und Versuche, solche Binnenmobilität zu kontrollieren und zu organisieren, kaum Aufmerksamkeit.92 Dieses Umherziehen, dessen Ausgangspunkt, Ziel und Zweck oft so umstritten waren, fügte sich auch nur schlecht in die Kategorisierungen der Migra86 Vgl. Klaus J. Bade: Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. München 2000, 254; Jochen Oltmer: Migration und Politik in der Weimarer Republik. Göttingen 2005, 16. 87 Vgl. Sigrid Wadauer: Vazierende Gesellen und wandernde Arbeitslose (Österreich, ca. 1880– 1938). In: Dies./Steidl/Buchner/Lausecker/Pinwinkler/Zeitlhofer: Übergänge, 101–131; Lars Olsson: „We Stand Here as Sellers and Buyers in Relation to Each Other“. On Work, Culture, and Consciousness Among Swedish Typographers in the Late 19th and Early 20th Centuries. In: Scandinavian Journal of History 19/1994, 201–221. 88 Eine Ausnahme ist Oberpenning: Migration. 89 Tilly verweist darauf, dass diese nicht in die Kategorien der Migrationsforschung passen. Vgl. Charles Tilly: Migration in Modern European History. In: William H. McNeill, Ruth Adams (Hg.): Human Migration. Patterns and Policies. Bloomington, London 1978, 48–73, hier 49. 90 Vgl. hingegen Josef Ehmer: Migrationen in der historischen Forschung – Themen und Perspektiven. In: Heinz Fassmann, Julia Dahlvik (Hg.): Migrations- und Integrationsforschung – multidisziplinäre Perspektiven. Ein Reader. Göttingen 2012, 95–108. 91 Diese werden in lebensgeschichtlichen Dokumenten greifbar. Der Glaser und Sägearbeiter Ignaz Danzinger beschreibt etwa, wie er abwechselnd für Glasermeister hausiert und dann wieder auf Walz geht. Vgl. Die Geschichte zweier Leben. Ignaz und Karl Danzinger. Nach Originalaufzeichnungen neu geschrieben von Helga Köhler. Erzählungen aus dem Leben meines Urgroßvaters Herrn Ignaz Danzinger (1867–1916) Glaser. Typoskript, Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Universität Wien 1994. Folgende kürzlich publizierte Dissertation setzt sich mit solchen Fragen auseinander: Katrin Lehnert: Die Un-Ordnung der Grenze. Mobiler Alltag zwischen Sachsen und Böhmen und die Produktion von Migration im 19. Jahrhundert. Leipzig 2017. 92 Vgl. etwa Josef Ehmer: Migration of Journeymen as Nineteenth-Century Mass Migration. In: René Leboutte (Hg.): Migrations and Migrants dans une Perspective Historique. Permanences et Innovations. Bruxelles et al. 2000, 97–109; zur Frage der Kontrolle vgl. Gérard Noiriel: Die Tyrannei des Nationalen. Sozialgeschichte des Asylrechts in Europa. Lüneburg 1994, 29, 33; ders.: The French Melting Pot. Immigration, Citizenship, and National Identity. Minneapolis, London 1996, 61f.; Torpey: Coming and Going, 239f., 254; Leo Lucassen: Eternal Vagrants? State Formation, Migration, and Travelling Groups in Western-Europe, 1350–1914. In: Ders., Jan Lucassen (Hg.): Migration, Migration History, History. Old Paradigms and New Perspectives. Bern et al. 1997, 225–251.
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tionsforschung.93 In Hinblick auf das 20. Jahrhundert war es noch am ehesten in den Zuständigkeitsbereich der Armutsforschung gefallen. Nachdem sich diese lange Zeit eher auf staatliche Politiken, Regelungen und Einrichtungen konzentriert hatte, wurden in den letzten Jahrzehnten verstärkt die vielfältigen Versuche der Armen, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen und dies zu rechtfertigen, zum Thema gemacht.94 Hausieren, Wandern oder Betteln wurden als Notbehelfe,95 als Überlebensstrategien96 von Armen oder Arbeitslosen verstanden. Die Möglichkeit, dass es sich dabei auch um (erfolgreiche oder erfolglose) Versuche handeln könnte, sich längerfristig etwas aufzubauen und sich als Kleinhändler/in oder Gewerbetreibende/r zu etablieren, wurde kaum in Erwägung gezogen.97 Die Grenzen zwischen diesen Gewerben und Bettelei98 schienen im 20. Jahrhundert immer mehr zu verwischen, die Praktiken aus Sicht der Zeitgenoss/inn/en und Historiker/innen immer eindeutiger einer „Unterschicht“99 anzugehören, wenn nicht gar einem kriminellen/kriminalisierten Milieu. In der zeitgenössischen kriminologischen Literatur und in medizinischen Schriften galt das Umherziehen als Indiz für einen Wandertrieb,100 für asoziale, anti93 Vgl. etwa Sigrid Wadauer: Historische Migrationsforschung. Überlegungen zu Möglichkeiten und Hindernissen. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 19/2008/1, 6–14. 94 Vgl. etwa Andreas Gestrich, Steven King, Lutz Raphael: The Experience of Being Poor in Nineteenth- and Early-Twentieth-Century Europe. In: Dies. (Hg.): Being Poor in Modern Europe. Historical Perspectives 1800–1940. Oxford et al. 2006, 17–40, hier 20, 34. 95 Vgl. Steven King, Alannah Tomkins: Introduction. In: Dies. (Hg.): The Poor in England 1700– 1850. An Economy of Makeshifts. Manchester, New York 2003, 1–38; Hufton: Poor; Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000, 117; vgl. zu diesem Konzept auch Sigrid Wadauer: Ökonomie und Notbehelfe in den 1920er und 1930er Jahren. In: Peter Melichar, Ernst Langthaler, Stefan Eminger (Hg.): Niederösterreich im 20. Jahrhundert. Bd. 2: Wirtschaft. Wien 2008, 537–573. 96 Vgl. etwa Austin: Honest Living, 2119; Alejandro González Arriagada: Surviving in the City. The Urban Poor of Santiago de Chile 1930–1970. Uppsala 2000, 15. 97 Vgl. Oberpenning: Migration, 369f. 98 Vgl. Leo Lucassen: A Blind Spot: Migratory and Travelling Groups in Western European Historiography. In: International Review of Social History 38/1993, 209–235, hier 209; Rainer Beck: Lemonihändler. Welsche Händler und die Ausbreitung der Zitrusfrüchte im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2004/2, 97–123, hier 106; Oberpenning: Migration, 24; Reininghaus: Wanderhandel, 36; Wolfgang Hartke: Die geographischen Funktionen der Sozialgruppe der Hausierer am Beispiel der Hausiergemeinden Süddeutschlands. In: Werner Storkebaum (Hg.): Sozialgeographie. Darmstadt 1969, 439–473. 99 Vgl. John Welshman: Underclass. A History of the Excluded, 1880–2000. London 2006. 100 Vgl. etwa Ludwig Mayer: Der Wandertrieb. Eine Studie auf Grund vorhandener Literatur, eigener Beobachtungen und Untersuchungen. Würzburg 1934; Wilhelm Stekel: Störungen des Trieb- und Affektlebens. (Die parapathischen Erkrankungen.) Bd. VI: Impuls-Handlungen (Wandertrieb, Dipsomanie, Kleptomanie, Pyromanie und verwandte Zustände.) Berlin, Wien 1922; Charles B. Davenport: The Feebly Inhibited. Nomadism, or the Wandering Impulse, with Special Reference
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soziale, arbeitsscheue und kriminelle Lebensweisen.101 Die Verfolgung von „Asozialen“ wurde vor allem für die Zeit des nationalsozialistischen Regimes erforscht.102 Der Verfolgung von Bettler/innen und Landstreicher/inne/n im Austrofaschismus ist hingegen bislang wenig Aufmerksamkeit zugekommen.103
to Heredity. Inheritance of Temperament. Washington 1915 (= Carnegie Institution of Washington 236). 101 Vgl. Anton Walitschek: Über die Bekämpfung der Gemeinschädlichen. In: Öffentliche Sicherheit 4/1924/23–24, 1–3, hier 1; Rudolf Michel: Der psychopathische Gewohnheitsverbrecher. In: Mitteilungen der Kriminalbiologischen Gesellschaft 2/1928, 74–90, hier 79; Oskar Meister: Faulheit, Arbeitsscheu, Arbeitsunwilligkeit in kriminalistischer Bedeutung. In: Öffentliche Sicherheit 18/1938/1, 2f., hier 2. Diese Vorstellungen kursieren auch noch nach 1945. Vgl. etwa Armand Mergen: Die Tiroler Karrner. Kriminologische und kriminalbiologische Studien an Landfahrern ( Jenischen). Mainz 1949. 102 Vgl. beispielsw. die Publikationen von Wolfgang Ayaß: „Asoziale“ im Nationalsozialismus. Stuttgart 1995; ders.: Das Arbeitshaus Breitenau. Bettler, Landstreicher, Prostituierte, Zuhälter und Fürsorgeempfänger in der Korrektions- und Landarmenanstalt Breitenau (1874–1949). Kassel 1992; ders.: Wanderer und Nichtseßhafte – „Gemeinschaftsfremde“ im Dritten Reich. In: HansUwe Otto, Heinz Sünker (Hg.): Soziale Arbeit und Faschismus. Volkspflege und Pädagogik im Nationalsozialismus. Bielefeld 1986, 361–387; ders.: Vom „Pik As“ ins „Kola-Fu“: Die Verfolgung der Bettler und Obdachlosen durch die Hamburger Sozialverwaltung. In: Projektgruppe für vergessene Opfer des NS-Regimes in Hamburg e. V. (Hg.): Verachtet – verfolgt – vernichtet: zu den ‚vergessenen‘ Opfern des NS-Regimes. Hamburg 1986, 152–171; ders. (Hg.): „Gemeinschaftsfremde“. Quellen zur Verfolgung von „Asozialen“ 1933–1945. Koblenz 1998 (= Materialien aus dem Bundesarchiv 5). 103 Mit Ausnahme etwa von Siegwald Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen.“ In: Medien & Zeit 5/1990/2, 20–29; auch Gerhard Melinz beschreibt die Politik des Ständestaates in dieser Hinsicht, vgl. Gerhard Melinz: Von der Armenfürsorge zur Sozialhilfe: Zur Interaktionsgeschichte von „erstem“ und „zweitem“ sozialen Netz in Österreich am Beispiel der Erwachsenenfürsorge im 19. und 20. Jahrhundert. Unveröff. Habilitationsschrift, Wien 2003; ders., Gerhard Ungar: Wohlfahrt und Krise. Wiener Kommunalpolitik zwischen 1929 und 1938. Wien 1996; ders.: Fürsorgepolitik(en). In: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938. Wien 2005, 238–252; erwähnt wird das Bettlerlager Schlögen zumindest in Gerhard Jagschitz: Die Anhaltelager in Österreich. In: Ludwig Jedlicka, Rudolf Neck (Hg.): Vom Justizpalast zum Heldenplatz. Studien und Dokumentationen 1927 bis 1938. Festgabe der Wissenschaftlichen Kommission des Theodor Körner-Stiftungsfonds und des Leopold Kunschak-Preises zur Erforschung der österreichischen Geschichte der Jahre 1927 bis 1938 anläßlich des dreißigjährigen Bestandes der Zweiten Republik und der zwanzigsten Wiederkehr des Jahrestages des Österreichischen Staatsvertrages. Wien 1975, 128–151.
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Verfolgt wurden Wanderhandel, Wandergewerbe und Bettelei oft als typische Erwerbe von Juden/Jüdinnen104, Zigeuner/inne/n, Jenischen105 oder anderen Minderheiten106. Die Geschichtsschreibung, die sich meist nur mit je einer dieser Gruppen befasste, reproduzierte solche Zuschreibungen mit umgekehrter Bewertung vielfach bloß: Erwerbe, die zur Kategorisierung etwa als Zigeuner/in beigetragen hatten, wurden so als Zigeunerberufe107 beschrieben. Es interessierten Diffamierung, Verfolgung und Diskriminierung oder Rehabilitierung und Rechtfertigung, weniger die Erwerbe und Lebensunterhalte und deren ökonomische Funktionsweisen und Kontexte.108 Deshalb wurden oft die Argumente der Gegner/innen und Konkurrent/ inn/en in ideologiekritischer Absicht wiederholt,109 nicht aber die Gegenargumente und Rechtfertigungen der diffamierten Gewerbetreibenden oder von deren Kund/ inn/en. Das häufig vorgebrachte Argument, dass Quellen ausschließlich von den
104 Vgl. etwa Hasia Diner: Entering the Mainstream of Modern Jewish History. Peddlers and the American Jewish South. In: Marcie Cohen Ferris, Mark I. Greenberg (Hg.): Jewish Roots in Southern Soil. A New History. Hannover, London/New England 2006, 86–108; Beatrix Hoffmann-Holter: „Abreisendmachung“. Jüdische Kriegsflüchtlinge in Wien 1914 bis 1923. Wien, Köln, Weimar 1990; Klaus Hödl: Als Bettler in die Leopoldstadt. Galizische Juden auf dem Weg nach Wien. Wien, Köln, Weimar 1994, 39; dagegen Betty Naggar: Jewish Pedlars and Hawkers. 1740–1940. Camberley 1992, 15. 105 Vgl. Toni Pescosta: Die Tiroler Karrner. Vom Verschwinden des fahrenden Volkes der Jenischen. Innsbruck 2003; Günter Danzer (Hg.): Jenisch diebra en oberberg. Burgberg. Geschichte und Leben zwischen Schloss und Stettberg. Syrgenstein 2000; Thomas Huonker, Regula Ludi: Roma, Sinti und Jenische. Schweizerische Zigeunerpolitik zur Zeit des Nationalsozialismus. Beitrag zur Forschung. Zürich 2001 (= Veröffentlichungen der UEK 23); Juliane Tatarinov: Kriminalisierung des ambulanten Gewerbes. Zigeuner- und Wandergewerbepolitik im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Frankfurt/Main et al. 2015. 106 Etwa Gottscheer, vgl. Ingrid Kaiser-Kaplaner: Gottscheer Frauenschicksale im 20. Jahrhundert. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung Vertriebener anhand von Erzählungen Betroffener. Klagenfurt 1993 (= Studia Carinthiaca VII), 65; Othmar Pickl: Die einstige Sprachinsel Gottschee/ Kocevje (Slowenien) und ihre Wanderhändler. In: Reininghaus: Wanderhandel, 91–99. 107 Über Zigeunerberufe und Zigeunerhandwerk vgl. etwa Claudia Mayerhofer: Dorfzigeuner. Kultur und Geschichte der Burgenland-Roma von der Ersten Republik bis zur Gegenwart. Wien 1987, 128, 135; Georg Gesellmann: Die Zigeuner im Burgenland in der Zwischenkriegszeit. Die Geschichte einer Diskriminierung. Wien 1989, 134; Hermann Arnold: Fahrendes Volk. Randgruppen des Zigeunervolkes. Neustadt/Weinstraße 1980, 8. 108 Vgl. etwa Lucassen: Eternal Vagrants, 225–251. 109 Vgl. z. B. Andrea Woeldike: Die „Gesundung des Volkskörpers durch Arbeit“. Eine kulturhistorische Auseinandersetzung mit der Entwicklung des Begriffs der „deutschen Arbeit“. In: Dietmar Sedlaczek, Thomas Lutz, Ulrike Puvogel, Ingrid Tomkowiak (Hg): „minderwertig“, und „asozial“. Stationen der Verfolgung gesellschaftlicher Außenseiter. Zürich 2005, 11–50; Nicolas Berg: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Kapitalismusdebatten um 1900 – Über antisemitisierende Semantiken des Jüdischen. Leipzig 2011, 9–21.
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Gegner/inne/n erzeugt und hinterlassen wurden, entspricht, wie ich zeigen werde, nicht den Tatsachen. In der zeitgenössischen Forschung wie der Historiografie dominierte also eine miserabilistische Haltung, die vor allem Not, Zwang und Devianz sah und kritisieren wollte.110 Solche Generalisierungen stellte etwa Leo Lucassen infrage, indem er auf die Nützlichkeit und ökonomische Funktion verschiedener Tätigkeiten verwies. Wanderhändler/innen und umherziehende Gewerbetreibende boten als „service nomads“111 Güter und Dienste an, die gebraucht wurden und erwünscht waren.112 Tatsächlich lassen sich in zeitgenössischen und in einzelnen historiografischen Schriften nicht nur Hinweise auf Armut, Marginalität und Kriminalität finden, sondern ebenso rehabilitierende Argumente.113 Es gibt, wenngleich nicht so häufig, positive, nostalgische, pittoreske Darstellungen,114 auch Romantisierungen und Idealisierungen.115 Einige Publikationen jüngeren Datums haben prekären Erwerbe etwa von 110 Zu dieser Sicht kritisch etwa Lucassen: Eternal Vagrants; ders., Wim Willems, Annemarie Cottaar: Introduction. In: Dies.: Gypsies and Other Itinerant Groups. A Socio-Historical Approach. Houndmills, New York 2001, 1–13. 111 Thomas A. Acton: Zigeunerkunde – ein Begriff, dessen Zeit vorüber ist. In: Joachim S. Hohmann (Hg.): Handbuch zur Tsiganologie. Frankfurt/Main 1996, 55–63, hier 56f. 112 Vgl. Gerhard Ammerer, Sabine Veits-Falk: (Über-)Leben auf der Straße. Das 18. und 19. Jahrhundert. In: Sylvia Hahn, Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hg): Armut in Europa 1500–2000. Innsbruck, Wien, Bozen 2010 (= Querschnitte 25), 140–161. 113 Zu solchen Umkehrungen vgl. Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft. Frankfurt/Main 2001, 87, 98. 114 Eine Reproduktion zeitgenössischer Klischees etwa in: Wolfgang Kos (Hg.): Wiener Typen. Klischees und Wirklichkeit. Wien 2013. 115 Zur Idealisierung der Vagabundage und der Kritik daran vgl. beispielsweise Erich Mühsam, der schreibt, er hätte „wiederholt für die Lumpenproletarier das Wort ‚Kunden‘ gebraucht. Nachher protestierten zwei der Leute: Sie seien keine Kunden. Unter Kunden verstehe man Handwerksbu[r] schen, die von Ort zu Ort ziehen und um Arbeit fragen. ‚Wir sind Vagabunden oder Lumpen!‘ – Aus dieser Aufklärung sprach ein prachtvoller Stolz. ‚Wir suchen keine Arbeit, wir wollen nicht für die „Herren“ arbeiten!‘ Die so sprachen und fühlten, – gerade die waren keine geborenen Faulpelze, grade die sehnten sich nach Arbeit, nur nach einer solchen, die ihrer persönlichen Ehre und Selbstbestimmung nicht zu nahe trat.“ Erich Mühsam: Der fünfte Stand. In: Ders.: Ich bin verdammt zu warten in einem Bürgergarten. Bd. 2: Literarische und politische Aufsätze, hg. von Wolfgang Haug. Darmstadt, Neuwied 1983, 82–87, hier 86. Vgl. auch ders.: Generalstreik das Leben lang. Vagabundentreffen in Stuttgart 1929. In: Künstlerhaus Bethanien (Hg.): Wohnsitz: Nirgendwo. Vom Leben und vom Überleben auf der Strasse. Berlin 1982, 211–222, hier 214; Paul Ettighofer: Servus, Kumpel. Feldausgabe 1942, zit. nach Klaus Trappmann (Hg.): Landstrasse. Kunden. Vagabunden. Gregor Gogs Liga der Heimatlosen. Berlin 1980, 57; Hugo Sonnenschein (Sonka): Die Fesseln meiner Brüder. Gesammelte Gedichte, Auswahl und Nachwort von KarlMarkus Gauß und Josef Haslinger. München, Wien 1984, 8f.; vgl. auch ders.: Der Bruder Sonka und die allgemeine Sache oder Das Wort gegen die Ordnung. Berlin, Wien, Leipzig 1930; Ute Gerhard: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der
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Klein- und Kleinstselbstständige als reguläres – also nicht bloß krisenhaftes – Element im Kapitalismus thematisiert.116
I.2 Forschungsprogramm und forschungspraktische Umsetzung Die Auseinandersetzungen zum Gegenstand machen
In der historiografischen Forschung wie in den Quellen lassen sich verschiedene, auch konträre Perspektiven auf die mit Mobilität verbundenen Lebensunterhalte ausmachen. Aspekte und Gewichtungen der Beschreibungen variierten, je nach Interesse, je nach Forschungskontext. Handelte es sich um Arbeit, um Überlebensstrategien oder um kriminelle Aktivitäten? Um Praktiken des Proletariats oder einer Unterschicht? Um soziale Deklassierung, dauerhaftes Elend oder Versuche des Aufstiegs? Es ließe sich für jede dieser Annahmen ein Beispiel und ein Gegenbeispiel finden. Wie ist mit solcher Widersprüchlichkeit und Ambiguität umzugehen? Ein übliches Vorgehen wäre es, eine „operationale“ Definition zu finden. Definieren soll Kohärenz, Trennschärfe und Objektivität garantieren.117 Definieren verlangt jedoch, sich für eine der Perspektiven und gegen alle anderen zu entscheiden. Zumeist werden in dieser Logik amtliche Definitionen und Grenzziehungen übernommen, alle anderen möglichen Sichtweisen (die nicht per se weniger wirksam sind oder waren) jedoch außer Acht gelassen. Gerne wird dabei eine als problematisch empfundene zeitgenössische Vorstellung durch eine andere ersetzt, die der Meinung des Forschers/der Forscherin eher entspricht, etwa ein „enger Arbeitsbegriff “ durch einen „weiteren“, der Haus- und Reproduktionsarbeit einschließt und anerkennt.118 Man Weimarer Republik. Wiesbaden 1998. Vgl. weiters auch Hanna Meuter: Die Heimlosigkeit. Ihre Einwirkung auf Verhalten und Gruppenbildung der Menschen. Jena 1925, 35–37; Friedemann Spicker: Deutsche Wander-, Vagabunden- und Vagantenlyrik in den Jahren 1910–1933. Wege zum Heil – Straßen zur Flucht. Berlin, New York 1976; Georg Bollenbeck: Armer Lump und Kunde Kraftmeier. Der Vagabund in der Literatur der zwanziger Jahre. Heidelberg 1978; Helmut Kreuzer: Die Boheme. Analysen und Dokumentation der intellektuellen Subkultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 2000; Tim Cresswell: The Tramp in America. London 2001, 12f. 116 Etwa Luks: Prekarität; oder Haupt: Besitz. Zur Bedeutung von Kleinhandel für die Industrialisierung und die Entwicklung der Konsumgesellschaft vgl. auch Spiekermann: Basis der Konsumgesellschaft. 117 „Scharfe Scheidung ist in der Realität oft nicht möglich, klare Begriffe sind aber dann deshalb nur um so nötiger.“ Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Frankfurt/Main 2005, 158 (Hervorhebungen im Original). 118 Vgl. z. B. Andrea Komlosy: Arbeitsverhältnisse und Gesellschaftsformen. In: Dies., Markus Cerman, Franz X. Eder, Peter Eigner, Erich Landsteiner (Hg.): Wirtschaft und Gesellschaft. Europa
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versucht, der Vielfalt, Heterogenität und Unübersichtlichkeit der Phänomene, durch Typenbildung Herr/in zu werden: Eine Population wird nach bestimmten Aspekten und (meist wenig präzisen oder kaum messbaren) Kriterien, etwa nach Ärmlichkeit, nach Waren oder Tätigkeiten, nach wirtschaftlichen Abhängigkeiten usw. gegliedert, gruppiert.119 Die jeder historischen Tatsache – und nicht nur diesen Grenzfällen – inhärente Unschärfe, Vielfalt, Diffamierbarkeit120 und Strittigkeit121 gelten bloß als zu eliminierende Störfaktoren und Hindernisse. Damit wird jedoch auch die Historizität der betreffenden sozialen Phänomene, die nur existieren, weil es eine Auseinandersetzung über ihre Existenz und Identität gab und gibt, eliminiert.122 Dementgegen konstruiere ich historische Phänomene als Räume der Auseinandersetzungen über ihre Existenz und Identität,123 als Zusammenhänge von Praktiken.124 Anstatt vorab zu definieren, anstatt sich vorab für eine der möglichen Perspektiven zu entscheiden, macht diese Studie die Auseinandersetzungen um Arbeit und legitimen Lebensunterhalt zu ihrem Gegenstand. Ziel ist es, Praktiken und Prinzipien der Hierarchisierung und Unterscheidung zu untersuchen und zu verstehen (anstatt nur zu postulieren). Dabei beziehe ich auf systematische und vergleichende Art die Praktiken und Perspektiven, Konsens und Dissens der an diesen Auseinandersetzungen Beteiligten ein – wie beherrscht, machtlos und unwichtig sie auch erscheinen mögen.125
1000–2000. Wien 2011, 244–263; Matthew Cole: Re-Thinking Unemployment. A Challenge to the Legacy of Jahoda et al. In: Sociology 41/2007/6, 1133–1149. 119 Solche Typologien finden sich etwa bei Fontaine: History of Pedlars, 73–93; Reininghaus: Wanderhandel, 32. 120 Vgl. Thomas: Introduction, XVI. 121 Vgl. Kocka: Work, 1; Wallmann: Introduction. 122 Zum Problem der Definitionskämpfe vgl. etwa Pierre Bourdieu: Das literarische Feld. Die drei Vorgehensweisen. In: Louis Pinto, Franz Schultheis (Hg.): Streifzüge durch das literarische Feld. Konstanz 1997 (= édition discours 4), 33–147, hier 60; Alexander Mejstrik, Therese Garstenauer, Peter Melichar, Alexander Prenninger, Christa Putz, Sigrid Wadauer: Berufsschädigungen in der nationalsozialistischen Neuordnung der Arbeit. Vom österreichischen Berufsleben 1934 zum völkischen Schaffen 1938–1940. Wien, München 2004, 12f. 123 Vgl. dazu Luc Boltanski: Die Führungskräfte. Die Entstehung einer sozialen Gruppe. Frankfurt/ Main, New York, Paris 1990, 177–179; Pierre Bourdieu: Eine störende und verstörende Wissenschaft. In: Ders.: Soziologische Fragen. Frankfurt/Main 1993, 19–35, hier 22; Alexander Mejstrik: Totale Ertüchtigung und spezialisiertes Vergnügen. Die Tätigkeiten Wiener Arbeiterjugendlicher als Erziehungseinsätze. 1941–1944. Unveröff. Diss, Wien 1993, Bd. 1, 7. 124 Vgl. Mejstrik: Totale Ertüchtigung, Bd. 1, 7. 125 Es geht also nicht um einen Relativismus, vgl. Pierre Bourdieu et al.: Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft. Konstanz 1997, 18.
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Einleitung
Quellen
Ein solches Vorgehen erfordert es, möglichst vielfältige Quellen heranzuziehen. Ich befasse mich deshalb zum einen mit Archivalien, Zeitungsartikeln, Protokollen, Statistiken und Abhandlungen, die eine Untersuchung zeitgenössischer politischer Auseinandersetzungen, staatlicher Politik und kollektiver Repräsentationen sowie wissenschaftlicher Diskussionen erlauben. Um zu vermeiden, Veränderungen a priori dem Wechsel der politischen Regime zuzuschreiben, ziehe ich den längeren Zeitraum von ca. 1880 bis 1938 in Betracht. Der Fokus liegt auf dem cisleithanischen Teil der Habsburgermonarchie, dann auf dem Gebiet Österreichs. Zum anderen untersuche ich Variationen und Kontraste der Lebensunterhalte und Erwerbspraktiken anhand von personenbezogenen Darstellungen. Dies ist nur für einen kürzeren Zeitraum, 1918 bis 1938, möglich. Ich verwende dafür lebensgeschichtliche Texte126 und Interviews,127 also Materialien, die vermehrt seit den 1980er Jahren entstanden sind. Schilderungen des eigenen Wanderns ohne Arbeit und/oder, um Arbeit zu suchen sind in solchen Quellen keineswegs selten – vor allem in den Texten von Facharbeitern und Gesellen, weniger von unqualifizierten Arbeitskräften, Landarbeiter/inne/n oder Knechten und Mägden. Lebensgeschichtliche Beschreibungen von Wandergewerbetreibenden, Hausierer/inne/n und Personen, die nicht nur temporär, sondern über längere Zeit hinweg einen Lebensunterhalt im Umherziehen suchten128 und dauerhaft kriminalisiert wurden, waren hingegen kaum verfügbar. Bei der Verwendung solcher lebensgeschichtlichen Texte darf nicht aus dem Blick geraten, dass hier auf Grundlage von Erfahrungen der Nachkriegsjahre und eines durchgesetzten Sozialstaates erzählt, beschrieben und bewertet wurde. Autor/inn/en wie Interviewte reagierten auch auf thematische Konjunkturen (etwa das Interesse an Kinderarbeit).129 Lebensgeschichtliche Schilderungen stellen eine wichtige Ergänzung, Korrektur und einen Kontrast zu anderen Quellen dar. Denn nur im Vergleich ist es möglich, spezifische Zensuren und Perspektiven zu erkennen.
126 Aus der Sammlung Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien (Doku). 127 Aus dem Oral History Archiv Graz oder dem Archiv der Sozialen Bewegungen in Oberösterreich. 128 Vgl. etwa Karl Stojka, Reinhard Pohanka: Auf der ganzen Welt zu Hause. Das Leben und Wandern des Zigeuners Karl Stojka. Wien 1994, 21–25; Rosa Winter: Wie es so war unser Leben. In: Ludwig Laher (Hg.): Uns hat es nicht geben sollen. Rosa Winter, Gitta und Nicole Martl. Drei Generationen Sinti-Frauen erzählen. Grünbach 2004, 23–52. 129 Etwa in den Interviews in: Edwin Grinninger, Johann Mayr: Geschichte, Geschichten und Bilder. Ein politisches Lesebuch über die Entwicklung der Sozialdemokratie im Bezirk Eferding. Linz 1989 (= Studien zur Geschichte und Politik in Oberösterreich 2). Die Interviewabschriften liegen im Archiv der Sozialen Bewegungen in Oberösterreich.
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Um die praktische Erzeugung von Kategorien der Arbeit und des Lebensunterhalts zu untersuchen, stelle ich allerdings andere Überlieferungen ins Zentrum meiner Überlegungen, nämlich personenbezogene Akten aus diversen Verwaltungsbereichen von 1918 bis 1938. Es handelt sich um Gerichtsakten, die Übertretungen nach dem Landstreichereigesetz (v. a. Betteln und Landstreicherei) betreffen, sowie um Gewerbeakten und Ansuchen um Gewerbebewilligungen. Diese Materialien, die in den Kapiteln II.2 und III.2 im Detail vorgestellt werden, erlauben es, eine Vielfalt von Lebensunterhalten von Antragsteller/inne/n und Beschuldigten zu explorieren und in die Untersuchung einzubeziehen. Die Akten ermöglichen Vergleiche nach Geschlecht, Alter, Arbeitsfähigkeit, Nationalität, Heimatrecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit/Zuschreibung, familiären Konstellationen, Herkunft, Ort und Dauerhaftigkeit der ausgeübten Tätigkeit usw. Im Lauf des Forschungsprozesses veränderte sich mein Verständnis dieser Materialien. Die Akten bieten nicht nur eine amtliche Darstellung130 von Einzelfällen. Es ist auch möglich, die Modi von Auseinandersetzungen zwischen Behörden und jenen, die einen Lebensunterhalt suchen, zu beschreiben und zu analysieren.131 Die Verfahren manifestieren mannigfaltige Konstellationen von Beziehungen zwischen Behörden und Partei – sie wurden unterschiedlich initiiert, doch es ging immer um Rechte, Ansprüche und Pflichten. Die Gewerbeakten dokumentieren Verwaltungsvorgänge, bei denen eher Antragsteller/innen an die Behörden herantraten, um eine Erlaubnis zu einem Erwerb zu erlangen. In den Gerichtsverfahren traten Behörden an Angezeigte, Beschuldigte heran, um die Legitimität von deren Lebensunterhalten zu überprüfen und über deren Rechtmäßigkeit zu entscheiden. Nur selten schienen Beschuldigte ihre Verhaftung zu provozieren.132 Oft handelte es sich um Face-to-FaceInteraktionen auf niedrigeren Ebenen der Verwaltung:133 Vorsprechen im Amt, Verhaftung, ein Verfahren beim Bezirksgericht. Oft lief die Interaktion schriftlich per 130 Pierre Bourdieu: Staatsgeist. Genese und Struktur des bürokratischen Feldes. In: Ders.: Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns. Frankfurt/Main 1998, 92–136, hier 96. 131 Zu solchen Begegnungen vgl. v. a. Vincent Dubois: The Bureaucrat and the Poor. Encounters in French Welfare Offices. Ashgate, Farnham 2010. 132 Dies findet sich auch in der Literatur, vgl. etwa Jura Soyfer: Astoria. In: Ders.: Das Gesamtwerk. Szenen und Stücke, hg. von Horst Jarka. Wien, München, Zürich 1984, 111–150, hier 113f. 133 Mehrere soziologische Studien widmeten sich der Interaktionen zwischen Behörden und Bürger/ inne/n. Vgl. etwa Charles T. Goodsell: The Public Encounter and its Study. In: Ders. (Hg.): The Public Encounter. Where State and Citizen Meet. Bloomington 1981, 3–20; Koen P. R. Bartels: Public Encounters: The History and Future of Face-to-Face Contacts Between Public Professionals and Citizens. In: Public Administration 91/2013/2, 469–483; Andrew Woolford, Amanda Nelund: The Responsibilities of the Poor: Performing Neoliberal Citizenship within the Bureaucratic Field. In: Social Service Review 2013/June, 292–318; Brenda Danet, Michael Gurevitch: Presentation of Self in Appeals to Bureaucracy: An Empirical Study of Role Specificity. In: American Journal of Sociology 77/1972/6, 1165–1190; Michael Lipsky: Street-Level Bureaucracy.
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Einleitung
Brief oder Bescheid und in Abwesenheit ab. Über lokale Behörden hinausgehend konnten auch Landes- oder Bundesbehörden involviert sein, was mitunter die spezifischen Agenden und Orientierungen einzelner Behörden sichtbar machte. Die Verfahren folgten bestimmten expliziten Regeln, Prinzipien und Routinen,134 waren aber wie jede Praktik vor allem immer auch Improvisation.135 Die Verwaltung produzierte dabei auf bestimmte Weise Informationen,136 strebte nach einer bestimmten Effektivität und unterlag Zensuren. Nicht alles, auch nicht alles, das wichtig oder sogar entscheidend war (Eindrücke, Meinungen, Sympathien, Aversionen), konnte hier explizit werden – das musste es auch nicht, denn die Akten manifestieren stets weit mehr als nur die situativen Face-to-Face-Interaktionen selbst. Regeln und Bedingungen dieser Auseinandersetzungen und Interaktionen wurden nicht in den Situationen hergestellt und nicht nur von den unmittelbar Beteiligten verhandelt.137 Laufen Forscher/innen bei der Verwendung solcher Quellen Gefahr, nur mit den Augen der Verwaltung, des Staates zu sehen?138 Prinzipiell handelte es sich bei den untersuchten amtlichen Verfahren um hierarchische Konstellationen. Allerdings waren weder Antragsteller/innen noch Beschuldigte passive Objekte der Verwaltung. Sie mochten sich Verwaltung und Verfahrensabläufe zunutze machen und versuchten, sich durchzusetzen und Regeln zu manipulieren.139 Ihre Präsentationen und Argumentationen folgten mehr oder minder adäquaten Situationsdefinitionen und -ein-
Dilemmas of the Individual in Public Services. New York 1980, XI; vgl. allgemein auch Erving Goffman: Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt/Main 1971. 134 Vgl. Lipsky: Street-Level Bureaucracy, 61. 135 Vgl. prinzipiell: Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt/Main 1993, 29; in Hinblick auf die Verwaltung, vgl. auch Dubois: Bureaucrat, 150. 136 Dieser Aspekt steht, wohl in Anschluss an Max Weber, in vielen jüngeren historiografischen Forschungsarbeiten zur Verwaltung im Vordergrund. Vgl. Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, 165; Wilfried Rudloff: Das Wissen der kommunalen Sozialverwaltung in Deutschland: Diffusion, Formen und Konflikte 1900–1933. In: Nico Randeraad (Hg.): Formation und Transfer städtischen Verwaltungswissens. Baden-Baden 2003 (= Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte 15), 59–88. 137 Vgl. Pierre Bourdieu unter Mitarbeit von Salah Bouhedja, Claire Givry: Ein Vertrag unter Zwang. In: Ders. u.a.: Der Einzige und sein Eigenheim, hg. von Margareta Steinrücke. Hamburg 1998 (= Schriften zur Politik und Kultur 3), 84–129, hier 84; ders.: Das ökonomische Feld. In: Ders. u.a.: Der Einzige und sein Eigenheim, 162–204, hier 163. 138 So weist etwa Pierre Bourdieu auf die Gefahr hin, „daß wir von einem Staat gedacht werden, den wir zu denken meinen.“ Beim Nachdenken über den Staat laufe „man immer Gefahr, staatliches Denken zu übernehmen, staatlich produzierte und geschützte Denkkategorien auf den Staat anzuwenden“. Bourdieu: Staatsgeist, 93. 139 Vgl. auch Walter Leimgruber: Einleitung. Akten: Die gesellschaftliche Kraft eines Verwaltungsinstrumentes. In: Ders., Klaudia Kaufmann (Hg.): Was Akten bewirken können. Integrations- und Ausschlussprozesse eines Verwaltungsvorgangs. Zürich 2008, 7–17, hier 12.
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schätzungen.140 Es lassen sich vielförmige Haltungen und Attitüden gegenüber den Behörden ausmachen: vom sachlichen Argumentieren über Bitten und Ehrerbietung zu Unterwürfigkeit, Flehen oder Trotz. Antragsteller/innen und Beschuldigte exponierten sich mehr oder weniger, hinterließen verschiedene Eindrücke, stellten sich auf verschiedene Art dar und verwendeten verschiedene Arten der ausdrücklichen Selbstkategorisierung und -beschreibung (als arm, invalide, arbeitslos usw.). Sie akzeptierten und beugten sich, erhoben Einspruch, verhandelten. Sie randalierten, wurden gewalttätig, schwiegen und/oder verschwanden. Antragsteller/innen oder Beschuldigte hatten aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen mit Verwaltungen und Organisationen wie Schule, Militär, Arbeitsplatz oder mit Gerichtsverfahren einen mehr oder minder adäquaten Sinn für ihre Möglichkeiten. Sie konnten ihre Strategien, aber auch die Verfahren verändern.141 Die Erzeugung einer Partei, eines Klienten142 erfolgte nicht durch ein Formular,143 sondern durch die Situation und Konstellation, somit auch durch das Agieren der Partei, auf das die Behörden reagierten, mit dem sie umgehen mussten. Dabei standen Antragsteller/innen oder Beschuldigte nicht unbedingt allein einer Behörde gegenüber. Nicht immer war klar, wer in ihrem Namen sprach, ihre Briefe und Anträge verfasst hatte (wobei in den untersuchten Materialien selten Personen vorkommen, die völlig illiterat waren und nicht einmal den eigenen Namen schreiben konnten). Oft wurden die Protokolle von Beamt/inn/en aufgenommen und den Erfordernissen der Verwaltung entsprechend strukturiert.144 Es konnten Rechtsanwälte, Familienmitglieder, Geschäftspartner/innen, Zeug/inn/en, 140 In der Armutsforschung wurden vergleichbare Briefe und Bittgesuche teils akribisch ediert, jedoch oft nicht systematisch-kontrollierter Analyse unterzogen. Vgl. etwa Thomas Sokoll: Writing for Relief: Rhetoric in English Pauper Letters, 1800–1834. In: Gestrich/King/Raphael: Being Poor, 91–111; Helmut Bräuer: Zur Mentalität armer Leute in Obersachsen 1500 bis 1800. Essays. Leipzig 2008. 141 Vgl. Danet/Gurevitch: Presentation of Self, 1166, 1168. 142 „People come to street-level bureaucracies as unique individuals with different life experiences, personalities and current circumstances. In their encounters with bureaucracies they are transformed into clients, identifiably located in a very small number of categories, treated as if, and treating themselves as if, they fit standardized definitions of units consigned to specific bureaucratic slots. The processing of people into clients, assigning them to categories for treatment by bureaucrats, and treating them in terms of those categories, is a social process.“ Lipsky: Street-Level Bureaucracy, 59. 143 Etwa bei Peter Becker: Formulare als ‚Fließband‘ der Verwaltung? Zur Rationalisierung und Standardisierung von Kommunikationsbeziehungen. In: Peter Collin, Klaus-Gert Lutterbeck (Hg.): Eine intelligente Maschine? Handlungsorientierungen moderner Verwaltung (19./20. Jh.). BadenBaden 2009, 281–298, hier 296. 144 Vgl. etwa Peter Becker: Sprachvollzug. Kommunikation und Verwaltung. In: Ders. (Hg.): Sprachvollzug im Amt. Kommunikation und Verwaltung im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2011, 9–42, hier 17; ders., William Clark: Introduction. In: Dies. (Hg.): Little Tools of Knowledge. Historical Essays on Academic and Bureaucratic Practices. Ann Arbor 2001, 1–34.
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Denunziant/inn/en oder andere Für- oder Widersprecher/innen in die Verfahren involviert sein. Nicht alles, was Antragsteller/innen oder Beschuldigte vorbrachten, wurde geglaubt. Nicht alles wirkte für die Beteiligten glaubhaft. Manches erschien (auch aus Sicht der Historikerin) dubios, wenn nicht gar verrückt. Die Herstellung einer amtlich gültigen Information war jedoch nie ausschließlich das Werk der Behörden. Diese Quellen lassen bestimmte Beziehungen und Praktiken rekonstruieren, andere nicht (etwa Informationsaustausch, Hilfe, Konkurrenz usw. zwischen den Umherziehenden oder zwischen Angehörigen eines Haushaltes). In ihnen werden Auseinandersetzungen zwischen Staat/Verwaltung/Behörden und Bürger/inne/n oder Anwesenden bezüglich deren Versuchen, einen Lebensunterhalt zu finden, manifest. Sie betreffen also ein für die Veränderungen von Arbeit und für die Herausbildung des Sozialstaates zentrales Thema: Staatliche Behörden griffen immer mehr in grundlegende Fragen des Lebensunterhalts der Bürger/innen ein. Staatliche Behörden, ihre Vorgaben und Angebote, wurden von jenen adressiert, die einen Lebensunterhalt suchten.145 Der Staat wurde immer unumgänglicher.146 Wie ich zeigen werde, bemühten sich viele Antragsteller/innen und Beschuldigte mit Nachdruck und Hartnäckigkeit um die Legitimierung ihres Lebensunterhalts. Das heißt freilich nicht, dass man nicht auch ohne Bewilligung umherziehen und einen Lebensunterhalt suchen konnte, ohne sich überhaupt um diese zu bemühen und ohne dabei mit den Behörden in Konflikt zu geraten. Lebensgeschichtliche Texte bieten auch dafür zahlreiche Beispiele. Es finden sich Schilderungen der vielfältigen Arten, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen: vom Sammeln (von Brennnesseln, Kräutern, Stoffabfällen,147 Schwämmen, Beeren148), über Gelegenheitsarbeiten, Aushelfen, Schwarzarbeit,149 Verkaufen150 und Musizieren151 bis zum arbeitslosen Umherziehen und Betteln – all dies, ohne dass eine Behörde erwähnt wird. Vieles, selbst explizit Verbotenes, blieb unbeachtet und/oder wurde offenbar nicht von den Behörden 145 Zur Geschichte moderner Verwaltung vgl. Lutz Raphael: Recht und Ordnung. Herrschaft durch Verwaltung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main 2000; Conrad: Wohlfahrtsstaat, 558; Goodsell: Public Encounter, 4. 146 Raphael spricht von einer „Durchstaatlichung“. Raphael: Recht, 23. 147 Vgl. z. B. Alois Stöckl: Wanderschaft 1930–1933. Typoskript (Abschrift) 1988–1990, Doku, 3. 148 Vgl. u. a. Krautschneider: Lebenslauf. Typoskript 1983, Doku, 4; Ambros Neussl: So war mein Leben. Typoskript 1997, Doku, 2. 149 Vgl. z. B. Josef Winkler: Ohne Titel. Handschrift, 1996, Doku, 57. 150 Vgl. u. a. Krautschneider: Lebenslauf, 5; Alois Schönthaler: Mein Lebenslauf. Typoskript, Doku, Abschnitt „Mein einundzwanzigstes Lebensjahr“; Hermann Hollweger. In: Peter Gutschner (Hg.): „Ja, was wissen denn die Großen …“. Arbeiterkindheit in Stadt und Land. Wien, Köln, Weimar 1998, 195–210, hier 206. 151 Vgl. etwa Franz Gierer: Meine Lebenserinnerungen, hg. von Christa Gierer, Susanna Annerl-Gierer, Pöchlarn [1995], 25.
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beanstandet. „Betteln, ja, das ist übrig geblieben, obwohl auch das Betteln strafbar war, aber wenn man nichts angestellt hat, war die Gendarmerie großzügig und hat das meistens nicht bemerkt. Was hätten sie sollen machen? Sie hätten ja nicht können Tausende Leute einsperren, nur weil sie um ein Stückerl Brot gebettelt haben irgendwo oder um ein Quartier.“152 Aber selbst hier war der Staat nicht völlig abwesend. Auch das Vermeiden von Behördenkontakt brachte Anstrengung, Risiko, Angst vor Sanktionen mit sich und ging letztlich mit einer impliziten Anerkennung staatlicher Kategorisierungen einher.153 Sogar bei Übertretung in Unkenntnis der Bestimmungen drohte negative Sanktion. Den Tätigkeiten und Aktenfällen, die ich in den Mittelpunkt meiner Untersuchung stelle, ist also gemeinsam, dass sie im Kontext von Verwaltung beschrieben und dokumentiert wurden. Sie sind dabei jedoch überaus vielfältig und variieren nach Geschlecht, Alter, Arbeitsfähigkeit, Ausbildung, Beruf, Vorleben, Vorstrafen, Leumund, familiärer Situation und sozialem Umfeld, Sorgepflichten, der ausgeübten oder angestrebten Tätigkeit, Zugehörigkeit und/oder Zuschreibung (Ansässigkeit, Heimatrecht, Nationalität, Ethnizität, Religion), Mitgliedschaften, politischer Orientierungen, Auftreten und Argumentation, der wirtschaftlichen Konjunktur usw. Auch das Agieren der Behörden variierte – je nach Beamt/inn/en, Sachbereichen, Orten, Regionen und Instanzen. Die Fülle der Aspekte, die Komplexität der Aktenfälle und der enthaltenen Informationen resultieren aus der Strittigkeit dieser Tätigkeiten. Wie im Vergleich von Wandergewerben mit freien Gewerben, Handwerken etc. deutlich wird, sind sie auch Ausdruck einer geringen Normalisierung dieser Lebensunterhalte. Welche Eigenschaften, welche Kombinationen an Eigenschaften, Aspekten und Situationen machten in den untersuchten Auseinandersetzungen welchen Unterschied? Die in österreichischen Archiven zur Verfügung stehende Zahl an einschlägigen Akten ist außerordentlich groß, aber von Zufällen und Politiken der Archivierung geprägt. Eine quantitative Darstellung der Informationen – selbst aller vorhandenen Aktenfälle – würde daher nur die Überlieferung dokumentieren. Ziel dieser Untersuchung ist es jedoch, die praktische Logik des Unterscheidens und Hierarchisierens systematisch und methodisch kontrolliert herauszuarbeiten. Forschungsprogrammatisch und -praktisch kann ich dabei auf Erfahrungen vorangegangener Forschungen aufbauen.154 152 Oral History Archiv Graz, S 432–6/86, Interviewer: Manfred Grubbauer, Interviewter: Schneider, Bergmann, Jahrgang 1910. 153 Zur Macht des Staates, Kategorien durchzusetzen vgl. Pierre Bourdieu: Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989–1992, hg. von Patrick Champagne, Remi Lenoir, Franck Poupeau, Marie-Christine Rivière. Frankfurt/Main 2014, 20, 30; ders.: Staatsgeist, 93. 154 Wadauer: Tour der Gesellen; und v. a. auf die Arbeiten von Alexander Mejstrik: Totale Ertüchtigung; ders.: Urban Youth, National-Socialist Education and Specialized Fun: the Making of the Vienna Schlurfs, 1941–44. In: Axel Schildt, Detlev Siegfried (Hg.): European Cities, Youth and
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Einleitung
Sampling
Für das Erstellen der Datengrundlage orientierte ich mich am Prinzip des strukturalen Samplings.155 Die Erhebung zielte nicht auf Homogenität ab, orientierte sich nicht an einem a priori angenommenen „Typischen“, sondern folgte dem Prinzip der Exploration. Die wichtigsten Variationen und Kontraste sollten dabei systematisch erfasst werden.156 In der Erhebungstabelle wurden normalisierte Informationen zum/ zur Antragsteller/in, dem/der Beschuldigten möglichst so festgehalten, wie sie in den Formularen erfasst worden waren. Zudem wurden Informationen zum Verfahren sowie Aussagen, Argumente, sprachliche Wendungen und Formulierungen der Beteiligten erfasst.157 Die Datenbanken wurden so gestaltet, dass auch konträre Informationen, etwa Widersprüche zwischen Selbst- und/oder Fremdaussagen, aufgenommen werden konnten, ohne vorab zu entscheiden, wer wann womit recht hatte.158 Um mehrfache und widersprüchliche Angaben – etwa zum Beruf – erfassen zu können, wurden die Datensätze großteils über Variablen mit zwei kategorialen Modalitäten (beobachtet/nicht beobachtet) konstruiert. Angaben wurden im Weiteren weder als the Public Sphere in the Twentieth Century, London 2005, 57–79; ders.: Berufsstatistisches Niederösterreich. Der offizielle Berufs- und Arbeitsmarkt nach den Volkszählungen 1934, 1971 und 2001. In: Melichar/Langthaler/Eminger: Wirtschaft, 633–731; ders.: Kunstmarkt: Feld als Raum. Die österreichischen Galerien zeitgenössischer Kunst 1991–1993. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 17/2006/2–3, 127–188; ders.: Felder und Korrespondenzanalysen. Erfahrungen mit einer „Wahlverwandtschaft“. In: Stefan Bernhard, Christian Schmidt-Wellenburg (Hg.): Feldanalysen als Forschungsprogramm 1: Der programmatische Kern. Wiesbaden 2012, 151–190; ders./Garstenauer/Melichar/Prenninger/Putz/Wadauer: Berufsschädigungen. Das Forschungsprogramm wurde auch in dem ERC-Projekt „The Production of Work“ auf verschiedene Art und Weise interpretiert und umgesetzt: Irina Vana: Gebrauchsweisen der öffentlichen Arbeitsvermittlung (Österreich 1889–1938). Unveröff. Dissertation, Wien 2013; Richter: Domestic Service; dies.: Von der Arbeit im (fremden) Haushalt. Lebensabschnitte und Lebensverläufe von Dienstbot/innen im Vergleich (Österreich, 1918–1938). In: Thomas Hübel, Therese Garstenauer, Klara Löffler (Hg.): Arbeit im Lebenslauf. Verhandlungen (erwerbs-)biographischer Normalität. Bielefeld 2016, 15–52; dies.: Die Produktion besonderer Arbeitskräfte. Auseinandersetzungen um den häuslichen Dienst in Österreich (Ende des 19. Jahrhunderts bis 1938). Unveröff. Dissertation, Wien 2017; Georg Schinko: Über die Produktion von Tönen. Beziehungen von Arbeit und Musizieren, Österreich 1918–1938. Wien 2019; sowie in der Dissertation von Sonja Hinsch: Recht auf und Pflicht zur Arbeit (Arbeitstitel). 155 Vgl. Pierre Bourdieu, Loïc J. D. Wacquant: Die Ziele der reflexiven Anthropologie. In: Dies.: Reflexive Anthropologie. Frankfurt/Main 1996, 95–249, hier 125f; Pierre Bourdieu: Die Praxis der reflexiven Anthropologie. In: Ebd., 251–294, hier 261–269, 264; ders.: Homo academicus. Frankfurt/Main 1992, 38–81; Mejstrik: Totale Ertüchtigung, Bd. 2, 756–772; ders.: Kunstmarkt, 133. 156 Vgl. Mejstik: Feld, 15. 157 Vgl. Wadauer: Tour der Gesellen. 158 Vgl. Mejstrik/Garstenauer/Melichar/Prenninger/Putz/Wadauer: Berufsschädigungen, 12f.
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objektiv/subjektiv klassifiziert noch wurden Hierarchien oder Beziehungen zwischen den Modalitäten postuliert. Eine Beobachtungseinheit (statistisches Individuum) steht nicht für eine Person. Sie bezeichnet nicht eine/n Antragsteller/in oder Beschuldigte/n, sondern einen Verwaltungsfall (Antrag, Gerichtsfall), also die situative und anlassbezogene Interaktion von Behörde, Partei und anderen Involvierten. Zur Anonymisierung und um zu verdeutlichen, dass es sich bei den beschriebenen Beschuldigten und Antragsteller/inne/n um Parteien in einer Verwaltungssituation handelte, verwende ich im Text Namenskürzel. Beziehen sich mehrere Beobachtungseinheiten auf eine Person, so sind die Namenskürzel dem zeitlichen Verlauf folgend durchnummeriert (also etwa KarlHasch1 bis KarlHasch13). Da die Bestände und Aktenfälle der Gerichts- und Gewerbeakten schon in sich sehr heterogen sind und da es aufgrund der Überlieferung schwierig bis unmöglich war, verschiedene Aktenbestände zu einzelnen Personen zu kombinieren, wurden zwei Samples erstellt, von denen jedes hauptsächlich auf einer Aktenart basiert. Die Daten wurden kategorial kodiert. So entstanden zwei große Datensätze: Auf der Grundlage von Gerichtsakten wurde ein Datensatz mit 341 Beobachtungseinheiten (statistische Individuen) und 1.175 Variablen (Fragen) zu insgesamt 3.239 Modalitäten (Antworten) konstruiert (siehe Kapitel II). Auf Basis von Gewerbeakten (und einiger weniger Gerichtsakten) wurde ein Datensatz mit 184 Beobachtungseinheiten (statistische Individuen) und 910 Variablen (Fragen) zu insgesamt 2.134 Modalitäten (Antworten) konstruiert (siehe Kapitel III). Aufgrund der großen Zahl der Variablen und Modalitäten ist es nicht möglich, diese vollständig aufzulisten. Samples und Datensätze werden in Kapitel II.2 und III.2 ausführlicher erläutert. Spezifische multiple Korrespondenzanalyse
Diese Datensätze wurden mithilfe von spezifischen multiplen Korrespondenzanalysen verarbeitet. Die spezifische multiple Korrespondenzanalyse (spezifische MKA) ist eine Variante der MKA und Technik der Geometric Data Analysis von Brigitte LeRoux und Henry Rouanet,159 die auf die Arbeiten von Jean-Paul Benzécri160 aufbaut. Bekannt wurde die MKA hierzulande vor allem durch Pierre Bourdieus161 Texte zu 159 Vgl. Brigitte Le Roux, Henry Rouanet: Geometric Data Analysis. From Correspondence Analysis to Structured Data Analysis. Dordrecht, Boston, London 2004; dies.: Multiple Correspondence Analysis. Los Angeles et al. 2010 (= Quantitative Applications in the Social Sciences 163). 160 Vgl. Jean-Paul Benzécri: Correspondence Analysis Handbook. New York, Basel, Hong Kong 1992. 161 V. a. durch Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft.
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Feldern und der sozialen Welt als Raum.162 Die Technik kommt, wie Bourdieu angemerkt hat, einem relationalen und strukturalen Herangehen besonders entgegen. Darüber hinaus erlaubt sie, die Vorzüge einer qualitativen Interpretation mit jenen einer quantitativen Analyse/Synthese – und damit Zugänge, die oft nur als Gegensatz betrachtet werden – zu vereinen. Eine MKA übersetzt Datensätze in zwei geometrische Punktwolken: eine der Modalitäten und eine der Beobachtungseinheiten. Diese Punktwolken sind von homologer Struktur und identischer Varianz.163 (Un-)Ähnlichkeiten zwischen Modalitäten respektive Beobachtungseinheiten werden durch euklidische Distanzen dargestellt.164 Als geometrische Objekte lassen sich die Punktwolken vermessen. Diese Vermessungen liefern die wichtigsten Ergebnisse einer MKA: die Koordinaten der Punkte, Maßzahlen für die Wichtigkeiten von Punkten (Ctr, cos2) und Dimensionen (Varianzrate) und vor allem grafische Abbildungen der niedrigdimensional projizierten Punktwolken.165 Die Rückübersetzung dieser Vermessungen in die Sprache des Datensatzes erlaubt es, einen historischen Gegenstand zu konstruieren und zu beschreiben. Die Punktwolken sind n-dimensional, die Dimensionalität hängt vom Umfang des Datensatzes ab. Die Varianz der Punktwolken lässt sich nach Dimensionen zerlegen, so dass deren Varianzbeiträge kumulativ und hierarchisch gestaffelt sind (Hauptzerlegung). Deshalb stellt die erste Dimension die beste eindimensionale Annäherung an die Struktur des Samples dar, die zweite Dimension die zweitbeste eindimensionale Annäherung und so fort. Alle Dimensionen einer Punktwolke zusammengenommen ergeben Struktur und Varianz der Gesamtwolke. Wie viele Dimensionen man für die Interpretation heranzieht, ist eine forschungspraktische Entscheidung. Welche Dimensionen man heranzieht, ergibt sich jedoch zwingend aus den Ergebnissen der MKA: Keine Dimension lässt sich überspringen; es gilt, sich – beginnend mit der ersten – zur nächsten, dann zur übernächsten usw. vorzuarbeiten. Ich konzentrierte mich jeweils auf die beiden ersten Dimensionen und deren Integration (die primäre Fläche).
Frankfurt/Main 1991; aber auch ders.: Homo academicus. Frankfurt/Main 1992; im deutschsprachigen Raum ist die Methode insbes. durch Jörg Blasius, aber auch Michael Greenacre bekannt geworden. Vgl. etwa Jörg Blasius: Korrespondenzanalyse. München, Wien 2001; ders., Michael Greenacre (Hg.): Correspondence Analysis in the Social Sciences. Recent Developments and Applications. London et al. 1994. 162 Zu diesem Zusammenhang vgl. LeRoux/Rouanet: Correspondence Analysis, 4f.; Pierre Bourdieu, Jean-Claude Chamboredon, Jean-Claude Passeron: Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis. Berlin, New York 1991; kritisch dazu Mejstrik: Feld. 163 Ich habe das Programm SPAD von Coheris verwendet. 164 Vgl. Le Roux/Rouanet: Multiple Correspondence Analysis, 6. 165 Vgl. Le Roux/Rouanet: Multiple Correspondence Analysis, 7, 29.
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Die Auswertung der Daten erfolgte in einer Serie von spezifischen MKA, bei der einzelne Modalitäten auf Grundlage der Ergebnisse der vorliegenden spezifischen MKA korrigiert, rekodiert und – wenn es sinnvoll erschien – zusammengefasst wurden. Dabei war es auch möglich, einzelne Beobachtungseinheiten oder Modalitäten versuchsweise zu deaktivieren, um zu sehen, welche Auswirkungen sie auf die Gesamtstruktur der Punktwolke haben. Es zeichnet die spezifische MKA aus, dass sich einzelne Modalitäten deaktivieren lassen, das heißt, sie scheinen in den Rechenergebnissen auf, ohne in die Konstruktion der Punktwolken einbezogen worden zu sein. (Bei der gewöhnlichen MKA lassen sich nur komplette Variable supplementär setzen. Diese Möglichkeit bietet auch die spezifische MKA.) Der flexible Umgang mit Deaktivierungen erlaubt es zudem, die Störeffekte unvermeidlicher Kodierungsredundanzen zu umgehen. Bei der Interpretation der Ergebnisse der spezifischen MKA halte ich mich an das von Alexander Mejstrik vorgeschlagene Vorgehen und Konstruktionsprogramm.166 Dieses ermöglicht systematische und kontrollierte Gegenstandskonstruktionen aus komplexen Datensätzen und hat sich vor allem auch an heterogenem Material bereits bewährt. Hier fasse ich nur die wichtigsten Konzepte und Schritte kurz zusammen:167 Anders als in üblichen Anwendungen der MKA beginnt die Interpretation nicht mit der primären Fläche, sondern mit den Interpretationen der wichtigsten, für sich genommenen Dimensionen.168 Dafür verwende ich eindimensionale Hilfsgrafiken (siehe z. B. Grafik 10).169 Die Verteilung von links nach rechts beschreibt Variationen und Kontrast entlang der Dimension (Koordinaten der Modalitäten oder Beobachtungseinheiten), die Verteilung von oben nach unten die differenziellen Wichtigkeiten der Punkte für die Konstituierung der Dimension (relative Varianzbeiträge der Punkte zur Achse, Ctr). Variationen heißt: Je näher Punkte in einer der beiden Orientierungen der Dimension (positive oder negative Koordinaten) beieinander liegen, umso ähnlicher sind sie, je weiter sie auseinander liegen, umso unähnlicher sind sie. Kontrast heißt: Modalitäten/Beobachtungseinheiten in derselben Orientierung stehen in einem positiven Zusammenhang, solche in gegensätzlichen Orientierungen in einem negativen Zusammenhang. Der Koordinaten-Nullpunkt bezeichnet das Baryzentrum der Punktwolken – das heißt, den Umschlagpunkt für die Orientierungen einer Dimension, deren neutrales Zentrum. Punkte die im – respektive nahe am – Baryzentrum liegen, entsprechen gänzlich – respektive mehr oder minder – dem Normalfall im Rahmen des Datensatzes. Das Baryzentrum ist also jener Punkt, der sich allein aus der Kenntnis der Randprofile des Datensatzes konstruieren lässt. In 166 Vgl. Mejstrik, Feld, 178f. 167 Ausführlich siehe Mejstrik: Kunstmarkt; ders.: Feld. 168 Vgl. Le Roux/Rouanet: Multiple Correspondence Analysis, 7. 169 Vgl. Mejstrik: Totale Ertüchtigung, Bd. 2, 800–804.
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einer Hilfsgrafik werden nur Modalitäten bzw. Beobachtungseinheiten mit überdurchschnittlichem Ctr abgebildet – jene, die für die Konstituierung der Dimensionsstruktur von überdurchschnittlicher Wichtigkeit sind. Die beiden, bei einer eindimensionalen (eindimensional projizierten) Punktwolke möglichen, Orientierungen weg vom Baryzentrum werden als Kontrast zwischen dominanter (durchgesetzter) und dominierter Orientierung der jeweiligen Dimension interpretiert. Die Interpretation einer Dimension hält sich anfangs vor allem an die Modalitäten, nachdem man bei Beobachtungseinheiten allzu leicht an „ganze“ Fälle oder gar Personen denkt. Hier geht es jedoch darum, einen eindimensionalen Zusammenhang der (prinzipiell vieldimensionalen) Modalitäten und Beobachtungseinheiten zu verstehen und die verwendeten Akten aus der Perspektive ausschließlich einer Dimension zu lesen. Ist dies gelungen, geht man zur nächsten Dimension über. Beide zunächst analytisch vereinzelten Dimensionen können dann synthetisiert werden: Die Kon struktion der primären Fläche (siehe z. B. Grafik 20) liefert die beste zweidimensionale Annäherung an die Struktur der Gesamtwolken und damit des Datensatzes. Im Gegensatz zu einer eindimensional(-projiziert)en Punktwolke, die, wie man an den Hilfsgrafiken sehen kann, zwei Orientierungen weg vom Baryzentrum aufweist, weist eine zweidimensional(-projiziert)e Punktwolke unendliche viele Orientierungen weg vom Baryzentrum auf. Die Interpretation beginnt praktischerweise mit den vier diagonalen Orientierungen: eine flächendominante und eine flächendominierte, welche die jeweils dominanten respektive dominierten Orientierungen der beiden flächenkonstitutierenden Dimensionen synthetisieren, sowie eine prätentiöse (primär dominant, sekundär dominierte) und eine skeptische (primär dominiert, sekundär dominant) Orientierung. Der Zusammenhang dieser vier Flächenorientierungen erlaubt ein unmittelbares Verständnis der Flächenstruktur als Raum des (im Datensatz) Beobachtbaren: ein Raum des Möglichen. Die je konkrete Punktwolke einer Flächengrafik ist demgegenüber die tatsächlich beobachtbare Punktverteilung in der Flächenstruktur: eine Region des Beobachteten im Raum des Beobachtbaren. Die konkrete Form einer Punktwolke gibt Aufschluss über das Material und die Gegenstandskonstruktion. In den Flächengrafiken bilde ich nur jene Modalitäten und Beobachtungseinheiten ab, die durch die Flächenstruktur überdurchschnittlich gut dargestellt sind (Auswahlkriterium war ein überdurchschnittlicher cos2-Wert). Aufbau und Prinzipien der Darstellung
Im forschungspraktischen Vorgehen dieser Arbeit baue ich, wie erwähnt, auf eigenen und fremden Forschungserfahrungen auf. Die Adaption und Weiterentwicklung der Forschungswerkzeuge in Hinblick auf neue Fragen, auf Quellen, die so bislang noch nicht erschlossen und untersucht wurden, und einen neuen Forschungsgegenstand
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sind zugleich Ergebnisse dieses Projekts. Ich stelle in dieser Publikation also nicht nur Auseinandersetzungen über Arbeit und Lebensunterhalte dar, ich beschreibe vielmehr auch eine Strategie, mit Forschungsproblemen umzugehen, die sich angesichts der Vielfalt, Komplexität und Strittigkeit von Aussagen, Situationen und Praktiken stellen (oder prinzipiell stellen mögen). Wie sind facettenreiche, dabei lückenhafte Fallakten oder ähnliche serielle Quellen systematisch und kontrolliert zu untersuchen und nicht nur selektiv zur Illustration auf anderer Grundlage formulierter Hypothesen zu verwenden? Es scheint mir wichtig, sowohl die Art und Verfügbarkeit der Quellen, die Prinzipien der Erhebung und Konstruktion detailliert zu erläutern170 als auch in der Darstellung der Ergebnisse immer wieder nachvollziehbar zu machen, wie sich meine Interpretation auf die MKA stützt. Die hier rekonstruierten Versuche, einen Lebensunterhalt zu finden, konstituieren ein Variations- und Kontrastspektrum und werden zugleich durch ihre Position im Raum der Möglichkeiten definiert. Das analytisch-synthetische Vorgehen und Darstellen ist im Kontext der traditionellen Geschichtswissenschaft, die oft eher auf Zusammenfassungen von Zusammenfassungen abzielt, gewiss eher unüblich und mag irritieren, was meines Erachtens nicht unbedingt dagegenspricht. Ein häufig geäußertes Vorurteil gegen die MKA besagt, dass das strukturale Vorgehen einer diachronen Analyse widerspreche und sich damit nicht für historische Forschung eigne. Dass dem nicht so ist, wurde schon vielfach in früheren Forschungsprojekten gezeigt.171 Warum aber sollte historische Forschung überhaupt auf diachrone Betrachtungen reduziert sein, wie manche meinen? In den folgenden zwei Abschnitten dieses Buches skizziere ich zunächst die historischen Kontexte der untersuchten Praktiken und deren Veränderungen: zum einen die politischen Debatten, zeitgenössischen Theorien, Hilfsmaßnahmen, Kontrollversuche und Strafverfolgungen, die das Umherziehen ohne redlichen Erwerb betreffen; zum anderen gewerbepolitische Auseinandersetzungen über und zwischen verschiedenen Arten selbstständiger Erwerbe sowie die Veränderungen der gesetzlichen Zugangsbedingungen zu diesen Gewerben. Auf eine Diskussion der jeweils verfügbaren Fallakten und der konkreten Datenbasis folgt eine Darstellung der Ergebnisse der MKA, das heißt, der Variations- und Kontrastprinzipien der wichtigsten Dimensionen des Raums der Lebensunterhalte und des Raums der selbstständigen Erwerbe. In beiden Räumen geht es um den Zusammenhang von Praktiken, in dem Hierarchien und Grenzen zwischen mehr oder weniger legitimen Versuchen, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen, hervorgebracht wurden. Anhand der dargestellten Auseinandersetzungen wird auch die Problematik amtlicher Kategori170 Die Bedeutung der Reflexion über Erhebungsmethoden, Daten und Sampling dürfte in der Corona-Krise auch sozialwissenschaftlich Desinteressierten klar geworden sein. Sie wird deshalb nicht in den Anhang verbannt. 171 Siehe die bereits in Fußnote 154 genannten Publikationen.
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sierungen von Erwerben und Tätigkeiten, wie sie sich in Berufs- und Strafstatistiken (und infolgedessen oft auch in historiografischen Texten) finden, deutlich. Synchrone und diachrone Perspektiven stehen nicht im Widerspruch, sie ergänzen einander.
II Umstrittene Lebensunterhalte „Wann tritt jener Moment verwaltungstechnisch ein, wo man sagt, du bist kein Armer, sondern ein Fallot“.1
II.1 Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens Die verwaltungstechnische Erzeugung von Vagabunden und arbeitslosen Wanderern
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Landstreicherei und Betteln in der Habsburgermonarchie2 wie in vielen Ländern Europas, in Nordamerika und anderen Teilen der Welt zum sozialpolitischen Problem.3 Dabei waren diese Phänomene und auch viele der gegen sie in Erwägung gezogenen Maßnahmen auf den ersten Blick kaum historisch neu. Menschen, die ohne Subsistenz herumwanderten, hatte es auch vorher gegeben.4 Schon in der Frühen Neuzeit waren zahlreiche Verordnungen zur 1
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Andreas Morsey auf der Länderkonferenz in Salzburg (Landeshauptmannschaft) am 29. und 30. April. ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 137.123–6/1935, Grundzahl 113.786/1935: Heimatgesetznovelle 1935. Einbringung als Regierungsvorlage. Vgl. Sigrid Wadauer: Establishing Distinctions: Unemployment versus Vagrancy in Austria from the Late Nineteenth Century to 1938. In: International Review of Social History 56/2011, 31–70. Vgl. etwa Beate Althammer: Vagabunden. Eine Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815–1933). Essen 2017; Paul Ocobock: Introduction. Vagrancy and Homelessness in Global and Historical Perspective. In: Ders., A. L. Beier (Hg.): Cast Out. Vagrancy and Homelessness in Global and Historical Perspective. Athens 2008, 1–34; Frank Tobias Higbie: Between Romance and Degradation. Navigating the Meanings of Vagrancy in North America, 1870–1940. In: Ebd., 250–269; Beate Althammer: Der Vagabund. Zur diskursiven Konstruktion eines Gefahrenpotentials im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. In: Karl Härter, Gerhard Sälter, Eva Wiebel (Hg.): Repräsentationen von Kriminalität und öffentlicher Sicherheit. Frankfurt/Main 2010, 415–453; Kenneth L. Kusmer: Down and Out. On the Road. The Home less in American History. Oxford 2002, 3; Klaus Meister: Wanderbettelei im Großherzogtum Baden 1877–1913. Mannheim 1994 (= Südwestdeutsche Schriften 15), 1, 22; Paul T. Ringenbach: Tramps and Reformers 1873–1916. The Discovery of Unemployment in New York. Westport, Connecticut, London 1973, 3, 37; Timothy B. Smith: Assistance and Repression: Rural Exodus, Vagabondage and Social Crisis in France 1880–1914. In: Journal of Social History 32/1999/4, 821–846. Vgl. etwa Gerhard Ammerer: Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Régime. Wien, München 2003; A. L. Beier: Masterless Men. The Vagrancy Problem in England 1560–1640. London, New York 1985; ders.: Vagrants and the Social Order in Elizabethan England. In: Past and
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Bestrafung von Landstreicherei und Bettel erlassen worden.5 Nun jedoch schien das Problem (erneut) bedrohliche Ausmaße anzunehmen.6 Es wurden zahlreiche Schriften publiziert, die sich mit dem Phänomen als Problem befassten, dessen Ursachen und Lösung behandelten.7 Gesetze wurden diskutiert und reformuliert.8 Diese gelehrten und politischen Debatten blieben nicht innerhalb nationaler Grenzen.9 Es wurden Vergleiche angestellt, internationale Erhebungen und Studien veranlasst, Konferenzen abgehalten.10 Das Problem Landstreicherei im 19. Jahrhundert manifestierte Present 64/1974, 3–29; Meister: Wanderbettelei, 3; Robert von Friedeburg: Lebenswelt und Kultur der unterständischen Schichten in der Frühen Neuzeit. München 2002; Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der Frühen Neuzeit. München 1995 (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte 34), 32. Zum langfristigen Wandel der Vorstellungen von Armut vgl. etwa Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. München 1991; Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz 2000. 5 Vgl. etwa Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum Liber Vagatorum (1510). Köln, Wien 1988; Beate Althammer, Christina Gerstenmayer (Hg.): Bettler und Vaganten in der Neuzeit (1500–1933). Eine kommentierte Quellenedition unter Mitarbeit von Sebastian Schmidt, Tamara Stazic-Wendt und Juliane Tatarinov. Essen 2013; Martin Rheinheimer: Arme, Bettler und Vaganten. Überleben in der Not 1450–1850. Frankfurt/Main 2000; Paul A. Slack: Vagrants and Vagrancy in England, 1598–1664. In: The Economic History Review NS 27/1974/3, 360–379. 6 Vgl. etwa Charles James Ribton-Turner: A History of Vagrants and Vagrancy and Beggars and Begging. London 1887, 530; A. de la Chevallerie: Zur Bekämpfung der Bettelei und Vagabondage. Kritisierende Abhandlung über die Entstehungsursachen der Bettelei und Vagabondage, den Werth der bis jetzt gegen dieselbe angewendeten Mittel, sowie Vorschläge über die zu ihrer Unterdrückung gerathen erscheinenden Maßnahmen. Münster 1882, 1; Hugo Herz: Die Vagabundage in Österreich in ihren Beziehungen zur Volkswirtschaft und zum Verbrechertume. In: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Organ der Gesellschaft Österreichischer Volkswirte 14/1905, 571–626, hier 572; Gordon Wright: Between the Guillotine and Liberty. Two Centuries of the Crime Problem in France. New York, Oxford 1983, 157–159; Cresswell: Tramp, 9. 7 Vgl. etwa Beate Althammer: Pathologische Vagabunden. Psychiatrische Grenzziehungen um 1900. In: Geschichte und Gesellschaft 39/2013/3, 306–337; Ian Hacking: Mad Travelers. Reflections on the Reality of Transient Mental Illnesses. Charlottesville, London 1998; Smith: Assistance, 832. 8 Vgl. etwa Kusmer: Down and Out, 51–53. und v. a. Kapitel 5. Zur englischen Gesetzgebung vgl. etwa Robert Humphreys: No Fixed Abode. A History of Responses to the Roofless and the Rootless in Britain. Houndmills et al. 1999, 78–86. 9 Zur Eigenlogik solcher politischer Debatten vgl. Daniel T. Rodgers: Bearing Tales: Networks and Narratives in Social Policy Transfer. In: Journal of Global History 9/2014, 301–313. 10 Vgl. Ribton-Turner: History of Vagrants; Edmond Kelly: The Elimination of the Tramp. By the Introduction into America of the Labour Colony System Already Proved Effective in Holland, Belgium, and Switzerland with the Modifications thereof Necessary to Adapt this System to American Conditions. New York, London 1908; Heinrich Reicher: Heimatrecht und Landes-Armenpflege
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dementsprechend nicht einfach eine quantitative Zunahme subsistenzlosen Wanderns oder eine effektivere Verfolgung. Es manifestierte vielmehr das Entstehen staatlicher Sozialpolitik wie die damit verbundene „Verwissenschaftlichung des Sozialen“.11 Dabei entwickelte sich nicht nur ein neues Verständnis bereits existierender Praktiken, vielmehr handelte es sich um die Erzeugung eines neuen Phänomens. Landstreicherei und Betteln waren gesetzlich unter Strafe gestellt, wurden mit Arrest, Zwangsarbeit, Aufenthaltsverbot und mit Abschiebung in die Zuständigkeitsgemeinde geahndet. All das beseitigte jedoch nicht das Problem. Es handelte sich vielmehr, befand etwa der Jurist August Finger, um „Palliativmittel“,12 um eine rein „symptomatische Bekämpfungsmethode der Verbrechen“,13 welche die Ursachen des Übels außer Acht ließ.14 Unterschiedliche Ursachen schienen wesentlich für unterschiedliche „Qualität“15 von Umherziehen und Betteln. Zeitgenössische Schriften formulierten teils außerordentlich differenzierte Typologien nach Ursachen, Gründen und Graden des Nichtarbeitens.16 So kategorisierte etwa Edmond Kelly Umherzie-
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mit besonderer Berücksichtigung der Natural-Verpflegsstationen in Steiermark. Ein Beitrag zum österreichischen Armenrecht. Graz 1890; C. R. Henderson: Modern Methods of Charity. London 1904; M. Bertsch: Über Landstreicherei und Bettel. Ein Beitrag zur Lösung der Stromerfrage. Tübingen 1894; Fred W. Mee: The Vagrancy Question and the Report of the Departmental Committee Thereon. In: Poor Law Conferences Held in the Year 1906–7. Proceedings of the Central and District Poor Law Conferences, Held from May 1906 to February 1907, with the Papers Read and Discussion Thereon, and Report of the Central Committee. London 1907, 374–396; William Chance: Vagrancy. Being a Review of the Report of the Departmental Committee on Vagrancy (1906), with Answers to Certain Criticisms. London 1906; United States, Bureau of Foreign Commerce: Vagrancy and Public Charities in Foreign Countries. Reports from the Consults of the United States in Answer to a Circular from the Department of State. Washington 1893; Otto Becker (Hg.): Die Regelung der Wanderarmenfürsorge in Europa und Nordamerika. Berlin 1918 (= Schriften des Verbandes Deutscher Arbeitsnachweise 14); Josiah Flynt: Tramping With Tramps. Studies and Sketches of Vagabond Life. New York 1901. Im Sinne von Lutz Raphael: Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. In: Geschichte und Gesellschaft 22/1996/2, 165–193. August Finger: Die Bestrafung des Bettels nach dem Gesetze vom 24. Mai 1885, Nr. 89 R. G. Bl. In: Juristische Blätter 16/1887/12, 135–138, hier 135. August Finger: Landstreicherei und Bettel. In: Ernst Mischler, Josef Ulbricht (Hg.): Österreichisches Staatswörterbuch. Handbuch des gesamten österreichischen öffentlichen Rechtes. 2. Aufl., Wien 1907, Bd. 3, 434–441, hier 434f. Vgl. auch Friedrich Probst: Die Naturalverpflegsstationen in Oesterreich. In: Statistische Monatsschrift, hg. von der k. k. statistischen Central-Commission. 20/1894, 65–76, hier 65. Rudolf Krejčí: Naturalverpflegsstationen. In: Österreichisches Staatswörterbuch, Bd. 3, 702–707, hier 703. Vgl. bspw. Alice Willard Solenberger: One Thousand Homeless Men. A Study of Original Records. New York 1911, 209; Olof Kinberg: On So-Called Vagrancy. A Medico-Sociological Study. In: Journal of Criminal Law and Criminology 24/1933/2, 409–427; Landstreicherei. In: Friedrich
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hende in Hinblick auf ihre körperliche, psychische und moralische Verfassung und die Beweggründe ihres Tuns: I. The youth under twenty-one who tramps for amusement. This class constitutes a large per cent. of the whole tramp army. II. The neuropath; not necessarily sick in body but sick in mind, for whom tramping is as specific a symptom of insanity as hallucination or delirium tremens. III. The remainder of the able-bodied tramps, who in turn should be divided into very clearly marked groups: (1) Those anxious to work. (2) Those accustomed to casual labour and willing, therefore, only to work on odd jobs. (3) Those not willing to work at all. (4) Misdemeanants. IV. The non-able-bodied who again should be divided into the following: (1) Blameless unemployed who are unable to work through age, illness, or accident. (2) Unemployed whose capacity for work has been affected by drink. (a) Those whose physical incapacity is temporary and who can within a reasonable time recover capacity to work upon being removed from the temptation to drink. (b) Those whose incapacity is permanent but who are capable of being restored to physical capacity after a sufficiently long treatment. (c) Incurables. (3) Misdemeanants.17
Ungeachtet der Typen und Subtypen, die definiert wurden, im Mittelpunkt stand meist das Bestreben, selbstverschuldete von unverschuldeter Erwerbslosigkeit und Arbeitswilligkeit von Arbeitsscheu zu unterscheiden.18 Die Problemgruppe – und dass es sich um eine Gruppe handelte, wurde dabei jedenfalls unterstellt – zerfiel, meinte etwa Hugo Herz, „in zwei nur äußerlich gleichartige, in ihrem Wesen aber Duschenes, Wenzel von Bĕlský, Carl Baretta (Hg.): Oesterreichisches Rechts-Lexikon. Praktisches Handwörterbuch des öffentlichen und privaten Rechtes der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder. Prag 1896, Bd. 3, 139f.; Rachel Vorspan: Vagrancy and the New Poor Law in Late-Victorian and Edwardian England. In: The English Historical Review 92/1977/362, 59–81, hier 60; Chance: Vagrancy, 2f.; Kusmer: Down and Out, 49; Tim Cook: Preface. In: Ders. (Hg.): Vagrancy. Some New Perspectives. London, New York, San Francisco 1979, VII–IX, hier VII; Nels Anderson: On Hobos and Homelessness, edited and with an Introduction by Raffaele Rauty. Chicago, London 1998, 68–70. 17 Kelly: Elimination, 9–11, vgl. auch 103–107. 18 Vgl. etwa Das Wanderarbeitsstättengesetz vom 29. Juni 1907, erläutert von Carl Mauve und R. v. Gröning. Berlin 1909, 21; M. A. Crowther: The Tramp. In: Roy Porter (Hg.): Myths of the English. Cambridge, Oxford 1992, 91–113, hier 97.
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grundverschiedene und daher aufs schärfste zu sondernde Gruppen, je nach Ursache welche sie zur Vagabundage beziehungsweise zum Betteln führten. Diese Ursachen sind: Notlage einerseits (soziale Druckverhältnisse im Heimatsorte), Abneigung gegen intensive Arbeit und geregeltes Leben andererseits“.19 Wer nichts besitzt und nichts erwirbt, so der Autor, müsse der Gesellschaft wirtschaftlich gefährlich werden. Damit war nicht nur gemeint, dass Betteln und Landstreicherei die Bevölkerung belästigten oder häufig auch mit Delikten gegen Eigentum und Sittlichkeit in Verbindung gebracht wurden. Das müßige, unproduktive Leben auf Kosten anderer20 wurde in den Debatten viel allgemeiner als „Delikt wider die wirtschaftliche Ordnung“,21 als „antiökonomisches“ Verhalten,22 „[n]egative Arbeit“,23 als „Schädigung der Gesamtwirtschaft“24 und des „Nationalvermögens“,25 des Staatswohles verstanden.26 Arbeit funktionierte dabei nicht nur als erstes und bestes Mittel gegen Armut, sie galt als Grundlage des modernen Staates.27 Aber nicht jede/r Arbeitslose, nicht jede/r Bettler/in war arbeitsscheu. Manche konnten aus körperlichen Gründen nicht arbeiten. Oft war keine Arbeit zu finden.28 So vollauf berechtigt und notwendig eine dergleichen Strafsatzung ist, wenn sie auf diejenigen beschränkt bleibt, welche trotz der ihnen gebotenen Gelegenheit zu einem Erwerbe oder trotz der ihnen gebotenen ausreichenden öffentlichen Armenversorgung es vorziehen, vagabundirend und bettelnd im Lande herumzustreichen, so sehr verletzt sie jedes menschliche Gefühl, wenn sie mit jeder empörenden Gleichgültigkeit auch gegen unverschuldetes Elend gedroht und vollstreckt wird […].29
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Herz: Vagabundage, 576. Vgl. Robert Hippel: Zur Vagabundenfrage. Berlin 1902, 6; Rotering: Arbeit, 204. Rotering: Arbeit, 204; dagegen Finger: Landstreicherei, 434f. Rotering: Arbeit, 204. Rotering: Arbeit. Hugo Herz: Arbeitsscheu und Recht auf Arbeit. Kritische Beiträge zur Österreichischen Strafund Sozialgesetzgebung. Leipzig, Wien 1902, 11, 15. Karl Wilmanns: Das Landstreichertum, seine Abhilfe und Bekämpfung. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform I/1904–05, 605–620, hier 605. Vgl. etwa Paul Köhne: Die Arbeiten des internationalen Kongresses für Gefängniswesen zu Rom im Jahre 1885. In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft 9/1889, 282–303, hier 291. Vgl. Herz: Arbeitsscheu, 33; William Henry Beveridge: Unemployment. A Problem of Industry. New York, Bombay, Calcutta 1909, 1. Vgl. Finger: Bestrafung, 135. Heinrich Lammasch: Criminalpolitische Studien. In: Der Gerichtssaal 44/1891, 147–248, hier 188f.
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Dementsprechend forderte etwa Hugo Herz das Recht auf Arbeit für Arbeitsfähige und das Recht auf Existenz für Arbeitsunfähige.30 Ähnlich verlangte Hippel „Hilfe dem hilfsbedürftigen Wanderer, Strafe und Sicherung gegenüber dem Schmarotzer und Störer des Rechtsfriedens“.31 Jeder, auch der/die Besitzlose, habe ein Recht auf Existenz.32 In diesem Sinn also bedingten einander Recht auf und Pflicht zur Arbeit33 und Recht auf und Pflicht zur Hilfe gegenseitig: Je mehr der moderne Staat der individualistischen Anschauung entgegen tritt und in seiner Rechtsordnung das Gesetz der Solidarität anerkennt, welches der Gesamtheit es zur Pflicht macht, kein Individuum von der Fürsorge auszuschließen, so kann er, falls er im Stande bleiben will, diese Aufgabe zu lösen, seine Fürsorge gerade auf diejenigen Angehörigen nicht ohne weiteres, ausdehnen, welche bei vorhandener Selbsterhaltungsmöglichkeit dem Gebote der Arbeitsforderung sich bewußt entgegensetzen.34
Und Wilmanns formulierte: Je mehr der Staat und die öffentliche Fürsorge für den unverschuldeten Arbeitslosen, d. h. für den körperlich und geistig vollwertigen Arbeiter, den durch Alter, Krankheit, durch Krisen und schlechte Geschäftslage Arbeitslosen, übernimmt, desto unabwendbarer erscheint es, den minderwertigen Elementen, die aus irgend einem Grunde nur ausnahmsweise oder gar nicht arbeiten und meist oder ständig von fremder Unterstützung leben, die Fürsorge zu entziehen und sie auf irgend eine Weise dauernd oder auf unbestimmte Zeit zu versorgen. Es ist das die bedingungslose Voraussetzung für das Gedeihen der Fürsorge für den vollwertigen Arbeitslosen […].35
Die Verfolgung von Betteln und Landstreicherei erschien in diesem Sinne also keineswegs anachronistisch, sondern vielmehr als Bedingung systematischer Hilfeleistung. Doch wie die Unterscheidungen zwischen „unverschuldet Arbeitslosen“ und „min30 Vgl. Herz: Arbeitsscheu, 13; siehe auch Ernst Mischler: Die öffentliche Arbeitsvermittlung in Österreich. Wien 1905 (= Separatabdruck aus der Österreichischen Rundschau II/15, 55–65), 55. 31 Hippel: Vagabundenfrage, 8; ähnlich auch Hugo Hoegel: Die Straffälligkeit wegen Arbeitsscheu in Österreich. Wien 1899, 3. 32 Vgl. Herz: Arbeitsscheu, 33; Ernst Mischler: Grundzüge einer allgemeinen staatlichen Arbeitsvermittlung für Österreich. In: Archiv für soziale Gesetzgebung und Statistik. Zeitschrift zur Erforschung der gesellschaftlichen Zustände aller Länder 15/1900, 281–331, hier 290; Julius Ofner: Das Recht auf Arbeit. Vortrag, gehalten im Wiss. Club zu Wien am 24.11.1884. Wien 1885. 33 Zu dieser Frage vgl. etwa auch Johann Haeßle: Arbeit. In: Hermann Sacher (Hg.): Staatslexikon. 5. Aufl., Freiburg/Breisgau 1926, Bd.1, 242–254, hier 250. 34 Herz: Arbeitsscheu, 17f. 35 Wilmanns: Landstreichertum, 605.
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derwertigen Elementen“ treffen? Das verlangte nach Operationalisierung.36 Die praktische Unterscheidung guten und schlechten Umherziehens war für das Entstehen eines modernen Sozialstaates grundlegend, weil sie die Unterscheidung von guter und schlechter Haltung zum eigenen Lebensunterhalt und zur Arbeit operationalisierte. Sie wurde das Kriterium, um die Guten und die Schlechten auseinanderzuhalten. Auf den ersten Blick mag die Unterscheidung von Arbeitsfähigen, Arbeitsunfähigen und Arbeitsscheuen sehr an die alte Unterscheidung von würdigen und unwürdigen Armen erinnern, denn augenscheinlich ging es um individuelle Einstellung und Moral, die Umherziehen bzw. Nichtarbeit zu einem Delikt oder einer anerkennbaren Notsituation erklärten. Allerdings kam nun zusehends ein neues Wort in Gebrauch. War bislang eher von Armen, Müßigen, Vazierenden oder von dem Arbeitsmangel die Rede, so sprach man im Deutschen (ähnlich auch im Englischen und Französischen)37 nun immer häufiger von „den Arbeitslosen“ und „der Arbeitslosigkeit“. Fragen wir nach den Gründen des sich mehr und mehr ausbreitenden Bettels, so können wir zwei wesentlich verschiedene hervorheben: Der Bettel, die Inanspruchnahme fremder Wohltätigkeit, tritt auf als Folge von Unlust zur Arbeit, Arbeitsscheu, oder er tritt auf als Folge der Arbeitslosigkeit, mag dieselbe nun durch Unfähigkeit zur Arbeit oder durch den wohl noch häufigeren Umstand bedingt sein, daß bei Fähigkeit und Lust zur Arbeit die Gelegenheit zu dieser wegen des Ueberschusses des Anbotes über die Nachfrage sowie wegen mangels einer genügenden Organisation, die die Vereinigung von Nachfrage und Anbot vermitteln würde, fehlt.38
Arbeitslosigkeit war in diesem Sinne nicht in einer moralischen Haltung oder individuellem Unvermögen begründet. Sie war das Problem eines Arbeitsmarktes bzw. von dessen Organisation. Das Bekämpfen von Arbeitslosigkeit wurde damit primär zur Angelegenheit einer staatlichen Arbeitsmarktorganisation, die durch Arbeitsvermittlung zu Arbeit verhelfen sollte.39 Indem Arbeitslosigkeit als Effekt eines Arbeits36 Vgl. Mischler: Grundzüge, 291. 37 Vgl. Christian Topalov: The Invention of Unemployment. Language, Classification and Social Reform 1880–1910. In: Bruno Palier (Hg.): Comparing Social Welfare Systems in Europe. Bd. 1: Oxford Conference, France – United Kingdom. O. O. 1994, 493–507, hier 497f. 38 Finger: Bestrafung, 135. 39 Ähnlich auch Adolf Schell 1927: „Es ist dies einmal die Gruppe der eigentlichen Landstreicher, der Arbeitsscheuen, Erwerbsbeschränkten und Erwerbsunfähigen, die in der Regel aus irgend einem Grunde dem Konkurrenzkampfe nicht gewachsen sind und deshalb dauernd oder vorübergehend vom Arbeitsmarkt ausgeschieden werden. Es befinden sich unter den Wanderern aber auch vollerwerbsfähige Kräfte, die in Zeiten von Konjunkturschwankungen, infolge der
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marktes begriffen wurde, der schon da war und den es staatlicherseits zu organisieren und zu verwalten galt, verschob sich auch die Perspektive von den einzelnen Arbeitslosen zur Arbeitslosigkeit, zu einer kollektiven Notlage:40 Arbeitslose erschienen nun als Ausdruck der Arbeitslosigkeit.41 Nicht die Arbeitslosen, sondern die Arbeitslosigkeit galt als Faktum.42 Von der in der Forschungsliteratur beschriebenen „Entdeckung“ und „Erfindung“ der Arbeitslosigkeit43 zur verwaltungstechnischen Erzeugung und Durchsetzung eines normalisierten Status der Arbeitslosen war es jedoch noch ein weiterer Weg. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, hielt etwa Ernst Mischler fest, „fehlt die Arbeitsvermittlung so gut wie gänzlich; die heutigen Statuten stehen noch auf dem Standpunkte der Pfarrarmeninstitute, welche nur Arbeitsunfähige und Arbeitsscheue, aber nicht Arbeitslose kannten“.44 Dem Gesetzgeber wäre, so der
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Eigenart des Saisongewerbes, neuerdings auch infolge der Rationalisierungsbestrebungen und des Anwachsens der erwerbsfähigen Bevölkerung erwerbslos werden und als Arbeitsuchende auf Wanderschaft gehen. Zu dieser Gruppe gehören auch Angehörige der gelernten Berufe, die zum Zwecke der Berufsausbildung und ihrer Weiterbildung von ihrem bisherigen Arbeitsort abwandern, und die häufig – namentlich in Krisenzeiten – in Not geraten.“ Adolf Schell: Der wandernde Arbeitslose im Aufgabenkreis der Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Frankfurt/ Main 1927 (= Aufbau und Ausbau der Fürsorge. Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge 13), 7. Zur Geschichte der Arbeitsvermittlung vgl. Wadauer/ Buchner/Mejstrik: Making of Labour Intermediation; dies: Introduction: Finding Work and Organizing Placement in the Nineteenth and Twentieth Centuries. In: Dies. (Hg.): History of Labour Intermediation, 1–22. Vgl. Jens Alber: Vom Armenhaus zum Wohlfahrtsstaat. Analysen zur Entwicklung der Sozialversicherung in Westeuropa. Frankfurt/Main, New York 1982, 29. Ähnlich auch Beveridge: Unemployment, 3: „Classification of men according to the causes of their unemployment is, strictly speaking an impossibility. The only possible course is to classify the causes or types of unemployment themselves.“ Vgl. etwa auch Desrosières: Politik, 11. Vgl. u a. Topalov: Invention of Unemployment, 493–507; Bénedicte Zimmermann: Arbeitslosigkeit in Deutschland. Zur Entstehung einer sozialen Kategorie. Frankfurt/Main, New York 2006; Krishan Kumar: From Work to Employment and Unemployment: the English Experience. In: Raymond E. Pahl (Hg.): On Work. Historical, Comparative and Theoretical Approaches. Oxford, New York 1988, 138–164, hier 138; John A. Garraty: Unemployment in History. Economic Thought and Public Policy. New York et al. 1978, Kap. 6; William Walters: Unemployment and Government. Genealogies of the Social. Cambridge 2000, 12; Richard J. Evans: Introduction: The Experience of Unemployment in the Weimar Republic. In: Ders., Dick Geary (Hg.): The German Unemployed. Experiences and Consequences of Mass Unemployment from the Weimar Republic to the Third Reich. London, Sidney 1987, 1–22, hier 1. Ernst Mischler: Einleitung. Uebersicht über die öffentliche Armenpflege und die private Wohlthätigkeit in Oesterreich. In: Ernst Mischler (Red.): Oesterreichs Wohlfahrts-Einrichtungen 1848– 1898. Festschrift zu Ehren des 50jährigen Regierungs-Jubiläums Seiner k. u. k. Apostolischen Majestät des Kaisers Franz Josef I von der unter dem höchsten Protectorate Sr. k. und k. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzog Otto stehenden Commission der Oesterreichischen Wohl-
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Autor, der Gedanke einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit noch ganz unverständlich.45 Auch die Etablierung von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nach dem Ersten Weltkrieg verringerte nicht die Bandbreite unklarer Situationen des Nichterwerbs und damit auch nicht das Problem der Vagabundage. Das Entstehen und die verwaltungstechnische Durchsetzung der entsprechenden neuen Phänomene werden im Folgenden anhand der Etablierung von Naturalverpflegsstationen und Herbergen skizziert, Einrichtungen, die bislang wenig erforscht und kaum in Hinblick auf die „Entdeckung“ von Arbeitslosigkeit und die Konstituierung von Arbeitsmarkt reflektiert wurden.46 Die Einführung der Naturalverpflegsstationen
Naturalverpflegsstationen manifestierten das Entstehen moderner Sozialpolitik und gleichermaßen die Ambiguität von deren Maßnahmen und deren anfangs enge Verknüpfung mit Armenwesen und Polizei.47 Gleichzeitig mit der Verabschiedung des neuen Landstreichereigesetzes 1885 forderte das Abgeordnetenhaus die Regierung mittels Resolution auf, „dahin zu wirken, daß Naturalverpflegsstationen auch in Oesterreich, ähnlich wie sie in ausländischen Staaten bereits bestehen, und zwar insbesondere in den Schubstationen, mit thunlicher Beschleunigung eingeführt
fahrts-Ausstellung Wien 1898. Bd. 1: Armenpflege und Wohlthätigkeit in Österreich. Wien 1899, VII–XLII, hier XXVII. 45 Vgl. Mischler: Grundzüge, 291. 46 Die bisherigen Forschungen konzentrieren sich zudem auf das Deutsche Reich. Vgl. bspw. Ewald Frie: Fürsorgepolitik zwischen Kirche und Staat. Wanderarmenhilfe in Preußen. In: Jochen-Christoph Kaiser, Wilfried Loth (Hg): Soziale Reform im Kaiserreich. Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik. Stuttgart, Berlin, Köln 1997, 114–127; Manfred Seidenfuß: Wahrnehmung sozialen Wandels. Identitätsbildung durch Vernetzung am Beispiel der Wanderfürsorge in Württemberg. Weinheim 1999 (= Schriften zur Geschichtsdidaktik 10). 47 1907 charakterisiert das Österreichische Staatswörterbuch die Naturalverpflegsstationen folgendermaßen: „Die N[aturalverpflegsstationen] sind Anstalten, in welchen erwerbs- und subsistenzlosen, jedoch arbeitswilligen und arbeitssuchenden Reisenden durch eine genau festgesetzte Zeit die Unterkunft und die nötigste Naturalverpflegung gegen eventuell vorherige Arbeitsleistung zu dem Zwecke gewährt wird, um ihnen zu ermöglichen, eine ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechende Arbeitsstelle zu finden. Die N[aturalverpflegsstationen] hängen unmittelbar mit der Arbeitslosigkeit zusammen und wie diese sich in ihrer für die Sozialpolitik maßgebenden Gestaltung als eine Folge der wirtschaftlichen Entwicklung der Neuzeit darstellt, erscheinen auch die N[aturalverpflegsstationen] als ein Produkt der jüngsten sozialpolitischen Bestrebungen, die Arbeitslosigkeit als solche als auch in ihren Begleiterscheinungen (Bettelei und Landstreicherei) zu bekämpfen.“ Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 702; vgl. zu dieser Frage auch Wadauer: Tramping.
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werden“.48 Als erstes Land erließ Niederösterreich49 (mit Ausnahme des Gemeindegebietes Wien, damals noch kein eigenständiges Bundesland, sowie der zum Wiener k. k. Polizeirayon gehörigen Gemeinden) 1886 ein entsprechendes Gesetz.50 Es folgten 1888 Gesetze in Mähren (mit Ausnahme von Brünn und Olmütz),51 Oberösterreich52 und der Steiermark,53 1891 in Vorarlberg,54 1892 in Österreichisch Schlesien55 und 1895 in Böhmen (mit Ausnahme von Prag).56 Naturalverpflegsstationen wurden also in den eher industrialisierten Ländern der Monarchie errichtet. Sie wurden von Ländergesetzen geregelt und von Ausschüssen auf Landesebene beauf48 Bericht des Strafgesetzausschusses betreffend die Erlassung von Gesetzen hinsichtlich 1. Der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten, und 2. der Errichtung und Erhaltung solcher Anstalten. in: Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Hauses der Abgeordneten des österreichischen Reichsrathes, VI. Legislaturperiode, IX. Session, 1.123 der Beilagen, 1885, 6. 49 Das Heimatland Josef Schöffels, der sich besonders für diese Naturalverpflegsstationen einsetzte. 50 Vgl. Gesetz vom 30. März 1886 betreffend die Errichtung von Naturalverpflegsstationen. LandesGesetz und Verordnungsblatt für das Erzherzogthume Oesterreich unter der Enns, 1886/29; siehe dazu Josef Schöffel: Die Institution der Natural-Verpflegs-Stationen, der Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten und ihre Einwirkung auf die Eindämmung des Landstreicher- und Bettelunwesens in Niederösterreich. Wien 1900. 51 Vgl. Gesetz vom 19. Februar 1888 wirksam für die Markgrafschaft Mähren betreffend die Errichtung von Natural-Verpflegsstationen, Landes-Gesetz und Verordnungsblatt für die Markgrafschaft Mähren, 1888/45. 52 Vgl. Gesetz vom 7. November 1888 betreffend die Errichtung von Natural-Verpflegsstationen, wirksam für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, 1888/23; Kundmachung des k. k. Statthalters für Oberösterreich vom 6. März 1889, Z. 691/Präs., betreffend die Bestimmungen des 1. April 1889 als Eröffnungstag für sämmtliche oberösterreichische Natural-Verpflegsstationen, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, 1889/7. 53 Vgl. Gesetz vom 30. Oktober 1888, wirksam für das Herzogthum Steiermark, mit Ausnahme der Landeshauptstadt Graz betreffend die Errichtung von Naturalverpflegsstationen, Landesgesetzund Verordnungsblatt für das Herzogthum Steiermark, 1888/50; bzw. Gesetz vom 13. Juni 1892, wirksam für das Herzogthum Steiermark mit Ausnahme der Landeshauptstadt Graz, betreffend die Natural-Verpflegsstationen, Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Herzogthum Steiermark, 1892/26. 54 Vgl. Gesetz vom 17. XI. 1891, Gesetz- und Verordnungsblatt für die gefürstete Grafschaft Tirol und das Land Vorarlberg, 1891/13. Siehe dazu auch Patricia Bersin: Die Naturalverpflegsstationen in Vorarlberg 1891–1914. Unveröff. Dissertation, Innsbruck 1987. 55 Vgl. Gesetz vom 11. April 1892, wirksam für das Herzogthum Schlesien, betreffend die Errichtung von Natural-Verpflegsstationen, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Herzogthum Ober- und Niederschlesien, 1892/32. 56 Vgl. Gesetz vom 29. April 1895, wirksam für das Königreich Böhmen mit Ausnahme der kgl. Hauptstadt Prag und der zum Prager k. k. Polizeirayon gehörigen Gemeinden, betreffend die Errichtung von Natural-Verpflegsstationen, Landes-Gesetz-Blatt für das Königreich Böhmen, 1895/38.
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sichtigt. Gemeinden betrieben und Konkurrenzbezirke (Zusammenschlüsse von Gemeinden) finanzierten sie.57 Explizite Aufgabe der Naturalverpflegsstationen war es, Bettelei und Vagabundage einzudämmen und die Kosten für den Schub zu reduzieren.58 Der Initiator der Naturalverpflegsstationen Josef Schöffel, schrieb Robert Scheu in der Zeitschrift Die Fackel, sei ein außerordentliches Verwaltungstalent gewesen: Wieder eine bedeutende Aufgabe bietet sich Schöffel, als es sich darum handelt, die alte Landplage Va g a b o n d a g e auszurotten. Wie er da ein verwickeltes, durch Jahrhunderte fortgeschlepptes Übel, dem keine grausame Gewalt, kein Schub und keine Gendarmerie beikommen kann, verwaltungstechnisch löst, indem er die trübe unbestimmte Flut des fahrenden Volkes in ihre Bestandteile zerlegt und nach gewonnener Übersicht geschickt disponiert – darin zeigt sich die Macht eines ordnenden Geistes. Da sind Arbeitscheue, Verbrecher, unglückliche Kinder, arbeitsuchende Handwerksburschen, brave Arbeiter – für das stumpfe Auge ein undifferenzierter Haufe. Er löst sie mit sicherem Griff auseinander und schafft durch ein System von Naturalverpflegsstationen wohltätige Zufluchten und Stützpunkte der Wiederaufrichtung.59
Durch Unterstützung und Organisierung des richtigen Wanderns sollte das schlechte Wandern hintangehalten werden. Die Naturalverpflegsstationen sollten Arbeit suchenden „Reisenden“ Unterkunft, Verpflegung und Informationen über offene Stellen bieten. Ihre Bestimmung, so der böhmische Landesausschussrat Rudolf Krejčí, sei: 1. Das unorganisierte, viele Mißstände zeitigende Almosengeben durch anstaltlich organisierte Unterstützung arbeitssuchender, daher arbeitswilliger Elemente zu dem Zwecke zu ersetzen, damit die Scheidung arbeitswilliger und arbeitsscheuer Elemente sowie eine zielbewußtere Anwendung gesetzlicher Repressivmaßregeln gegen letztere ermöglicht werde; 2. der Arbeitslosigkeit durch zweckmäßige Präventivmaßregeln zu steuern.60 57 Vgl. Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. VII: Verfassung und Parlamentarismus. 2. Teilband: Die regionalen Repräsentativkörperschaften. Wien 2000, 1450–1452. 58 So § 1 der entsprechenden Landesgesetze. Vgl. Probst: Naturalverpflegsstationen, 73; Die Arbeitsvermittlung in Österreich, verfasst und herausgegeben vom statistischen Departement im k. k. Handelsministerium. Wien 1898, 252. 59 Robert Scheu: Josef Schöffel. In: Die Fackel 11/1909/285–86, 19–30, hier 27 (Hervorhebung im Original). 60 Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 703, vgl. 704; ähnlich Herz: Arbeitsscheu, 83; vergleichbare Absichten schildert Lionel Rose: Rogues and Vagabonds. Vagrant Underworld in Britain 1815– 1985. London, New York 1988, 81. Zu den Zielsetzungen der Naturalverpflegsstationen vgl. Franz Thurner: Was thun wir für die Heimatlosen? (Naturalverpflegsstationen.) Eine social-politische Besprechung. Innsbruck 1889; Reicher: Heimatrecht.
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Nach den Statuten standen Naturalverpflegsstationen allen arbeits-, subsistenzund mittellosen, jedoch arbeitsfähigen Wanderern offen, unabhängig von Zuständigkeit, Konfession oder Geschlecht. Allerdings wurde dies so nicht umgesetzt. Frauen benutzen die Stationen kaum. (Ich verzichte deshalb im Folgenden weitgehend auf die weibliche Form.) Einige Provinzen schlossen in den Jahren nach der Gründung bestimmte Berufe explizit aus. In Österreichisch Schlesien durften Gesellen die Herbergen nur dann benutzen, wenn keine genossenschaftlichen Unterkünfte zur Verfügung standen. In der Steiermark waren Tagelöhner, Dienstboten und auch gewerbliche Gehilfen ausgeschlossen, die in den letzten sechs Monaten nicht in ihren Berufen gearbeitet hatten.61 Oberösterreich exkludierte Tagelöhner und Landarbeiter, da diese, wie es hieß, ohnehin überall auf genug Arbeit trafen. Handwerkern, die nicht in ihrem Beruf arbeiteten, wurde die Zeitspanne, in der sie die Stationen frequentieren durften, verkürzt. Die Möglichkeit und Notwendigkeit, eine längere Zeit nach einer Stelle zu suchen und selektiv Arbeit anzunehmen, wurde also eher jenen zugestanden, die einen Beruf hatten (bzw. einer Beschäftigung nachgingen, die als Beruf betrachtet wurde) und im Rahmen dieses Berufs nach Beschäftigung suchten.62 Die Aufnahme in eine Naturalverpflegsstation erforderte ein gültiges Reisedokument. Als solches galt etwa ein Arbeitsbuch, ein Dienstbotenbuch, ein fremdländischer Heimatschein mit Reisebewilligung, ein Reisepass oder eine Legitimationskarte. Den Aufgenommenen wurde ein Begleitschein ausgefolgt, aus dem die Benutzung der Stationen und das nächste Ziel des Wanderns hervorging.63 Die Wanderer hatten darüber hinaus einen beglaubigten Nachweis zu erbringen, dass sie in den letzten zwei oder drei Monaten in einem Arbeitsverhältnis gestanden waren.64 Die persönliche Arbeitswilligkeit sollte vor Ort durch Verrichten einer zugeteilten Arbeit wie Holzspalten, Steineklopfen, Straßenreinigung, Aufräumen der Lokalität, Wassertragen und dergleichen bewiesen werden.65 Dies wurde von manchen Zeitgenossen als Härte gegenüber den oft erschöpften Wanderern betrachtet und wohl auch nicht
61 Vgl. Gesetz vom 13. Juni 1892, wirksam für das Herzogthum Steiermark mit Ausnahme der Landeshauptstadt Graz, betreffend die Natural-Verpflegsstationen, Landesgesetz- und Verordnungsblatt für das Herzogthum Steiermark, 1892/26, § 4. 62 Zum Zusammenhang von Beruf und Arbeitslosigkeit vgl. Zimmermann: Arbeitslosigkeit, 105f. 63 Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 704. 64 Vgl. Statistisches Departement im k. k. Handelsministerium, Arbeitsvermittlung, 253. Krejčí spricht davon, dass die Wanderer zumindest 14 Tage ununterbrochen in Arbeit gestanden sein mussten. Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 704. 65 Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 704. Ähnliche „Arbeitstests“ gab es in deutschen und USamerikanischen Herbergen. Vgl. etwa Kusmer: Down and Out, 75; Eva Strauß: Wanderfürsorge in Bayern 1918–1945 unter besonderer Berücksichtigung Nürnbergs. Nürnberg 1995 (= Schriftenreihe des Stadtarchivs Nürnberg 56), 22; Rose: Rogues and Vagabonds, 79.
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immer umgesetzt.66 Die einzelnen Herbergsordnungen und Instruktionen enthielten noch weitere Bestimmungen zur Unterbringung, Verpflegung und Behandlung der Wandernden. Der Verdacht, dass Besucher der Stationen über Mittel verfügten und die Bedingung der Subsistenzlosigkeit nicht erfüllten, legitimierte eine Durchsuchung.67 Die Unterbringung sollte nach Geschlechtern und von den Schubzellen getrennt erfolgen. Die Aufenthaltsdauer in einer Station war auf 18 Stunden begrenzt.68 Aufenthalt, Personalien jedes Wanderers sowie die letzte besuchte und nächste anvisierte Naturalverpflegsstation, etwaige Vorkommnisse und erfolgreiche Arbeitsvermittlungen wurden in einem Herbergsbuch registriert. Eine Rückkehr zu einer Station war, abgesehen von besonderen Ausnahmen, erst nach Ablauf einer bestimmten Frist erlaubt. War keine Arbeitsstelle am Ort vorhanden, sollten die Besucher zur nächsten, 14 bis 24 km entfernten Station wandern.69 Sie sollten also stets in Bewegung bleiben.70 Die Nutzungsdauer insgesamt war beschränkt, je nach Land auf sechs Wochen bis drei Monate. Erst nach Ablauf einer bestimmten Frist konnte man in den Herbergen des Landes erneut Aufnahme finden. Auch wenn diese Naturalverpflegsstationen als eine Maßnahme der Arbeitsvermittlung verstanden wurden,71 dienten sie doch eher dazu, individuelle Arbeitssuche im Umherziehen zu organisieren und zu kontrollieren.72 Lediglich Böhmen erließ 1903 ein Gesetz zur Arbeitsvermittlung, das auf den Naturalverpflegsstationen aufbaute.73 Während Naturalverpflegsstationen bald für eine merkliche Reduktion von Bettelei und Landstreicherei verantwortlich gemacht wurden,74 sah man wenige Erfolge bei der Arbeitsvermittlung, die in dieser Form, so hieß es, immer ein Notbehelf blieb.75 Wandern und Umschau wurden in dieser Zeit in sehr vielen europäischen Ländern als eine der wichtigsten Arten der Arbeitssuche betrachtet,76 die Bedeutung, die dem 66 Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 706. 67 Vgl. Probst: Naturalverpflegsstationen, 69, Fußnote 13. 68 In bayerische Wanderarbeitsstätten galten ähnliche Bestimmungen, nur in Arbeiterkolonien war ein längerer Aufenthalt möglich. Vgl. Strauß: Wanderfürsorge, 22f. 69 Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 705. Von durchschnittlich 15 km spricht Richard Boleslawski von der Trenck: Die Arbeitsvermittlung in Oesterreich. O. O. o. J., 31. 70 Vgl. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 705; Krejčí bezeichnet die Stationen sogar als „eine mildere, sozialpolitisch angehauchte Art der Abschiebung“. Ebd., 704. 71 Vgl. Statistisches Departement im k. k. Handelsministerium, Arbeitsvermittlung, 255. 72 Vgl. John Stewart: Of No Fixed Abode. Vagrancy and the Welfare State. Manchester 1975, 144. 73 Vgl. Mischler: Arbeitsvermittlung, 59f.; Hans Hülber: Weg und Ziel der Arbeitsvermittlung. Studie über das Arbeitsmarktgeschehen in Österreich von 1848 bis 1934. Wien 1965, 9. 74 Vgl. Probst: Naturalverpflegsstationen, 70. 75 Vgl. K. k. arbeitsstatistisches Amt: Sitzungs-Protokolle des ständigen Arbeitsbeirathes. 1898/1899, 1.–5. Sitzung. Wien 1900, 390; Mischler: Grundzüge, 320. 76 Vgl. etwa Ad Knotter: Mediation, Allocation, Control: Trade Unions and the Changing Faces of
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Problem der Landstreicherei beigemessen wurde, und die Umgangsweisen damit variierten jedoch. Die meisten Länder verfügten über gesetzliche Bestimmungen zur Ahndung von Betteln oder Vagabundage. Nicht alle etablierten öffentliche Einrichtungen zur Unterstützung, Beherbergung und Kontrolle des Wanderns.77 Nicht alle Staaten regelten die Wandererfürsorge gesetzlich. Die Habsburgermonarchie, insbesondere Böhmen, galt einer 1918 publizierten Studie zufolge in Hinblick auf die Organisation der Naturalverpflegsstationen neben Deutschland, der Schweiz und England als eines der fortschrittlichsten Wanderländer.78 Die Naturalverpflegsstationen der Habsburgermonarchie lagen von Beginn an in öffentlicher Hand. Wenn auch nicht vollkommen einheitlich gestaltet, waren sie zumindest auf der Verwaltungsebene der Kronländer gesetzlich verankert, was die Finanzierung (eher) sicherte. In dieser Hinsicht unterschied sich das System der Naturalverpflegsstationen in der Habsburgermonarchie von seinen expliziten Vorbildern im Deutschen Reich (Württemberg)79, in der Schweiz und Holland. Im Deutschen Reich baute die Wandererhilfe bei aller regionalen Unterschiedlichkeit eher auf konfessionelle Wohltätigkeit und blieb eng an religiöse – insbesondere protestantische – Initiativen gebunden.80 Verschiedene Versuche zur gesetzlichen Verankerung scheiterten. Vor allem Ende des 19. Jahrhunderts mussten immer wieder Stationen infolge fehlender Finanzierung schließen. 1886 wurde zunächst der Herbergsverein, fünf Jahre später der Gesamtverband deutscher Verpflegungsstationen (Wanderarbeitsstätten) gegründet. 1907 beschloss Preussen ein Wanderarbeitsstättengesetz, das vor dem Ersten Weltkrieg aber nur wenige andere deutsche Länder ratifizierten. In der Schweiz betrieben nichtstaatliche Verbände die
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Labour Market Intermediation in Western Europe in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. In: Wadauer/Buchner/Mejstrik: History of Labour Intermediation, 117–150; Malcolm Mansfield: Labour Intermediation, Uncertain Employment and the Bourses du Travail in Late Nineteenth Century France. In: Ebd., 151–180; Beveridge: Unemployment, 262–264; Hans-Walter Schmuhl: Arbeitsmarktpolitik und Arbeitsverwaltung in Deutschland 1871–2002. Zwischen Fürsorge, Hoheit und Markt. Nürnberg 2003 (= Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 270), 21; Eric H. Monkkonen (Hg.): Walking to Work. Tramps in America, 1790–1935. Lincoln, London 1984. Zur Frage, wie die Arten der Arbeitssuche nach Geschlecht und Lebenssituation variierten vgl. Walter Licht: Getting Work. Philadelphia, 1840–1950. Philadelphia 1992. Einen Überblick gibt etwa Becker: Regelung. Zu Versuchen Wandererhilfe in den USA zu etablieren, vgl. Ringenbach: Tramps, 50; Wadauer: Tramping; Beate Althammer: Controlling Vagrancy. Germany, England and France, 1880–1914. In: Dies., Lutz Raphael, Tamara Stazic-Wendt (Hg.): Rescuing the Vulnerable. Poverty, Welfare and Social Ties in Modern Europe. New York, Oxford 2016 (= International Studies in Social History 27), 187–404. Vgl. Becker: Regelung, 3. Vgl. dazu auch Karl Mailänder: Arbeitsnachweis und Wandererfürsorge. Nürnberg 1925 (= Bücherei des „Öffentlichen Arbeitsnachweises“ 4). Vgl. Strauß: Wanderfürsorge, 22, 24; Frie: Fürsorgepolitik, 114–127; Seidenfuß: Wahrnehmung, 7.
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Stationen, nach 1909 gesetzlich geregelt und staatlich finanziert.81 Auch die „casual wards“ der englischen Arbeitshäuser dürften ähnliche Institutionen gewesen sein.82 Ich habe bisher keine Hinweise darauf gefunden, welche Einrichtungen in Holland, auf das in den Debatten in Cisleithanien explizit Bezug genommen wurde, dem System der Naturalverpflegsstationen entsprachen. Der Erste Weltkrieg bedeutete für das Wandern eine fundamentale Zäsur. In den Kriegsjahren und unter Bedingungen eines Arbeitskräftemangels wurden die Naturalverpflegsstationen kaum frequentiert. Viele wurden geschlossen oder umgewidmet. Neue sozialpolitische Maßnahmen der Ersten Republik schienen das Wandern dann überhaupt obsolet zu machen, allen voran die Einführung der Arbeitslosenunterstützung 1918 und der Arbeitslosenversicherung 1920.83 Dies, die gleichzeitig etablierte öffentliche Arbeitsvermittlung und weitere sozialpolitische Maßnahmen, etwa der Mieterschutz, ermöglichten mehr Sesshaftigkeit.84 (Neue) Staatsgrenzen behinderten Mobilität. Hinzu kamen demografische Veränderungen (viele junge Männer starben im Krieg) sowie Prozesse, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg eingesetzt hatten, wie etwa die Urbanisierung, die Etablierung neuer Transportmittel und die Verstetigung von Arbeitsverhältnissen. All das dürfte den Rückgang bestimmter Formen räumlicher Mobilität bewirkt haben.85 In der Migrationsforschung heißt es, dass es sich dabei um einen Trend handelte, der sich in vielen Ländern Europas zeigte.86 Allerdings stellt sich bei solchen Befunden die Frage, was als Mobilität definiert und was in die Definition einbezogen wird. Das Umherziehen auf der Suche nach 81 Vgl. Becker: Regelung, 3; auch Thomas Dominik Meier, Rolf Wolfensberger: „Eine Heimat und doch keine“. Heimatlose und Nicht-Sesshafte in der Schweiz (16.–19. Jahrhundert). Zürich 1998. 82 Vgl. etwa Rose: Rogues and Vagabonds, 77–79, 152–154; M. A. Crowther: The Workhouse System 1834–1929. The History of an English Social Institution. Cambridge 1981, 247–266. 83 Dieter Stiefel: Arbeitslosigkeit. Soziale, politische und wirtschaftliche Auswirkungen – am Beispiel Österreichs 1918–1938. Berlin 1979 (= Schriften zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 31); Die Industrielle Bezirkskommission Wien. Landesbehörde für Arbeitsvermittlung und ihre Arbeitsämter 1918–1928. Wien o. J., 6–8. 84 Zur Sozialgesetzgebung vgl. etwa Karl Pribram: Die Sozialpolitik im neuen Oesterreich. In: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 48/1920–1921, 615–680; Tálos/Wörister: Soziale Sicherung, 20–22. 85 Vgl. etwa Steve Hochstadt: Mobility and Modernity. Migration in Germany 1820–1989. Ann Arbor 1999, Kapitel 6; Dieter Langewiesche: Mobilität in deutschen Mittel- und Großstädten. Aspekte der Binnenwanderung im 19. und 20. Jahrhundert. In: Werner Conze, Ulrich Engelhardt (Hg.): Arbeiter im Industrialisierungsprozeß. Herkunft, Lage und Verhalten. Stuttgart 1979, 70–93; ders., Friedrich Lenger: Internal Migration: Persistence and Mobility. In: Klaus J. Bade (Hg.): Population, Labour and Migration in 19th- and 20th-Century Germany. Leamington Spa, Hamburg, New York 1987, 87–100, hier 91f.; Klaus J. Bade: Arbeitsmarkt, Bevölkerung und Wanderung in der Weimarer Republik. In: Michael Stürmer (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. Königstein/Taunus 1980, 160–187; Oltmer: Migration, 17. 86 Vgl. Hochstadt: Mobility, 272.
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Arbeit und Lebensunterhalt, verschwand auch in der Zwischenkriegszeit nicht, was nicht zuletzt an der begrenzten Dauer der Arbeitslosenunterstützung lag. Außerdem waren viele von dieser ausgeschlossen, nicht nur Dienstbot/inn/en und landwirtschaftliche Arbeiter/innen, sondern alle, die in Bezirken wohnten, die als „rein ländlich“ kategorisiert worden waren.87 Während der Weltwirtschaftskrise sank die Zahl der Personen mit Arbeitslosenversicherung oder -unterstützung noch. Nach Angaben des Internationalen Arbeitsamtes waren im Mai 1933 nur 38 % der erwerbstätigen Bevölkerung Österreichs durch die Arbeitslosenversicherung erfasst.88 Bereits in den frühen 1920er Jahren galten in vielen österreichischen Bundesländern erneut Maßnahmen für das Wandern als nötig, denn „die Folgen dieser absoluten Aussichtslosigkeit für Arbeitslose, auf dem flachen Lande in ihrem Wohnsitz irgendeinen Verdienst zu finden, hat nun im Laufe der letzten Jahre wiederum eine Erscheinung aufleben lassen, die größeren Umfang angenommen hat, nämlich das Wandern der Arbeitslosen, besonders der Jugendlichen, von Ort zu Ort zum Zwecke der Arbeitssuche“,89 so ein Antrag im Niederösterreichischen Landtag. Die sozialdemokratischen Abgeordneten argumentierten: Schon seit jeher hat das Wandern der Handwerksburschen und Arbeiter nach der Freisprechung zur Tradition des Wirtschaftslebens gehört und zur vielseitigen Ausbildung der gewerblichen Arbeiter, zur Vermehrung ihrer Kenntnisse an Land und Leuten und häufig auch zur volkswirtschaftlichen Entwicklung der verschiedenen Länder und Landesteile beigetragen. Damals war es den auf der Wanderung („Walz“) befindlichen eher möglich diese Reisen vorzunehmen, ohne allzu große Ersparnisse zu besitzen. In der heutigen Zeit der Teuerung und Lebensmittelnot ist diese Art des Wanderns nicht mehr möglich. Die Vorgenannten sind sich darüber klar, dass das individuelle Suchen nach Arbeit durch Wandern von Ort zu Ort keine rationelle Form der Arbeitsvermittlung darstellt, die vielmehr besser durch zentrale Zusammenfassung größerer Gebiete bei Stellen, denen sowohl die offenen Plätze, wie die Arbeitssuchenden bekannt sind, bewerkstelligt wird. Trotzdem hat sich die Macht der Verhältnisse stärker erwiesen, als diese Ansicht und so ist das Wandern von Arbeitern auf dem flachen Lande jetzt wiederum zu einer Massenerscheinung geworden. Nun sind hiebei die Reisenden fast ausschließlich auf die sehr mangelhaften und zum Teile auch aufgelassenen Naturalverpflegsstationen angewiesen. Außerdem sind die wandernden Arbeitslosen den schlimmsten Verfolgungen durch die Ortsbehörden und insbe-
87 Vgl. Vana: Gebrauchsweisen, 129. 88 Vgl. Royal Institute of International Affairs: Unemployment. An International Problem. Oxford 1935, 478, zit. nach Vana: Gebrauchsweisen, 129. 89 Der Antrag stammte von Schlesinger, Müllner und Genossen. Stenographische Protokolle des Landtages von Niederösterreich, 1. Wahlperiode, IV. Session, 3. Sitzung am 30. Oktober 1923, 34–36, hier 35.
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sondere durch die Gendarmerie ausgesetzt, da sie vielfach auch dem ganz veralteten und auf die derzeit herrschenden Verhältnisse durchaus nicht mehr anwendbaren Vagabundengesetze behandelt werden. So kommt es häufig vor, dass vollkommen unbescholtene Arbeitslose als unterstandslos in den Gemeindearrest gesteckt werden.90
Man forderte, die geltenden Gesetze durch Bestimmungen zu ersetzen, „die den heute geltenden Auffassungen von der Arbeitslosigkeit und den Abhilfemaßregeln gegen unverschuldete Arbeitslosigkeit entsprechend Rechnung tragen“.91 Naturalverpflegsstationen wurden als Herbergen redefiniert wieder- oder neuerrichtet. Zuerst erließ Oberösterreich 1923 ein entsprechendes Gesetz.92 Es folgten 1925 Niederösterreich93 und die Steiermark (mit Ausnahme von Graz),94 1926 Salzburg,95 1929 Tirol96 und 1931 Vorarlberg.97 Nur im Burgenland, in Kärnten und in Wien wurden keine Herbergen errichtet. In Wien sollte das Obdachlosenheim ähnliche Funktionen erfüllen.98 Anders als in den Gesetzen der Monarchie stand nun explizit der Schutz der Arbeitslosen an 90 Stenographische Protokolle des Landtages von Niederösterreich, 1. Wahlperiode, IV. Session, 3. Sitzung am 30. Oktober 1923, 34–36, hier 35. 91 Stenographische Protokolle des Landtages von Niederösterreich, 1. Wahlperiode, IV. Session, 3. Sitzung am 30. Oktober 1923, 34–36, hier 35. 92 Vgl. Gesetz betreffend die Umwandlung der Naturalverpflegsstationen in Herbergen für reisende Arbeitssuchende, Landesgesetz- und Verordnungsblatt für Oberösterreich, 1923/60. 93 Vgl. Gesetz vom 29. Jänner 1925 über die Errichtung von Herbergen für reisende Arbeitssuchende, Landesgesetzblatt für das Land Niederösterreich, 1925/29; siehe Wadauer: Ökonomie. 94 Vgl. Gesetz vom 20. März 1925 betreffend die Schaffung von Herbergen für reisende Arbeitssuchende in steirischen Gemeinden, mit Ausnahme der Landeshauptstadt Graz, Landesgesetzblatt für das Land Steiermark, 1925/49. 95 Vgl. Gesetz vom 21. Dezember 1926 über die Errichtung von Herbergen für wandernde Arbeitssuchende, Landesgesetzblatt für das Land Salzburg, 1926/17. 96 Vgl. Gesetz vom 1. März 1929 betreffend die Errichtung von Herbergen, Landesgesetz- und Verordnungsblatt für Tirol, 1929/24. 97 Vgl. Dienstvorschrift für die Vorarlberger Naturalverpflegsstationen vom 16. Dezember 1931. In: Julius Axmann, Eduard Chaloupka (Hg.): Die Vorschriften über Armenfürsorge nach dem derzeitigen Stande der österreichischen Gesetzgebung des Bundes und der Länder. Wien 1934, 588– 596, zu den anderen Bundesländern 534–588; Karl Forchheimer: Die Vorschriften über Arbeitslosenversicherung. Altersfürsorge für Arbeitslose, Arbeitsvermittlung, Arbeitsbeschaffung, Ein- und Auswanderung. 2., ern. Aufl., Wien 1932, 640f.; Josef Schlüsselberger: Die Niederösterreichischen Herbergen. In: Niederösterreichische Landesregierung (Hg.): Das Bundesland Niederösterreich. Seine verfassungsrechtliche, wirtschaftliche und soziale Entwicklung im ersten Jahrzehnt des Bestandes 1920–1930. Wien 1930, 530f. Gewerkschaft und Arbeiterkammer kritisierten allerdings immer wieder den fehlenden Zusammenhang zu Arbeitsämtern. Vgl. z. B. Errichtung von Herbergen für Arbeitssuchende. In: Arbeit und Wirtschaft 2/1924/23, 1007f. 98 Zum Asyl und Werkhaus vgl. August Decker: Das Asyl- und Werkhaus. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien 24/1925/247, 4f.; Alfons Kauer: Das Asyl und Werkhaus einst und jetzt. In: Klemens Dorn (Hg.): Favoriten. Ein Heimatbuch des 10. Wiener Gemeindebezirkes,
64
Umstrittene Lebensunterhalte
erster Stelle. So formulierte das oberösterreichische Landesgesetz „betreffend die Umwandlung der Naturalverpflegsstationen in Herbergen für reisende Arbeitssuchende“: „Um zu verhindern, daß arbeitslos gewordene Arbeitnehmer, welche mittellos und gezwungen sind, von Ort zu Ort Arbeit zu suchen, schweren gesundheitlichen und moralischen Gefahren ausgesetzt werden, werden Herbergen für reisende Arbeitssuchende geschaffen, in denen diese Unterkunft und Verpflegung erhalten.“99 Die entsprechenden Landesgesetze anderer Bundesländer enthielten ähnliche Bestimmungen. Der Verdacht, dass manche Menschen nur aus Arbeitsscheu wanderten, blieb jedoch trotz des offensichtlichen Mangels an Erwerbsmöglichkeiten bestehen. Dementsprechend sollten auch die Herbergen wieder Arbeitslose von Landstreichern trennen. Dabei wird aber vergessen, daß die heutigen ungünstigen Wirtschaftsverhältnisse und die bestehende Arbeitslosigkeit es nicht zulassen, Menschen, die mittellos und ohne Arbeit sind, obwohl sie den besten Willen haben, zu arbeiten, nach dem Gesetze wie Arbeitsscheue und Landstreicher zu behandeln. Hier muß die soziale Fürsorge eingreifen und die Mittel bieten, um den unverschuldeten in Not geratenen Wanderer, der sich auf die Reise begeben hat, um Arbeit zu finden, durch Reichung von Naturalverpflegung und Gewährung von Unterkunft von der Notwendigkeit des Bettelns zu befreien. Dadurch ist aber auch die Möglichkeit einer reinlichen Scheidung von anderen Elementen geboten, die tatsächlich auf der Wanderschaft sind, jedoch nicht arbeiten und auch nicht arbeiten wollen, also Landstreicher im wahrsten Sinne des Wortes sind. Auch wenn dieses Gesetz angenommen wird, wird trotzdem die Möglichkeit bestehen, gegen derartige Landstreicher nach den bestehenden Polizeivorschriften vorzugehen. Der soziale Einschlag soll insbesondere auch in die Einrichtung durch die Verknüpfung mit der Arbeitsvermittlung gebracht werden, die sich als eine Ergänzung der Einrichtungen der allgemeinen öffentlichen Arbeitsvermittlung darstellt.100
In der praktischen Organisation dürften sich die Herbergen nur wenig von den Naturalverpflegsstationen der Monarchie unterschieden haben. Die Wanderer mussten sich ausweisen können und für die letzten sechs Monate mindestens eine vierwöchige Arbeit nachweisen. Ausländer waren begrenzt zugelassen, wenn sie einen Pass und eine Arbeitserlaubnis vorweisen konnten. Die Wanderer sollten eine oder gar zwei der ca. 15 bis 18 km entfernten Stationen pro Tag besuchen, wo sie eine „entsprechende“ Arbeit zu verfaßt von einer Lehrerarbeitsgemeinschaft unter Mitwirkung von Fachreferenten. Wien 1928, 283–290. 99 Gesetz betreffend die Umwandlung der Naturalverpflegsstationen in Herbergen für reisende Arbeitssuchende. Landesgesetz- und Verordnungsblatt für Oberösterreich. 60/1923, § 1. 100 Stenographische Berichte des Tiroler Landtages, II. Wahlperiode, VIII. Session, 14. Sitzung am 1. März 1929, 430–448, hier 430.
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
65
verrichten hatten und nach genau festgesetzten Beträgen in genau festgesetzten Mengen verköstigt wurden und Unterkunft erhielten101 (siehe Abbildungen 1 und 2). Die Besuche wurden in einem Wanderbuch, das die Wanderer vorweisen mussten, vermerkt. Der Aufenthalt in der Herberge war auf 18 Stunden begrenzt. Nur bei Krankheit sowie an Sonn- und Feiertagen durften die Wanderer länger bleiben. Die Arbeitssuche wurde also zeitlich wie eine Arbeitswoche strukturiert.102 Gleich den Naturalverpflegsstationen sollten die Herbergen auch Einrichtungen der Arbeitsvermittlung sein. Sie sollten eng mit den Arbeitsämtern zusammenarbeiten, Gemeinden den Herbergen offene Stellen bekannt geben. Wollte der Wanderer den Anspruch auf den Besuch der Herbergen nicht verlieren, musste er sich nachweislich um angebotene Stellen bewerben. Anders als in der Monarchie standen die Herbergen nun für Arbeitsuchende aller Berufe offen. Allerdings waren Frauen, Arbeitsunfähige und Wanderer, die über Mittel verfügten, in den meisten Bundesländern explizit ausgeschlossen.103 Die Wanderfrist variierte zwischen drei Wochen in Vorarlberg und vier Monaten in Niederösterreich. Die Benutzung der Herbergen in anderen Bundesländern als jenem, in dem man beheimatet war, wurde durch Übereinkünfte der Länder möglich oder individuell mit der Zuständigkeitsgemeinde abgerechnet, wodurch sich ein ungeheurer Verwaltungsaufwand ergab. Das Herbergswesen blieb also eine Einrichtung zwischen Armenwesen, Arbeitsvermittlung und Wanderungskontrolle. Auch die Verbindung zu den Schubstationen blieb bestehen. Lediglich die steiermärkische Landesregierung wollte sich von der Organisation nach oberösterreichischem Vorbild distanzieren, denn diese, wurde kritisiert, verkörpere noch den Polizeigeist der Monarchie.104 Man lehnte Zugangsbeschränkungen ab, erlaubte zunächst auch Aufenthalte von bis zu acht Tagen und machte die Einrichtung vom Beschluss der Bezirke abhängig.105 Allerdings resultierte dies in einer sehr langsamen und lückenhaften Etablierung der Herbergen, die in der Weltwirtschaftskrise zudem vielfach aufgrund von Finanzierungsproblemen geschlossen werden mussten.106 101 „Das Mittagmahl und das Abendessen haben aus je 1 Liter Gemüse oder einer gleichartigen ortsüblichen Verpflegung und je 15 Dekagramm Brot, das Frühstück aus einem halben Liter Suppe oder Kaffee und 15 Dekagramm Brot zu bestehen.“ Heißt es etwa in § 15 der Dienstvorschriften für die Herbergen Oberösterreich von 1925. In: Axmann/Chaloupka: Vorschriften, 558. 102 Vgl. Axmann/Chaloupka: Vorschriften, 534–596. 103 Dies bedeutet nicht, dass Frauen nicht mobil waren. Allerdings, wie Jessica Richter am Beispiel von Dienstbotinnen zeigt, benutzten sie dabei andere oder gar keine öffentlichen Einrichtungen. Vgl. Richter: Vocation. 104 Vgl. StLA, Landesregierung, 147, Kt. 496, Zl. 5.985/1924 sowie Zl. 17.409/1925. Dazu ausführlicher siehe Wadauer: Tramping. 105 Vgl. etwa StLA, Landesregierung, 147, Kt. 496, 147 H 10/30–1929; Durchführungsverordnung der steierm. Landesregierung vom 20. Oktober 1925 zum Gesetze vom 20. März 1925, LGBl. Nr. 49 betreffend die Schaffung von Herbergen, Landesgesetzblatt für das Land Steiermark, 1925/86. 106 Vgl. StLA, Landesregierung, 147, Kt. 496, 147 H 10/30–1929; StLA, Landesregierung, 147, Kt.
66
Umstrittene Lebensunterhalte
Abb. 1: Übersichtskarte der oberösterreichischen Herbergen (1925)107
Ungeachtet dieser Kontinuitäten veränderte sich das Wandern – nicht nur, weil es nun im Zusammenhang mit und im Kontrast zur Arbeitslosenunterstützung und den Entwicklungen moderner Sozialpolitik stand, sondern auch weil sich die Gebrauchsweisen der Herbergen veränderten. Die registrierten Besucher/innen der Naturalverpflegsstationen und Herbergen
Es ist unmöglich anzugeben, wie viele Wanderer im Lauf der Jahre diese Naturalverpflegsstationen und Herbergen wie benutzten. Ein Verzeichnis aller Berechtigten fehlt, Daten zur Benutzung liegen nur punktuell vor. Deshalb ist es auch unmöglich, aus der Benutzung von Herbergen auf ein Wanderverhalten insgesamt zu schließen. Manche frequentierten die Herbergen über Wochen oder Monate regelmäßig, andere nur fallweise. Letztere mögen andere Quartiere vorgezogen haben. Viele erhielten gar keinen Zugang. Einzelne überlieferte Herbergsbücher geben Aufschluss über die 496, 147 He 1/40–1932; StLA, BV Rottenmann, Kt. 35, Zl. 107/1935. 107 SLA, Marktarchiv Werfen, Kt. 31, Fremden-Herbergs-Akten Werfen 1927–1938.
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
67
Registrierung der Besucher. Erfasst wurden Name, Geburtsdatum, Heimatrecht, Nationalität, Beruf, in der Herberge verrichtete Arbeit und Arbeitsvermittlung, die zuletzt besuchte sowie die angegebene nächste Station.
Abb. 2: Übersichtskarte der niederösterreichischen Herbergen für reisende Arbeitsuchende108
Diese Einträge werfen viele Fragen hinsichtlich der Reichweite, der Zuverlässigkeit, der Kohärenz und der Grundlage der Informationen auf. Wer wurde in den Herbergsbüchern überhaupt registriert? Wurden nur die berechtigten Besucher verzeichnet oder auch die nichtberechtigten? Wurden Personen trotz der in den Statuten formulierten Beschränkungen kurzfristig mehrmals hintereinander aufgenommen und erfasst? Auch scheinen die Aufzeichnungen nicht immer stimmig und korrekt. Es finden sich – je nach Herberge in unterschiedlicher Häufigkeit – unvollständige oder auch (z. B. geografisch) inkorrekte Einträge. Es ist nicht klar, auf welcher Grundlage der Beruf erhoben wurde: anhand vorgewiesener Dokumente oder nach Angaben der Wanderer? Oft wurden auch zwei Berufe notiert. Unklar ist, in welchem Verhältnis diese Angaben zum tatsächlichen Erwerb des Wanderers standen. Auf der Grundlage einzelner publizierter Statistiken und meiner eigenen Erhebungen und Stichproben in einzelnen Herbergsbüchern können somit ledig-
108 Stadtarchiv Amstetten, Plansammlung.
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Umstrittene Lebensunterhalte
lich einige Aussagen über die registrierte Benutzung der Herbergen formuliert werden.109 Eine Ende des 19. Jahrhunderts publizierte Übersicht gibt Auskunft über die Anzahl der Stationen, der Besucher und der erfolgten Arbeitsvermittlungen (siehe Tabelle 1). Die weitere Entwicklung der Besucherzahlen lässt sich nur punktuell, für einzelne Stationen nachvollziehen, exemplarisch etwa für die Naturalverpflegsstation Wels, gegründet 1889. 1890 wurden fast 7.000 Besucher verzeichnet, wobei Wels damals ca. 10.100 Einwohner/innen zählte (siehe Grafik 1).110 1902 erreichte die Zahl der registrierten Besucher mit fast 9.500 eine Spitze. Während des Weltkriegs sanken die Besucherzahlen 1916 und 1917 drastisch auf 300. Nach dem Krieg nahm die Zahl der Einträge wieder langsam zu, überschritt allerdings niemals 4.000 (1934 hatte die Stadt 16.288 Einwohner/innen).111 Die Größe der Herbergen und die Besucherzahlen variierten jedoch von Ort zu Ort: Berichten zufolge von zwölf bis 30 Wanderern und von fünf bis zu 30 Betten. Für die Nutzung entscheidend dürfte, wie das Beispiel Werfen (770 Einwohner/innen)112 in Salzburg zeigt, eher die Verkehrslage als die Größe der Stadt gewesen sein.113 1934 wurden dort bis zu 10.000 (berechtigte und nichtberechtigte) Besucher registriert, eine bemerkenswert hohe Zahl, die wohl in Zusammenhang mit den Bauarbeiten an der Großglockner-Hochalpenstraße stand. Insgesamt schien jedoch die zahlenmäßige Entwicklung der in den verschiedenen Herbergsbüchern registrierten Besucher zumindest in groben Zügen übereinzustimmen (siehe Grafik 2). Die Weltwirtschaftskrise bewirkte eine deutliche Zunahme der Einträge. In den späteren 1930er Jahren sanken die Zahlen wieder.114 Diese Veränderung entsprach jener der Zahlen offiziell erwerbsloser Personen. Die Zahl der bei den Arbeitsämtern registrierten Arbeitsuchenden erreichte 1931 einen Höchststand.115 Die Angaben und Schätzungen der Erwerbslosigkeit dieser Zeit variieren in der Literatur je nach Berechnungsmethode und Datengrundlage beträchtlich. Irina Vana zeigte in ihrer Dissertation, dass der Anteil der bei Arbeitsämtern vorgemerkten 109 Da ich die Auswertung dieser Daten bereits an anderer Stelle ausführlich diskutiert habe, beschränke ich mich hier auf die grobe Zusammenfassung der Ergebnisse. Vgl. Wadauer: Tramping. 110 Die Zivilbevölkerung machte 8.848 Personen aus, dazu kamen Angehörige des k. u. k. Heeres und der Landwehr. Vgl. Wels, Volkszählung. In: Linzer Volksblatt 23/16.1.1891/12, 3. 111 Die Zahl bezieht sich auf die Wohnbevölkerung. Vgl. Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearb. vom Bundesamt für Statistik. Oberösterreich. Wien 1935 (= Statistik des Bundesstaates Österreich 5), 20. 112 Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearb. vom Bundesamt für Statistik. Salzburg. Wien 1935 (= Statistik des Bundesstaates Österreich 6), 4. 113 Vgl. SLA, Marktarchiv Werfen, Kt. 31 sowie Bücher, Herbergsprotokoll 5–14, 3.11.1928–28.3. 1933. 114 Zur wirtschaftlichen Entwicklung vgl. Gerhard Senft: Anpassung durch Kontraktion. Österreichs Wirtschaft in den dreißiger Jahren. In: Tálos/Neugebauer: Austrofaschismus, 182–199. 115 Vgl. Vana: Gebrauchsweisen, 182.
69
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
Besuche pro Vermittlung
326.493
7.586
29.681
26 %
43
1895
Oberösterreich
103
179.724
3.023
16.339
19 %
60
1895
Steiermark
143
271.400
5.239
24.673
21 %
52
1895
Vorarlberg
21
30.646
539
2.786
19 %
57
1.11.1896 – 31.10.1897
Böhmen
265
525.232
25.313
47.748
53 %
21
1895
Mähren
118
148.522
1.047
13.502
8 %
142
1895
österr. Schlesien
28
13.966
378
1.270
30 %
37
814
1,495.983
43.125
135.998
32 %
35
Jahr
TOTAL
In Arbeit untergebrachte Personen
136
Zugereiste
Niederösterreich
Stationen
1895
Land
In Arbeit untergebrachte Wanderer*)
Geschätzte Zahl der Wanderer*)
Arbeitsuchenden in den meisten Berufen deutlich niedriger lag als der Anteil der Arbeitslosen laut Volkszählung 1934.116 Dieter Stiefel zufolge erreichte die Zahl der Arbeitslosen 1933 den höchsten Wert der Zwischenkriegszeit.117 Die Arbeitslosenquote betrug zu diesem Zeitpunkt 26 %; nur 60 % der Arbeitslosen erhielten jedoch eine Unterstützung. 1936 und 1937 lag deren Anteil (bei 24,1 % und 21,7 % Arbeitslosen) nur noch bei 50 %.118 (In der Literatur waren auch höhere Schätzungen der Arbeitslosigkeit vertreten: 1934 bis zu 37 % und 1936/37 ca. 35 %.119 Die Unterschiedlichkeit dieser Schätzungen verweist auf die prinzipielle Problematik der Kategorisierungen von Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit.) Dementsprechend dürfte
Tabelle 1: Naturalverpflegsstationen in Cisleithanien120 *) Ausgehend von der zeitgenössischen Annahme, dass jeder Wanderer zehn bis zwölf Stationen besuchte, wurden die Besuche durch elf dividiert.
116 Vgl. Vana: Gebrauchsweisen, 187. 117 Vgl. Stiefel: Arbeitslosigkeit, 29, 50. 118 Vgl. dazu auch Emmerich Tálos: Sozialpolitik im Austrofaschismus. In: Ders./Neugebauer: Austrofaschismus, 222–235, hier 224. 119 Nach der Einführung der Arbeitslosenunterstützung war der Anteil der offiziell gemeldeten Arbeitslosen, die (noch) Unterstützung bezogen, zunächst gestiegen; 1930 lag er bei 86 %. Vgl. Heinz Fassmann: Der Wandel der Bevölkerungs- und Sozialstruktur in der Ersten Republik. In: Emmerich Tálos, Herbert Dachs, Ernst Hanisch, Anton Staudinger (Hg.): Handbuch des politischen Systems Österreich. Erste Republik 1918–1933. Wien 1995, 11–22, hier 20–22; Fritz Weber: Die wirtschaftliche Entwicklung. In: Ebd., 23–39, hier 25; dagegen Vana: Gebrauchsweisen, 210. 120 Statistisches Departement im k. k. Handelsministerium, Arbeitsvermittlung, 112–117.
70
Umstrittene Lebensunterhalte
der Rückgang der Einträge in den Herbergsregistern eher auf den eingeschränkten Zugang zu den Herbergen und die restriktive Wanderpolitik zurückzuführen sein als auf einen schwindenden Unterstützungsbedarf. Wer allzu lange keine Arbeit mehr gehabt hatte, hatte ja auch keinen Anspruch auf die Benutzung der Herbergen.
1937
1934
1931
1928
1925
1922
1919
1916
1913
1910
1907
1904
1901
1898
1895
1892
4–12 1889
10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0
Grafik 1: Registrierte Besucher in der Herberge Wels 1889–1937121
121 Stadtarchiv Wels, Akten, Kt. 2132, Akten Registraturordnung III J-c Naturalverpflegsstation, Rechnungen 1904–1924; Stadtarchiv Wels, HM Hauptverwaltung, Militär und Meldewesen, Kt. 2669, Naturalverpflegsstation Wels 1919–1940.
71
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0 1925
1926
1927
1928
1929
1930
1931
1932
1933
1934
1935
1936
1937
1938
Wels/OÖ (16.288)* Werfen/Salzburg, berechtigte Besucher (770) Werfen (Reisende, die auf Kosten ihrer Heimatgemeinde beherbergt wurden, eingeschlossen) Linz/OÖ (108.970) Buchdruckerherberge Wien (1.874.130) Voitsberg/Stmk.(3.673) Mooskirchen/Stmk. (307) Salla/Stmk. (620) Ligist/Stmk. (375) Weiz/Stmk. (4.328) Knittelfeld/Stmk. (12.645) Rottenmann/Stmk. (2.605)
Grafik 2: Zahl der Besucher in verschiedenen Herbergen 1925–1938 * In Klammer die Einwohnerzahl der Orte nach der Volkszählung 1934122
Wer benutzte diese Herbergen? Insgesamt orientierte sich das Modell des „geordneten“ Wanderns stark an der Organisation des handwerklichen Wanderns, das auch nach der Aufhebung der Zünfte123 üblich war und von mehreren Seiten organisiert und unterstützt wurde, etwa durch genossenschaftliche Herbergen und Arbeitsnachweise sowie durch Reiseunterstützungen seitens der Genossenschaften, Gewerkschaf122 Stadtarchiv Wels, Akten, Kt. 2132, Akten Registraturordnung III J-c Naturalverpflegsstation, Rechnungen 1904–1924; Stadtarchiv Wels, HM Hauptverwaltung, Militär und Meldewesen, Kt. 2669, Naturalverpflegsstation Wels 1919–1940; Stadtarchiv Linz, Materienbestand Mat. 54 1908–1928, Kt. 609, Herbergen; SLA, Marktarchiv Werfen, Kt. 31, Faszikel Herberge, Kassabelege erledigt; 1904–1929; Josef Matik, Herbergsgruppe des Reichsvereines der österreichischen Buchdruckerei- und Zeitungsarbeiter (Hg.): 25 Jahre Wiener Buchdruckerherberge. Wien 1929, 31; StLA, BV Voitsberg, Kt. 289–296, Herberge Voitsberg, Salla, Ligist, Mooskirchen; StLA, BV Weiz, Kt. 46–50; StLA, BV Knittelfeld, Kt. 29–30; StLA, Markt Admont, Kt. 98, 456 (2)-457, 1895–1945; StLA, BV Bad Aussee, K 65, F Nr. 57, Herbergen 1932–1937; StLA, BV Oberzeiring, Kt. 22, allgemeine Herbergsakten 1929–1934; StLA, BV Rottenmann, Kt. 35, Heft 531: Herbergsakten allgemein, 1928–1938. Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearb. vom Bundesamt für Statistik. Steiermark. Wien 1935 (= Statistik des Bundesstaates Österreich 7), 16, 18, 24, 32, 38; Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, bearb. vom Bundesamt für Statistik. Wien. Wien 1935 (= Statistik des Bundesstaates Österreich 3), 2; die Angaben zu Wels und Werfen wie in Anmerkung 111 und 112. 123 Vgl. Josef Ehmer: Zünfte in Österreich in der frühen Neuzeit. In: Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich. Göttingen 2002, 87–126.
72
Umstrittene Lebensunterhalte
ten und anderer Berufsverbände.124 Laut den offiziellen Statistiken des späten 19. Jahrhunderts handelte es sich auch bei der überwiegenden Mehrzahl der Besucher der Naturalverpflegsstationen um Handwerker oder Professionisten (siehe Grafik 3). In den von mir gezogenen Zufallsstichproben des Herbergsregisters Wels125 machen handwerkliche Berufe ebenfalls einen hohen Prozentsatz der Einträge aus, nämlich zwischen 83 % und 93 %. Allen voran stehen Einträge der Massengewerbe wie Bäcker, Fleischer, Schneider, Schuhmacher, Schmiede, Schlosser, Zimmermänner. Umgekehrt birgt die enorme Bandbreite der registrierten Berufe nur einen geringen Anteil an nicht näher spezifizierten Berufen, wie etwa Arbeiter, Tagelöhner etc. Dies war zum einen wohl den Zugangsbeschränkungen für ungelernte Berufe geschuldet, zum anderen verdeutlichen diese Zahlen die Bedeutung kleingewerblicher Produktion für die Industrialisierung in Mitteleuropa. Mit dieser verbunden waren auch die für das Kleingewerbe in dieser Zeit typischen temporären Arbeitsverhältnisse sowie die Mobilität vorwiegend junger lediger Männer.126 Auch die Altersangaben entsprechen diesem Bild. Bis zu 80 % der Einträge nennen ein Alter unter 40 Jahren. Den größten Anteil nehmen die 19- bis 24-Jährigen ein (siehe Tabelle 2 und Grafik 6). Mit dem Ersten Weltkriege schien – wie in zeitgenössischen Darstellungen der Herbergen, des Wanderns und der Landstreicherei immer wieder behauptet wurde – das Ende des handwerklichen Wanderns gekommen. So etwa erläuterte ein Gendarmerie-Revierinspektor: Vor dem Weltkriege spielte der Handwerksbursche eine gewisse Rolle. Seit der Krise der Arbeitslosigkeit und der großen Anzahl der herumziehenden Arbeitsuchenden ist der Nimbus des wandernden Handwerksburschen dahingegangen, weil an seine Stelle der „Arbeitslose“ getreten ist. Obgleich zwischen den seinerzeitigen Handwerksburschen und den heutigen Arbeitslosen ein großer Unterschied besteht, so werden derzeit noch alle Personen, die ohne Beschäftigung herumwandern, also auch die ehemaligen Handwerksburschen kurzweg pauschaliter als arbeitslos bezeichnet.127
Die Herbergsbücher scheinen das widerzuspiegeln. Der Anteil von Personen mit einer formellen Berufsausbildung kann in den Registern der Herberge Wels auf ca. 51 %, in jenen der Herberge Werfen 43 % geschätzt werden. Auch das durchschnitt124 Vgl. Statistisches Departement im k. k. Handelsministerium, Arbeitsvermittlung, Abschnitt Genossenschaftliche Arbeitsvermittlung. Auf „zünftlerische Umgangsformen“ unter Gewerkschaftsmitgliedern bis in die 1890er Jahre verweist auch Julius Deutsch: Geschichte der österreichischen Gewerkschaftsbewegung. Bd. I: Von den Anfängen bis zur Zeit des Weltkrieges. Wien 1929, 83–85. 125 Siehe die Angaben zu Grafik 4. 126 Vgl. etwa Josef Ehmer: Soziale Traditionen in Zeiten des Wandels. Arbeiter und Handwerker im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Main, New York 1994. 127 Josef Gutmann: Der Handwerksbursche von einst und jetzt. In: Öffentliche Sicherheit 14/1934/5, 28.
73
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
liche Alter der registrierten Besucher (siehe Tabelle 2) stieg im Lauf der 1920er und 1930er Jahre leicht an. (Während des Ersten Weltkrieges lag es mit 49 deutlich über den Werten vor und nach dem Krieg.) Diese Veränderungen beruhten auch auf den Statuten der Herbergen, denn sie enthielten nun keine expliziten Beschränkungen hinsichtlich des Berufs mehr. In den Registern steirischer Herbergen findet sich noch ein etwas anderes und breiteres Spektrum an Berufen als in anderen Bundesländern, beispielsweise ein größerer Anteil an Handelsberufen (siehe Grafik 4). Trotz der Öffnung der Herbergen für Frauen blieb ihr Anteil gering: 9 % in der Knittelfelder Stichprobe, 4 % in Weiz.128 Es handelte sich dabei in erster Linie um Hilfsarbeiterinnen und Dienstbotinnen. Häufiger genannt wurden auch die Berufe Köchin, Schneiderin, Magd, Arbeiterin und Kellnerin. Auch in Hinblick auf das Alter unterschieden sich die registrierten Besucher/innen der steirischen Herbergen von jenen der anderen Bundesländer, ihr durchschnittliches Alter war höher (siehe Tabelle 2). N
Mean
Std. Dev.
Min.
Max.
Mode
Wels 1889
390
29,71
12,80
16,00
79,00
19,00
Wels 1895
586
28,94
12,09
16,00
68,00
19,00
Wels 1902
950
29,72
12,69
15,00
74,00
19,00
Wels 1910
771
34,98
13,58
16,00
68,00
19,00
Wels 1915
151
49,35
10,98
18,00
70,00
52,00
Wels 1924
341
35,86
14,10
12,00
70,00
22,00
Weiz 1927–1929
1.064
37,48
14,56
5,00
78,00
25,00
Weiz 1930–1938
3.087
35,91
13,09
2,00
81,00
29,00
Werfen 1928–1929
423
30,23
11,54
16,00
67,00
21,00
Werfen 1930–1933
1.825
29,93
10,83
15,00
73,00
22,00
Knittelfeld 1934–1938
3.994
33,56
11,53
12,00
79,00
26,00
Gerichtsakten 1920–1929
121
33,15
16,15
12,00
77,00
23,00
Gerichtsakten 1930–1938
748
35,39
12,35
14,00
76,00
28,00
Tabelle 2: Alter der Herbergsbesucher/innen und Alter der Personen, die wegen Bettelei und Vagabundage angezeigt wurden129
128 Ausführlicher dazu Wadauer: Tramping. 129 Quellen wie Grafik 4. Die Gerichtsakten stammen aus: OÖLA, BG Kremsmünster 1936; OÖLA, BG Markt St. Florian 1938; OÖLA, BG Mondsee 1933–1935; OÖLA, BG Ottensheim 1933– 1935; OÖLA, BG Raab 1929–1938; OÖLA, BG Ried 1930; OÖLA, BG Steyr; OÖLA, BG Wildshut 1922–1937; NÖLA, BG Neulengbach 1930–1937; NÖLA, BG Tulln 1938; WStLA, Jugendgerichtshof 1920–1925; BLA, BG Jennersdorf 1924–1932; StLA, BG Friedberg 1937; StLA, BG Oberwölz 1937.
74
Umstrittene Lebensunterhalte
80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % %
Niederösterreich
Mähren
Grafik 3: Registrierte Berufe der Besucher niederösterreichischer (1899) und mährischer (1895) Naturalverpflegsstationen130 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % %
Schuster und Schuhmacher Schneider Müller Schlosser (div.) Handelsangestellte und Handelsgehilfen
Bäcker Fleischer Tischler Schmiede (div., Goldschmiede ausgenommen) Dienstbot/inn/en
Grafik 4: Anteil einiger häufig in den Registern genannter Berufe131
130 Schöffel: Natural-Verpflegs-Stationen, Beilage E: Ausweis der in den Natural-Verpflegs-Stationen Niederösterreichs im Jahre 1899 aufgenommenen Personen nach Alter, Geschlecht, Beruf und Heimatrecht; Statistisches Departement im k. k. Handelsministerium, Arbeitsvermittlung, 254f. 131 Stadtarchiv Wels, Akten, Registraturordnung III j-c Naturalverpflegsstation (Kt. 2132, Her-
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
75
50 % 45 % 40 % 35 % 30 % 25 % 20 % 15 % 10 % 5 % %
Arbeiter
Landwirtschaftliche Hilfsarbeiter
Landarbeiter
Fabriks‐ und Werksarbeiter
Tagelöhner
Hilfsarbeiter
Grafik 5: Anteil einiger nicht näher spezifizierter Berufe in den Herbergsregistern132
bergsprotokoll 1989; Kt. 2138, Herbergsprotokoll 1895; Kt. 2143, Herbergsprotokoll 1902; Kt. 2150, Herbergsprotokoll 1910; Kt. 2153, Herbergsprotokoll 1915); Stadtarchiv Wels, Akten, HM Hauptverwaltung, Militär und Meldewesen, Kt. 2669, Herbergsprotokoll 1924. Stichproben: 1889 – jeder 10. Fall = 395 Fälle; 1895 – jeder 10. Fall = 587 Fälle; 1902 – jeder 10. Fall = 958 Fälle; 1910 – jeder 5. Fall = 771 Fälle; 1915 – jeder 5. Fall = 151 Fälle; 1924 – jeder 5. Fall = 345 Fälle. SLA, Marktarchiv Werfen, Bücher, Herbergsprotokolle Bde. 5–14. Sampling: 3.11.1928–28.3.1933 – jeder 10. Fall = 2268 (von 22.197 Fällen). StLA, BV Weiz Kt. 48 und 49. Stichprobe: 10/1927–2/1938 – 2 von 7 Fällen = 4178 Fälle. StLA, BV Knittelfeld, Kt. 29 und 30. Stichprobe: 1934/7–1938/3, 2 von 7 Fällen = 4000 Fälle. Öffentlich-Rechtliche Arbeitsvermittlung und Tätigkeit der Naturalverpflegsstationen im Königreiche Böhmen in den Jahren 1911, 1912 und 1913 (Mit einer Übersicht über die früheren Jahre). In: Mitteilungen des statistischen Landesamtes des Königreiches Böhmen XXIV/1915/2, 93f. (Tabelle V); Reicher: Heimatrecht, 38. Die Angaben zu den steirischen Naturalverpflegsstationen beziehen sich auf den Zeitraum 16.10. 1889–30.6.1890. 132 Quellen wie Grafik 4.
76
Umstrittene Lebensunterhalte
90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % %
–13
14–18
19–24
25–29
30–34
35–39
Grafik 6: Anteil der unter 40-jährigen Besucher/innen133
Aus den Herbergsregistern kann also nicht auf ein Wandern insgesamt geschlossen werden. Es lässt sich jedoch festhalten, dass nach dem Ersten Weltkrieg andere Wanderer oder Wanderer anders als bislang registriert wurden. Handwerkliche Berufe machten einen geringeren Anteil aus, allerdings nach wie vor die Hälfte der Einträge. Neben der Annahme eines Endes oder Niedergangs des handwerklichen Wanderns, die bereits während des gesamten 19. Jahrhunderts immer wieder formuliert wurde, wurde in den 1920er und 1930er Jahren nach wie vor eine positive Tradition des Wanderns als Phase der (Aus-)Bildung und Bewährung beschrieben, etwa in den Publikationen des Kolpingvereins und des Vereins der Buchdrucker.134 In Deutschland, wo sich bei aller regionaler Variation eine insgesamt ähnliche Zusammensetzung registrierter Wanderer feststellen lässt, nahm sogar die Gesetzgebung auf den Ausbildungscharakter des Wanderns Bezug. Dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927 (Reichsgesetzblatt I 1927, Nr. 32) entsprechend, konnte „[m]ännlichen unterstützungsberechtigten Arbeitslosen, die eine Lehrzeit beendigt haben [, …] auf ihren Antrag vom Vorsitzenden des Arbeitsamtes ein Wanderschein ausgestellt werden, wenn das Wandern zur Erlangung einer geeigneten Beschäftigung und beruflichen Weiterbildung zweckmäßig“ erschien.135 Auto133 Quellen wie Tabelle 2 und Grafik 4. 134 Vgl. 25 Jahre Wiener Buchdruckerherberge. 135 Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927, RGBl. 1927/32, § 169.
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
77
biografische Darstellungen des Wanderns enthalten – je nach Autor, Beruf, Kontext und Dauer des Wanderns – etliche weitere explizite Bezüge: auf Abenteuer-, Reise- und Wanderlust136 („die Welt sehen“137), Freizeitwandern,138 Neugier, das Vermeiden offizieller Arbeitslosigkeit („Stempeln gehen“139) oder die Betonung von Gefahren bzw. der Notwendigkeit des Wanderns.140 Wanderer beschrieben sich also selbst nicht ausschließlich in den Kategorien des offiziellen sozialpolitischen Problems. Auseinandersetzungen um Ansprüche und Gebrauchsweisen der Herbergen
Das System der Naturalverpflegsstationen bzw. Herbergen versuchte, Wandern zu organisieren und Wanderern dadurch einen Status zuzuweisen. Es wäre jedoch verfehlt, dies ausschließlich aus der Perspektive der Verwaltung zu betrachten. Wanderer nutzten die Einrichtungen auf mannigfache Art und Weise. Sie frequentierten die Herbergen und/oder vermieden sie, gingen unterschiedlich mit dem Zwang um, Arbeit zu suchen und auch anzunehmen.141 Herbergen sollten Wandern ermöglichen, aber nicht unbedingt dazu ermutigen. Die Mittel waren knapp, die Verköstigung sollte so billig wie möglich sein. Auch die Einrichtung und Unterbringung zeugten von größter Sparsamkeit. Oft fehlte es an Platz. Das Reglement war streng. Es gab vielfältige Konflikte um die Herbergsordnungen142 (z. B. das rechtzeitige Eintreffen,143 den Besuch von Gasthäusern und Kinovorstellungen,144 die Verrichtung angewiesener Arbeiten145), um das Benehmen der Besucher (z. B. Frechheiten und Renitenz,146 136 Vgl. etwa Fritz Engelhardt: Meine Lebensbeschreibungen, Erinnerungen. Handschrift 1994, Doku, 5. Von einem Wandertrieb schreibt auch Hans Wielandner: Lebenslauf. Typoskript 1991, Doku, 19. 137 Franz Kals: Mein Lebenslauf. Handschrift 1982, Doku, 23. 138 Vgl. etwa Josef Winkler: Ohne Titel. Handschrift 1996, Doku, 12–14. 139 Vgl. Winkler: Ohne Titel, 14. 140 Gerade nicht Romantik, gerade nicht Abenteuerlust, sondern Brot und Leben, betont etwa Franz Schick: Gestohlene Jugend. Die Tagebücher und Aufzeichnungen des Franz Schick. 1930 bis 1933, bearb. und mit einem Nachwort versehen von Karl Stocker. Graz 1991, 55. Angst und Zuversicht bei Hans Kroboth: Lebenserinnerungen. Typoskript 1961, Doku, 12. 141 Diesen Zwang spricht bspw. Josef Jodlbauer wiederholt in seinen Aufzeichnungen an. Josef Jodlbauer: Ein Mensch sieht die Welt. Selbstbiographie eines Altösterreichers. Typoskript 1947–1948, Doku. 142 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 108/1932. 143 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1451/1931. 144 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 104/1927. 145 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 108/1932; Gruppe XIa, Stammzahl 482/1937. 146 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 262/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 389/1937.
78
Umstrittene Lebensunterhalte
vorsätzliche Beschmutzung und Beschädigung,147 Beschimpfen des Herbergsleiters148), die Behandlung der Wanderer (z. B. die Untersuchung auf Läuse149), um Qualität und Menge der Verpflegung150 und um die Unterbringung (z. B. die Verweigerung oder das Teilen eines Bettes, die Unterbringung in Schubzellen bei Überbelegung151). Wanderer ohne Anspruch wurden nicht immer abgewiesen, oft aber in Ersatzquartieren und Schubzellen untergebracht.152 Es gab politische Konflikte,153 Drohungen gegenüber anderen Besuchern und den Herbergsleitern, Beschimpfungen, tätliche Auseinandersetzungen – häufig war Alkohol im Spiel.154 Konflikte führten im Extremfall zum Ausschluss von der Benutzung der Herbergen, wie Berichte und Anträge beim Amt der niederösterreichischen Landesregierung aus den 1920er und 1930er Jahren dokumentieren. Zu diesem Aktenbestand gehören aber auch Beschwerden von Herbergsbenutzern über das Verhalten einzelner Herbergsleiter und die demütigende, schlechte, grobe, sogar gewalttätige Behandlung.155 Die Besucher äußerten Ansprüche. Sie waren nicht völlig rechtlos, bestanden manchmal auch sehr vehement auf ihren Forderungen und agierten bedrohlich anstatt als Bittsteller, wie ein Herbergsleiter beklagte: Nun sind aber die Anspruchslosen meistens die Anspruchvollsten, frechsten, dabei oft faulsten und unreine Individuen die nur eine Herberge weit gehen und dort das große Wort führen, Betten gleich für sich anreißen und die mit Anspruch, welche doch zumeist viel anständiger sind müssen auf der Bank schlafen oder zusammenlegen weil sie ja nicht so früh eintreffen können nachdem sie 2 Herbergen im Tag machen müssen. Sagt man ihnen nun, daß sie im Arrest schlafen müssen, überhaupt wenn sie sehen, daß auf der Her147 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 600/1937; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 187/1937. 148 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 278/1937. 149 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 47/1932. 150 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 15/1937; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1427/1931; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 880/1932. 151 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1353/1931; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 880/1932. 152 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 208/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 883, 1932. 153 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 38/1935. 154 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 587/1937; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1436/1931. 155 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1753/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 748/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 532/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 404/1935.
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berge noch Platz ist, wie das gestern der Fall war, dann schimpfen sie fürchterlich drohen mit dem Komunismus, daß sie alles niederschießen werden […]. Auch nützen manche das aus, wie z. B. Kostal Andreas und Mrschtik Josef, beide Wiener, waren schon heuer viermal da und lassen sich nicht abtreiben, sind frech, faul, treckig, können natürlich unter diesen Umständen absolut keinen Posten bekommen, lachen noch wenn man schimpft und sich ärgert und handgreiflich darf man nicht werden, überhaupt wenn man 7 gegenüber hat und die Gendarmerie schreitet nur ein wenn einer gewalttätig wird, wie kommen aber wir dazu sich das alles gefallen lassen zu müssen für das, wenn man seine Pflicht tut und für das man gar keine Entlohnung hat und sich stundenlang mit ihnen herumstreiten muss und die Nerven aufreiben lassen.156
Weil sich aber Beschwerden und Ansprüche der Herbergsbesucher auch nicht so leicht von der Hand weisen ließen und die Zuständigen über die Verwendung der Mittel Rechenschaft ablegen mussten, bieten die Akten auch ausführliche Rechtfertigungen der Herbergsleiter oder – wie im folgenden Fall – eines Bürgermeisters: Wilhelm Bayerl […] erhielt wie alle Reisenden seine Zuweisung an das hiesige Hotel zur Post zwecks Einnahme des Mittagessens. Als derselbe zur Uebernahme des Wanderbuches um 12 Uhr erschien, führte er unter ganz gröblich ungehörigem Verhalten über das Essen Beschwerde, da dasselbe lediglich aus einer Rindsuppe, gerösteten Kartoffeln und Kraut sowie Brot bestanden habe. Er bemängelte weder Qualität noch Quantität, sondern das Fehlen eines entsprechenden Stückes von Fleisch oder Wurst. Bayerl hatte das ganze Essen, ohne es anzurühren, stehen gelassen und sich auch im Gasthaus schon ganz ungebührlich benommen. Ich habe mich sofort von Qualität und Quantität des Mittagessens überzeugt und kann es mit bestem Gewissen als einem selbst gutbürgerlichen Haushalt voll entsprechend bezeichnen. Ich stelle es ferner unter vielfachen Zeugenbeweis, dass die im genannten Gasthaus an die Herbergsbesucher verabreichte Kost bis dato immer als sehr reichlich und ganz ausgezeichnet bezeichnet wurde. Dass es Bayerl, der im Gasthause knapp vor der Verabreichung des Essens ein grosses Stück Wurst verzehrte, zu minder war, berechtigt ihn nach Ansicht des gef. Herbergsleiters noch lange nicht, seinem Unmut in derart grob ungehöriger Form Luft zu machen. Als ich mich anschickte, im Wanderbuch einen bez. Vermerk anzubringen, erklärte er, ihm sei alles gleich, er könne das Büchl überhaupt dalassen, und entfernte sich.157
Eine Beschwerde vor Ort war jedoch für die Wanderer nicht ohne Risiko. So schrieb ein Herbergsleiter: „Ich brachte es [das Beschwerdebuch, S. W.] ihm, bemerkte aber, daß er die Wahrheit schreiben müsse sonst mach ich sofort die Anzeige und er wird 156 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 173/1933. 157 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 598/1933.
80
Umstrittene Lebensunterhalte
dann ausgeschlossen.“158 Während manche Wanderer Dokumente und Arbeitszeugnisse fälschten, um Zugang zu den Herbergen zu erlangen, verzichteten andere demonstrativ, provokant, wütend, frustriert auf ihre Ansprüche.159 Manche zerrissen das Wanderbuch oder warfen es weg: „Behalten Sie diesen Dreck“.160 Weinek entfernte sich um 18. Uhr 10. aus dem Herbergsraume ohne jemand davon zu verständigen und ging hierorts in ein Gastlokal. Bei Verabreichung der Abendverpflegung war Weinek noch nicht anwesend, dieser kam zwar noch vor der Sperre um 20. Uhr 10. in alkoholisierten Zustande inden Herbergsraume an. Auf mein Befragen, über seinem verbleibe .. Erwiederte Weinek in sehr barschen Ton, daß geht mich gar nichts an, er leistet verzicht auf seine Verpflegung und Inanspruchnahme der Herberge, bei solchen Vagabunten .u. Verbrechern will er nicht schlafen, er geht ins Gasthaus schlafen, er als ehemaliger Offisir hat es nicht notwendig die Herberge Aufzusuchen. Auf meinen wiederholten Ermahnungen sich ruhig zu verhalten schrie Weinek weiter schimpfte über die Herbergsvorschriften und verlangte die Ausfolgung seiner Dokumente. Ingenannten wurden dieselben anstandslos verabfolgt. Weinek in seinem Zorn zerriß die Ausgestellte Wanderkarte und warf sie mir zu Füssen und verlies hierauf fluchtartig den Herbergsraum. Angeschlossen die zerrissene Wanderkarte.161
Ein ähnliches Gefühl der Erniedrigung schilderte auch der folgende an ein Bundesministerium gerichtete Brief: Löbliches Bundesministerium! War gestern als Durchreisender auf der Fürsorge Retz und bekam vom dortigen Amt eine Anweisung für Nachtessen, Nächtigung und Frühstück. Der Herbergsleiter fur mich an weil ich erst um ¾ 6 h Abends hinkam und sperrte mich ins Schubarrest obwohl auf der Herberge noch ein Platz war und der Herr Bürgermeister sagte wenn Platz ist so kann ich auf der Herberge bleiben. Und im Schubarrest war es bitterkalt. Ich bekam obwohl ich die Anweisung hatte kein Nachtmahl und kein Frühstück und mußte um 7 h Früh mit hungrigen Magen weggehen. Soll der Mensch auf der Strasse verhungern und erfrieren. Tagelang komme ich weil ich keinen Anspruch habe auf keine Herberge und kann oft 158 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 1167/1931. 159 Vgl. etwa NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 115/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 271/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 293/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 73/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 26/1932; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 27/1931; NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 368/1937. 160 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 863/1932. 161 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 370/1930.
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im Stall oder Schubarrest welche Nächtigung menschenunwürdig und sanitätswidrig ist schlafen. Dann komme ich zu diesem Herbergsleiter welcher zugleich Wachmann ist und welcher mich auf mein Ersuchen wegen Nächtigung wie ein bissiger Hund anfuhr weil ich um ¾ 6 h Abends hinkam. Der Herr Fürsorgerat sagte ich habe bis um 6 h Zeit. Keine Arbeit bekommt man nicht. Was soll ich machen? Entweder verhungern oder Betteln gehen und dann werde ich wie ein gewöhnlicher Verbrecher eingesperrt.162
Wanderer waren nicht völlig alternativlos auf Herbergen angewiesen. Das lässt sich anhand von solchen Dokumenten zu punktuellen Konflikten zeigen wie mit autobiografischen Erzählungen, die das Wandern über längere Zeit hinweg schildern. Die Nichtbenutzung konnte, musste jedoch nicht zu Kriminalisierung führen. Sie mochte ein Versuch sein, sich von den „gemeinen Walzbrüdern“ abzugrenzen,163 wie es etwa der Schneidergeselle Josef Winkler vermittelte. Er wusste zwar, dass er auf seiner Wanderschaft 1929 in den öffentlichen Herbergen Unterkunft und Verpflegung erhalten würde, vermied dies jedoch, da er fürchtete, dass man in seinem Heimatort davon erfahren und dies seine Eltern beunruhigen würde.164 Für Alois Stöckl, der nach einer Müller- und Elektrikerlehre zwischen 1930 und 1933 wanderte, illustrierten Herbergen das (nicht völlig unromantische) Elend des Wanderns: Hier kann man sich schon ein kleines Bild machen was eigentlich Wandern [hieß.] Es waren so cirka 30 Wanderburschen die hier auf der Herberge zusammen gekommen waren, alle auf Arbeitssuche. Jeder erzählt seien Erlebnisse. Sie kammen aus verschiedenen Richtungen und jeder schimpfte über die Regierung und über die Parteien, da sie nicht in der Lage sind Arbeit zu schaffen, keiner aber sagt, das es ihm auf der Wanderschaft einmal gut gegangen wäre. Hinten in einer Ecke beginnt auf einmal einer zu Singen, ein anderer gab kommische Vorträge zum besten. Auch wir backten unsere Musikinstrumente aus und spielten einige flotte [?] Wanderlieder. So konnte man Armut und Elend auf ein paar Stunden unterdrücken. Um 9 Uhr war dann Bettruhe und wir mußten unsere Schlafstellen aufsuchen. Es waren Eisenbetten mit Strohsäcken und zwei Wolldecken, also nicht einmal so schlecht. Jeder mußte sich im Vorraum ganz Nackt ausziehen und ganz nackt in den Schlafraum gehen. Franz Schuler der auch mit uns mitgefahren war fragte, warum das so ist? Da gab man ihm zur Antwort, das diese Maßnahme als Schutz gegen Ungezifer gehört.165 162 NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XIa, Stammzahl 22/1933. 163 Auch Krejčí schrieb, die Herbergen wären eingerichtet, „als wären sie nicht für die Arbeitslosen überhaupt, sondern nur für den minderwertigen Teil derselben bestimmt“. Krejčí: Naturalverpflegsstationen, 706. 164 Vgl. etwa Winkler: Ohne Titel, 21. 165 Alois Stöckl: Wanderschaft 1930–1933. Typoskript (Abschrift) 1988–1990, Doku, 18f. Fragezeichen in eckigen Klammern bezeichnen nicht sicher entzifferte/unleserliche Textstellen.
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Umstrittene Lebensunterhalte
Auch wenn sich Herbergen von Ort zu Ort unterschieden, vermied Stöckl so oft es ging, dort zu nächtigen. Er nahm die Verpflegung in Anspruch, zog es aber vor, im Freien, in Arrestzellen oder auch in Ställen zu schlafen.166 Als Mitglied des Kolpingvereins konnte er dessen Einrichtungen frequentieren. Das Nutzen von Herbergen musste jedoch nicht die schlechteste aller Möglichkeiten sein. Für Fritz Engelhardt etwa, einen 1908 geborenen Fleischergesellen, boten Herbergen neben Unterkunft und Verpflegung auch eine gewisse Ordnung und Sicherheit. Das deutsche Herbergswesen beschrieb er folgendermaßen: Wer nun keinen Wanderschein besass der musste wild gehen, auf eigene Gefahr um den kümmerte sich Niemand u. musste sich täglich seine […] Schlafmöglichkeit suchen, oder auf der Polizei sich obdachlos [melden]. Wer die Polizei zu scheuen hatte ging natürlich nicht hin. Mit Geld konnte man überall schlafen, bargeldlos brachte man auch manche Nacht im Freien zu. Mit dem Wanderschein hatte man den Vo[r]zug immer sicheres Bett in der Herberge zur Heimat so hiess die Unterkunft zu haben u. dazu Abendbrot und Frühstück gratis. Dafür musste man in der Früh kurz etwas Holz haken oder schneiden dann konnte man abhauen. Mit dem Wanderschein ging es gut da hatte man seine Ordnung. Hingegen beim freien wandern gab es mehr Freiheit keinen Zwang, dafür musst Du […] dich selber verpflegen, denn es scheert sich keiner wovon u. wie du leben kannst.167
Insgesamt verdeutlichten die autobiografischen Berichte die je nach Situation gegebene Vielfalt an Möglichkeiten, Unterkunft und Unterstützung zu finden. Neben den öffentlichen bestanden auch die schon erwähnten Herbergen des Kolpingvereins. Nächtigungen erfolgten in Nachtasylen, Wärmestuben,168 Jugendherbergen,169 Gewerkschafts-170 und Parteiheimen,171 Gasthäusern,172 Pfarrhöfen,173 bei Bauern,174 in Ställen, im Freien,175 in Arrest- oder Schubzellen,176 manchmal bei Verwandten und Bekannten. Zu wandern bedeutete nicht per se, ohne soziale Beziehungen und 166 Vgl. Stöckl: Wanderschaft, 42f. 167 Engelhardt: Lebensbeschreibungen, 9. 168 Vgl. etwa Schick: Jugend, 69. 169 Vgl. etwa Kals: Mein Lebenslauf, 29; Kroboth: Lebenserinnerungen, 14. 170 Vgl. etwa Kals: Lebenslauf, 38. 171 Vgl. etwa Kals: Lebenslauf, 50; Schick erwähnt: Kinderfreunde (6), einen Onkel und die Roten Falken (11), Junge Sozialisten (12), die sozialistische Partei (74), vgl. Schick: Jugend. 172 Vgl. etwa Stöckl: Wanderschaft, 36. 173 Vgl. Schick: Jugend, 75. 174 Manchen Berichten zufolge beherbergten Bauern oft zwei bis drei Wanderer täglich. Vgl. StLA, Landesregierung, 147, Kt. 496, Zl. 6 Du 1/1–1933. 175 Vgl. Winkler: Ohne Titel, 53; Krautschneider: Lebenslauf, 18. 176 Vgl. etwa Gierer: Lebenserinnerungen, 23.
Kategorien, Möglichkeiten und Bedingungen des Nichtarbeitens
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„Netze“ zu sein.177 Man konnte von vielen Seiten Unterstützung und Essen erhalten sowie Geschenke von Gewerbetreibenden, Obst und Gemüse sammeln, betteln oder auch stehlen. Die Herbergen mochten, wie es die Absicht der Landesregierungen war, die Bevölkerung entlasten. Viele Schilderungen und auch Beschwerden deuteten jedoch darauf hin, dass es nach wie vor alltäglich war, dass Bauern und anderen Anwohner Wanderern Essen und Unterkunft gaben. Wie man wanderte, welche Einrichtungen und Ressourcen man nutzte oder vermied, mit wem man dabei was tat oder nicht, war eine Möglichkeit, sich selbst praktisch zu definieren und zu unterscheiden. Ähnlich wie das Schlangestehen vor dem Arbeitsamt konnte das Wandern das Ohne-Arbeit-Sein als kollektive (also nicht bloß individuelle) offizielle Notlage symbolisieren.178 Autobiografische Erzählungen reflektierten teils explizit durchgesetzte Kategorien des richtigen und falschen Wanderns, auch deren Unschärfen. So beschrieb sich Hans Wielandner, ein Tischler, der in den 1930er Jahren wanderte, als „Fechtbruder“ (ein umgangssprachlicher Ausdruck für Bettler): Es war der 14. Juni 1932 als ich im Raume Eferding mit dem Rad auf die Wanderschaft ging. Man kann sagen, daß ich ein moderner „Fechtbruder“ war, die meisten gingen ja zu Fuß. Nun hieß es von einem Bauern zum anderen gehen, Brot bettelnd und um Nachtherberge suchend – heischend um eine milde Gabe. Als Fechtbruder war man immerhin noch ein „Bruder“ und kein Sandler!179
An anderer Stelle grenzte er, der immer betonte, nicht arbeitscheu zu sein, sich von den „Berufsbettlern“ ab, die er unterwegs kennengelernt hatte: [D]ie waren schon jahrzehntelang auf der Straße – die wollten auch keine Arbeit. Sie kannten jeden Bauern, auch jene in meiner Heimat. Sie wußten, wo man nur ein hartes Stück Brot bekommt, sie kannten auch jede milde Hand, die reichlich gab. Sie sagten mir, daß sie jede Türschnalle drücken, nur jene vom Totenkammerle wollen sie vermeiden, auch diese haben sie schon lange gedrückt. Sie luden mich ein, zu Bier und einer Jause. Ich gehörte nicht zu jener Gruppe von Bettlern, ich war ein Handwerkbursche. Ich klopfte nur bei den Bauern an wenn ich Hunger hatte, oder gegen Abend, wenn ich ein Nachtlager suchte.180 177 So etwa Thomas Meier, Rolf Wolfensberger: Nichtsesshaftigkeit und geschlechtsspezifische Ausprägungen von Armut. In: Anne-Lise Head, Brigitte Schnegg (Hg.): Armut in der Schweiz 17.–20. Jh., Zürich 1989, 33–42; Castel: Metamorphosen, 28. 178 Vgl. Vana: Gebrauchsweisen, 293, 309f. 179 Wielandner: Lebenslauf, 28. Zum Streit, wer die wahren Vagabunden sind, siehe auch Künstlerhaus Bethanien: Wohnsitz, 219. 180 Wielandner: Lebenslauf, 30f.
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Umstrittene Lebensunterhalte
Der Sägewerksarbeiter Anton Krautschneider beschrieb seine Situation wie folgt: „Ich trug Sehnsucht im Herzen nach einem liebendem Wort, nach ein bißchen Verstehn – und das fanden wir junge Arbeitslose in dieser Zeit nicht, wir waren Nichtstuer, arbeitsscheue und verkommene Menschen schlechthin.“181 Er schilderte, für solche Berichte nicht untypisch, wie ein erfahrener Wanderer ihn in das Wandern eingewiesen hatte: Als ich im Morgen erwachte lag ein zweiter Schlafgeselle neben mir. Es war, wie ich feststellte, ein professioneller Walzbruder. Ich ging vorerst mit ihm, er brachte mir die wichtigsten Regeln des Walzens bei, wie – ja nicht auf großen Straßen gehen, da gehen sie in Scharen und bekommen nur 2 Groschen pro Haus, sondern auf Nebenstraßen und kleinen Wegen, da erhält man 5–10 Groschen, und wichtig ist es zu Mittag mehrere Häuser aufzusuchen; im ersten erhält man eine Suppe, im zweiten Reste der Hauptspeise und im dritten fällt auch noch etwas ab, das man als eiserne Reserve mitnimmt.182
An anderer Stelle äußerte er Scham und Angst, verhaftet zu werden, wenn er sich „auf der Hut vor Gendarmen, durch die Dörfer schlich – ich war ja kein Handwerksgeselle mit Buch, für den das Walzen erlaubt war“.183 Bei aller Widersprüchlichkeit und Unschärfe konnte man mit einem Wanderbuch und der Benutzung von Herbergen doch auch einen offiziellen Status als wandernder Arbeitsuchender behaupten. Das wird auch daran deutlich, dass in einer großen Zahl von Gerichtsakten zu Vagabundage und Betteln (siehe unten) nur sehr wenige Wanderer mit gültigen Wanderbüchern betrafen. Arbeitslosigkeit war nicht nur eine Interpretation, eine Kategorisierung einer Situation einzelner. Sie wurde, beginnend mit der staatlichen Organisierung der Arbeitssuche, institutionalisiert, sie wurde ein sozialer Tatbestand. Die Gesetze zur Verankerung der Arbeitslosenversicherung wurden auf der Ebene des Zentralstaates erlassen, umgesetzt wurden die Maßnahmen allerdings regional. Die Arbeitslosenversicherung schloss dabei nicht alle Erwerbsmöglichkeiten in allen Teilen des Landes gleichermaßen ein. Arbeitslosigkeit wurde eher für berufliche, außerhäusliche, unselbstständige Erwerbsarbeit formalisiert und institutionalisiert. Hauspersonal, Land- und Forstarbeit und generell jede Erwerbstätigkeit in rein ländlichen Bezirken blieben zunächst von der Versicherung und Bezugsberechtigung ausgenommen. Die Maßnahmen galten eher den Erwerbstätigkeiten von Männern als jenen von Frauen. So wurde auch mit der Arbeitslosenversicherung keine universelle und unanfechtbare Grenze zwischen Arbeit und Arbeitslosigkeit etabliert. Es entstanden neue offizielle 181 Krautschneider: Lebenslauf, 10. 182 Krautschneider: Lebenslauf, 18. 183 Krautschneider: Lebenslauf, 19.
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Kategorien, welche die Nichtarbeitenden in ihren Wahrnehmungen und Selbstbeschreibungen übernahmen, um Ansprüche und Unterschiede geltend zu machen.184 Weiterhin bestand eine Bandbreite von mehr oder minder legitimen Situationen und Lebensunterhalten: von redlicher Arbeit und Erwerb über Arbeitslosigkeit, Aussteuerung, wandernde Arbeitssuche bis hin zum fragwürdigen Umherziehen des Fechtbruders und des Professionsbettlers/der Professionsbettlerin. Ohne Arbeit zu sein bedeutete trotz der neuen sozialstaatlichen Formen der Absicherung nicht per se, ausreichende Mittel zum Lebensunterhalt zu haben, und dementsprechend auch nicht Untätigkeit. In den Quellen finden sich viele Arten von Versuchen, die eigene Existenz zu sichern: vom Gelegenheitsverdienst über punktuelle Unterstützung durch die öffentliche Hand oder wohltätige Einrichtungen bis hin zu Almosen und Diebstahl. Die Frage, wie all diese Möglichkeiten von Austausch zu bewerten waren, beschäftigte nicht zuletzt Juristen, denn auch Betteln und Landstreicherei waren keineswegs einfach zu definieren und von erlaubten Praktiken abzugrenzen. Das Landstreichereigesetz
Bis zum Landstreichergesetz von 1873185 war in Österreich zwar Betteln nach dem Strafgesetz verboten, doch einheitliche Bestimmungen bezüglich Landstreicherei fehlten.186 Das „Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden“, (ebenfalls Landstreichereigesetz genannt) ersetzte bzw. reformulierte das Gesetz von 1873 und einzelne Paragrafen des Strafgesetzes aus dem Jahr 1852. Es blieb, mit Ausnahme der Jahre des nationalsozialistischen Regimes, bis Ende 1974187 in Kraft: §. 1. Wer geschäfts- und arbeitslos umherzieht und nicht nachzuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitzt oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher zu bestrafen. Die Strafe ist strenger Arrest von ein bis zu drei Monaten[.]
184 Vgl. auch Walters: Unemployment, 6. 185 Vgl. Gesetz vom 10. Mai 1873, womit polizeistrafrechtliche Bestimmungen wider Arbeitsscheue und Landstreicher erlassen werden, RGBl. 1873/108. 186 Vgl. Finger: Landstreicherei, 437; dazu Sigrid Wadauer: The Usual Suspects. Begging and Law Enforcement in Interwar Austria. In: Beate Althammer, Andreas Gestrich, Jens Gründler (Hg.): The Welfare State and the ‚Deviant Poor‘ in Europe, 1870–1933. Basingstoke 2014, 126–149. 187 Vgl. Bundesgesetz vom 11. Juli 1974 über die Anpassung von Bundesgesetzen an das Strafgesetzbuch, BGBl. 1974/422 (Strafanpassungsgesetz), Artikel XI, Abs. 2, 6 und 8.
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Strafverschärfungen wie Fasten, schwere Arbeit, hartes Lager, Einzel- oder Dunkelhaft waren möglich. §. 2. Wegen Bettelns ist zu bestrafen: Wer an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus bettelt oder aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildthätigkeit in Anspruch nimmt. Wer Unmündige zum Betteln verleitet, ausschickt oder Andern überlässt. Die Strafe ist strenger Arrest von acht Tagen bis zu drei Monaten.188
Dies waren die wichtigsten Paragrafen des Gesetzes. Nur sehr selten sind in den überlieferten Akten Fälle zu finden, die sich auf § 3 beziehen: Arbeitsfähige Personen, welche kein Einkommen und keinen erlaubten Erwerb haben und die Sicherheit der Person oder des Eigenthums gefährden, können von der Sicherheitsbehörde angewiesen werden, innerhalb einer ihnen bestimmten Frist nachzuweisen, daß sie sich auf erlaubte Weise ernähren.189
§ 4 berechtigte jede Gemeinde, arbeitsfähigen Personen ohne Mittel und Erwerb eine deren Fähigkeiten entsprechende Arbeit gegen Entlohnung oder Naturalverpflegung anzuweisen. Die Strafe für den Verstoß dieser Bestimmungen war Arrest von 8 Tagen bis zu 3 Monaten. § 5 des Gesetzes betraf „Frauenspersonen, die mit ihrem Körper unzüchtiges Gewerbe“ trieben. Dieses Delikt wurde in den Kriminalstatistiken meist zur Deliktgruppe der Sittlichkeitsverletzungen gerechnet. § 6 betraf die Polizeiaufsicht. Laut § 7 konnte ein Gericht im Falle der Verurteilung die Zulässigkeit der Inhaftierung in einer Zwangsarbeitsanstalt aussprechen. Laut § 8 konnte Einweisung in eine Besserungsanstalt auch für Unmündige erfolgen, deren Verstöße nur aufgrund ihrer Minderjährigkeit nicht als Verbrechen bestraft wurden. Das Einweisen eines Unmündigen in eine Besserungsanstalt war auch legitim, „wenn derselbe gänzlich verwahrlost und ein anderes Mittel zur Erzielung einer ordentlichen Erziehung und Beaufsichtigung desselben nicht ausfindig zu machen ist“.190 Das Gesetz von 1885 veränderte die Bestimmungen von 1873 dahingehend, dass es nun nicht mehr auf ein Fehlen oder Verlassen des Wohnortes Bezug nahm und die Höchststrafe von einem auf drei Monate erhöhte.191 Landstreicherei wurde nun ein 188 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der Anhaltung in Zwangsarbeits- oder Besserungsanstalten getroffen werden, RGBl. 1885/89. 189 RGBl. 1885/89. 190 RGBl. 1885/89. 191 „Wer ohne bestimmten Wohnort oder mit Verlassung seines Wohnortes geschäfts- und arbeitslos umherzieht und sich nicht auszuweisen vermag, daß er die Mittel zu seinem Unterhalte besitze oder redlich zu erwerben suche, ist als Landstreicher mit Arrest von acht Tagen bis zu einem Monate zu bestrafen.“ Gesetz vom 10. Mai 1873, womit polizeistrafrechtliche Bestimmungen wider
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Umherziehen von bestimmter Dauer, ohne dabei Arbeit zu suchen oder einem redlichen Erwerbszweck nachzugehen.192 Das Kriterium für die Strafbarkeit war damit Arbeitsscheu bei gegebener Arbeitsfähigkeit.193 Als arbeitsloses Umherziehen musste man auch, so der Jurist August Finger, „das Umherziehen bei Betrieb eines unerlaubten, wenn auch straflosen Gewerbes“ betrachten.194 Es schloss also etwa umherziehende Frauen ein, die von Prostitution lebten. Auch wer über einen Hausierschein verfügte, konnte schuldig werden, wenn das Papier nur als Deckmantel für arbeitsloses Umherziehen diente. Umgekehrt war der/die unbefugte Hausierer/in aber nicht per se ein/e Landstreicher/in, „denn er betreibt ein erlaubtes Gewerbe und verstößt nur gegen die Normen, die die Voraussetzungen dieses Gewerbebetriebes regeln“.195 Subsistenzlosigkeit bedeutete, dass die betreffende Person nicht über Mittel verfügte, nicht von anderen erhalten wurde und weder Geschäft noch Arbeit hatte, um sich ihren Unterhalt zu sichern. Als Mittel galten auch Ansprüche auf Unterstützung, etwa Reiseunterstützungen, die von Arbeiterverbänden gewährt wurden. Die Beweislast im Verfahren lag bei den Beschuldigten: Sie mussten ihre redlichen Absichten beweisen.196 Eine eindeutige Bestimmung des Bettelns war ebenso schwierig. Anders als noch im Strafgesetz 1852,197 war nach dem Gesetz von 1885 jegliches Betteln ungeachtet Arbeitsscheue und Landstreicher erlassen werden, RGBl. 108/1873, § 1; vgl. dazu auch Landstreichergesetz. In: Ludwig Altmann, Siegfried Jacob (Hg.): Kommentar zum Österreichischen Strafrecht. Wien 1930, Bd. 2, 1698–1717. 192 „Wer, um Arbeit zu suchen, umherzieht (der wandernde Handwerksbursche), wer umherzieht, weil dies zu seinem Geschäfte (Agent, Hausierer) gehört, wer umherzieht, ohne zu arbeiten, aber anderwertig beschäftigt ist, wer nicht umherzieht, sondern, nachdem er geschäfts- und arbeitslos geworden, nach einem bestimmten Ziele (seiner Heimat z. B.) wandert, ist nicht Vagabund. Ebensowenig derjenige, für dessen Unterhalt anderen physische oder juristische Personen, z. B. Kassen, an die Arbeiter für den Fall späterer Arbeitslosigkeit eingezahlt haben, zu sorgen verpflichtet sind ( JME. v. 6. März 1905, KH. 2648). Der Umstand, daß der Betrieb des betreffenden Gewerbes überhaupt oder im Umherziehen verboten ist (Drahtbinder, Bärenführer, verbotener Hausierhandel), macht ihn noch nicht an und für sich zum ‚unredlichen‘. Verlassen des Wohnortes ist zum Tatbestande nicht notwendig“. Heinrich Lammasch: Grundriss des Österreichischen Strafrechts. 5. Aufl., bearb. von Theodor Rittler, Wien 1926, 430. 193 Vgl. Finger: Landstreicherei, 437. 194 Finger: Landstreicherei, 437. 195 Finger: Landstreicherei, 437; vgl. dazu auch Heinrich Dehmal (Hg.): Die österreichische Polizeigesetzgebung. Mit Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, des Reichsgerichtes, des Verwaltungsgerichtshofes und des Obersten Gerichtshofes. Nach dem Stande vom 1. Jänner 1926. Mit einem Geleitworte des Polizeipräsidenten, Bundeskanzlers a. D. Johann Schober. Wien 1926, 1929f. 196 Vgl. Lammasch: Grundriss, 430. 197 Das Strafgesetz von 1852 hatte das Betteln als Verstoß gegen die öffentliche Sittlichkeit verstanden, die Bestrafung mit der Verfügbarkeit von Unterstützung in Bezug gesetzt. Der § 517 dieses Gesetzes lautet: „Die Vorkehrung gegen das Betteln steht mit Armenversorgungsanstalten in Verbindung, und ist im Allgemeinen der Ortspolizei übertragen. Das Betteln wird aber zu einer
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der Verfügbarkeit von Unterstützung verboten. Das spätere Gesetz stellte dementsprechend, so manche Kritiker, einen beklagenswerten Rückschritt dar.198 Im Strafrecht selbst fehlte eine Definition. Man war daher, so August Finger, „genötigt, das Wort in dem Sinne zu nehmen, den das tägliche Leben mit demselben verbindet“.199 Als Betteln galt die an einen Fremden gerichtete Bitte um ein Almosen, um Geld oder Sachen. Neben dem Betteln an öffentlichen Orten oder von Haus zu Haus war auch die Inanspruchnahme öffentlicher Mildtätigkeit aus Arbeitsscheu untersagt, worunter etwa schon das Verfassen und Publizieren von Annoncen, Bettelbriefen oder auch Bittgesuchen an Unterstützungseinrichtungen fiel. Nicht als Betteln galten das Sammeln für einen wohltätigen Zweck, Bitten um Dienstleistungen, Gefälligkeiten (z. B. das Übernachten), ortsübliche Geschenke oder eine Zigarette. Betteln war auch nicht die Bitte, die an jemanden gerichtet war, der zur Unterstützung moralisch verpflichtet war. Das handwerkliche Geschenk oder Viatikum,200 also eine (Reise-) Unterstützung durch Meister und Geschäftsleute des eigenen Gewerbes, wurde auch in der Zwischenkriegszeit noch als legitim erachtet. Bettelmusizieren und Hausieren selbst ohne Bewilligung galten gemäß einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs nicht als Betteln, denn in diesen Fällen wurde eine (wie auch immer wertvolle oder erwünschte) Gegenleistung geboten.201 Abgesehen von diesen häufig als Deckmantel von Betteln betrachteten Praktiken war, erläuterte August Finger, Betteln straflos, Uebertretung, wenn bei bestehenden Versorgungsanstalten eine mehrmalige Betretung, Hang zum Müssiggange und Fruchtlosigkeit der geschehenden Abmahnung oder erste Bestrafung bezeugt.“ Die Strafe betrug laut § 518 acht Tage bis zu einem Monat Arrest, bei mehrmaligem Betreten bis zu drei Monate, Verschärfungen waren „nach der hervorleuchtenden größeren Unverbesserlichkeit“ möglich. § 519 betraf das Betteln unter Vortäuschung von Gebrechen und Krankheiten, §§ 520 und 521 das Betteln von Kindern. Kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852, Strafgesetz. Zweiter Theil XIII, Hauptstück, RGBl. 1852/117. 198 Vgl. Finger: Landstreicherei, 437. 199 Finger: Landstreicherei, 438. 200 Vgl. Franz von Liszt: Lehrbuch des Deutschen Strafrechts. 10., durchgearb. Aufl., Berlin 1900, 610. 201 Sogenannte Bettelmusikanten fielen nicht unter die Bestimmungen des § 2 VagGes. Vgl. Entscheidung nach § 292 StPO. vom 2. Mai 1921, Os 229/21. In: Entscheidungen des österr. Obersten Gerichtshofes in Strafsachen und Disziplinarangelegenheiten, veröffentlicht von seinen Mitgliedern unter Mitwirkung der Generalstaatsanwaltschaft. Wien 1925, Bd. I, 1. Vierteljahrsheft, 98–100, hier 100; Josef Kimmel (Hg.): Rechtslexikon für den Sicherheits- und Verwaltungsdienst des Bundesstaates Österreich zum Gebrauche für Behörden, Aemter, Bürgermeister, Sicherheitsbeamte, Gemeindebeamte, Schuldirektionen, Rechtsanwälte, Gewerbetreibende, Studierende usw. Wien 1935, 146. Vgl. auch Gerichtssaal: Musizierende Invalide sind keine Bettler. Entscheidung des Obersten Gerichtshofs. In: Neues Wiener Journal 168/26.2.1922/10, 14; Gerichtssaal: Der Dank des Vaterlandes. Der Invalide darf betteln. In: Arbeiter-Zeitung 39/21.12.1926/350, 10; Dehmal: Polizeigesetzgebung, 1930; Finger: Landstreicherei, 434–441. Für Deutschland vgl. zu dieser Frage etwa Rotering: Das Betteln als strafbare Handlung. In: Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform 5/1908, 143–158.
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wenn es in einem „durch Arbeitsunfähigkeit, durch Mangel an Arbeitsgelegenheit usw. begründeten Notstand verübt wurde“.202 Betteln konnte sogar ausdrücklich erlaubt sein. Zwar war mit dem Landstreichereigesetz von 1873 das Ausstellen von Zeugnissen über Unglücksfälle oder Armut zum Zwecke des Bettelns im Umherziehen verboten worden, die Armengesetze einiger Kronländer sahen jedoch die Möglichkeit vor, Bettellizenzen zu vergeben.203 Das oberösterreichische Armengesetz von 1880 etwa untersagte nach § 45 sowohl fremden als auch einheimischen Armen das Betteln und definierte zusätzlich zum Strafgesetz noch weitere Strafmaßnahmen.204 Die Gemeindevertretung konnte aber auf Antrag des Armenrats einzelnen einheimischen Armen ausnahmsweise das Sammeln von milden Gaben in der eigenen Gemeinde an bestimmten Tagen gestatten. Diese Armen hatten sich mit der schriftlich ausgestellten Erlaubnis des Armenrats auszuweisen.205 Die Armengesetze Vorarlbergs und Kärntens enthielten ähnliche Bestimmungen.206 Diese Praxis blieb, wie auch aus den Gerichtsakten hervorgeht, noch in der Zwischenkriegszeit und vor allem auf dem Land bestehen. Selbst in der Stadt Wels waren 1938 noch 50 Bettelbewilligungen aufrecht.207 Darüber hinaus finden sich in den Quellen auch Hinweise, dass Betteln an bestimmten Tagen geduldet wurde.208
202 Finger: Landstreicherei, 439. 203 Auch in Ungarn konnte Betteln erlaubt sein. Vgl. Susan Zimmermann: Armen- und Sozialpolitik in Ungarn im Vergleich zu Österreich. In: Helmut Rumpler, Peter Urbanitsch (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1848–1918. Bd. IX: Soziale Strukturen. 1. Teilbd.: Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Teilband 1/2: Von der Stände- zur Klassengesellschaft, Redaktion Ulrike Harmat. Wien 2010, 1465–1535, hier 1471. 204 Gemeinden durften nach § 16 ein Betteln, das nicht unter §§ 517–521 des Strafgesetzes von 1852 fiel, mit bis zu acht Tagen Arrest bestrafen. Arme, die sich exzessiv und beleidigend benahmen, sich Anordnungen widersetzten oder die Hausordnung des Armenhauses verletzten, erhielten bis zu drei Tage Arrest. Vgl. Gesetz vom 5. September 1880 wirksam für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, betreffend die öffentliche Armenpflege der Gemeinden, Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, 12/1880. 205 Vgl. Gesetz vom 5. September 1880 wirksam für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, betreffend die öffentliche Armenpflege der Gemeinden. Gesetz- und Verordnungsblatt für das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns, 12/1880, § 45. 206 Vgl. Herz: Arbeitsscheu, 39. 207 Vgl. Stadtarchiv Wels, Akten 2798, VoF Volkswohlfahrt, Fürsorgeamt F6 Varia: Fürsorge, Diverses, Armenamt Allgemeines 1933–1938: Amtsbericht. Wels, 23. März 1938. 208 Meist ist in diesem Zusammenhang vom Freitag die Rede. Vgl. Arnold Baumgarten: Leitfaden der Sozialen Fürsorge. Mit besonderer Berücksichtigung der Österreichischen Gesetzgebung und Einrichtungen für Ärzte, Lehrer, Beamten, Fürsorgerinnen und Krankenpflegerinnen. Wien, Leipzig, New York 1925, 75; Zum Bettlerunwesen. In: Gendarmerie-Zeitung 36/1937/2, 2; Hermann Hollweger, 203; Josef Gutmann: Praktische Winke zur Bekämpfung des Bettlerunwesens. In: Öffentliche Sicherheit 13/1933/7, 8.
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Es gab also ein strafbares Umherziehen und Betteln. Zugleich bestanden Praktiken, die im Alltag durchaus als Vagabundieren oder Betteln betrachtet und bezeichnet werden konnten, juristisch jedoch nicht als Delikt galten. Kriminalstatistiken bilden dementsprechend nicht jegliches Umherziehen ab und nicht alles, was die Bevölkerung möglicherweise als Betteln wahrnahm, sondern die Rechtspraxis und deren Konjunkturen.209 Betrachtet man die Entwicklung der Verurteilungen auf Basis des Vagabundengesetzes zwischen 1920 und 1936 (siehe Grafik 7), so lässt sich eine Zunahme der Verurteilungen nicht unmittelbar durch die Weltwirtschaftskrise erklären. Sie steht, gerade was die Verurteilungen wegen Vagabundage betrifft, mit der Etablierung des Ständestaats 1933 in Zusammenhang. Das Verhältnis von Verurteilungen wegen Bettelei zu denen wegen Vagabundage lag in den 1920er und 1930er Jahren zwischen 1:2 und 1:3 (im 19. Jahrhundert, vor der Etablierung der Naturalverpflegsstationen, war es bei 3:2 gelegen).210 Im gesamten Zeitraum betrug der Anteil der verurteilten Frauen zwischen 9 % und 14 % bei Vagabundage, 10 % bis 18 % bei Betteln; die Anteile von Ausländer/inne/n lagen bei 25 % bis 35 % respektive 11 % bis 21 %. Meinen eigenen Berechnungen auf der Grundlage eines Samples von 874 Gerichtsakten aus den Jahren 1920–1938 zufolge, betrug der Altersdurchschnitt der Angeklagten 35 Jahre, war also nur geringfügig höher als das durchschnittliche Alter der Herbergsbesucher (siehe Tabelle 2). Der Anteil der ungelernten Berufe in diesem Sample war etwa 40 %, wobei die Berufsangaben in Gerichtsakten ähnliche Probleme aufwerfen, wie in den bereits beschriebenen Registern der Naturalverpflegsstationen.211 Nehme ich offizielle Statistiken und eigene Beobachtungen zusammen, so schienen die aufgrund von Verstößen gegen das Landstreichereigesetz Angeklagten häufiger männlich, jünger, ledig und ohne Rückhalt in der Herkunftsfamilie zu sein.212 Allerdings lassen sich, wie noch gezeigt wird, bei genauerer Betrachtung einzelner Gerichtsbezirke oder gar einzelner Fälle deutliche Unterschiede feststellen. Schon in Hinblick auf die Zahl der Verurteilungen unterschieden sich die einzelnen Bundesländer deutlich (siehe Grafik 8). Zu besonders vielen Verurteilungen kam es in Vorarlberg und Oberösterreich. Die Verurteilungen in Wien waren, wenig überraschend, besonders niedrig,213 Wien verfügte über ein im österreichischen Vergleich einzigartiges und systematisches Sozialwesen und Fürsorgesystem.214
209 Vgl. auch Rudolf Scholz: Das Bettlerunwesen. In: Öffentliche Sicherheit 16/1936/6, 1. 210 Vgl. Hoegel: Straffälligkeit, 139, 141. 211 Vgl. ausführlicher Wadauer: Usual Suspects. 212 Vgl. Slack: Vagrants, 366; Ocobock: Introduction, 7; Smith: Assistance, 829. 213 Vgl. Sigrid Wadauer: Betteln – Arbeit – Arbeitsscheu (Wien 1918–1938). In: Beate Althammer (Hg.): Bettler in der europäischen Stadt der Moderne. Zwischen Barmherzigkeit, Repression und Sozialreform. Frankfurt/Main et al. 2007, 257–300. 214 Vgl. etwa Gerhard Melinz: Von der „Wohltäterei“ zur Wohlfahrt. Aspekte kommunaler Sozialpoli-
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Grafik 7: Auf 100.000 Strafmündige entfallende Verurteilungen wegen Übertretung des Landstreichereigesetzes vom 24. Mai 1885, RGBl. Nr. 89, im Bundesgebiet Österreich215
Almosen galten als Gegenteil der angestrebten modernen, systematischen und produktiven Fürsorge.216 Betteln war dementsprechend auch im Roten Wien keineswegs erwünscht oder geduldet.217 Jedoch sah die in den 1920er Jahren reformulierte Bettlernormale aus 1906218 eine genaue Überprüfung und „individuelle Behandlung“219 tik. In: Walter Öhlinger (Hg.): Das Rote Wien. 1918–1938. Wien 1993, 104–120; ders./Ungar: Wohlfahrt und Krise. 215 Vgl. Zahlenmäßige Darstellung der Rechtspflege, hg. vom Bundeskanzleramt ( Justiz), Ministerialrat im Bundeskanzleramt ( Justiz), bearb. vom Bundesamt für Statistik, Kriminalstatistik 1926/5, 7; 1927/7, 5; 1929/10, 5; 1929/12, 7; 1930/14, 8; 1932/16, 7; 1932/18, 6; 1933/20, 6; 1935/24, 9 sowie 1936/28, 8 (mehr nicht erschienen). Der Gerichtssprengel Wien war nicht deckungsgleich mit dem Land Wien, dieses umfasste auch sieben ländliche Gerichtsbezirke sowie Teile des Burgenlandes. In dieser Statistik wurden die sieben ländlichen Gerichtsbezirke erst ab 1930 ausgewiesen, das Burgenland jedoch von Beginn an. 216 Vgl. Julius Tandler: Wohltätigkeit oder Fürsorge? Wien 1925, 5; Baumgarten: Leitfaden; Doris Byer: Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege. Zur Entstehung eines sozialdemokratischen Machtdispositivs in Österreich bis 1934. Frankfurt/Main, New York 1988, 157f. 217 Vgl. Bettlerunwesen in Wien. Maßnahmen zur Bekämpfung. Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien 23/1924/244, 73f. 218 Vgl. Bettlernormale. Erlässe der Polizeidirektion vom 23. März 1906, Z. G. 1824/1, und Ergänzungen vom 23. Februar 1924, P. Z. II/91/1, Auszug zu M. Abt. 8/299/24. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien 23/1924/244, 74f. 219 Jahrbuch der Polizeidirektion in Wien. Mit statistischen Daten aus dem Jahre 1925. Wien 1927, 129; vgl. auch Friedrich Adler: Vademecum für Polizeibeamte. 7. Aufl., Wien 1935, 32, 34.
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jedes/jeder Beschuldigten vor. Es sollten Bedürftigkeit, eventuell bestehende Befürsorgung, Invalidität, die Heimatzuständigkeit und der Lebenswandel beurteilt werden. Als Maßnahmen standen Fürsorge, die Anzeige bei Gericht und bei Zuständigkeit einer fremden Gemeinde die Heimweisung oder Abschiebung der Person respektive der Familie zur Disposition. Im Falle gerichtlicher Verurteilung drohte eine Haftstrafe, den „vorbestrafte[n] arbeitsscheue[n] erwerbsfähige[n] Bettlern“ auch die anschließende Einweisung in eine Arbeitsanstalt.220 Besondere Begründung der Bestrafung schien bei nachgewiesener gänzlicher oder stark verminderter Erwerbsunfähigkeit notwendig. Hier konnte „gegen die betreffende Person erst dann mit der Erstattung einer Strafanzeige vorgegangen werden [...], wenn sie, obzwar ihr eine hinreichende Fürsorge aus öffentlichen Mittel zuteil wurde, den Straßenbettel dennoch fortsetzen sollte“.221 Solchenfalls sollten bei einer Anzeige an das Gericht [...] die besonders charakteristischen Momente klar zum Ausdruck gebracht werden, warum der Bettler trotz Gebrechlichkeit, Erwerbsunfähigkeit oder Alters dem Gerichte überantwortet werden muß. Es ist beispielsweise in der Anzeige auf Grund der Erhebung hervorzubeben [sic!], daß eine in Versorgung stehende Partei, welche wegen Bettelns dem Gerichte eingeliefert wird, die Versorgung nur aus dem Grunde verlassen hat, um sich durch Straßenbettel Mittel zum Alkohol- oder Tabakgenusse und dergleichen zu beschaffen.222
Kinder sollten der häuslichen Züchtigung übergeben werden. In jedem Fall waren die Pflegschaftsbehörden, eventuell das Fürsorgeinstitut, bei Schulpflichtigen die Schulbehörde zu verständigen. Kinder zwischen zehn und 14 Jahren waren je nach Umständen mit Freiheitsentzug („Verschließung“) zu bestrafen. Gänzlich verwahrloste Kinder und Kinder ohne ordentliche Aufsicht konnten eventuell auch in eine Besserungsanstalt eingewiesen werden, besonders, wenn sie von den Eltern ausgeschickt worden waren.
220 Das zentrale Strafregister, erleichterte das Erheben von Vorstrafen sowie ein Erforschen der Delinquenz. Vgl. Hugo Suchomel: Die österreichische Kriminalstatistik in der Kriegs- und Nachkriegszeit. In: Zahlenmäßige Darstellung der Rechtspflege 1926/5, 3f. 221 Bettlernormale, 74 (Hervorhebung im Original). 222 Bettlernormale, 74. Insbesondere Alkoholismus war in dieser Zeit – als Schädigung des Arbeitswillens, der Nachkommenschaft, somit der gesamten Volkswirtschaft – ein prominentes Thema in Fürsorge und Polizeiarbeit. Vgl. etwa Baumgarten: Leitfaden, 97f., 100.
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Tirol
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Salzburg
Grafik 8: Differenz der in den einzelnen Bundesländern auf 100.000 Strafmündige entfallenden Verurteilungen zum Bundesdurchschnitt (siehe Grafik 7)223 14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000 0 1924
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§ 1 Ausländer/innen
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Grafik 9: Die Verurteilungen nach § 1 (Landstreicherei) und § 2 (Betteln) des Landstreichereigesetzes in absoluten Zahlen in Österreich224
223 Quellen wie Grafik 7. 224 Vgl. Zahlenmäßige Darstellung der Rechtspflege 1926/5, 26f.; 1927/7, 22f.; 1928/9, 28f.; 1929/10,
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Die jeweilige Behandlung des/der mutmaßlich Bettelnden stand also nach wie vor, auch nach dem Gesetz von 1885, in engem Zusammenhang mit Armen- und Heimatrecht. Anspruch auf Armenversorgung, so sich der/die Arme den notwendigen Unterhalt nicht aus eigener Kraft zu verschaffen vermochte, und das Recht auf „ungestörten Aufenthalt“ hatte eine Person laut dem (bis 1939 geltenden) Heimatrecht aus dem Jahr 1863 nur in der Gemeinde, in der sie das Heimatrecht besaß.225 Diese war nicht notwendig die Wohngemeinde. Ende des 19. Jahrhunderts kam sogar bis zu 80 % der Bevölkerung größerer Städte kein Heimatrecht am Wohnort zu.226 Das Heimatrecht wurde durch Abstammung begründet (Kinder übernahmen es vom Vater oder bei unehelicher Geburt von der Mutter), durch Verehelichung (die Frau übernahm das Heimatrecht des Ehemannes), durch ausdrückliche Aufnahme oder Bekleiden eines öffentlichen Amts.227 Reformen ermöglichten es später auch, durch „Ersitzen“ ein Recht auf Aufnahme in den Heimatverband zu erwerben.228 Laut der Novelle von 1896 war die ausdrückliche Aufnahme nicht zu versagen, wenn sich der/ die Staatsbürger/in zehn Jahre ununterbrochen (mit Ausnahme der Wehrpflicht) und freiwillig in einer Gemeinde aufgehalten hatte und nicht der öffentlichen Armenversorgung bedurfte.229 Die Regelung des Heimatrechts blieb auch nach dieser Reform ein Problem; viele Personen hatten aufgrund von Armut und Mobilität kein Heimatrecht am Aufenthaltsort und auch wenig Aussicht darauf. Infolge des Ersten Weltkriegs und der Auflösung der Habsburgermonarchie gab es zudem zahlreiche Personen, deren heimatrechtliche Zugehörigkeit, etwa nach ihrer Option für die österreichische Staatsbürgerschaft, zumindest zeitweilig nicht geregelt war.230 24f.; 1929/12, 30f.; 1930/14, 40f.; 1932/16, 46f.; 1932/18, 42f.; 1933/20, 40f.; 1934/22, 42f.; 1935/24, 48f.; 1936/26, 44f.;1936/28, 46f. 225 Vgl. Gesetz vom 3. Dezember 1863 betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, RGBl. 1863/ 105, I. Abschnitt, § 1 und III Abschnitt, § 26; siehe auch Ilse Reiter: Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main et al. 2000; Rudolf Thienel: Österreichische Staatsbürgerschaft. Bd. 1: Historische Entwicklung und völkerrechtliche Grundlagen. Wien 1989, 45–47. 226 Vgl. Sylvia Hahn: Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19. Jahrhundert. In: Pro Civitate Austriae 10/2005, 23–44. 227 Vgl. Gesetz vom 3. Dezember 1863, betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse, RGBl. 1863/ 105, I. Abschnitt, §§ 5–7. 228 Vgl. Reiter: Ausgewiesen, 44–46; Melinz: Armenfürsorge, 142; ders./Ungar: Wohlfahrt, 7–10. 229 Vgl. Gesetz vom 5. Dezember 1896, wodurch einige Bestimmungen des Gesetzes vom 3. Dezember 1863, RGBl. Nr. 105, betreffend die Regelung der Heimatverhältnisse abgeändert werden, RGBl. 1896/222. 230 Zur Frage der Option vgl. Thienel: Österreichische Staatsbürgerschaft, 50–52. Die HeimatrechtsNovelle 1925 regelte den Erwerb des Heimatrechts durch heimatlose Bundesbürger. Vgl. Bundesgesetz vom 30. Juli 1925 betreffend die Abänderung und Ergänzung des Gesetzes vom 3. Dezember 1863, RGBl. Nr. 105, über die Regelung der Heimatrechtsverhältnisse, und des Gesetzes vom 5. Dezember 1896, RGBl. Nr. 222, sowie die Durchführung des § 14 des Verfassungsgesetzes vom
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Prinzipiell war jede/r, der/die mittellos war, einer Unterstützung bedurfte und keinen Anspruch auf zentralstaatliche Leistungen hatte, an seine/ihre Zuständigkeitsgemeinde verwiesen. Der Umstand, dass Arme auch an anderen Orten um Unterstützung ersuchten und diese oft auch erhielten, war ein Streitpunkt zwischen den Bundesländern. Vor allem die in Wien zuständigen Arbeitslosen schienen die Herbergen in anderen Bundesländern über Gebühr zu belasten.231 Dass laut § 28 des Heimatrechtsgesetzes die Zuständigkeitsgemeinde in solchen Fällen Ersatz zu leisten hatte, bedeutete einen extremen Verwaltungsaufwand. Darüber hinaus waren mit der Regelung der Heimatrechtsverhältnisse auch Zwangsmaßnahmen wie Abschiebung und Abschaffung verbunden.232 Noch in der Zwischenkriegszeit konnten „Landstreicher und sonstige arbeitsscheue Personen, welche die öffentliche Mildthätigkeit in Anspruch nehmen“, „ausweis- und bestimmungslose Individuen, welche kein Einkommen und keinen erlaubten Erwerb nachweisen können“, sowie Dirnen, Personen, die aus der Haft oder aus Zwangsarbeitsanstalten entlassen wurden und die Sicherheit von Personen und Eigentum gefährdeten, über die Staatsgrenzen bzw. im Inland in ihre Zuständigkeitsgemeinde abgeschoben werden.233 Dies war mittels eines Zwangspasses oder bewachten Transports möglich. Auch ein Aufenthaltsverbot, die sogenannte Abschaffung, konnte temporär oder dauerhaft verhängt werden. Die Entscheidungen darüber trafen die Bundespolizeidirektion oder die Kommunalbehörden.234 Dass solche Maßnahmen selbst Arme mit österreichischer Staatsbürgerschaft und Wohnsitz in Österreich betrafen, wurde in der Zwischenkriegszeit allerdings auch als schikanös und schädlich kritisiert.235 1. Oktober 1920, BGBl. Nr. 2, betreffend den Übergang zur bundesstaatlichen Verfassung, BGBl. 1925/286 (Heimatrechtsnovelle 1925). 231 Vgl. etwa StLA, LReg K 496, 147, Jg. 1932, 147 He 1/73–1933: Wiener Magistrat, Abteilung 8 im selbständigen Wirkungsbereich an das Amt der steiermärkischen Landesregierung, 16.11.1933; StLA, LReg K 496, 147, Jg. 1932, Ob. Öst. Landesregierung, Zl. 15.765/1: Bericht über die Landesvertretersitzung betreffend den Ausbau des Herbergswesens an alle Landesregierungen. Linz, 27.10.1926. 232 Zu diesen Fragen vgl. Harald Wendelin: Schub und Heimatrecht. In: Waltraud Heindl, Edith Saurer (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie 1750–1867. Wien, Köln, Weimar 2000, 173–343; Andrea Komlosy: „Zur Belassung am hiesigen Platze nicht geeignet …“. In: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich NF 62/1996/2, 555–584. 233 Vgl. Gesetz vom 27. Juli 1871 in Betreff der Regelung der polizeilichen Abschaffung und des Schubwesens, RGBl. 1871/88; Heindl/Saurer: Grenze; Heinrich Demahl: Die Grundsatzgesetze über das Schubwesen, die Polizeiaufsicht und die Zwangsarbeits- und Zwangserziehungsanstalten. Öffentliche Sicherheit 9/1929/1, 5f.; Reiter: Ausgewiesen. 234 Vgl. auch Kimmel: Rechtslexikon, 9–13. 235 Vgl. etwa ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 192.858–GD2/1932: Der Generalkommissär für die Reform der Verwaltung und den Abbau der Lasten; ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 137.123–6/1935, Grundzahl 113.786/1935: Heimatge-
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Neben Abschiebung und Abschaffung standen verschiedene Formen der Arbeitszuweisung durch die Gemeinde und der Zwangsarbeit zur Disposition. Bereits das Gesetz von 1885 erlaubte es, Bettler/innen und Landstreicher/innen nach Abbüßung ihrer Haftstrafe bis zur Besserung, jedoch für maximal drei Jahre, in eine Zwangsoder Besserungsanstalt einzuweisen.236 Das Arbeitshausgesetz von 1932 ersetzte diese Bestimmungen. Es bezog sich zum einen auf Personen über 18 Jahre, die aufgrund des Landstreichereigesetzes verurteilt worden waren und die „an einen rechtschaffenen und arbeitsamen Lebenswandel“ gewöhnt werden sollten, zum anderen auf Personen, die mindestens zwei Freiheitsstrafen verbüßt hatten, zu mindestens sechsmonatiger Freiheitsstrafe verurteilt worden waren und denen „eine eingewurzelte Abneigung gegen einen rechtschaffenen und arbeitssamen Lebenswandel“ zugeschrieben wurde. Die Unterbringung in einem Arbeitshaus sollte so lange währen, bis Besserung eingetreten war, jedoch nicht länger als drei Jahre bei Verstößen gegen das Landstreichereigesetz und fünf Jahre in Anschluss an mehrmalige Haftstrafen.237 Maßnahmen der Zwangsarbeit bestanden also zu Zeiten der Monarchie wie in den Jahren der Ersten Republik und des Austrofaschismus.238 Sie wurden auch von den Behörden des Roten Wien genutzt. Die Erziehungsanstalt der Stadt Wien in Eggenburg, in der Jugendliche – anders als in herkömmlichen Zwangsarbeitsanstalten239 – nicht nur zur Arbeit, sondern zum Beruf erzogen werden sollte, stellte sogar einen besonderen Stolz der sozialistischen Stadtregierung dar.240 Insgesamt setznovelle 1935. Niederschrift über die Länderkonferenz in Salzburg (Landeshauptmannschaft) am 29. und 30. April. 236 Vgl. Gesetz vom 24. Mai 1885, betreffend die Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten, RGBl. 1885/90. Vgl. dazu Sonja Hinsch: Von Arbeitslosen und Arbeitsscheuen. Die Herstellung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Formen von Nicht-Arbeit in Zwangsarbeitsanstalten, Besserungsanstalten und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (Österreich 1918–1938). In: Jahrbuch für Regionalgeschichte 33/2015, 93–114; dies.: They were ‚Improved‘, Punished and Cured. The Construction of ‚Workshy‘, ‚Industrious‘ and (Non-)Compliant Inmates in Forced Labour Facilities in Austria between 1918 and 1938. In: Waltraud Ernst (Hg.): Work, Therapy, Psychiatry and Society, c. 1750–2010. Manchester 2016, 262–276. 237 Vgl. Bundesgesetz vom 10. Juni 1932 über die Unterbringung von Rechtsbrechern in Arbeitshäusern, BGBl. 1932/167. 238 Vgl. Hannes Stekl: Österreichs Zucht- und Arbeitshäuser 1671–1920. Wien 1978; Melinz: Fürsorgepolitik(en), 243; Ernst Seelig: Das Arbeitshaus im Land Österreich. Zugleich ein Beitrag des Strafrechts im Großdeutschen Reich (Sicherheitsverwahrung und Arbeitshaus). Graz 1938. Zu ähnlichen Einrichtungen in Deutschland siehe etwa Ayaß: Arbeitshaus Breitenau; Beate Althammer: Functions and Developments of the Arbeitshaus in Germany: Brauweiler Workhouse in the Nineteenth and Early Twentieth Centuries. In: Gestrich/King/Raphael: Being Poor, 273–297. 239 Dazu kritisch Eduard von Liszt: Korneuburg, seine Erziehungs- und Zwangsarbeitsanstalt. Heidelberg 1929. 240 Vgl. etwa Organisation und Wirkungskreis der städtischen Jugendfürsorge. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien 22/1923/235–236, 20–28; Johann Heeger, Leiter der Erzie-
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waren Einweisungen in Zwangsarbeitsanstalten oder Arbeitshäuser jedoch kein Massenphänomen.241 Angesichts der mit der Weltwirtschaftskrise einhergehenden Arbeits- und Erwerbslosigkeit sei es neuerlich schwieriger, beklagte die Polizei, Arbeitsscheue von Arbeitslosen zu unterscheiden. Während des Ständestaates wurden sozialstaatliche Ansprüche weiter beschränkt.242 Zugleich erachteten die politisch Verantwortlichen die bisherigen Repressivmaßnahmen als ungenügend. Man beabsichtigte, wie es auf einer der vier zwischen 1935 und 1936 zur Reform des Heimatrechts abgehaltenen Länderkonferenzen hieß: „[D]ie Spreu vom Weizen zu scheiden, oder die Arbeitslosen von den Arbeitsscheuen.“243 Im Mittelpunkt standen dabei vor allem jene Armen, die sich außerhalb ihrer Zuständigkeitsgemeinde aufhielten und Unterstützung beanspruchten. Man unternahm neuerlich einen Versuch, das Wandern in geordnete Bahnen zu lenken, wobei infrage gestellt wurde, inwiefern für Arme das Prinzip der Freizügigkeit überhaupt gelten sollte. Ein Sprecher auf einer dieser Konferenzen bemerkte, „wer kein Geld hat, soll zuhause bleiben“.244 Die Heimatgesetznovelle von 1935 regelte die temporäre Unterstützung von Armen außerhalb ihrer Heimatgemeinde. Sie ermöglichte jedoch auch den Ortsgemeinden, jene Personen, die um Unterstützung ansuchten, aber den nun obligaten Unterstützungsausweis nicht vorwiesen oder aus eigener Schuld nicht vorweisen konnten, unabhängig von einer allfälligen strafgerichtlichen Ahndung, mit Arrest von drei Tagen bis zu sechs Wochen zu bestrafen. Auf dieselbe Weise konnten umherziehende Personen bestraft werden, hungsanstalt der Stadt Wien in Eggenburg: Verwahrloste Jugend und Anstaltserziehung. In: Blätter für das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien 24/1925/251, 81–84; Wennet (MAbt 55): Zwangsarbeits- und Besserungsanstalten für Wien und Niederösterreich. In: Öffentliche Sicherheit 2/1922/1, 6f.; Die Erziehungsanstalt der Stadt Wien in Eggenburg. Geschichte, Entwicklung und Einrichtungen der Anstalt. In: Österreichische Gemeinde-Zeitung. Offizielle Zeitschrift des „Deutschösterreichischen Städtebundes“ 3/1926/12, 399–413; Byer: Rassenhygiene, 172. 241 Vgl. etwa Seelig: Arbeitshaus, 81, 85, 112. 242 Vgl. Emmerich Tálos: Sozialgesetzgebung im Zeichen politischer Umbrüche. In: Harald Steindl (Hg.): Wege zur Arbeitsrechtsgeschichte. Frankfurt/Main 1984, 415–439; ders.: Sozialpolitik; Walter Schrammel: Arbeits- und sozialrechtliche Reformen im Austrofaschismus. In: Ilse ReiterZatloukal, Christiane Rothländer, Pia Schölnberger (Hg.): Österreich 1933–1938. Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime. Wien, Köln, Weimar 2012, 181–193. 243 So Ignaz Ruber auf der Landeskonferenz in Salzburg. Vgl. ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 137.123–6/1935, Grundzahl 113.786/1935: Heimatgesetznovelle 1935. Niederschrift über die Länderkonferenz in Salzburg (Landeshauptmannschaft) am 29. und 30. April 244 So der Vertreter Tirols, Vizedirektor Franz Fischer, auf der Landeskonferenz in Salzburg. Vgl. ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 137.123–6/1935, Grundzahl 113.786/1935: Heimatgesetznovelle 1935. Niederschrift über die Länderkonferenz in Salzburg (Landeshauptmannschaft) am 29. und 30. April.
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a) die bei einer anderen Ortsgemeinde als der ihres dauernden Aufenthaltes eine Unterstützung ansprechen, obgleich sie nicht bedürftig sind oder nur dadurch bedürftig wurden, daß sie eine ihnen gebotene angemessene Arbeitsgelegenheit nicht angenommen haben; b) die eine von ihnen anläßlich der Verabreichung einer Unterstützung durch eine solche Ortsgemeinde verlangte Leistung angemessener Arbeiten ablehnen; c) die mit der ihnen von einer solchen Ortsgemeinde verabfolgten Unterstützung Mißbrauch treiben.245
Ein Einspruch gegen ein solches Verwaltungsstraferkenntnis war nicht möglich. Personen, die eine solche Arreststrafe verbüßten, „konnten dazu verhalten werden, Häftlingskleidung zu tragen. Sie dürfen sich nicht selbst verköstigen und müssen die ihnen zugewiesenen Arbeiten verrichten; zu Außenarbeiten dürfen sie auch ohne ihre Zustimmung verwendet werden“.246 Zur Umsetzung der Novelle konnten „besondere Anstalten“ geschaffen werden. Die Einrichtung von Zwangsarbeitslagern zu diesem Zweck schien allerdings den meisten Bundesländern zu kostspielig.247 Zudem war Arbeit knapp, wurde argumentiert, und sollte deshalb nicht an Arbeitsscheue vergeben werden. Lediglich das Bundesland Oberösterreich richtete 1935 ein Haftlager in Schlögen für ca. 300 Personen ein.248 Die Insaßen waren entweder bei landesweiten Razzien aufgegriffen oder vom Bürgermeister ihrer Zuständigkeitsgemeinde wegen Arbeitsscheu oder Ärgernis erregenden Verhaltens eingewiesen worden. Im August 1935 wurden in Oberösterreich 915, im Oktober 478, im Februar des Folgejahres 651 Personen aufgegriffen und registriert. Personen, die nicht nach Oberösterreich zuständig waren, wurden in ihr Bundesland abgeschoben, Familienväter nach Hause geschickt. Insgesamt 738 Personen waren bis zum Mai 1936 im Haftlager interniert, 247 davon auf Antrag ihrer Heimatgemeinde. Sie wurden im Straßenbau, im Steinbruch und bei archäologischen Grabungen eingesetzt. Nach der Entlassung wurden manche beim Arbeitsdienst oder in Privatbetrieben untergebracht. Andere erhielten ein Wanderbuch, um Arbeit zu suchen.249 Über dieses „Bettlerlager“ 245 Bundesgesetz, mit dem ergänzende grundsätzliche Bestimmungen zum IV. Abschnitt des Gesetzes, betreffend die Regelung der Heimatrechtsverhältnisse, R. G. Bl. Nr. 105/1863, erlassen werden (Heimatrechtsgesetznovelle 1935), BGBl. 1935/199; § 28 c; Bundesgesetz, wirksam für die Länder Kärnten, Salzburg, und Vorarlberg, zur Ausführung der grundsätzlichen Bestimmungen der Heimatgesetznovelle 1935, B. G. Bl. Nr. 199/1935, BGBl. 1935/313. 246 Bundesgesetz, mit dem ergänzende grundsätzliche Bestimmungen zum IV. Abschnitt des Gesetzes, betreffend die Regelung der Heimatrechtsverhältnisse, R. G. Bl. Nr. 105/1863, erlassen werden (Heimatrechtsgesetznovelle 1935), BGBl. 1935/199; § 28 c (4) und (5). 247 Etwa Julius Axmann auf der Länderkonferenz in Wien ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2: Geschäftszahl 216.773–6/1935, Grundzahl 113.786/1935: Heimatgesetznovelle 1935, Länderkonferenz am 15. und 16. Oktober 1935 in Wien. Vgl. Wadauer: Ökonomie, 567f. 248 Gesetz vom 9. Juli 1935 betreffend die Ergänzung der Bestimmungen der Armengesetznovelle 1935, Landesgesetzblatt für Oberösterreich, 1935/24 (Haftlagergesetz 1935). 249 Da die Insassen des Bettlerlagers nicht freiwillig arbeiteten und Zwangsarbeit keinen Anspruch auf
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wurde in den Medien viel berichtet, es wurde als „Hohe Schule“250 der Arbeit propagiert. Die nun in Österreich verbotene Arbeiter-Zeitung hatte es hingegen als „Konzentrationslager für wandernde Arbeitslose“ kritisiert.251 Die Verwaltungsakten des Haftlagers sind fast vollständig in Verlust geraten.252 Verfügbar sind lediglich die Darstellung durch die oberösterreichischen Behörden253 sowie vereinzelte Berichte über Besichtigungen der Einrichtung durch Beamte aus anderen Bundesländern.254 In der Präsentation des Lagers wurde immer wieder betont, dass es sich um eine Maßnahme handelte, die sich selbstverständlich nicht gegen „unverschuldet in Armut gekommene Leute“ richtete, „sondern nur gegen den Mißbrauch des Bettelns, gegen Ungebührlichkeiten und Unverschämtheiten, wie sie dem beinahe professionell ausgeübten Landstreichertum vielfach zukommen, und gegen arbeitsscheue Individuen, die die Gesellschaft auf die Dauer gefährden“.255 Das Lager verfolge einen dreifachen Zweck, nämlich: die soziale Befürsorgung der teilweise aus eigenem Verschulden oder aus sozialer Not auf die Straße getriebenen Armen, eine Entlastung der Gemeinden von den auf ihnen lastenden Armen- und Schubkosten und die Entlastung der Bevölkerung und des Fremdenverkehrs von der Landstreicherplage. Da das Gesetz alle sozialen Härten vermeidet und nur die Mißbräuche des Bettelns und der Landstreicherei betrifft, wird es sicherlich allgemein begrüßt werden.256
Benutzung der Herbergen begründete, wurden diese Wanderbücher in Niederösterreich infrage gestellt. Der oberösterreichische Landrat Loidl betonte demgegenüber in seinem Schreiben an den zuständigen Landrat von Niederösterreich, dass das Haftlager Schlögen doch eher ein Arbeitslager für „Zwangsbettler“ sei. Vgl. NÖLA, NÖ Landesregierung (s. W.), Gruppe XI, Stammzahl 578/1935: Wanderbücher der aus dem o. ö. Bettlerlager Entlassenen. 250 Vgl. Ganglmair: Schule von Schlögen; Jagschitz: Anhaltelager, 135. 251 Konzentrationslager für wandernde Arbeitslose. In: Arbeiter-Zeitung (Brünn) 2/23.6.1935/25, 5. Vgl. Ein Gesetz gegen wandernde Arbeitslose und Der Raub an den Arbeitslosen. In: Arbeiter-Zeitung 2/9.6.1935/23, 1–3; Es gibt keine Klassengegensätze. In: Arbeiter-Zeitung (Paris) 3/1.2.1938/3, o. S. (Tagblattarchiv). Zur Bettlerverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland siehe Ayaß: Wanderer und Nichtseßhafte. 252 Vgl. OÖLA, Autonome Landesverwaltung, Akten, V144/1934, Sammelakt: Haftlager Schlögen. 253 Vgl. ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Geschäftszahl 160.442–6/1936, Grundzahl 126.964/1936: Heimatgesetznovelle 1936. Ergebnis der Länderkonferenz vom 22. und 23. Mai 1936: Bericht des Herrn Sicherheitsdirektors Peter Graf Revertera in der Länderkonferenz am 22. Mai 1936. 254 Vgl. etwa KLA, Präsidium, Sch. 712, Zl. 5.242/1938. 255 Bettlerhaftlager in Oberösterreich. In: Tagblatt. Organ für die Interessen des werktätigen Volkes 20 (39)/5.7.1935/153, 1 (Hervorhebungen im Original). 256 Zwangsarbeitslager für unbefugte Bettler. Eine befreiende Tat Oberösterreichs. In: Linzer Volksblatt 67/5.7.1935/153, 2.
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Das Lager sei also, so Oberregierungsrat Hamberger, „etwa zu 20 % Strafe und zu 80 % Fürsorge“.257 Es sollten, wurde in Aussicht gestellt, „in Hinkunft nur mehr jene Armen und Erwerbslosen“ um Almosen „vorsprechen können, die wirkliche Armut und Arbeitslosigkeit zwingt, ihr bitteres Brot auf der Landstraße zu suchen“.258 Es ging bei den Maßnahmen, wie eine Zeitung titelte, um die „unbefugten Bettler“.259 Als einziges weiteres Bundesland richtete Wien 1935 eine ähnliche Anstalt mit zunächst 150 Betten ein, nicht ein Haftlager, jedoch eine Bettlerbeschäftigungsanstalt als „Sammel- und Sichtungsstelle“.260 Auch hierzu ist kaum Quellenmaterial überliefert. Zwischen 1935 und 1937 wurden insgesamt 2.574 Männer und 326 Frauen durch die Polizei eingewiesen.261 Diese mussten, wie es hieß, bis zur Vermittlung eines Arbeitsplatzes in der Anstalt bleiben und wurden in der Zwischenzeit gegen Kost, Unterkunft und eine kleine Entschädigung „entsprechend beschäftigt“.262 Die Bettlerbeschäftigungsanstalt sollte gerade kein Arbeitslager sein.263 Der Unterschied zum oberösterreichischen Bettlerlager bestünde darin, betonte der Wiener Bürgermeister Richard Schmitz, dass dort eine „eine Art Zwangsarbeit“ geleistet werden musste. „In Oberösterreich werden zum Beispiel Straßenbauten gemacht.“ In Anbetracht der Wiener Verhältnisse sei jedoch jede Arbeit, die für richtiggehende Vollarbeiter in Betracht kommt, den arbeitslosen, den arbeitswilligen und arbeitsfähigen Menschen vorzubehalten und nicht von Stromern auszuführen. Für diese kommen nur Arbeiten in Betracht, die sich normalerweise nicht lohnen, die daher nur zusätzliche Arbeiten sind, damit diese Leute eben irgendwie beschäftigt werden. So ist es zum Beispiel nicht lohnend, wenn man alte Pflastersteine in die Größe von Kieseln bringen muß; das ist keine lohnende Beschäftigung, aber eine Beschäftigung ist es.264 257 ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, zur Zl. 160.442–6/1936: Niederschrift über die vom Bundeskanzleramt ausgeschriebene Länderkonferenz in Linz, Landhaus am 22. und 23. Mai 1936. 258 Zwangsarbeitslager, 2. 259 Zwangsarbeitslager, 2. 260 Es handelte sich um eine Abteilung des Obdachlosenheimes, d. h. des ehemaligen Asyl- und Werkhauses. Vgl. Kauer: Asyl und Werkhaus; Decker: Asyl- und Werkhaus. 261 Vgl. ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Grundzahl 131.245–6/1938, Geschäftszahl A. E. 131.245–6/1938: Bettlerunwesen, Bekämpfung. Wiener Magistrat Abt. 16 an das Bundeskanzleramt (Inneres) Abt. 6, Wien am 4. März 1938. 262 Das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien. Geschichte, Entwicklung, Aufbau und Einrichtungen mit besonderer Berücksichtigung der Neuschöpfungen unter Bürgermeister Richard Schmitz in den Jahren 1934–1936. Wien 1937, 8. 263 Wie etwa im Ministerrat gefordert. Vgl. Protokoll des Ministerrates 984 – 1935–02–20, 296–298 und Protokoll 985 – 1935–03–01, 312f. In: Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik. Abteilung IX. 29. Juli 1934 bis 11. März 1938. Wien 1993, Bd. 2. 264 WStLA, Vertretungskörper Bürgerschaft B2/2, 1935: Stenographischer Bericht über die 33. nicht-
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Die Beschäftigung der Bettler/innen sollte „den Arbeitsmarkt nicht in Mitleidenschaft ziehen“.265 Dieses Argument führten auch Beamte anderer Bundesländer ins Treffen, welche die Einrichtung von Haftlagern deshalb und aus Kostengründen ablehnten. Verwaltungstechnisch ungelöst blieb auch im Austrofaschismus das bereits in den 1920er Jahren immer wieder formulierte Problem der erwerbsunfähigen, aber nicht „fürsorgewilligen“ Bettler/innen, die sich „planmäßig“ der Versorgung entzogen und somit als „böswillig“ galten.266 Von der Polizei aufgegriffen und in die Versorgungshäuser überstellt, gingen diese Leute wenige Tage später einfach wieder davon, stellte Bürgermeister Schmitz fest, und wir haben heute noch nicht die Möglichkeit, sie von Gesetzes wegen dazu zu verhalten, daß sie im Versorgungshause bleiben. Das ist ein Ringelspiel, das natürlich die Polizei ermüdet und die Wirkung der Bekämpfung der Bettlerplage immer wieder reduziert. Es sind aber Bemühungen im Gange, um die gesetzlichen Voraussetzungen zu schaffen, damit man diesem Mißbrauch auch gegen den Willen solcher Menschen steuern kann. Ein Erwerbsunfähiger kann keinen höheren Anspruch stellen, als den versorgt zu sein. Wenn er aber versorgt wird und trotzdem durchgeht, dann muß man Mittel in die Hand bekommen, um ihn daran zu hindern.267
Setzte man nun alle zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel mit möglichster Härte ein, um jede Form des Bettelns zu unterbinden, so hatte man, wie auch die Polizeidirektion klagte, gegen die Erwerbsunfähigen, Haftunfähigen, Schubunfähigen keinerlei rechtliche Mittel.268
öffentliche Sitzung der Wiener Bürgerschaft vom 22. November 1935, 1111–1213, hier 1116f.; siehe auch WStLA, Vertretungskörper Bürgerschaft B2/3, 1936: Stenographischer Bericht über die 54. (öffentliche) Sitzung der Wiener Bürgerschaft vom 17. Dezember 1936, 413–607, hier 550–565; Das Wohlfahrtswesen der Stadt Wien, 8. 265 WStLA, Vertretungskörper Bürgerschaft B2/2, 1935: Stenographischer Bericht, nicht-öffentliche Sitzung Wiener Bürgerschaft, 22. November 1935, 1118; Die Wiener Aktion gegen den Straßenbettel. In: Volkszeitung, 19.11.1935/320, 5. 266 ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Grundzahl 131.245–6/1938, Geschäftszahl A. E. 131.245–6/1938: Bettlerunwesen, Bekämpfung. Bundespolizeidirektion Wien an das Bundeskanzleramt, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit Abt. 2 in Wien, Wien 21., Oktober 1937. 267 WStLA, Vertretungskörper Bürgerschaft B2/2, 1935, 992–1101: Stenographischer Bericht über die 28. nicht-öffentliche Sitzung der Wiener Bürgerschaft vom 28. Juni 1935, hier 1014f. 268 So etwa ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2 Grundzahl 131.245–6/1938, Geschäftszahl A. E. 131.245–6/1938: Bettlerunwesen, Bekämpfung. Briefe der Bundes-Polizeidirektion in Wien an BKA, Generaldirektion für die öffentliche Sicherheit Abt. 2 vom 21. Mai 1937 und 21. Oktober 1937.
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Umstrittene Lebensunterhalte
Umherziehen, Bettelei und Erwerbe, die nur ein Deckmantel für Bettelei269 oder überhaupt kriminell zu sein schienen,270 wurden in der zeitgenössischen Literatur, aber ebenso in historischer Forschung oft mit Zigeuner/inne/n assoziiert, manchmal mit der Beschäftigung von Zigeuner/inne/n gleichgesetzt.271 Zweifellos findet sich all dies auch in den Archivalien, die sich explizit mit Zigeuner/inne/n befassten.272 In den hier skizzierten Auseinandersetzungen tauchen Zigeuner/inne/n als ein Element in der Vielfalt der Umherziehenden auf:273 als „Wandervolk“,274 das nicht nur Sesshaftigkeit,275 sondern auch redliche Arbeit vermied,276 das unter Generalverdacht stand277 und nicht als bedürftig anerkannt werden sollte. In den von mir untersuchten sozialpolitischen Debatten nahmen Zigeuner/innen jedoch nur eine geringe Rolle ein. In den genannten Länderkonferenzen der Jahre 1935 und 1936 thematisierten lediglich Vertreter des Burgenlandes Zigeuner/innen, was wenig verwunderlich ist, nachdem zumindest laut Volkszählung 1934 6.507 von 7.026 Personen, die in Österreich als Zigeuner/innen registriert waren, dort lebten.278 Die auffindbaren Gerichtsakten zum Landstreichereigesetz enthalten nur eine kleine – allerdings angesichts 269 Vgl. Otto Landa: Die Landstreicherei. In: Allgemeine Österreichische Gerichts-Zeitung 56/ 1905/35, 277f., hier 277. 270 Vgl. Herz: Arbeitsscheu, 37f.; Karl-Heinz Osang: Der Begriff der Landstreicherei. Dissertation, Hamburg 1933, 9; Schöffel: Institution der Natural-Verpflegs-Stationen, 5; Hoegel: Straffälligkeit, 8; Rotering: Arbeit, 198–223, 207; Robert Ritter: Zigeuner und Landfahrer. In: Bayerischen Landesverband für Wanderdienst, Bayerischen Staatsministerium des Innern (Hg.): Der nichtseßhafte Mensch. Ein Beitrag zur Neugestaltung der Raum- und Menschenordnung im Großdeutschen Reich. München 1938, 71–88; Rupert Baumgartner: Erinnerungen aus dem Tagebuch des Gendarmerie-Abteilungs-Inspektors i. R. Salzburg 1925, 8f. 271 Vgl. Florian Freund: Oberösterreich und die Zigeuner. Politik gegen eine Minderheit im 19. und 20. Jahrhundert. Linz 2010; ders.: Zigeunerpolitik im 20. Jahrhundert. Unveröff. Habilitationsschrift, Wien 2003, 2 Bde. Kritisch dazu etwa Lucassen: Eternal Vagrants. 272 Vgl. etwa ÖStA, AdR, BKA Inneres, Allgemein 20/2, Grundzahl 108.881/1931: Zigeunerunwesen. 273 Vgl. Erwin Sorger: Landstreicher. In: Öffentliche Sicherheit 16/1936/10, 19. 274 Rudolf Waltisbühl: Die Bekämpfung des Landstreicher- und Landfahrertums in der Schweiz. Eine Untersuchung der rechtlichen und soziologischen Stellung der Nichtseßhaften in der Schweiz. Dissertation, Aarau 1944, 2. 275 Vgl. Mayer: Wandertrieb, 16; Ferdinand Tönnies: Soziologische Studien und Kritiken. Zweite Sammlung. Jena 1926, 28. 276 Die Bekämpfung der Zigeunerplage in der Tschechoslowakei. In: Öffentliche Sicherheit 8/1928/7, 7; Hans Werth, Gendarm in Lackenbach, Burgenland: Das Zigeunerunwesen im Burgenland. In: Öffentliche Sicherheit 2/1922/11–12, 11f. 277 Karl Korinek: Kontrolle der herumziehenden Zigeuner durch Sicherheitsorgane. In: Öffentliche Sicherheit 4/1924/21–22, 19; Karl Otter: Zigeuner in Wien. In: Öffentliche Sicherheit 13/1933/6, Beilage: Der Kriminalbeamte, 18. 278 Die Ergebnisse der Österreichischen Volkszählung vom 22. März 1934, Tabellenheft. Wien 1935 (= Statistik des Bundesstaates Österreich 2), 18f.
Gerichtsakten und Datensatz
103
des Anteils an der Bevölkerung insgesamt wiederum verhältnismäßig große – Anzahl höchst heterogener Fälle, die sich auf Personen bezogen, die als Zigeuner/innen kategorisiert wurden. Ob es sich um Roma/Romnija, Sinti/Sintize, Jenische oder allgemeiner um umherziehende Personen handelte, ist nicht feststellbar. In meiner Untersuchung wird diese Zuschreibung deshalb als nur ein Aspekt unter vielen behandelt.
II.2 Gerichtsakten und Datensatz Im vorangegangenen Abschnitt wurden die Entwicklung der Kategorien von Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche und Landstreicherei, die Veränderungen polizeilicher und sozialpolitischer Debatten und Maßnahmen, der Hilfs- und Disziplinierungseinrichtungen erläutert und deren Gebrauchsweisen auf der Grundlage von Statistiken diskutiert. Wie aber wurde praktisch zwischen legitimen und illegitimen oder strafbaren Nichtarbeiten unterschieden? Welche Tätigkeiten, welche Arten, sich einen Lebensunterhalt zu verschaffen, waren erlaubt, welche geduldet? Welche wurden als Zeichen von Arbeitswilligkeit gedeutet, welche als Zeichen der Vermeidung redlichen Erwerbs? Wie wurde über Unterstützungswürdigkeit oder Kriminalisierung entschieden? Wie gingen jene, die keine Arbeit und nahezu nichts zum Leben hatten, mit der Situation um? Wie suchten und bestritten sie ihre Existenz? Wie begegneten sie den möglichen Konsequenzen ihres Tuns? Wie rechtfertigten sie sich? Am Beispiel von Gerichtsakten279 zum Landstreichereigesetz lassen sich die Auseinandersetzungen um legitime Lebensunterhalte, um Grenzziehungen und -verwaltungen zwischen redlichem und unredlichem Lebenswandel konkret untersuchen. Sie dokumentieren jene Fälle, in denen Personen, die weder über Arbeit noch über Mittel verfügten, zu Angeklagten wurden. Sie erlauben, zu beobachten, wie Aktenfälle gemacht, Anzeigen begründet, Anklagen erhoben, Urteile gefällt wurden. Nicht jede unerlaubte Handlung wurde von den Exekutivbehörden wahrgenommen, registriert und angezeigt, wie an vielen lebensgeschichtlichen Texten und Gerichtsakten zu sehen ist. Beamte von Polizei und Gendarmerie nahmen zunächst oft von einer Anzeige Abstand und beschränkten sich darauf, die Angehaltenen zu verwarnen. Selbst wenn sie diese registrierten, zeigten sie sie nicht zwangsläufig bei Gericht an, beließen es bei der Beanstandung. Delinquent/inn/en wurden womöglich, wie bereits ausgeführt, 279 Zur Verwendung von Gerichtsakten in der historischen Forschung vgl. etwa Rebekka Habermas: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/ Main, New York 2008; dies., Gerd Schwerhoff: Vorbemerkung. In: Dies. (Hg.): Verbrechen im Blick. Perspektiven der neuzeitlichen Kriminalitätsgeschichte. Frankfurt/Main, New York 2009, 9–16; Joachim Eibach: Kriminalitätsgeschichte zwischen Sozialgeschichte und Historischer Kulturforschung. In: Historische Zeitschrift 1996/263, 681–715.
104
Umstrittene Lebensunterhalte
der Fürsorge zugewiesen, Kinder mitunter nur in die häusliche Zucht übergegen. Eine Strafverfügung konnte ohne Gerichtsverhandlung zugestellt werden. Im Ständestaat war die Inhaftierung in einem Lager auch ohne gerichtliches Urteil möglich. Nicht nur das Ausmaß, in dem Betteln und mitteloses Wandern zu Delikten wurden, auch die verfügbaren und tatsächlich getroffene Maßnahmen waren regional unterschiedlich und historisch veränderlich. Eine genauere Analyse des Verhältnisses der Maßnahmen, etwa zwischen Verwarnungen und Anzeigen, ist jedoch wegen fehlender Quellen kaum möglich.280 Friedberg
Mondsee
Ottensheim
Raab
Wildshut
Zahl der überlieferten Gerichtsakten, Verstöße gegen das Vagabundengesetz betreffend
67
64
81
235
332
Altersdurchschnitt
+
–
–
+
–
Anteil an Frauen
+
–
–
–
+
Ledige
+
+
+
+
–
Ungelernte Arbeitskräfte
+
–
–
–
+
Unstet
+
+
+
+
–
Ausländer/innen
–
+
+
+
–
Daktyloskopie
–
+
+
≈
–
Beschuldigung der Vagabundage
+
+
+
+
–
Landwirtschaft im Bezirk281
+
+
+
+
+
Industrie
–
≈
–
–
–
Gerichtsbezirk
Tabelle 3: Übersicht ausgewählter Merkmale der Beschuldigten bzw. der überlieferten Gerichtsfälle aus einzelnen Gerichtsbezirken + überdurchschnittlicher Wert oder Anteil – unterdurchschnittlicher Wert oder Anteil ≈ (ungefähr) durchschnittlicher Wert oder Anteil282
280 Vgl. dazu Wadauer: Betteln. 281 Die letzten beiden Zeilen beziehen sich auf eine bislang nicht publizierte Untersuchung der Volkszählung 1934 und der Betriebszählungen 1930 in Österreich durch Alexander Mejstrik; zu einer ähnlichen Untersuchung für Niederösterreich vgl. ders.: Berufsstatistisches Niederösterreich. 282 Der Durchschnitt bezieht sich auf das Gesamtsample von 874 Akten. Hier werden nur jene fünf Gerichtbezirke dargestellt, aus denen eine größere Zahl an Akten überliefert wurde. Für eine detaillierte Erläuterung dieser Tabelle siehe Wadauer: Usual Suspects.
Gerichtsakten und Datensatz
105
Auch die Gerichtsakten, auf denen diese Untersuchung beruht, sind nur selektiv überliefert. Insgesamt konnte ich für den Zeitraum von 1918 bis zum März 1938 874 Gerichtsakten betreffend Übertretungen des Landstreichereigesetzes ausfindig machen. Sie stammen aus Beständen des Landesarchivs Oberösterreich (Bezirksgericht [BG] Kremsmünster 1936, BG Markt St. Florian 1938, BG Mondsee 1933–1935, BG Ottensheim 1933–1935, BG Raab 1929–1938, BG Ried 1930, BG Steyr 1934, BG Wildshut 1922–1937), des Niederösterreichischen Landesarchivs (BG Neulengbach 1930–1937, BG Tulln 1938), des Wiener Stadt- und Landesarchivs ( Jugendgerichtshof 1920–1925), des Burgenländischen Landesarchivs (BG Jennersdorf 1924–1932) und des Steiermärkischen Landesarchivs (BG Friedberg 1937, BG Oberwölz 1937). Mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland handelte es sich um Bundesländer, in denen Herbergen für wandernde Arbeitsuchende etabliert waren. Die weitaus größte Zahl der verfügbaren Akten stammt aus Oberösterreich und zum überwiegenden Teil aus ländlichen, agrarisch geprägten Regionen. Besonders gut dokumentiert sind die Gerichtsbezirke Wildshut und Raab, eine größere Zahl an Akten ist auch aus Mondsee und Ottensheim sowie aus dem Gerichtsbezirk Friedberg (Steiermark) überliefert (siehe Tabelle 3). In anderen Fällen sind nur einzelne Dokumente erhalten. Es mangelt insgesamt an Akten aus größeren Städten, Industrieregionen und alpinen Gebieten. Allerdings sind auch die vorhandenen Gerichtsfälle keineswegs homogen. Eine erste quantitative Analyse eines Samples der insgesamt zur Verfügung stehenden Akten nach nur einigen wenigen Kriterien (Anklage, Alter, Geschlecht, Ehestand, Beruf, Staatsbürgerschaft, Wohnsitz und Heimatrecht der Beschuldigten, Daktyloskopie/Abnahme von Fingerabdrücken) zeigte selbst in einem regional begrenzten Rahmen Unterschiede zwischen den einzelnen Gerichtsbezirken283 (siehe Tabelle 3). Zwar war in jedem Gerichtsbezirk eine große Variation an Fällen gegeben, manche Praktiken schienen aber in bestimmten Gerichtsbezirken häufiger auf als in anderen, die Beschuldigten waren nicht überall gleich. Im Gerichtsbezirk Wildshut etwa waren unter den Angeklagten – im Vergleich mit deren Gesamtdurchschnitt – überdurchschnittlich viele jüngere Frauen, Hilfsarbeiter und verheiratete Personen mit Wohnsitz. Viele Beschuldigte kamen aus dem nahegelegenen Ort Oberndorf. Eine größere Zahl der aktenkundigen Personen war in den Orten Hackenbuch und Bürmoos ansässig, die nach Zusammenbruch der Ziegel- und Glasindustrie außerordentlich hohe Arbeitslosenraten aufwiesen. So waren im Winter 1930 in Bürmoos 480 der 900 Einwohner/innen arbeitslos.284 Ziegelei, Torfstich und Arbeitsprogramme boten Mitte der 1930er Jahre nur saisonale Beschäftigung für eine begrenzte Zahl der 283 Dazu genauer: Wadauer: Usual Suspects. 284 Vgl. Friedrich Lepperdinger: Bürmoos. Eine Gemeindesoziologie in zwei Teilen. Bd. I.: Das Glasbläserdorf. Salzburg 1971, 83.
106
Umstrittene Lebensunterhalte
lokalen Bevölkerung. Die Angeklagten waren überdurchschnittlich oft österreichischer oder tschechischer Nationalität, deutsche Staatsbürger/innen kamen trotz der Nähe zu Deutschland kaum vor. Bei den Personen mit tschechischer Staatsbürgerschaft handelte es sich nicht unbedingt um Durchreisende, sondern eher um in zweiter oder dritter Generation ansässige Personen. Der böhmische Unternehmer Ignaz Glaser hatte im späten 19. Jahrhundert Arbeitskräfte aus Böhmen für seine Fabriken in Hackenbuch und Bürmoos rekrutiert.285 Im (wesentlich selektiver erhaltenen) Aktenbestand des Gerichtsbezirks Mondsee hingegen scheinen viele junge, ledige Männer ausländischer Herkunft mit qualifizierten Berufen auf. Im Burgenländischen Landesarchiv sind hauptsächlich Strafakten von Zigeuner/inne/n überliefert. Wie aus den erhaltenen Akten des Gerichtsbezirks Ottensheim in der Nähe von Linz hervorgeht, wurden dort überdurchschnittlich oft Fingerabdrücke abgenommen. Die Überlieferung ist also divers und die Beschuldigten sowie die Praktiken von Polizei, Gendarmerie und Gerichten variierten. Die Datengrundlage für die spezifische multiple Korrespondenzanalyse
Aus dem insgesamt verfügbaren Aktenbestand wurde ein kleineres Sample als Datensatz für eine spezifische multiple Korrespondenzanalyse erstellt, das explorativ die vielfältigen Variationen und Kontraste der Situationen, Aussagen und Eigenschaften der Beschuldigten, der mutmaßlichen Delikte, der Verhaftungen, der involvierten ansässigen Bevölkerung, der Gendarmen, der Fürsorge, der Richter, der Staatsanwälte und der Berufungsgerichte möglichst detailliert erfassen sollte. Es wurde mit dem Ziel erstellt, diese Variationen und Kontraste zu maximieren, also möglichst alle wichtigen Unterschiede und Hierarchien zu erfassen. Im Folgenden erkläre ich die Zusammensetzung dieses Samples und auch die Art und Weise, wie ein Gerichtsfall erzeugt wurde, näher – was dem Verständnis der Quellenlage dienen und Auskunft über das Material, die vorhandenen Informationen, das Verwaltungsprozedere geben soll. Quantitative Aussagen beziehen sich dabei ausschließlich deskriptiv auf dieses Sample, sie dienen der Beschreibung von dessen allgemeinen Verhältnissen, die den Schwerpunkt der Punktwolken darstellen, von denen die Beobachtungen wegstreuen. Aufgrund der in den Beständen vorhandenen Vielfalt geriet das Sample groß – es umfasst 341 Beobachtungseinheiten, die über 3.239 Merkmale als Antworten (Modalitäten) auf 1.175 Fragen (Variablen) beschrieben werden. Ich muss mich deshalb hier auf einige Aspekte, die mir für das Verständnis besonders wichtig erscheinen, beschränken.
285 Vgl. Lepperdinger: Bürmoos, 44.
107
Gerichtsakten und Datensatz
Eine Beobachtungseinheit stellt einen auf eine/n Beschuldigte/n bezogenen Gerichtsakt dar, also den Zusammenhang verschiedener, auch widersprüchlicher Stellungnahmen und Praktiken. Betrifft ein Gerichtsakt mehrere Beschuldigte, wurden entsprechend viele Beobachtungseinheiten konstruiert. Oft taucht ein/e Beschuldigte/r nur einmal in den Akten auf. In einigen Fällen war es jedoch möglich, mehrere Akten zu einer Person zu finden: In 18 Fällen wurden zwei Akten zu einer Person erfasst, in vier Fällen jeweils drei bzw. vier Akten und in zwei Fällen fünf Akten. Das Sample enthält also 28 Beobachtungseinheiten, mit denen es möglich ist, eine Person – mit und ohne Wohnsitz – als Beschuldigte/n in verschiedenen zeitlichen, eventuell auch regionalen Kontexten auszumachen und die entsprechenden Beobachtungseinheiten zu vergleichen. In den meisten Fällen enthielt der Gerichtsakt nur eine Anzeige. Bei 22 Beobachtungseinheiten bezog sich die Gerichtsverhandlung jedoch auf mehr als eine Anzeige, oft auch von verschiedenen Gendarmeriekommandos, insgesamt waren 27 Gendarmerierayons involviert. Die Beobachtungseinheiten verteilen sich auf folgende Gerichtsbezirke bzw. Jahre: Gerichtsbezirk
Beobachtungseinheiten
%
BG Friedberg
7
2
BG Jennersdorf
3
1
41
12
6
2
2
1
BG Mondsee BG Neulengbach BG Oberwölz BG Ottensheim
15
4
BG Raab
155
45
BG Ried
14
4
BG Tulln
1
0
BG Wildshut
81
24
Jugendgerichtshof Wien
16
5
341
100
TOTAL
Tabelle 4: Verteilung der Beobachtungseinheiten nach Gerichtsbezirken286
286 Diese Tabellen dienen dem Überblick und der Beschreibung des Samplings. Da genauere Angaben in diesem Zusammenhang keinen Erkenntniswert hätten, wurden die Prozentangaben auf ganze Zahlen gerundet. Daraus erklären sich etwaige 0-Werte und Differenzen der Summe zu 100 %.
108 Jahr (Anzeige)
Umstrittene Lebensunterhalte Beobachtungseinheiten
%
1920
6
2
1923
3
1
1924
4
1
1925
16
5
1926
7
2
1927
1
0
1928
6
2
1929
21
6
1930
23
7
1931
12
4
1932
18
5
1933
29
9
1934
49
14
1935
51
15
1936
48
14
1937
38
11
1938
9
3
341
100
TOTAL
Tabelle 5: Verteilung der Beobachtungseinheiten nach Jahren (Gerichtsakten)
Gerichtsakten zu Übertretungen des Landstreichereigesetzes sind im Vergleich mit Akten zu anderen Übertretungen, etwa Diebstahl, wenig umfangreich.287 Der konkrete Umfang und die Bestandteile der Akten variieren jedoch – zeitlich, regional, je nach Fall. Die vorhandenen Akten betreffen fast ausschließlich die §§ 1 und 2 des Landstreichereigesetzes. Bei 310 Beobachtungseinheiten meines Samples (91 %) betraf die Anzeige Bettelei (darunter auch einmal das Ausstellen einer Bettellizenz), elf Mal (3 %) das Ausschicken zum Bettel, 155 Mal (46 %) Vagabundage. Nur zwei Beobachtungseinheiten betreffen den § 3 des Gesetzes (Nachweis eines redlichen Erwerbs). Die Anklage wegen Bettelei und Vagabundage wurde bei 43 % der Beobachtungseinheiten gleichzeitig erhoben, daneben traten auch Kombinationen mit anderen Delikten auf. In 28 Fällen (8 %) wurde auch Anzeige infolge Reversion (Rückkehr trotz Abschaffung) erstattet. Bei 13 Beobachtungseinheiten (4 %) geht es zugleich um Eigentumsdelikte (Diebstahl, Diebstahlsversuch, bedenklicher Besitz, Veruntreuung), in fünf Fällen um Betrug(sverdacht). Darüber hinaus kommen Fälle von bos287 Eine Beobachtungseinheit des Samples betrifft ausschließlich Reversion, vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 190, U17/1935; eine Unterstandslosigkeit und Ausweisleistung, vgl. WStLA, Jugendgerichtshof, A12/1, UII9/1920.
Gerichtsakten und Datensatz
109
hafter Beschädigung (4), Verletzung der Unterhaltspflicht (4), politischen Delikten (3), gefährlicher Drohung (3) sowie diversen anderen Verdächtigungen und Anschuldigungen vor (Urkundenfälschung, Einbruch, Passantenbelästigung, Körperverletzung, Erpressung etc.). Die Akten bestehen hauptsächlich aus der polizeilichen Anzeige und dem Antrag des Staatsanwaltes auf Bestrafung. Bei einer Verhaftung liegt ein Übernahmsbericht des Gefängnisses bei. Es gibt ein Protokoll der Hauptverhandlung, oder auch nur der Urteilsfindung, sowie den Bericht über den Strafvollzug im Fall der Verurteilung. Darüber hinaus können je nach Fall noch andere Dokumente wie Strafregister, Leumund, Erhebungsberichte, Geburts- und Taufzeugnis oder Briefe enthalten sein. Die polizeiliche Anzeige Das Nationale
Die polizeiliche Anzeige stand am Anfang eines Aktes und ist zugleich dessen umfangreichster Teil. In der Anzeige wurden bestimmte Informationen mehr oder minder formalisiert erfasst und beschrieben. Eine Anzeige wegen Bettelei ist im Vergleich zu Anzeigen andere Delikte betreffend kurz, und dennoch zeugt sie von einem gewissen Aufwand. Es wurde ein nach den Kriterien von Polizei, Gendarmerie und Gericht möglichst überzeugender Fall geschaffen, eine möglichst überzeugende und nachvollziehbare Darstellung der Tat geliefert, die der/dem Beschuldigten zur Last gelegt wurde.288 Die Anzeige besteht zunächst aus einem Formular, in dem das Nationale, also Angaben zum/zur Beschuldigten erfasst wurden: Name (auch Geburtsname, Rufnamen, Spitznamen, Hausnamen), Geburtsdatum und -ort, Heimatgemeinde, Staatsangehörigkeit, Glaubensbekenntnis, Familienstand, Beruf und Stellung im Beruf, letzter Aufenthaltsort, Schulbildung, Vermögensverhältnisse, Pflicht, für andere zu sorgen, Name der Eltern, bei Frauen auch der Name des Gatten, Vorstrafen, Tag und Stunde der Einlieferung in das Polizeigefängnis (den Gemeindearrest), im Falle der Entlassung durch die Sicherheitsbehörden Tag und Stunde der Entlassung. Einige Formulare erwähnen auch Zeugen und auf wessen Veranlassung die Verhaftung vorgenommen worden war. Andere Formulare gaben die detailliertere Erhebung von Schulbesuch, Familienverhältnissen, Vormundschaft und Erziehung im Fall von jugendlichen Rechtsbrecher/inne/n vor. Es handelte sich um die offiziellsten, normalisiertesten Informationen zur Person des/der Beschuldigten, was jedoch nicht bedeutete, dass sie nicht auch Widersprüche enthalten und umstritten sein konnten. Worauf diese Angaben zur Person im Einzelnen beruhten, kann meist nur indirekt geschlossen werden. Vermutlich waren es überwiegend die mehr oder minder glaubwürdigen Angaben des/der Beschuldigten. 288 Vgl. Aaron V. Cicourel: The Social Organization of Juvenile Justice. London 1976, XIII.
110
Umstrittene Lebensunterhalte
Häufig wurden sie auch mit „angeblich“ versehen. Anhand der Personendurchsuchung ist ersichtlich, welche Dokumente die Beschuldigten mit sich führten: 33 % der in dem Sample erfassten Angezeigten hatten einen Heimatschein bei sich, 8 % einen gültigen oder ungültigen Pass, 3 % eine Erkennungskarte, 3 % einen Ausweis, 8 % konnten ein gültiges oder ungültiges Wanderbuch vorweisen, 2 % ein Arbeitsbuch, 3 % einen Unterstützungsausweis (der mit der Heimatrechtsnovelle 1935 eingeführt wurde).289 Legitimationen, Sammelbücher, Quittungskarten, Mitgliedskarten sind angeführt. Mache trugen Haftbestätigungen (7 %), Taufzeugnisse (6 %), einen oder mehrere Bemühungsscheine (3 %), Arbeitsbestätigungen (11 %), Schulzeugnisse (2 %), Krankenunterlagen (3 %) mit sich. Insgesamt geht es vorwiegend um Dokumente ohne Foto und Personenbeschreibung. 9 % hatten gar keine oder unzureichende Papiere. In 34 Fällen, also 10 %, wurden Fingerabdrücke genommen. Im Fall von Angezeigten, die nicht an ein Gefängnis überstellt, sondern auf freiem Fuß angezeigt wurden, kann nicht nachvollzogen werden, wie die Identifizierung durchgeführt wurde, da die mitgeführten Besitztümer und Dokumente nicht aufgelistet wurden. Die Akten dokumentieren Täuschungsversuche wie Korrekturen, etwa im Fall des vaganten Malers ArnoldCort aus Turin, der sich als der tschechische Kellner FranzHazlbau entpuppte.290 Auch die ebenfalls unstete unbefugte Hausiererin FridaPoh, die der Gendarmerie einen falschen Namen und Wohnort angab und ihr Betteln damit rechtfertigte, dass sie fünf Kinder zu erhalten habe, wurde in weiterer Folge identifiziert, ausgeforscht und vor Gericht gestellt.291 Dabei handelt es sich um Einzelfälle. Die Angaben zur Person wurden nicht bei allen Verhafteten in Zweifel gezogen, überprüft und/oder widerlegt. Manche der Angaben schienen (aus Sicht der Behörden und scheinen auch aus Sicht der Historikerin) glaubwürdiger oder zumindest weniger fragwürdig und problematisch als andere. Unabhängig davon stellten die Angaben, auch wenn sie nicht in Zweifel gezogen wurden, keine Abbildungen von Personen oder Praktiken dar, sondern manifestierten die einer bestimmten Logik unterliegende konsensuelle/konfliktive Herstellung von Informationen in Verwaltungszusammenhängen (aber nicht ausschließlich durch Beamte). Den Verurteilungen wegen Übertretung des Landstreichereigesetzes insgesamt entsprechend, enthält das Sample einen größeren Anteil von Männern (81 %) als von Frauen (19 %). Der Großteil der Angezeigten (63 %) war im Alter zwischen 19 und 39 Jahren. In 22 Fällen handelte es sich um explizite Jugendgerichtsfälle. Wie bereits erläutert, sind Aussagen über die Verteilung von Berufen bzw. Erwerbstätigkeiten der 289 Vgl. Bundesgesetz, mit dem ergänzende grundsätzliche Bestimmungen zum IV. Abschnitt des Gesetzes betreffend die Regelung der Heimatrechtsverhältnisse, RGBl. 105/1863 erlassen werden (Heimatgesetznovelle 1935), RGBl. 1935/199, § 28b. 290 Vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 198, U336/1936. 291 Vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 172, U69/1931.
Gerichtsakten und Datensatz
111
Verhafteten besonders problematisch.292 Es ist nicht klar, woher diese Angaben stammten, ob es sich um Angaben der Beschuldigten oder um Einschätzungen der Gendarmerie handelte. Oft enthält ein Akt mehrere und widersprüchliche Angaben zum Beruf. Die Personalien stimmen nicht immer mit jenen des Protokolls oder des Strafregisters überein. Bei 47 Beobachtungseinheiten (14 %) wurden zwei Berufe angegeben, in neun Fällen (3 %) drei Berufe, in drei Fällen (1 %) vier Berufe. Der angegebene Beruf fiel nicht zwangsläufig mit dem Erwerb, der ausgeübten Tätigkeit zusammen. Wer als Zigeuner/in (9 Personen), Vagant/in (7 in der Rubrik Beruf ), berufslos oder als Schüler/in beschrieben wurde, mochte – dem gesamten Akt nach zu schließen – durchaus einem Erwerb nachgehen. Wer einen bestimmten Beruf hatte, ging womöglich auch einer ungelernten Tätigkeit nach. Der weitaus häufigste Eintrag lautete im Sample „Hilfsarbeiter/in“ (40 %). Hinzu kamen „Arbeiter/in“, „landwirtschaftliche/r Hilfsarbeiter/in“, „landwirtschaftliche/r Arbeiter/in“, „Taglöhner/in“ etc. (alles zusammen 46 %). Weiters fanden sich einige Dienstbot/inn/en: Knechte (7 Personen), Mägde (6 Personen) und Hausgehilfinnen (7 Personen). Eine größere Anzahl von Personen (ca. 30 %) gab einen handwerklichen Beruf bzw. den des Facharbeiters an. 15 % aller Fälle wurden als Gehilfen, 1,5 % als Lehrlinge bezeichnet. Allerdings war die Abgrenzung zwischen gelernten und ungelernten Tätigkeiten schwierig. In vielen Berufen gab es sowohl eine formelle Lehre als auch angelernte Arbeitskräfte. Nicht jede/r, der eine Lehre absolvierte, machte auch eine Gesellenprüfung. Korbflechter/ in (8) und Regenschirmmacher/in etwa waren Lehrberufe, zugleich Tätigkeiten, die viele Personen im Umherziehen und ohne Bewilligung ausübten. Relativ selten sind Beobachtungseinheiten mit Angestelltenberufen (5 Handelsangestellte), Reisende (1), aber auch Artist/inn/en (3), Musiker/innen (3) etc. Fünf Beschuldigte waren noch Schüler/innen. Obwohl so gut wie alle Beschuldigten ohne Arbeit und ohne reguläres Einkommen waren, wurden nur 10 % in der Personenbeschreibung als „arbeitslos“ bezeichnet. 8 % wurden als „ohne Stellung“ beschrieben, insgesamt 10 % mit „ohne Einkommen“, „verdienstlos“, „ohne Arbeit“, „ohne Beschäftigung“ versehen. Mehr als die Hälfte aller Beschuldigten (63 %) waren ohne festen Wohnsitz: „unstet“. Es wurden allerdings, darauf werde ich noch näher eingehen, nur 46 % der Landstreicherei beschuldigt oder verdächtigt und nur 30 % deswegen verurteilt. Die Herkunft der Beschuldigten und ihr Heimatrecht wurden in meiner Kodierung zum Ort, an dem das Delikt verübt wurde, in Verbindung gesetzt. 17 % der Beschuldigten mit Adresse wohnten im Polizeirayon, politischen Bezirk oder Gerichtsbezirk, in dem sie angezeigt wurden, 5 % in einem angrenzenden Bezirk, 11 % in einem angrenzenden Bezirk des benachbarten Bundeslandes. Das Heimatrecht spielte, wie bereits erläutert, aufgrund der Verpflichtung der Heimatgemeinde zur Unterstützung sowie der Abschiebungen in die Heimatgemeinde eine Rolle. Überwiegend hielten sich die 292 Vgl. Wadauer: Tramping; dies.: Usual Suspects, 140.
112
Umstrittene Lebensunterhalte
Personen in der Nähe des Ortes auf, in dem sie ein Heimatrecht besaßen: 16 % hatten das Heimatrecht im selben politischen Bezirk, in dem auch das Delikt begangen wurde, 10 % in einem angrenzenden Bezirk desselben Bundeslandes, 15 % im selben Bundesland, 8 % in einem angrenzenden Bezirk eines benachbarten Bundeslandes. Die große Mehrheit der Beschuldigten hatte die österreichische Staatsbürgerschaft (74 %), 19 % waren Ausländer/in, 4 % staatenlos. Unter den Ausländer/inne/n hatten 9 % eine Staatsbürgerschaft der Tschechoslowakei (CSR), 3 % eine deutsche, 2 % eine ungarische (siehe Tabelle 6). Staatsangehörigkeit
Beobachtungseinheiten
%
253
74
CSR
32
9
Staatenlos
15
4
Deutschland
10
3
Ungarn
7
2
Optant
4
1
Frankreich
3
1
Nation?
3
1
Polen
3
1
Russland
3
1
SHS
3
1
Italien
2
1
Rumänien
2
1
Belgien
1
0
341
100
Österreich
TOTAL
Tabelle 6: Staatsangehörigkeit der Beschuldigten im Sample
Besonders auffällig ist im Sample und im Gesamtbestand die im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich hohe Zahl alleinstehender Personen bzw. offiziell unvollständiger Familien. Dies zeigt sich an den hohen Anteilen von ledigen, geschiedenen, getrennten oder verwitweten Personen (für 8 % aller Beschuldigten ist unabhängig vom Familienstand ein Lebensgefährte/eine Lebensgefährtin verzeichnet). Für 14 % bestand die Verpflichtung, für ein minderjähriges Kind oder mehrere zu sorgen. Hinzu kamen 12 %, die für ein außereheliches Kind oder mehrere zu sorgen hatten. Oft waren Mütter (23 %) oder Väter (21 %) bereits verstorben.
113
Gerichtsakten und Datensatz Familienstand
Beobachtungseinheiten
%
252
74
Verheiratet
51
15
Verwitwet
18
5
Geschieden
14
4
Ledig
Getrennt TOTAL
6
2
341
100
Tabelle 7: Familienstand der Beschuldigten im Sample
Auch Vorstrafen wurden in den Personalangaben erfasst. Diese Angaben basierten, wie es scheint, auf den oft eher vagen, vielleicht auch bewusst irreführenden Aussagen der Beschuldigten selbst. Darüber hinaus enthalten die Akten mitunter Informationen aus weiteren amtlichen Erhebungen, konkret aus Leumund und Strafregister. Per Verordnung wurde 1920 ein zentrales Strafregisteramt eingeführt, das über alle (bekannten) rechtskräftigen Verurteilungen (sowie etwaige Tilgungen von Strafen) im In- und Ausland Auskunft geben sollte.293 Diese Informationen wurden parallel auch von den lokalen Behörden dokumentiert. Meist stimmen die Angaben aus Leumundszeugnis und Strafregisterauszug weitgehend überein. Ich versuchte, im Sample unbescholtene wie vorbestrafte Beschuldigte zu erfassen sowie diverse Arten von Kriminalität und kriminellen Laufbahnen einzubeziehen. Die Beobachtungseinheiten zeigen eine große Bandbreite von der Unbescholtenheit bis hin zu zahlreichen, kürzer oder länger zurückliegenden Verurteilungen, verschiedene Arten von Delikten, Verbrechen und Vergehen. Vorstrafen bezogen sich auf Bettelei und Vagabundage, Eigentumsdelikte (Diebstahl, Veruntreuung etc.), politische Delikte und vieles andere mehr. Manche Delikte lassen auf Gewaltbereitschaft schließen (Körperverletzung, Schändung, boshafte Beschädigung), manche auf die Lebensführung (Trunkenheit, Verstöße gegen das Unterhaltsgesetz) oder auf den Umgang mit Behörden (Beamtenbeleidigung). Auch die Tatorte und -regionen variieren. Abgesehen davon geben Abschaffungen und Abschiebungen sowie Delikte wie Passvergehen, Vergehen gegen das Meldegesetz oder verbotene Rückkehr Hinweise auf die Mobilität der Beschuldigten. Die Angaben sind insgesamt außerordentlich vielfältig und nicht immer präzise und eindeutig. Erfasst wurden von mir die erste Angabe der Anzahl von Vorstrafen, inwiefern sie sich im Verlauf der Erhebungen als richtig erwies 293 Vgl. Verordnung der Bundesministerien für Inneres und Unterricht und für Justiz vom 10. Dezember 1920 über das Strafregister und die Benachrichtigung der Verwaltungsbehörden von strafgerichtlichen Verurteilungen (Strafregisterverordnung), BGBl. 1920/39; Verordnung des Bundeskanzleramtes und des Bundesministeriums für Justiz vom 23. Juni 1933, betreffend das Strafregister und andere Vormerke über strafgerichtliche Verurteilungen (Strafregisterverordnung 1933), BGBl. 1933/258.
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Umstrittene Lebensunterhalte
oder korrigiert wurde, und ob ein Strafregister vorlag, der zeitliche Abstand zur letzten Vorstrafe, die Summe der im Gefängnis verbrachten Tage, etwaige Kerkerstrafen (ein Indikator für die Schwere der Delikte), Aufenthalte im Arbeitshaus, in Zwangsarbeitsanstalten oder im Bettlerlager, Fahndungen und Abschaffungen. Manche Delikte lassen sich nur schwer abgrenzen. Es gibt auch Angaben über Delikte, die im Ausland nach dem dort gültigen Strafrecht definiert und geahndet worden waren. Da es nicht immer klar ist, ob es sich bei Diebstahl um ein Vergehen oder ein Verbrechen handelte, ob es um Diebstahl oder Veruntreuung ging, erfasste ich hier die Gesamtzahl der Eigentumsdelikte und zusätzlich den feststellbaren Anteil an Verbrechen. Körperbeschädigung, Raufhändel, Handlungen gegen die körperliche Sicherheit anderer etc. fasste ich zu Gewaltdelikten zusammen.
Der Tatbestand
Neben diesen Angaben, deren behördliche Erfassung ein Formular vorgab, enthält die polizeiliche Anzeige einen Bericht über das Tatgeschehen. Für den Beginn der 1920er Jahre finden sich noch einzelne, relativ unstrukturierte, oft handschriftliche Berichte. Im Lauf der Zeit werden sie jedoch deutlich formalisiert und klarer strukturiert und umfassen a) die Darstellung der Tat („Species facti“), b) die Beweismittel, c) die Angaben des Beschuldigten und gegebenenfalls d) die Begründung der Verhaftung mit einer Angabe über eventuelle Beilagen (Dokumente im Besitz des/der Verhafteten, Geld). Diese Teile des Berichts – meist ein bis zwei Seiten lang – sind aufeinander bezogen und häufig redundant. Unter dem Abschnitt „Darstellung der Tat“ wurden der Anlass der Anhaltung und das Delikt beschrieben. Die große Mehrheit der Vorfälle ging auf eine Initiative der Gendarmen und nicht des „Publikums“ zurück. In 36 % der Fälle wurden die Beschuldigten beim Betteln betreten, also ertappt. Nur zu 7 % wurden die Beschuldigten infolge einer Anzeige Dritter verhaftet. Hier spielte meist ungebührliches Verhalten eine Rolle. Bei 7 % der erfassten Anzeigen gab freches Verhalten, Schimpfen oder Randalieren Anlass zur Verhaftung. Bei 11 % waren die Beschuldigten alkoholisiert. In 4 % der Fälle wurde erwähnt, dass der/die Beschuldigte zunächst verwarnt oder aufgefordert worden war, den Ort zu verlassen, auch das ein Hinweis, dass nicht jede/r, der/die bettelte oder durchwanderte, sofort angezeigt wurde. Der Tatbestand wurde anhand der wichtigsten Kriterien für das Delikt beschrieben. Es wurde angeführt, bei wem und wo gebettelt sowie ob ein Almosen verabreicht worden war. Es wurde festgehalten, wie lange und wo der/die Beschuldigte ohne Arbeit gewandert war. Es wurde auf fehlende Belege für geleistete Arbeit oder Bemühung um Arbeit hingewiesen. Darüber hinaus wurden noch andere Aspekte angeführt, die auf die mehr oder minder große Bedürftigkeit und auf unterschiedlich legitime
Gerichtsakten und Datensatz
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Arten, um Unterstützung zu bitten und unterwegs zu sein, hindeuten. Worum hatte der/die Beschuldigte gebeten? Um Lebensmittel, Nachtlager, Geld oder Alkohol? Was hat er/sie erhalten? War der/die Beschuldigte undankbar oder frech gewesen? War er/sie alleine unterwegs oder in Begleitung von Weggefährt/inn/en, des Lebensgefährten/der Lebensgefährtin oder von Kindern? Hatte er/sie für jemanden zu sorgen? Verfügte der/die Beschuldigte abgesehen von Almosen über andere Einkünfte: eine Unterstützung vom Staat oder der Gemeinde, Gaben von Gewerbetreibenden der eigenen Branche oder Unterstützung durch Verwandte etc.? Ging er/sie (gelegentlich) einer Arbeit nach, oder übte er/sie unbefugt ein Gewerbe aus? Hat er/sie überhaupt nach Arbeit gefragt? Wäre es prinzipiell möglich gewesen, in Arbeit zu treten? Hat der/die Beschuldigte freiwillig eine Arbeitsstelle aufgegeben? Wie lange dauerte die strafbare Handlung schon an? War der/die Beschuldigte als arbeitsscheu, notorische/r Bettler/in oder Landstreicher/in bekannt? Die Rubrik „Beweise“ enthält eine Zusammenfassung, manchmal auch eine Ergänzung dieser Angaben und jener des/der Beschuldigten. Als Beweismittel konnten die Betretung durch den Gendarmen, eine genaue Angabe von erhaltenen bzw. mitgeführten Münzen oder Lebensmitteln fungieren. Die Parteien, bei denen gebettelt worden war, konnten namentlich angeführt werden. Manchmal wurden auch deren Zeugenaussagen wiedergegeben. Auch die Angaben des/der Beschuldigten oder sein/ ihr Geständnis konnten als Beweise angeführt werden. Gelegentlich hatten Fahndungsausschreibungen oder Abschaffungsbescheide Beweischarakter. Während viele Anzeigen die Tat und die Beweise überaus detailliert erläuterten und belegten, gibt es auch andere, bei denen alleine aus den Umständen auf das Delikt geschlossen wurde und kaum konkrete Beweise vorlagen. Hier führte man nur an, dass der/die Beschuldigte völlig mittellos, ohne Arbeitsbestätigung, möglicherweise auch ohne Papiere angetroffen wurde. Auch die protokollierten Rechtfertigungen des/der Beschuldigten variieren. Die Aussagen wurden in unterschiedlicher Ausführlichkeit, manchmal als indirektes Zitat, oft unter Anführungszeichen wiedergegeben. Der verwendeten Sprache nach zu schließen, handelte es sich jedoch auch dann kaum um eine wörtliche Wiedergabe von Aussagen. Manchmal ähneln die Aussagen der Beschuldigten auffällig den entsprechenden Gesetzespassagen: „Ich gebe zu, daß ich seit ich in Österreich bin vom Bettel von Haus zu Haus bzw. durch die öffentliche Mildtätigkeit meinen Lebensunterhalt gefristet habe.“294 Oder: Ich hatte im Monat September 1933 die Grenze bei Bregenz nach Österreich überschritten und fristete seither meinen Lebensunterhalt nur einzig und allein vom Einkommen das ich beim Betteln erzielte. Vom 28.1. bis 25. Februar 1934 wurde ich beim B. G. Efer294 OÖLA, BG Raab, Sch. 182, U209/1933: Anzeige vom 8.7.1933.
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Umstrittene Lebensunterhalte
ding wegen Bettels und Landstreicherei in Haft genommen und zu 4 Wochen Arrest verurteilt. Nach der Haft setzte ich denselben herumziehenden Lebenswandel und zwar den Bettel und das zwecklose Herumziehen in Österreich fort.295
Die protokollierten Aussagen beschränkten sich mehr oder minder auf jene Umstände, die aus der Sicht von Gendarmerie und Polizei für Schuld und Unschuld relevant waren, etwa Arbeitslosigkeit, fehlende Unterstützung, Dauer der Wanderschaft, Ziellosigkeit etc. Nur wenn die wörtliche Aussage von Relevanz und Teil der Anschuldigung war, etwa bei Renitenz, Beamtenbeleidigung oder politischen Delikten, wurden auch Wendungen wiedergegeben, die der alltäglich gebrauchten Sprache etwas näherkommen dürften. So sagte beispielsweise MariaPlusch laut Protokoll: „Ich gehe solange Betteln, bis ihr mir den Mann bringt’s“.296 LeopoldVet297 wurde unter „Beweismittel“ wie folgt zitiert: „An armer Teufl wird überhaupt nix geben, natürli ihna geht’s guat, etz. sie können spaziern fahn mit’n Motorradl“. WladimirPet drohte dem Gendarmen: „Wenn ich herauskomme gibt es ein Wiedersehen, entweder bin ich hin, oder tu.“298 LeopoldKo randalierte und schimpfte laut Protokoll: „Ös Horde elendige, einen armen Teufel sperrts ein“.299 FranzRutz und JosefBern schrien laut Protokoll: „Heil Hitler“.300 AloisStieg hingegen „erfaßte hierauf Franz Wallnek [den Sohn eines Kleinbauern] an der Brust, wobei er ihm mehrere Haare ausriß und sagte: ‚Wenn du mir keinen Most gibst, wirst du schon sehen was dir passiert, wenn die Bolschewiki kommen, da wirst du nicht verschont bleiben‘“.301 JohZeil drohte in volltrunkenem Zustande den Besuchern der Herberge: „Kommt alle heraus, ich steche euch alle mitsammen ab, anzünden tue ich die Bude und werde euch ausräuchern wie die Ratten.“302 Ungeachtet der Kürze der Berichte, der offensichtlichen Zensuren und Redundanzen ergibt sich eine Vielfalt von Beschuldigten, Situationen, Konstellationen, Aussagen, Rechtfertigungen, erschwerenden und entschuldigenden Umständen, die, wie ich zeigen werde, nicht beliebig variierten.
295 OÖLA, BG Mondsee, Sch. 15, U105/1934: Anzeige vom 15.5.1934. 296 OÖLA, BG Raab, Sch. 172, U93/1931: Anzeige vom 7.4.1931. 297 Vgl. OÖLA, BG Raab, Sch. 183, U286/1933: Anzeige vom 2.9.1933. 298 OÖLA, BG Raab, Sch. 187, U221/1934: Anzeige vom 27.7.1934. 299 OÖLA, BG Raab, Sch. 176, U8/1935: Anzeige vom 8.1.1935. 300 OÖLA, BG Raab, Sch. 196, U113/1936: Anzeige vom 31.3.1936; OÖLA, BG Mondsee, Sch. 15, U70/1934: Anzeige vom 1.4.1934. 301 OÖLA, BG Wildshut, Sch. 100, U23/1928: Anzeige vom 28.1.1928. 302 OÖLA, BG Wildshut, Sch. 110, Z21/1933: Anzeige vom 10.2.1933.
Gerichtsakten und Datensatz
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Weitere Aktenbestandteile
Die Zusammensetzung der Akten hing nicht nur von der Art des Deliktes ab. War der/die Beschuldigte ohne festen Wohnsitz (unstet), so wurde er/sie in der Regel mit Hinweis auf eine bestehende Fluchtgefahr sofort verhaftet. Wer wegen Fluchtgefahr verhaftet wurde, wurde durchsucht. Personalia, besondere Eigenschaften, die wenige Besitztümer des/der Beschuldigten und die Anklage wurden im Übernahmsbericht vermerkt. Solche Akten enthalten meist kein Protokoll der öffentlichen Hauptverhandlung, sondern nur eine Abschrift des Urteils und einen Vermerk zum Strafvollzug. Gelegentlich, vor allem wenn infolge weiterer Erhebungen Untersuchungshaft verhängt wurde, kam ein Protokoll der Vernehmung des/der Beschuldigten hinzu. Solche Erhebungen wurden jedoch, besonders wenn es sich um unstete Personen und lediglich um ein Verfahren wegen Bettelei und Vagabundage handelte, nur selten angestellt. Beschuldigte mit festem Wohnsitz wurden hingegen fast immer auf freiem Fuß angezeigt (es sei denn, sie wurden als Zigeuner/in klassifiziert). Eine Strafverfügung wurde dann manchmal auch ohne Verfahren zugestellt. Nur, wenn gegen diese Einspruch erhoben wurde, kam es zu einer Gerichtsverhandlung. In solchen Fällen sesshafter Beschuldigter sind die Akten oft wesentlich umfangreicher und dauerten die Verfahren insgesamt länger. Es wurden dann Lebensumstände, Strafregisterauszüge, Leumundsschreiben erhoben, häufig liegt ein Protokoll der Hauptverhandlung bei und mitunter sind es mehrere Protokolle, wenn infolge Nichterscheinens des/der Angeklagten zur weiteren Erhebung und Überprüfung von Angaben vertagt werden musste. Nichtsdestotrotz waren diese Verhandlungen meist kurz, 45 % dauerten nur 15 Minuten. Ging es um Minderjährige, liegen dem Akt zusätzlich noch Geburt- und Taufregisterauszüge, Berichte der Schulleitung und der Fürsorge bei. Es kommen Einsprüche, Berufungsverhandlungen, bedingte Strafen und Strafaufschub in den Akten vor. Im Abschnitt „Protokolls- und Urteilsvermerk“ finden sich abgesehen von Schuldspruch und Strafvermerken lediglich Angaben über die (Nicht-)Anwendung von § 266 StG. (außerordentliches Milderungsrecht) und/oder § 267 StG. (Zusammentreffen mehrerer Vergehen oder Übertretungen).303 Nur wenn ein Protokoll der Hauptverhandlung vorlag, kam auch eine ausführlichere Begründung des Urteils und des Strafausmaßes hinzu. Die Hauptverhandlung (und Verhöre) boten den Angeklagten die Möglichkeit, zusätzliche Argumente vorzubringen und die in der Anzeige protokollierten Aussagen richtigzustellen oder zu erläutern. Deshalb kann eine Beobachtungseinheit konträre Argumente und Aussagen, Schuldgeständnis und Betonung der Unschuld enthalten. Insgesamt wurden die Angeklagten meist zu geringeren 303 Vgl. Kaiserliches Patent vom 27. Mai 1852, Strafgesetz, RGBl. 1852/117.
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Umstrittene Lebensunterhalte
Haftstrafen verurteilt; das laut Gesetz mögliche Strafmaß von einem bis drei Monaten für Landstreicherei und von acht Tagen bis drei Monaten für Bettelei wurde kaum ausgeschöpft, sondern oft noch unterschritten. Mit einem Freispruch bzw. mit einer Einstellung des Verfahrens (6 Fälle) endeten 18 % der Fälle. Bei 50 % wurde eine Haftstrafe von bis zu einer Woche erteilt (siehe Tabelle 8). Strafdauer kodiert
Beobachtungseinheiten
%
Ermahnung
2
Urteil 1 Tag
31
9
Urteil 2 Tage
54
16
Urteil 3 Tage
38
11
Urteil 4–7 Tage
45
13
Urteil 8–14 Tage
76
22
Urteil 15–21 Tage
8
2
Urteil 22–30 Tage
11
3
Urteil 31–90 Tage
7
2
Keine Angaben zum Urteil
304
Urteil: trifft nicht zu305 TOTAL
1
4
1
65
19
341
100
Tabelle 8: Verhängte Strafen
Gelegentlich wurden bedingte Strafen auferlegt. Darauf konnte eine Tilgung oder bei neuerlicher Straffälligkeit eine Haftstrafe folgen. Im Anschluss an die Haftstrafe waren weitere Maßnahmen möglich: Abschiebung, Abschaffung, Einweisung in eine Zwangsarbeitsanstalt, Besserungsanstalt, in ein Arbeitshaus oder nach 1935 in das oberösterreichische Bettlerlager – wobei all das eher selten vorkam. Da eine Einweisung in das Haftlager Schlögen keines Gerichtsverfahrens bedurfte, wurden diese Maßnahmen und auch die Bettlerrazzien in diesen Gerichtsakten nur selten erwähnt. Im Zusammenhang politischer Strafen oder Gewerbeübertretungen konnte zur Haftstrafe wegen Bettelei oder Landstreicherei noch eine Anzeige bei der Bezirkshauptmannschaft kommen. Deren Folgen wurden allerdings nicht im Gerichtsakt dokumentiert.
304 Unvollständige Akten, unklarer Ausgang. 305 Wenn die Anklage fallengelassen, das Verfahren abgebrochen wurde.
Der Raum der Lebensunterhalte
119
II.3 Der Raum der Lebensunterhalte Was macht Austausch zur Bettelei? Was macht Umherziehen zur Vagabundage? Die Grenze zwischen geduldetem und strafbarem Tun war weder klar noch unumstritten. Das Sample, das, wie beschrieben, konstruiert auf Basis von Gerichtsakten konstruiert wurde, manifestiert die Auseinandersetzungen zwischen den Verdächtigen und/oder Angeklagten, der ansässigen Bevölkerung, lokalen Behörden und Einrichtungen, der Polizei bzw. Gendarmerie, dem Staatsanwalt und dem Gericht. In den Situationen und Interaktionen, in denen diese Akten produziert wurden, und durch die Akten selbst wurde das Tun zur Tat, ein Verhalten oder ein Zustand zum Delikt, eine Person zum/zur Angeklagten und eventuell zum/zur Straftäter/in. In der Auswertung dieses Samples ging es darum, sich mithilfe einer spezifischen multiplen Korrespondenzanalyse systematisch den Regelmäßigkeiten, Variationen und Kontrasten der erfassten Situationen und Interaktionen anzunähern (siehe Abschnitt I.2). Im folgenden Abschnitt werden die Ergebnisse dieser Konstruktion, nämlich die Struktur des Raums der Lebensunterhalte, erläutert. Die Beschreibung dieses Raumes erlaubt es, zu erfassen, wie Betteln und Landstreicherei im Kontext dieser Auseinandersetzungen erzeugt und die Grenzen zwischen noch legitimem Tun und Straftaten gezogen wurden. Zunächst bespreche ich die beiden wichtigsten eindimensionalen Annäherungen an diese Struktur (Analyse): die Dimension des Umherziehens und die Dimension des Unterhalts. Die primäre Fläche stellt die Integration beider Dimensionen (Synthese) dar – die beste zweidimensionale Annäherung an den Raum der Lebensunterhalte. Am Beginn jedes Abschnitts benenne ich zunächst die Prinzipien von Variation und Kontrast. Diese werden anhand der jeweils wichtigsten Modalitäten und anschließend am Beispiel der wichtigsten Beobachtungsfälle erläutert. Die Art der Darlegung soll stets vergegenwärtigen und nachvollziehbar machen, wie sich die Interpretation auf die Ergebnisse der MKA bezieht. Der besseren Lesbarkeit halber wurden die konkreten Verweise auf einzelne Modalitäten in die Fußnoten verschoben. Dort und im Anhang findet sich auch eine Legende zu den in den Grafiken verwendeten Abkürzungen. II.3.1
Die eindimensionalen Annäherungen
II.3.1.1
Die erste Dimension: Umherziehen
Das Variations- und Kontrastprinzip: (Un-)Redlichkeit der Zwecke
Die erste Dimension und beste eindimensionale Annäherung an die Struktur des Samples beschreibt die Auseinandersetzungen über die Legitimität des Umherziehens
120
Umstrittene Lebensunterhalte
(siehe Grafiken 10–13).306 So gut wie alle Beschuldigten hatten – darin waren sie sich ähnlich – keine oder unzureichende Mittel zum Lebensunterhalt. Sie gingen nicht zur Arbeit, gingen keinem erlaubten Erwerb oder Gewerbe nach, blieben aber auch nicht untätig dort, wo sie waren, sie zogen umher. Wer weder Mittel hatte, noch einem redlichen Erwerb oder Geschäft nachging, konnte – ungeachtet des Rechtes auf Freizügigkeit – nicht einfach um des Unterwegsseins willen unterwegs sein, also reisen oder spazieren gehen. Ein solches Umherziehen war schnell verdächtig,307 es verlangte triftige Gründe. Je mehr es sich aus den Zwängen der Not begründen ließ, desto eher konnte es noch als gerechtfertigt und berechtigt erscheinen. Je mehr es die offiziell richtigen Zwecke vermied oder zu vermeiden schien,308 desto eher wurde es als Vagabundage verstanden, desto eher wurde es an sich schon zur Gesetzesübertretung – selbst, wenn der/die Verdächtige nicht bettelte oder andere strafbaren Handlungen beging. Das Variations- und Kontrastspektrum reicht also von einem Umherziehen, das immer noch als zulässig anerkannt wurde, bis hin zu einem Umherziehen, das strafrechtlich verfolgt werden sollte. Unter welchen Voraussetzungen konnten solche mehr oder minder legitimen Zwecke geltend gemacht und festgestellt werden? Die Produktion eines Polizei- und/ oder Gerichtsfalles bzw. eines Aktes war nicht beliebig. Es bestanden explizite Richtlinien, Formulare zur Erhebung und Erfassung von Informationen, eine festgelegte Frage- und Antwortordnung sowie eine bestimmte Sprache zur Übersetzung von polizeilichen Erhebungen in eine strafgesetzlich und verwaltungstechnisch relevante Tat. Beweise und Belege wurden angeführt, die Angaben und die Verantwortung (Rechtfertigung) des/der Beschuldigten dokumentiert. Wie dies geschah, welches Prozedere auf das Anhalten durch die Polizei folgte, variierte entsprechend den behördlichen Beobachtungen des Agierens der Verdächtigen bzw. deren Angaben über ihr Tun. Letztere entsprachen wiederum deren Möglichkeiten und Erwartungen an die Behörden. Die eines Verstoßes gegen das Landstreichereigesetz Verdächtigen wurden von der Gendarmerie oder Polizei in kleinerer oder größerer Distanz zu ihren Herkunftsorten aufgegriffen, sie zogen auf verschiedene Weise herum: Manche waren schon monate-, sogar jahrelang durch Österreich oder Europa gewandert. Andere kehrten täglich von ihren Touren von Haus zu Haus, von Ort zu Ort heim. Einige, denen es erlaubt gewesen wäre, in der eigenen Gemeinde zu betteln, gingen in den Nachbarort, um nicht ständig dieselben Personen um eine Gabe zu bitten – und 306 Die „Zwecklosigkeit“ des Umherziehens unterschied, so August Finger, die Landstreicherei vom reinen Streifbettel, vom Bettel im Umherziehen. Vgl. Finger: Landstreicherei, 438; Josef Erler: Gegen das Vagabundentum. Innsbruck 1887, 8. 307 Vgl. Josef Gutmann: Wer ist verdächtig? In: Öffentliche Sicherheit 16/1936/10, 19f. 308 Über die Vorstellung der Vagabundage als freie Wahl vgl. Althammer: Pathologische Vagabunden, 314; Kusmer: Down and Out, 9. In diese Richtung könnte man auch einige Aussagen der Vagabundenbewegung deuten. Vgl. etwa Trappmann: Landstrasse, 26; Künstlerhaus Bethanien: Wohnsitz.
Der Raum der Lebensunterhalte
121
machten sich so strafbar. In manchen Gerichtsbezirken häuften sich Anzeigen gegen Personen aus bestimmten Orten und Bezirken, es schien bestimmte Einzugsgebiete und festgelegte Routen zu geben. Gleich wie oft eine Person so umherwanderte, wie weit sie sich vom Heimatort entfernte, ob sie Grenzen des Orts, des Bezirks, des Bundeslands oder selbst des Staats überschritt, ungeachtet ihrer Reputation, für das Verfahren – und damit für die offizielle Verfasstheit als Landstreicher/in und/oder Bettler/in – war zu allererst entscheidend, ob sie dabei eine offizielle Wohnadresse hatte, das heißt anerkannt ansässig war, also auch nicht in einem Obdachlosenheim oder in einer Zigeunerkolonie wohnte (siehe Grafik 10). Das Vorhandensein oder Fehlen eines Wohnsitzes war für die Art ausschlaggebend, wie die untersuchten Verwaltungsfälle und kriminellen Tatbestände erzeugt, also gestaltet, verhandelt, umstritten und entschieden wurden.309 Der Grad der (Nicht-)Sesshaftigkeit manifestierte dabei die (Un-)Redlichkeit des Umherziehens. Im besten Fall wies das Umherziehen – mit einer Wohnadresse – einen offiziellen Bezugspunkt auf; Sinn und Ziel schienen verbürgt. Zugleich bestimmte der Grad der (Nicht-)Sesshaftigkeit die Möglichkeit und/oder Bereitschaft der Behörden, Erhebungen zu tätigen, Informationen über Bedürftigkeit, Lebensumstände, Vorleben, Leumund und Vorstrafen einzuholen.310 Offizielle Ansässigkeit bestimmte insbesondere mit, was im Zuge eines Verfahrens zur Sprache kam und zur Sprache gebracht werden konnte: und damit die Möglichkeiten, Anreize und Zwänge des/der Beschuldigten, sich zu äußern, sich zu verteidigen, Not plausibel zu machen, Einspruch zu erheben und sich den Konsequenzen der Straftat zumindest temporär zu entziehen. Wer sesshaft war, hatte möglicherweise gute Gründe für sein/ihr Verhalten, unterlag anerkannten Zwängen und Verpflichtungen, hatte Ansprüche, auf die er/sie bestehen konnte, die es zu erheben und zu prüfen galt, etwa nach dem Heimatrecht „ersessene“ Ansprüche an die Gemeinde. Ansässigkeit war eine wesentliche Bedingung dafür, dass jene Umstände, die eine Strafe ausschlossen, vorgebracht und aktenkundig werden konnten. Sie ermöglichte ein Verfahren, in dem die Glaubwürdigkeit der Rechtfertigung hergestellt werden konnte. Wer sesshaft war, dessen Not wurde eher als zwingend, teils überhaupt erst als solche anerkannt.311 Je weniger ein Bezug des Umherziehens herzustellen war, umso fragwürdiger schien es. Wer über keinen sozialen Bezugspunkt mehr verfügte und wochen- oder jahrelang umherzog, schien nicht nur die Sesshaftigkeit, sondern jeden redlichen Zweck beim Umherziehen zu vermeiden. Er/sie machte – augenscheinlich – die Not
309 Zur Frage der Sesshaftigkeit vgl. Meier/Wolfensberger: Heimatlose, 11, 33. 310 Vgl. Emanuel Wolfschütz: Der Leumund. In: Öffentliche Sicherheit 3/1923/15–16, 18f. 311 Vgl. Chr. J. Klumker: Fürsorgewesen. Einführung in das Verständnis der Armut und der Armenpflege. Leipzig 1918, 8.
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