Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [1 ed.] 9783428497690, 9783428097692

Der Band ist aus einer im Mai 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten Tagung hervorgegangen, an der si

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German Pages 273 Year 1999

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Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783428497690, 9783428097692

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Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Münster, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken Prof. Dr. Reinhard Zimmermann, Regensburg

Band 28

Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19 . Jahrhunderts

Herausgegeben von

Martin Kirsch Pierangelo Schiera

Duncker & Humblot . Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Denken und Umsetzung des Konstitutionalismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts I hrsg. von Martin Kirsch; Pierangelo Schiera. Berlin : Duncker und Humblot, 1999 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ; Bd.28) ISBN 3-428-09769-6

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1999 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-09769-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Inhaltsverzeichnis Martin Kirsch/ Pierangelo Schiera

Einleitung ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Konstitutionalismus in Deutschland Pierangelo Schiera

Konstitutionalismus, Verfassung und Geschichte des europäischen politischen Denkens. Überlegungen am Rande einer Tagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .

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Hans Boldt

Bundesstaat oder Staatenbund? Bemerkungen zur Verfassungsdiskussion in Deutschland am Ende des Alten Reichs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Carla De Pascale

Stände und Staatlichkeit in den Verfassungsentwürfen W. v. Humboldts

47

Wolfgang Burgdorf

Die Ursprünge des Konstitutionalismus in Deutschland. Die Wahlkapitulationsdiskussion der l790er Jahre - eine deutsche Verfassungsdiskussion im Zeitalter der Aufklärung .............................................................................

65

Hartwig Brandt

Von den Verfassungskämpfen .der Stände zum modemen Konstitutionalismus. Das Beispiel Württemberg ...............................................................

99

Paul Nolte

Konstitutionalismus und Kommunalverfassung. Zusammenhänge und Wechselwirkungen in Preußen und Süddeutschland in der Reformzeit ........................... 109 Otto Dann

Kants Republikanismus und seine Folgen ........................................... 125

6

Inhaltsverzeichnis

11. Konstitutionalismus in Europa - Vergleiche und Rezeptionen Martin Kirsch

Die Entwicklung des Konstitutionalismus im Vergleich: Französische Vorbilder und europäische Strukturen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts..................... 147 Monika Wienfort

Monarchie, Verfassung und Fest. Großbritannien und Preußen um 1800 im Vergleich

175

Ursula Meyerhofer

Republik und Föderalität in der Schweiz 1798-1848 ................................ 193 Friederilce Hagemeyer

Verfassungskonzepte und ständische Gesetzgebung - Preußen und Dänemark im Vergleich ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 207 Horst Dippel

Die Bedeutung der spanischen Verfassung von 1812 für den deutschen Frühliberalismus und Frühkonstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 219 WernerDaum

Historische Reflexion und europäische Bezüge. Die Verfassungsdiskussion in Neapel-Sizilien 1820 - 1821 ............................................................. 239

Einleitung Von Martin Kirsch / Pierangelo Schiera Dieser Band versammelt die Beiträge einer vom 08.-10. Mai 1997 an der Humboldt-Universität zu Berlin veranstalteten Tagung, an der sich Historiker, Juristen und Politologen aus Deutschland, Italien, Österreich, Spanien und der Schweiz beteiligten. Ohne die finanzielle Unterstützung des Istituto Storico Italo-Germanico in Trento, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Vereins für deutsch-italienische Geschichtsforschung, des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und des Istituto Italiano di Cultura Berlin wäre die Durchführung der Veranstaltung nicht möglich gewesen, wofür wir uns bei den genannten Institutionen an dieser Stelle ausdrücklich bedanken wollen. In thematischer Hinsicht standen die Entstehungsvoraussetzungen und Entwicklungsbedingungen des noch jungen Verfassungsstaates in Deutschland vom Beginn des 19. Jhs. bis zum Vormärz in ihrem Wechselverhältnis von Verfassungsidee und -wirklichkeit im Vordergrund. Da sich die Entstehung und Entwicklung des Konstitutionalismus in Deutschland im engen Austausch mit anderen europäischen Staaten vollzog, sollten derartige Einflüsse und Wechselwirkungen zumindest in kleinen Ausschnitten auf der Tagung diskutiert werden. Schließlich sollten die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Deutschland und anderen europäischen Staaten entweder mit Hilfe eines direkten Vergleichs von Einzelaspekten zwischen mehreren Ländern oder aber mit der Betrachtung eines einzelnen anderen Landes herausgearbeitet werden. Dementsprechend gliedert sich der Band in die bei den großen Themenbereiche "Konstitutionalismus in Deutschland" und "Konstitutionalismus in Europa - Vergleiche und Rezeptionen". Den Beiträgen zu Deutschland sind die Überlegungen Pierangelo Schieras vorangestellt, mit denen er den weiten Bogen vom Staatsbildungsprozeß der frühen Neuzeit bis hin zur Ausformung des Konstitutionalismus im 19. Jh. schlägt, um gleichzeitig dieses Wechselverhältnis in die allgemeine Geschichte des politischen und wissenschaftlichen Denkens in der Sattelzeit um 1800 einzubetten. Viele der Beiträge zu Deutschland stellen das verfassungsrechtliche Denken dieser Zeit in den Vordergrund. So geht Hans Boldt in seiner Analyse der Frage nach, welche föderalen Optionen in der zeitgenössischen politischen und juristischen Diskussion zur Reform des Heiligen Römischen Reiches angelegt waren und welche Folgen die Entscheidung für den Staatenbund anstatt für den Bundesstaat für die deutsche Geschichte im 19. Jh. hatte. Auch der Beitrag von Wolfgang Burgdorf beschäftigt sich unter dem speziellen Blickwinkel der Debatten über Wahlkapitulationen mit

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der potentiellen Entwicklungsfähigkeit des Reichsstaatsrechts und betont hierbei die modemen Züge dieser Denkansätze. Carla De Pascale widmet sich der Problematik von Ständen und Staatlichkeit in den Verfassungsentwürfen W. v. Humboldts. Paul Noltes Beitrag knüpft insofern an diese Frage nach der Rolle der ständischen Einflußnahme auf die Verfassungsgebung an, indem er herausarbeitet, wie die Reform der kommunalen Selbstverwaltung vom preußischen Adel dazu genutzt wurde, gegen die Einführung des Konstitutionalismus auf zentralstaatlicher Ebene vorzugehen, und unterscheidet hierbei einen preußischen von einem süddeutschen Weg. Otto Dann nimmt diesen Faden an einer anderen Stelle wieder auf, denn er analysiert den Kantschen Republikanismusbegriff auch in der Hinsicht, in welcher Wechselwirkung er mit dem kommunalen politischen Selbstverständnis einerseits und der Idee vom Verfassungsstaat anderseits stand. Dieser Grundfrage der Tagung von ständischer historischer Tradition und moderner Verfassungsstaatlichkeit wendet sich auch Hartwig Brandt konkret am württembergischen Beispiel zu. Der zweite Hauptteil "Konstitutionalismus in Europa - Vergleiche und Rezeptionen" beginnt mit einem Beitrag von Martin Kirsch, der die Entwicklung des Konstitutionalismus in der ersten Hälfte des 19. Jhs. im Vergleich untersucht und hierbei sowohl die umfassende Rezeption der französischen Konstitutionen in anderen Ländern als auch die Entstehung europäischer Verfassungsstrukturen bereits seit der napoleonischen Zeit betont. In dem sich anschließenden Text zeigt Monika Wienfort anhand eines deutsch-englischen Vergleichs der Vorstellung von Monarchie im Bürgertum um 1800, wie die traditionelle Verfassungsgeschichtsschreibung durch kultur- und mentalitäts geschichtliche Ansätze erweitert werden kann. Danach stellt Ursula Meyerhofer die spezifischen Entwicklungsbedingungen in der Schweiz von 1798 bis zur Gründung des Bundesstaates 1848 anhand der zentralen Verfassungsbegriffe Republik und Föderalität vor. Friederike Hagemeyer analysiert sodann die Verfassungskonzepte und ständische Gesetzgebung in Preußen im Vergleich zu Dänemark und geht dabei auch der Rezeption der preußischen Ideen durch die Dänen nach. Horst Dippel beschäftigt sich in seinem Beitrag damit, in welcher Weise die deutschen Liberalen die spanische Verfassung von 1812 rezipierten und ihr dementsprechend eine unterschiedliche Bedeutung zumaßen. Werner Daum arbeitet schließlich anhand der Verfassungsdiskussion in der Revolution Neapel-Siziliens 1820/21 heraus, daß die Art der Rezeption der spanischen Cortesverfassung stark davon abhing, was mit deren Hilfe gerade politisch erreichbar erschien. Diese Beiträge und die Diskussionen auf der Tagung l sind neben ihrer speziellen Fragestellungen mit fünf grundsätzlichen Problemen verknüpft: erstens mit der Problematik der Kontinuität und Diskontinuität in der Geschichte des Konstitutionalismus vom 18. zum 19. Jh.; zweitens mit den Gründen für die Entstehung des Verfassungs staates in der ersten Hälfte des 19. Jh.; drittens mit der Art und Weise I Der nachfolgende Text faßt die Diskussionen auf der Tagung zusammen und ordnet diese gleichzeitig in den jeweiligen Forschungsstand ein.

Einleitung

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der Rezeption zwischen dem Staatsdenken und den Verfassungen unterschiedlicher Länder; viertens mit Themen und Problemen des Vergleichs; fünftens schließlich mit spezifischen Schwierigkeiten bei der Verwendung der Begriffe "Konstitutionalismus" und "Verfassung". Die Frage nach der Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte des Konstitutionalismus vom 18. zum 19. Jh. ist in der deutschen Historiographie nach wie vor umstritten. In dieser Kontroverse ist die "harte" Geschichte der Konstitutionen von einer "weichen" der ihnen vorausgehenden politischen Theorien zu unterscheiden (Hartwig Brandt)? Auch zwischen den Teilnehmern der Tagung blieb die Diskussion kontrovers, und die jeweilige Stellungnahme wechselte je nachdem, welcher Sachbereich näher untersucht wurde. In seinem Referat hob P. Schiera die Bedeutung der Staatsbildung seit der Mitte des 17. Jhs. für die spätere Konstitutionalisierung hervor. In der Kombination von Entstehung einer Verfassungsidee (im Sinne einer Gewaltenteilung), der Übernahme von Wohlfahrtsfunktionen durch den Staat, einer auf den Schutz des Staates ausgerichteten Staatsraisonlehre und einem Autonomisierungsprozeß des Politischen kam es zur Schaffung eines "Verfassungsbedarfs". Umstritten blieb in der anschließenden Diskussion die Frage, ob die Konstitution ein positives Produkt dieses Staatsbildungssprozesses war oder gerade ver2 Hartwig Brandt, Über Konstitutionalismus in Deutschland. Eine Skizze, in: Jürgen Kocka u. a. (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modemen Sozialstaat. Festschrift für Gerhard A. Ritter. München usw. 1994, S. 261 f.; ders., Der lange Weg in die demokratische Moderne. Deutsche Verfassungsgeschichte von 1800 bis 1945. Darmstadt 1998, S. 80 f.;Walter Demei, Vorn aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus. München 1993, S. 60 f.; Elisabeth Fehrenbach, Verfassungsstaat und Nationsbildung 1815-1871. München 1992, S. 76 f. mwN; Eberhard Weis, Kontinuität und Diskontinuität zwischen den Ständen des 18. Jahrhunderts und den frühkonstitutionellen Parlamenten von 1818/19 in Bayern und Württemberg, in: ders., Deutschland und Frankreich um 1800. Aufklärung - Revolution - Reform. München 1990, S. 235 ff., 240 ff.; Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866. Vorn Beginn des modernen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes. FrankfurUM. 1988, S. 10, 12. Gegen Grimm: Thomas Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung 3. 1988, S. 54 f. m. Anm. 6, 73 ff., 85 ff.; ders., Staatsverfassung an der Wende vorn 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken der deutschen Verfassungsgeschichte (Der Staat, Beih. 10). Berlin 1993, S. 86 f. Anm. 3 mwN, 101r., 111 f.; die Kontinuität betonend, gleichzeitig aber die neue rechtliche Situation aufgrund der Verfassungsgebung anerkennend: Rudolf Vierhaus, Von der altständischen zur Repräsentativverfassung. Zum Problem institutioneller und personeller Kontinuität vorn 18. zum 19. Jahrhundert, in: Karl Bosl (Hrsg.), Der moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation. Berlin 1977, S. 177 ff., 192 ff.; den europäischen Rahmen von Kontinuität und Diskontinuität zeichnen nach: Helmut G. Koenigsberger, Dominium regale or dominium politicum et regale? Monarchies and Parliaments in Early Modern Europe; und Richard Löwenthai, Kontinuität und Diskontinuität: Zur Grundproblematik des Symposions, beide in: Der moderne Parlamentarismus, ebd., S. 43-68 bzw. S. 341 ff.; Horst Dreitzel, Absolutismus und ständische Verfassung in Deutschland. Ein Beitrag zu Kontinuität und Diskontinuität der politischen Theorie in der frühen Neuzeit. Mainz 1992, S. 130 ff.; Plädoyer für starke Kontinuität: Helmut Berding, Zur historischen Einordnung der Reformen im frühen 19. Jahrhundert, in: Hans-Peter UllmannlClemens Zimmermann (Hrsg.), Restaurationssystem und Reformpolitik. Süddeutschland und Preußen im Vergleich. München 1996, S. 18 f.

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suchte, dessen negative Kehrseiten mit Hilfe einer schriftlichen Verfassung einzudämmen. Zugleich wurde auf die Konstitutionalisierung als integrativer Faktor der Staatsbildung im süddeutschen Frühkonstitutionalismus verwiesen (P. Nolte). Rechtliche Kontinuitäten zwischen der absolutistisch-ständischen Zeit und dem Konstitutionalismus, so zeigten die Referate und Diskussionen, hat es wohl kaum oder nur in unbedeutendem Umfang gegeben. Die föderalen Reformideen für das Reich waren zwar weit entwickelt, gelangten aber nicht zur Umsetzung; nach 1815 verhinderte der preußisch-österreichische Gegensatz für lange Zeit die Schaffung eines föderal verfaßten deutschen Bundesstaates (H. Boldt). Auf eine ähnliche Diskontinuität der verfassungsrechtlichen Regelungen und teilweise auch politischen Handlungsbedingungen verwies H. Brandt für die süddeutschen Staaten. Kontinuitäten ergaben sich insofern eher allgemein in den gesellschaftlich-politischen Problemlagen wie z. B. der Frage der Finanzprobleme (Blänkner). Möglicherweise bestehen auch in den grundlegenden politischen Entscheidungsstrukturen zwischen dem 18. und 19. Jh. gewisse Kontinuitäten, denn die zweiseitige Entscheidungsfindung innerhalb des rechtlichen Rahmens des Konstitutionalismus knüpfte - unter sicherlich gewandelten Rahmenbedingungen - an den Dualismus von Fürst und Ständen im 18. Jh. an. Entlang der zweiten Frage nach den Gründen für die Entstehung des Verfassungstaates in der ersten Hälfte des 19. Jhs. läßt sich das komplexe Zusammenspiel von Verfassungsidee, innen- und außenpolitischer Konstellation und Interessen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen gut erkennen. Deutlich zeigten sich diese wechselnden Einflüsse bei der Diskussion um die Einführung einer modernen Verfassung in Preußen. Der Einfluß W. v. Humboldts und dementsprechend die Hoffnung auf die Durchsetzung bzw. das Scheitern seines die ständische Mitbestimmung betonenden Verfassungsentwurfs gingen auf den Wandel der innen- und außenpolitischen Rahmenbedingungen um 1815 zurück (De Pascale). P. Nolte verwies in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Frage der kommunalen Selbstverwaltung für das Gelingen oder Scheitern der Verfassungsfrage. Der Vergleich zwischen Preußen und Süddeutschland zeige, daß eine die intermediären Gewalten beseitigende moderne Konstitution leichter durchzusetzen war, wenn nicht wie in Preußen der Adel die starke Selbstverwaltung zur Interessenwahrung nutzen konnte, sondern wie in Süddeutschland die kommunale Mitbestimmung schwächer oder der Adel zersplitterter war. Das Beispiel der Schweiz machte aber gleichzeitig deutlich, daß auch aus der Tradition des Kommunalismus eine moderne Verfassungsbewegung entstehen konnte (U. Meyerhofer). Die Gründe für die Verfassungsstiftungen zu Beginn des 19. Jhs. betrafen nicht nur die süddeutschen Staaten, sondern fanden sich auch in anderen europäischen Staaten: die Strukturierung uneinheitlicher neu erworbener Gebiete mit Hilfe eines einheitlichen Verfassungs gesetzes, die Deckung des Finanzbedarfs des verschuldeten Staates, die Umsetzung nationaler oder staatlicher Unabhängigkeit und schließlich die schrittweise Einbeziehung der Bevölkerung in den politischen Willensbildungsprozeß (und sei es in der Form der Zähmung des Adels mit Hilfe der Einrich-

Einleitung

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tung einer Ersten Kammer) (H. Brandt, M. Kirsch). Die außenpolitischen Einflüsse auf die Verfassungsgebung konnten von sehr unterschiedlicher Intensität sein von den hegemonialen Eingriffen Napoleon Bonapartes in anderen Ländern aufgrund finanzieller und militärischer Interessen Frankreichs über die militärische Intervention der europäischen Mächte zugunsten eines bedrohten Monarchen wie in Neapel 1821 bis hin zur Wirkung des Art. 13 auf eine beschleunigte Verfassungsgebung in Süddeutschland oder zum Erlaß eines Provinzialständegesetzes in Dänemark. Innerhalb des eben dargestellten Ursachengeflechts blieb das Verhältnis von Verfassung und Nation für das frühe 19. Jh. in der Diskussion umstritten - besaß die Verfassungsfrage in den zeitgenössischen politischen Debatten und Kämpfen in den deutschen, italienischen und schweizerischen Einzelstaaten einen Vorrang gegenüber der Nation (Blänkner, Daum, Meyerhofer), oder war das nationale Element von Anfang an untrennbar mit dem Ruf nach Konstitutionen verbunden? (Schiera, Mazzacane, De Pascale). Die sozialen Trägerschichten des Konstitutionalismus unterschieden sich von Land zu Land: Liberales Reformbeamtentum in Dänemark, ländliche bürgerliche Schicht in der Schweiz, in Frankreich verschmolzen der neue und alte Adel mit der "notabilite revolutionnaire" zu den bis in die 1840er herrschenden Notabien, in Polen behielt der Adel trotz gewisser Zugeständnisse an das Bürgertum seine dominante Stellung auch im Rahmen der modemen Verfassung. Dieser Befund einer großen Flexibilität des neuen Rechtssystems Konstitutionalismus im Hinblick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedürfte aber für seine Erklärung noch weiterer Diskussionen und vergleichender Forschungen. Im Hinblick auf die Rezeptionsphänomene im Staatsdenken, aber auch zwischen den einzelnen Verfassungen unterschiedlicher Länder (der dritten Grundfrage der Tagung) steht die Forschung - trotz eines in den letzten Jahren deutlich wahrnehmbaren Aufschwungs - insgesamt gesehen noch in den Anfängen. Insbesondere die transatlantischen Rechtsbeziehungen erfuhren bislang eine vermehrte Aufmerksamkeit, doch liegt die Hypothese nahe, daß sich dieses Interesse eher aus der heutigen politischen Konstellation als aus der faktischen Bedeutung der Rezeption für die europäische Verfassungsentwicklung im 19. Jh. erklären läßt. 3 Aber auch inner3 Herrrnann Wellenreuther/Claudia Schnurmann (Hrsg.), Die amerikanische Verfassung und deutsch-amerikanisches Verfassungsdenken. Ein Rückblick über 200 Jahre. New York usw. 1991; Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Grundlagen transatlantischer Rechtsbeziehungen im 18. und 19. Jahrhundert. Frankfurt/M. usw. 1991; Hermann WeIlenreuther, Die USA. Ein politisches Vorbild der bürgerlich-liberalen Kräfte des Vormärz?, in: Jürgen ElvertlMichael Salewski (Hrsg.), Deutschland und der Westen im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1: Transatlantische Beziehungen. Stuttgart 1993, S. 23-42; Michael Dreyer, Die Verfassung der USA. Ein ModeIl für deutsche Verfassungsentwürfe des 19. Jahrhunderts, in: Deutschland und der Westen, ebd., S. 225 - 246; Horst Dippel, Die amerikanische Verfassung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Dilemma von Politik und Staatsrecht. Goldbach 1994; ders., Les idees constitutionneIles americaines et franc;aises en AIlemagne la fin du XVIIIe siede, in: Constitution & Revolution aux Etats-Unis d'Amerique et en Europe (1776/1815). Macerata 1995, S. 557 - 571; Carlo Ghisalberti, Il sistema politico americano e il costituzionalismo italiano deI Risorgimento, in: Clio 28. 1992, S. 341-352; Georg-Christoph v. Unruh, Die amerika-

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halb Europas sind die Ursprünge und Ausstrahlungen der französischen, belgischen sowie der spanischen und englischen Verfassungen zumindest ansatzweise analysiert worden. 4 Mittlerweile am weitesten gediehen sind die Forschungen zu den transnationalen Einflüssen auf die italienische StaatenweIt - hier reichen die Arbeiten von Godechot über Furlani und Ricotti bis zu dem jüngsten Sammelband von Mazzacane/Schulze. 5 Insofern erscheint es nicht weiter verwunderlich, daß es trotz dieser ersten, wichtigen Vorarbeiten bislang in der verfassungshistorischen Forschung noch nicht zu einer weitergehenden methodologischen Reflexion über die Bedingungen sowie die Art und Weise der Rezeption gekommen ist. nische Verfassung und europäisches Verfassungsdenken - Ausstrahlung und Vergleich: Polen, Norwegen, Deutschland, in: Amerikastudien 34. 1990, S. 135 -148. Zur Bedeutung der französischen Verfassungen für die europäische Verfassungsentwicklung im 19. Jh.; Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäischer Verfassungstyp - Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999. 4 John Gilissen, Die belgische Verfassung von 1831 - ihr Ursprung und ihr Einfluß, in: Werner Conze (Hrsg.), Beiträge zur deutschen und belgischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Stuttgart 1967, S. 38-69; Jacques Godechot, Originalite et imitation dans les institutions italiennes de I'epoque napoleonienne, in: Annuario dell'Istituto storico italiano per l'eta moderna e contemporena 23/24. 1971/72, S. 391-404; Fran90is BurdeaulMarcel Morabito, Les experiences etrangeres et la premiere Constitution fran9aise, in: Pouvoirs 50. 1989, S. 97 -112; Jean Stengers, Evolution de la royaute en Belgique: modele ou imitation de l'evolution europeenne, in: Res publica 1991, S. 85 -103; Helmut Asmus, Die Verfassung von 1791 als Leitbild im süddeutschen Vormärzliberalismus, in: Helmut Reinalter (Hrsg.), Die Französische Revolution, Mitteleuropa und Italien. Frankfurt/M. 1992, S. 269-283; Klaus F. Bauer, Der französische Einfluß auf die Batavische und die Helvetische Verfassung des Jahres 1798. Ein Beitrag zur französischen Verfassungsgeschichte. Diss. iur. ErlangenNürnberg 1962; Juan Ferrando Badia,Die spanische Verfassung von 1812 und Europa, in: Der Staat 2. 1963, S. 152-180; Georg Stadtmüllr, Westliches Verfassungsmodell und politische Wirklichkeit in den balkanischen Staaten, in: Saeculum 9. 1958, S. 405 - 424; GeorgChristoph v. Unruh, Die Grundsätze des angelsächsischen Verfassungsrechts in der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791, in: Rudolf Jaworski (Hrsg.), Nationale und internationale Aspekte der polnischen Verfassung vom 3. Mai 1791. FrankfurtlM. 1993, S. 54-63; Wolfgang Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748-1914. Berlin 1995. 5 Godechot, ebd.; Silvio Furlani, L'influenza della Costituzione e dell'ordinamento costituzionale belga dei 1831 sulla stesura delle Statuto e di altri testi istituzionali fondamentali dei Regno di Sardegna nel 1848, in: Bollettino di informazioni costituzionali e parlamentari (Camera dei deputati) 1986, S. 111-123; Carlo Raffae1e Ricotti, I1 costituzionalismo britannico nel Mediterraneo (1794-1818) Teil 1: I1 modelle corso, in: Clio 27. 1991, S. 365 -451; Teil 2: Fra "whigs" e "tories": le istanze "costituzionali" a Malta, in: Clio 29. 1993, S. 213282; Teil 3: Alle origini dei "modello siciliano", in: Clio 31. 1995, S. 5-63; ders., Ancora sul modelle corso: il sistema elettorale e la sua derivazione britannica, in: Clio 29. 1993, S. 579-607; Carlo Ghisalberti, Dalla ricerca di un modelle alla costruzione di uno Stato, in: Clio 32. 1996, S. 193 - 208; siehe auch die Beiträge in den 1990 und 1995 erschienenen Sammelbänden: Reiner Schulze (Hrsg.), Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen RechtskuItur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 1). Berlin 1990; Aldo MazzacanelReiner Schulze (Hrsg.), Die deutsche und italienische Rechtskultur im ,,zeitalter der Verg1eichung" (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 15). Berlin 1995.

Einleitung

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Dementsprechend konnten die Referenten auf der Tagung zumeist nur auf die unterschiedlichsten Phänomene der Verfassungsrezeption und die sich anschließenden, vielfältigen Probleme und Fragen verweisen, als daß sie bereits einheitliche Ergebnisse präsentierten. A. Serrano stellte die grundlegende Frage, wie die Rezeption bzw. die Ausstrahlung einer Verfassung an sich funktioniere. Allgemein bedürfe es dafür der Kenntnis vom Ursprung und Geschichte des zu rezepierenden Textes, des Textes selbst und seiner Anwendung bzw. Interpretation. Das Beispiel der spanischen Verfassung von Cadiz aus dem Jahre 1812 zeigte die Problematik der Rezeption sehr deutlich. Sie traf innerhalb der deutschen Liberalen nur auf geteilte Zustimmung, je nachdem, welche Bedeutung dem Problem von Monarchie und Demokratie zugewiesen wurde (H. Dippel). In umgekehrter Richtung entfaltete Hallers Schrift über die Verfassung eine ganz andere Wirkung, denn während sie innerhalb des deutschen politischen Spektrums nur als Pamphlet gelten konnte, kam ihr unter den spanischen Rahmenbedingungen die Rolle einer bedeutenden, ernst zu nehmenden Verfassungsstreitschrift zu. Die Übernahme des gesamten Verfassungstextes der spanischen Konstitution 1812 in der Revolution von Neapel-Sizilien im Jahre 1821/22 trug weniger einen verfassungsrechtlichen Charakter, statt dessen kam ihr vielmehr die Funktion einer politischen Losung zu, die die unterschiedlichen Interessen in der Revolution scheinbar zu bündeln wußte. In der Debatte um die Anpassung des spanischen Textes an die süditalienischen Verhältnisse wurden andere Vorbilder wie die neapolitanische Verfassung von 1799 oder der britische Konstitutionalismus abgelehnt, während die französische Charte von 1814 eine große Bedeutung besaß (W. Daum). Neben einer derartigen positiven bzw. negativen gab es auch eine "verdeckte" Rezeption. Die schweizerischen Liberalen übernahmen in ihre Verfassungsvorstellungen wichtige Elemente aus der deutschen Naturrechtslehre und der Französischen Revolution, in späterer Zeit jedoch kam es zu einer "Ideologisierung" dieser Ideen, die nunmehr der Tradition der direkten Demokratie der schweizerischen Landsgemeinde zugewiesen wurden (U. Meyerhofer). Deutlich läßt sich auch die Übernahme wichtiger Verfassungsregeln anhand eines Textvergleichs - z. B. die gemeinschaftliche Ausübung der Legislativgewalt - in vielen Verfassungen um 1815 feststellen (M. Kirsch). Eine derartige Rezeption kann etwa für die Charakterisierung des Katholizismus als Staatsreligion aufgezeigt werden: Diese Rechtsregel ist erstmals in der polnischen Verfassung von 1791 formuliert, begegnet uns dann in der napoleonischen Konstitution der Republik Italien 1802 und in der Cadizer Cortes-Verfassung von 1812, um später im Statuto Albertino von 1848 ihren Niederschlag zu finden (H. Ullrich). Schließlich zeigte der preußisch-dänische Vergleich der Provinzialständegesetze, unter welchen Bedingungen und mit welchen Auswirkungen "nicht-modeme" Verfassungs gesetze aus einer Abwehrhaltung gegen den Konstitutionalismus heraus rezipiert wurden (p. Hagemeyer). Die zukünftige Forschung zur Rezeption der Verfassungsideen wird einerseits bei den Denkern der Staatslehre und Rechtsphilosophie, andererseits direkt bei den Verfassungstexten und deren politischen Schöpfern anzusetzen haben, um das verfassungshistorische Beziehungsge-

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flecht Europas im 19. Jh. entschlüsseln zu können. Insbesondere die Analyse des zweiten Bereichs ist sehr vielversprechend, da so nicht nur analysiert werden könnte, wer unter welchen historischen Bedingungen über die diskursive Deutungsmacht verfügt, die Rezeption, aber auch die Nicht-Rezeption bestimmter Verfassungsregeln durchzusetzen, sondern darüber hinaus könnte in einem weiteren Schritt die Anwendung gleicher Rechtsregeln und damit die konkrete Auswirkung der Rezeption unter anderen politischen und sozialen Verhältnissen verfolgt werden. Bei der vierten Frage nach den Themen und Problemen des Vergleichs handelt es sich um einen Forschungsbereich, der in der Verfassungsgeschichtschreibung seit den vielversprechenden AnHingen etwa von atto Hintze 6 oder Boris MirkineGuetzevitch7 in den 1930er Jahren bis auf wenige Ausnahmen vollkommen vernachlässigt wurde. Nach 1945 setzte sich die bereits bei Hartung feststellbare Abneigung gegenüber der vergleichenden Analyse in der verfassungshistorischen Forschung zum 19. Jh. weitgehend durch. 8 Eine Ausnahme bildete hier nur die Studie von Eugene und Pauline Anderson aus dem Jahre 1967. 9 Die anregenden vergleichenden Studien in der Zeit nach 1945 gingen eher von Politologen und Juristen aus, die sich auch für historische Zusammenhänge interessierten. Bei diesen systematischen Vergleichen der Regierungssysteme überwog aber der Blickwinkel des 20. Jhs., so daß Elemente des 19. Jhs. nur insoweit analysiert wurden, sofern sie noch einen Bezug zum heutigen politischen System besaßen - das gilt sowohl für C. J. Friedrichs wichtiges Werk über den "Verfassungsstaat der Neuzeit", aber auch 6 Speziell zum 19. Jahrhundert: Otto Hintze, Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung, in: ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte. Hrsg. von Gerhard Oestreich. Göttingen 19622 , S. 359-389; ders., Wesen und Wandlung des modemen Staates, in: ebd., S. 470-496, insbes. S. 470 f., 475 f.; ders., Der Durchbruch des bürgerlich-demokratischen Nationalstaates in der amerikanischen und der französischen Revolution, in: ebd., S. 503-510. Zu Hintze als vergleichendem Verfassungshistoriker: Pierangelo Schiera, Otto Hintze, Napoli 1974; Rudolf Vierhaus, Otto Hintze und das Problem der vergleichenden europäischen Verfassungsgeschichte, in: Otto Büsch/Michael Erbe (Hrsg.), Otto Hintze und die modeme Geschichtswissenschaft. Berlin 1983, S. 95 f., 104 ff., 108; Giuseppe di Costanzo, Otto Hintze e la storia costituzionale e amministrativa comparata, in: Pietro Rossi (Hrsg.), La storia comparata. Approcci e prospettive. Milano 1990, S. 73-89. 7 Boris Mirkine-Guetzevitch, L'histoire constitutionnelle comparee, in: Annales de l'Institut de Droit compare de I'Universite de Paris 2. 1936, S. 86 ff., 91 ff.; ders., Les origines fran~aises du regime parlementaire, in: Seances et travaux de I' Academie des sciences morales et politiques, Compte rendu 92 (Juillet-Aout 1932), S. 34 ff., 56 ff.; ders., 1830 dans l'evolution constitutionnelle de l'Europe, in: Revue d'histoire moderne 6. 1931, S. 241 ff., 253 ff. 8 Fritz Hartung, Die Entwicklung der konstitutionellen Monarchie in Europa, in: ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen. Leipzig 1940, S. 183 ff., 222 ff., 229; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Stuttgart 19508 , S. 2. 9 Eugene N. u. Pauline R. Anderson, Politicallnstitutions and Social Change in Continental Europe in the Nineteenth Century. Berkeley usw. 1967, S. VII ff., 26 ff.

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für K. Loewensteins "Verfassungslehre" bis hin zu Klaus v. Beymes Habilitationsschrift "Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa".10 Im Gegensatz zu dieser Tendenz haben Maurice Duverger, aber auch Dieter Grimm grundlegende, auch das 19. Jh. in seinen historischen Eigenheiten einbeziehende vergleichende Forschungen betrieben. 11 Wenn Historiker in ihren wenigen komparatistisch angelegten Studien auch die Verfassungswirklichkeit miteinbezogen, so standen ZU" meist einzelne Phänomene oder aber kleinere Zeitabschnitte im Vordergrund. Das gilt etwa nicht nur für die die Verfassungsproblematik einbeziehenden Analysen Godechots und Palmers zum europäisch-atlantischen Vergleich im Ausgang des 18. Jhs., sondern auch für G. A. Ritters deutsch-britischen Parlamentarismusvergleich sowie für Boldts deutsch-italienischen Gegenüberstellungen und schließlich für die jüngst erschienenen Arbeiten Wienforts zur Wahrnehmung der Monarchie in England und Deutschland und Klimos zu den Verwaltungseliten in Italien und Preußen. 12 In den letzten Jahren sind auch Probleme des Zentralismus und Föderalismus sowie plebiszitäre bzw. bonapartistische Verfassungselemente unter kom paratistischer Perspektive ins Blickfeld der Forschung geraten. 13 In der Tradition der IO Carl Joachim Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit. Berlin usw. 1953, S. 29 ff.; Karl Loewenstein, Verfassungslehre. Tübingen 1959, S. 67 ff.; Klaus v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa. München 19732 . 11 Maurice Duverger, Demokratie im technischen Zeitalter. Das Janusgesicht des Westens. München 1973; ders., Le systeme politique fran~aise. Droit constitutionnel et systemes politiques. Paris 1986 19 , S. 18 ff., 84 f., 87 ff.; Dieter Grimm, Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus, in: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages 1986. FrankfurtlM. 1987, S. 45 - 76; ders., Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes. Frankfurt/M. 1988, S. \0-42; ders., Bürgerlichkeit im Recht, in: ders., Recht und Staat der bürgerlichen Gesellschaft. FrankfurtlM. 1987, S. 35 ff. 12 Jacques Godechot, La Grande Nation. L'expansion revolutionnaire de la France dans le monde de 1789 1799. Paris 1983; R. R. Palmer, The Age of the Democratic Revolution. A Political History of Europe and America, 1760 - 1800, Bd. 2: The Struggle. Princeton 1964; Gerhard A. Ritter, Deutscher und britischer Parlamentarismus. Ein verfassungsgeschichtli. cher Vergleich, in: ders., Arbeiterbewegung, Parteien und Parlamentarismus. Aufsätze zur deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1976, S. 190 - 221; Monika Wienfort, Monarchie in der bürgerlichen Gesellschaft. Deutschland und England von 1640 bis 1848. Göttingen 1993; Arpad v. Klimo, Staat und Klientel im 19. Jahrhundert. Administrative Eliten in Italien und Preußen im Vergleich 1860-1918. Köln 1997; Hans Boldt, Probleme des verfassungsgeschichtlichen Vergleichs: Das Beispiel Italiens und Deutschlands im 19. Jahrhundert, in: Mazzacane/Schulze (Hrsg.), Die deutsche und,italienische Rechtskultur (wie Fn. 5), S. 63 ff., 66 ff. 13 Das gilt insbesondere für die Beiträge von Schiera, Klimo und JanzlSiegrist in dem Sammelband: Oliver JanzlHannes SiegristIPierangelo Schiera (Hrsg.), Centralismo e federalismo tra Otto e Novecento. Italia e Germania a confronto. Bologna 1997; Pierangelo Schiera, Centralismo e federalismo nell'unificazione statal-nazionale italiana e tedesca. Spunti per una comparazione politologica, S. 21-46; Arpad v. Klimo, Fra Stato centralistico e periferia. Alti funzionari statali in Italia e nella Germania prussiana dal 1870 al 1914, S. 125-140; Oliver JanzlHannes Siegrist, Centralismo e federalismo in Italia e Germania: strutture e culture a confronto, S. 7 - 20; Enzo Fimiani, Per una storia delle teorie e pratiche plebiscitarie nell'Europa moderna e contemporanea, in: Annali dell'Istituto storico italo-germanico in

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nur die Normen beachtenden, rechtsvergleichenden Untersuchungen zum Ausgang des 19. Jhs. standen nicht nur Bornhaks Überlegungen in seiner Spätschrift aus den 1930er Jahren, sondern auch einige vergleichende Verfassungstextanalysen der Nachkriegszeit, die damit auf eine Berücksichtigung der Verfassungswirklichkeit weitgehend verzichten. 14 Die vergleichende verfassungshistorische Forschung befindet sich also nach wie vor in ihren Anfängen, so daß auf der Tagung auch nur einzelne Aspekte neuerer Forschungen diskutiert werden konnten. Obgleich England und Deutschland gerne als zwei sehr konträre Fälle angesehen werden, verwiesen sowohl H. Boldt und insbesondere M. Wienfort auch auf die bestehenden Ähnlichkeiten. Boldt stellte die Ähnlichkeit zwischen dem deutschen Reich und England im Hinblick auf die in einzelnen Gesetzen, Verträgen oder Kapitulationen geregelte Verfassung heraus. Gleichzeitig betonte er aber auch den Unterschied, daß in Deutschland eine zentrale Instanz des Staates wie diejenige des englischen Königs im Verfassungssystem fehlte. W. Burgdorf wandte deshalb ein, ob statt England nicht die Generalstaaten, Polen oder die Schweiz der "passendere" Vergleichsfall zur alten Reichsverfassung wäre. Deutliche Ähnlichkeiten zwischen Preußen und England zeigen sich hingegen beim Herrschaftsverständnis in der englischen und deutschen Gesellschaft um 1800, da dem Monarchen eine allgemeine Integrationswirkung zugeschrieben wird. In England entwickelte er sich zu einem entpolitisierten Nationalsymbol ein Prozeß, der hinsichtlich des nationalen Gehalts in Deutschland erst mit starker zeitlicher Verzögerung eintrat (M. Wienfort). Der Vergleich zwischen Preußen und Dänemark ging von der Rezeption des preußischen Provinzialständegesetzes in Dänemark aus (F. Hagemeyer). Die Analyse der Anwendung dieser beiden sehr ähnlichen Gesetze zeigte aber, daß in Dänemark die Provinzialstände sehr viel stärker Einfluß auf die politischen Entscheidungen im Gesetzgebungsprozeß gewannen, so daß in der Verfassungswirklichkeit ein gleitender Übergang zum Konstitutionalismus möglich erschien, während die restriktive Handhabung in Preußen einen derartigen Weg verbaute. Im Vergleich zu Preußen wirkte Dänemark also moderner, in Gegenüberstellung mit Norwegen oder Süddeutschland zeigte sich jedoch, daß es sich bei den Provinzialständegesetzen um einen halbherzigen Schritt Trento 21. 1995, S. 267-333; Michael Stürmer, Krise, Konflikt, Entscheidung. Die Suche nach dem neuen Cäsar als europäisches Verfassungsproblem, in: Kar! HammerlPeter Claus Hartmann (Hrsg.), Le Bonapartisme/Der Bonapartismus. Historisches Phänomen und politischer Mythos. München 1977, S. 102-118. 14 Conrad Bornhak, Genealogie der Verfassungen. Breslau 1935; Werner Näf, Staatsverfassungen und Staatstypen 1830/31, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815-1918). Köln 1972, S. 127-145; Hermann Eichler, Verfassungsbewegungen in Amerika und Europa. Frankfurt usw. 1985; Giuseppe de Vergottini, Diritto costituzionale comparato. Padova 19934 , S. 224 ff.; Aristovoulos J. Manessis, Deux Etats nes en 1830. Rassemblances et dissemblances constitutionnelles entre la Belgique et la Grece, in: Travaux et conferences. Faculte de Droit, Universite Iibre de Bruxelles 7. 1959, S. 27 -I 04; Jörg-Detlef Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, in: JöR N.F. 39. 1990, S. 253.

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handelte. Vom französischen Leitbild 1799 ausgehend, betonte M. Kirsch beim Vergleich Frankreichs mit der Republik Italien ab 1802 und dem Königreich Westfalen unter Einbeziehung der holländischen und polnischen Verhältnisse, daß sich zwischen 1799 und 1814 eine Verfassungssituation in vielen Ländern Europas herausbildete, die es - trotz der häufig in der bisherigen Historiographie anzutreffenden abwertenden Beurteilung - verdient, als "napoleonischer" Konstitutionalismus bezeichnet zu werden. Sowohl in der Verfassungsgebung, im Text der Konstitutionen als auch in der Verfassungswirklichkeit bestanden auffallige Ähnlichkeiten, während bei den Motiven und Ursachen der Verfassungsgebung ein deutlicher Unterschied zwischen Frankreich und den anderen europäischen Staaten in dieser Zeit festzustellen ist. Schließlich führte P. Nolte einen Vergleich zwischen Preußen und den süddeutschen Staaten durch. Dabei stand die Frage im Vordergrund, welche Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung im Rahmen der Ausbildung des Verfassungstaates zukam. Der Adel in Preußen nutzte die Selbstverwaltung dazu, den Plänen einer gesamtstaatlichen Repräsentation Widerstand zu leisten, in Süddeutschland hingegen erleichterte die geringere kommunale Mitbestimmung die Durchsetzung einer modemen Verfassung. Zwar hat der Vergleich in der sozialhistorischen Forschung zunehmend Eingang gefunden, doch befindet sich die Diskussion um die Vergleichsmethodologie noch in den Anfangen. 15 An diese Überlegungen wurde auf der Tagung zumindest insoweit angeknüpft, als daß unterschiedliche methodische Zugänge des Vergleichs vorgestellt wurden. Ein mögliches Spezifikum des verfassungshistorischen Vergleichs besteht - insofern vom Verfassungstext ausgegangen wird - in der von vornherein notwendigen Berücksichtigung der Beziehungsgeschichte zwischen den unterschiedlichen Texten. Ein weiterer Unterschied zum sozialgeschichtlichen Vergleich ist bei der verfassungshistorischen Komparatistik häufig dadurch gegeben, daß die in der Verfassung enthaltenen Rechtsregeln für den Vergleich bereits detaillierte Strukturelemente aus sich heraus vorgeben, während der Sozialhistoriker seine allgemeinen dem Vergleich dienenden Merkmale freier wählen kann. Das gilt nicht nur für die Normanalyse an sich, sondern insbesondere auch für die Betrachtung der historischen Wirklichkeit, wenn die Anwendung der Rechtsregeln untersucht wird. Insofern wählten M. Wienfort und P. Nolte ei15 Hartrnut Kaelble, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert. FrankfurtlM. u. a. 1999; Heinz-Gerhard HauptlJürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt usw. 1996, S. 9-45; Thomas Welskopp, Stolpersteine auf dem Königsweg. Methodenkritische Anmerkungen zum internationalen Vergleich in der Gesellschaftsgeschichte, in: AfS 35. 1995, S. 339-367; Joachim Matthes, The Operation Called "Vergleichen", in: Ders. (Hrsg.), Zwischen den Kulturen? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs. Göttingen 1992, S. 81 ff.; zum Aufschwung der vergleichenden sozialhistorischen Forschung in Europa seit den 1980er Jahren: Hartrnut Kaelble, Vergleichende Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts: Forschungen europäischer Historiker, in: Jahrbuch f. Wirtschaftsgeschichte 1993, S. 173 f., 176 ff.

2 Kirsch/Schier.

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nen dem sozial historischen Vergleich verwandten Ansatz, indem sie ein allgemeines Strukturmerkmal (Herrschaftsverständnis, politische Bedeutung der kommunalen Selbstverwaltung) als Ausgangspunkt für die komparatistische Betrachtung nahmen - F. Hagemeyer und M. Kirsch gingen in ihrer Analyse stärker rechtshistorisch vor, so daß der Vergleich der Verfassungswirklichkeit entlang spezifischer Rechtsstrukturen erfolgte. Das grundsätzliche Problem jeden Vergleichs, weIche Begriffe und Definitionen bei der komparatistischen Analyse unterschiedlicher Länder sinnvoller Weise benutzt werden sollten - in diesem Fall "Konstitutionalismus" und "Verfassung" -, zeigte sich in der Diskussion um die fünfte Grundfrage der Tagung. Umstritten blieb hierbei, weIche Elemente mit dem Begriff des Konstitutionalismus verbunden werden sollen. 16 H. Brandt plädierte dafür, das Parlament als zentralen Ort des politischen Geschehens im Wechselspiel mit der Öffentlichkeit (Zeitungen, politische Clubs) als Ausgangspunkt zu wählen. Vom französischen und angelsächsischen Sprachgebrauch ausgehend, schlug M. Kirsch vor, die konstitutionelle Monarchie im 19. Jh. als "monarchischen" Konstitutionalismus zu bezeichnen, um sie so von der "parlamentarischen" oder "präsidialen" Form des Konstitutionalismus unterscheiden zu können. Gegen diese allein auf das Machtverhältnis von Exekutive und Legislative abstellende Definition wandten Serrano und Brauneder ein, daß auch die Judikative definitorisch einbezogen werden müßte, wenngleich sie auf staatsrechtlicher Ebene in Form einer Verfassungsgerichtsbarkeit im 19. Jh. noch nicht zu größerer Bedeutung gelangte. Schiera verwies zusätzlich auf das Problem, auch die Kontinuitäten aus dem 18. Jh. zu berücksichtigen. Die Definition des "Konstitutionalismus" stand damit im Spannungsverhältnis einerseits der Forderung nach Historisierung des Begriffs, andererseits der Berücksichtigung des vollen heutigen juristischen Sinngehalts und schließlich drittens der Vermittlung des derzeitigen Wortsinns in unterschiedlichen Sprachen mit der Situation im 19. Jh. unter einer damit möglicherweise notwendigen Beschränkung auf das Verhältnis von Exekutive und Legislative. Stärker von den historischen Entstehungsbedingungen ausgehend, machte P. Nolte den Vorschlag, für die deutschen Verhältnisse von "situativem" Konstitutionalismus zu sprechen, weIchem er die französischen und amerikanischen Verhältnisse gegenüberstellte, in denen politische Theorien tatsächlich in Verfassungstexte umgewandelt worden wären. Eine derartige Bezeichnung scheint aber allenfalls für die ersten Verfassungen Frankreichs 1791 und Amerikas 1776/1787 angebracht, denn alle späteren waren Reaktionen auf vorangehende oder aktuelle politische und gesellschaftliche "Situationen". U. Meyerhofer betonte die anderen Grundfragen des Konstitutionalismus in der Schweiz, denn hier würde der Begriff Republik in Verbindung mit Freiheit und Volkssouveränität gebracht, andererseits ständen Probleme der Föderalität im Vordergrund. 16 Zu den unterschiedlichen Begriffsinhalten des "Konstitutionalismus" vgl. u. den Beitrag von MartinKirsch, Die Entwicklung des Konstitutionalismus im Vergleich: französische Vorbilder und europäische Strukturen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, S. 149 f.

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Von unterschiedlichen Teilnehmern wurde der Begriff der "Verfassung"l7 je nach Zusammenhang auch verschieden gebraucht. P. Schiera betonte, daß im 17. und 18. Jh. die "constitutio" dem "ratio status" entsprochen habe. Blänkner schlug vor, die modeme Verfassung als "konstitutionelle" Verfassung zu bezeichnen, gleichzeitig aber den zeitgenössischen Streit um die Deutungsmuster zu beachten, was "Verfassung" für den König oder aber die Liberalen bedeutete. In der Diskussion um den Inhalt des Verfassungsbegriffs müsse zudem die Verfassungskultur, die Verfassungsfeste, die politisch-sozialen Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft von der Monarchie miteinfließen (Blänkner, Wienfort). Schließlich warf O. Dann die Frage auf, ob um 1800 die modeme Verfassungsidee nicht noch eng mit der Vorstellung der Republik verbunden gewesen sei, während die Monarchie aufgrund ihrer Struktur keiner modemen Verfassung bedurfte. Die einzelnen Beiträge, aber auch die Diskussionen auf der Tagung zeigten, daß es wichtig ist, die Verfassungszustände in den deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jhs. gerade in einem europäischen Vergleich in der Zukunft näher zu erforschen.

17 In Auseinandersetzung mit· dem sehr weiten Verfassungsbegriff in der Tradition Otto Brunners - Verfassung = politisch-soziale Bauform einer Zeit - versuchen Willoweit und Boldt (mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt) unter einem rechtlichen bzw. politischen Blickwinkel eine engere Definition zu finden; Dietmar Willoweit, Verfassungsgeschichte, in: Staatslexikon, Bd. 5, hrsg. v. d. GÖrres-Gesellschaft. Freiburg usw. 19897 , S. 650; Hans Boldt, Einführung in die Verfassungsgeschichte. Zwei Abhandlungen zu ihrer Methodik und Geschichte. Düsse\dorf 1984, S. 18 ff., 23; allgemein zum Verfassungsbegriff: Dieter Grimm, Verfassung (II), in: Otto Brunner/Werner ConzelReinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6. Stuttgart 1990, S. 831-899; Wolfgang Schmale, Constitution, Constitutionnel, in: Rolf ReichardtlHans-Jürgen Lüsebrink (Hrsg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680-1820, Bd. 12. München 1992, S. 31-63; Ulrich K. Preuss (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung. Die Ordnung des Politischen. FrankfurtIM. 1994.

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I. Konstitutionalismus in Deutschland

Konstitutionalismus, Verfassung und Geschichte des europäischen politischen Denkens Überlegungen am Rande einer Tagung Von Pierangelo Schiera Was mich besonders interessiert, ist, den historischen Rahmen zu definieren, innerhalb dessen unser Treffen stattgefunden hat. Dadurch könnte vielleicht besser erklärt werden, warum ein Italiener den Anspruch hat, sich mit dem deutschen Konstitutionalismus zu beschäftigen. Alles hängt vom Italienisch-deutschen historischen Institut in Trient ab, das auch unser Kolloquium zusammen mit dem Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin, dem Italienischen Kulturinstitut, der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem Verein für Deutsch-italienische Geschichtsforschung veranstaltet hat. Eine der bedeutsamsten Tendenzen der mehr als zwanzigjährigen Forschung des Trientinischen Instituts liegt in der Tat im Versuch (oder in der Versuchung?), in Italien sowie in Deutschland das Interesse für eine Verfassungsgeschichte zu wekken, die den gesamten oder auch globalen Sinn von politischen Grundstrukturen der europäischen historischen Erfahrung, mit Bezug auf den speziellen Blickwinkel der bestimmten und festen Tradition der deutsch-italienischen Beziehungen erforscht l . Von dieser methodischen Wahl ausgehend, hat sich das Institut in Trient zentralen Themen wie Staat, Kirche und Gesellschaft entlang der klassischen Phasen der europäischen Geschichte, vom hohen Mittelalter bis zur Gegenwart, gewidmet. Insbesondere wurden die institutionellen Momente der politischen Realität in Zusammenhang mit der Dimension der politischen Lehren und der Mentalitätsfragen betrachtet2 . Unter anderem wurde in solchem Kontext der Vergleich zwischen der italienischen und der deutschen politischen Gesellschaft im 19. Jh. unternommen, der die Definition unterschiedlicher Entwicklungsmodelle ermöglichte, wodurch 1 Vgl. P. Schiera, Eine deutsch-italienische Neuzeit? Zeitgebundene Fragestellungen und Methodenfragen aus historiographischer Perspektive, in: Jahrbuch der Braunschweigischen Wissenschaftlichen Gesellschaft, 1997, Göttingen 1998, S. 131-144. 2 Zu diesem Prinzip ist jede Verfassungsgeschichte inspiriert, die " ... über die Schilderung der realen Institutionen hinaus die geistigen Kräfte darlegen (will), die als Staats- und Verfassungstheorien hinter der Wirklichkeit stehen", wie es von G. Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches, in: Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band 11. 8 , Stuttgart 1955, S. 319, ausgedrückt wird.

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Pierange\o Schiera

die zeitgebundenen Fragestellungen der beiden Länder im politischen Aufbau ihrer nationalen Identität verdeutlicht werden konnten 3 . 1. Für ein von der Verfassungsfrage so geprägtes Zeitalter wie das 19. Jh. war es unvermeidlich, daß die Problematik des Konstitutionalismus in den Vordergrund treten sollte. Gerade um diesen Schwerpunkt herum ist ein neues Projekt des Instituts entstanden, das allerdings auf dem Bewußtsein beruht, daß der deutschitalienische Blickwinkel alleine nicht mehr in der Lage ist, ein Phänomen von europäischer Breite zu verstehen, in dem sowohl Deutschland als auch Italien eine sekundäre und gewissermaßen passive Rolle gespielt haben. Gleichzeitig ist die Überzeugung entstanden, daß es falsch wäre, über ein Thema wie den Konstitutionalismus nur in bezug auf nationale Prioritäten zu diskutieren. Im Gegenteil schien es lohnend, das Thema in seiner Gesamtheit und Allgemeinheit als einheitliches Phänomen von europäischer Natur, mit der ganzen Reihe seiner vielfältigen historischen Varianten, zu begreifen4 • 3 Über die erste Reihe der "Quaderni" des Italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient hinaus, die die klassischen Themen von: Il cattolicesimo politico e sociale in Italia e Germania dal 1870 al 1914 (hrsg. von E. Passserin d'Entreves und K. Repgen, Bologna 1976), Il movimento operaio e socialista in Italia e Germania dal 1870 al 1920 (hrsg. von L. Valiani und A. Wandruszka, Bologna 1978), Illiberalismo in Italia e in Germania dalla rivoluzione de\ '48 alla Prima guerra mondiale (hrsg. von R. Lill und N. Matteucci, Bologna 1980), Il nazionalismo in Italia e in Germania fino alla Prima guerra mondiale (hrsg. von R. Lill und F. Valsecchi), Il "Kulturkampf' in Italia e nei paesi di lingua tedesca (hrsg. von R. Lill und F. Traniello, Bologna 1992), I concetti fondamentali delle scienze sociali e dello Stato in Italia e in Germania tra Ottocento e Novecento (hrsg. von R. Gherardi und G. Gozzi, Bologna 1992), Dalla citta alla nazione. Borghesie ottocentesche in Italia e in Germania (hrsg. von M. Meriggi und P. Schiera, Bologna 1993), Saperi della borghesia e storia dei concetti fra Otto e Novecento (hrsg. von R. Gherardi und G. Gozzi, Bologna 1995), Centralismo e federalismo tra Otto e Novecento. Italia e Germania a confronto (hrsg. von O. Janz, P. Schiera und H. Siegrist, Bologna 1997) behandelt, soll auch auf die zweisprachige blaue Reihe der "Contributi/Beiträge" hingewiesen werden, deren Schwerpunkt auf den historischen Bauelementen des Entstehens eines kulturell-politischen nationalen Bewußtseins in beiden Ländern liegt: Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im 19. Jahrhundert: Deutschland und Italien (hrsg. von R. Elze und P. Schiera, Bologna/Berlin 1988), Die Antike im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland (hrsg. von K. Christ und A. Momigliano, Bologna/Berlin 1988), Die Renaissance im 19. Jahrhundert in Italien und Deutschland (hrsg. von A. Buck und C. Vasoli, Bologna/Berlin 1989), Deutsche Italienbilder und italienische Deutschlandsbilder in der Zeit der nationalen Bewegungen 1830-1870 (hrsg. von A. Ara und R. Lill, Bologna/Berlin 1991), Gustav Schmoller in seiner Zeit: die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien (hrsg. von P. Schiera und F. Tenbruck, Bologna/Berlin 1989). 4 Das Kriterium der Zirkulation ist sicher nicht nur für die Verbreitung und den Austausch von philosophischen Ideen in der europäischen Aufklärung (vgl. F. Venturi, La circolazione delle idee in Europa, in: Rassegna storica dei Risorgimento, XLI, 1954), sondern auch für das zunehmende Interesse der europäischen Eliten von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts für die Idee der Verfassung und für ihre verschiedenen Modelle gültig (vgl. W. Pöggeler, Die deutsche Wissenschaft vom englischen Staatsrecht. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte 1748 -1914, Berlin 1995). Von einer "Zirkulation des europäischen . Denkens" hatte der Neapolitanische Hegelianer Bertrando Spaventa (1817 ~ 1883) schon gesprochen.

Konstitutionalismus, Verfassung, Geschichte des politischen Denkens

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Selbstverständlich müßten auch diese Varianten miteinander verbunden werden im Sinne ihrer gegenseitigen Abhängigkeit oder der Analogie, die unter ihnen bestand. Aber, unserer Meinung nach, ist es viel interessanter, sie als historische Ausdrücke eines einheitlichen Trends zu sehen, der ganz Europa gemeinsam war. Ihn hätte man vielleicht auf einen allgemeinen Verfassungs bedarf zurückführen können, der durch historisch differenzierte Wege, innerhalb der beiden Hauptlinien der Entstehung des europäischen Staatensystems einerseits und der inneren Konsolidierung des modemen Staates andererseits, unterschiedliche historische Lösungen getroffen hatte 5 . So ist auch bei der Vorbereitung unserer Tagung eine Arbeitshypothese bevorzugt worden, nach der der deutsche Konstitutionalismus in einer Entwicklungslinie gesehen wird, die einerseits weiter zurückreicht als üblicher Weise angenommen wird und andererseits eine gemeinschaftliche europäische Prägung hatte. 2. Der erste Punkt jener Hypothese betrifft die Möglichkeit, den Zeitraum von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jhs. als eine Periode des Ausbaus eines Verfassungsbedarfs zu kennzeichnen, welche die europäische politische Kultur und Mentalität in allen ihren Aspekten erfaßte6 . Das bedeutet in erster Linie, daß der Konsolidierungsprozeß des modemen Staates selbst und dessen Umwandlung vom territorialen Ständestaat des Ancien regime zum konstitutionellen Rechtsstaat der nachrevolutionären Zeit zum Entfaltungsprozeß jenes Verfassungsbedarfs gehören genauso wie die französische Erklärung der Menschenrechte, die Klagen des preußischen unmittelbaren Reichsadels für eine landständische Verfassung, die Versuche der legitimen Fürsten, in Wien eine "Heilige Allianz" zu gründen, welche Europa hätte politisch und religiös versöhnen sollen, oder endlich die Kämpfe der Liberalen in ganz Europa für die Freiheit und Einheit der Nation7 • Solchen Beispielen folgend, möchte ich versuchen, in jenem Prozeß der Entfaltung eines Verfassungsbedarfs einige gemeinsame Elemente aufzuzeigen, die vielleicht auch für die Definition des Konstitutionalismus nützlich sein könnten: 5 K. H. Mohnhaupt, Verfassung (11.), Konstitution, Grundgesetze, in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von O. Brunner, W. Conze, R. Koselleck, Bd. 6, Stuttgart 1990; K. O. Freiherr von Aretin, Konstitutionelle Monarchie, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Band H., Berlin 1978, S. 1122-1125. 6 Jede Periodisierung des revolutionären Zeitalters ist schwierig. Kosellecks "Sattelzeit" besitzt bekanntlich andere Bedeutungen, trotzdem kann sie eine sehr nützliche Rolle auch im Bereich "meiner" Verfassungskonsolidierung und -umwandlung spielen. 7 Die Französische Revolution bzw. das Ende des Heiligen Römischen Reichs der Deutschen Nation gelten üblicherweise als unübersehbare Wendepunkte, die besonders für die deutsche Verfassungsgeschichte entscheidend waren: G. Oestreich, Verfassungsgeschichte (wie Anm. 2); D. Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, München 1990. Für Frankreich vgl. kürzlich die Zusammenfassung des Berliner Vortrags (am 28. September 1996) von Fran~ois Furet über "Tocqueville und die Idee des Ancien Regime", in: Centre Mare Bloch. Deutsch-Französisches Forschungszentrum für Sozialwissenschaften, Berlin, InfobriefNr. 7, 2. Halbjahr 1996-1. Halbjahr 1997, S. 3437.

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a) Es scheint zuerst, daß eine systematische Bestrebung bestand, die in den unterschiedlichsten Gebieten des Natur- sowie des Sozialwissens die Konstruktion einheitlicher Anschauungen der organisierten We1t(en) anstrebte; insbesondere in der Botanik und Zoologie setzte sich eine derartig methodisch neue, auf Sytematik gerichtete Beobachtungs- und Darstellungsweise durch, an weiche später das historische Denken anknüpfte 8 ; b) dieses Bedürfnis der Menschen des 18. und 19. Jhs. nach klaren und positiven Verhältnissen betraf aber nicht nur den Bereich des Wissens, sondern auch ihre alltäglichen sozialen Beziehungen, wie sich an der ruhm vollen Geschichte des "Knigge" ablesen läßt9 ; c) im politischen Bereich und in bezug auf die Teilnahme zur Herrschaft wurden selbstverständlich die neuen sozialen, zumeist bürgerlichen Gruppen davon hauptsächlich betroffen, die den alteuropäischen Dualismus zwischen Fürst und Ständen aufgelöst hatten 10; d) die daraus entstehende Definition eines bestimmteren und kontrollierbareren Feldes der Herrschaft sollte sich durch eine Raffinierung und Komplizierung der zuständigen Verwaltungs- und Regierungsorgane und -theorien verwirklichen 11; e) die ihrerseits, durch die wachsende Übernahme von Gelehrten, auch auf einer zunehmenden Spezialisierung und Professionalisierung der entsprechenden Beamten beruhte, die die neuen Funktionen des Staats erfüllen sollten l2 ; 8 So wandelte sich die alte Konzeption der Naturgeschichte (w. Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeit in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, MünchenlWien 1976) zu einern neuen historischen Denken, das unmittelbar mit der Entstehung der neuen Sozial- und Staatswissenschaften verbunden war (0. G. Oexle, "Historismus". Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Bergriffs, in: Braunschweigische Wissenschaftliche Gesellschaft. Jahrbuch 1986, S. 119-155 und P. Schiera, Historismus und Staatswissenschaften. Der Fall Italiens, in: O. G. Oexle/J. Rüsen (Hrsg.), Historismus in den Kulturwissenschaften. Geschichtskonzepte, historische Einschätzungen, Grundlagenprobleme, KölnlWeimar/Wien 1996, S. 309-330). Innerhalb dieses Prozesses führte meiner Meinung nach die wachsende Zirkulation in Europa zu einer Verstärkung des Interesses an einer Verfassung an sich. 9 A. Freiherr Knigge, Umgang mit Menschen, Berlin 1788 (neuerdings Hannover 1993, in: Werkauswahl in 10 Bänden). Vgl. auch P. Schiera, Benehmen, Staatsräson und Melancholie in der frühen Neuzeit. Christian Thomasius zwischen Mittelmeer und Nordeuropa, in: R. Morsey/H. Quaritsch/H. Siedentopf (Hrsg.), Staat, Politik, Verwaltung in Europa. Gedächtnisschrift für Roman Schnur, Berlin 1997, S. 181 ff. 10 T. Nipperdey, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1974; O. Dann (Hrsg.), Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland, München 1984. 11 Als zusammenfassende Interpretation des Themas für Preußen gilt immer O. Hintze, Die Hohenzollem und ihr Werk. Fünfhundert Jahre vaterländischer Geschichte, besonders Kap. IX. Umsturz und Wiederaufbau (1786-1840), Berlin 1915, der selbstverständlich mit dem neuesten Standardwerk über das Thema verglichen werden soll: R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1781 bis 1848, Stuttgart 1967.

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f) endlich hatte dies mit der Erhebung der Wissenschaft zum endgültigen Ermessens- und Einschätzungskriterium des neuen Gewaltapparats zu tun, sowohl in der philosophischen Bestimmung der Zwecke als auch in der Vorbereitung der technischen Mittel dafür l3 ;

g) so daß der Konstitutionalismus selbst gleichzeitig als Folge und Ursache jener epochalen Umwandlung gelten könnte, die nach einer jahrhundertelangen Dominanz der scholastischen, später humanistischen und endlich barocken Prinzipien des bonum commune, der Staatsräson und der materiellen Glückseligkeit der Untertanen 14 nun Sinn und Wesen der Politik in der wissenschaftlich begründeten Selbstständigkeit der Gesellschaft und des Staats durch eigene Gesetze und Formen sah. 3. Es wäre nicht unmöglich, die Liste der Hauptzüge des Vervollkommungsprozesses des modernen Staates in Europa in allen Varianten zu verlängern, die sowohl die großen Nationalmonarchien als auch die kleineren Territorien Mittel- und Südeuropas betrafen. Mein Interesse liegt aber vielmehr in der Frage, ob jener Prozeß überhaupt als ein verfasssungsmäßiger Verlauf des europäischen politischen Lebens im allgemeinen betrachtet werden kann oder nicht l5 . Eine solche Frage verweist aber nicht nur auf institutionelle Aspekte. Wenn ich von Verfassung und Verfassungs bedarf spreche, verweise ich in der Tat auf eine bestimmte Denkkategorie, die in der theoretischen Behandlung von politischen Verhältnissen und Fragen nur im 18. Jh. einen laufenden Gebrauch fand. Sie beruhte auf einem nunmehr vollinhaltlich säkularisierten Bild jener Verhältnisse, welches nur die praktischen, experimentellen und zweckmäßigen Lösungen für die riesigen Reorganisationsfragen des modernen Staates und der bürgerlichen Gesellschaft ermöglichte.

12 M. Borch, Obrigkeit und Widerstand. Zur politischen Soziologie des Beamtentums, Tübingen 1954; W. Bleek, Von der Kameralausbildung zum Juristenprivileg. Studium, Prüfung und Ausbildung der höheren Beamten des allgemeinen Verwaltungsdienstes in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1972; und neuerdings: K. P. Tieck, Riforme amministrative e profile etico deI funzionario dotto in Prussia (1808 - 1830), in "Annali deli' Istituto storico italo-germanico in Trento" XVI (1990), S. 215-261. 13 Über den idealistischen Begriff von Wissenschaft vgl. C. De Pascale, Etica e diritto. La filosofia pratica di Fichte e le sue ascendenze kantiane, Bologna 1995. 14 P. Schiera, Dall'arte di governo alle scienze dello Stato. Il cameralismo e l'assolutismo tedesco, Milano 1969; und Le bien commun et le principe d'association dans l'heritage doctrinal de l'etat modeme, in: The Heritage of the Pre-Industrial European State, Lisboa 1996, S.185-195. 15 Symptomatisch dafür ist das Werk des jungen G. C. L. Simonde de Sismondi, Recherches sur les constitutions des peuples libres, hrsg. von. M. Minerbi, Ginevra 1965, Etudes sur les constitutions libres, Paris 1836 (it. Übers.: Studi intorno alle costituzioni dei popoli liberi, Capolago 1839): vgl. F. Sofia, Sul pensiero politico-costituzionale deI giovane Sismondi, in Rassegna storica deI Risorgimento, LXVI (1981) S. 131-148.

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In diesem Sinne ist die Autonomie der Politik kein philosophischer Anspruch oder keine ideologische Phantasie. Sie stellte im Gegenteil einen materiellen Zug der europäischen Neuzeit dar, als sie die Entdeckung und Begrenzung der Felder des kollektiven Zusammenlebens ermöglichte, woran sich berechenbare und planmäßige Regelungen von bestimmten Menschen bzw. Menschengruppen mit zweckmäßigen Mitteln anschließen konnten 16. Die oft unterschätzte Geschichte des europäischen Merkantilismus beweist ausführlich, daß dieser Autonomisierungsprozeß beide Sektoren der Gesellschaft und des Staats schon lange ergriffen hatte, und zwar sowohl im Hinblick auf die "privaten" Gebiete der Produktion und des Handels als auch hinsichtlich der "öffentlichen" Gebiete der Finanz- und Steuerpolitik 17. 4. Die Themen des Reichtums der Nationen (oder auch früher der Städte I8 ), der notitia rerum, des Aufbaus von Disziplinierungsstrukturen waren aber schon da, bevor die großen und kleinen Politiken des Merkantilismus sich seit der Mitte des 17. Jh. innerhalb des europäischen Staatensystems und durch die neuen modernen Staaten entfalteten 19. Es handelte sich um Themen, die den Stoff jener widersprüchlichen, aber großartigen europäischen Zirkulation von Ideen, Menschen und Techniken bildeten, die mit dem bald teuflisch geprägten Namen der Staatsräsonlehre einherging 2o . Durch ihren statistischen Ursprung, ihren technischen Bestand, 16 M. Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 15.3.-17.3.1993, Beihefte zu "Der Staat", Heft 11, Berlin 1996, S. 82 der über das wichtige weberianische Thema des Monopols der Staatsgewalt in historischer Perspektive W. Willoweit, Die Herausbildung eines staatlichen Gewaltmonopols im Entstehungsprozeß des modernen Staates, in A. RandelzhoferlW. Süss (Hrsg.), Konsens und Konflikt, 1986, S. 313 ff. zitiert. 17 Für den ersten Gesichtspunkt vgl. A. O. Hirschman, Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt am Main 1980; für den zweiten G. Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1924; für die zweite Frage in allgemeiner aber gleichzeitig aktualisierter Weise vgl: P. Schiera, Dal bene comune ai governi privati: aspetti storico-costituzionali dell'amministrazione in politica, in: Storia Amministrazione Costituzione. Annale ISAP, I (1993), S. 161-185. 18 Das berühmte Buch Della Ragion di Stato (1589) von Giovanni Botero, das als Gründungswerk der modernen Staatsräsonlehre gilt, enthält die 1588 schon erschienenen Tre Libri delle Cause della Grandezza e Magnificenza delle Citta. Auch Lodovico Guicciardini, Descrizione di tutti i Paesi Bassi, Anversa 1567, gibt ein modernes Beispiel von "notitia rerum" indem er eine Beschreibung Niederdeutschlands im historischen und geographischen Sinne gibt, die aber besonders aufmerksam an die wirtschaftlichen Voraussetzungen der Wohlfahrt und des gemeinsamen Lebens ist. 19 M. Rassem, Bemerkungen zur "Sozialdisziplinierung" im frühmodernen Staat, in: Zeitschrift für Politik 30 (1983), S. 217 - 238. 20 Über die Thematik der Staatsräson vgl.: R. Schnur (Hrsg.), Staatsräson. Studien zur Geschichte eines politischen Begriffs, Berlin 1975; M. Stolleis, "Arcana Imperii" und ratio status, Göuingen 1980; H. Münkler, Im Namen des Staates. Die Begründung der Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1987; A. De MaddalenaJH. Kellenbenz (Hrsg.), Finanze e ragion di Stato in Italia e in Germania nella prima eta moderna (Annali dell'Istituto

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ihre praktische und anwendbare Funktion, ihre definitorischen Ziele und ihre polizeiwissenschaftlichen Ergebnisse erhielt die Staatsräson in den meisten Ländern Europas eine konkrete Aufnahme bzw. Rezeption, die viel größer als ihre oft nur scheinbare Ablehnung und Verdammung war21 • Meine Frage lautet daher folgendermaßen: Kann diese ratio status auch als eine Art Vorläuferin der constitutio gelten 22 ? Was Deutschland betrifft, mit Berücksichtigung z. B. des theoretischen Continuums von Conring, Pufendorf, Thomasius bis Wolff, scheint die Antwort positiv klingen zu können. Darüber hinaus würde eine solche Interpretation von der theoretischen und pragmatischen Leistung der deutschen Kameralisten und Polizeiwissenschaftler des 17. und 18. Jhs. bestätigt23 . Könnte es andererseits faßbar sein, daß unsere "Verfassung" mit dem Prozeß der inneren Staatsintegration nichts zu tun habe, der so gründlich vom Erfordernis der inneren Sicherheit gekennzeichnet war? Desto mehr, als die letzte das Hauptmotiv der Staatsräsonlehre selbst seit ihrer italienischen Ursprünge im 16. Jh. war? 5. So bin ich zum zweiten Punkt meiner Einführung angekommen, der Deutschland betrifft. Dietmar WiIIoweit hat jüngst ein Heft der Zeitschrift "Aufklärung" zum Thema "Staatsschutz im 18. Jahrhundert" gewidmet. Damit ist auch das Thema Verfassung einbezogen, wie die Benutzung des Ausdruckes "Verfassungs"schutz statt "Staats"-schutz schon am Anfang des 19. Jh. beweist24 . Gerade die pragmatischen Züge der deutschen und besonders der preußischen Politik zeigen, daß die "Verfassung", die in den zeitgenössischen Quellen genannt wird, keine abstrakte und ferne Idee, sondern eine materielle und konkrete Wirklichkeit darstellte, die aus bestimmten Kräften, Mitteln und Ergebnissen bestand. Wie könnte man den am Anfang des 19. Jhs. entstehenden Konstitutionalisierungsprozeß ohne Bezug auf den verfassungsmäßigen Prozeß des vorigen Jhs. verstehen? Wenn Friedrich Wilhelm I. in der Instruction für seinen Nachfolger 1722 schreibt, daß dieser " ... die verfaßungs meines Landes und Armee zu bedenken storico italo-germanico. Quaderno 14), Bologna 1984; G. Borrelli, Ragion di stato e Leviatano. Conservazione e scambio alle origini della modernita politica, Bologna 1995; P. Schiera (Hrsg.), Ragion di Stato e ragioni dello Stato, Napoli 1996. 2\ L' Antimachiavel par Frederic Roi de Prusse, ed. critique par C. Fieischener, Geneve 1958. 22 Der Begriff constitutio wird hier in einem breiteren Sinne als üblich gebraucht: vgl. A. Erler, Konstitution, constitutio, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte, Band 11., Berlin 1978, S. 1119 - 1122. 23 H. Maier, Ältere politische Staatslehre und westliche politische Tradition, München 19802 , P. Schiera, Polizeibegriff und Staatlichkeit im aufgeklärten Absolutismus. Der Wandel des Staatsschutzes und die Rolle der Wissenschaft, in: D. Willoweit (Hrsg.), Staatsschutz (Aufklärung, Jg. 7, Heft 2), Hamburg 1994, S. 85-100. 24 M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, I. Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 - 1800, München 1988.

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(habe)", oder daß er selber " ... biß anno 1722 ... die afferen alles wieder so in einer guhte ordre und verfassung gebracht ... (habe)", wie kann dies von seiner Instruktion für die neue oberste Verwaltungsbehörde, der er den Namen GeneralOber-Finanz-Kriegs- und Domänen-Direktorium gab, getrennt werden? Und wenn der Rat earl Gottlieb Svarez 1780 in einem Brief an den Oberamtmann Johann Georg Schlosser von " ... unsern Staats- und Landes-Verfaßungen ..." redet25 , soll dies auch die Gesamtkonzeption des Allgemeinen Landrechts und dadurch die verfassungsmäßige Politik von Friedrich 11. betreffen26 . Über die Begriffgeschichte der "Verfassung" im 18. Jh. ist alles schon gesagt worden. Ich möchte vielmehr die Verbindung zwischen der Ausdehnung des Begriffs und den konkreten Schritten der Staatsintegration betonen, die besonders in Preußen und nicht nur zur Zeit Friedrichs des Großen, sondern schon zur Zeit seines Urgroßvaters, des Großen Kurfürsten, existierten. Dies berührte aber nicht nur die Verwaltungsebene, sondern auch das neu entstehende verfassungsmäßige Verhältnis zwischen Adel und Fürst. Der alte Dualismus zwischen Fürst und Ständen erfuhr im Verlaufe des 18. Jhs. durch die Verbindung im militär-bürokratischen Apparat quasi eine dynamische Integration. Auch diese Veränderung des dualistischen Wechselverhältnisses war zweifellos eine wichtige Verfassungsentwicklung 27 . 6. In dieser Perspektive liegt meiner Meinung nach auch der allgemeine Sinn, den unser Forschungsprojekt über den europäischen Konstitutionalismus besitzen soll. Eine kollektive Arbeit braucht immer, nach der Unterschiedlichkeit der Forscher, die darin einbezogen sind, eine Vielfalt von Zielen und eine Pluralität von Interessen. Die Gültigkeit einer solchen Forschung hängt von der Möglichkeit ab, verschiedene sowohl homogene als auch vergleichbare Gesichtspunkte gleichzeitig zu benutzen 28 . Demzufolge lag der Schwerpunkt der Beiträge und der Debatte bei unserer Tagung selbstverständlich in der ausführlichen Analyse des deutschen Konstitutionalismus des frühen 19. Jhs. Das bedeutet aber nicht, daß die Möglichkeit damit verlorenginge, den deutschen Fall innerhalb einer breiteren Fragestellung einzuordnen. Dies kann in doppelter Richtung geschehen: einerseits synchronisch, das Ver25 In: Die Politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergänzenden Aktenstücken, Bd. I, hrsg. von G. Küntzel und M. Hass, Leipzig und Berlin 1911, S. 70 und 93. 26 Vgl.: eh. Baldus/H. Mühleisen, Der Briefwechsel zwischen earl Gottlieb Svarez und Johann Georg Schlosser über die Redaktion zum Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, in: D. Willoweit (Hrsg.), Staatsschutz (Aufklärung, Jg. 7, Heft 2), Hamburg 1994. Zu Svarez vgl.: E. Bussi, Stato e amministrazione nel pensiero di earl Gottlieb Svarez, Milano 1966. 27 P. Schiera, La concezione amministrativa dello Stato in Germania (1550-1750), in Storia delle idee po1itiche, economiche e sociali, a cura di L. Firpo, vol. III, Torino 1980. 28 Dies war schon in der 1996 Tagung über den mediterraneren Konstitutionalismus in Messina (Il modello costituzionale inglese e la sua recezione nell' area mediterranea tra la fine dei 700 e la prima meta dell'8(0) klar, deren Beiträge sind zur Zeit in Druck.

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hältnis zwischen dem deutschen und den anderen europäischen Konstitutionalismen betreffend, andererseits diachronisch, was mit dem Versuch einhergeht, beide Phänomene auf den längeren und allgemeineren Weg des schon erwähnten Verfassungsprozesses der Ausbildung des modemen Staates in der frühen Neuzeit zurückzuführen 29 . Was mir besonders am Herzen liegt, ist die Anerkennung, daß der letztere ein gesamteuropäischer verfassungsmäßiger Prozeß war30 . Dadurch könnte meine Hypothese überprüft werden, wonach die Verfassung sowohl auf der theoretischen als auch auf der institutionellen Ebene eine neue Form der Anerkennung, der Darstellung und der Regelung neuer politischer Verhältnisse war, welche eine neue Organisation der Gewalt selbst ermöglichte 3 !. Ist meine These von dem oben erwähnten Verfassungsbedarf richtig, welcher aus verschiedenen Gründen in ganz Europa innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft erwuchs, so könnte man vielleicht von diesem Ansatz her eine Verfassungsgeschichte des Konstitutionalismus oder der Konstitutionalismen entwickeln, die keine nur vergleichende Geschichte, sondern eine echte europäische Geschichte wäre 32 •

29 Vgl. O. Büsch, Gesellschaftlicher und politischer Ordnungswandel in europäischen Ländern im Zeitalter des Konstitutionalismus. Ansatz und Appell zu einer vergleichenden europäischen Geschichtsbetrachtung, in: O. BüschlA. Schlegelmi1ch (Hrsg.), Wege europäischen Ordnungswande\s. Gesellschaft, Politik und Verfassung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Hamburg 1995, S. 1-20; B. M. Kremer, Der Westphälische Friede in der Deutung der Aufklärung. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, 1989. 30 Vgl. den schon zitierten M. Stolleis, Die Idee des souveränen Staates, S. 77, der S. 84 zur "sovranita della costituzione" auf G. Zagrebelsky, Il diritto mite. Legge diritti giustizia, Torino 1992, S. 8 ff. hinweist. 31 P. Schiera, Melancolia y derecho. La confrontaci6n entre individuo y disciplina a favor dei ordenamento, in C. Petit (Hrsg.), Pasiones dei jurista. Amor, memorias, melancolia, imaginaci6n, Madrid 1997, S. 115-159. 32 Dadurch könnte vielleicht auch das wilde Staat-Tier gebändigt werden, von dem spricht E. Denninger, Der gebändigte Leviathan, 1990, S. 85: "Der Leviathan, der furchtlos-furchterregende, ist alt geworden. Er wird sich mit seiner Rolle als nützliches Haustier abfinden müssen",

Bundesstaat oder Staatenbund? Bemerkungen zur Verfassungdiskussion in Deutschland am Ende des Alten Reichs Von Hans Boldt Seit etwa zwanzig Jahren entdeckt die deutsche Geschichtswissenschaft eine staunenswerte Vielfalt politischer Ideen in Deutschland zu Ende des 18. Jahrhunderts. 1 Die Fülle dieser Ideen zeugt von der Lebendigkeit des staatsrechtlichen und verfassungspolitischen Denkens in jener Zeit, offenbar aber auch von der ihres Gegenstandes, des Heiligen Römischen Reichs. Bis zu dessen Ende ging die Reichspublizistik ganz selbstverständlich von seinem Fortbestehen aus und hob seine Vorzüge hervor, die es von anderen Staaten und ihren Neuerungen unterschieden und es ratsam erscheinen ließen, im Reichsverband zu verbleiben. 2 Die vielen Reformvorschläge, die gerade die 90er Jahre brachten, zeigen, daß man die Reformbedürftigkeit des Reichs nicht verkannte und zugleich an seine Reformierbarkeit glaubte. 3 Für die geläufige Ansicht von der Auszehrung des Reichs, seiner Antiquiertheit und der Zwangsläufigkeit seines Zusammenbruchs ist das etwas überraschend. Was bedeutet dieser Befund angesichts des so bald eingetretenen Exitus des Reichs? Handelt es sich um einen Fall hoffnungsloser Ignoranz von Juristen, der sog. Reichspublizisten, die ihren Gegenstand nach den Regeln ihrer Kunst immer weiter traktierten, ohne Rücksicht auf dessen Befindlichkeit, die Agonie, in der er lag? Waren die Reformer hoffnungslose Utopisten, die nicht merkten, daß es da gar nichts mehr zu reformieren gab? Wie realitätsnah waren die juristischen Exerzitien, waren die Reformpläne in jener Zeit? Welche Chancen boten sich noch dem Reich, um dessen Fortbestehen sich so viele bemühten? Anders gefragt: Wie zufällig war der Zusammenbruch des Reichs, war er nicht von außen verursacht und deshalb keine unabänderliche Folge der inneren Entwicklung? Wäre nicht I S. etwa die Arbeiten von KlippeI, Link und Würtenberger. Zur Zeit davor vgl. Jörn Garbers Überblick im Nachwort zur Neuausgabe von Fritz Valjavec, Die Entstehung der politischen Strömungen in Deutschland 1770-1815, KronberglTs., 1978, S. 543 ff. 2 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Band: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800-1914, München 1992, S. 53 ff. Lobpreisung des Reichs besonders bei earl Friedrich Häberlin, Über die Güte der Deutschen Staatsverfassung, erschienen in der Deutschen Monatsschrift 1793, S. 3 ff. 3 S. dazu jetzt Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648-1806, Mainz 1998.

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auch eine evolutionäre Entwicklung denkbar gewesen, wie sie zumindest am Ende des 18. Jahrhunderts noch ins Auge gefaßt wurde und offenbar auch für plausibel gehalten wurde, und zwar nicht einfach die Entwicklung zu einem staatenbündischen System sondern zu einem Bundesstaat? Das sind Fragen, die sich einem Politologen, der angesichts einer offenen Zukunft gewohnt ist, in Alternativen zu denken und Verschiedenes für real möglich zu halten, vielleicht eher stellen als einem Historiker, welcher leicht geneigt ist zu konstatieren, daß es halt so kommen mußte, wie es kam, denn wäre es sonst so gekommen? Immerhin, die Frage nach möglichen Alternativen ist, auch historisch, so irrelevant ja nicht, führt sie doch nicht nur zur Feststellung dessen, was in einer Zeit wenigstens gedankliche Realität war, das heißt in unserem Fall: inwieweit man auch in Deutschland in juristischen und politischen Kreisen "modem" dachte, sondern läßt sie unter Umständen auch erkennen, daß das, was einmal als Gedanke in die Welt gesetzt wurde, zwar zu dieser Zeit möglicherweise noch nicht verwirklichungsreif war, sich aber in Zukunft wirkungsmächtig durchsetzte. Nicht alles, was zunächst folgenlos gedacht wurde, ist ja bloßes Phantasieprodukt. Von diesen Überlegungen sind die folgenden, auf die Reichspublizistik und sie begleitende verfassungspolitische Vorstellungen konzentrierten Darlegungen bestimmt. I.

Gewiß, das Heilige Römische Reich erscheint im aufgeklärten 18. Jahrhundert als recht altertümlich, als ein "gothisches Gebäude"\ an dem viele Generationen herumgemeißelt und ihre Spuren hinterlassen haben, hier einen Erker, da ein Türmchen angefügt haben. Es erscheint als ein Fossil mit vielen antiquierten lehnsrechtlichen Bindungen, ständischen Gerechtsamen, ohne eine einheitliche Verfassung, sondern mit einer Reihe von "Reichsgrundgesetzen" aus den diversesten Epochen, ohne einheitliche Staatsgewalt und Souverän; denn der Kaiser, gebunden an die Mitbestimmung des Reichstags war ein solcher nicht, aber die Reichsstände, die Fürsten, waren es trotz des ihnen im Westfälischen Frieden zugestandenen "ius superoritatis" auch nicht. "Iura et libertates" ständischer Korporationen gab es, doch keine individuellen Freiheitsrechte von Staatsbürgern, nicht einmal einen einheitlichen Untertanenverband. "Aliquod irregulare" und einem "monstro simile" erschien das Reich daher, gemessen am Vorbild der französischen Staats- und Verfassungstheorie, schon im 17. Jahrhundert. 5

So Carl von Dalberg, Von Erhaltung der Staatsverfassungen, Erfurt 1795, S. 14. So die bekannte Charakterisierung des Reichs durch Samuel Pufendorf, vgl. Severinus de Monzambano, De Statu Imperii Germanici, 1667, Cap. VI, § 9. Allgemein zur Entwicklung des Reichs jetzt Kar! Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648 -1806, hier besonders de~ 3. Band: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745 -1806), Stuttgart 1997. 4

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Der Reichspublizistik ist dies bekannt gewesen, war es dennoch kein Grund zum Ärgernis. Vielmehr sah man, wie gesagt, im eigenartigen Verfassungszustand des Römischen Reiches auch Vorzüge. Daß das Reich kein Staat sei, bekräftigte Ludewig 1730: "Das Wort "Staat" ist in Teutschland nicht legal oder Reichs-Gesetzmäßig. ,,6 "Teutschland wird nicht nach modemen Vorstellungen, sondern auf teutsch regiert" d. h. nicht nach Maßgabe einer rational konstruierten Theorie, sondern nach vielfältigem Reichsherkommen, so der um die Mitte des 18. Jahrhunderts wohl bedeutendste und kenntnisreichste der Reichsjuristen, Johann Jakob Moser. 7 Das waren durchaus zutreffende Beschreibungen der rechtlichen und politischen Verhältnisse des Reichs. Aber war es auch ein Beweis für seine Antiquiertheit und Entwicklungsunfähigkeit? Gemessen an der französischen Staats- und Souveränitätstheorie wohl, doch gab es auch ein anderes Paradigma, in dessen Licht die Dinge anders aussehen, nämlich England. In England hat man die modeme Theorie nicht umstandslos rezipiert, sondern den eigenen Gegebenheiten anverwandelt und dabei an die Tradition angeknüpft. Das hat die Entwicklungsfähigkeit des Landes offenbar nicht beeinträchtigt. Im Gegenteil. England konnte, wie bekannt, im 19. Jahrhundert sogar zum bewunderten Vorbild für die der Idee des Verfassungstaates verpflichtete liberale Bewegung werden. Dabei hat England nie eine einheitliche Verfassung als rechtliche Grundlage eines modemen Staatswesens besessen. Bekanntlich besitzt es sie auch heute nicht. Im 18. Jahrhundert verfügte es über einige Verfassungsgesetze, in ihrer Pluralität vergleichbar den Grundgesetzen des Reichs. Unter ihnen kommt der auf älteren Vorbildern wie der Magna Charta beruhenden Bill of Rights für uns eine besondere Bedeutung zu, weil sie - die rechtliche Bindung des Monarchen formulierend durchaus als Pendant zur kaiserlichen Wahlkapitulation gelten kann. Die Entsprechung wurde schon zeitgenössisch bemerkt, so wenn man die Wahlkapitulation als ,.Magna Charta" apostrophierte. 8 Der englische Monarch war, seine Stellung einem Verfassungskompromiß verdankend, ebensowenig wie der deutsche Kaiser ein Souverän. Damit hängt zusammen, daß auch "Staat" in England nicht zu einem zentralen Begriff der Theorie avancieren konnte. England blieb ein von Souveränitätstheoretikern wie Thomas Hobbes perhorresziertes "mixed government", behielt die Tradition einer auf Mitbestimmung beruhenden Monarchie bei, wie es die Formel "King in Parliament" deutlich macht. Das mochte dann Parlamentssouveränität heißen 9 , doch war es im Verfassungskompromiß der Glorious Revolution nichts ande6 Zitat nach Paul Ludwig Weinacht, Staat. Studien zur Bedeutungsgeschichte des Wortes von den Anfangen bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1968, S. 1I7. 7 Johann Jakob Moser, Neues Teutsches Staats-Recht, Bd. I: Von Teutschland und dessen Staatsverfassung überhaupt, Stuttgart 1766, S. 550. 8 Schmelzer 1793; vgl. Burgdorf zur Wahlkapitulation in diesem Band; s. für die englischen Verhältnisse auch Mohnhaupt in: Heinz MohnhauptlDieter Grimm, Verfassung, Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, Berlin 1995, S. 46. 9 Vgl. dazu Diethelm KlippeI, Artikel "Souveränität" in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6. Band, Stuttgart 1990, S. 121 und meine Fortsetzung des Artikels S. 134.

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res als das, was im Reich zur gleichen Zeit mit der Formel "Kaiser und Reich" ausgedrückt wurde - die Fixierung einer dualistischen Herrschaftssituation. Solche Kompromisse ließen - jedenfalls in England - die Anknüpfung an Überliefertes zu und ermöglichten dessen Tradierung wie auch das, was man "evolutionäre" Entwicklung nennt, etwa die sukzessive Verwandlung der ständischen Repräsentation mit zwei Kammern in einen modernen Parlamentarismus. Sicherlich ist diese Entwicklung nicht nur einer anpassungfähigen Theorie zu verdanken gewesen. Aber die Anschmiegsamkeit der Theorie an den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse hat diesen doch offenbar erleichtert, auf jeden Fall plausibel gemacht. Wäre dergleichen nicht auch in Deutschland möglich gewesen? Es wird ja immer wieder betont, daß die Französische Revolution deswegen nicht nach Deutschland übergegriffen habe, weil hier die fürstlichen Regierungen reformbereit gewesen seien, so daß die ,,Revolution von oben" die von unten sozusagen unnötig gemacht habe. Wenn dies richtig ist - und in einigen Territorien mag das mit eine Rolle gespielt haben -, warum konnte eine solche Entwicklung dann nur auf Landesebene vonstatten gehen, nicht aber auch im Reich als ganzem? Woher sollte die Entwicklungsfähigkeit nur der Territorien, nicht aber des gesamten Systems rühren? Etwa weil das Reich föderativ konstruiert war und keine dem Vereinigten Königreich vergleichbare Zentralgewalt besaß? Versuchen wir, uns der Beantwortung dieser Fragen mit einem Blick auf die Entwicklung der Staatstheorie im Reich zu nähern.

11. Betrachtet man die Entwicklung der Reichspublizistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so läßt sich ein beachtlicher Einfluß moderner Theorien feststellen, auch ohne daß man den sie aufgreifenden Autoren damit gleich reformerische oder gar revolutionäre Ambitionen unterstellen muß. Der Vorgang beruhte einfach auf dem Zustand der Reichsverfassung, deren Lückenhaftigkeit eine Ergänzung, wo nicht aus dem Reichsherkommen, so aus allgemeinen, einsichtigen Theorien wie dem Naturrecht oder dem ius publicum universale, dem allgemeinen Staatsrecht, erforderlich erscheinen ließ IO • Das so ergänzte und interpretierte Reichsrecht gewann damit an Modernität wie an Plausibilität - und zwar in nicht geringem Umfang. Kenner der Materie haben es als "erstaunlich" empfunden, "wie sich alte Formeln, das Begriffsarsenal der Legistik, der frühen Reichspublizistik, plötzlich mit neuem Leben füllen, die Inhalte des rationalen Naturrechts in sich aufnehmen und sich damit unversehens gegen die bestehende Ordnung kehren."ll Spürbar 10 Vgl. Thomas Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung, 1988, S. 53 ff., hier S. 66 f. II Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, Wien/Köln/Graz 1979, S. 343. Allgemein hat auf die Leistungsfahigkeit der Jurisprudenz im alten Reich und ihre europäische Bedeutung Emilio

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wird das schon an Veränderungen in der Systematik des Rechtsstoffs, in der das früher so bedeutende Lehnsrecht immer mehr in den Hintergrund tritt. 12 Aber auch inhaltlich lassen sich Neuerungen feststellen, auch wenn sie nur partiell auftauchen und - jedenfalls in der dem gegebenen Rechtszustand des Reichs verpflichteten Reichspublizistik - nicht zu einer generell neuen Sichtweise führen. Indessen ist auch das, was nur bruchstückhaft auftaucht und noch nicht seine volle modeme Bedeutung gewonnen hat, signifikant. Weist es doch die Richtung, die die Theorie überhaupt sich einzuschlagen schickte. Das sei hier in kurzen Zügen umrissen: Wer das Reich mit den Kategorien des Staatsrechts traktierte, ging offenbar davon aus, daß es sich bei ihm um einen Staat handelte, was so selbstverständlich ja nicht war; 13 denn die Betrachtung des Reichs als Staat rief unvermeidlich die kaum zu beantwortende Frage nach der höchsten Gewalt in ihm hervor. In erster Linie kam als deren Träger das Reichsoberhaupt, der Kaiser, in Betracht, dessen Stellung dadurch von der Theorie her gestärkt wurde. 14 Das Reich konnte so als eine Monarchie, und zwar angesichts der vielen Bindungen des Kaisers als eine der Theorie geläufige "monarchia limitata" verstanden werden. 15 Konsequenterweise ließ sich dann die fürstliche Gewalt als eine von der höchsten abgeleitete, als "subordiniert", interpretieren. 16 Alte Ansichten erhielten auf diese Weise eine neue, stringente Bestätigung. Der Idee einer einheitlichen Staatsgewalt korrespondierte die einer einheitlichen Verfassung. 17 Mit ihr konnten sich naturrechtliehe Vorstellungen von einem Volk Bussi aufmerksam gemacht; s. "Das Recht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation als Forschungsvorhaben der modemen Geschichtswissenschaft", in: Der Staat, 1977, S. 521 ff. 12 Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Band: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 -1800, München 1988, S. 313. 13 Vgl. Bemd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der deutschen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984. Die Frage ist heute noch umstritten, wie die Diskussion bei Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und modeme Staatlichkeit, Frankfurt am Main 1993, zeigt. Daß aus dem "Begriff eines Staates gewisse wesentliche Grundsätze fließen", wurde auch zeitgenössisch schon betont; vgl. C. A. Günther, Ueber den Werth des allgemeinen Staatsrechts, in: Leipziger Magazin für Rechtsgelehrte, 2. Band, 1784, S. 102. 14 Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Amo Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung. Zur verfassungsrechtlichen Stellung des Kaisers am Ende des 18. Jahrhunderts, bei Brauneder, a. a. 0., S. 41 ff. sowie die Debatte um eine beständige Wahlkapitulation; zu ihr Walter Burgdorf in diesem Band und Amo Buschmann, Die Rechtsstellung des Kaisers nach dem Projekt einer Capitulatio perpetua vom 8. Juli 1711, in: Gedächtnisschrift Herbert Hofmeister, hrsg. von Wemer Ogris und Walter H. Rechberger, Wien 1996, S. 89 ff. IS S. dazu allgemein den Artikel "Monarchie" in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. 0., Band 4, besonders S. 176 ff. sowie speziell Amo Buschmann, Kaiser und Reichsverfassung, a. a. O. (S. 66: "eingeschränkte Monarchie"). 16 SO Z. B. noch Adam Christian Gaspari, Der Deputations-Recess, 2 Bände, Hamburg 1803 (Band 1, S. 61 ff.). 17 Zum Wandel des Verfassungsbegriffs s. Thomas Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, a. a. 0., S. 56 ff. und ders., Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Wendemarken der deutschen Verfassungsgeschichte, Beiheft 10 zu "Der

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als einer Gesamtheit von Individuen verbinden, das sich diese Verfassung gab oder für das sie gegeben wurde. Dies um so mehr, als sich im sog. jüngeren Naturrecht die Idee individueller Freiheit bzw. ihrer Sicherung durch den Staat durchzusetzen begann. 18 Die Freiheiten, um die es ging, waren nun nicht mehr die ständisch-korporativen libertates sondern modeme Grundrechte der "Bürger".19 Mehr noch: Indem die Sicherung der "bürgerlichen Freiheit" zum (alleinigen) Staatszweck avancierte, gewann auch die Vorstellung der Gewaltenteilung in dem Maße an Aktualität, in dem ein durch absolutistische Politik evoziertes "Gefährdungsbewußtsein" Freiheit nicht nur durch ständische Privilegien und Ungleichheit sondern auch durch staatliche Willkür behindert sah. 2o Dagegen gab es ein altes Mittel, das nun erneut Bedeutung erhielt: die Reichsgerichtsbarkeit in Gestalt des Reichskammergerichts und des Reichshofrats. "Glückliches Deutschland, das einzige Land, wo man gegen seine Herscher, ihrer Würde unbeschadet, im Wege Rechtens bei einem fremden, nicht ihrem eigene Tribunal aufkommen kann", pries denn diese Verhältnisse einer der Wortführer der neuen Sichtweise, der Göttinger Staatsrechtier August Ludwig von Schlözer. 21 Die Reichsgerichte als das ,,Palladium der teutschen bürgerlichen Freiheit", 22 das verbürgte etwas, was man schon ,,Rechtsstaat" nenStaat", 1993, S. 85 ff. Einzelne Nachweise bei Mohnhaupt, Verfassung, a. a. 0., S. 78 ff. Vgl. auch Matthias Roggentin, Über den Begriff der Verfassung in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert, Hamburg 1978 sowie Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Verfassungs begriff in der deutschen Staatslehre der Aufklärung und des Historismus, Berlin 1967. 18 Grundlegend dazu Diethelm KlippeI, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976 (zum Wandel des Staatszwecks ebd. S. 131 ff.). 19 S. KlippeI, Politische Freiheit, a. a. 0., und derselbe, Die Theorie der Freiheitsrechte am Ende des 18. Jahrhunderts in Deutschland, in: Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten, hrsg. von Heinz Mohnhaupt, Frankfurt am Main 1991, S. 384 ff. sowie Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, a. a. 0., und ders., Naturrechtliche Grundlagen des Grundrechtsdenkens in der deutschen Staatsrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Das Naturrechtsdenken heute und morgen, Gedächtnisschrift für Rene Marcic, Berlin 1983, S. 77 ff. Allgemein auch: Günter Birtsch (Hrsg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte. Beiträge zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte vom Ausgang des Mittelalters bis zur Revolution von 1848, Göttingen 1981 sowie ders., Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1987. 20 Das thematisieren KlippeI, Politische Freiheit und Freiheitsrechte, a. a. 0., Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit, a. a. 0., und Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 1, a. a. 0., S. 321 ff. 21 August Ludwig Schlözer, Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Göttingen 1793, S. 107. Ähnlich versicherte Günther Heinrich von Berg, Über Teutschlands Verfassung und die Erhaltung der öffentlichen Ruhe in Teutschland, Göttingen 1795, S. 61, daß bei den höchsten Gerichten des Reichs der "teutsche Bürger Hülfe gegen allen Despotismus, gegen gesetzwidrige Urtheile, gegen Verweigerung der Justiz, gegen ungerechte Gesetze, gegen verfassungswidrige Eingriffe in seine Freyheiten, gegen willkürliche Auflagen, gegen jeden Mißbrauch der Regierungsrechte" finde. 22 So Häberlin (nach Wilfried Peters, Späte Reichspublizistik und Frühliberalismus. Zur Kontinuität von Verfassungssystemen an nord- und mitteldeutschen Konstitutionsbeispielen, Frankfurt am Main u. a. 1993, S. 56).

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nen konnte, und in der Tat taucht dieser Begriff in jenen Jahren offenbar zum ersten Mal in Deutschland auf. 23 Natürlich vertrug sich die neue Sichtweise nicht mit den ständischen Traditionen. Ganz unverkennbar wurde daher gerade in der Zeit der sog. "ständischen Renaissance" gegen die erneut angemeldeten Ansprüche der altständischen Korporationen Front gemacht, wurde ihnen ihr Anspruch, eine wahre Untertanenrepräsentation zu sein, bestritten und eine "wahre Volksrepräsentation" gefordert oder doch wenigstens die Teilhabe des 3. Standes, der Besitzbürger, an den Verhandlungen des Reichstags. 24 Die "bürgerliche Freiheit" konnte mithin auch Aspekte der politischen Freiheit aufnehmen. Und so erscheinen denn, in deutlicher Anlehnung an den "citoyen", Wortprägungen wie "Staatsbürger" oder gar "Reichsbürger" auf der politischen Bildfläche. 25 Mit ihnen mag sich nicht immer schon ein präziser Sinn verbunden haben, aber sie signalisierten doch Möglichkeiten einer neuartigen Erfassung des Reichsgefüges. Möglichkeiten: Die Wirklichkeit war ja noch eine andere, eine ständische, was insbesondere auf Reichsebene Probleme mit sich brachte. Hier waren die Stände ja nicht einfach Träger antiquierter, angesichts des einsetzenden gesellschaftlichen Wandels kaum mehr legitimierbarer Privilegien, sondern machtvolle Fürsten, die die Politik des Reiches bestimmten und selbst Herren von Gebilden mit Staatscharakter waren. Denkbar war deshalb allenfalls, und wurde auch bedacht, eine Bereinigung der Flurkarte des Reiches, die Säkularisation der geistlichen Fürstentümer und die Mediatisierung der vielen kleinen und Kleinstherrschaften, wie sie dann zunächst vom Reichsdeputationshauptschluß 1803 vorgenommen worden ist. Das aber hob den föderativen Charakter des Reichs nicht auf, verstärkte ihn im Gegenteil durch Arrondierung der größeren Territorien. Deutschland war unter Berücksichtigung dessen nur als "zusammengesetzter Staat"26 vorstellbar, in dem der Zentralgewalt eine bedeutendere Rolle zukommen konnte als bisher. In der Tat liefen Reformprojekte, die so etwas intendierten, darauf hinaus, aus dem Reich eine Art ,,Bundesstaat" zu machen, und nicht zu Unrecht hat man daher auch in dem berühmten, das Reich in dieser Weise interpretierenden Göttinger Juristen Johann Stephan Pütter den deutschen Erfinder des "Bundesstaates" gesehen?1 Hier zeichnete sich offenbar eine Alternative für die 23 Nachweis bei Mohnhaupt, Verfassung, a. a. 0., S. 87; allgemein Michael Stolleis, Artikel ,,Rechtsstaat", HRG IV, 1986, S. 367 ff. 24 So F. C. von Moser 1767 bzw. J. F. von Pfeiffer 1783 (nach Würtenberger, Staatsverfassung, a. a. 0., S. 98). Zur Problematik der Repräsentationsvorstellung in jener Zeit vgl. jetzt eingehend Barbara Stollberg-Rilinger, Vormünder des Volkes? Konzepte landständischer Repräsentation in der Spätphase des Alten Reiches, Habilschr. Köln, MS, 1997. 25 Vgl. Michael StoUeis, Untertan - Bürger - Staatsbürger. Bemerkungen zur juristischen Terminologie im späten 18. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1990, S. 298 ff., bes. S. 310 ff. 26 So der Ausdruck bei Pütter, z. B. in den Beyträgen zum Teutschen Staats- und Fürstenrecht, 1. Teil, Göttingen 1777, S. 38; vgl. auch Christoph Link, Johann Stephan Pütter, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 19872 , S. 310 ff. (hier S. 320).

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Zukunft ab, die sich aus der modemen juristischen Interpretation der Reichsverfassung ergab und auf der Linie der Reformvorschläge lag, welche die Zentralgewalt zu stärken trachteten ?8

III.

Nun ist es eines, Reformvorschläge zu ersinnen, ein anderes, sie durchzusetzen. Angesichts des ganz anderen Verlaufs der deutschen Geschichte scheinen die auf Stärkung der Reichsgewalt hinauslaufenden Projekte keinen großen Realitätsgehalt besessen zu haben. Doch gilt es folgendes zu bedenken: Die Vorstellungen, die in die Interpetation der Reichsverfassung und in entsprechende Reformpläne einflossen, sind ja nicht einfach Produkte eines nur theoretisch relevanten Naturrechts oder realitätsferner, abstrakter Rechtstheorien gewesen, sondern sie lagen im Trend der Zeit, nämlich in der Richtung des sich anbahnenden sozialen Wandels hin zu einer wirtschaftsbürgerlichen und staatsbürgerlichen Gesellschaft. Mochte auch eine Totalrevision der Verfassung nicht denkbar sein, so waren doch erste Reformschritte vorstellbar, denen konsequenterweise weitere gefolgt wären - eben ein "evolutionärer" Wandel. Nicht von ungefähr kamen die fortschrittlichsten Ideen zur Staats gestaltung aus dem Lager der Ökonomen, den Kameralisten und Physiokraten, die mit naturrechtlichen Vorstellungen der zukünftigen Gesellschaft den Weg zu bahnen suchten?9 Auf Gegenseitigkeit beruLink ebd. Vgl. die Darstellungen des Reichsstaatsrechts noch am Ende des Reichs von Nikolaus Thaddäus von Gönner, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, und Andreas Joseph Schnaubert, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, Jena 1806. Zu den Refonnvorschlägen s. die Angaben bei Bernd Grzeszick, Vom Reich zur Bundesstaatsidee. Zur Herausbildung der Föderalismusidee als Element des modernen deutschen Staatsrechts, Berlin 1996. Darin u. a. S. 117 Verweis auf die dreibändige anonyme "Kritik der deutschen Reichsverfassung", 1796-98 sowie S. 125 auf Hofrat Braun, Allgemeine Grundzüge zum weiteren Nachdenken, erschienen in Häberlins Staatsarchiv, VII, 1802, S. 325. Zur gleichen Zeit entstand Hegels berühmte Verfassungsschrift. Wie Hegel bemühten sich um eine Stärkung der kaiserlichen Stellung auch Th. C. Hartleben, Die deutsche Staatsverfassung nach vollbrachtem Entschädigungssystem, 1803 und J. P. Harl, Deutschlands neueste Staats- und Kirchenveränderungen, politisch und kirchenrechtlich betrachtet, 1804. Auch das waren Antworten auf den Frieden von Luneville und die in Gang kommende Neugliederung des Reiches; s. auf dieser Linie auch Wilhelm Joseph Behr, System der allgemeinen Staatslehre zum Gebrauch für seine Vorlesungen, Bamberg 1804. Zur Beachtung des amerikanischen Beispiels in jener Zeit vgl. Horst Dippel, Gennany and the American Revolution, 1770 bis 1800. A Sociohistorical Investigation of Late EighteenthCentury Political Thinking, Wiesbaden 1978. 29 Beispiele hierfür bringt Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, a. a. 0., S. 62 ff., 65 f. (Justi und Pfeiffer); s. auch ders., Verfassungsentwicklung in Frankreich und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung, 1996, S. 75 ff. (S. 79). Für die Physiokraten vgl. Diethelm Klippei, Der Einfluß der Physiokraten auf die Entwicklung der liberalen politischen Theorie in Deutschland, in: Der Staat, 1984, S. 205 ff. 27 28

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hende Unterstützung fand man am Wiener Hof, der sich gerade zu Zeiten 10sephs 11. und Leopolds 11. Reformen gegenüber aufgeschlossen zeigte und dies verständlicherweise insbesondere gegenüber solchen war, welche die kaiserliche Position zu stärken trachteten. Das hat man selbst offenbar, gegen die reichsständische Opposition gewandt, unter anderem durch eine Verbindung zum Bürgertum zu erreichen versucht. 30 All dies wurde gefördert durch den aufkommenden "Reichspatriotismus" und ,,Nationalgeist" und wurde in seinem säkularen Trend durch die ebenfalls in bundesstaatlicher Richtung verlaufende Entwicklung der bei den anderen Föderationen, den USA und der Schweizer Eidgenossenschaft, bestätigt. Wider den "Zeitgeist" waren die skizzierten Überlegungen augenscheinlich nicht gerichtet. 31 Sie trafen aber auf mächtige Gegenströmungen, so in der Politik auf die großen Territorien mit ihrem militärischen und administrativen Machtapparat, mit dem das Geschäft der Modernisierung eigenständig betrieben werden konnte und wurde. Der 1785 gegen die kaiserlich-habsburgische Politik gebildete Fürstenbund zeigte die Begrenztheit der Reichsreformmöglichkeiten auf, wie er zugleich auch nicht auf den Kaiser setzenden Reorganisationsüberlegungen Nahrung gab. 32 Vor allem aber hemmte der aufkommende österreichisch-preußische Gegensatz alle Unternehmungen, die auf eine Stärkung der Reichsgewalt hinausliefen, wie er ja auch später, 1848 - 1850, die Bildung eines deutschen Bundestaates verhindert hat, sodaß sie erst möglich wurde, nachdem diese Rivalität 1866 beseitigt worden war. Insoweit scheint sich hier in der Tat eine Art deutscher Sonderweg angekündigt zu haben, nicht - gerade damals nicht - ein autoritärer,33 sondern ein föderativer, der weniger auf der "Vielstaaterei" als auf dem Dualismus der beiden Führungsrnächte beruhte (und nach dessen Beseitigung zum ebenfalls nicht unproblematischen, von Preußen dominierten "hegemonialen" Bundesstaat führte). Verständlich, daß angesichtsdessen auch andere Reformprojekte auftauchten. 34 Antikaiserliche Vorstellungen hat es ebensowie prokaiserliche in der politischen Literatur des Reiches in der Neuzeit ja schon immer gegeben. Nun stellte 1787 ein anonymer Autor die Frage, ob Deutschland überhaupt noch einen Kaiser brauche. 35 Konstatiert wurde etwas später auch, daß die deutschen "Souveräns" ein geS. dazu Wolfgang Burgdorf, a. a. O.,S. 285 ff., 347 ff. S. auch dazu Burgdorf, a. a. 0., sowie zum "Verfassungspatriotismus" Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, a. a. 0., S. 81 ff. 32 Überblick bei Bernd Grzesziek, Vom Reich zur Bundesstaatsidee, a. a. 0., S. 287 ff. 33 Gegen diese Annahme für das 18. Jahrhundert mit guten Gründen KlippeI, Politische Theorien, a. a. 0., S. 84 ff. 34 VgI. dazu Heinz Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeptionen und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, ZSRG -GA - 107,1990, S. 19 ff. 35 "Warum soll Deutschland einen Kaiser haben?" anonyme Schrift von 1787: s. Grzesziek, Vom Reieh zur Bundesstaatsidee, a. a. 0., S. 92. 30 31

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meinsames Oberhaupt gar nicht mehr anerkennen würden. 36 Denkbar wurde allmählich, daß das künftige Deutschland einen bloßen "Staatenverein" bilden könne bzw. daß die Umbildung in einen solchen seine einzige in die Zukunft weisende Möglichkeit sei. 37 Zwei Alternativen zeichneten sich offenbar ab, eine "bundesstaatliche" und eine "staatenbündische", wobei die Terminologie um die Jahrhundertwende noch nicht eindeutig war, sondern erst in der Rheinbundzeit festere Konturen gewann. 38 Aber es ist deutlich, worin die Alternativen in ihrem Kern bestanden: Stärkung der (kaiserlichen) Zentralgewalt oder Übergang zu einem Bund gleichberechtigter, wenn auch nicht gleich mächtiger Staaten. Dabei hatte die "bundestaatliche" Alternative den Vorzug, sich aus dem bestehenden Reichsgefüge entwickeln zu lassen, per Interpretation und (behutsame) Reform. Die staatenbündische war eher "revolutionär"; denn in ihrer Konsequenz lag die Abschaffung des Kaisertums und der Reichsgerichte; sie ähnelte in ihrer Rigidität einem dritten Reformansatz, der in den neunziger Jahren das Spektrum komplettierte, dein republikanischen. 39 In den eine deutsche Republik propagierenden Plänen war der Einfluß der Französischen Revolution ebenso lebendig wie das Bewußtsein von dem eine Lösung der deutschen Verfassungsfrage so unendlich erschwerenden Problem eines befriedigenden Ausgleichs zwischen den bei den deutschen Großmächten und dem "dritten" Deutschland. 4o 36 G. H. Kayser, Teutschlands höchstes Interesse, in Häberlins Staatsarchiv XIV, S. 448 (nach Angenneier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, a. a. 0., S. 46). 37 "Staatenverein" bei Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die deutsche Verfassung an den Freiherm vom Stein, Dezember 1813. Abgewogene Würdigung bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band I: Refonn und Restauration 1789 bis 1830, Stuttgart 1957, S. 519 ff. 38 Zur Entwicklung der Terminologie vgl. Reinhart Koselleck, Artikel "Bund", in: Geschichtliche Grundbegriffe, a. a. 0., Band 1 (1972), S. 649 ff. (654 f.). 39 S. z. B. Wilhelm Traugott Krug, Grundlinien zu einer allgemeinen deutschen Republik, gezeichnet von einem Märtyrer der Wahrheit, Altona/Wien 1797, abgedruckt mit anderen Zeugnissen bei Horst Dippel, Die Anfange des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1991. Ein weiterer republikanischer Verfassungsentwurf ist mir dankenswerter Weise zugänglich gemacht worden von Frau Anita Jeske M.A., Düsseldorf. Es handelt sich um den "Entwurf zu einer Verfassung für das deutsche Reich mit Reflexionen über den Einfluß der französischen Revolution auf die Kultur der Deutschen" von Philopatros (d. i. Johann Adam Bergk), Regensburg und Wetzlar 1796. Mit seinen dezidierten Grundrechtsforderungen, insbes. nach Preßfreiheit, seinen Vorstellungen zur Bildung einer Volksrepräsentation und zur Gewaltenteilung stellt er das vielleicht eindrucksvollste Zeugnis republikanischer Gesinnung in Deutschland im augehenden 18. Jahrhundert dar. 40 Philopatros löste es dadurch, daß er Österreich und Preußen kurzerhand vom "deutschen Staatenvereine"ausschloß (s. den 4. Abschnitt des Entwurfs: "Ueber die topographische Eintheilung des deutschen Reichs", S. 76 ff.). Andere, auch nicht-republikanische Entwürfe unterschieden zwischen den deutschen und nicht zu Deutschland gehörenden Teilen der Habsburger- und Hohenzollernmonarchie. Wieder andere erwogen eine Unterteilung des Reichs in zwei oder drei Teile usw. Die Vielzahl der Vorschläge macht die Schwierigkeit der Problemlösung deutlich. Eine selbstverständliche, sozusagen in der Entwicklung des Reichs angelegte Lösung gab es nicht; s. dazu den folgenden Abschnitt im Text.

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Drei Gestaltungsalternativen; sie sollten die deutsche Frage noch lange begleiten, ihr volles Gewicht sogar erst 1848 erhalten. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die ein gutes Säkulum später erfolgreiche republikanische Alternative noch eine unrealistische. Doch hätte man das damals nicht auch von der staatenbündischen sagen müssen? Es scheint, daß sie erst durch die äußeren Ereignisse, durch die das Reich in den Ruin treibenden Kriege gegen Frankreich und durch die Politik Napoleons an Bedeutung gewonnen hat, dann allerdings bald als die einzig realistische erschien und tatsächlich ja im Deutschen Bund 1815 Wirklichkeit wurde. War das jedoch zwangsläufig so?

IV. Neuere historische Betrachtungen haben die Kontinuität der Entwicklung vom Reich zum Bund betont. Der Untergang des alten Reichs erscheint in dieser Sichtweise als ein nur seine äußere Gestalt betreffendes Ereignis und die Gründung des Deutschen Bundes nicht als das Resultat einer gegen die deutschen Nationalinteressen gerichteten Politik der Verbündeten, sondern als etwas, was in der deutschen Geschichte seit dem Westfälischen Frieden schon angelegt war, was sich auch ohne die katastrophale kriegerische Verwicklung, ohne Napoleons Eingreifen und ohne den Zusammenbruch des Reiches ergeben hätte - eben als eine gleichsam zwangsläufige Quintessenz, als "natürliche Fortbildung" ansonsten unhaltbar gewordener Verfassungszustände. 41 An dieser Kontinuitätsthese ist richtig, daß die Idee eines Deutschen Staatenbundes nicht erst zur Zeit des Wiener Kongresses aufgekommen ist, sondern die staatenbündische Alternative schon länger im Gespräch war und zu Beginn des 19. Jahrhunderts auch in der praktischen Politik in Deutschland an Bedeutung gewann. Die Idee eines Staatenbundes mußte den Deutschen nicht von außen aufgedrängt werden. Allerdings haben die äußeren Ereignisse, insbesondere seit dem Frieden von Luneville 1801, die Entwicklung, die zum Zusammenbruch des Reiches und 41 So der Tenor bei Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstat, a. a. 0., bes. S. 67 ff. ("natürliche Fortbildung" S. 23). Dezidierter noch ders., Nationales Denken und Reichstradition am Ende des alten Reichs, in: Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, a. a. 0., S. 169 ff. (S. 182: "bruchlose und organische Fortbildung der deutschen Verfassungsentwicklung aus dem alten Reich, speziell dem Westfalischen Frieden von 1648."). Breiter angelegt in der Fragestellung und zurückhaltender im Urteil vertritt die Kontinuitätsthese Rudolf Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit. Kontinuitäten und Neuansätze in der deutschen Politik des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, in: Reformen im rheinbündischen Deutschland, hrsg. von Eberhard Weis unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1984, S. 287 ff. Abwägend auch Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, S. 105 ff. Für den Rheinbund vgl. Gerhard Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik, Stuttgart 1994.

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zur Bildung eines Bundes führte, in erheblichem Maße gefördert und gestaltet. 42 Es ist zwar denkbar, daß auch ohne diese Einflüsse und ohne die Zäsur von 1806 das Reich sich zu einer Art Staatenbund weiter entwickelt hätte, verbunden vielleicht mit einem rein repräsentativen Kaisertum (und unter Wegfall der Reichsgerichte?), doch bleibt das Spekulation. Immerhin läßt die Mühelosigkeit, mit der die Jurisprudenz den Übergang zum Rheinbund und später zum Deutschen Bund meisterte, vermuten, daß ihr auch eine Umstellung innerhalb des Reichs kaum Schwierigkeiten geboten hätte. 43 Kann man dieser Annahme noch etwas abgewinnen, so ist jedoch der Versuch nicht mehr nachvollziehbar, die Kontinuitätsthese mit der Behauptung abzustützen, die Entwicklung des alten Reichs sei auf das schließliche Resultat: Staatenbund angelegt gewesen, dieses habe auch dem nationalen Denken entsprochen und die staatenbündische Alternative sei gegenüber der bundesstaatlichen daher schon von Anfang an die theoretisch stärkere gewesen. 44 Gewiß, Überlegungen, die Zentralgewalt zu stärken, hatten zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine großen Chancen mehr, realisiert zu werden. Die Ereignisse machten die staatenbündische Alternative damals offenbar zur politisch stärkeren. Nichtsdestotrotz blieben bundesstaatliche Vorstellungen virulent, wurden die Forderungen nach einem Reich, einer starken Zentralgewalt, einer Nationalrepräsentation aufrecht erhalten. 45 Und es ist die große Frage, ob Deutschland nicht besser gefahren wäre, wenn sich die Forderungen nach einem Verfassungsstaat damals schon hätten erfüllen lassen und nicht erst ein halbes Jahrhundert später. Diese Frage stellt sich vor allem deswegen, weil die Behauptung, die Entwicklung zum Staatenbund sei die dem alten Reich zukommende gewesen, gern mit jener anderen verbunden wird, daß die staatenbündische Alternative für Deutschland überhaupt die bessere, seiner Entwicklung und seiner Stellung in Europa angemessenere gewesen sei - eine Argumentation, die nach der Katastrophe von 1945 der älteren Nationalgeschichtschreibung oft entgegen gehalten wurde: Im Gegensatz zu seinem Nachfolger, dem deutschen Nationalstaat von 1871, habe der Deutsche Bund eine in Europa eingebettete Friedensordnung hergestellt und aufgrund seiner beschränkten Machtentfaltungsmöglichkeiten auch Frieden halten 42 V gl. Vierhaus, Aufklärung und Reformzeit, a. a. 0., S. 300 (Ergebnis "weitgehend exogener Ereignisse"). Ähnlich auch Karl Otmar Freiherr von Aretin, Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, Teil I, Darstellung, Wiesbaden 1967, S.105. 43 Zur Kontinuität von der Reichspublizitik über die Rheinbundliteratur zum öffentlichen Recht des Deutschen Bundes, die insbesondere durch Johann Ludwig Klüber repräsentiert wird, s. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Band 1, a. a. 0., S. 48 ff. und passim; vgl. auch Peters, Späte Reichspublizistik und Frühkonstitutionalismus, a. a. O. 44 So Angerrneier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, a. a. 0., S. 62 und passim. 45 Vgl. Manfred Botzenhart (Hrsg.), Die deutsche Verfassungsfrage 1812-1815, Göttingen 1968 sowie Gero Walter, Der Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und die Problematik seiner Restauration in den Jahren 1814115, 1980.

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müssen. 46 (Schon diese Behauptung stimmt indessen nicht ganz: Es vergingen nur 33 Jahre, bis der Bund Dänemark wegen der Schleswigfrage mit einem Krieg überzog; das viel geschmähte Kaiserreich wahrte den Frieden immerhin zehn Jahre länger und bescherte Deutschland die bis dahin längste Friedensperiode.) Doch was war der Bund wirklich? Nach Art. 11 der Deutschen Bundesakte war sein Zweck "die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten". Damit war sein defensiver Charakter umrissen, was Art. XXXV der Wiener Schlußakte noch einmal bekräftigte, im übrigen aber das Kriegsführungsrecht der Mitgliedstaaten nicht aufhob. Vor allem ist in dem Zusammenhang jedoch daran zu erinnern, daß der Bund nicht nur ein Sicherheitsbündnis nach außen sondern auch nach innen darstellte und daß es hierbei nicht etwa um die von der Staatslehre gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum Staatszweck erhobene Sicherung der individuellen Freiheit ging sondern um die der Staaten und der herrschenden Regime. Im Vordergrund stand die Wahrung des status quo, die Abweisung aller weiterführenden, mit der Idee des Nationalstaates und einer bundesstaatlichen Ordnung verbundenen Forderungen nach Nationalrepräsentation, individueller Freiheit, Rechtseinheit und Wirtschaftseinheit. Alles das, was in der Epoche der Modernisierung47 geboten erschien, wurde inhibiert, wie die Verfolgung einer gemeinsamen Handels- und Verkehrspolitik nach Art. XIX der Bundesakte, was dann zur Gründung des Deutschen Zollvereins neben dem Bund und gegen ihn führte. Oder es wurde unterdrückt, wie die Preßfreiheit, bzw. der Verfolgung ausgesetzt, wie sie die sog. Demagogen erfuhren. 48 Sollte das tatsächlich die Ordnung gewesen sein, auf die das alte Reich hin angelegt war, die Deutschland angemessen war? Man muß sich diese Dinge vergegenwärtigen, wenn man den Deutschen Bund würdigt. Gewiß, politisch ist er die damals, 1815, offenbar durchsetzbare Alternative gewesen. Das besagt aber nicht, daß er die bessere, nicht einmal, daß er die zeitgemäßere darstellte. Im Zuge der Zeit lagen vielmehr andere Alternativen, und es ist völlig unsinnig zu behaupten, sie seien allesamt gescheitert. 49 Sie haben es in 46 Auch diese Würdigung findet sich bei Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, a. a. 0., S. 66 -70. S. auch von österreichischer Seite Helmut Rumpier (Hrsg.), Deutscher Bund und deutsche Frage 1815-1866, Wien 1990. 47 Zur "Modernisierung" als historischem Begriff vgl. Reinhard Bendix, Modernisierung in internationaler Perspektive, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien de sozialen Wandels, Königsteinffs. 19794 , S. 505 ff. 48 Vgl. die Charakteristik der restaurativen Politik durch Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. BÜTgerweIt und starker Staat, Münchenl985, S. 285, 355. 49 So aber Angermeier, der in einem Rundumschlag "alle anti-föderalistischen, beziehungsweise rein nationalstaatlichen Staatssysteme" in der neueren deutschen Geschichte für gescheitert erklärt, nämlich: die Revolution von 1848, die preußisch-deutsche Monarchie, den Nationalliberalismus, die alldeutsche Bewegung und den Nationalsozialismus, s. "Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat, a. a. 0., S. 70. In "Nationales Denken und Reichstradition" taucht S. 183 auf Angermeiers Scheiterhaufen der Geschichte auch die Weimarer Republik auf, die man in seinen vorangegangenen Ausführungen vermissen

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Deutschland schwer gehabt, sich durchzusetzen. Das lag allerdings kaum an der Stärke des Staatenbundes, sondern am österreichisch-preußischen Gegensatz, der eine im Gefolge der Revolution von 1848 noch 1850 in Erfurt möglich erscheinende Lösung der deutschen Verfassungsfrage für weitere sechzehn Jahre verhinderte. 5o Wenn etwas am Ende gescheitert ist, dann war es die staatenbündische Alternative,51 und es ist nicht anzunehmen, daß sie trotz aller "Europa der Regionen" Phantasien und Versuche der Länder heutzutage, dem Bund Daumenschrauben anzulegen, als tragendes Ordnungsprinzip Deutschlands wiederkehren wird. 52 Vielleicht war der "Umweg" über den Staatenbund für eine politische Reorganisation der überholten deutschen Zustände angesichts der innerdeutschen und europäischen Situation zu Beginn des 19. Jahrhunderts unvermeidlich. Man sollte aber auch der Kosten eingedenk sein, die dieser Umweg mitsichbrachte. Ist Deutschland nicht damals zur "verspäteten Nation" geworden mit all den bedenklichen Folgen eines um seine Hoffnungen betrogenen Nationalgefühls, mit dem Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, mit Ohnmachtsempfindungen auf der einen, Machtphantasien auf der anderen Seite? Die psychischen Defizite, die sich daraus ergaben, kann man kaum überschätzen. Man sollte sich dessen bewußt sein, wenn man Deutschlands Weg zum modemen Verfassungsstaat beschreibt.

könnte. Sie alle seien gescheitert, weil sie in Abkehr vom Staatenbundprinzip von 1815 den realen Verhältnissen in Mitteleuropa Gewalt angetan hätten! Für Angermeier ist offenbar die "organische" Verfassungsentwicklung Deutschlands 1871 zu Ende gegangen. Eine andere Sichtweise, die eine ,,reichische" , nicht eine nationalstaatliehe Traditionslinie verfolgt, habe ich in meinem Beitrag ,,1495 - 1995. Der Reichstag von Worms in der deutschen Verfassungsgeschichte" angeboten (s. ,,1495 - Kaiser Reich Reformen. Der Reichstag zu Worms", hrsg. vom Landeshauptarchiv Koblenz zum 500jährigen Jubiläum des Wormser Reichstags von 1495, Koblenz 1995, S. 57 ff.). 50 So meine Einschätzung, vgl. meine Deutsche Verfassungsgeschichte, Band 2: Von 1806 bis zur Gegenwart, München 1993 2 , S. 185 f. 51 Was Angermeier auf den "anwachsenden Liberalismus", ein "unzeitgemäß ausschließlich dynastisches Denken bei den deutschen Fürsten" und die "Steigerung des deutschen Dualismus zur reinen Machtfrage 1862" zurückführt; vgl. "Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat", a. a. 0., S. 70. Kein Wort dort zum Mangel an Wirtschafts- und Rechtseinheit, zu den Forderungen nach einer Nationalrepräsentation und nach Grundrechten, zu den Problemen des sozialen Wandels, die der deutsche Staatenbund nicht zu beheben vermochte bzw. nicht zu erfüllen gedachte! 52 Zu den neueren Versuchen der Länder in der Bundesrepublik, ihre Kompetenzen und Mitwirkungsrechte zu stärken, vgl. u. a. die Einführung des neuen Art. 23 GG durch Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992, BGBI. I S. 2086. Empfehlung der staatenbündischen Tradition als "eigentlich zukunftsträchtiger (!) Lösung des nationalen deutschen Staatsgedankens" bei Angermeier, Nationales Denken und Reichstradition, a. a. 0., S. 183.

Stände und Staatlichkeit in den Verfassungsentwürfen W. v. Humboldts* Von Carla De Pascale I. Die rund zwanzigjährige diplomatische und Regierungstätigkeit W. v. Humboldts bereicherte und veränderte zum Teil die von ihm zu Beginn des letzten Jahrzehnts des 18. Jahrhunderts in den Ideen über die Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlasst (1791)1 und den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792)2 dargelegte politische Auffassung und zwar vor allem in Hinblick auf die Rolle der Staatlichkeit. Von besonderer Bedeutung für die endgültige Ausformung seiner Anschauungen sind meines Erachtens sowohl seine Teilnahme am Wiener Kongreß als preußischer Vertreter neben Staatskanzler von Hardenberg und seine Bemühungen um den Entwurf einer künftigen Verfassung Deutschlands als auch seine Tatigkeit als Minister für Ständische Angelegenheiten im Jahr 18193, gekennzeichnet durch die privile-

* Der erste Abschnitt dieses Textes ist die Zusammenfassung meines Beitrags zu Wilhelm von Humboldt e la costituzione prussiana, erschienen in Politica, scienze e cosmopolitismo. Alexander e Wilhelm von Humboldt, hrsg. von C. Malandrino, Mailand, Angeli, 1997. 1 Aus einem Briefe an einen Freund vom August, 1791, in W. von Humboldt, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preussischen Akademie der Wissenschaften, 12 Bde, Berlin, B. Behr's 1903 (GS), Bd. I, S. 77-85. Vgl. R. Leroux, Guillaume de Humboldt, La formation de sa pensee jusqu'en 1794, Paris, Publ. de la Faculte des Lettres de I'Universite de Strasbourg, 1932, S. 113 ff.; H. Wismann, Raison et contingence: Humboldt sur la constitution de 1791, in The french revolution and the creation of modem political culture, ed. by Francois Furet and Mona Ozouf, Oxford, Pergamon Press, 1987 -1989, Bd. III: The transformation of political culture 1789 -1848, 1989, S. 273 - 279; A. Leitzmann, Politische Jugendbriefe Wilhelm von Humboldts an Gentz, "Historische Zeitschrift", CU I, 1935, S. 48 - 89; man vergleiche zu diesem Thema auch ein lehrstückhaftes Kapitel in J. Droz, L' Allemagne et la revolution franr;:aise, Paris, PUF, 1949. 2 GS, Bd. I, S. 97 - 254. Vor allem mit diesem Text hat sich die Forschung in Italien verstärkt befaßt; man vergleiche die Arbeiten von F. Serra, Wilhelm von Humboldt e la Rivoluzione tedesca, Bologna, il Mulino, 1966; F. Tessitore, I fondamenti della filosofia politica di Humboldt, Neapel, Morano, 1965; M. Ivaldo, Wilhelm von Humboldt. Antropologia filosofica, Neapel E.S.I.,1980; P. Giacomoni, Formazione e trasformazione. "Forza" e "Bildung" in Wilhelm von Humboldt e la sua epoca, Mailand, Angeli, 1989; V. Fiorillo, Politica ancilla juris. Le radici giusnaturalistiche dei liberalismo di Wilhelm von Humboldt, Torino, Giappichelli, 1996; ein breiteres Spektrum bieten hingegen Textsammlungen wie Wilhelm von Humboldt nella cultura contemporanea, Quademi di "Lingua e stile", hrsg. von L. Heilmann, Bologna, il Mulino, 1976 und W. von Humboldt e il dissolvimento della filosofia nei "sapere positivi", Neapel, Morano, 1993.

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gierte Beziehung zu Freiherr vom Stein, dem seit langem überragenden Vertreter der Idee der Provinzial stände in Preußen. Der historische Hintergrund der von Humboldt, Stein und Hardenberg entwikkelten Verfassungsentwürfe ist die schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts besonders auf Anregung von Stein geleistete Reformarbeit. Was speziell die Verfassungsentwürfe für Preußen betrifft, genügt es hier, an die Verordnung über die zu bildende Repräsentation des Volks zu erinnern, die auf Veranlassung des Staatskanzlers von Hardenberg im Mai 1815, kurz vor dem Ende des Wiener Kongresses4 , erlassen wurde. In der Präambel wurde ausdrücklich die Absicht kundgetan "eine schriftliche Urkunde, als Verfassung des Preußischen Reichs" auszufertigen und im 1. Paragraphen findet sich die Erklärung: "Es soll eine Repräsentation des Volks gebildet werden". In diesem Zusammenhang ist zumindest ein Punkt hervorzuheben, nämlich daß die Verordnung im 3. Paragraphen die indirekte Wahl der Mitglieder des Landtags vorsah. Sie sollten aus und von den Provinzialständen gewählt werden, die, "wo sie mit mehr oder minder Wirksamkeit noch vorhanden sind" (§ 2.), repristiniert und "dem Bedürfnisse der Zeit gemäß" eingerichtet bzw. dort, wo sie nicht mehr existierten, neu geschaffen werden sollten. Die politischen Ziele, die Humboldt mit seinem Vorschlag einer Staatsreform verwirklichen wollte, stellten die Lösung für ein Problem dar, das er seit langem im Blickfeld haues: die zunehmenden staatlichen Eingriffe in das Leben des Lan3 Doch schon seit 1817 war Humboldt Mitglied der im Staatsrat eingerichteten Verfassungskommission (und Präsident der Steuerkommission). Zu dem Teil der Humboldtschen Biographie, der seine politische Tatigkeit betrifft, siehe vor allem B. Gebhardt, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann, 2 Bde, Aalen, Scientia Verlag, 1965 (Neudruck der Ausgabe Stuttgart 1896-99) und S.A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat, Göttingen, Vandenhoeck u. Ruprecht, 1963; vgl. auch E. Kessel, Wilhelm v. Humboldt. Idee und Wirklichkeit, Stuttgart, K.F. Koehler, 1967 und H. Scurla, Wilhelm von Humboldt. Werden und Wirken, Berlin, Claassen, 1976 (1970 1); das Buch von P.R. Sweet, Wilhelm von Humboldt. A biography, Ohio State, Columbus, University Press, 1979, geht nicht über das Jahr 1808 hinaus. 4 Ein "Verfassungsversprechen" analog dem, das schon auf Veranlassung von Hardenberg in das Finanzedikt vom 27. Oktober 1810 eingefügt wurde; es enthielt, in seinem Schlußteil, folgende Passage: "Wir [Friedrich Wilhelm, ... König von Preußen] [behalten uns vor], der Nation eine zweckmässig eingerichtete Repräsentation, sowohl in den Provinzen als für das Ganze zu geben ... " (E.R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd I: 1803-1850, StuttgartlBerlinlKölnlMainz, Kohlhammer, 1978 3 , S. 44-46; Zitat S. 46; die Verordnung von 1815 findet sich auf S. 61-62). Dazu auch R. Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stuttgart, Klett-Cotta, 1981, und H. Dippel, Die Anfange des Konstitutionalismus in Deutschland, Frankfurt am M., 1991. 5 Ich teile mithin nicht die von H. Fröschle in H. Fröschle, Wilhelm von Humboldts politische Theorie und Sprachphilosophie - deutsche Antworten auf die französische Revolution, in: Geist und Gesellschaft: zur deutschen Rezeption der französischen Revolution, hrsg. von E. Timm, München, Fink, 1990, S. 57 -68, vorgeschlagene Deutung der Gründe für das zunehmende Gewicht, das dem Staat in Humboldts Denken zukommt. Nach Fröschles Ansicht ist dieses verstärkte Interesse auf den geänderten Untersuchungsgegenstand zurückzuführen,

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des auf der einen Seite und die weitere Ausdehnung und Verhärtung des Behördenapparats, der seit dem Polizeistaat der Zeit der Aufklärung eine Unmenge von Funktionen und Befugnissen an sich gezogen hatte, auf der anderen Seite waren zu Faktoren geworden, weIche die Regierungstätigkeit behinderten (man beachte die vollständige Entsprechung der nachstehenden, in einem zeitlichen Abstand von fast 20 Jahren geschriebenen Passagen, in denen der Polizeistaat bedingungslos verurteilt wird: "Wäre es, vorzüglich in gegebenen Fällen, möglich, genau die Uebel aufzuzählen, weIche Polizeieinrichtungen veranlassen, und weIche sie verhüten, die Zahl der ersteren würde allemal grösser sein,,6 und "Das blosse Regieren durch den Staat muss, da es durch Häufung der Controlle, Geschäfte aus Geschäfte erzeugt, sich mit der Zeit in sich selbst zerstören, in den Mitteln immer unbestreitbarer, in seinen Formen immer hohler, in seiner Beziehung auf die Wirklichkeit, den eigentlichen Bedürfnissen und Gesinnungen der Nation minder entsprechend werden,,7. Eine analoge Kritik - wenn auch mit anderen argumentativen Mitteln und auf einer ganz anderen politischen Erfahrung gründend - war von Stein schon in den ersten Jahren des Jahrhunderts geübt worden und hatte dessen Wirken für eine am Modell der Selbstverwaltung ausgerichtete Verwaltungsreform bestimmt, 8 da er davon überzeugt war, daß eine andere administrative Gliederung des Landes auch positive Konsequenzen für das Repräsentationssystem gehabt hätte. Als sich nach dem Ende der Befreiungskriege und nach der Gründung des Deutschen Bunds in Preußen ebenso wie in den anderen Staaten die Notwendigkeit der inneren Neuorganisation ergab, schien in Preußen - im Gegensatz zu anderswo eine Reform des Staates anstelle einer einfachen Restauration durchführbar: seine Führungsschicht war noch zu einem großen Teil bereit, dem Land eine neue Verfassung zu geben. Dies konnte man erstens durch Abfassung eines Grundgesetzes (Konstitutionalisierung der Verfassung) und zweitens durch die Schaffung einer Nationalrepräsentation realisieren. Die seit einiger Zeit offene Diskussion über beide Punkte war erst jüngst wieder aufgeflammt. Nachdem in Frankreich die Lehre von der Volkssouveränität vielfältigste Anwendungen erfahren hatte (von der Verfassung des Jahres 1791 über die jakobinischen Verfassungen bis zum Senatsbeda sich die Jugendschriften mit dem "bürokratisch erstarrten nachfriderizianischen Staat des aufgeklärten Absolutismus" befaßten, während die Schriften des reifen Humboldt den "Staat eines freien Volks", den "Staat an sich", in dem "der Untertan zum citoyen wird", zum Gegenstand hätten (Zitat S. 61). 6 Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, GS, Bd. I, S. 176. 7 Denkschrift über ständische Verfassung, GS, Bd. XII, 2. Hälfte, S. 389-455, & 9. 8 "So lange an der Spitze des Ganzen ein grosser Mann stand, der es mit Geist, Kraft und Einheit leitete, so brachte das Maschinenspiel gute und glänzende Resultate hervor ... wie unerwartet schnell wurde alles dieses nach dem Tod des grossen Königs ganz anders - um es zu glauben, muss man Augenzeuge und Zeitgenosse gewesen sein" (Stein, Briefwechsel, Denkschriften und Aufzeichnungen, hrsg. von E. Botzenhart, 7 Bde., Berlin, 1931, Bd. III, S.618). 4 Kirsch/Schier.

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schluß von 1804, der Napoleon Bonaparte zum Kaiser erklärte), hatte die vom König ,octroyee' "Charte constitutionelle" vom Juni 1814 die Möglichkeit erkennen lassen, die Idee eines "gouvernement representatif', für den die Zeit in jedem Fall reif war, in die Wirklichkeit umzusetzen und so die Klippe der parlamentarischen Demokratie zu umschiffen. Es handelte sich um die gemäßigte Version einer konstitutionellen Monarchie, für die schon B. Constant im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts plädiert hatte. In einigen deutschen Staaten war die Lage nicht viel anders; ich denke dabei zum Beispiel an Süddeutschland und die hier von einigen Landesherren verliehenen Verfassungen. Doch daneben gab es auch andere Länder und andere Souveräne: andere Länder, die nicht alle in der Entwicklung zurückstanden - man nehme nur Preußen selbst -, jedoch auch andere Souveräne, die gesonnen waren, diesmal die Aufgabe der Restauration so weitgehend wie möglich im Sinne einer bloßen Reaktion zu interpretieren. Wenn auch der Akt des Zugestehens einer schriftlich festgelegten Verfassung - im Gegensatz zur Anerkennung einer von unten als Recht aufgezwungenen Konstitution - als Zeichen für die Wiederdurchsetzung des Legitimitätsprinzips gedeutet werden konnte, so war doch Friedrich Wilhelm TII. von Preußen stets mehr davon überzeugt, daß es sich um ein Zeichen der Schwäche handelte. Eine schriftliche Urkunde, die ein Grundgesetz enthält, ist in der Tat ein Anzeichen für die Macht des Gesetzes gegenüber der des Souveräns (nicht zufällig schließt sich an dieses Problem historisch das der Kodifikation an) und jedenfalls Indiz einer nicht mehr absoluten Herrschaft. Oder besser gesagt: eine Lücke, die aIlen möglichen Versuchen der Teilnahme oder gar der Teilung der Macht Raum bietet. Doch ging es nicht nur darum, das monarchische Prinzip, an das im übrigen schon in der Charte von 1814 gemahnt wurde, wieder zur Geltung zu bringen. Es bedurfte auch einer Stellungnahme zum Ständestaat. Vor aIlem in den deutschen Ländern steIlte der Ständestaat als traditionelle Organisationsform der Macht das dauerhafte und beständige Fundament dar, auf dessen Grundlage dem aufsteigenden Rechtsstaat Widerstand geleistet werden konnte. Und die ständische Vertretung als Sonderform der politischen Repräsentation, die eine in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht altständische Verfassung flankierte, bildete einen vorbeugenden SchutzwaIl gegen jeden Gedanken an eine Repräsentativverfassung. Doch sie konnte auch deren Prolog darsteIlen oder aber die Grundlage bilden für eine gemäßigte Form der Monarchie, die einen erschütterungsfreien Übergang zum Neuen garantierte. Bei der in den Verfassungsentwürfen von Humboldt umrissenen Realität war eben nur der Rahmen neu, während die Inhalte zum Großteil von der Vergangenheit geerbt waren 9 . Es wurden erneut zwei Hauptfragen behandelt, eingefaßt dies9 "Une bonne constitution doit etre conforme a la situation locale du pais auquel elle est destinee, aux habitudes et au caractere de ses habitans, et meme pour operer sans inconvenient le passage d'une ancienne une nouveIle, il faut evidemment des modifications sagement ca1cu)ees." (An Kirchberger von Rolle über die Verfassung Bems (22 Janvier 1815), OS, XI, S. 140- 145; Zitat S. 140.

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mal in ein theoretisches Gerüst, das von der Unterscheidung zwischen Gesellschaft (oder Nation) und Staat bestimmt war: zum einen die Rolle des Souveräns und zum anderen die der Stände, beide sowohl für sich als auch in Hinblick auf ihre wechselseitigen Beziehungen betrachtet. Das erste Thema, das "monarchische Prinzip", wurde schon zu Anfang (in § 1.) der Denkschrift über ständische Verfassung (Oktober 1819) erwähnt, mit der ich mich nun befassen möchte. Eine vorgängige Fassung - die ich nur zum Vergleich mit der endgültigen Fassung heranziehen werde - geht auf den 4. Februar 1819 zurück und trägt den Titel Denkschrift über Preussens ständische Verfassung lO • Was das "ständische Element" betrifft, stellt es einen der Lebensnerven der Verfassung dar, wie sich aus dem Titel selbst der Denkschrift erhellt. Ihm kommen zwei Aufgaben zu: die Stände haben gegenüber der Regierung die Aufgabe einerseits der Mitwirkung und andererseits des Ausgleichs. Beide Funktionen rühren aus der der Nation zuerkannten Verwaltungsbefugnis. Der Begriff Gleichgewicht darf jedoch nicht den Eindruck erwecken, daß irgendeine Art von Aufteilung der Macht vorläge. Im Gegenteil, in § 6. wird ausdrücklich vor einer derartigen Deutung gewarnt. Hier ist eine andere Art von Aufgabenteilung gemeint: für die Stände gilt "das Prinzip der Erhaltung", während "das Bestreben nach Neuerung" anderswo - selbstverständlich denkt Humboldt hier an die Regierung - angesiedelt ist (§ 3.c und 9.). Und eben im Geiste dieses Bestrebens schließt Humboldt nicht nur in den Entwurf eine Liste von Grundrechten ein, sondern erklärt auch deren Erwähnung in einer "unabänderlichen" Verfassungsurkunde für notwendig (§ 11.). 10 GS, XII, I. Hälfte, S. 225 - 296. Sie wurde in engem Kontakt mit Stein konzipiert und abgefaßt. Stein hatte Humboldt eine Reihe von offiziellen Dokumenten und Materialien für die Arbeit zur Verfügung gestellt und den Entwurf anschließend persönlich durchgelesen und mit Anmerkungen versehen. In der zweiten Fassung greift Humboldt einige von Steins Anregungen auf, wobei er teilweise deren wichtigste Passagen wortgetreu überträgt. All dies fallt in die Zeit, in der sich der letzte Akt der Auseinandersetzung zwischen Humboldt und Hardenberg abspielt. Ihre Beziehung war schon seit mehr als zehn Jahren von Mißhelligkeiten und Zwistigkeiten geprägt und verwandelte sich gerade vor der Wiederaufnahme der Diskussion über die Verfassung Preußens in eine offene Auseinandersetzung. Hauptgrund für den Konflikt war die Rolle des Kanzleramts, das Humboldt entschieden in Frage stellte; vgl. W. von Humboldt, über die Zustände in der Verwaltung und die Minister (14. Juli 1417), GS, Bd. XII, 2. Hälfte, S. 196-202; dazu B. Gebhardt, Wilhelm von Humboldt, Bd. II, S. 333 ff.; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, StuttgartlBerlinlKölnlMainz, Kohlhammer, 1957 1 ss., Band I: Reform und Restauration 1789 bis 1830, 19672 , S. 310 (wo das Dokument allerdings das Datum vom 4. Juni 1817 trägt) u. 153 ff.; und den Briefwechsel mit seiner Gattin Caroline im Zeitraum vom 15. bis zum 31. Januar 1819 in W. v. Humboldt und K. Freiherr vom Stein, über Einrichtung landständischer Verfassungen in den Preussischen Staaten, Heidelberg, C. Winter, 1949, S. 83 - 113. Hier sind auch die ersten von Humboldt verfaßten Entwürfe und die diesbezüglichen Bemerkungen von Stein veröffentlicht. Sowohl Huber als auch Gebhardt und ebenso K. Harnrnacher, Die Philosophie der deutschen Idealismus - Wilhelm von Humboldt und die preussische Reform. Ein Beitrag zum Problem von Theorie und Praxis, in Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, hrsg. von Klaus Harnrnacher, Frankfurt am M., Klostermann, 1976, S. 85 -144, haben sich fast ausschließlich auf diese Fassung des Verfassungsentwurfs konzentriert.

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Das erste Ziel einer für das ganze Land gültigen ("allgemeinen" § 9.) Verfassung ist es also, nach Bestimmung der Grenzen der Regierungstätigkeit die Verwaltungstätigkeit in mehrere Ebenen aufzugliedern, indem zwischen der staatlichen und der lokalen Zuständigkeit unterschieden (§§ 3.a und 16.) und letztere den verschiedenen mit "Verantwortlichkeit" (§§ 5. und 17.) betrauten Komponenten der Gesellschaft übertragen wird. Die Verwaltung der lokalen Angelegenheiten erlaubt die Verwirklichung der Selbstverwaltung und der Dezentralisierung (§§ 2., 9., 16.). Die Nation wird nämlich teils als eine Gesamtheit von Gebietseinheiten und teils als Ergebnis einer vielschichtigen gesellschaftlichen Stratifikation dargestellt. Erstere sind lokale Zusammenschlüsse unterschiedlicher Größe (ländliche und städtische Communen, Gemeinden, Kreise (§ 20.) und Provinzen), die jeweils einen eigenen "Vorstand" haben. Diese Vorstände stellen zusammen mit den Vorständen der allgemeinen Stände die ständische Behörde dar. Die Vorstände der Communen und Kreise flankieren den Adel sowohl bei der Verwaltung der lokalen, der Zentralregierung entzogenen Angelegenheiten als auch bei der Besetzung der Nationalversammlung. In den Genossenschaften wiederum schließen sich jeweils diejenigen zusammen, die in der Landwirtschaft, im Handwerk oder im Handel tätig sind (eine vierte Genossenschaft vereint die Bürger, die einer anderen als den genannten Beschäftigungen nachgehen 11). Neben diesen sind kleinere Zusammenschlüsse vorgesehen, die Bürgervereine. Auf diese Weise wird die alte ständische Teilung (Adel, Klerus und Städte) überwunden und ein Prozeß der gesellschaftlichen Aufgliederung in Schichten nach vorrangig wirtschaftlichen Aspekten in Gang gesetzt. Humboldts Einsatz für eine ausgewogene Gewerbefreiheit (§ 28.), an den in diesem Zusammenhang erinnert werden muß, entspricht, in Verbindung mit dem Vorschlag, die Zünfte zu beseitigen,12 den Erfordernissen eines Staates, der zur vierten Industriernacht Europas geworden war. Die Unterscheidung zwischen den drei "Gattungen" der Teilnahme am öffentlichen Leben (§ 9.) - die beruflich motivierte Teilnahme des Staatsbeamten; die Anteilnahme dessen, der sich passiv in die gegebene Ordnung fügt; und die in der Mitte angesiedelte Teilnahme des Bürgers - sowie die Bemühungen um eine verstärkte Einbeziehung der Bürger 11 D. h. auch die in der Stadt ansässigen Adligen, Intellektuellen und Beamten (Humboldt lehnt die Idee eines Stands der Gelehrten und Künstler mit eigener politischer Befugnis ab und das gleiche gilt für die Hypothese eines autonomen Beamtenstands [vgl. § 28], wie ihn hingegen Freiherr vom Stein als "Keil" zwischen Souverän und Ständen im Sinn hatte und den sich Hegel sogar als "allgemeinen Stand" vorstellte.). 12 § 28. präzisiert: die "Corporationen müssen eine vernünftige Gewerbefreiheit nicht aufheben" und dürfen darüber hinaus "überhaupt nicht mit den Zünften verwechselt werden". Auch Stein pflichtete in seinem Kommentar zu diesem Punkt dem Gedanken Humboldts bei, keine uneingeschränkte Gewerbefreiheit zuzugestehen, bzw. hatte "die Aufebung der ohnbedingten Gewerbefreiheit" als "dringend nothwendig" bezeichnet. Doch für gleichermaßen "dringend nothwendig" hielt er die "Wiederherstellung" der Zünfte ,,(mit Beiseitigung aller Handwerksrnißbräuche) als einer Erziehungsanstalt zu Zucht und Gehorsam des Lehrlings und Gesellen, als einer Unterrichts Anstalt zur Erlangung tüchtiger und gründlicher Kenntnisse des Handwerks und Fertigkeit in seiner Ausübung ... ": vgl. W. v. Humboldt und K. Freiherr vom Stein, über Einrichtung ... , S. 76-77.

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zielen darauf ab, die Basis der Teilnahme zu erweitern und die Kluft zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen in beiden Richtungen - von oben nach unten und umgekehrt - zu verringern. Hieraus ergibt sich auch eine Einschränkung der Rolle des Adels, wenn ihm auch die traditionelle privilegierte Stellung zum Teil bewahrt wirdP Bei den VerwaItungsaufgaben werden ihm Personen aus anderen gesellschaftlichen Schichten (§ 29.) zur Seite gestellt. Da die VerwaItungsämter oft von den ständischen Vertretern innegehabt werden, spiegelt sich dies auch in der Natur der Vertretung wider. Eine zweite von der Humboldtschen Verfassung vorgesehene und für sie äußerst wichtige administrative Instanz sind die Provinzialversammlungen (§ 32.), deren Mitglieder direkt von den Einwohnern der Provinz gewählt werden. Sie haben, als Zwischenglied zwischen den Kreisen und dem Staat, die Aufgabe der Verbindung zwischen den einzelnen örtlichen Situationen und der Zentralregierung. Hierdurch besteht die Möglichkeit, einerseits die Zuständigkeiten, die andernfalls nur der Regierung zufielen, auszuweiten, und andererseits eine Art erstes Amalgam der lokalen Unterschiede zu schaffen, um sicherzustellen, daß der Wunsch, die Einförmigkeit zu verhindern, andererseits nicht zu einem vollkommen zusammenhanglosen System führt. Humboldt besteht sehr auf der "politischen" Bedeutung der Provinzen, die als "Untereinteilungen des Volks und des Landes" zu verstehen sind und nicht als mehr oder weniger privilegierte Teile des Landes, zwischen denen keinerlei Bindungen bestehen. Zur Bewahrung des provinziellen Aspekts und der eben erwähnten politischen Bedeutung ist den Provinzial versammlungen jegliche Beziehung zueinander und mit der allgemeinen Versammlung ausdrücklich verboten (§ 35.). Im Gegensatz zu den bisher betrachteten Versammlungen haben die Provinzialversammlungen nicht nur administrative sondern auch beschließende Funktion (in Bezug auf die Provinzialgesetze), während die allgemeine Versammlung nur beschließende und selbstverständlich repräsentative Funktion hat. Die Nationalversammlung teilt sich in zwei Kammern, eine erbliche (§ 41.) und eine gewählte, und hat neben der beratenden Funktion auch Entscheidungsbefugnis, wie der Terminus "mitwirken" unterstreicht. Das den Ständen zuerkannte Entscheidungsrecht entfaltet sich in der Pflicht zur Billigung oder Verweigerung der Billigung der gesamten legislativen Angelegenheiten, einschließlich der Besteuerung - und ausgeschlossen die Verordnungen der Regierung - (§ 17.), sowie in der Beschwerdeführung (§ 19.) und der Tatsache, daß die Form der "Bitte", in die einige Gesetzvorschläge gekleidet werden können, einen gewissen Raum für die "Vorlegung" eigener Vorschläge (§ 18.) bietet, auch wenn die eigentliche Initiative zu Gesetzen nicht zugebilligt wird. In der zweiten Kammer werden die Repräsentanten unmittelbar von den Stadt- und Landständen gewählt; letztere sind sowohl adli13 Stein, a.a.O, S. 79, hat in seinen Kommentaren zur ersten Fassung dieses Entwurfs Humboldt empfohlen, nicht nur das Programm zum Ausschluß des Adelsstands von bestimmten Verwaltungsaufgaben abzustufen, sondern auch darauf zu achten, dessen politische Rolle nicht in Frage zu stellen (mit besonderem Hinweis auf § 82).

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ge als auch nicht adlige Grundbesitzer (§ 43.)14. Und der Besitz, insbesondere der Grundbesitz l5 , ist zusammen mit der Stetigkeit des Aufenthalts die Grundlage des Stimmrechts und der Wah!f!ihigkeit (§ 23.). Das Mißtrauen gegenüber der Instabilität des Geldvermögens (das im übrigen schon zehn Jahre zuvor Constant in Frankreich zum Ausdruck gebracht hatte) steht in Einklang mit dem Vorschlag, die politischen Rechte in den Städten nach "Genossenschaften" (§ 28.) und nicht nach "Quartieren" zu vergeben, wie es hingegen in der Städteordnung von Stein festgelegt war. Hier tritt die politische Rolle der Stände deutlich zutage; sie sind "natürliche Aufteilungen des Volkes" (§ 36.), Teil der Wirklichkeit und Träger von eigentümlichen Werten und Lebensformen, wie auch die bedeutende Unterscheidung erhellt, die insgesamt die Humboldtschen Überlegungen bestimmt, d. h. die Unterscheidung zwischen Land und Stadt. Dies ist die wirklich entscheidende Abgrenzung, welche die verschiedenen Teile der Bevölkerung, die niemals für sich, sondern stets in ihrem ökonomischen und gesellschaftlichen Zusammenhang gesehen werden, durchzieht und sie in ihrer Eigentümlichkeit wahrnimmt. Hierdurch wird einerseits die politische Bedeutung der Stände gewährleistet und sogar verstärkt und andererseits tendenziell die Form der Stände als "einheitliche" Stände ausgelöscht, wie Humboldt bei mehr als einer Gelegenheit hervorhebt. Die vorsichtige Dosierung der den Ständen zugestandenen Vorrechte und der ihrer Tätigkeit auferlegten Beschränkungen ist im Grunde genommen das Ziel dieses Entwurfs. Zur Erläuterung genügen einige Beispiele, wie etwa die zahlreichen Möglichkeiten für die Stände, auf die Beschlußfassung Einfluß zu nehmen, auf der einen Seite und die Ausschließung der Stände von jeder direkten Gesetzinitiative auf der anderen Seite; oder einerseits der weite Raum, der den lokalen Eigentümlichkeiten gelassen und von der örtlichen Ordnung widergespiegelt wird, und andererseits die Starrheit der allgemeinen Prinzipien, an die sich die örtlichen Gegebenheiten in jedem Fall angleichen müssen, und der Charakter einer Ordnung, die, da in einem "Grundgesetz" kodifiziert, den Ständen "gegeben" und nicht mit den Ständen vereinbart wurde (§ 21.; doch siehe auch § 22. und 32.). Auf der gleichen Linie liegt auch die vollständige Trennung der Provinzialversammlungen von der Nationalversammlung einerseits und die Weigerung, bei diesen eine Wahl mit Abstufungen zuzulassen,16 andererseits - was bedeutet, daß der Respekt vor der Rolle der Stände von dem Bestreben begleitet ist, Rückfälle in Situationen wie die des 14 Äußerst eindrucksvoll illustrieren die Paragraphen 28 und 36 die enge Abhängigkeitsbeziehung, die Humboldt zwischen Grundbesitz und Adelstitel herstellt, wobei er dem ersten Element die größere Bedeutung beimißt. 15 Die Idee eines besonderen, an das Leben auf dem Land und insbesondere an den Landadel gebundenen Ethos reicht in unveränderter Form von den Anfängen der Romantik bis zu den letzten Versionen der Grundlinien der Philosophie des Rechts von Hege!. 16 Vg!. § 43.: "Die Wahlen dieser Abgeordneten geschehen unmittelbar aus der Nation selbst, durch dieselbe, und ohne Mittelstufe von Wahlherren"; derselbe Mechanismus ist in § 37. beschrieben.

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Ancien regime zu vermeiden, und zugleich bewußt versucht wird, eine konstruktive und nützliche Teilnahme der Stände zu fördern, auch um die Macht einer starken Bürokratie zu schwächen. Bei alledem gilt es zugleich, der Stellung des Souveräns einen angemessenen Freiraum zu lassen. Die Bestimmung des "monarchischen Prinzips" in den Anfangsworten der Denkschrift ist wahrscheinlich nicht nur darauf zurückzuführen, daß Humboldt dem (noch für kurze Zeit) mächtigen Staatskanzler nachgegeben hat l7 oder auch eine Vorahnung davon hatte, was in Art. 57 der Wiener Schlußakte des Jahres 1820 sanktioniert werden würde ("die gesamte Staats-Gewalt" muß "in dem Oberhaupte des Staats vereinigt bleiben und der Souverain kann durch eine landständische Verfassung nur in der Ausübung bestimmter Rechte an die Mitwirkung der Stände gebunden werden,,)18 und was man als einen echten Niveauunterschied zwischen der Macht des Souveräns und der der Stände deuten kann. Diese Bestimmung verweist an erster Stelle auf die Notwendigkeit einer starken monarchischen Macht. Auch Humboldt hatte die ständische Verfassung als Stütze und Vervollständigung der Monarchie beschrieben. Eine Vervollständigung, die zugleich eine Verstärkung darstellen sollte; und die weitere Geschichte des monarchischen Prinzips in Preußen belegt, daß er hier einmal die Dinge richtig und im voraus gesehen hatte, während seine Zeitgenossen noch für eine ständische "Reaktion" arbeiteten, der keine große Zukunft beschieden war. 11. Die Geschichte von Humboldts Engagement in der Debatte über die künftige Verfassung Deutschlands läßt sich im wesentlichen in zwei Perioden unterteilen, deren erste die im Dezember 1813 als Antwort auf das Drängen von Freiherr vom Stein, die Frage endlich auf die Tagesordnung zu setzen, verfaßte Denkschrift über die deutsche Verjassung 19 zum Mittelpunkt hat, wohingegen im Zentrum der zweiten die diesbezüglichen Verhandlungen während des Wiener Kongresses stehen. Die Denkschrift des Jahres 1813 hat einen Gedanken zum Ausgangspunkt, der auf den ersten Blick wie der klare Widerruf der gewohnten und bekannten Anschauungen Humboldts klingt. Seit seinen ersten politischen Schriften hatte er sich für eine, später als historistisch bezeichnete Auffassung ausgesprochen, die ganz am Wert einer natürlichen oder spontanen Entwicklung ausgerichtet war und die Implantation in die Geschichte von neu geschaffenen künstlichen Konstrukten, die von der menschlichen Vernunft unter Mißachtung der geschichtlichen Entwicklung entworfen werden, strikt ablehnte. Kurz, er hatte sich für eine rein negative Haltung, für die Enthaltung von Eingriffen in die "Weltbegebenheiten" ausgesprochen. Im Gegenteil hierzu gibt er nun seine Präferenz einem positiven Eingreifen von außen. Doch gilt es weniger, diese Wandlung in seinem Denken zu vermerken,2o 17 Der Ausdruck "monarchisches Prinzip" findet sich nicht in der ersten Fassung der Denkschrift. 18 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen, in: E.R. Huber, Dokumente, Bd. I, S. 91100; Zitat S. 99. Übrigens war Humboldt zu diesem Zeitpunkt wegen seiner Weigerung, die in den Karlsbader Beschlüssen enthaltenen Maßnahmen anzuerkennen, schon durch Hardenberg seines Amtes enthoben worden. 19 as, Bd. XI, S. 95-112.

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als vielmehr sein klares Bewußtsein von der grundlegend geänderten geschichtlichen Lage zur Kenntnis zu nehmen, die gegenüber der Vergangenheit auf alle Fälle "neu" sei und nach angemessenen Antworten verlange. 21 Nach der Gründung des Rheinbunds zunächst und dann nach dessen Auflösung stünde man, auch wenn man vom Problem der Vereinigung Deutschlands absähe, in jedem Fall vor einer "neuen" Situation, die es nicht mehr gestattete, weiterhin auf die natürliche Entwicklung zu vertrauen, wie es sich hingegen unter normalen Umständen empfehle. Und das sei der wirkliche Ausgangspunkt. Wobei man in erster Linie das Erfordernis in Anschlag bringen müsse, eine freie und starke Nation zu errichten. Stark in ihrem Innern,22 denn nur so könne sie es auch nach außen sein.

Im Zentrum der Humboldtschen Denkschrift steht also die Idee von einem Deutschland als "einem gemeinschaftlichen Ganzen", einzige Quelle der Unabhängigkeit und Macht, und nicht der "einseitige Gesichtspunkt" einer bloßen Nutzenrechnung zur Gewährleistung des Schutzes vor künftigen französischen Angriffen. Dieses deutsche "Ganze", explizite Reminiszenz an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, deckt sich mit einem Nationalitätsbegriff, der über einen nur auf der Gemeinsamkeit der Sitten, Sprache oder Literatur gründenden Nationalitätsbegriff hinausgeht. Doch vor allem steht er im Gegensatz zu der Idee einer von einem Einheitsstaat getragenen Nationalität, wie sie wenig später in Italien Form annehmen sollte und über die sich in jenen Jahren auch mancher deutsche Autor Gedanken machte, wie z. B. G. J. Fichte und E. M. Arndt. 23 Der Kern des Humboldtschen Diskurses ist, daß der Patriotismus die Anhänglichkeit jedes Deutschen zur Provinz nicht auslöschen kann, obgleich die Gleichsetzung zwischen Rückkehr zum Alten und Restauration der alten Verfassung, die an diesem Punkt am funktionalsten scheinen könnte, seines Erachtens keinerlei Gültigkeit hat. Denn das, was nicht mehr existiert, kann man nicht mehr ins Leben rufen, und die alte Verfassung 20 Obgleich Humboldt im Laufe seiner politischen Karriere die Erfahrung gemacht hatte, daß in bestimmten Situationen eine rein "negative" Haltung nicht ausreicht, sondern eine "positive", konstruktive Einstellung erforderlich ist. 21 Dieser Gedanke, der sich schon gleich zu Anfang der Denkschrift über die deutsche Verfassung, GS, XI, S. 96, findet, stellt den Ausgangspunkt von Humboldts unnachgiebiger Antwort auf die Einwände von Friedrich von Gentz, dem offiziellen Sprecher Metternichs, dar, der weiterhin entschlossen gegen die Substanz von Humboldts Vorschlägen Widerstand leistete: "Deutschland leidet an einer grossen Krankheit, welche man, ohne einiges Schneiden, nie heilen wird ... " (An Gentz über die deutsche Verfassung (1814), GS, Bd. XI, S. 113-116; Zitat S. 114). 22 Und fahig, das eigene "nothwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwickelung ruhig und ungestört nachzugehen ... " (GS, Bd. XI, S. 97). 23 Trotz der Divergenzen in ihren Ansichten über die nationale Frage (siehe Kap. VIII von Bd. I von F. Meinecke, Weltbürgerthum und Nationalstaat, 2 Bde., MünchenlOldenburg, 19226 ), war Humboldt und Freiherr vom Stein die GrundeinsteIlung gemein, daß dem Deutschsein ein höherer Stellenwert zukomme als dem Preußischsein. So hatte Humboldt im August 1807 geschrieben: "Aber wenn man ... die Situation Deutschlands betrachtet, kann die gegenwärtige Epoche nur unendlich traurig erscheinen in den Augen eines Deutschen, was mehr ist als ein Preusse" (Zitat in B. Gebhardt, Wilhelm von Humboldt, Bd. I, S. 93).

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existiert nicht nur und nicht so sehr wegen der von den Franzosen verursachten Zerstörungen nicht mehr, als vielmehr aus historischen Gründen, die bis auf die Reformation zurück reichen. Es zeichnet sich für Humboldt somit erneut eine SteIlung zwischen den Fronten ab. Diese Position manifestiert sich in seiner Option für eine "wirkliche Verfassung" (den Bundesstaat), die er für die einzige wirkliche Alternative zu einem "bIossen Verein" (dem Staatenbund) erachtet. Der Vorschlag zugunsten der Schaffung eines Bundesstaats24 (Komprorniß zwischen Föderation und Einheitsstaat) basiert also auch auf der theoretischen Überzeugung, daß es notwendig sei, "ein gemeinschaftliches ["und organisches"] Ganzes" wiederherzustellen, das sich dadurch auszeichne, daß in ihm " ... einigen Theilen die Zwangsrechte ausschliessend beigelegt werden, weIche bei dem Verein, Allen gegen den Uebertreter zustehen,,?5 Seine besonderen Merkmale sind: ein zeitlich unbefristeter Bund, der von ausschließlich souveränen Fürsten gebildet wird, die sich ihres Rechts, aus der Allianz auszutreten, begeben haben, und der vor Angriffen von außen durch die großen europäischen Mächte Rußland und England gesichert wird, während die Garanten der Beziehungen zwischen den deutschen Staaten die größten unter ihnen sind. Das Supremat Österreichs und Preußens schlägt sich in dem Recht nieder, den Krieg zu erklären und Frieden zu schließen. Es ist keine Verfassungsbestimmung für die Regelung der wechselseitigen Beziehungen im Konfliktfall vorgesehen, was belegt, weIch heikles Gleichgewicht Humboldt herzustellen gedenkt, indem er weder eine Gewaltenteilung zwischen den bei den Mächten, noch die Unterordnung der einen unter die andere vorsieht. Neben einem "allgemeinen Armeecorps", für dessen Bildung Preußen und Österreich einen ihrer Rolle als europäische Macht angemessenen Beitrag leisten müssen,26 ist die Schaffung eines gemeinsamen Gerichtshofs des Bunds vorgesehen. Selbstverständlich wird jeder Staat abgesehen vom Bundesheer und dem Bundesgericht über eine eigene Armee und über eigene Gerichte verfügen. In den kleineren Staaten können Zivilverfahren nur bis zu einer bestimmten Instanz abgewickelt werden und werden dann bis zu den höchsten Instanzen in größeren Staaten fortgesetzt. 27 Doch was hier am meisten interessiert, ist die Rolle der Stände, die nicht nur nicht vergessen, sondern in Hinblick auf die Funktion, die ihnen nach Humboldts Ansicht zusteht, berücksichtigt und daher un24 Anstelle eines bloßen Staatenbunds, der schließlich siegreichen und von Anfang an sowohl von den Mächten, die Napoleon besiegt hatten, als auch von Österreich befürworteten Lösung. 25 GS, Bd. XI, S. 98. 26 Die "hauptsächlichste Bürgschaft für die Dauer des Deutschen Vereins liegt gerade in dem Umstande, dass Oesterreich und Preussen die Unabhängigkeit und Selbständigkeit Deutschlands als unzertrennlich von ihrer eignen politischen Existenz ansehen" (GS, Bd. XI, S. 105). 27 Das hat Auswirkungen auch auf Ebene der Criminalprozesse und führt zu einer Reihe von Komplikationen aufgrund der Verflechtung von Rechtspflege und Gesetzgebung, auf die hier jedoch nicht eingegangen werden soll. Es genügt der Hinweis, daß es seinerzeit drei Urteilsinstanzen gab.

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ter dem Titel "Inneres Staatsrecht..28 behandelt werden. Gleich nachdem erklärt wurde, daß jeder Fürst innerhalb seines Staates seine "Souverainitätsrechte" genießt, werden sofort die Stände erwähnt, die errichtet und hergestellt werden müssen und mit Rechten auszustatten sind, die, unter Bewahrung der territorialen Besonderheiten, für das gesamte deutsche Gebiet gelten. Ein sehr viel komplexeres und heikleres Problem stellen schließlich die "mediatisirten Reichsstände" dar: Humboldts Position in diesem Zusammenhang ist ziemlich unbeugsam und sein Vorschlag, zur Lösung der Frage eher "staatsrechtlichen Grundsätzen" zu folgen anstatt den den Reichsständen aus ihrer Geschichte erwachsenen Rechten Vorrang zu geben, zeigt hinlänglich, wieviel Beachtung der Autor auch in dieser Hinsicht an erster Stelle dem Gemeinwohl schenkt. Im Schlußteil des Entwurfs empfiehlt Humboldt die Gewährung der uneingeschränkten Reisefreiheit für die Einwohner der deutschen Staaten sowie des Rechts, an einer beliebigen deutschen Universität zu studieren. Und schließlich werden die allgemeinen Grundzüge einiger Maßnahmen zur Vereinfachung des internen Zollsystems und des Handelsverkehrs vorgezeichnet. Gentz, der im Auftrag Metternichs tätige eigentliche Ansprechpartner Humboldts für diese Denkschrift, widersetzte sich umgehend dem quasi gesamten Entwurf und betonte, daß eben der Begriff Bundesstaat29 mit der in ihm enthaltenen gleichmachenden Wirkung der Gegenstand seines Widerspruchs sei. Er verwies darauf, daß die wirkliche Gleichheit zwischen den Staaten die einzig möglich Voraussetzung für die Schaffung eines Staatenvereins sei, und erhob den Einwand, daß es äußerst gefährlich sei, dessen Bildung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zuzulassen, da dies dem Versuch gleichkäme, aus Ungleichen Gleiche zu machen. In der Erwiderung Humboldts kommt - neben einer nur schlecht verborgenen Unduldsamkeit gegenüber den Fürsten mittlerer und kleiner Staaten, die sehr gut erkennen läßt, wie wenig er für sie übrig hatte, wenn er auch ihre Präsenz im Bund für notwendig hielt 30 - die ganze Enttäuschung des Diplomaten ans Licht, der sich darüber im Klaren ist, daß die wichtigste seiner Gegenpartein beabsichtigt, die gesamte Philosophie zu demontieren, auf der seines Erachtens die Vereinigung Deutschlands gründen müßte. Eine Verbindung "ohne alle Verfassung, durch blosse freie Allianz-Traktate, wie ganz unabhängige Mächte sie schliessen, und deren Auflösung, wenn sie auch von der andern Seite rechtsmässige Kriege hervorbringen könnte, doch nie gesetzwidrig heissen dürfte ..... 31: in dieser Weise skiz28 Das ist sozusagen der Prolog zu Art. 13 der Deutschen Bundesakte (8. Juni 1815): "In allen Bundesstaaten wird eine Landständische Verfassung statt finden" (in E.R. Huber, Dokumente, Bd. I, S. 84-90, Zitat S. 88). 29 Der bei Gentz stets "Staatenverein" genannt wird. Die Anwort von Gentz findet sich in GS, Bd. XI, S. 95. 30 Schon in der Denkschrift über die deutsche Verfassung hatte er klargestellt, daß die Errichtung eines aus wenigen großen Staaten gebildeten Deutschland dessen Einheit starkt beeinträchtigt hätte.

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ziert Humboldt die von Gentz vorgeschlagene Lösung. Eine Lösung, die jede wirkliche Möglichkeit, das Band zwischen den Deutschen enger zu flechten, von vorneherein ausschloß (der Hinweis auf die Rechtmäßigkeit der Aufkündigung der Allianz trotz der drohenden Kriegsgefahr ist unmißverständlich) und folglich auch all jenen Maßnahmen ablehnend gegenüberstand, die darauf abzielten, eine kompakte Einheit zu schaffen, wie zum Beispiel die Einrichtung eines allgemeinen Gerichtshof. Die zweite Phase von Humboldts Bemühungen um die Verfassung Deutschlands hat ihren Ausgangspunkt in der Resolution der allierten Mächte in Langres im Januar 1814, die Deutschland zu einem Bund von unabhängigen deutschen Staaten erklärte. Die im Vergleich zu der bisher von Humboldt verfolgten, nun beträchtlich modifizierte Formulierung des Problems hatte unvermeidlich auch einige Auswirkungen auf die von Preußen in Hinblick auf die Konkretisierung des gerade getroffenen Übereinkommens gemachten Vorschläge 32 , obgleich man gleich anmerken muß, daß zahlreicher und grundlegender als die vorgenommenen Änderungen die Konstanten sind, die Humboldt festzuhalten sucht. Mehr noch: einige der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen gehen trotzdem noch in Richtung einer wahrhaftigen Vereinigung zwischen den Staaten, weIche die Verbindung deutlich zwingender gestalten würde als eine bloße Föderation. So schlägt er, um ein besonders aussagekräftiges Beispiel zu nennen, die Einrichtung einer Bundesversammlung, eines Bundesheeres und eines Oberen Bundesgerichtshofes vor, womit er im wesentlichen die von Anfang an von Preußen eingeschlagene Richtung bekräftigte. Signifikant ist hier außerdem der Stellenwert eines Problems, das, wie schon erwähnt, die Reformzeit als eines ihrer hervorstechendsten Elemente durchzogen hatte und das eines der charakteristischsten Elemente des Verfassungsentwurfs Preußens wird, nämlich die Einrichtung bzw. die Wiederherstellung der Provinzialstände (mit allen Konsequenzen in Hinblick auf ihr institutionelles und gesellschaftliche Gewicht). Das Grundprinzip, von dem er nicht abzuweichen gedenkt, ist das einer Verfassung für ganz Deutschland als "ouvrage nazional,,33. Und von Bedeutung ist der eben zu diesem Zweck vorgebrachte Vorschlag, die Abfassung der Verfassung, nachdem die allgemeinen Grundsätze, an denen sie auszurichten ist, festgelegt waren, allein den Ministern - und ihren Beratern - Preußens, Österreichs und der Staaten zu überlassen, die das "Komitee" der künftigen Bundesversammlung bilden. Nicht an der Abfassung beteiligt sollten hingegen, trotz ihrer notwendigen Präsenz in diesem Ausschuß, die Minister der europäischen Garantiernächte sein. Ebenso wichtig ist der Vorschlag, vom Ausschuß die Gesandten der anderen Staaten, die den Bund bilden werden, auszuschließen und sie von der Stadt fernzuhalAn Gentz über die deutsche Verfassung, GS, Bd. XI, S. 115. Vgl. Memoire preparatoire pour les conferences des cabinets allies sur les affaires de l'Allemagne (April 1814), GS, XI, S. 204-211. 33 Memoire, GS, XI, S. 207. 31

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ten, in denen der Ausschuß seine Arbeit tut. Selbstverständlich sollen hierdurch Versuche, die entstehende Verfassung zu verfälschen oder zumindest ihrer Entstehung Hindernisse in den Weg zu legen, unterbunden werden. Die grundlegende Bedeutung, die der Verfassung beigemessen wird, kann man neben dem schon gesagten auch dem Kriterium entnehmen, das unter Punkt 2. von einer der die o.g. grundlegenden Prinzipien enthaltenden Anlagen formuliert wird: "Tous les me mbres de la Ligue jouiront du droit d'une Souverainite, limitee par la Constitution,,34. Das schon in der Denkschrift von 1813 deutlich hervorgehobene Ziel, eine Verfassung für ganz Deutschland ins Leben zu rufen, wird unter jenem Punkt 5. bekräftigt, der nicht nur die Verteidigung gegen äußere Angriffe zum Zweck des Bunds erklärt, "mais aussi la garantie de tous les droits des differentes Classes et Individus de la Nation dans chaque Etät en particulier,,35. Wenn wir kurz zu den spezifischeren Inhalten des neuen von Humboldt im Jahr 1814 vorgelegten Entwurfs zurückkehren, muß schließlich ein weiterer kennzeichnender Punkt genannt werden, beim des es sich diesmal um einen Nachhall aus den jüngsten Diskussionen handelt. Und zwar geht es um eine Stellungnahme zum Problem der Beziehungen des künftigen Bund zur Schweiz und zu den Niederlanden: soll er sich hierbei auf eine mehr oder weniger enge Allianz beschränken oder sie in den Verein aufnehmen. Humboldt antizipiert das, was er einige Monate später in mehr als einer Veröffentlichung bekräftigen wird 36, indem er sich für eine engere Verbindung als mit jeder anderen eurpäischen Macht ausspricht, die zwar dauerhaft sein soll, doch - hauptsächlich aufgrund der Verschiedenheit der Verfassungen - nicht die Aufnahme in den künftigen Bund vorsieht. Doch daß das politische Schicksal Humboldts als Gesandter in Wien oder jedenfalls das seiner Konzeption der künftigen Verfassung Deutschlands schon in einer gewissen Weise vorgezeichnet war, scheint klar zu sein, zieht man nur die zu diesem Thema von Hardenberg einige Monate später geschriebene Abhandlung in Betracht. 37 Da sich die Zeiten der Entscheidungsfindung länger hinzogen, als es die preußische Regierung und auch Humboldt selbst wünschten, verfaßte auch Hardenberg einen eigenen Verfassungsentwurf mit 10 Artikeln, aus denen im Anschluß an eine Überarbeitung in Zusammenarbeit mit Stein erst 41 und schließlich, durch Einwirkung Metternichs, 12 wurden. Der Umfang des ursprünglichen Entwurfs Hardenbergs und dann seiner endgültigen Fassung ist kein irrelevanter Tatbestand, da aus ihm erhellt, daß Hardenberg schon den Vorsatz hatte, den Forderungen Mettemichs zuzustimmen, der wünschte, daß die Gründungsurkunde, die 34 Bases qui pourraient servir de norme au Comite qui sera charge de la rooaction de la Constitution Germanique, GS, XI, S. 211-217, Zitat S. 21l. Die andere Anlage trug den Titel Expose des droits de tout sujet AlIemand en general et des Princes et Comtes mooiatises en particulier, GS, XI, S. 217 -219. 35 A. a. 0., S. 212. 36 über die politischen Verhältnisse der Schweiz, GS, XI, S. 116 -135 und über den Anschluss der Schweiz an Deutschland, GS, XI, S. 136-139. 37 Vgl. GS, XI, S. 202.

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in Wien beschlossen würde, so allgemein wie möglich gehalten sein sollte. Und in der Tat ist ein erstes konkretes Faktum, das sich aus einer Prüfung der Deutschen Bundesakte ergibt, ihre Kürze, die es erlaubte, eine Allianz zu schließen, indem man die heikelsten Probleme, über die sich die einzelnen deutschen Staaten nicht einigen konnten, umging und zugleich die Lösung der Fragen, die nur wenigen am Herzen lagen, möglichst auf unbestimmte Zeit hinausschob. Doch diese Kürze hinderte nicht daran, einige Punkte schriftlich festzuhalten, an denen Österreich größtes Interesse hatte, an erster Stelle seinen Vorsitz im Bund. Obgleich es nicht nötig ist, Hardenbergs Entwurf hier im einzelnen einer Prüfung zu unterziehen - da er nicht nur nicht weiter ausgearbeitet wird, sondern nicht einmal die tatsächliche Grundlage der Verhandlungen sein wird, die dann zur Deutschen Bundesakte führen -, soll aus ihm wenigstens der Vorschlag in Erinnerung gerufen werden, große Teile Österreichs und Preußens, einschließlich der Hauptstädte, nicht in den Bund aufzunehmen, auch wenn sie durch eine unauflösliche Allianz an ihn zu binden waren. Hieran muß erinnert werden, da Humboldt diesen Vorschlag heftig kritisierte, obwohl er sich darüber im Klaren war, daß diese Lösung eine große Zahl von Problemen vereinfacht hätte. 38 Humboldt ging somit als Sieger über Hardenbergs Thesen hervor, so wie auch dank seines Beitrags der von Stein unterstützte andere Vorschlag von preußischer Seite, die Kaiserwürde wiederherzustellen, auf Sand lief. 39 Doch unterlagen insgesamt gesehen die reformatorischen Anträge, wie die schließlich zugunsten des Staatenbunds getroffene und in der Schlußakte des Wiener Kongresses sanktionierte Entscheidung ausreichend belegt. Daneben können zur Bestätigung andere signifikante Elemente herangezogen werden: an erster Stelle das Fehlen eines Grundgesetzes des Bundes, dessen Abfassung auf die anschließenden Arbeiten der Bundesversammlung vertagt wird ebenso wie das Fehlen aller Bestimmungen in bezug auf die "auswärtigen, militärischen und inneren Verhältnisse" des Staatenbunds;4o nicht einmal die Organisation des Handelswesens und des künftigen Zollsystems wurden erwähnt. Hierzu im Gegensatz steht die große Beachtung, die der Bewahrung der erworbenen Rechte und dem Schutz überkommener Freiheiten geschenkt wird. Man kann daher ohne weiteres abschließend feststellen, daß Humboldts politischer Vorschlag insgesamt faktisch an der einen wie an der anderen Front eine Nie38 An Hardenberg, GS, XI, S. 220-223. Doch war er sich andererseits auch bewußt, daß der Reichtum der Geschichte nicht mit einem Federstrich ausgelöscht werden kann und daß Deutschland der Hüter über die Unversehrtheit dieses Reichtums bleiben muß. (,,La ville qui depuis des siecles a ete la residence des Empereurs de l' Allernagne, n'y appartendroit plus, du moins pas politiquement, mais seroit simplement une ville Autrichienne? La capitale qui a plus contribue qu'aucune autre a repandre les lumieres et les connoissances, seroit d'orenavant une ville Prussienne et deviendroit etrangere a l' Allernagne?"). 39 Vgl. Gegen Steins Denkschrift über die deutsche Kaiserwürde (18.-23. Februar u. 3. März 1815), GS, XI, S. 295-302 u. 302-306. 40 Art. 10 der Deutschen Bundesakte, S. 87.

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derlage erlitt; doch kann man meines Erachtens auch behaupten, daß er sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene eine besondere Weitsicht gezeigt hat. In Hinblick auf die Innenpolitik genügt es, an den Kern seines Entwurfs der Verfassung Preußens zu erinnern. Der Ausdruck "verfassungsmässige Monarchie", der sich in der ersten Fassung fand (in § 23.), hatte, obwohl es sich um eine wortwörtliche Übersetzung von "monarchie constitutionelle" handelte, eine Bedeutung, die sich deutlich von der unterschied, die sich mittlerweile bei der neuen Regierung in Frankreich durchgesetzt hatte; und der Unterschied zwischen den beiden Ausdrükken bestand in der prinzipiellen Ablehnung einer ständischen Ordnung, auf die man hingegen in Preußen auf keinen Fall verzichten wollte. Doch so wie die verfassungsmässige Monarchie durch "geschriebene Verfassungsgesetze,,41 geregelt werden mußte (und andererseits die aUgemeine Bedeutung von "Gesetz" genau festgelegt werden mußte, um zu verhindern, daß es auch auf den Bereich der allein in königliche Zuständigkeit faUenden Verordnungen übergriff) so mußte auch die ständische Ordnung in der oben beschriebenen Weise geregelt werden, damit ihre politische Wirkung nicht die Grenzen der monarchischen Herrschaft erodierte. Die Suche nach technischen Instrumenten, die in der Lage waren, den Ständen die eventuelle Weigerung zur Billigung eines Gesetzes zu erschweren, ist ein konkretes Beispiel für diese Verfahrensweise. Auch wenn man zugestünde, daß der von außen kommende, stetig zunehmende Druck42 Humboldt dazu verleitet habe, in die zweite Fassung seines Entwurfs den bedeutungsgeladenen und äußerst wichtige Entwicklungen im Deutschland des 19. Jahrhunderts ankündigenden Ausdruck "monarchisches Prinzip" einzuführen43 , der einerseits, wie die Worte selbst sagen, den Monarchen als das Schwerezentrum der gesamten Verfassung identifiziert und andererseits in endgültiger Weise die ,,Mitwirkung der Stände" sanktioniert,44 so kann man gewiß nicht behaupten, daß er hierdurch jener ständischen Reaktion Stimme verliehen habe, die in Preußen die Reformpartei seit ihrem ersten Auftreten belagerte und außerhalb Preußens seit den frühen neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts beinahe unangefochten dominierte. 45 In dieser Hinsicht nimmt 41 Dies war das wesentliche Merkmal, dank dem sie überhaupt diese Bezeichnung verdiente: vgl. GS, XII, I. Hälfte, S. 236. 42 Es wurde schon weiter oben auf den möglichen Einfluß Hardenbergs in diesem Sinn hingewiesen; dies belegt am besten die Schrift Ideen zu einer landständischen Verfassung in Preussen (11. Oktober 1819; in H. von Treitscke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde., Düsseldorf, Droste Verlag, 1981 (Nachdruck der Leipziger Ausgabe von 191211913), Bd. 11, S. 637 -639), die eben mit der Bejahung dieses Prinzips schließt. 43 "Das Schiboleth des politischen Streites in Theorie und Praxis": vgl. S.A. Kaehler, Wilhelm von Humboldt und der Staat, S. 429. 44 Vgl. wenigstens H. O. Meisner, Die Lehre vorn monarchischen Prinzip, Aalen, Scientia Verlag, 1969 (Nachdruck der Breslauer Ausgabe von 1913) und P.M. Ehrle, Volksvertretung im Vormärz. Studien zur Zusammensetzung, Wahl und Funktion der deutschen Landtage im Spannungsfeld zwischen monarchischen Prinzip und ständischer Repräsentation, Frankfurt am M., Peter Lang, 1979. 45 Eine Zusammenfassung der Diskussion findet sich in der Denkschrift von F. von Gentz, über den Unterschied zwischen den landständischen und Repräsentativ-Verfassungen (1819),

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Humboldts historische Rolle diejenige vorweg, die F. J. von Stahl im Vormärz bekleidete 46 , auch wenn er sich mit seinem ganzen Widerstand gegen die Bürokratisierung und mit seiner Begeisterung für die virtuellen Möglichkeiten der "Nation,,47 vielleicht deutlicher als Stahl darüber bewußt war, daß jene "Mitwirkung" allmählich modernere Formen annehmen mußte. Auf internationaler Ebene schließlich wird die bundesstaatliche Lösung - wenn wir einmal annehmen wollen, daß sie sich in einem gewissen Maß mit der von Humboldt angestrebten und als "eine wirkliche Verfassung" beschriebenen Lösung deckt - erst nach Jahrzehnten angenommen. Jedoch war der Weg für die Durchsetzung des bundesstaatlichen Prinzips schon damals vorgezeichnet und Humboldts Vorstellungen sind nicht vollständig verloren gegangen. Ein Zeugnis hiervon ist Art. 14 der Deutschen Bundesakte: er wurde mit seinen Verfügungen für die mediatisierten Fürsten noch ganz im Geiste der Tradition der alten Reichsstände geschrieben, war jedoch nicht in der Lage, die Diskussion über die potentiellen Möglichkeiten der neuorganisierten Provinzialstände einerseits und den Anachronismus der alten Reichsstände andererseits zum Schweigen zu bringen, wie die anschließend, vor allem von Stahl geführte Verfassungsdebatte zeigen sollte.

in Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von R. Buchner und F. Baumgart, Darmstadt, 1979, Bd. III: Restauration und Frühliberalismus, hrsg. von H. Brandt, S. 219-223. Die Denkschrift wurde den bei der Karlsbader Konferenz versammelten Staatsmännern übergeben und befaßte sich mit dem unumgehbaren Gegensatz zwischen der traditionellen ständischen Ordnung und der Souveränität des Volkes. Ein wichtiger Vorläufer war die im Jahr 1811 von Marwitz vorgelegte, jedoch in Wirklichkeit von Adam Müller verfaßte Denkschrift, in der für die alten Stände das "Widerstandsrecht" beansprucht wurde. 46 Man siehe insbesondere Stahls Schrift Das monarchischen Prinzip. Eine staatsrechtliche Abhandlung, Heidelberg, Mohr, 1845. 47 Zur Beziehung zwischen Nation und Staat im Denken Humboldts äußerste sich jüngst H. Klenner in seinem Nachwort zur Schriftensarnmlung von W. von Humboldt, Menschenbildung und Staatsverfassung. Texte zur Rechtsphilosophie, FreiburglBerlin, R. Haufe Verlag, 1994. Ich bleibe der Überzeugung, daß, obgleich die Abhandlung über die Grenzen der Wirksamkeit des Staats als eines der Manifeste des europäischen Liheralismus betrachtet wird, der Gegensatz zwischen Gesellschaft und Staat bei Humboldt sehr viel ausgeprägter ist als der zwischen Individuum und Staat. Dies zeigt vor allem die Tatsache, daß er Gesellschaft und Nation gleichsetzt, wobei er letztere als Gesamtheit der Individuen ebenso wie der vermittelnden Anstalten betrachtet und sie folglich im Sinn von Individualität versteht (dem Schlüsselbegriff der Romantik im allgemeinen und der politischen Romantik im besonderen).

"Wie hoch waren nicht in unseren Tagen die Erwartungen aller deutschen Bürger gespannt, als der verewigte unglückliche Joseph 11. die Augen schloß? Manche wichtige, bisher noch bestrittene Punkte unserer Verfassung hoffte man berichtigt zu sehen, und von dem Wahl vertrag des neuen Kaisers schmeichelte man sich, er werde endlich in Wahrheit die magna charta Germaniens genannt zu werden verdienen." 1

Die Ursprünge des Konstitutionalismus in Deutschland Die Wahlkapitulationsdiskussion der 1790er Jahreeine deutsche Verfassungsdiskussion im Zeitalter der Aufklärung Von Wolfgang Burgdorf Die kaiserlichen Wahlkapitulationen waren in Deutschland von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung des Verfassungsdenkens und der Ausdifferenzierung der dazu gehörigen Begrifflichkeit und Methodik. Infolge der Diskussion um die Reform der kaiserlichen Wahlkapitulationen findet sich am Ende des 18. Jahrhunderts auch im Alten Reich ein im wesentlichen moderner Verfassungsbegriff. Hierbei ist davon auszugehen, daß die Verfassung im Alten Reich vor der Französischen Revolution einen weit höheren Grad der Positivierung erreicht hatte, als z. B. in Frankreich, in Spanien us\\'o Der ständige Kampf um die Reichsverfassung hatte seit dem Mittelalter zu einer ganzen Reihe von Reichsgrundgesetzen geführt. 2 Seit 1519 wurden zudem die bestehenden und noch folgenden Reichsgrundgesetze durch die jeweilige Wahlkapitulation zu einer gemeinsamen Textur verwoben. Im Zuge der Verfassungsauseinandersetzungen gewann der Verfassungsbegriff im Alten Reich, parallel zur Entwicklung in England Konturen. Bereits die Akten zum Westflilischen Frieden erlauben es, von "einem Verfassungs- und Naturrechtsdiskurs zu sprechen, in dem die rechtlichen Schlüsselbegriffe der Aufklärung und des Konstitutionalismus präfiguriert" wurden. 3 Allerdings beinhaltete dieser Diskurs keine politische und rechtliche Emanzipation des Bürgers wie es in 1 Wilhelm August Danz, Deutschland wie es war, wie es ist, und wie es vielleicht werden wird, in: Neues Patriotisches Archiv für Deutschland 2 (1794), S. 135-166, S. 141 f. 2 Goldene Bulle (1356), Ewiger Landfriede (1495), Reichskammergerichts- und -exekutionsordnung sowie Religionsfrieden (\555), Westfälischer Friede (\648), Jüngster Reichsabschied (\654), Reichsdeputationshauptschluß (1803). 3 Wolfgang Schmale, Das Heilige Römische Reich und die Herrschaft des Rechts. Ein Problemaufriß, in: Ronald G. AschlHeinz Duchhardt (Hrsg.), Der Absolutismus - ein Mythos? Strukturwandel monarchischer Herrschaft in West- und Mitteleuropa (ca. 1550-1700), S. 229-248, S. 237 f.

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Frankreich nach 1789 geschah. Abgesehen von diesem wesentlichen Element, läßt sich im Alten Reich die relativ frühzeitige Ausbildung eines "inhaltsgesättigten Verfassungsbegriffs" beobachten. 4 Dies sahen auch die Zeitgenossen so. Im Artikel "Constitution" der Encyclopedie (Bd. 4, 1754) heißt es zunächst, der Begriff "Verfassung" sei erst in der neueren Geschichte hervorgetreten. Dann jedoch wird mit Hinweis auf die fundamentalrechtlichen Gesetze die Verfassung des Heiligen Reiches als der Inbegriff einer geschriebenen Verfassung bezeichnet. 5 Hierbei ist noch heute die Kritik an der im Gegensatz zur Reichsverfassung nicht positivierten, sondern gewohnheitsrechtlichen französischen Verfassung nicht zu überlesen. Zudem sicherte die Reichsverfassung einen höheren Grad an Partizipation. Partizipation konnte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durch das Medium der Publizistik oder durch eine verfassungsmäßige Vertretung zustande kommen. Immanuel Kants Vorstellung einer republikanischen Staatsverfassung und einer repräsentativen Regierung, wie sie in seinem Traktat ,,zum ewigen Frieden" von 1795 zu finden ist, kam noch ohne verfassungsmäßige Volksvertretung, nicht jedoch ohne Publizistik aus. 6 Von den tatsächlichen Verhältnissen ausgehend, findet sich insbesondere in der Diskussion um die Reform der Reichsverfassung ein relativ moderner Verfassungsbegriff? Sahen doch die beteiligten Zeitgenossen in der Reichsreform die Möglichkeit zur Schaffung eines innovativen Kodexes zur Normierung des gesamten staatsrechtlichen Lebens. Insbesondere in der Diskussion um die Reform der Wahlkapitulation zeigte sich, daß die Mehrheit der Diskutanten danach strebte, die Pluralität der Fundamentalgesetze zugunsten eines umfassenden, alleingültigen, nach vernunftrechtlichen Prinzipien strukturierten und beständigen Grundgesetztextes aufzuheben. Wahrend bereits gelegentlich auf die Affinität zwischen territorialen, insbesondere landständischen Verfassungen und konstitutionellen Vorstellungen in Deutschland hingewiesen wurde,8 soll im folgenden die Bedeutung des Reichsreformdiskurses für die Ursprünge des Konstitutionalismus in Deutschland betont werden, und zwar am Beispiel der Diskussion um die Reform der Wahlkapitulation. Ebd., S. 238. Ebd., S. 247. Thomas Würtenberger, An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung 3 (1988), S. 53 - 88, S. 60. 6 Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, Königsberg 1795 [ND Beriin 1995]. Johann Jakob Moser, Von dem Ansehen der Rechtsgelehrten in Teutschen Staats-Sachen, Regensburg 1773. Ders.: Betrachtungen über das Sammeln und Denken in dem teutschen Staatsrecht, in: Ders., Abhandlung verschiedener Rechtsmaterien, 20 St. in 5 Bdn., Frankfurt/M. 1772 - 78, St. 18, Bd. 5, S. 305 - 364. 7 Dagegen Dieter Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 - 1866. Vom Beginn des modemen Verfassungsstaates bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, Frankfurt/M. 1988, S.9. 8 Würtenberger, An der Schwelle, S. 71. Hartwig Brandt, Über Konstitutionalismus in Deutschland. Eine Skizze, in: Jürgen Kocka/Hans-Jürgen Puhle/Klaus Tenfelde (Hrsg.), Von der Arbeiterbewegung zum modemen Sozialstaat. FS rür Gerhard A. Ritter zum 65. Geburtstag, S. 261.-276, S. 261. Betont insgesamt die Zäsur von 1789. Richard Löwenthai, Kontinuität und Diskontinuität. Zur Grundproblematik des Symposiums, in: Karl Bosel (Hrsg.), 4

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Unbestritten war seit dem 17. Jahrhundert, daß die jeweils aktuelle Wahlkapitulation zu den Reichsgrundgesetzen zählte. Fritz Hartung verglich die Wahlkapitulation sogar mit "modemen Verfassungsurkunden".9 Dem entsprach im staatsrechtlichen Diskurs der Zeitgenossen ein breiter Konsens über den herausragenden Stellenwert der Wahlkapitulation. In einem Gutachten, das der Reichshofrat 1765 zur Wahlkapitulation Josephs ll. abfaßte, wurde sie als "ein zwischen kaiserlicher Majestät, zu des Reiches Wohlfahrt, mit den Kurfürsten errichteter, und von kaiserlicher Majestät mit einem Eide bekräftigter Vertrag" bezeichnet. Darüber hinausgehend merkte der unbekannte Herausgeber des Gutachtens an "daß die Wahlkapitulation ein Grundriß der Reichskonstitution" sei. 10 Mit Recht berief er sich auf berühmte deutsche Staatsmänner und Publizisten. Einer von ihnen, Johann Jakob Moser, der bedeutendste Reichsstaatsrechtslehrer seiner Zeit, hielt ~ie Wahlkapitulation nicht nur für die ,,Norm der kaiserlichen Regierung", sondern "zugleich" für "eines der allerwichtigsten Reichsgrundgesetze". II Christian August Beck, der Staatsrechtslehrer des späteren Kaisers Joseph ll., lehrte diesen: Die kaiserliche Wahlkapitulation sei "das vornehmste Reichsgrundgesetz, welches die Rechte und Pflichten eines regierenden Kaisers bestimmt und dessen Verbindung mit den Reichsständen ins klare setzt", in ihr liege "das ganze Staatsrecht verborgen".12 Johann Stephan Pütter, nach Moser der einflußreichste Reichspublizist seiner Epoche, bezeichnete sie als "das vorzüglichste Reichsgrundgesetz.,,13 Für Karl Friedrich von Häberlin, Pütters bedeutendsten publizistischen Schüler, war sie ein "Handbuch deutscher Regenten, Staats- und Geschäftsmänner", die "Quint-Essenz aller Reichsgesetze".14 Einem anonymen VerDer moderne Parlamentarismus und seine Grundlagen in der ständischen Repräsentation, Berlin 1977, S. 341-356. 9 ,,1519 hat also für das Reich doch ein wichtiges und bleibendes Ereignis gehabt: seither besaß das Reich eine fest umschriebene Verfassung", Fritz Hartung, Die Geschichte der Wahlkapitulation der deutschen Kaiser und Könige, in: HZ 107 (l911), S. 306-344, S. 329. 10 Etwas von der kaiserlichen Wahlkapitulation und von dem Jus adcapitulandi von einem deutschen Reichsbürger, o. O. 1789, S. 11. Ähnlich in der anonymen Schrift: Paradoxien der kaiserlichen Wahlkapitulation mit praktischen Bemerkungen, FrankfurtlM. 1790, S. I. 11 Johann Jakob Moser, Neues Teutsches Staatsrecht, Bd. I: Von Teutschland und dessen Staatsverfassung überhaupt, FrankfurtlM. 1766, S. 310 f. 12 Herrnann Conrad, Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias, Köln 1964, S. 407, § 15, S. 409, § 19 sowie Gerd Kleinheyer, Die kaiserlichen Wahlkapitulationen, Karlsruhe 1968, S. 1. Zu Beck (1720-1781 o. 1783) s. DBA 69,67-70. Schon 1640/47 räumte ihr Philipp Bogislaus von Chemnitz den vornehmsten Platz unter den Reichsgrundgesetzen ein, ders., Hippolithi a Lapide Abriß der Staats-Verfassung, [ ... ], Mainz, T. I, 1761, S. 281. 1697 schrieb Johann Christi an Müldener von dem "allervornehmsten Grundgesetz des Heil. Röm. Reichs", ders., Capitulatio harrnonica, d. i. der Römischen Kaiser und Könige Carl V., Ferdinand 1., Maximilian H., Rudolph H., Matthiae, Ferdinand H., Ferdinand III. Ferdinand IV., Leopold und Josephi Wah\capitulationenes, und deren Uebereinstimmung, Veränderungen, Anwachs und Abweichungen, cum variis actis publicis, Halle 1697, S. II. 13 Johann Stephan Pütter, Litteratur des Teutschen Staatsrechts vom geheimen Justizrat Pütter zu Göttingen, T. 2, Göttingen 1781, S. 392. 5"

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teidiger des Fürstenbundes von 1785 galt sie als "der stärkste Anker der Deutschen Freiheit"; 15 der Helmstedter Jurist Friedrich August Schmelzer rühmte sie als "die alte Feste der Deutschen Freiheit", als ,,Magna Charta" und "Grundvertrag zwischen dem Oberhaupt der Deutschen Nation und ihren ersten Repräsentanten", als "Reich-Staats-Katechismus" und "authentische Enzyklopädie unserer Reichsgesetze".16 Johann Ludwig Klüber, "später eine der großen Leitfiguren des Vormärzliberalismus" ,17 sprach von "einem Katechismus für Regenten und Gesetzeskundige",18 und auch Nicolaus Thaddäus Gönner, der 1804 eine der letzten großen Gesamtdarstellungen des alten Reichsstaatsrechts schrieb, räumte der Wahlkapitulation die erste Stelle unter den Reichsgrundgesetzen ein. 19 Der Gießener Kameralist und Statistiker August Friedrich Wilhelm Crome äußerte 1791 die Überzeugung, daß dieses "neueste und wichtigste" Reichsgesetz ,jedem deutschen Staatsbürger an sich schon wichtig sein müsse".2° Dieser Einschätzung entsprach es, daß sich die Bezeichnung "Grundgesetz" erstmals in der Wahlkapitulation Ferdinands Ill. von 1636 findet 21 und der Begriff "Verfassung", auf das Deutsche Reich bezogen, erstmals 1702 im Zusammenhang mit der Diskussion um eine dauerhafte Wahlkapitulation auftauchte. 22 Jedoch hatte 14 Karl Friedrich Häberlin, Pragmatische Geschichte der neuesten Kaiserlichen Wahlkapitulation, Leipzig 1792, S. IV u. I. Zu Häberlin (1756 -1808) NDB 7, S. 420 f. 15 Politische Betrachtungen und Nachrichten. Periodische Schrift, No. 11: Projekt zu einer neuen kaiserlichen Wahlkapitulation o. O. 1785, S. 37. Der Fürstenbund wurde von Friedrich 11. von Preußen gegründet und verhinderte erfolgreich den von Kaiser Joseph 11. beabsichtigten Tausch der österreichischen Niederlande gegen Bayern. 16 Friedrich August Schmelzer, Die kaiserliche Wahlkapitulation Seiner Majestät Franz des Zweiten. Mit kritischen Anmerkungen und einem Versuch ihres Vortrages in gereinigter Kanzley-Sprache des jetzigen Zeitalters, Helmstedt 1793, S. I1I, VIII, XIV u. XLIII. ,,Magna charta der deutschen Nation" und ,,magna charta Germaniens" nannte sie auch August Friedrich Wilhelm Crome, Die Wahlcapitulation des römischen Kaisers Leopold des Zweiten; mit historischen und puplizistischen Anmerkungen und Erklärungen, Hildburghausen 1791, S. I u.X. 17 Gerhard Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus. Kontinuitätsdenken und Diskontinuitätserfahrung in den Staatsrechts- und Verfassungsdebatten der Rheinbundpublizistik, Stuttgart 1994, S. 93. 18 Johann Ludwig Klüber, Systematischer Entwurf der kaiserlichen Wahlkapitulation, mit Zusätzen und Veränderungen, FrankfurtlM. 1790, S. 4. 19 Nicolaus Thaddäus Gönner, Teutsches Staatsrecht, Landshut 1804, §§ 12, 13, S. 13-18. 20 Crome, Wahlcapitulation, S. I. 21 Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, Heidelberg 1975, S. 27. Der Terminus erscheint in Art. 14, war in der verfassungsrechtlichen Literatur aber schon zuvor von Daniei Otto verwandt worden, ders., De jure publico Romani Imperii, Jenae 1616, S. 454. 22 Johann Schack, Disputatio Carolina sistens argumenta quaedam juris publici, de capitulatione imp. Rom. Germ. ex suffragiis omnium imperii ordinum concipienda; et de ejus perpetua forma, defendet P. Haselberg, Greifswald o. J. [1702], Argurnenturn 8, Übersetzung: Heinz Mohnhaupt, Verfassung I, in: Otto BrunnerlWerner ConzelReinhard Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 832-862, S. 857.

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die Diskussion um die Errichtung einer beständigen Wahlkapitulation, um die sogenannte Perpetua, 1702 bereits eine lange Tradition. Ihre Ursprünge liegen in der Reichsgeschichte am Beginn der Frühen Neuzeit. Mit der ersten Kapitulation von 1519, anläßlich der Wahl des späteren Kaisers Karls V., versuchten die Kurfürsten, stellvertretend für alle Stände des Reiches, die ständische Libertät gegen Eingriffe des mächtigen Habsburgers zu sichern. 23 Von 1519 bis 1792 - der Wahl Kaiser Franz' 11. - folgte bei jeder Kaiser- oder Königswahl je eine weitere Kapitulation. Das Bestreben, die verfassungsrechtliche Stellung des Kaisers möglichst genau festzuschreiben,24 bestimmte auch die folgenden Kapitulationen. Darüber hinaus wurde in der Wahlkapitulation direkt anwendbares Recht gesetzt. Die Kapitulationen wurden auf diese Weise zu einem ,,Mittel der Reichspolitik des Kurfürstenkollegiums" .25 Einerseits Ergebnis eines Interessenausgleichs innerhalb des kurfürstlichen Kollegiums, verpflichteten sie andererseits das gewählte Oberhaupt gegenüber dem gesamten Reich. Die übrigen Stände verlangten daher, an der Errichtung der Wahlkapitulation beteiligt zu werden. 26 Durch einen einmaligen Konsens sollte der ständige Konflikt um das Kapitulationsrecht in Zukunft vermieden werden. Den Fürsten gelang es jedoch nicht, ihre Wünsche bereits 1648 im Westfälischen Frieden durchzusetzen. Doch fand das Projekt der beständigen Wahlkapitulation als Verfassungsauftrag für den nächsten Reichstag Eingang in das Friedenswerk. 27

23 Christoph Ziegler betrachtete diesen Sachverhalt etwas abstrakter. Er stellte die Wahlkapitulation nicht nur in den Kontext anderer europäischer Fundamentalgesetze, sondern verband sie auch mit den in der Antike gefunden Grundlagen der politischen Theorie, ders., Wahlcapitulationen, welche mit den Römischen Kaisern und Königen, dann des heiligen Reichs Churfürsten, als dessen vordersten Gliedern und Grundsäulen von Karl V. her, bis auf Ferdinand IV. vor sich, und folglich bis auf Joseph I. zugleich vor särnmtliche des heiligen Römischen Reichs Fürsten und Stände Geding- und Pactweise aufgerichtet, vereiniget und verglichen, sammt summarischer Rubricir- und Versiculirung der Articul jeder Capitulation, angefügter, und zu End annectirter allgemeinen harmonischen Tabelle, FrankfurtlM. 1711, S. I. u. S. 1-4. Ziegler, möglicherweise ein Verwandter des Juristen Caspar Z. (1621-1699), s. ADB 45, S. 184-186, ist zu Unrecht vergessen worden und im DBA nicht verzeichnet. 24 Wie Heinrich von Treitschke bereits erkannte, diente sie den Landesherren auf der anderen Seite zur Sicherung der eigenen Macht, ders., Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 17 , Leipzig 1904, S. 18 f. 25 Kleinheyer, Wahlkapitulationen, S. 28. 26 Erstmals bei der Wahl Kaiser Mathias" im Jahre 1612, Georg Gottlieb Börners, Erläuterung des deutschen Reichs-Staats-Rechts, nach Anleitung der Grundsätze des Herrn Hofrats Maskovs, 2 T., Regensburg 1761/62, T. I, S. 67. Eckart Pick, Die Bemühungen der Stände um eine beständige Wahlkapitulation und ihr Ergebnis 1711, Diss. Mainz 1969. Kleinheyer, Wahlkapitulationen, S. 79. 27 Art. VIII § 3 I.P.O. und § 63 I.P.M. Hans Erlch Feine, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches seit dem Westfalisehen Frieden, in: ZRG GA 52 (1932), S. 65 133, S. 90.

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Allerdings kam es 1653/54, auf dem ersten Reichstag nach dem Westfälischen Frieden, zwischen Kaiser, Kurfürsten und Fürsten - die Reichsstädte erlangten in dieser Diskussion keinen nennenswerten Einfluß - zu keiner Einigung über die Perpetua. Da die Versammlung vor der Errichtung der Perpetua nicht auseinandergehen konnte, ohne den Frieden zu brechen, wurde der Reichstag nicht beendet, sondern vertagt. Er kam jedoch erst 1663 wieder zusammen, tagte dann aber bis zum Ende des Reiches. Der Konflikt um die Errichtung der Perpetua wurde zu einem der wichtigsten Gründe für die Verstetigung des Reichstags. Nachdem man über ein halbes Jahrhundert verhandelt hatte, schien mit Beginn des 18. Jahrhunderts ein Konsens erreichbar, und 1711 war das Projekt einer perpetuierlichen Wahlkapitulation abgestimmt. Ihre Realisierung schien nun, auf dem Höhepunkt des Spanischen Erbfolgekrieges, von ständischer Seite dringend geraten, da die Vereinigung aller habsburgischen Besitzungen durch Joseph I. und damit eine ähnliche Konstellation wie zu Zeiten Karls V. möglich war. Da Joseph I. vor der Ratifizierung, verstarb, erhielt die Perpetua gleichwohl nicht die Qualität eines Reichsgrundgesetzes. Immerhin erklärten sich die Kurfürsten bereit, das Projekt der Kapitulation Karls VI. zu Grunde zu legen. 28 Nach dem Tode Karls VI., 1740, nahmen die Kurfürsten aber ihre Gewohnheit wieder auf, die jeweils letzte Wahlkapitulation zu ergänzen. Dies wurde dadurch erleichtert, daß die Wahlkapitulation durch ihre jeweiligen Ergänzungen eine der wichtigsten Reaktionen auf die Regierungshandlungen des verstorbenen Kaisers darstellte. Sie trug der zwischenzeitlichen Verfassungsentwicklung Rechnung und sollte der Wiederholung "schlechter Erfahrungen" vorbeugen. 29 Hier bestand ein grundsätzlicher Zielkonflikt mit dem Versuch, die Reichsverfassung durch eine beständige Kapitulation weiter zu verfestigen. Die reichstäglichen Verhandlungen um die Perpetua scheinen mit einer erfolglosen Anmahnung der Fürsten am 6. August 1751 ihr Ende gefunden zu haben. 3o 28 Ellinor von Puttkarner, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648, Berlin 1955, S. 5. Die Perpetua wurde umgehend publiziert, der Abdruck umfaßte in Quart 40 Seiten. Capitulatio perpetua: Project einer beständigen Wahlkapitulation, o. O. 1711. Weitere Drucke in Anton Fabers Europäische Staats-Canzley, NÜfnberg 17 (1711), S. 682-748. Karl Zeumer (Hrsg.), Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2. verm. Auf!. Tübingen 1913, S. 474-479. 29 Kleinheyer, Wahlkapitulationen, S. 72, ähnlich Hartung, Wahlkapitulation, S. 313 f. Heinrich Wilhelm von Bülow, Freimüthige und erläuternde Betrachtungen über die neue kaiserliche Wahl-Capitulation ... , Regensburg 1791, S. 12. 30 Seit den Zeiten Kaiser Karls VII. hatte jedoch das Versprechen, "das Negotium Capitulationis perpetuae vorzunehmen, und zu seiner Perfektion zu bringen", also ein "communi Statuum consensu" herzustellen, Eingang in die Kapitulation gefunden (Art. XXX § 2). Die Fürsten konnten 1792 einen späten Erfolg verbuchen. Infolge einer von Kurtrier, Pfalz, Sachsen und Brandenburg in der Wahlkapitulation durchgesetzten Einschränkung der Möglichkeit von Prozessen der Untertanen gegen ihre Landesherrn erklärte das Reichskammergericht, daß einseitige Zusätze der Kurfürsten verfassungswidrig seien. Zusatz zu Art. XIX §§ 6 u. 7. Häberlin, Pragmatische Geschichte, 1792, S. 277 - 285 sowie ders., Anhang zu einer pragmatischen Geschichte der Wahlkapitulation Kaiser Leopold 11., Leipzig 1793, S. V.

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Der Umstand, daß man, trotz fehlender Einigung, an der Wahlkapitulation festhielt, zeigt, daß nicht die Kapitulation an sich, sondern nur die Art ihres Zustandekommens umstritten war. Ihr Stellenwert zeigte sich auch dadurch, daß ihre Errichtung nach der Kandidatenfindung der wichtigste Abschnitt des Wahlverfahrens war. 31 Dennoch standen am Ende des 18. Jahrhunderts auch Zeitgenossen, die die herausragende Bedeutung der Wahlkapitulation anerkannten, ihr gleichzeitig kritisch gegenüber: So monierte Schmelzer die ,,Barbarismen, Solözismen, Unbestimmtheiten, Auswüchsen, Unordnungen" der Wahlkapitulation, man sehe "fast aus jedem Paragraphen", daß sie "mit Tautologien und Pleonasmen überladen sei", ihr "unanständiges, widerliches und zurückschreckendes Äußeres" sei beleidigend und anstößig?2 Klüber bemängelte "Tautologien, buntscheckige Schreibart, unbedeutende Triaden, seitenlange Perioden, die einem Labyrinth gleichen, aus dem auch ein Kunsterfahrener sich kaum" befreien könne, "auffallende Sprachunrichtigkeiten", unnötige "Wiederholungen, und - was am zweckwidrigsten ist - ein unentwickeltes Chaos der wichtigsten Materien", insgesamt "unverzeihlich". 33 1785 stellte ein anonymer Publizist fest: "Manche Stellen der Wahlkapitulation sind so widersprüchlich, daß sie nicht eingehalten werden können.,,34 Das zeitgenössische Bild der Wahlkapitulation war offensichtlich ambivalent. Einerseits wurde ihr ein herausragender Stellenwert eingeräumt, andererseits war auf der politischen Ebene ihr Zustandekommen umstritten. Zudem stimmten Form und Inhalt nicht mit den Ansprüchen der aufgeklärten Juristen im Zeitalter der großen Kodifikationen und der ersten modemen Verfassungen überein. Ungeachtet aller Kritik dokumentieren aber auch die zahlreichen Veröffentlichungen, die im 18. Jahrhundert jede neue königliche oder kaiserliche Wahlkapitulation begleiteten, deren Bedeutung. Die offizielle Publikation der Wahlkapitulationen erfolgte seit der Wahl Ferdinands IV., 1653, durch einen erzkanzlerischen Sekretär. 35 Diese Editionen wurden Anlaß für ein umfangreiches Schrifttum. Handelte es sich hierbei zunächst um historische Erläuterungen und Deduktionen, so kamen bald Schriften hinzu, die der Reform der Wahlkapitulation gewidmet waren. Im Vordergrund standen dabei zunächst ganz praktische Erwägungen. Die Wahlkapitulation war im Laufe der Jahrhunderte durch Ergänzungen monströs aufgebläht und immer unübersichtlicher geworden. Dies hatte die Gliederung in bloße Artikel untragbar gemacht, zumal nicht selten Einschübe an unvermuteten Stellen versteckt worden waren. Auch waren viele Bestimmungen mit der Zeit sinnlos, unreaKleinheyer, Wahlkapitulationen, S. 4. Schmelzer, Wahlkapitulation, S. VII, LV u. XII. 33 Klüber, Systematischer Entwurf, 1790, S. 4. 34 Politische Betrachtungen, No. 11, S. 41. Es "wird niemand leugnen, daß die kaiserliche Wahlkapitulation nicht vieler Verbesserungen bedürfe und wenigstens von Widersprüchen zu reinigen sei, die fremden Nationen in die Augen fallen und keinen vorteilhaften Begriff von der deutschen Staatsklugheit erwecken können," ebd., S. 47. 3S Kleinheyer, Wahlkapitulationen, S. 130 f. 31

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Iistisch oder unverständlich geworden. Andere hätten, wären sie erfüllt worden, sogar umgehend Gegenmaßnahmen der Stände hervorgerufen. Hinzu kam, daß die Wahlkapitulation in ihren heterogenen Teilen häufig widersprüchlich war. 36 Das Projekt der Perpetua hatte an diesem Zustand nichts geändert. So bildete die Wahlkapitulation für den Kodifikationsenthusiasmus des 18. Jahrhunderts eine naheliegende Herausforderung. Die Aufgabe der Kodifikation wurde sowohl auf der politischen als auch auf der publizistischen Ebene verfolgt und führte anläßlich der Errichtung der Wahlkapitulation Karls VII., 1742, zu ersten Resultaten. 37 Kurtrier schlug vor, die zusammengehörigen Materien an einer Stelle zu sammeln und "was dunkel ist deutlicher zu machen und zu diesem Ende" Parenthesen möglichst zu entfernen sowie lange Perioden zu kürzen. 38 Dieses Konzept ging auf Johann Jakob Moser zurück, weIcher 1742 der kurtrierischen Wahlgesandtschaft angehörte. Mosers Vorschlag fiel jedoch der Behandlung wichtigerer Materien zum Opfer. 39 Die 1742 eingeführte Untergliederung in Paragraphen folgte nicht Mosers Vorschlägen, sondern einem kurmainzer Konzept. Moser fand diese Einteilung unbefriedigend und konfrontierte sie mit der Veröffentlichung seiner eigenen Neufassung.4o Er nannte folgende Gründe, warum es, nicht zu einer gründlichen Überarbeitung gekommen war: Die Sache erfordere "mehrere Instructiones und Zeit, als der kurze Periodus derer Wahlkonferenzen gestattete", sodann sei mit Beschwerden der Fürsten zu rechnen. Zwar sei, anders als auf den Wahltagen, auf dem Reichstag genügend Zeit, das Werk in Angriff zu nehmen, doch seien "die Hindernisse mehr denn zu bekannt, warum auch von dort aus, rebus sic stantibus, nichts fruchtbarliches zu erwarten iSt.,,41 Diese Auffassung war - unabhängig von dem seit 1740 andauernden Österreichischen Erbfolgekrieg - nicht verwunderlich, da die Verhandlungen über die Perpetua ihr Ziel noch nicht erreicht hatten. Dennoch hielt die Diskussion über die Reform der Kapitulation an, und Moser trug mit seinen Arbeiten viel zur wissenschaftlichen Fundierung der Diskussion bei. Er edierte nicht nur Kapitulationen, die er zur besseren Orientierung mit Marginalien versah, sondern auch 36 Ders., S. 113. Paradoxien der kaiserlichen Wahlkapitulation, 1790, S. I. Etwas von der kaiserlichen Wahlkapitulation, 1789, S. 37. 37 Hartungs Urteil, daß die Wahl Karls VII. "keinen nennenswerten Einfluß" auf die Kapitulation ausgeübt habe, ist nicht zu folgen, ders., Wahlkapitulation, S. 340 f. Dagegen Feine, Verfassungsentwicklung, S. 83. 38 Johann Jakob Moser, Projekt wie Carls VII. Wahlkapitulation in eine etwas bessere Ordnung gebracht werden könne, in: ders., Staats-Historie Teutschlands unter der Regierung Ihro Kayserliche Majestät Carls VII. Nebst verschiedenen Deductionen, welche in keiner anderen Sammlung befindlich, an das Licht gestellt, 2 T., Jena 1743/44, T. I, S. 108 - 233. Ders., Ihro Römisch Kayserliche Majestät Carls des siebenden Wahl-Capitulation, 3 t., Frankfurt/M. 1742-1744, T. 3, S. 8. 39 Schmelzer, Wahlkapitulation, S. 11. 40 Johann Jakob Moser, Carls des siebenden Wahl-Capitulation, T. 3, S. 10. 41 Ebd.

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Wahltagsprotokolle, Monita und kurfürstliche KollegiaIschreiben. 42 Wie es seit Johann Christian Müldeners Edition von 1697 üblich war,43 kennzeichnete Moser die jeweils neu eingefügten Stellen im Druckbild. Des weiteren vermerkte er an jeder Stelle, wann und aus weIchem Anlaß sie eingefügt worden war. Hiermit waren die Grundlagen für eine systematisierende Reform dieses Reichsgrundgesetzes gelegt. 44 Doch kam es, nachdem 1742 der Dynastiewechsel aufgrund der gleichzeitigen Spaltung des Reiches nicht für eine Reform genutzt wurde, in Abhängigkeit von der weiteren politischen Entwicklung bei den publizistischen Reformbemühungen zu einer Phase des Stillstandes. 1745 bei der Wahl Franz' I. wurde zwar wieder an eine Verbesserung der Wahlkapitulation gedacht, da aber der Konflikt zwischen Österreich und Preußen fortdauerte, einigte sich die Mehrheit der Kurfürsten jedoch auf eine weitgehende Übernahme der vorherigen Kapitulation, um die Verhandlungen abzukürzen. Bei der römischen Königswahl des späteren Kaisers Josephs 11. "wurde noch mehr geeilt" und die Reformfrage überhaupt nicht mehr berührt.45 Erst 1781/82 bekam sie durch denPrager Lehens- und StaatsrechtIers Joseph Anton von Riegger neue Impulse.46 Das neue Interesse für die Wahlkapitulation stand im Zusammenhang mit dem Tod Maria Theresias im Jahre 1780. Riegger stand mit seinem ungefähr 1200 Seiten umfassenden Werk in der Tradition Mosers47 und führte ein 1697 von Johann Christian Müldener begründetes Untergebiet der staatsrechtlichen Literatur zu höchster Blüte, nämlich die sogenannten "harmonischen Wahlkapitulationen" .48 Bei Müldeners Werk handelte es sich um eine kommentierte vergleichende Edition der bisherigen Kapitulationen, aber schon 1711 gab Christoph Ziegler im AnEbd., T. I, 1742. Müldener, Capitulatio harmonica, 1697. 44 Moser schrieb nicht vorrangig für die theoretische Reformdiskussion, sondern, wie er in den Einleitungen seiner Schriften stets betonte, für die alltägliche Praxis. 45 Schmelzer, Wahlkapitulation, S. 11. 46 Joseph Anton von Riegger, Kaiser Joseph des 11. harmonische Wahlkapitulation mit allen den vorhergehenden Wahlkapitulationen der vorigen Kaiser und Könige wie auch mit dem Projekt der beständigen Wahlkapitulation verglichen, und zum Gebrauche seiner Zuhörer eingerichtet, T. I, Prag 1781, T. 2, ebd. 1782. Zu Riegger (1742-1795) s. ADB 28, S. 549 ff. Er kam 1792 in den Verdacht Jakobiner zu sein. Hartung bezeichnet Rieggers Werk als das letzte dieser Gattung, ders., Wahlkapitulation, S. 310. Es ist jedoch lediglich das letzte Werk dieser Gattung, das durch den Titel als solches erkennbar ist. Viele der hier besprochenen Werke führen Rieggers Arbeit flir die folgenden Kapitulationen fort. 47 Riegger, Kaiser Joseph des 11., T. I, S. 1-24. 48 Ebd., S. 11. Das erste Werk dieser Art war Müldeners, Capitulatio harmonica, 1697. 2. Ausgabe zum Gebrauche bequemer gemacht von Johann Christian Müldener, des auctoris Sohne, Dresden 1725. 1750 erschien Müldners Werk, bis in die "Gegenwart" fortgeführt, in Französisch. Zu Müldener (*?-17IO) DBA 865, 26 f., er hatte in Leipzig, Halle und Erfurt studiert und war kurfürstlich sächsischer Hofrat zu Dresden, Müldener, Capitulatio harmonica, S. III f. 42 43

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hang einer solchen Edition die erste "harmonische" Wahlkapitulationstabelle heraus.49 Am Anfang waren diese Tabellen relativ grob und nicht sehr umfangreich, sie wurden aber zunehmend verfeinert und boten sehr bald Politikern, Staatsrechtlern und Richtern ein hilfreiches Instrumentarium. Ausgehend von der jeweils gültigen Kapitulation erlaubten sie es, den einzelnen Artikeln und ab 1742 auch den Paragraphen, trotz der durch Einfügungen veränderten Zählung, die entsprechenden Stellen aller früheren Kapitulationen zuzuordnen. In den Spalten der Tabellen waren, nach Kapitulationen chronologisch geordnet, die einzelnen Artikel und Paragraphen ohne Text aufgelistet. Neben den harmonischen Wahlkapitulationstabellen gab es ein zweites, wichtiges Hilfsmittel: die Register. Sie erlaubten es, unter einem Stichwort den Fundort aller diesbezüglichen Stellen der gültigen bzw. aller Kapitulationen zu überblicken. Zwar hatte schon Moser hinsichtlich der Weiterentwicklung der Register wichtige Voraussetzungen geschaffen,50 das umfassendste Register war jedoch 1746 für den Gebrauch in den kaiserlichen Behörden entstanden. 51 Harmonische Tabelle und Register, wurden 1781/82 von Riegger in verfeinerter Form in einem Werk vereinigt. Damit waren alle Voraussetzungen für eine systematische Reform der Wahlkapitulation geschaffen. Rieggers Werk stellt den Höhepunkt der Entwicklung einer eigenständigen staatsrechtlichen Hilfswissenschaft, der Wahlkapitulationshermeneutik, dar,52 und es ist erstaunlich, wie modem das methodische Niveau in diesem 1806 obsolet gewordenen Wissenschaftszweig war. 53 Mit der Gründung des Fürstenbundes 1785 kam es zu einer Belebung der Diskussion. Es wurde verkündet, daß es nun "unumgänglich" sei, "durch eine neue Kapitulation die kaiserliche Gewalt in noch engere Grenzen einzuschließen", um künftigen Häuptern des Hauses Österreich die Lust an der kaiserlichen Würde zu nehmen. 54 Darüber hinaus sollte der "Wahlkapitulation eine solche Gestalt gegeben" werden, "daß der Reichsverfassung von keiner Seite zu nahe getreten werden 49 Ziegler, Wahlcapitulationen. Hartung gebraucht den, gegenüber dem zeitgenössischen Begriff, passenderen Ausdruck "Konkordanztabelle", ders., Wahlkapitulation, S. 3\0. so Durch das sechzig Seiten umfassende Register, das Moser 1744 dem dritten Teil seiner Arbeit über Karls VII. Kapitulation beifügte. Müldener hatte aus Mangel an Zeit auf die Erstellung eines Registers verzichtet, Müldener, Capitulatio harmonica, S. XII. Aber schon Ziegler hatte 1711 seinem Werk ein brauchbares alphabetisches Register angefügt. SI Vollständiges Register über die Wahlkapitulation Ihro kaiserliche Majestät Francisci, wie solches auf Befehl und zum Gebrauch des kaiserlichen Reichshofrats verfertigt worden, Wien 1746. 52 Zur "Hermeneutik der Wahlkapitulation" z. B. Schmelzer, Wahlkapitulation, S. XXXIX. 53 Die Form der Anmerkungen, die genauen, in der staatsrechtlichen Literatur der Zeit keineswegs selbstverständlichen Literaturangaben und der konsequente Rückgriff auf authentische Quellen bzw. Ersteditionen sowie das umfassende Register. 54 Ueber die Politische Lage des deutschen Reich nach dem fehlgeschlagenen Umtausch von Bayern, Regensburg 1785, in: Politische Betrachtungen und Nachrichten. Periodische Schrift, No. 11: Projekt zu einer neuen kaiserlichen Wahlkapitulation, Nov. 1785, das Zitat ebd., S. 6, ähnlich S. 40.

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kann." Durch das Zusammentragen der "Bemerkungen wohldenkender Publizisten sollte alles gesammelt werden, was in einer künftigen Wahlkapitulation berührt werden müsse. 55 In den folgenden Jahren hielt sich das Gerücht, der Fürstenbund beabsichtige eine Reform der Wahlkapitulation. Den badischen Geheimrat Karl Friedrich von Gerstlacher veranlaßten 1789 Gerüchte "von einer bevorstehenden römischen Königswahl und neuen Wahlkapitulation",56 die infolge der Erkrankung des Kaisers an Glaubwürdigkeit gewonnen hatten,57 über die Reform der Wahlkapitulation nachzudenken. Gerstlacher hob zwar die Verdienste Mosers hervor,58 ging jedoch methodisch über dessen Ansatz hinaus, indem er betonte, daß es zur Erklärung der Wahlkapitulation und der anläßlich der Kapitulationsverhandlungen von den Ständen eingebrachten Monita nicht ausreiche, die Wahltagsprotokolle heranzuziehen. Da diese häufig über die wahren Ursachen hinweggingen, müsse man auch die politischen Umstände der betreffenden Höfe berücksichtigen. 59 Wahrend der erste Teil seiner Arbeit den Wahlkonvent des Jahres 1764 behandelt, enthält der zweite Teil "Bemerkungen, wie eine künftige Wahlkapitulation in undeutlichen Stellen zu erläutern, in fehlerhaften zu verbessern, und in Stellen, die unseren Zeiten nicht mehr recht angemessen sind, bequemer einzurichten sein möchte.,,60 Zu diesem Zwecke ging Gerstlacher die dreißig Artikel der Kapitulation paragraphenweise durch und machte entsprechende Vorschläge. Er beschränkte sich darauf, die Kapitulation ohne Veränderung ihrer Struktur gefalliger zu gestalten, indem er Widersprüche und Überflüssigkeiten entfernte und syntaktische, semantische und grammatikalische Korrekturen vornahm. Obwohl seine Arbeit als "sehr gründlich" bezeichnet wurde,61 war eine wirkliche Reform auf diesem Wege jedoch nicht zu erreichen. Andererseits sprach der Umstand, daß 55 Ebd., S. 42 u. 45. Über die Einhaltung der neuen Kapitulation sollte ein neueinzurichtender "Areopag" wachen, also eine Art Verfassungsgericht, was, angesichts der Funktionsmängel der bestehenden Reichsgerichtsbarkeit, einen hämischen Kommentar provozierte, ebd., S. 51. 56 earl Friedrich Gerstlacher, Anmerkungen über Ihro regierenden Majestät Josephs des IIten Wahlcapitulation, sonderlich, wie eine künftige Wahlcapitulation zu verbessern seyn möchte, Stuttgart 1789. Zu Gerstlacher (1732-1795) ADB 9, S. 67. Er hatte in Tübingen studiert und stand, nachdem er zunächst in einer Stuttgarter Kanzlei tätig war, ab 1767 im Dienste Badens. 57 Gerstlacher, Anmerkungen, S. III. 58 Ebd., S. V. Ähnlich: [Renatus Karl Freiherr von Senkenberg], Gedanken über verschiedene Paragrafen der Kaiserlichen Wahlkapitulation, die in den Gerlacherischen Anmerkungen über die Wahlkapitulation gar nicht oder doch nur kürzer berührt sind. Herausgegeben durch Germanus Biedermann, Eleutheropolis 1790, S. 24. 59 Gerstlacher, Anmerkungen, S. V. ()() Ebd., S. VII. Der zweite Teil umfaßt die Seiten 81-156. 61 [Benjamin Ferdinand von Mohl], Ist es ratsam, den teutschen Kaiser in Wahlkapitulation noch mehr einzuschränken, als er es jetzt schon ist? Und welche Veränderungen sind bei der Wahlkapitulation zu treffen? FrankfurtlM. [Mannheim] 1790, S. 4.

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Gerstlacher nur moderate Veränderungen vornahm, für eine relativ leichte politische Durchsetzbarkeit seines Projektes. Kurz nachdem Gerstlacher seine Anmerkungen veröffentlicht hatte, publizierte Benjamin von Mohl anonym ein weiteres Projekt. 62 Mohl - er war mütterlicherseits ein Enkel Johann Jakob von Mosers und selbst der Vater Robert von Mohls griff dabei wiederholt auf Gedanken zurück, die sein Onkel Friedrich Karl von Moser nach dem Siebenjährigen Krieg geäußert hatte. 63 Mohl beendete sein Projekt noch vor dem Tode Josephs 11., dessen Krankheit und die Erwartung, daß die Fürstenbundpartei das kommende Interregnum für eine umfassende Reformen der Reichsverfassung nutzen werde, hatten auch ihn veranIaßt, seine Gedanken zu publizieren. 64 Für Mohl war es weder eine offene Frage, ob der Kaiser in seinen verfasssungsmäßigen Rechten "zu viel eingeschränkt sei",65 noch ob bei einzelnen Teilen der Reichsverfassung "zweckmäßige Veränderungen getroffen werden" könnten. 66 Sein Verfassungsideal war Montesquieus Schema der Gewaltenteilung. 67 Die Reichsverfassung sollte durch eine "Totalumschmelzung" der Wahlkapitulation diesem Ideal angeglichen werden. 68 Als Ziel der "Totalveränderung" wünschte er für den Kaiser "mehr Einfluß auf dem Reichstag, weniger auf den Reichshofrat und wieder mehr bei der Vollstreckung der reichsgerichtlichen Urteile".69 Weiter sei es nötig, daß das Reichsoberhaupt nicht nur ein unbedingtes Veto erhalte, sondern auch die Möglichkeit, unter widersprüchlichen Voten der drei Kollegien eines zu wählen "und ihm dadurch die gesetzliche Sanktion" zu geben. 7o

62 Ebd., 1790. Gerstlachers Anmerkungen hatte Mohl zwar noch lobend zur Kenntnis genommen, konnte aber inhaltlich nicht mehr auf sie eingehen, ebd., S. 3. Zu Mohl (17661845) s. ADB 22, S. 54 f. Er war auf der Kar!sakademie in Stuttgart ausgebildet worden und hatte seine Studien später in Göttingen, Wetzlar, Regensburg und Wien ergänzt. 63 [Mohl], Ist es ratsam, Motto sowie S. 5, 6 f. u. 49. Friedrich Kar! von Moser, Was ist gut Kayserlich und nicht gut kayserlich?, FrankfurtlM. 1766. 64 [Mohl], Ist es ratsam, S. 3. 65 Ebd., S. 5 u. 8. 66 Ebd., S. 4. 67 Ebd., S. 10. John G. Gagliardo übersieht dieses zentrale Anliegen, ders., Reich and Nation, Bloomington 1980, S. 108 f. Vgl. Kurt Kluxen, Die Herkunft der Lehre von der Gewaltenteilung, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Zur heutigen Problematik der Gewaltenteilung, Darmstadt 1969, S. 141-143. 68 [Mohl], Ist es ratsam, S. 35. 69 Ebd., S. 45 u. 27. Klüber erschien diese Zusammenfassung des Mohlschen Projektes so prägnant, daß er sie wörtlich zitierte, ders., Litteratur des deutschen Staatsrechts, T. 4, Göttingen 1791, S. 88. Insbesondere die Struktur und das Verfahren des Reichstages wären durch eine Realisierung des Mohlschen Projektes stark verändert worden. Mohl wünschte nicht nur die "Ungleichheit der Stimmen" zu heben, also die Häufung der Stimmen "einiger der mächtigsten Stände" abzubauen, sondern der Kaiser sollte auch Mittel erhalten, die Stände zur reichstäglichen Beratschlagung von Themen zu zwingen, die sie selbst nicht behandeln wollten." 70 [Mohl], Ist es ratsam, S. 13 f. u. 18.

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In der Konsequenz dieser Vorschläge lag es, daß Mohl sich gegen jede konkurrierende Form der Legislative aussprach, insbesondere gegen eine Gesetzgebung im Interregnum, also gegen ein Ratifikationsrecht der Vikare 71 und gegen das Jus adcapitulandi der Kurfürsten. 72 Hinsichtlich der Justiz sollten die Urteile des Reichshofrates dem kaiserlichen Einfluß entzogen werden und für dieses Gericht wie für das Kammergericht eine ordentliche Visitation durch alle Stände institutionalisiert werden. 73 Die Voll ziehung der reichsgerichtlichen Urteile und der Gesetze sollte nach Möglichkeit dem Kaiser übertragen werden. Auch die Frage: "Wer soll die vorgeschlagenen Veränderungen machen?" beantwortete Mohl eindeutig. Diese Aufgabe sei vom ganzen Reich auf dem Reichstag in Angriff zu nehmen. Als Handreichung für die angestrebten Reichstagsverhandlungen hatte er die jüngste Wahlkapitulation seinen Vorstellungen gemäß modifiziert. 74 Da er aber "bei dem jetzigen K1einigkeitsgeiste",75 wenngleich ihm die Schwierigkeiten nicht "unüberwindlich" erschienen,76 die Realisierungschancen seines Entwurfes zurückhaltend beurteilte, bot er alternativ ein bescheidenderes Programm an. 77 Mohl Iistete alle Stellen auf, die er als überflüssig empfand, und empfahl, sie zu streichen. Er hielt es für das Beste, ,jedem Kaiser bloß eine kurze, körnige, allgemeine, nicht ins Detail der Materie hinein laufende Wahlkapitulation vorzulegen. Wenigstens hätte man alsdann doch die Hoffnung, daß er sie bisweilen, oder auch nur einmalläße.,,7s Damit hatte er eine grundlegende Anforderung an Verfassungen formuliert. Noch in den deutschen Verfassungsdiskussionen des Vormärz, z. B. in Mohls Heimat Württemberg, war das Verhältnis zwischen detaillierten Regelungen und Allgemeingültigkeit Gegenstand der Auseinandersetzungen. 79 Indem Mohl sich von den Tendenzschriften abgrenzte, betonte er die Selbständigkeit seiner Position,so die keineswegs, z. B. hinsichtlich des Reichshofrates, mit der Wiener Position identisch war. Sein Entwurf war insofern einzigartig, als er die Ebd., S. 27. Ebd., S. 44 f. 73 Ebd., S. 24-26. 74 Ebd., S. 28-35. 7S Ebd., S. 18. Er verwies bei seinen einzelnen Vorschlägen stets mit Bedauern auf die zu erwartenden Hemmnisse. 76 Ebd., S. 35. 77 "Wir wollen mit demjenigen anfangen, was ohne alle Rücksicht auf unser System von Veränderungen ganz Außen bleiben könnte", ebd., S. 35. Die Streichungen ebd., S. 35 -44. 78 Ebd., S. 8. 79 Noch 1992/93 scheiterte in der Bundesrepublik die Aufnahme des Umweltschutzes in ein revidiertes Grundgesetz an der Frage, wie detailliert die entsprechenden Fonnulierungen sein dürften, was man mit einem Talleyrand zugeschriebenen Diktum kommentieren kann: ,,Eine Verfassung muß kurz und unklar sein." 80 Mohl vertrat die Auffassung, der Rekurs, d. h. die Appellation gegen höchstrichterliche Urteile an den Reichstag, sei "ein schreckliches Übel", [ders.l, Ist es ratsam, S. 20 f. 71

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Gewaltenteilung zum Strukturprinzip der Verfassung machte. Das Projekt sollte durch einen einmaligen grundgesetzgeberischen Akt des Reichstages realisiert werden. Falls sein Plan einer "Totalveränderung" scheitern sollte, hatte er dem Reichstag mit seinen Streichungsvorschlägen ein Programm für eine Minimalreform angeboten. Insgesamt ist Mohls Entwurf durchaus mit konstitutionellen Verfassungen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergleichbar. Unrealistisch war jedoch die Hoffnung, nicht nur den Einfluß der mächtigsten Stände auf dem Reichstag zu nivellieren, sondern darüber hinaus den Reichstag der kaiserlichen Lenkung zu unterwerfen und dies von dem bestehenden Reichstag verabschieden zu lassen. Einen weiteren großen Schritt in Richtung einer Reform der Wahlkapitulation machte 1790 der Erlanger Jurist Johann Ludwig Klüber mit seinem "Systematischen Entwurf der kaiserlichen Wahlkapitulation" .81 ,,An einen Regentenspiegel, der das Vademecum des Reichsoberhauptes und zugleich der Kern unserer Staatsgesetze sein soll", stellte Klüber folgende "Forderungen": ,,1. er verbinde mit dem Reichtume der Ideen, der notwendig darin herrschen muß, größtmögliche Kürze; 2. die Übersicht und Verbindung sei leicht und natürlich; 3. der Geschmack, welcher darin sichtbar ist, sei gut und trage das Gepräge seines Jahrhunderts.,,82 Mit diesem Programm einer inhaltlichen Systematisierung und sprachlichen Modernisierung ging Klüber auf den Weg weiter, den Moser und seine Nachfolger geebnet hatten. Wie vielen seiner Zeitgenossen schien dem Erlanger Juristen - er hatte sein Werk am 8. April 1790 beendet,83 Joseph 11. war am 20. Februar verstorben - die Situation für eine Reform der Wahlkapitulation besonders günstig zu sein. 84 ,,zu diesem Zweck" seien jetzt "viele Hände beschäftigt" und "die Materialien zu diesem Gebäude" bereits in "beträchtlicher Menge" gesammelt. ,,Nur für die ordnende Hand" bliebe noch einiges zu tun. In seinem "Grundriß der künftigen Wahlkapitulation" verwies er im Text der neuen systematischen Zusammensetzung jeweils auf die entsprechenden Stellen der Kapitulation Josephs 11. 85 Im Register gab er, ausgehend von der Wahlkapitulation Josephs n., eine Übersicht über die entsprechenden Stellen seines systematischen Entwurfes. In dem von Klüber aufgestellten Plan einer Neueinteilung bildeten jeweils mehrere der insgesamt 30 Artikel einen thematischen Block. Artikel I und 11 waren dem Kaiser gewidmet, m und IV der Kirche und der Religion, die Artikel V-VII 81

Klüber, Systematischer Entwurf, 1790.

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Ebd., S. 3.

Ebd., S. 6. Ebd., S. 5. Die Protokolle der Verhandlungen des Wahlkonventes von 1790 wie jene von 1792 zeigen, daß man sich ernsthaft mit den Verbesserungsvorschlägen auseinandersetzte. Die Verhandlungen auf den beiden Wahl tagen fanden durch K. Fr. Häberlin eine ausführliche Darstellung: Pragmatische Geschichte, sowie: Ders., Anhang. Zur Reformerwartung auch: Crome, Wah1capitulation, S. 105. 85 Klüber, Systematischer Entwurf, S. 5. 83

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den Reichsunmittelbaren und Mittelbaren, VIll-IX dem Reichstag und den Kreisen, x-xv der Reichsjustiz und der Kanzlei, XVI-XXn den Reichssteuern und -anlagen, der Wirtschaft, den Zöllen, dem Münzwesen und dem Handel. Artikel XXIII beschäftigte sich mit dem Postwesen, und nur noch Artikel XXIV war den Reichslehen gewidmet. Indem Klüber die feudalen Aspekte der Reichsverfassung im wesentlichen nur in diesem Artikel konzentrierte, trug er der historischen Entwicklung und einer zeitgemäßen Reichsauffassung Rechnung. Die Artikel XXVXXVII handelten von Krieg, Frieden, Werbungen, Einquartierungen, Durchmärschen und dem Bündnisrecht. Die drei letzten Artikel galten den Reichsvikarien, der Römischen Königswahl und der Bestärkung der Wahlkapitulationen. Eine Stellungnahme zum Streit um das Adkapitulationsrecht erschien Klüber jedoch zu brisant. Auch dieser Entwurf war in seiner systematischen Anlage den im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert projektierten Verfassungen verwandt. Klübers Projekt erschien rechtzeitig, um bei den im Spätsommer 1790 beginnenden Kapitulationsverhandlungen als Grundlage dienen zu können. Zudem hatte sich Klüber im Auftrage des Markgrafen Karl Alexander von Ansbach-Bayreuth zur Kaiserwahl Leopolds 11. nach Frankfurt begeben, wo er als markgräflicher und kurbraunschweigischer Bevollmächtigter den Wahlkapitulationsverhandlungen beiwohnte. 86 Nach dem Abschluß der Verhandlungen wurde mit Bedauern festgestellt, daß sein Entwurf kaum berücksichtigt worden war. Dies lag daran, daß der Wahlkonvent noch von den Frontstellungen der Fürstenbundzeit beherrscht wurde und man ein Aufbrechen des Konfliktes durch die weitgehende Übernahme der letzten Kapitulation vermied. Dennoch wurden die Hoffnungen auf eine Reform der Verfassung für die Zukunft nicht aufgegeben. 87 Klüber selbst war sich jedoch bewußt, daß sein Versuch nicht frei von Inkonsequenzen und - bei aller Kreativität - eben nur ein "Grundriß" war. Seine Hoffnung, daß andere seinen Entwurf weiter ausführen würden,88 wurde von dem Gießener Privatgelehrten Renatus Karl von Senkenberg erfüllt. 89 Senkenberg gab seine "Gedanken" unter dem programmatischen Pseudonym "Germanus Biedermann" und dem fiktiven Erscheinungsort Eleutheropolis heraus. Das Pseudonym beinhaltet sowohl die Prätention des Nationalen als auch der Aufrichtigkeit. Der angebliche Erscheinungsort, Eleutheropolis, wird kaum für die gleichnamige römische Stadt im antiken Palästina stehen, sondern für den Begriff "Eleutherono86 Die großen Erwartungen, die man an den Wahlkonvent von 1790 stellte, zeigten sich auch darin, daß aus diesem Anlaß fast alle, die sich in der publizistischen Diskussion einen Namen erworben hatten, in Frankfurt zusammenkamen. [Rudulf Hommell, Briefe über die Kaiserwahl, während der selbigen aus Frankfurt geschrieben, Leipzig 1791, S. 56-62. 87 Ebd., S. 62. 88 Klüber, Systematischer Entwurf, S. 5 f. 89 [Senkenbergl, Gedanken. Zu Senkenberg (1751- 1800) ADB 34, S. 5 ff. Seine juristischen Studien in Göttingen und Straßburg hatte er durch Aufenthalte in Wetzlar und Wien vervollständigt.

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mie", mit dem Kant das Freiheitsprinzip der inneren Gesetzgebung bezeichnete. Der Begriff war auch eine gute Umschreibung für Frankfurt, den Ort, an dem die Wahlkapitulation ausgehandelt und Senkenbergs "Gedanken" verlegt wurden. 90 Senkenberg verglich zunächst Gerstlachers Arbeit mit Rieggers harmonischer Wahlkapitulation und kam zu dem Schluß, daß Gerstlachers Verbesserungs vorschläge viele Lücken aufwiesen und das Vorgefundene allzu sehr schonten. 91 Dementsprechend strich der Gießener Jurist die vorliegenden Vorschläge und mit ihnen die Kapitulation Josephs 11., auf der sie beruhten, radikal zusammen. Souveräner als Mohl entfernte er, was er für unnütz, veraltet, unverständlich, redundant oder undurchsetzbar hielt und führte eine neue Gliederung nach thematischen Gesichtspunkten durch. 92 Als Ergebnis zählte sein eigener Entwurf statt dreißig nur noch zwölf Artikel. 93 Inhaltlich trat Senkenberg für einen laizistischen und pazifistischen Nationalstaat ein. In seinen "Gedanken" herrschte eine strenge Trennung von Reich und Kirche. 94 Alle Stellen, weIche die Konkordate betrafen, sollten entfernt und diese selbst durch ein einfaches Reichsgesetz ersetzt werden. 95 Sein Ziel war eine "allgemeine und vollkommene Toleranz". Als "Vorbild" für sein säkulares Staatsverständnis nannte er Frankreich und das freie Amerika. 96 Daß die Verfassungsentwicklung des revolutionären Frankreich bzw. Amerika als Muster für konkrete Veränderungen in der Reichsverfassung diente, war zu Beginn der neunziger Jahre absolut ungewöhnlich. 97 Pazifistisch war Senkenbergs Entwurf insofern, als er dafür eintrat, dem Neugewählten die Aufgabe zu erlassen, das Reich zu mehren. 98 Er war der Meinung, daß Deutschland, wenn es zusammenhielte, so mächtig wie "kein Reich in Europa" sei. Da dann keine Macht mehr in der Lage sei, ihm Schaden zuzufügen, bedürfe das Reich keiner Vennehrung. Es liegt nahe, daß Senkenberg hier auf die elsässischen Verwicklungen und die im Reich enstehende Kriegszieldiskussion abhob. 90 Als Grund für diese Tarnung nannte Senkenberg, daß er seine Vorschläge vor der voreiligen Zuordnung zu einer konfessionellen Partei bzw. zur kaiserlichen, kurfürstlichen oder fürstlichen Fraktion schützen wolle, [Senkenberg], Gedanken, S. IV. 91 Ebd., S. III. 92 Sein Text ist voIl von Begriffen wie "unnötig", "überflüssig", "auslassen", "wegbleiben", "wegfallen", "streichen" und "einschränken", ebd., S. 12,20,21,22,24,26,31 u. 35. 93 Ebd., S. 44 f. 94 Seine Streichungsvorschläge setzten deshalb mit dem 1. Paragraphen des 1. Artikels, nämlich mit dem Schutzversprechen für den Papst, ein, ebd., S. 1. 95 Ebd., S. 3. Da es insbesondere "die politischen Verhältnisse der Religion" seien, die ,,Deutschland in Unruhe setzen", ebd., S. 8-1I. Die Abschaffung der Konkordate und die Befreiung des katholischen Deutschlands aus der Abhängigkeit von Rom wird auch auf S. 27 - 31 (Art. XIV) behandelt. 96 Ebd., S. 10 f. 97 Horst Dippel, Germany and the American Revolution. A Sociohistorical Investigation of the Late Eighteenth-Century Political Thinking, Wiesbaden 1978. 98 [Senkenberg], Gedanken, S. 7, bezüglich Art. 11 § I der Wahlkapitulation.

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Dem im Pseudonym zum Ausdruck gekommenen nationalen Motiv entsprach sein Wunsch, die Bezeichnung "Römisches Reich deutscher Nation" durch "Deutsches Reich" zu ersetzen99 sowie sein Verweis auf Klopstock und sein Programm einer radikalen Sprachreform im Sinne einer Germanisierung des Vokabulars. 100 Entsprechend diesem Programm sollten alle "ausländischen Worte" in der Wahlkapitulation "mit gleichgeltenden teutschen Wörtern" vertauscht werden. 101 Der Gießener Gelehrte plädierte dafür, die künftige Wahlkapitulation, nachdem die Politiker sich über die einzelnen Verbesserungsvorschläge geeinigt hätten, einem in "der Teutschen Sprache recht erfahrenen, durch sonstige gute stilisierte Aufsätze schon bekannten Mann" zu übergeben, um sie, "soviel es der Inhalt leidet", in ein "schönes Teutsch und gute natürliche Ordnung" setzen zu lassen. 102 Senkenberg äußerte sich auch zu weiteren aktuellen verfassungspolitischen Auseinandersetzungen, wie zur Anzahl der Kurstimmen, 103 zum Verhältnis zwischen Familienverträgen und Belehnungen sowie zur Fortführung des Reichstages im Interregnum. 104 Die Frage des Verhältnisses zwischen Familien- und Lehensrecht hatte unmittelbaren Bezug zu Senkenberg, der 1778, während eines Aufenthaltes in Wien, im Zusammenhang mit den bayerischen Erbhändeln, zunächst verhaftet und dann aus den habsburgischen Ländern verbannt worden war. In der Diskussion um die Rechte der Reichsvikare, trat er für die Fortführung des Reichstages während des Interregnums ein. 105 Gleichzeitig setzte er sich aber für die "möglichste Verhütung einer Thronledigkeit" ein,l06 um so der Einmischung auswärtiger Mächte, namentlich Rußlands und Frankreichs, vorzubeugen. Für besonders verderblich hielt er die Meinung, daß es für das Reich besser sei, wenn mit jeder Wahl eines Reichsoberhauptes die Dynastie gewechselt würde. 107 Die Geschichte Polens, des Kirchenstaates und der deutschen Reichsbistümer widerlege diese Auffassung. Senkenberg drang daher nochmals auf eine frühzeitige Römische Königswahl, und zwar spätestens, sobald der Kaiser Anzeichen von Schwäche zeige oder das fünfzigste Lebensjahr erreicht habe. 108 Ebd., S. 38. Das Gedicht vom Deutschen Jüngling, ebd., S. 7. Das Germanisierungsprogramm, ebd., S. 4-6. 101 [Senkenberg], Gedanken, S. 41-44. 102 Ebd., S. 43. In der jetzt anstehenden Kapitulation sollte der Kaiser verpflichtet werden, die Kapitulationsthematik zur reichstäglichen Beratung zu bringen und gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, daß das zeitraubende, Deutschland lächerlich machende Zeremonialwesen diese Verhandlungen nicht behindere, ebd., S. 26. 103 Ebd., S. 13-16, ein Überblick über die Diskussion. 104 Ebd., S. 22, mit Bezug auf Art. XI § 2. 105 Ebd., S. 25 f., mit Bezug auf Art. XIII §§ I f u. 9. Zur Frage des umkämpften Ratifikationsrechtes nahm er nicht eindeutig Stellung, ebd., S. 44. 106 Ebd., S. 47-51, das Zitat S. 48. 107 Hier bezog er sich offensichtlich auf die anhaltende Chemnitz- bzw. Bodin-Rezeption. 108 Ebd., S. 49 u. 51. 99

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Breiten Raum widmete Senkenberg den vieldiskutierten Fragen des Justizwesens. Hinsichtlich der Verfahrensregelung im Falle von Rechtsstreitigkeiten zwischen Landesherren und Untertanen setzte er sich für die letzteren ein. 109 Im Zusammenhang mit der von den deutschen Literaten leidenschaftlich debattierten Frage des Schutzes gegen den Büchernachdruck, betonte Senkenberg, daß in der Wahlkapitulation keine neuen Gesetze gemacht werden dürften. IJO Damit stellte auch er die reichsgrundgesetzliche Funktion der Wahlkapitulation heraus und wandte sich gleichzeitig gegen das kurfürstliche Jus adcapitulandi. Obgleich Senkenbergs Eingriffe in die bestehende Wahlkapitulation weit radikaler waren als die Klübers, erreichte er nicht dessen systematisches Niveau. Als der Gießener Jurist zwei Jahre später, anläßlich des Todes Kaiser Leopolds 11. am 1. März 1792, diesmal ohne Pseudonym, eine "Ausdehnung" seines "Plans einer beständigen Wahlkapitulation" veröffentlichte, bezog er sich auf Klüber,"1 unterbreitete nun aber einen noch weitaus radikaleren Reformvorschlag: Nun sollte alles, "was dem Kaiser binnen seiner Regierung auszuführen aufgegeben ist," zusammengefaßt werden, um es von demjenigen zu trennen, "was der Kaiser überhaupt zu beobachten übernommen hat", also den Versprechen, etwas nicht zu tun, damit letzteres "die Grundlage zu einer beständigen Wahlkapitulation abgeben könne.,,112 Damit hatte er die Unterscheidung zwischen Regierung und Verfassung vollzogen und erstmals die formalen Voraussetzungen für eine wirklich beständige Wahlkapitulation geschaffen. Auch inhaltlich hatten sich einige Veränderungen ergeben. Bei der Erwähnung des Reichsverweseramtes wurde das Recht den Reichstag fortzusetzen nun nicht mehr genannt. 113 Statt dessen betonte er nachdrücklicher als zuvor die Notwendigkeit, rechtzeitig einen Römischen König zu wählen. 114 Hierzu mag der Schock des frühen Todes Kaiser Leopolds 11. beigetragen haben. In seiner neuen Schrift fehlte nun auch jeder Hinweis auf den Vorbildcharakter Frankreichs, statt dessen fand sich die Aufforderung, alle gegen die Reichsverfassung gerichteten Schriften zu verbieten. 1I5 Ausgenommen sein sollten nur "bescheidene Anmerkungen, Kriti109 Ebd., S. 36, mit Bezug auf Art. XIX § 7. Der Reichsjustiz, insbesondere der Reform des Reichshofrates widmete er mehrere Schriften. Weiter trat er dafür ein, die Ausführungen zur Kammergerichtsvisitation in der Wahlkapitulation zu streichen und die ganze Materie zunächst auf dem Reichstag zu regeln, ebd., S. 35 f. mit Bezug auf Art. XVII § 10. Für den Reichshofrat schlug er hingegen einen konkreten Reformplan vor, ebd., S. 39 f., mit Bezug auf Art. XXIV § 13. 110 Ebd., S. 51-58, mit Bezug auf Art. III § 7. lH Senkenberg, Ausführung eines ehemals bekannt gemachten Plans einer umgearbeiteten Kaiserlichen beständigen Wahlkapitulation, FrankfurtlM. 1792, S. IV f., weiter nannte er die Arbeiten Häberlins und seiner Gießener "Freunde" Crome und Jaup. 112 Ebd., S. 67. 113 Ebd., S. 11. 114 Ebd., S. IV u. 82. Für Senkenberg scheint sich der Einsatz für die Fortsetzung des habsburgisch-Io~hringischen Kaisertums gelohnt zu haben, denn 1792 hob Kaiser Franz II. das Verbannungsurteil auf.

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ken, Vorschläge", wozu er offensichtlich auch seine Schrift zählte. Wie bei vielen deutschen Intellektuellen, scheint auch bei ihm der anfängliche Revolutionsenthusiasmus 1792 verflogen zu sein. Abschließend ordnete Senkenberg wie Klüber die einzelnen Paragraphen seines Projektes in einem Register den entsprechenden Stellen der letzten Wahlkapitulation zu. 116 Dadurch wurde auch sein Entwurf als Vorlage für künftige Verhandlungen auf der politischen Ebene verwendbar. Insgesamt hatte Senkenberg große staatsrechtliche Kreativität bewiesen. In seine Vorschläge, wie die Wahlkapitulation gemäß den aufklärerischen Vorstellungen einzurichten sei, hatte er eingearbeitet, was ihm von den revolutionären Veränderungen im Westen übernehmenswert erschien, und war dabei formal auf dem Boden des Reichsstaatsrechtes geblieben. Zukunftsweisend war, neben Senkenbergs laizistischer Reichsvorstellung, sein Versuch, das Reich in nationalstaatlicher Richtung zu entwickeln. Obwohl er keine Partizipationsmöglichkeiten für das Volk forderte, sind seine Schriften ein eindrucksvolles Dokument dafür, daß Reichspatriotismus und nationaler Patriotismus sich auch jenseits bloßer Rhetorik, wenn es um konkrete Umsetzungen ging, nicht ausschließen mußten. Seine besondere Leistung bestand in der Trennung von Regierungsprogramm und Grundgesetz. Allerdings klang sein Wunsch nach einem laizistischen Reich wie eine Säkularisationsforderung und erschien für den Wahlvertrag, an dessen Zustandekommen ja auch geistliche Fürsten beteiligt waren, nicht sehr geeignet. Weiter war es durch seine radikalen Eingriffe, insbesondere durch Umstellung einzelner Paragraphen, also durch Kontextveränderungen, zu erheblichen inhaltlichen Veränderungen gekommen. Schmelzer wies denn auch darauf hin, daß genau dies, mehr noch als bei Klübers Projekt, der Grund für die Unmöglichkeit der politischen Durchsetzbarkeit sei. 117 In der Zeit zwischen dem Tode Kaiser Josephs 11. am 20. Februar 1790 und der Wahl Leopolds 11. am 30. September 1790 veröffentlichte auch der nassau-usingische Regierungspräsident Karl Friedrich von Kruse seine "Betrachtungen über die Gesetzgebung der Deutschen bei Gelegenheit der Wahl eines Römischen Kaisers".118 Er setzte sich dafür ein, die einseitige Bindung des Kaisers an die Wahlkapitulation durch eine allgemeine Bindung zu ersetzen, die auch die Reichsstände einschloß. Diese Ausführungen Kruses erinnern an Regelungen in einigen Verfassungen der Rheinbundstaaten·. 119 Ebd., S. 2. Ebd., S. 85 - 88. 117 Schmelzer, Wahlkapitulation, S. XXIV - XXXVII. 118 [Kruse], Freimüthige Betrachtungen, 1790. Zu Kruse (1737 -1806) ADB 17, S. 265 ff. Nach seinem Studium war er zunächst in hessen-darmstädtische Dienste getreten, befand sich aber seit 1768 ununterbrochen in nassau-usingischem Dienst. Nur durch erhebliche finanzielle und rangmäßige Zugeständnisse konnte 1769170 verhindert werden, daß er als Reichshofrat nach Wien ging. Zu den "Betrachtungen" Gagliardo, Reich, S. 108. 115

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Kruse argumentierte mit dem Wohl der mittelbaren Reichsuntertanen und plädierte dafür, der Exekutive des Kaisers und der Legislative des Reiches den Weg in die Territorien erneut zu öffnen. In seinen anonymen Betrachtungen ging er davon aus, daß das Reich ohne eine Reform seiner Verfassung zusammenbrechen werde. 120 Aus diesem Grunde unterzog er die Wahlkapitulation einer eingehenden Kritik. 121 Er kam zu den Schluß, daß es ihr formal und inhaltlich "an den nötigen Erfordernissen ermangele".122 Deswegen sollte ein "neues Grundgesetz" geschaffen werden, das sich im wesentlichen auf vier Bereiche zu beschränken habe: 1. Die "Gerechtsame des höchsten Oberhaupts des Reichs". 2. "Sodann die Vorzüge, Freiheit und Gerechtsame der Kurfürsten, Fürsten und Stände". 3. "Diesem folgt die Materie von dem Justizwesen im deutschen Reich und die Vollstreckung sowohl der Urteile in Justizsachen, als derjenigen Verordnungen, welche in politicis und commercialibus ect. schon ergangen sind, oder ferner durch die gesetzgebende Gewalt werden erlassen werden." 4. "Endlich werden die Kreis- und Reichstagseinrichtungen, und was mit diesen wichtigen Gegenständen zusammenhängt, als das vorzüglichste Mittel und Vehiculum, obiges alles in Ausübung zu setzen, und Haupt und Glieder in wechselseitiger Verbindung, Einigkeit und Ehrfurcht zu erhalten, nachfolgen.,,123 Auch diese Gliederung erinnert an rheinbündische Verfassungen. Sämtliche Ausführungen zu den Reichsvikaren wollte Kruse aus der Kapitulation entfernen,124 was der kaiserlichen Position entgegenkam. Sein vornehmliches Interesse galt der Legislative. Hier waren nach seiner Ansicht "zwei Hauptgebrechen" abzustellen, nämlich die "Ungewißheit über die gesetzliche Kraft und Verbindlichkeit so vieler disparater Verordnungen, Gewohnheiten, Herkommen und Satzungen" sowie "zweitens die durchaus mangelhafte und schwankende Vollstreckungsart".125 Insbesondere hinsichtlich der Wirtschafts- und Militärverfassung trat er für die allgemeine Gültigkeit der Reichs- und Kreisgesetze in allen Territorien ein. 126 119 So mußte nach der bayerischen Verfassung von 1808 jeder erwachsene Bayer einen Eid auf die Verfassung ablegen, Walter DemellUwe Puschner (Hrsg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen, Bd. 6: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß 1789-1815, Stuttgart 1995, S. 119-123, S. 121, § VIII. 120 Kruse betonte besonders die Refonnbedürftigkeit der Legislative, [ders.], Freimüthige Betrachtungen, S. 41. 121 Ebd., S. 23 f. Er teilte implizit J. J. Mosers Auffassungen sowie die des ein Jahr zuvor veröffentlichten Gutachtens zur Kapitulation Josephs 11. aus dem Jahre 1765. 122 Ebd., S. 39. 123 Ebd., S. 43-45. Kruse ging die Kapitulation Josephs 11. durch und machte entsprechende Verbesserungsvorschläge, ebd., S. 24 - 26. 124 Ebd., S. 34. 125 Ebd., S. 13. Auch "die Notwendigkeit eines neuen zweckmäßigen, allgemeinen deutschen Gesetzbuches" schien ihm daher unmittelbar einleuchtend, ebd. 126 Ebd., S. 48 f. Bezüglich der Justizreform wünschte Kruse, daß für Appellationen gegen reichsgerichtliche Urteile an den Reichstag ein geregeltes Verfahren eingerichtet werde oder

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Für all dies galt ihm die Wahlkapitulation als das Mittel zur "Wohlfahrt" des "größten Haufens, nämlich des dem Reich mittelbar unterworfenen deutschen Untertans".127 Aber gerade deswegen dürfe es nicht nur von den Kurfürsten beschlossen werden, sondern müsse als ein "alles umfassendes Reichsgrundgesetz" vom gesamten Reich verabschiedet werden. 128 Dem Willen, die Stände an die Kapitulation zu binden, entsprach sein Wunsch, die Unabhängigkeit des Kaisers und dessen exekutive Gewalt zu stärken. Er war überzeugt, daß bei weiterer Einschränkung der Position des Kaisers bald "kein annehmlicher Kandidat" mehr für die deutsche Kaiserkrone zu finden wäre. 129 Auch hier argumentierte er mit der Wohlfahrt der mittelbaren Reichseinwohner. 13o So sollte dem Kaiser die unmittelbare Dienstaufsicht über alle Landesobrigkeiten im Reich eingeräumt werden und er in bestimmten Fällen "die Entziehung der Regierung" verfügen dürfen. 13l Abschließend hoffte Kruse, daß "die Wünsche aller deutschen Patrioten" durch eine Wahlkapitulation erfüllt würden, die eine verbesserte Vollstreckung der Gesetze und Urteile bewirken würde. 132 Wie viele kaiserliche Parteigänger war Kruse der Ansicht, daß es eine Verbindung zwischen den Interessen der kaiserlichen Regierung und denen der mittelbaren Einwohner Deutschlands gebe. Dieses Argument sollte in der Kaiserpropaganda nach 1813 erneut große Bedeutung erlangen. Trotz der engagierten Vorarbeiten hatten die Kapitulationsverhandlungen von 1790 nicht zu der erwarteten Verfassungsreform geführt. Wie schmerzhaft die Patrioten diese Enttäuschung empfanden, formulierte exemplarisch der Stuttgarter Jurist Wilhelm August Danz. 133 Dennoch rissen die Reformerwartungen keineswegs ab. So hoffte der Gießener Professor August Friedrich Wilhelm Crome im die Reichsgerichte, gemäß den während der letzten Visitation erlassenen Verordnungen, effektiver organisiert würden und der Kaiser die Möglichkeit erhalte, durch einstweilige Verfügungen Unrecht zu verhindern, ebd., S. 29. 127 Ebd., S. 21, ähnlich ebd., S. 40 u. 42. 128 Ebd., S. 21 u. 42. 129 Ebd., S. 46. 130 Ebd., S. 24, 26, 33, 40, 46 u. 50. 131 Ebd., S. 26, mit Bezug auf Art. I § 4, der genau dies, auch im Falle von erwiesener Regierungsunfähigkeit, verbot. 132 Ebd., S. 52. 133 Danz, Deutschland, S. 141· f. Zu Danz (1764-1803) ADB 4, S. 752 f. Eine Äußerung des anonymen Sammlers der "Paradoxien der kaiserlichen Wahlkapitulation" zeigt hingegen auch, daß man auf seiten der kaiserlichen Partei angesichts der Vorschläge der Gegenseite froh war, daß es nicht zu größeren Veränderungen gekommen war. Praktische Bemerkungen über die Zusätze der kayserlichen Wahlkapitulation Leopold 11. Als eine Fortsetzung der Paradoxien über die kaiserliche Wahlkapitulation, FrankfurtlM. 1792, S. I f. Es handelt sich um die Fortsetzung der "Paradoxien" von 1790, die eine Handreichung für die erwarteten Reformverhandlungen waren. Der Verfasser ging die Kapitulation durch und bemühte sich um ihre zeitgemäße und rationale Gestaltung. Einen interessanten Vorschlag machte er hinsichtlich Art. 11 § 5. Die Richter sollten in Zukunft entscheiden, ob eine Sache rekursfähig sei oder nicht. Damit wäre die politische Umgehung der reichsgerichtlichen Urteile weitgehend eingedämmt worden.

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Mai 1791, daß durch das Zusammenwirken Kaiser Leopolds 11. und Karl Theodor von Dalbergs,I34 Deutschlands künftigem Erzkanzler, eine Zeit der Aufklärung für die Reichsverfassung anbrechen würde. 135 Crome hatte Dalberg, dem Koadjutor des Reichserzkanzlers, seine kommentierte Edition der leopoldinischen Kapitulation gewidmet. Während des Wahltages von 1790 hatte Crome zum Gefolge der kursächsischen Wahlgesandtschaft gehört und in Frankfurt eine lange ,,Privataudienz" bei Leopold erhalten. 136 Dadurch sah er sich "in den Stand gesetzt", dem "Publikum über mehrere Punkte der Wahlkapitulation einige Aufklärung zu geben," wodurch es "künftig einmal zweideutige Auslegungen, oder mindermenschenfreundliche Anwendungen und Mißbräuche der hier erklärten Gesetze richtiger" beurteilen werde. 13? Crome hatte nicht die Absicht, einen vollständigen Kommentar zu schreiben, wie dies bereits Moser, Gerstlacher u. a. für frühere Kapitulationen getan hatten, 138 sondern wollte lediglich eine korrekte Edition lieferen. 139 Als "wesentlichere Vorzüge" seiner Edition nannte Crome, daß er die alte Zählung der Paragraphen mit aufführte und die von Johann Richard Roth in der offiziellen Edition benutzten "Privatrubriken" (das waren Überschriften, die die Orientierung erleichterten, aber kein Bestandteil der Urkunde waren), "verändert und verbessert" habe. 140 Wie viele der zeitgenössischen Autoren, äußerte sich auch 134 Crome, Wah1capitulation, 1791. Crome erweiterte seine Publikation später: Ders., Die Wahl kapitulation der Römischen Kaiser Leopolds des Zweiten - allerehrwürdigen Andenkens - und Franz des Zweiten, k.k. Majestät, mit historischen und publizistischen Anmerkungen und Erklärungen, nebst den dazugehörigen Kollegialschreiben und mehreren Aktenstükken, Lemgo 1794. Zu Crome (1753 - 1833) ADB 4, S. 606 f. Er hatte ab 1772 in Hal1e Theologie studiert und verbrachte anschließend mehrere Jahre als Hofmeister in Preußen. 1778 wurde er als Geograph und Historiker an das Dessauer Philanthropin gerufen und war 178386 Instruktor des Dessauischen Erbprinzen, bevor er als Professor der Statistik und Kamereralwissenschaft nach Gießen ging. Als Mitglied der Erfurter Akademie, die in mehrfacher Hinsicht eng an Dalberg gebunden war, war Crome diesem schon vor der Publikation verpflichtet. Auch das Verhältnis zu Kaiser Leopold 11. blieb gut, und der Kaiser betraute ihn mit der Übersetzung seines Rechenschaftsbericht über die Regierung der Toskana. Als Statistiker berühmt wurde Crome durch seine "Produktenkarte von Europa" (1782). 135 Crome, Wah1capitulation, in der auf der Widmung folgenden Anrede an Dalberg. 136 Ebd., S. 11, X u. S. 20-37. 1792 gehörte Crome zur kurbrandenburgischen Gesandtschaft und hatte zwei Audienzen bei Franz 11. der ihm eine der fünf vom Kaiser zu verleihenden lutherischen Präbenden als Belohnung für die von Leopold 11. in Auftrag gegebene Übersetzung des "Governo del1a Toscana" verlieh, DBA 209, 349-406. 137 Crome, Wah1capitulation, S. 11 u. VII. 138 Ebd., S. VI. 139 Ebd., S. III. Die offizielle Edition enthielt eine Reihe von teilweise sinnentstellenden Druckfehlern. Hinsichtlich der historischen Aspekte seiner Arbeit hatte Crome sein Gießener Kol1ege, der Jurist Helwig Bernhard Jaup, unterstützt. Ebd., S. III f. 140 Ebd., S. VI. Die weggelassenen Stel1en druckte er in den Anmerkungen. Zu Roth s. ADB 29, S. 315 f. Helmut Mathy, Über das Mainzer Erzkanzleramt in der Neuzeit. Stand und Aufgaben der Forschung, in: Geschichtliche Landeskunde 2 (1965), S. 109-149, S. 115121. Roth (1749-1813) war ehemaliger Jesuit und juristisch in Mainz, Heidelberg, Würzburg, Marburg und Göttingen ausgebildet.

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Crome zur Problematik der "Sprachverbesserung" der Wahlkapitulation. Er unterstützte diese Bemühungen im Sinne der Überlegungen Klübers. 141 Crome stellte fest, daß es manche Verbesserungen in der Kapitulation Leopolds gegeben habe. Einige seien zwar bloße "Sprachverbesserungen" und andere "nur eine richtigere Bestimmung der Gesetze",142 für letztere hätten aber insbesondere die Arbeiten Mosers und Gerstlachers "den hohen Wahlbotschaftern, selbst während den Wahlkonferenzen, gute Dienste geleistet". 143 Diese Nachricht mochte die Publizisten in ihrer Zuversicht bestärken, daß ihre Bemühungen, auch wenn ihnen der große Durchbruch diesmal noch nicht gelungen war, in der Zukunft noch Früchte tragen würden. Von Kaiser Leopold 11. hoffte der Gießener Gelehrte, daß dieser seine Wahlkapitulation zum Ausgangspunkt einer aktiven Reichspolitik mache und dabei den "mutigen Geist der Freiheits- und Gerechtigkeitsliebe" zeigen und die ,,Menschenrechte" ehren würde. 144 Aber auch die Sympathie des Gießener Professors für die Französische Revolution war unübersehbar. Er hatte seine Schrift noch im Mai 1791 beendet, also vor der Radikalisierung der Revolution. 145 Gleichwohl ist es bezeichnend, daß er den Begriff "Gleichheit" nicht verwendete. In den Erläuterungen seiner Edition erörterte Crome das Verhältnis zwischen den Verfassungsveränderungen in Frankreich und der Verfassungsdiskussion in Deutschland, und zwar im Zusammenhang mit Reflexionen über Zensur und Pressefreiheit. 146 Als Ausgangspunkt diente ihm die Verschärfung der Zensurbestimmungen in den Paragraphen sieben und acht des zweiten Artikels der jüngsten Leopoldina. Die "Einschränkung der Preßfreiheit in theologischer und politischer Hinsicht" war auch der Gegenstand seines Gespräches mit Leopold 11. während der Frankfurter Audienz gewesen. Dieses bot Crome die Möglichkeit, den Kaiser als Verteidiger einer gemäßigten Pressefreiheit zu zitieren. 147 Daß ein Stand oder gar das ganze Reich durch publizistische Schriften gefährdet werden könnten, hielt er für ausgeschlossen. Einschränkend fügte er hinzu, daß diese Schriften allerdings mit "Wahrheitsliebe und Bescheidenheit abgefaßt" sein müßten. 148 Einen "Umsturz der gegenwärtigen Reichsverfassung" wie 141 Crome, Wahlcapitulation, S. VII. Crome war der Überzeugung, die "Verteidiger der Barbarismen in der Sprache der Rechtsgelehrsamkeit" würden sich in Zukunft höchstens "ein mitleidiges Lächeln" zu ziehen, ebd., S. VIII. 142 Die abschließende Redaktion der Sprachverbesserungen oblag dem Mainzer Direktorialsekretär Roth, ebd., S. VII f. 143 Ebd., so auch das Protokoll des kurfürstlichen hohen Wahlkonvents zu Frankfurt im Jahre 1790, FrankfurtlM. 1791, S. 4, das Crome an dieser Stelle nannte. Beispiele für den direkten Einfluß Mosers und Gerstlachers auf die Tatigkeit des Wahlkonvents, ders., Wah\capitulation, S. 13. 144 Ebd., S. I u. X. 145 Die Vorrede am 20. und die Anrede an Dalberg ist am 25. Mai 1791 unterschrieben. 146 Ebd., S. 20-37. 147 Ebd. 148 Ebd., S. 30-37. Als Beispiel sittengefährdender und zu verbietender Schriften nannte er die Pasquillen des Hofrates Zimmermann in Hannover und Kotzebues anonyme Schrift

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in Frankreich hoffte er in Deutschland nicht befürchten zu müssen, da "hoffentlich in Deutschland die Untertanen nie so gedrückt, nie so unmenschlich und unpolitisch behandelt" würden wie dort. 149 Anschließend zählte er alle Umstände auf, die er für die Revolution für ursächlich hielt, und kam zu dem beruhigenden Schluß: "Dies alles ist ja in Deutschland gar nicht der Fall". 150 Die Reichsverfassung selbst sei "der beste Riegel gegen alle solche Unruhen und Rebellionen".151 Sofern ein Konsens erzielt war, hielt Crome Verfassungsänderungen weiterhin für legitim. Crome war überzeugt, daß die Revolution bei den Regenten einen lehrreichen Eindruck hinterlassen habe. Insgesamt sprach Crome sich dafür aus, die deutschen Verfassungsdiskussionen, unabhängig von den Ereignissen in Frankreich, weiterzuführen. Für die Fortführung der deutschen Verfassungsdiskussion trat auch der Stuttgarter Professor Wilhelm August Friedrich Danz ein. 152 Wie Crome hoffte Danz, die Reichspolitik durch die Veröffentlichung seiner Gedanken beeinflussen zu können. Drücke Crome dieses Verlangen in seiner programmatischen Adresse an den künftigen Erzkanzler des Reiches aus, so entfaltete Danz seine Überlegungen in einer später gedruckten Vorlesung anläßlich des Geburtstages des württembergischen Herzogs Karl Eugen am 2. Februar 1792 in der Stuttgarter Karlsschule. Die Werke von Crome und Danz waren nicht die einzigen, die eine große Nähe zwischen den publizistischen Reformanhängern und exponierten Vertretern der Reichspolitik belegen. Zwar kaprizierte sich Heinrich Wilhelm von Bülow, der seine "freimütigen und erläuternden Betrachtungen" über die neue Kapitulation dem Kurfürsten von Mainz, als Erzkanzler des Reiches, widmete, nicht auf eine Reform der Wahlkapitulation, 153 aber die Reformvorschläge Friedrich August Schmelzers - ein Versuch, "Dr. Bahrdt mit der eisernen Stirn", ebd., S. 30. Dies zeigt, daß Crome gerade die Aufklärung unter den Schutz der Zensur stellen wollte. Er war jedoch überzeugt, daß das Reich "fester gegründet" sei, als daß "Druckschriften es umstürzen könnten'" ebd., S. 33. Er verwies auf die unzähligen Schriften, die über den Westfälischen Frieden geschrieben worden seien, ohne das Reich zu erschüttern. Das Gleiche galt nach seiner Ansicht für die verschiedenen Wahlkapitulationen und viele andere Reichsgesetze. Namentlich nannte er "Moser, Gerstlacher, PüUer, Klüber u. a.m.", die verschiedene Reformvorschläge öffentlich vorgelegt hatten". 149 Ebd., S. 32 f. 150 Ebd. 151 In diesem Zusammenhang verwies er auf die Möglichkeit der Untertanen, ihr Recht auch gegen ihre Obrigkeiten bei den Reichsgerichten einzuklagen, ebd., S. 34. 152 Danz, Deutschland, (1794). Danz war gegen den Adel bzw. dessen Privilegien. Seine Einstellung zur Revolution war positiv, wenn er dergleichen auch für Deutschland nicht wünschte, ebd., S. 135 u. 163. Er bedauerte, daß die Wahlkapitulation von 1790 nicht für eine Verfassungsreform genutzt worden war, ebd., S. 141. Ihm erschien es als "die Pflicht eines jeden denkenden Bürgers, über die Verfassung des Staates, in dem er lebt, sorgfältig nachzudenken", ebd., S. 135. 153 Bülo~, Betrachtungen, 1791. Bülow ging die einzelnen Artikel der Reihe nach durch und erläuterte, welche Ereignisse unter der Regierung Josephs 11. die Veränderungen veran-

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die Wahlkapitulation Franz' 11. der zeitgenössischen Kanzleisprache anzupassen verdanken ihre Ausführung der Aufmunterung des Reichsvizekanzlers, des Fürsten Franz Gundaker zu Colloredo-Mannsfeld. Dieser nahm auch an der Erstellung des Werkes Anteil und wurde zum Adressaten der Widmung. 154 Die erste Idee zu dem Vorhaben wurde während des Wahltages von 1790 geboren. Die Ausführung unterblieb jedoch zunächst,155 erst auf dem Wahltag von 1792 fiel die Entscheidung für das ambitionierte Projekt, welches am 16. Mai 1793 vollendet wurde. Auch Schmelzer betonte, daß die Erwartungen bezüglich einer Refonn der Wahlkapitulation 1790 ihren Höhepunkt erreicht hatten,156 insgesamt habe es ebensowenig am Aufzeigen der Mängel gefehlt "als an Verbesserungsvorschlägen".157 ,,Manche Verbesserungen" seien vorgenommen worden, andere "aus Gründen deren Erheblichkeit nicht jedennann einleuchten dürfte," gescheitert. 158 Die Mehrzahl der Refonnvorschläge sei von der kurbraunschweigischen, der kunnainzischen und der kursächsischen Gesandtschaft gekommen, deren Höfe sich "gewöhnlich hierin zu unterstützen pflegten".159 Es handelte sich also um die im Fürstenbund vereinigten Kurhöfe, was die Blockierung der Refonnen erklärt. Wie 1741/42 und 1745 wurde die Refonnpartei auch 1790 und 1792 von Kurbraunschweig angeführt. Diese Vorreiterposition in den politischen Verhandlungen um eine Refonn der Wahlkapitulation erklärt sich dadurch, daß in der kurbraunschweigischen Wahldelegation die Vertreter des Reichsrechts ein besonderes Gewicht erlangten. 1745 und 1790 waren mit dem älteren Moser, Pütter und mit Klüber die bedeutendsten Reichsstaatsrechtsgelehrten ihrer Epoche für die Delegation gewonnen worden. l60 Andererseits drängte auch Österreich 1792 auf eine laßt hatten. Bülows Arbeit fand eine Ergänzung durch Karl Friedrich Häberlin, Pragmatische Geschichte der neuesten Kaiserlichen Wahlkapitulation Leipzig 1792, s. ebd., S. VII. Häberlin war als diplomatischer Vertreter seines Hofes und der schwäbischen Reichsstädte auf dem Wahlkonvent tätig. Sein ,.Anhang" (Leipzig 1793), war den Verhandlungen zur Kapitulation Franz' H. gewidmet. Zu Bülow (1748 -1810) DBA 160,257 -263. 154 Schmelzer, Wahlkapitulation, dem Werk vorangestellte Anrede an den Fürsten sowie S. X f. Schmelzer (1759 - 1842) war der Sohn eines Kirchenrates und Superintendenten, s. DBA 1112,383-389. 155 Da man mit dergleichen "Ieicht in den Fall kommen könne, vielen zu Mißfallen, und keinen Teil zu befriedigen", Schmelzer, Wahlkapitulation, S. X f. 156 Ebd., S. III f. 157 Ebd., S. V. 158 Ebd. Ähnlich äußerte sich [Rudulf Hommell, Briefe, S. 136, S. 137 -142, dort findet sich eine Auflistung der Änderungen. 159 Schmelzer, Wahlkapitulation, S. V f. Dies fand auch Crome "merkwürdig", ders., Wahlcapitulation, S. 9. Der Wiener Hof verhielt sich in den Verhandlungen passiv, Kurböhmen hatte kein einziges Monitum vorgebracht. 160 Als Joseph 11. 1790 starb, war die kurbraunschweigische Regierung bestens vorbereitet. Bereits ein Jahr zuvor hatte sie bei Pütter Denkschriften zu wünschenswerten Veränderungen der Kapitulation eingeholt, Jörn Eckert, Johann Stephan Pütters Gutachten über die Erneue-

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Neufassung der Wahlkapitulation, verzichtete aber - angesichts der Ereignisse in Frankreich - darauf, um die Kaiserwahl zu beschleunigen. 161 Schmelzer begann seine Ausführungen mit einer ausgedehnten "Rechenschaft über diesen Versuch einer Sprachreinigung der neuesten kaiserlichen Wahlkapitulation".162 Nach der Darstellung der Reformbemühungen seit 1741 und des vorliegenden Schrifttums galt der größte Teil seiner einleitenden methodischen Überlegungen der Auseinandersetzung mit den Arbeiten Klübers und Senkenbergs. Ihnen warf er vor, daß in ihren Entwürfen der Sinn der ursprünglichen Wahlkapitulation verloren gegangen sei. 163 Dagegen lobte der Helmstedter Professor die weit schonendere Vorgehensweise Mosers l64 und betonte die großen Schwierigkeiten, die sich ergäben, wenn die ,,Form eines Gesetzes oder Vertrages" geändert werden solle, ohne den Sinn zu verändern. Diese Schwierigkeiten seien der Grund gewesen, warum man sich in den Kapitulationsverhandlungen im Zweifelsfall stets leichter auf die Beibehaltung des Bestehenden geeinigt habe. 165 Schmelzers Ziel war es, "den echten Sinn der neuesten kaiserlichen Wahlkapitulation, auf eine ihrer Natur und der Würde ihres Gegenstandes angemessene Weise", in die Kanzleisprache seiner Zeit zu übersetzen. ,.Damit sie nicht nur denjenigen, die sie zunächst angeht, und deren verfeinerter Geschmack, durch ihr" jetziges Aussehen, "beleidigt" werde, in einer "anziehenderen Gestalt erscheine; sondern auch dem größeren Publikum unanstößiger, verständlicher und lesbarer werde.,,166 Für die Beibehaltung der vorgegebenen Ordnung führte er acht Gründe an,167 u. a. den, daß durch eine strukturelle Veränderung der Kapitulation ein großer Teil der staatsrechtlichen Literatur zu Makulatur werden würde. Schmelzer fand, daß dies unnötig sei, da die vorliegenden guten Parallelstellenverzeichnisse und Register eine Beibehaltung der bisherigen Ordnung unproblematisch machten. 168 Tatsächlich schien ihm ein Register nützlicher zu sein als systematische Kompendien la Klüber und Senkenberg. Er begründete dies mit der Möglichkeit, mittels der Register und trotz Beibehaltung der Struktur die systematische mit der alphabetischen Ordnung zu verbinden. 169 Diese Argumentation besagte im Grunde, daß die Vorarbeiten für eine Reform der Reichsverfassung nun die Reform selbst überflüs-

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rung der kaiserlichen Wahlkapitulation, in: Wilhelm Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich und moderne Staatlichkeit, FrankfurtlM. 1993, S. 67 -9l. 161 Alfred Kohler, Die Kaiserwahl von 1792: Erwartungen und Reaktionen im Reich, in: Brauneder (Hrsg.), Heiliges Römisches Reich, S. 29-40. 162 Schmelzer, Wahlkapitulation, S. I-LXX. 163 Ebd., S. XXVIII. 164 Ebd., S. XXXIII f. 165 Ebd., S. IX. 166 Ebd., S. XII u. XXII. 167 Ebd., S. XX-XXII. 168 Ebd., S. XXII. 169 Ebd., S. LXIX.

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sig gemacht hätten. Dennoch räumte er ein, daß die Systematisierung eine Aufgabe für das gesamte Reich sei. 170 Der Hauptteil seines Werkes umfaßte den zweispaltigen Abdruck der Kapitulation Franz' 11. im Original und in einer sprachlich überarbeiteten Version. 171 Hätte es eine weitere Wahlkapitulation gegeben, hätte diese redigierte Fassung, unabhängig von einer Systematisierung oder anders gearteten Reform, leichter an die Stelle der bisherigen Kapitulation treten können als die vorhergehenden Projekte. Die großen Entwürfe der Reformeuphorie der Jahre 1790 bis 1792 waren zugunsten der politischen Durchsetzbarkeit aufgegeben worden. Schmelzers Werk stellt den Endpunkt der ernsthaften juristischen Bemühungen um eine Reform der Wahlkapitulation dar. 172 Als Fazit aus der Diskussion um die Wahlkapitulationsreform in den I 790er Jahren ist festzuhalten, daß die Debatte bereits vor dem Beginn der Französischen Revolution sowie des Interregnums und der Kapitulationsverhandlungen einsetzte. Die Diskussion war durch die Gründung des Fürstenbundes 1785 erneut angestoßen worden und ging letztlich auf den Verfassungsreformauftrag des Westfälischen Friedens von 1648 zurück. Als die Revision der Verfassung anstand, waren bereits die ersten Entwürfe für eine aufgeklärte Reichsverfassung, nämlich die von Gerstlacher und Mohl, publiziert. Offensichtlich betrachteten die Reichsjuristen die Wahlkapitulation als den Ansatzpunkt für eine Verfassungsreform. 173 Ohnehin kam es bei jeder Kaiserwahl im Bereich der Wahlkapitulation zu einer partiellen Verfassungsreform, die allerdings unsystematisch und oft tagespolitisch motiviert war. Ferner forderte die Mehrheit der Reichsfürsten gegen die Interessen der Kurfürsten seit der Mitte des 17. Jahrhunderts den Entwurf einer neuen beständigen Wahlkapitulation auf dem Reichstag. Die beteiligten Juristen konnten also hoffen, ihre Entwürfe mit den Interessen einer mächtigen politischen Partei zu verbinden. Ihr mehrfach formuliertes Ziel bestand im Ausbau der Wahlkapitulation zum maßgeblichen, systematischen und beständigen Grundgesetz. Insgesamt belegt die bis Mitte der 1790er Jahre anhaltende Diskussion um die Reform der Wahlkapitulation, daß es im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch im Deutschen Reich zu einem Umbruch im Verfassungsverständnis gekommen war. Der Verfassungsbegriff wurde mit dem Vernunftrecht und der politischen Theorie der Aufklärung verbunden. Verfassung wurde nun als "innovatorischer Kodex zur Organisation, Begrenzung und Verteilung von Macht" verstanEbd., S. XLI. Ebd., S. 1-209. 172 Er verfaßte noch 1796 eine Abhandlung "Oe auctoritate pactorum capitulationi Caesare post informatam perpetuam adjectorum". 173 "Dies ist aber ein unbestrittener Satz, daß die Wahlkapitulation das einzige und das bequemste Mittel ist die Reichsverfassung zu befestigen", Politische Betrachtungen, No. 11, S.40. 170 171

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den. 174 Dies führte zu Verfassungsreformentwürfen und zur Orientierung des tradierten Reichsverfassungspatriotismus am Ideal einer reformierten Reichsverfassung. Die Publikationen zur Wahlkapitulation waren dabei keine abgehobenen theoretischen Erörterungen, sondern sie entstanden in Reaktion auf konkrete politische Anlässe und sollten unmittelbar auf die Ereignisse einwirken. Die Verfasser waren hochqualifizierte Experten, einige von ihnen hielten sich während der Wahlkonvente in offiziellen Missionen in Frankfurt auf. Zudem belegen Widmungen an Persönlichkeiten aus dem Bereich der hohen Politik ihre Beziehungen zur politischen Realität. Die Verfasser waren sich einig, daß eine neue Wahlkapitulation nicht von den Kurfürsten allein verfaßt werden konnte, sondern auf dem Reichstag beschlossen werden mußte, wie es schon der Westfälische Friede vorgesehen hatte. Durch die Verlagerung der Problematik auf den Reichstag sollte vermieden werden, daß die mächtigen Stände ihre Position als Kurfürsten dazu mißbrauchten, die eigene Landeshoheit auszubauen und gleichzeitig ihren Anteil an der Regierung des Reiches durch eine "reformierte" Kapitulation auf Kosten des Kaisers und der übrigen Stände auszudehnen. Übereinstimmend wurde auch die Notwendigkeit einer Systematisierung der Wahlkapitulation betont. Während zunächst eine thematische Strukturierung des Stoffes angestrebt wurde, traten Mohl und Senkenberg mit weitergehenden inhaltlichen Konzepten hervor. Mohl wollte mittels der Kapitulation die Reichsverfassung gemäß dem Schema der Gewaltenteilung gestalten; gleichzeitig betonte er, daß nur allgemeine Ausführungen und keine Detailregelungen festzusetzen seien. Deutlicher noch stellte Senkenberg fest, daß die programmatischen, auf die künftige Regierung bezogenen Äußerungen aus der Kapitulation zu entfernen seien und diese nur die Grenzen der kaiserlichen Gewalt beschreiben solle. Desgleichen bestand Konsens über die Notwendigkeit der "Sprachverbesserung". War der ältere Moser in den 40er Jahren lediglich um eine größere Verständlichkeit bemüht, ging es später um eine mehr oder weniger starke Nationalisierung der Sprache. Der radikalste Vertreter dieser Richtung war Senkenberg, bei dem auch die nationalstaatliche Konzeption am weitesten entwickelt war. Er war auch der einzige an dieser Diskussion beteiligte Jurist, der in den revolutionären Verfassungen Nordamerikas und Frankreichs ein Vorbild für das Reich erblickte, und zwar für den Aufbau eines laizistischen Staates. Crome und Danz, die ebenfalls auf die Französische Revolution eingingen, taten dies nur, um sich gegen die durch die Revolution ausgelöste Verschärfung der Zensur im Reich zu wenden und für einen selbständigen deutschen Verfassungsdiskurs einzutreten. Eine Vorbildfunktion für das Reich konnten sie in den französischen 174 Vgl. Horst Dippel. (Hrsg.), Die Anfange des Konstitutionalismus in Deutschland. Texte deutscher Verfassungsentwürfe am Ende des 18. Jahrhunderts, FrankfurtlM. 1991, S. 11.

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Vorgängen jedoch nicht erkennen. Dies ist um so bemerkenswerter, als beide eine durchaus positive Einstellung zur Revolution zeigten. Die Mehrheit der Juristen trat für eine Stärkung der kaiserlichen Position mittels der Kapitulation, insbesondere in der Exekutive, ein. 175 Die Verfasser, die sich um 1790/92 in diesem Sinne äußerten, distanzierten sich dadurch deutlich von den po-. litischen Zielen und der Propaganda des Fürstenbundes. Sie übernahmen jedoch keineswegs alle Positionen der Wiener Hofpublizistik. Ihr Ziel war eine im Sinne der Aufklärung rationalisierte Reichsverfassung. Die, im Vergleich zu den Verfassern der Tendenzschriften, große Unabhängigkeit der Autoren vom Kanon der reichsständischen oder kaiserlichen Positionen erlaubt es, hier, wenn nicht vom bürgerlichen, so doch vom Emanzipations- und Partizipationswillen der Gelehrten zu sprechen. Der Partizipationswille fand seinen Ausdruck nicht im Verlangen nach einer politischen Repräsentation, sondern in der Absicht, die Verfassung des Reiches mitzugestalten. Dazu gehörte das Beharren auf Publizität; keinesfalls sollte die Reichspublizistik durch die Verschärfung der Zensur infolge der Französischen Revolution beeinträchtigt werden. Natürlich mochten im Einzelfall wie bei Senkenberg, der sich um die Aufhebung seiner Verbannung bemühte, persönliche Interessen Bedeutung haben. Doch zeigen gerade seine Schriften wie auch die von Mohl im Detail, z. B. hinsichtlich des Reichshofrates, erhebliche Selbständigkeit gegenüber den Wiener Positionen, die in den Flugschriften der kaiserlichen Partei ihren Niederschlag gefunden haben. Es verwundert daher nicht, daß Mohl, dessen Konzept eindeutig auf die Stärkung der kaiserlichen Position zielte, anonym blieb. Sein Dienstherr, Herzog Karl Eugen von Württemberg, wird Mohls Ansichten kaum geteilt haben. Mehrfach findet sich die Behauptung, daß eine sinnvolle Ergänzung zwischen den Interessen der kaiserlichen Zentralregierung und denen der reichsmittelbaren Einwohner gäbe sowie die Forderung das die neue beständige Reichsverfassung nicht nur den Kaiser, sondern auch die reichsunmittelbaren Obrigkeiten binden müsse. Verschiedene Gründe lassen sich für das Scheitern der in den frühen 1790er Jahren so allgemein erwarteten Einführung einer beständigen geschriebenen Verfassung für das Reich anführen. Schon die Bestrebungen, eine konkurrierende Form der Legislative im Interregnum zu etablieren und deren Ergebnisse jeweils in die nächste Wahlkapitulation aufzunehmen, waren mit einer beständigen Wahlkapitulation nicht vereinbar. Zudem trauten sich die Kurfürsten nicht, selbständig eine Reform der Wahlkapitulation durchzuführen, da sie den Protest der Fürsten befürchteten. Andererseits waren die Kurfürsten bestrebt, ihr Kapitulationsrecht zu behaupten, und daher nicht geneigt, eine neue, beständige Kapitulation auf dem Reichstag aushandeln zu lassen, wie es bereits im Westfälischen Frieden vorgesehen war und von den Vertretern des Reichsstaatsrechts einhellig gefordert wurde.

175 Johann Christoph Brich von Springers Schrift "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, vermöge der Wahlkapitulation" [Mietau 1773] kann für diese Richtung als Vorläufer gelten.

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Zudem zeigen einige der Entwürfe, daß die Vertreter der Aufklärung sich in der Verfassungsdiskussion auch in Deutschland in einer Position mit zwei Fronten befanden. Die eine Gefechtslinie richtete sich gegen die zunehmend repressiven Obrigkeiten bzw. gegen Zensurverschärfungen. Die andere Kampflinie wandte sich gegen die unemanzipierten Unterschichten und ein Ausufern der Verfassungsdiskussion. Diese Konstellation war keine Folge der Revolution, diese wirkte nur als Katalysator, wie Cromes Hinweis auf den Streit zwischen dem reaktionären Hannoverischen Hofrat Zimmermann und den Berliner Aufklärern belegt. 176 Darüber hinaus waren, wie die Flugschriften belegen, die Frontstellungen der Fürstenbundzeit noch nicht überwunden. Auch auf Seiten der Juristen gab es Widerstände gegen den Versuch, durch eine revidierte Wahlkapitulation die Verfassung des Reiches zu modernisieren. Schmelzer formulierte sie, und andere teilten seine Ansicht, daß die Wahlkapitulation kein neues Gesetz sei und auch nicht sein solle, sondern nur den bisherigen Rechtszustand bekräftige. 177 Das zukunftsweisende Konzept der Volkssouveränität, das auch in Deutschland bekannt war und das man zur gleichen Zeit westlich des Rheins in die Verfassungsrealität umzusetzen versuchte, wurde in den Schriften zur Wahlkapitulationsreform nicht thematisiert. 178 Dies mag dazu beigetragen haben, daß dieses Schrifttum der Vergessenheit anheimfiel. Wenn die deutschen Diskussionsteilnehmer mit den französischen Ereignissen inhaltlich nicht Schritt hielten, so ist zu berücksichtigen, daß sie ein grundsätzlich anderes Interesse verfolgten. Sie wollten keine Revolution, sondern eine Verbesserung der bestehenden Verfassung. Wichtiger als Partizipation durch Repräsention war ihnen die Herrschaft des Gesetzes und dies bedeutete für sie auch Partizipation durch Publizität. Einiges spricht dafür, daß ihre Vorschläge den Verhältnissen durchaus angemessen waren, denn in der deutschen Verfassungsdiskussion nach 1815 stand zunächst nicht die Volkssouveränität, sondern die Konkretisierung des Begriffes "landständische Verfassung" im Vordergrund. Da die Entwürfe für eine neue Wahlkapitulation mit ihrer konzeptionellen Vielfalt und Originalität bereits Themen ansprechen, die noch nach 1815 die deutsche Verfassungsdiskussion beherrschten, ist Hartungs Urteil: "Alle diese Schriften sind lediglich aus der unstillbaren Schreiblust jenes tintenklecksenden Säkulums entstanden und auffallend arm an Gedanken", zu revidieren. 179 Auch die Auffassung der älteren Crome, Wah\capitulation, S. 30. Der Streit setzte Mitte der 1780er Jahre ein. S. einige Bemerkungen über die Worte unstreitig notorisch in der Kaiserlichen Wahlkapitulation, Art. XXII § 4, in: Göttingisches Historisches Magazin 5 (1789), S. 42-54, S.43 f. 178 Gleichwohl sahen Autoren wie Pütter die Volkssouveränität nicht mehr in der ständischen Gliederung verwurzelt, sie gingen von der bürgerlichen Gesellschaft aus. In diesem Sinne forderte Friedrich Karl von Moser Jahrzehnte vor der französischen Revolution ein direkt vom Volk gewähltes deutsches "Unterhaus" und die Umwandlung des überkommenen Reichstages in ein Oberhaus, ders., Patriotische Briefe, FrankfurtlM. 1767, S. 62 ff. Justus Möser beklagte zur gleichen Zeit mehrfach, daß es in Deutschland nicht zu einer Parlamentarisierung des politischen Lebens gekommen war, z. B. ders., Patriotische Phantasien (Bd. I, 1775), in: ders. Sämtliche Werke, 2. Abt., Bd. 4, Oldenburg 1943, S. 212 u. 217. 176 177

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Forschung: "Eine Kodifikation des gesamten Verfassungsrechts ist nie angestrebt worden, .. 180 kann als überholt gelten. Mit dem Ende des Wahlreiches erschienen im Jahre 1806 alle Arbeiten zur Wahlkapitulation als Makulatur, während große Teile des übrigen Reichsstaatsrechts, gerade von hervorragenden Vertretern des Faches wie Klüber, über den Rheinbund in die Zeit des Deutschen Bundes gerettet und weiterentwickelt wurden. Es scheint nichts dagegen zu sprechen, daß, nach den nur bescheidenen Erfolgen zu Beginn der 90er Jahre, die großen Anstrengungen der Juristen später doch noch Früchte getragen hätten. Doch fortan wurden alle politischen Energien durch die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzung mit Frankreich gebunden. 181 Dennoch kommt auch der Wahlkapitulationsdiskussion am Ende des Alten Reiches eine Bedeutung zu, die über 1806 hinausweist. Sie war nämlich der Rahmen in dem mehrere prominente Vertreter des Vormärzliberalismus ihre verfassungspolitischen Vorstellungen entwickelten. Benjamin von Mohl z. B. machte, nachdem er sich 1790 unter dem Schutze der Anonymität für die Gewaltenteilung als Verfassungsprinzip eingesetzt hatte, noch in jungen Jahren steile Karriere im württembergischen Staatsdienst. Doch erlitt seine Karriere, nachdem der 1807 zum Leiter des Polizeidepartements bestellt worden war, einen Einbruch, da er sich weigerte, einen Befehl König Friedrichs 1., den er für verfassungswidrig hielt, gegen politisch Angeklagte zu vollstrecken. Obwohl er gerade Familienvater geworden war, bestand er auch nun auf der Gewaltenteilung und bat um seine Entlassung. Erst 1811 kehrte die Gnade des Königs teilweise zurück; Mohl wurde zum Staatsrat ernannt und dem Medizinal- und Staßenbauwesen vorgesetzt, was seinen Neigungen eher fern lag. 1818, mit dem Regierungsantritt König Wilhelms 1., besserte sich seine Lage, er wurde Regierungspräsident eines Kreises und 1820 zum lebenslangen Mitglied der Kammer der Standesherren ernannt, wo er die formelle Leitung der Kammergeschäfte ausübte. 1830, in Frankreich und Belgien hatte die Revolution ihr Haupt erneut erhoben, übernahm er das Ministerium des Inneren. Von 1831 bis 1843, als er aus dem Dienst ausschied, war er zudem Präsident des Oberkonsistoriums, er starb 1845. Man wird ihn in seinen letzten Lebensjahrzehnten als konservativen Liberalen bezeichnen können. In kaum einem der Nekrologe, die unmittelbar vor der Märzrevolution auf ihn erschienen, wurde es unterlassen, auf seine heroische, persönliche Nachteile in Kauf nehmende, Verteidigung der Verfassungsprinzipien gegenüber dem Fürsten hinzuweisen. 182 Hartung, Wahlkapitulation, S. 310, mit ausdrücklichen Bezug auf Klübers Schrift. Fritz Dickmann, Der Westfälische Friede und die Reichsverfassung, in: Max Braubach (Hrsg.): Forschungen und Studien zur Geschichte des Westfälischen Friedens, Bd. I, Münster 1965, S. 5-32, S. 9. 181 Feine zeigt sich hingegen überzeugt, daß die Reform durch reichsinteme Gründe gescheitert sei. Ders., Verfassungsentwicklung, S. 83. 182 DBA 853, 91- \01. 179

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August Friedrich Crome, seit 1786 Professor für Statistik und Kameralistik in Gießen, der 1791 seine Sympathie für die Revolution bekundet hatte, wurde angesichts der Zeitumstände 1797 Mitglied der in Gießen niedergesetzten Landeskriegskommission und führte, teilweise unter Einsatz seines Lebens, sämtliche Verhandlungen mit den Kommandanten, der bis 1799 ununterbrochen im Lande stehenden Franzosen. Er trug dadurch wesentlich zum Bestand des badischen Staates bei. Zu Beginn der Befreiungskriege verteidigte er das Rheinbundsystems, was ihn fast seine Professur gekostet hätte und ihn vorübergehend zwang, sich ins Exil zu begeben. 183 1817 verfaßte er in Fortführung seiner bereits früher bekundeten Ansichten eine Schrift "Ueber Deutschlands und Europens Staats- und NationalInteresse -, vorzüglich in Betreff des germanischen Staaten-Bundes, und der in Deutschland allgemein einzuführenden landständischen Verfassung".184 Als ,,Nestor der Statistiker" starb er 1833. 185 Johann Ludwig Klüber wurde nach 1815 zum maßgeblichen deutschen Staatsrechtler. Er hatte die Akten des Rastatter und des Wiener Kongresses ediert und die entscheidenen Dokumentationen und Darstellungen zum Völkerrecht und zum Staatsrecht des Rheinbundes und des Deutschen Bundes publiziert. Sein Ruf "verlieh seinem Urteil eine fast autoritativ zu nennende Geltung". 186 Er hatte hohe Ämter erst im badischen, dann im preußischen Staatsdienst inne. Unter Hardenberg regelte er die Rechtsstellung der preußischen Standesherren, war an der Abwicklung des Großherzogtums Frankfurt beteiligt und nahm 1822 am Kongreß von Aachen teil. Nach Hardenbergs Tod, 1822, sah sich Klüber jedoch in Preußen gezwungen, sich wegen der in der Neuauflage seiner Darstellung "Öffentliches Recht des Deutschen Bundes und der Bundesstaaten" zu verantworten. Denn hier hatte er bereits in der ersten Auflage 1817 seine Sympathien für die südwestdeutschen Verfassungsstaaten geäußerten, in deren Institutionen sich seine Mitdiskutanten aus der Wahlkapitulationsdiskussion der 1790er Jahre, Corme und Mohl engagieren. Wie vor ihm Mohl nahm er dies zum Anlaß den Staatsdienst zu quitieren. Als 1823 eine preußischen Verordnung das Recht der Entscheidung über die Auslegung und Anwendung von Staatsverträgen in Zweifelsfällen den Richtern entzog und dem Ministerium des Außwärtigen zusprach, plädierte Klüber öffentlich für die Gewaltenteilung. 187 In einer Untersuchung, der er ein Motto von Montesquieu vorranstellte, belegte er, daß eine Verordnung auf Antrag des Außenministeriums kein Gesetz sei und verlangte, daß sich das Richteramt im Reich der Gesetze "frei bewegen" solle. 188 Wie Crome und Mohl hochgeachtet, starb Klüber 1837. Aber noch im unCrome, Deutschlands Krise und Rettung im April 1813, Leipzig 1813. Gießen 1817. 185 DBA 209,349-406. 186 DBA 666, 277. 187 Klüber, Die Selbständigkeit des Richteramtes und die Unabhängigkeit seiner Urtheile im Rechtsprechen, Frankfurt/M. 1832. 188 Ebd., S. 24. 183

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mittelbaren Vorfeld der Märzrevolution, 1844 und 1845, edierte Karl Theodor Welcker "aus dessen Papieren" "Wichtige Urkunden für den Rechtszustand der deutschen Nation". 189 Als Fazit dieser prosopographischen Betrachtung läßt sich festhalten, daß die nach 1815 noch lebenden Teilnehmer der Wahlkapitulationsdiskussion der 1790er Jahre sich aktiv in den Institutionen oder publizistisch am konstitutionellen Leben im Deutschen Bund beteiligten. 190 Sie hielten dabei an ihren Idealen fest, die sie im Rahmen der Reichspolitik und -verfassung entwickelt hatten. Durchweg betrachteten sie nämlich das Reich als einen zu verteidigenden und auszubauenden Rechts- und Verfassungsstaat. Dieses Ideal übertrugen sie nach dem Ende des Reiches auf die neuen staatsrechtlichen Rahmenbedingungen. Dies machte sie in den Augen ihrer Zeitgenossen und der Nachwelt, die die Ursprünge ihrer Vorstellungen nicht mehr sah, zu Liberalen. Daß die nachwirkende Kultur der Reichspublizistik zur Entfaltung des konstitutionellen Lebens in Deutschland beitrug, ließe sich auch an Karl Heinrich Ludwig Pölitz zeigen, der die zeitgenössischen Vorstellungen und das spätere Bild des Konstitutionalismus wesentlich prägte. Maßgeblichen Einfluß gewann seine Schrift "Das constitutionelle Leben nach seinen Formen und Bedingungen,d91 wie seine "Staatswissenschaftliche[n] Vorlesungen für die gebildeten Stände in constitutionellen Staaten".I92 Pölitz arbeitete mit Rotteck und Welker zusammen und steht am Beginn der modernen Verfassungskomparatistik. 1817 veröffentlichte er erstmals sein Kompendium der "Constitutionen der europäischen Staaten",193 das im Laufe der folgenden Jahrzehnte beständig erweitert wurde und auch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika einschloß. Es stellte, ähnlich wie die Kompendien der Reichsstaatsrechtspublizistik die wissenschaftlichen Voraussetzungen für die Verfassungsreformdiskussion der I 790er Jahre geliefert hatten, die empirische Grundlage für die Verfassungsdiskussionen bis zur Märzrevolution von 1848 bereit. Pölitz Bemühungen führten nicht unmittelbar zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichtsschreibung, doch Fritz Hartung, der sich nach 1918 intensiv um eine allgemeine vergleichende Verfassungsgeschichte bemühte, hatte 1911 die erste moderne wissenschaftliche Abhandlung zu den Wahlkapitulationen der Oberhäupter des Alten Reiches verfaßt. 194 Dabei war ihm jedoch die Wahlkapitulationsreformdiskussion in den 1790er Jahren entgangen, da er davon ausging, daß die Mannheim 1844 [2. unv. Auf). ebd. 1845]. Riegger war 1795 verstorben, Danz 1803, Kruse 1806, Häberlin 1808, Bülow 1810, Roth 1813, Schme1zer starb zwar erst 1842, trat aber nach dem Antritt seiner Professur in Halle 1810 nicht mehr besonders hervor. 191 Leipzig 1831. 192 3. Bde., Leipzig 1831, 1832 u. 1833. 193 Leipzig 1817. 194 Hartung, Wahlkapitulation. 189

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Diskussion mit dem Scheitern der Perpetua 1711 im wesentlichen beendet war. So blieb es einer späteren Zeit vorbehalten, die große deutsche Verfassungsdiskussion im Zeitalter der Aufklärung zu entdecken und in ihr die Ursprünge des konstitutionellen Denkens in Deutschland zu finden.

Von den Verfassungskämpfen der Stände zum modernen Konstitutionalismus Das Beispiel Württemberg Von Hartwig Brandt Die Verfassungen der nachnapoleonischen Epoche begannen einen langen Marsch durch eine politische Modeme, die in der Französischen Revolution schon experimentell erprobt war. Aber sie fingen noch einmal von vom an, sie verwarfen die radikalen Vorlagen: den republikanischen Flächenstaat, die politische Direktherrschaft und das allgemeine Stimmrecht. An ihre Stelle traten die zurückkehrende Erbmonarchie, Zensuswahlrecht und "landständische Repräsentationen". Wie in der Außenpolitik die Metapher des Gleichgewichts zu jener der Epoche wurde, so auch in der inneren Politik. Fürstliche Spitze und Landesvertretung, wie immer man ihre Rechte verteilte und definierte, sollten sich gegenseitig die Waage halten. Andere haben, mit anderen Argumenten, von einem Dualismus der Kräfte gesprochen. Einem Dualismus, der nie ganz gleichgewichtig war, zumeist zugunsten der fürstlichen Gewalt. Prototyp des neuen, des nachrevolutionären Verfassungssystems war die französische Charte Constitutionnelle von 1814. Sie restaurierte die Monarchie und erneuerte mit ihr Gottesgnadentum und Geblütsrecht. Aber sie respektierte auch den Code Civil und damit das durch Revolution und Napoleon gestiftete bürgerliche Besitzrecht. Sie reservierte der Krone den Vorrang der Entscheidung in der Politik, aber sie schuf auch eine Repräsentation der Gesellschaft, eine parlamentarische Vertretung, die das Recht hatte, über Steuern und Gesetze mitzubestimmen. Das neue System lebte in der Spannung zweier Letztbegründungen von Herrschaft: Die Staatsspitze amtierte kraft Erbrecht, die Kammern amtierten kraft Wahl. Die Wahl war ein rationales Prinzip und signalisierte Zukunft, Erwartung. Das Erbrecht mit den ihm anhängenden Prärogativen lebte vom Nimbus, von der Tradition. In diesem Widerspruch lagen fast alle Verfassungskonflikte der folgenden Jahrzehnte beschlossen. Die Geschichte der neueren, der geschriebenen Verfassungen beginnt in Deutschland, nach dem Vorspiel der Rheinbundstaaten, um 1815, und sie hat 1819 einen ersten Wendepunkt ihres Weges erreicht. Napoleonherrschaft und Karlsbader Konferenz sind die Zeitschranken einer Epoche, aus deren Gärungen und Spannungen das Wiener Kongreßsystem hervorging, aber eben auch der Verfassungsstaat 7"

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und mit ihm die "Iandständischen Versammlungen", das Herzstück der inneren Reformen. Die Verfassungen selbst, ob sie noch ständisches Herkommen mit sich führten oder schon repräsentativstaatlich waren im modemen Sinne, sie waren doch vor allem Verbürgungen der Freiheit. Sie garantierten politische Mitsprache und regelten Steuerbewilligung und Kontrolle. Mit der schriftlichen Festlegung des öffentlichen Rechts, mit der irreversiblen Selbstbindung der Staatsspitze war das Terrain des Absolutismus verlassen. "Verfassungen" beherrschten um 1815 die öffentliche, die publizistische Diskussion in einem Maße, wie dies später nicht mehr vorgekommen ist und den Nachlebenden auch schwer begreifbar erscheint. "Verfassungen" beherrschten aber auch das Planen der Regierungen. Eine Reihe von Staaten ergriff schon früh den Gedanken und hat ihn für ihre Zwecke genutzt, so Baden, Bayern, Württemberg und Hessen-Darmstadt. Daneben, wiewohl unterschiedlich in ihrem Willen und ihrer Fähigkeit, Modemes zu schaffen, auch eine Reihe von Kleinstaaten. Österreich und Preußen, jenes in offener Gegnerschaft, dieses mit verdeckten Karten spielend, haben die Konstitution hingegen verweigert. Der Vorgang zählt zu jenen Hypotheken, mit denen das Jahrhundert zu kämpfen hatte. In Deutschland gingen die Verfassungen durch die Schule der Bürokratie. Sie waren nicht Eroberungen des Bürgertums, der "GeseIlschaft" oder sonst einer Kraft, die gegen die Obrigkeit aufbegehrte. Sie waren Werkzeuge der Staatsspitze. Wie die aufgeklärten Fürsten des 18. Jahrhunderts mit der revolutionären Vertragslehre spielten, um ihrem Regiment eine fortschrittliche Legitimation zu verschaffen, so nutzten die Regierungen nach 1815 den Bonus der Konstitution. Sie gewährten Verfassungen, um heterogene Gebietsherrschaften zusammenzuführen, um die Einwohnerschaft zur Wahlbürgerschaft zu einen, um den derangierten Staatskredit zu verbessern. Die Gefahr, Ständeversammlungen könnten, wenn sie einmal begründet seien, zu einer Gegenkraft im Staat sich entwickeln, erschien den Administratoren gering. Ihre Sorge galt dem inneren Zusammenhang und der äußeren Selbständigkeit von Staaten, die der verbindenden Tradition entbehrten. Am entschiedensten war der Verfassungswille in den süddeutschen Staaten. Am entschiedensten hier auch der Wille, den französischen "Atomismus" zur Leitlinie der Verfassungsgebung zu nehmen. Denn Verfassungsgebung hieß hier Souveränitätsbehauptung, und die Probe darauf war die Zähmung des Hochadels mit den Mitteln des Staates, Verhinderung einer Restitution alter Reichsrechte auf eigenem Territorium. Jede Konzession an das Ständeprinzip konnte die Verwaltung um ein Stück ihres Erfolges bringen. Dabei stand zunächst durchaus dahin, ob eine Integration durch Verfassungsstiftung überhaupt gelingen werde. Und dies bis in die hohe Zeit des Wiener Kongresses, bis zu jenem Zeitpunkt seiner Beratungen, als der Plan gehandelt wurde, den Rittern in einer künftigen Reichsspitze, im "Rat der Fürsten", Sitz und Stimme zu verschaffen. Württemberg tat den ersten Schritt in die Richtung einer neuen, einer atomistischen Verfassung. Protagonist war der Landesherr selbst, König Friedrich, der

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Spätabsolutist, der Einiger des Landes, aber auch sein Vergrößerer in napoleonischer Zeit. Sein Verfassungsentwurf von 1815 war individualistisch und zensusliberal, aber keine Fassadenkonstruktion nach Art des Rheinbundes. Neben den Vertretern der Städte und Oberämter gab er den Häuptern der 31 mediatisierten gräflichen und fürstlichen Familien Sitz und Stimme in der Kammer. Freilich war die Verfassungsinitiative von Anbeginn ein Spiel mit unbekannten Faktoren. Sie sollte, nehmen wir nur diese Seite in Augenschein, die Mediatisierten zu Staatsmitgliedern disziplinieren und bot als Gegenleistung parlamentarische Mitwirkung an. Sie war der Versuch, den Adel verfassungsrechtlich zu binden und dadurch als politische Kraft zu schwächen. Sie war aber auch ein Bemühen, noch ausstehende Festlegungen des Bundes durch landesrecht liehe Präjudizien zu unterlaufen. Denn weder war zu diesem Zeitpunkt über die staatsrechtliche Stellung der Mediatisierten entschieden noch über den Umfang ständisch-parlamentarischer Rechte das letzte Wort gesprochen. Friedrichs Plan war ein Akt vorbeugender Politik. Nichts anderes waren die Beweggründe der Verfassungsstifter in Baden und Bayern einige Jahre später. Die Furcht vor der aItständischen, durch Bundesbeschluß befestigten Restauration ging um. Sie zu beruhigen, wurden Verfassungen aus liberal-bürokratischem Geist geschaffen. Die Vorgeschichte der Verfassungsgebung selbst war zunächst und vor allem die Geschichte König Friedrichs 1., einer brachialen, zielstrebig planierenden Natur. Er löste 1805 den alten Landtag auf und brachte Württemberg einen späten, napoleonisch durchwirkten Absolutismus: Er fügte die chaotische Vielfalt territorialer Neuzugänge mit brutaler Hand zusammen. Aber als Napoleon gefallen war, zeigte er sich empfanglieh für die Signale des Neuen. Gerade die Ablehnung, die seinem autokratischen Regime bis dahin entgegenschlug, ließ ihn dessen Legitimationsbedürftigkeit erkennen; gerade die Heterogenität des Staates ließ ihn zum Praktiker der Verfassungsgebung werden. Dabei verkannte der Stratege das Zweischneidige der Unternehmung, auf die er sich einließ, nicht. Er war bestrebt, den Adel, der allenthalben mit Restaurationsansprüchen hervortrat, an die Institutionen des Staates zu binden, aber er rief doch zugleich jene Geister wieder auf den Plan, die er fast ein Jahrzehnt gebannt hatte. Der Verfassungsentwurf, den Friedrich im Januar 1815 in seinen Grundzügen der Öffentlichkeit mitteilte und den er im März einer nach Stuttgart einberufenen allgemeinen Ständeversammfung übergab, war ein Novum in Deutschland. Er war individualistisch und repräsentativ staatlich. Einkammersystem, Distriktprinzip, Gesetzeszustimmung und Steuerbewilligung waren die Stützpfeiler, welche ihn trugen. Das Angebot, das der König in schwieriger, zudem in bundespolitischer Schwebelage unterbreitete, hat Stürme entfacht, die das Land in zwei Lager spalteten und damit die Absicht der Initiative in ihr Gegenteil verkehrten. KonflikthaItig war vor allem der Entwurf selbst, der durch seinen antikorporativen Geist die Gegenseite, die Anhänger des alten Rechts, empörte.

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Dies zunächst und dazu der Beifall, den das Schauspiel auch in anderen Staaten hervorrief, verbanden sich zu einer Opposition, die der Regierung in fast aIIen Belangen kompromißlos widerstand. Das Wahlgesetz hatte die Beamten, unter denen Friedrich die heftigsten Parteigänger des alten Landtags vermutete, vom passiven Stimmrecht ausgeschlossen, aber Schreiber und Advokaten, rückwärts gewandt und fanatisch wie jene, traten für die Verhinderten in die vorderste Front. Im Verein mit städtischen Honoratioren und hohem und niederem Adel bildeten sie eine Koalition, die in der Geschichte des Landes ohne Beispiel war. Der Streit der Positionen, der in Deutschland weite Kreise zog und den Altrechtlern zunächst die Sympathien bescherte, war in der Sache nicht zu überbrücken. Er war ein Kampf des modemen Staates gegen einen vormodernen Pluralismus. Die Glaubensartikel, welche die AltrechtIer wie Monstranzen vor sich herführten, hießen ständische Steuerkasse und permanenter Ausschuß. Die Verfassungsvorlage selbst blieb dabei auf der Strecke. Erst unter Friedrichs Nachfolger, seinem Sohn Wilhelm, wurde der Konflikt beendet. Denn inzwischen begann die Front des "alten Rechts" zu brechen. Schon 1816 hatten einige ihrer bekannteren Figuren, der Verleger Cotta und der Advokat Griesinger, der Partei aufgekündigt. Im Spätjahr 1817 traten ihre Wortführer BoIIey, Fischer und Weishaar in eine von der Regierung geschaffene Reformkommission ein. In ihr vermutlich wurden die AltrechtIer gouvernemental, in ihr vermutlich schon wurde die neue Verfassung geboren. Diese selbst kam nicht durch Oktroi, sondern durch Vereinbarung zustande. Die Stadien der Verfassungsgebung (Wahl der Konstituante, BesteIIung der Kommissäre, Beratungen im Plenum) boten zu den vorausgegangenen Kämpfen einen scharfen Kontrast. Nicht der Gegensatz von Regierung und regierungsfeindlicher Opposition gab ihnen die Prägung, sondern die Bemühungen der Akteure des Bündnisses, die breite Anhängerschaft auf die neue Linie zu zwingen. Am Ende stand eine vereinbarte Verfassung. Aber der Pakt zwischen Administration und Ständeversammlung, der sie möglich machte, war eine Vereinbarung zwischen monarchischer Regierung und zur Politik der Regierung bekehrten Ständen. Der Weg zur Verfassungsgebung war frei, weil es die Partei des "alten Rechts" nicht mehr gab. Noch einmal: Die Verfassung selbst·war ein Stück Staatsreform wie in Baden, Bayern und anderswo. Daß sie vereinbart wurde, war eine Angelegenheit der Psychologie, keine Frage der Macht, weIche diesen Weg unvermeidbar machte. So schließt mit dem Verfassungskampf von 1815 -19, in dem das alte Württemberg gegen das neue aufgestanden war, eine Epoche des Landes. Die Söldner des alten Rechts verdingten sich bei der Regierung und beim König. Nur wenige unter Ihnen, Ludwig Uhland und Albert Schott, wechselten später ins liberale Lager hinüber. Aber die Strecke war weit, für Uhland zumal. Daß von aItständischer Denkungsart kein Weg in die liberale und parlamentarische Modeme führte, hat er lange Zeit, auch gegen heftige Vorhaltungen seines Freundes lustinus Kerner, nicht anerkennen woIIen. Erst später, seit etwa 1830 ist ihm das Unvereinbare bewußt

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geworden. Aber der Sänger des alten Rechts hat ihm ein Leben lang im Wege gestanden, dem Deputierten der Stadt Stuttgart im Landtag 1833 - 38, dem Abgeordneten der Paulskirche, dem Getreuen des Stuttgarter Rumpfparlaments. Die 20er Jahre, die auf die Verfassungsstiftungen folgten, schienen das Kalkül der Verfassungsmacher im großen und ganzen zu bestätigen. Die Ständeversammlungen, beherrscht selbst von Beamten, bewährten sich als Verlängerungen der Bürokratie in die Staatsgesellschaft, die Wahlen wurden fast durchweg von den Behörden gesteuert. Die Abgeordneten standen in der Abhängigkeit derer, welche die Mandate vergaben. Die Indolenz in der Wahlbevölkerung korrespondierte mit einem Mangel an Opposition in den Kammern. Mit anderen Worten: Die Repression von Karlsbad begünstigte das administrative Kalkül. Zur parlamentarischen Gruppenbildung in den Landtagen fehlten die politisch-gesellschaftlichen Impulse, fehlte ein Widerspruchsgeist, der sich zu kompakter Organisation hätte verfestigen können. Dies waren die Verhältnisse in fast allen konstitutionellen Staaten nach 1815. Dies waren die Verhältnisse auch in Württemberg. Es herrschte die Revolutionsfurcht unter den Regierenden. Daß von Beamten beherrschte Oppositionen der Administration Widerstand bieten könnten, dies lag außerhalb des Gesichtskreises der Verwaltungsstrategen. Alles dies hat sich nach 1830 grundlegend verändert. Das Jahr 1830 ist eine Epochenwende von jener Sorte, welche sich weniger durch umwälzende Geschehnisse, durch politische Weichenstellungen irgendwelcher Art hervorgetan hat, sondern durch einen Wandel von Verhältnissen und Denkweisen bezeichnet ist. Da war vor allem die Verfassungslage, die gänzlich anders sich darbot als zuvor. Denn jetzt erst eigentlich, ein Jahrzehnt und mehr nach den Stiftungen, begannen die Liberalen sich die Verfassungen anzueignen, sie bürokratischer Verfügbarkeit zu entziehen. Grundrechte, Steuer- und Budgetbewillung, Ministerkontrolle und Teilhabe an der Gesetzgebung wurden eingefordert und politisch auf die Probe gestellt. Freilich ist die Nutzung der Sprengkraft der Verfassungen gegen ihre Urheber, ist die Verwandlung konstitutioneller Texte in konstitutionelles Leben nur ein Teil jenes Umbruchs von 1830 gewesen, der in Deutschland das Ancien regime beschloß. Der Aggregatzustand der öffentlichen Verhältnisse wurde flüssiger, ja diese selbst begannen nun erst eigentlich politische Qualität zu gewinnen. Der Bevormundung durch die herkömmlichen Institutionen entraten, gelangte das Politische auf den Markt. Politik und Öffentlichkeit wurden über Strecken zu Synonymen. In Württemberg vollzog sich der hier bezeichnete Wandel auf exemplarische Weise. Zwar gab es keine Revolution, keinen Schloßbrand wie in Braunschweig, zwar fehlten revoltenhafte Zustände wie in Sachsen und in den Rheinlanden, zwar gab es keine neue Verfassung wie in Kurhessen, aber es gab den Enthusiasmus für die aufständischen Polen, es gab die politische Konspiration der Hardegg, Koseritz und Franckh, und es gab den Tübingern Gögenaufstand von 1831, die Tübinger Revolution, wie man damals, vom Hegelschen Weltgeist beflügelt, gesagt hat.

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Man studierte, wo es noch an einheimischen Identifikationsfiguren fehlte, die Reden der Franzosen Lafayette, Perier und Thiers. Friedrich Silcher, der Tübinger Chorleiter, bereicherte das Repertoire der Liedertafel durch die Einübung der Marseillaise. Und da gab es schließlich eine Zeitung, "Hochwächter" mit Namen, ein Kulturblatt, ein Produkt aus dem wohlrenommierten Hause Cotta. Binnen kurzem verwandelte sie sich in ein Partei blatt, in eine Zitadelle der Bewegungsleute, der Liberalen. Der dies zuwege brachte, war ein junger Schöngeist, ein Feuerkopf, Rudolf Lohbauer mit Namen. Fragen wir nach einer Verfassung, so fragen wir zuerst nach der politischen Gesellschaft, nach dem Grad der Mitwirkung der Bevölkerung an den politischen Dingen. Wir fragen nach dem Parlament und wer es bestellte. Wer waren die Wähler, wer die Abgeordneten, wie wurde die Körperschaft konstituiert? Im Ganzen: Kein Parlament des 19. Jahrhunderts wurde demokratisch gewählt, aber es gab doch einige, die demokratischer bestellt wurden als andere. Man hat vom Zensus-Wahlrecht gesprochen, um der Praxis der Epoche den rechten Namen zu geben. Und dies ist richtig, und dies ist über Strecken eine zutreffende Bezeichnung. Aber es gab eben auch solche Staaten, in denen die materiellen Anforderungen an das Wahlrecht gering waren, in denen ein einziger Gulden Steuerleistung bereits hinreichte, um Wahlbürger zu werden. Zu diesen Staaten zählte Baden, aber auch Württemberg. Bis zu 15% und mehr der Bevölkerung haben hier bis 1868, bis zur Dekretierung des allgemeinen Stimmrechts, an den Wahlen teilgenommen. Nach 1870, unter den Bedingungen des allgemeinen Wahlrechts im Kaiserreich, waren es nur unwesentlich mehr. Unter 3% liegen indes die Zahlen für England und Frankreich. Mit den Maßstäben der Zeit gemessen, ist das Württemberg nach 1819 ein fast demokratischer Staat zu nennen. Gewählt wurde öffentlich, dies ist für heutige Vorstellungen ein befremdlicher Vorgang. War Wählen selbst damals schon ein die sozialen Verhältnisse bewegender, ein gänzlich neuer Vorgang, so trug das öffentliche Wählen die Politik vollends in Bezirke, in denen sie bis dahin nicht zu Hause war: in die Zünfte, in die Dörfer, in die Familien. Und schließlich dies: Verfolgen wir die Ergebnisse der württembergischen Landtagswahlen über die Jahre hinweg, so tritt uns eine auffällige soziale Inkongruenz von Wählerschaft und Gewählten entgegen. Dominierten bei den Urwählern und in den Wahlmännerlisten Handwerker und Kleinbauern bis zu 98%, so waren diese im Landtag selbst nur mit wenigen Figuren vertreten. Hier dominierten vielmehr die Advokaten und Professoren, die Appellationsgerichtsräte und Notare, die Apotheker und Lehrer, also das, was wir als Bildungsbürgertum zu bezeichnen pflegen. Freilich nicht, weil sie das Wahlrecht begünstigt hätte, dies ist nun deutlich, sondern, weil sich die Wählenden eben so entschieden. Und hier findet die Redeweise vom Zensus-Wahlrecht nun ihre Begrenzung. Übrigens ist uns die Sache selbst ja auch von der Paulskirche bekannt. Über die Gründe indes mag man streiten. War

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es verbreitete Meinung, dem geistigen Anspruch des Mandats nicht gewachsen zu sein? War es die Nicht-Abkömmlichkeit von den beruflichen Geschäften? Über Gewißheit verfügen wir nicht. Ich möchte, meine Darlegung fortführend, eingehen auf drei Elemente des konstitutioneIlen Systems, wie sie sich in Württemberg darbieten: der RoIle des Parlaments als Öffentlichkeit, der Herausbildung von Wahlklubs und Fraktionen, den Ansätzen eines parlamentarischen Systems. Zum ersten: Parlamente steIlten im Haushalt von Politik und Kultur des 19. J ahrhunderts etwas ganz anderes dar als heute. Und dies namentlich bis 1848, als das öffentliche Leben unter Zensur stand. Die Kammern waren Enklaven der ungehinderten politischen Mitteilung in einem Umfeld präventiv und schikanös geübter Zensur, oder, wie es Ludwig Börne, den Zustand mit einem schönen Apeccru bezeichnend, gesagt hat: "Daß die Freiheit nicht frei im Lande herumlaufe, hat man sie in eine Kammer gesperrt." Freilich war dies nicht alles. Fast drei Jahrzehnte verwalteten die Landtage die politische Meinungsfreiheit wie ein Monopol. In ihren Debatten herrschte, wenn auch vielerorts eher virtueIl als praktisch, jenes freie Wort, das der Presse verwehrt war. Die Sitzungsprotokolle boten dem Publikum jene Zeitung, jene Information, welche der Leser in Tagblättern und Broschüren vergeblich suchte. Durch all dies ist der zentrale Ort des Parlaments in der GeseIlschaft des 19. Jahrhunderts, des frühen zumal, definiert. Da war einmal das Geschäftsverfahren, hier das des württembergischen Landtags, welches solchen Ansprüchen Rechnung trug. Es galt Anwesenheitspflicht, und, wenn man in den ProtokoIlen nachliest, so weiß man, daß diese nicht nur auf dem Papier stand, daß das Präsidium vielmehr mit äußerster Strenge darüber wachte, daß die Abgeordneten weder Plenar- noch Kommissionssitzungen versäumten. Mit der Fesselung an den Ort ihrer Obliegenheiten verbunden war die Indienstnahme der Abgeordneten für intensive Studien. Die Kommissionsberichte, welche sie verfaßten, waren umfangreich und konnten dickleibig ausfaIlen, Produkte der Studierstube wie des Federkiels. Hier ist Moritz Mohl zu nennen, der fleißigste Abgeordnete, den vieIleicht der deutsche Parlamentarismus je gekannt hat. 1860 verfaßte er ein Gutachten über den preußisch-französischen Handelsvertrag, ein Produkt, das 400 Seiten im Folio-Format maß. Fügen wir schließlich dies hinzu, unser Thema Publizität beschließend. In zweierlei Formen, wo die Presse damiederlag, pflegten Landtag und Öffentlichkeit Kontakt miteinander. Zum einen über die Galerien, auf denen ein zahlmäßig begrenztes Publikum Einlaß fand und diese Möglichkeit zumindest an den sogenannten "großen Tagen" nutzte, zum andern über die gedruckten ProtokoIle der Debatten, die in beträchtlicher Auflage Verbreitung fanden. Es ist bekannt, daß die Erfindung der Kurzschrift dem Erfordernis unverfälschter parlamentarischer Mitteilung entsprang. Franz Xaver Gabelsberger, dessen Lehrbuch bis heute hin den Adepten

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der Kunst vertraut ist, war erster bayerischer Parlamentsstenograph. In Württemberg freilich amtierte ein Originalgenie, ein Mann namens Winter, ein Mann von phänomenalem Gedächtnis, der ein eigenes System erfunden hatte, ein System, für das es keine Schüler gab. Hunderte von Parlamentsreden hat er niedergeschrieben, eine Institution der Kammer, ein Arbeiter rund um die Uhr und dies über 40 Jahre hinweg. Und ein zweites. Der neuere Parlamentarismus ist ohne Gruppen und Partei bi 1dungen nicht zu denken. Bei den Wahlen treten sie uns ebenso entgegen wie in den Verhandlungen des Landtags selbst. Württemberg bietet ein anschauliches Beispiel dafür. Natürlich gab es - 1820, 1870, 1900 - Wahlen, bei denen einem Ortsmatador das Mandat angeboten, gleichsam als Morgengabe der Walllerschaft offeriert wurde, Honoratiorenwahlen also. Aber es gab von Anbeginn eben auch die Konkurrenz von Parteien, die sich um jeweilige Bewerber scharten, für sie eintraten und agierten: durch Flugblätter, Versammlungen und Hausbesuche. In den frühen Jahren bekämpften sich Liberale und Bewerber der Regierung, später erweiterten Demokraten und Ultramontane das Spektrum. Es ist ein müßiges Spiel, darüber zu streiten, ob wir es hier schon mit Parteien im modemen Verstande zu tun haben. Natürlich handelt es sich um Frühformen, denen es an jener Vollständigkeit gebricht, die wir stillschweigend voraussetzen. Am württembergischen Beispiel läßt sich dies mit Gewinn studieren. Denn nicht nur gab es Wahlkämpfe, die aus dem Grundsatz der Parteiung ihre Kraft bezogen, das Prinzip wirkte auch in die Parlamentsarbeit hinein. Ja, diese war ohne jenes gar nicht zu denken. Gesetzgebung, Präsidentenwahl, Bestellung der Kommissionen: das Fraktionsprinzip war noch nicht allgegenwärtig, und nicht jeder Abgeordnete war ihm unterworfen. Aber in Nuce ist man nach ihm verfahren - zuerst 1831 im Sog der Veränderung des politischen Aggregatzustandes nach der Julirevolution, damals, als in Deutschland eine neue politische Epoche begann. Die Veränderungen in Württemberg offenbarten sich bei den Landtagswahlen von 1831. Bei aller Vielfalt der Erscheinungen zeigte sich jedoch eine deutliche Tendenz, die Wahlen nun durchsichtiger, kontroverser und damit politischer zu machen. Begrifflich gesprochen: An die Stelle naturwüchsiger Honoratiorenauslese oder diskreter Promotionen durch die Oberämter traten durchweg öffentlich-kollegialische Formen der Rekrutierung. Auf den konkreten Fall bezogen: für über 40 der 70 Städte und Landbezirke ist bezeugt, daß sich Wahl vereine und Wahlkonvente, die neuen Gremien und Plattformen der Kandidatenfindungen, herausbildeten. Nach Auskunft des Publizisten Mebold entstanden in fast allen Städten des Landes, nach einer Mitteilung Robert Mohls sogar überall, gesellschaftliche Ausschüsse zur Besprechung der Wahlen. Man habe die Wahlc1ubs wie ein zusammenhängendes Netz über das ganze Land ausgedehnt, berichtet der Jurist und Literat Christi an Reinhold Köstlin. Die Wahlc1ubs waren die Vorformen der späteren politischen Parteien. Daß sie sich von ihnen durch flüssige Organisationsformen und unsteten Teilnehmerbe-

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stand unterschieden, war ein Merkmal eben dieser Entwicklung, die im übrigen sprunghaft und mit Unterbrechungen verlaufen ist. Freilich ist es richtig, daß der frühe Liberalismus dem Prinzip der Parteiung zunächst widerstrebte. Daß er sich nicht als Pars der politischen Gesellschaft, sondern als Sprecher der Gesellschaft gegen den Staat insgesamt vorkam. Freilich ist ebenso richtig, daß er in der Praxis, als das gouvernementale Interesse sich zu organisieren begann, nun selbst parteiisch wurde. Während der Begriff Partei noch lange als despektierlich galt, wurde die Sache selbst im württembergischen Landtag doch schon ganz ungeniert betrieben. Erst im Vorfeld der Revolution hörte das Versteckspiel auf, erst 1848 sind Politik und Wahlsprachkonvention wieder zur Deckung gekommen. Und schließlich und drittens. Der Bauplan des konstitutionellen Systems war dualistisch konstruiert. Regierung und Verwaltung sollten handeln, Parlament und Öffentlichkeit debattieren und kontrollieren, gegebenenfalls intervenieren. Was aber geschah, wenn sich beide Seiten über das Geld, den Haushalt nicht einigen konnten. Denn das Etatrecht der württembergischen Kammern stand unverrückbar fest. Das konstitutionelle System kannte keine Instrumente der Konfliktregulierung. Bei den Finanzen lag die Achillesferse des Regimes, nicht erst im Preußen der 1860er Jahre. Zum einen schien der Staat gelähmt, wenn der Landtag die Etatausgaben verweigerte und den verlangten Steuern nicht das Plazet gab. Zum anderen nutzten die Kammerliberalen eben dieses Instrument, um Einfluß zu nehmen auf die Staatspolitik. Der Kampf um das Budget und die mit ihm verfolgten Absichten, dies ist das große Thema der deutschen Parlamentspolitik der Epoche. Und wiederum ist es Württemberg, das hier den Prototypus des Zeitalters uns darbietet. So war es das erste Mal in den 1830er Jahren, als die liberale Opposition politische Gegnerschaft demonstrierte: die Schotts, die Uhlands, die Römers, die Ptizers. Wer damals das rechte Wort fand oder gar schon den Staatsdienst quittiert hatte, um Abgeordneter bleiben zu können, der hatte in Schwaben eine kleine Unsterblichkeit gewonnen. Denn der Adel der Opposition, der Sitz im Olymp, er wurde in diesem Lande entweder auf dem Hohen Asperg oder er wurde in der Kammer erworben. Johannes Schlayer, leitender Minister und also Gegenspieler, übrigens einer der fähigsten in seinem Amt in Deutschland damals überhaupt, Schlayer also hat damals das parlamentarische Regierungssystem als Ausweg aus der institutionellen Misere empfohlen. Wenn der Liberalismus das Geld verweigere und sich in der Mehrheit befände, dann solle er selbst die Geschäfte der Administration übernehmen. Freilich, die Liberalen zögerten, solches zu tun. Zum einen fehlte ihnen noch diese Majorität, und Schlayer selbst bot als wahlkämpfender und wahlmanipulierender Minister ja alles auf, um sie ihnen streitig zu machen. Zum andern wollten sie das parlamentarische System doch eigentlich nicht, diesmal nicht und auch später noch nicht. Sie wollten Einfluß nehmen auf die Regierung, gewiß, sie wollten

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sie möglicherweise sogar steuern. Sie wollten Gesetze und Haushalt nach ihrem Dafürhalten, nach ihrer Fa