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German Pages [325] Year 2017
»Demokratie muss nicht als eine verunglückte Mehrheitsregel verstanden werden.« Josiah Ober
www.zabern.de ISBN 978-3-8053-5120-1
Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Ober · Demopolis oder was ist Demokratie?
Foto: Privat
Josiah Ober ist seit 2006 Professor für Alte Geschichte und politische Wissenschaften an der Stanford University. Ober zählt zu den am häufigsten zitierten Altertumswissenschaftlern und politischen Philosophen unserer Zeit. Sein letztes Buch wurde in DAMALS als »intellektuell mitreißend« hochgelobt.
JOSIAH OBER
Demopolis oder was ist Demokratie?
Demokratie – am Ende? Fassungslos stehen viele vor den populistischen Angriffen auf Demokratie und liberale Institutionen. Kaum jemand will beides getrennt voneinander betrachten, manche fürchten, wir könnten das eine mit dem anderen verlieren. Doch müssen wir uns nicht die Frage stellen, was den Kern unserer Demokratie ausmacht – statt Autokraten das Feld zu überlassen? Josiah Ober, einer der einflussreichsten Historiker und politischen Philosophen unserer Zeit, führt uns »Demopolis« vor Augen, jene Urform der Demokratie, in der jeder die Erfahrung macht, als Staatsbürger zu handeln und behandelt zu werden, mit einer »Bürgerwürde« ausgestattet zu sein; ob im alten Athen, in liberalen Demokratien, ja selbst in einem postliberalen Zeitalter. »Natürlich hoffe ich nach wie vor, dass es der liberalen Demokratie gelingen wird, die Herausforderungen zu meistern, vor denen sie gegenwärtig steht. Da das Entstehen einer post-liberalen Welt derzeit jedoch eine reale Möglichkeit darstellt, ist es die Pflicht eines demokratischen Theoretikers, darauf vorzubereiten. Wenn es richtig ist, dass die Kerndemokratie das menschliche Gedeihen fördert und zugleich als Kristallisationspunkt für ein breites politisches Bündnis dienen kann, muss einem aber auch angesichts eines solchen Szenarios nicht bange werden. Im Gegenteil, es gibt allen Grund zur Hoffnung.« Josiah Ober
Josiah Ober Demopolis
Josiah Ober
Demopolis – oder was ist Demokratie? Aus dem Englischen von Karin Schuler und Andreas Thomsen
Für die englischsprachige Originalausgabe Die Originalausgabe erscheint 2017 unter dem Titel „Demopolis: Democracy before Liberalism in Theory and Practice“ bei Cambridge University Press. Cambridge University Press is Part of the University of Cambridge. Copyright © 2017 Josiah Ober
Für die deutschsprachige Ausgabe Der Verlag Philipp von Zabern ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Übersetzung: Karin Schuler und Andreas Thomsen Fachlektorat: Leoni Hellmayr Wissenschaftliche Beratung: Daniel Schulz Satz: SatzWeise GmbH, Trier Einbandabbildung: Der Parthenon von Athen, William Henry Bartlett (1809–54) / Privatsammlung / © Look and Learn / Bridgeman Images Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt am Main Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5120-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5118-8 eBook (epub): 978-3-8053-5119-5
Für Denise, Spike, Stella, Blanche, Bindi und Enki. Sie haben mein Herz erobert.
Inhalt
Vorwort Demopolis – oder was ist Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Kerndemokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Politische Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Was war die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Normative Theorie, positive Theorie, historisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Kurze Darstellung der Argumentation . . . . . .
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2. Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen 2.1. Die politische Geschichte Athens . . . . . . . . . . 2.2. Ursprüngliche griechische Definition . . . . . . . . 2.3. Ausgereifte griechische Definition . . . . . . . . .
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3. Die Gründung von Demopolis . . . . . 3.1. Die Gründer und die Staatszwecke 3.2. Staatsmacht und Bürgerrecht . . . 3.3. Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . 3.5. Festschreibung . . . . . . . . . . . 3.6. Austritt, Eintritt, Zustimmung . . 3.7. Namensgebung . . . . . . . . . . .
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4. Legitimierung und staatsbürgerliche Erziehung 4.1. Materielle und demokratische Güter . . . 4.2. Staaten mit beschränktem Zugang . . . . 4.3. Hobbes’ Herausforderung . . . . . . . . . 4.4. Staatsbürgerliche Erziehung . . . . . . . .
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Inhalt
5. Menschliche Grundfähigkeiten und staatsbürgerliche Teilhabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Geselligkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Die Ausübung von Grundfähigkeiten als demokratisches Gut . . . . . . . . . . . . . . . . 5.5. Freie Ausübung der Grundfähigkeiten und teilhabende Bürgerschaft . . . . . . . . . . . . . . 5.6. Von den Grundfähigkeiten zu Sicherheit und Wohlstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Bürgerwürde und andere notwendige Bedingungen . . 6.1. Bedingungen und Werte . . . . . . . . . . . . . . . 6.2. Individualität, Interdependenz und Wandelbarkeit 6.3. Wissen und kollektives Handeln . . . . . . . . . . 6.4. Politische Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . 6.5. Bürgerwürde als gelebte Erfahrung . . . . . . . . . 6.6. Ein Bürgerwürde-Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . 6.7. Würde und staatsbürgerliche Tugenden . . . . . . 6.8. Zwischen Freiheit und Gleichheit . . . . . . . . . . 7. Delegierung und Fachwissen . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Schlafender Souverän oder wachsamer Demos? . 7.2. Systematische Korruption und die Gefahr einer Tyrannei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3. Ein Delegierungsspiel . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Selbstregierung der Bürger . . . . . . . . . . . . . 7.5. Interessen, Wissen, Fachleute . . . . . . . . . . . 7.6. Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie . . . . . . . . . . . . . 7.7. Das Aggregieren von Fachwissen in einer großen Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX
Inhalt
8. Eine Theorie der Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2. Und wozu das Ganze? . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3. Zu anti-liberal oder zu liberal? . . . . . . . . . . . . . 8.4. Ein Fundament für ein liberales System? . . . . . . . 8.5. Eine nicht-liberale und nicht-tyrannische Ordnung?
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Epilog. Demokratie nach dem Liberalismus . . . . . . . . . . . 273 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302
Hinweise Zitierweise Werke klassischer griechischer Autoren werden nach den gängigen Konventionen zitiert. Hobbes’ Leviathan wird nach Kapitel und Seitenzahl in der Cambridge-Edition (1991) von R. Tuck zitiert. Die deutsche Übersetzung von L. Waas und W. Euchner gibt ebenfalls diese Zählungen an.
Nachweise Kapitel 2.2. ist die überarbeitete Fassung von „The Original Meaning of Democracy: Capacity to Do Things, Not Majority Rule“. Constellations 15 (1): 3–9. Kapitel 5.4. ist die überarbeitete Fassung von „Natural Capacities and Democracy as a Good-in-Itself“. Philosophical Studies 132: 59–73. Kapitel 6.6.–8. ist die überarbeitete Fassung von „Democracy’s Dignity“. American Political Science Review 106 (4): 827–846. Kapitel 7.6.–7. ist die überarbeitete Fassung von „Democracy’s Wisdom: An Aristotelian Middle Way for Collective Judgment“. American Political Science Review 107 (1): 104–122. Mein Dank gilt diesen Zeitschriften dafür, dass ihre Regeln den Autoren gestatten, ihre eigenen Materialien noch einmal zu verwenden.
Abbildungen und Tabellen Tabelle 2.1.: Griechische (und neo-griechische) Terminologien für Regierungsformen . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3.1. Verteilung der Menschen im Gedankenexperiment Demopolis . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 3.2. Nutzenfunktion des mittleren GründerBürgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 4.1.: Demokratischer Bürger oder Untertan eines wohlmeinenden Autokraten . . . . . . . . . . . . Abbildung 6.1. Das Drei-Spieler-Bürgerwürde-Spiel . . . . Abbildung 6.2. Einschränkungen der Verteilungsgerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7.1. Das Delegierungsspiel mit drei Spielern . . Tabelle 7.1. Hypothetische Verteilung bei Abstimmenden über Verfahrensaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildung 7.2. Epistemischer Entscheidungsprozess und Relevant Expertise Aggregation . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Demopolis – oder was ist Demokratie?
Stellen wir uns ein Land vor, das sicher ist, wohlhabend und von seinen Bürgern regiert wird. Sie sind in vielen Dingen, auch in Dingen, die ihnen sehr am Herzen liegen, unterschiedlicher Meinung. Aber sie alle schätzen den hohen Wert kollektiver Selbstregierung und sind bereit, die Kosten dafür zu tragen. Die Menschen dieses Landes genießen Rede- und Versammlungsfreiheit, sie leben in politischer Gleichheit und staatsbürgerlicher Würde. Eine Staatsreligion haben sie jedoch nicht festgelegt. Sie haben sich weder verpflichtet, universale Menschenrechte im In- und Ausland zu fördern, noch haben sie sich auf ein Prinzip sozialer Gerechtigkeit geeinigt, um die finanziellen Vorteile sozialer Kooperation zu verteilen. Nennen wir dieses Land Demopolis und seine Regierungsform Kerndemokratie. Dieses Buch fragt, was es wohl bedeuten würde, ein Bürger von Demopolis zu sein. Was gewinnt, was verliert man, wenn man in Demopolis lebt, im Vergleich zum Leben in einer liberalen Demokratie? Diese Fragen beantworte ich zunächst aus der Position eines besorgten Liberalen heraus, eines Menschen, der die politischen Fundamente liberaler Werte stützen will und der sich fragt, ob Regierung womöglich etwas anderes sein könnte als eine potenziell übergriffige Bedrohung der persönlichen Freiheit kombiniert mit einer potenziell paternalistischen sozialen Korrektur von Verteilungsergebnissen. Aber ich suche auch Antworten darauf, was ein Leben in Demopolis aus der ganz anderen Perspektive eines religiösen Traditionalisten, der in einem autokratischen Staat lebt, mit sich bringen würde. Der Traditionalist, den ich mir vorstelle, träumt von einem Leben ohne Autokraten, ist aber nicht bereit, sich die modernen liberalen Werte zu eigen zu machen. Hat eine Theorie der Demokratie auch diesem Menschen etwas zu sagen?
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Vorwort
Ich konzentriere mich auf die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus, weil ich davon ausgehe (ohne dies näher zu untersuchen), dass der Liberalismus im 21. Jahrhundert das vorherrschende Wertesystem und mit der Demokratie eng verflochten ist. Der politische Liberalismus ist die Tradition, in der ich aufgewachsen bin und der ich mich noch immer verbunden fühle; ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die keine liberale Demokratie ist. Doch wie jedes Wertesystem schiebt der Liberalismus alles, was ihm nicht wichtig ist, beiseite. Meiner Ansicht nach hat die Beimischung des Liberalismus den positiven Wert der gemeinsamen Selbstregierung als Instrument zur Erreichung eines erwünschten Zwecks und als ein erstrebenswerter Zweck an sich beiseitegeschoben. Ich hoffe, Liberalen zeigen zu können, warum Bürgerbeteiligung an der Regierung nicht als ein Kostenfaktor zu sehen ist, der minimiert werden kann oder sollte, und warum eine Vorliebe für bürgerschaftliche Selbstregierung und eine Angst vor einer von eigennützigen Eliten gekaperten Regierung nicht einzig und allein als Sache von Populisten, Anarchisten oder Schmitt’schen Agonisten betrachtet werden sollte. 1 Liberalismus ist nicht das einzige Wertesystem, das man in die Demokratie hineinmischen oder sich kaum getrennt von der Demokratie vorstellen kann. Ich biete hier eine Theorie der Demokratie, die nicht nur vor dem Aufkommen des Liberalismus verortet ist, sondern auch vor dem des Marxismus, des philosophischen Anarchismus, des Libertarismus, des modernen Konfuzianismus oder anderer Theorien, die auf „asiatischen politischen Werten“ gründen. Ich hoffe, zu zeigen, dass Demokratie an und für sich verschiedene wünschenswerte Lebensbedingungen effektiv fördert, und zwar ganz unabhängig vom Liberalismus oder jeder anderen systematischen Wertetheorie. Dabei geht es nicht darum, die wertorientierte politische Theorie abzuqualifizieren. Ich möchte niemanden davon überzeugen, dass „einfach nur Demokratie“ den verschiedenen politischen Mischformen grundsätzlich überlegen ist, die von politischen Theoretikern
Vorwort
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innerhalb des Liberalismus (oder Marxismus usw.) vertreten worden sind. Vielmehr möchte ich zeigen, was die Kerndemokratie aus sich heraus zu bieten hat. Man könnte diese Demokratie vielleicht gleichsetzen mit einer wild vorkommenden Pflanzenart in einer Zeit groß angelegter Zuchtprogramme. Die Wildart ist nicht in sich besser als die Kreuzungen, und erfolgreiche Hybridzüchtungen sollten nicht zugunsten einer nostalgischen Vorliebe für die wilde Ursprungsart vernichtet werden. Doch ähnlich wie ein Biologe sich für die Genetik und das Erscheinungsbild ursprünglicher Arten interessiert, können auch wir vielleicht etwas gewinnen, wenn wir die Demokratie „in der Natur“ untersuchen. Die Wertetheoretiker, die sich vor allem auf Mischformen und Kreuzungen konzentrieren, haben es meiner Ansicht nach versäumt, die Beziehung zwischen den notwendigen Bedingungen für die Demokratie und liberalen Werten zu würdigen, und spezifisch demokratische Güter übersehen. Dies ist ein Buch darüber, was gemeinsame Selbstregierung kostet und was sie Menschen geben kann, die bereit sind, diese Kosten zu tragen: eine wahrnehmbare und potenziell erreichbare Form menschlichen Gedeihens – die Chance, als aktiv Mitwirkender in einer einigermaßen sicheren und wohlhabenden Gesellschaft zu leben, in der die Bürger sich selbst regieren und andere Projekte verfolgen, denen sie Wert beimessen. Ich denke, dass es am einfachsten ist, über Kosten und Nutzen der Demokratie ohne Liberalismus nachzudenken, indem man eine Demokratie aus der Zeit vor der Beimischung liberaler Werte beschreibt. Wir können uns aber auch auf einer entweder utopischen oder (wahrscheinlicher) dystopischen Ebene einer Demokratie nach dem Liberalismus bewegen, in der die Bürger sich einer Gesellschaft gegenübersehen, in der die mit dem modernen Liberalismus verbundenen Werte bröckeln oder schon abgeschafft worden sind. Mit der Demokratie nach dem Liberalismus beschäftige ich mich im Epilog. Der Liberalismus entwickelte sich zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert in Reaktion auf Umwälzungen wie etwa die Religionskriege, den Faschismus und den autoritären Kommunismus.
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Vorwort
All dies ist nicht verschwunden; vielmehr sind neue drängende Probleme hinzugekommen, die sich gerade aus dem Erfolg der liberalen Lösungen ergeben: technokratische Herrschaft, wirtschaftliche Disruption, politische Polarisierung, Entfremdung verbunden mit nationalistischem Populismus und einer partikularen Identitätspolitik. Eine Theorie der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus ist kein Allheilmittel für diese oder andere Missstände der Moderne. Aber sie kann eine neue Richtung für die demokratische Theorie und vielleicht für das politische Handeln weisen. Demokratie ohne Liberalismus wird von liberalen Theoretikern manchmal als eine fundamental, ja sogar brutal antiliberale Ideologie dargestellt, inspiriert von der Rousseau’schen Fantasie eines geeinten Volkswillens und angetrieben durch ungezügelte Ansprüche der Mehrheit. Ich möchte zeigen, dass eine reine Mehrheitsherrschaft zwar eine leicht vorstellbare (wenn auch instabile) Form politischer Ordnung ist, aber eine korrumpierte Form der Demokratie. Sie ist weder die ursprüngliche noch die normale und gesunde Form des Regierungstyps. Damit hoffe ich auch die liberalen Demokraten etwas zu beruhigen, indem ich zeige, dass einige ihrer Werte von der Kerndemokratie gesichert werden und dass eine Krise des Liberalismus in einem demokratischen Staat nicht notwendigerweise albtraumhaft illiberale Folgen haben muss. Aber ich möchte mich auch jenen Traditionalisten zuwenden, die es leid sind, von Tyrannen regiert zu werden, die aber bestimmte Grundsätze des modernen Liberalismus ablehnen – vor allem die staatliche Neutralität im Hinblick auf die Religion. Nach dem gegenwärtigen Stand der Dinge mögen solche Menschen zweifeln, ob die Demokratie jeglicher Ausprägung wirklich eine Option für sie darstellt. Ihre Zweifel sind nur dann begründet, wenn die Demokratie einzig und allein im Paket verfügbar ist, zu dem der Liberalismus einen integralen Teil beisteuert. Dieses Buch präsentiert eine politische Theorie, die gleichzeitig historisch und normativ ist und in der es um Anpassungsfähigkeit wie auch um Stabilität geht. Sie soll keine moralisch befriedigende Lösung für das Problem der sozialen Gerechtigkeit beschreiben, son-
Vorwort
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dern vielmehr eine politische Lösung für das grundlegende Problem der sozialen Kooperation in einer sozial breit gefächerten Gemeinschaft. Die hier vorgestellte Lösung bietet Menschen, die sich auf einige Grundsätze einigen können, einen Weg, um bestimmte, ihnen wichtige Ziele zu erreichen. Zu diesen Zielen gehört jedoch nicht „eine vollkommen gerechte Gesellschaft“ – unabhängig davon, wie man sich Gerechtigkeit vorstellt –, ganz zu schweigen von einer vollkommen gerechten Welt. Die hier angebotene Darstellung der Demokratie ist verhalten optimistisch. In meinen Augen ist das Glas halb voll, und ich möchte zeigen, was eine Demokratie ohne Liberalismus in ihrer besten Form sein kann – in der Form, die die Möglichkeit positiver Entwicklung für viele Menschen in einer vielgestaltigen Gemeinschaft, wenn nicht sogar für alle Menschen überall rückhaltlos unterstützt. Selbst das halb volle Glas braucht bestimmte, durch Regeln abgesicherte und von Bürgern durchgesetzte Bedingungen. Diese Bedingungen sind anspruchsvoll; die Regeln müssen gut gestaltet, die Bürger motiviert sein. Nichts davon ist garantiert. Keine Regierungsform ist vor Korrumpierung sicher, und allzu viele Regierungen, die sich selbst als Demokratien sehen, haben sich in eine Richtung entwickelt, die nicht nur für Liberale untragbar ist, sondern auch für Nicht-Liberale, die eine annehmbare Alternative zur Autokratie suchen. Bei diesem Ansatz geht es nicht darum, ob in einer Demokratie etwas schiefgehen kann – das kann natürlich passieren und ist schon oft passiert. Die relevanten Fragen sind vielmehr: Was bedeutet es, wenn die gemeinsame Selbstregierung gelingt? Welche Bedingungen ermöglichen dies? Können ganz normale Menschen in der realen Welt diese Bedingungen schaffen? Die Annahme, dass die Menschen eine gemeinsame Selbstregierung organisieren und aufrechterhalten können, durchzieht meine optimistische Darstellung der Demokratie vor dem Liberalismus. Die leere Hälfte des Glases betrachte ich dann im Epilog.
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Vorwort
Anmerkungen 1
Diese Fehleinschätzung mag auf Aussagen wie der von Ronald Reagan in seiner vielbeachteten „A Time for Choosing“-Rede vom 27. Oktober 1964 zur Unterstützung des Präsidentschaftskandidaten Barry Goldwater beruhen: „Darum geht es bei dieser Wahl: Ob wir an unsere Fähigkeit zur Selbstregierung glauben oder ob wir die Amerikanische Revolution aufgeben und anerkennen, dass eine kleine intellektuelle Elite weit weg im Kapitol unser Leben besser für uns planen kann als wir selbst.“ Zu Anarchisten und Schmitt’schen Agonisten siehe Kap. 3 und 8.
Kapitel 1
Die Kerndemokratie Dieses Buch beantwortet einige fundamentale Fragen zur Grundform der Demokratie: Was ist sie? Warum entsteht sie? Wie wird sie erhalten? Wozu ist sie gut? Für politikinteressierte Menschen sind diese Fragen wichtig. Meine Antworten gründen teils auf politischer Theoriebildung, teils auf der Alten Geschichte. Wer sich für Geschichte begeistert, mag die lange Vergangenheit der Demokratie bemerkenswert finden. Warum und inwieweit aber spielt die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus auch für die heutige politische Theorie oder Praxis noch eine Bedeutungt? Das möchte ich in diesem Buch darlegen. Meine Theorie geht vom Menschen als strategisch rationalem Wesen aus, das von Natur aus befähigt ist, unter bestimmten Bedingungen ein Leben in Gesellschaft zu führen. Wenn diese gesellschaftlichen Bedingungen in höchstem Maße erfüllt sind, ist das Potenzial menschlichen Gedeihens (im Sinne eines gemeinschaftlichen und individuellen materiellen und psychischen Wohlergehens) am größten. Optimal werden diese Bedingungen meiner Ansicht nach von einer Demokratie gefördert, die von den vertrauten Formen des Liberalismus unterscheidbar ist. Die für Demokratie notwendigen politischen Bedingungen überschneiden sich mit fundamentalen liberalen Werten, weshalb Demokratie und Liberalismus gern miteinander verbunden werden. Doch die Verbindung von Demokratie und Liberalismus ist keineswegs zwingend. Die Unterscheidung der Demokratie als solcher von der allzu vertrauten Kreuzung, der liberalen Demokratie, macht klar, wozu Demokratie gut ist und wie demokratische Güter entstehen. 1
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1 · Die Kerndemokratie
1.1. Politische Theorie Einem jüngeren World Values Survey zufolge ist es den Bewohnern aller 34 Länder, in denen die Befragung stattfand, sehr wichtig, in einem demokratischen Land zu leben (von 7+ in Russland bis 9+ in Schweden, auf einer Skala von 1 bis 10). In allen Ländern klafft eine deutliche Lücke zwischen der Meinung der Befragten zur Bedeutung der Demokratie und ihrer Einschätzung, wie demokratisch ihr eigenes Land gerade regiert wird. Diese Diskrepanz lässt vermuten, dass Demokratie zumindest teilweise ein Streben bleibt, eine Hoffnung, die sich nie ganz erfüllt. 2 Mehr noch: In der modernen Welt ist Demokratie ein fast universell angestrebtes Ziel, obwohl man kaum annehmen kann, dass jeder unter Demokratie dasselbe versteht. In der Theorie wie in der Alltagssprache ist „Demokratie“ ein klassisches Beispiel für ein dem Wesen nach umstrittenes politisches Konzept. Es versteht sich von selbst, dass viele Definitionen im Umlauf sind, doch keine einzige ist so zutreffend, dass sie alle anderen aus dem Feld schlagen könnte. 3 Ich möchte hier etwas untersuchen, das ich Kerndemokratie nennen werde: die legitime Machtausübung eines demos – einer Bürgerschaft oder eines „Volkes“. 4 Eine Theorie der Kerndemokratie beginnt mit den Fragen der Legitimierung und der Befugnis: Warum sollte der Demos die Macht im Staate besitzen – statt etwa eines Monarchen, einer kleinen Gruppe von Adligen oder einer technokratischen Elite? Und, weil „sollte“ „kann“ impliziert: Wie kann ein Demos sachkundig Macht in einer komplexen Gesellschaft ausüben? 5 Die Kerndemokratie kümmert sich nicht in erster Linie um Fragen der persönlichen Autonomie, der unveräußerlichen Menschenrechte oder der Verteilungsgerechtigkeit. „Liberalismus“ ist natürlich ebenfalls ein dem Wesen nach umstrittenes Konzept. Ich jedenfalls zähle Autonomie, Rechte und Gerechtigkeit zusammen mit religiöser Neutralität zu den vorrangigen Werten des heutigen liberalen Mainstream und begreife sie als wertebasierte moralische Verpflichtungen. 6 Als historische Regierungsform geht die Demokratie der philosophischen Begründung
Politische Theorie
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dieser liberalen moralischen Werte voraus. Als Theorie einer nachhaltigen, das menschliche Wohlergehen fördernden politischen Ordnung entstand sie sehr viel früher. 7 Ich stelle zwei Musterbeispiele der Kerndemokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus vor. Das erste (Kapitel 2) ist historisch und beschreibt die gemeinsame Selbstregierung der Bürger in der griechischen Antike. Die griechische Demokratie liefert eine gut dokumentierte Fallstudie und widerlegt Behauptungen, denen zufolge „eine solche Ordnung menschlich nicht möglich“ oder „in einer komplexen Gesellschaft auf Dauer nicht machbar“ oder „im Vergleich zu autoritären Regimen nicht wettbewerbsfähig“ sei. Wer sich nicht für historische Fallstudien interessiert, springt vielleicht besser gleich zum zweiten Beispiel (Kapitel 3): gemeinsame Selbstregierung als theoretisches Modell, eine Form politischer Ordnung, die aus den Entscheidungen einer breit gefächerten Gruppe ganz gewöhnlicher Menschen – mäßig rationaler, eigennütziger, strategisch denkender, sozialer und kommunikativer Individuen – entsteht, die sich einen sicheren und prosperierenden nicht-autokratischen Staat in einer gefährlichen und sich wandelnden Welt erschaffen wollen. Das politische Gedankenexperiment, das ich „Demopolis“ nennen werde, ist ein minimaler Verfassungsrahmen, eine Sammlung grundlegender Regeln, die den Bürgern koordiniertes Handeln zum gegenseitigen Nutzen ermöglichen. 8 Ich gehe von einer Vorgeschichte und Elementen einer Zivilgesellschaft aus, ohne sie näher zu spezifizieren. Und ich gehe davon aus, dass die Bürger von Demopolis, nachdem der Rahmen einmal abgesteckt ist, weitere Regeln zu wichtigen Angelegenheiten, unter Umständen auch zu Rechten und Verteilungsgerechtigkeit, beschließen werden. Der Rahmen soll die oft schwierigen normativen Entscheidungen und die Entwicklung von demokratischen Mechanismen (Vermeule 2007) erlauben, ohne dass es zu Gewalt kommt oder ein Dritter eingreifen muss. Die Kerndemokratie macht dies durch bestimmte ethische Verpflichtungen wahrscheinlicher (die in den Kapiteln 4, 5, 6 besprochen werden), doch ich setze nicht voraus, dass diese Verpflichtungen an und für
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1 · Die Kerndemokratie
sich alle jene normativen Fragen beantworten können, mit denen sich die Bürger von Demopolis irgendwann konfrontiert sehen werden. Der Rahmen soll moralisch grundlegende kollektive Überlegungen und Entscheidungen ermöglichen, aber er soll ihr Ergebnis nicht vorgeben. 9 Demopolis ist ein Idealtypus im Weber’schen soziologischen (nicht so sehr im moralphilosophischen) Sinn. Das heißt, dieser Begriff soll reale, aber schwer zu betrachtende Merkmale einer kerndemokratischen Regierungsform erfassen, indem er sie von den leicht zu betrachtenden Merkmalen realer Gemeinwesen abstrahiert. Demopolis fehlen einige Aspekte realer politischer Systeme, in denen (von einer pluralistischen Gesellschaft ausgehend) klare Entscheidungen in Bezug auf moralische Fragen wenigstens bedingt schon getroffen worden sind. Die fiktiven Gründer von Demopolis beschränken sich darauf, die Regeln festzulegen, die das stabile, sichere und prosperierende politische Fundament bewahren, während sie Entscheidungen über schwierige moralische Fragen vertagen. Die Grundregeln sollen Demopolis gegen äußere Erschütterungen absichern, einer Übernahme durch eine Elite vorbeugen und eine weitere Entwicklung unter Beibehaltung ihres demokratischen Charakters ermöglichen. Realen modernen Gemeinwesen, die sich zu Recht als Demokratie bezeichnen, fehlen einige Institutionen von Demopolis. Sie haben keine allzu große Ähnlichkeit mit dem klassischen Athen oder einer anderen antiken direkten Demokratie. Sie weisen Merkmale auf, die den antiken griechischen Staaten und auch Demopolis fehlen. Damit will ich nicht sagen, dass eine Regierung, die nicht an das historische Fallbeispiel Athen oder das Gedankenexperiment Demopolis heranreicht, der Bezeichnung Demokratie nicht würdig wäre. Doch wenn alles so läuft, wie ich es mir vorstelle, werden sich die historische Fallstudie und die Ergebnisse des Gedankenexperiments gegenseitig stützen (wie die Zeltstangen eines Tipis) und erklären. Indem ich auf diese Weise Theorie und Geschichte verbinde, möchte ich bestimmte fundamentale Kompetenzen sichtbar machen, die Bürger in einer
Was war Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus?
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Demokratie anstreben sollten, und die Kosten beleuchten, die sie werden tragen müssen, wenn sie ihre Ziele – nachhaltige Sicherheit, Wohlstand und Autonomie – in einer gefährlichen und sich wandelnden Welt erreichen wollen. Außerdem möchte ich auf bestimmte positive Güter hinweisen, die den Bürgern aus der demokratischen Praxis erwachsen, Güter, die in der gängigen liberalen politischen Theorie relativ unscharf bleiben.
1.2. Was war Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus? Demokratie als Wort, Konzept und Praxis existierte schon lange vor dem 17. Jahrhundert, als die Gruppe ethischer, politischer und ökonomischer Haltungen unter dem Banner des Liberalismus allmählich an Bedeutung gewann. Wie wir sehen werden, brauchte die Kerndemokratie in der Geschichte bestimmte politische Voraussetzungen, die die Liberalen später als Werte begriffen: politische (Rede- und Versammlungs-)Freiheit, politische Gleichheit und rechtliche Beschränkungen der legislativen und exekutiven Gewalten. Doch die Demokratie gab es bereits, bevor politische Denker Freiheit als individuelle Autonomie verstanden. Bevor Moralphilosophen Rechte als „natürlich“ oder als unveräußerliche und universale, sich aus der Natur oder dem Moralgesetz ergebende „Menschenrechte“ statt als unter Staatsbürgern geltende und durch ihr kollektives Handeln gewahrte „Bürgerrechte“ definierten. Bevor man Verteilungsgerechtigkeit auf moralische Annahmen in Bezug auf Autonomie und Rechte gründete. Bevor man die Ansicht vertrat, der religiöse Pluralismus erfordere die Werteneutralität auf der Ebene des Verfassungsrechts. Es gibt also eine Geschichte der Demokratie, wie man sie vor dem Auftauchen einer kohärenten Darstellung liberaler Moral verstand und umsetzte. Ich habe in meiner akademischen Laufbahn viel Zeit damit verbracht, einen Teil dieser Geschichte zu erforschen – die Demokratie im antiken Griechenland und insbesondere im klassi-
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1 · Die Kerndemokratie
schen Athen. In diesem Buch geht es nicht um die griechische Geschichte an sich; es schöpft aber aus den klassischen griechischen Erfahrungen mit der Demokratie. Der zweite Punkt, auf den meine Frage nach der vorliberalen Demokratie verweist, ist konzeptueller Natur. Kerndemokratie kann eine Antezedensbedingung für den Liberalismus (oder für andere Wertesysteme) sein: Demokratie ist eine Form der Politik, wie sie von einer Gemeinschaft von Bürgern praktiziert wird, ein Weg, Machtbeziehungen und Interessen zu organisieren. Liberalismus, wie ich den Begriff hier verwende, ist eine Theorie politischer Moral, eine Möglichkeit, ethische gesellschaftliche Beziehungen durch ethischen Individualismus, Toleranz, Moralgesetze und die Erfordernisse der Verteilungsgerechtigkeit in einer pluralistischen Gesellschaft zu bestimmen und zu rechtfertigen. Die kantianischen Fassungen zeitgenössischer liberaler politischer Theorie, um die es mir hier vor allem geht (von Rawls 1971, 1996, 2001 dargelegt), teilen eine ethische Verpflichtung auf die Freiheit, verstanden als individuelle Autonomie, und einen Glauben an die moralische Gleichheit der Menschen. Die vorherrschenden Formen zeitgenössischer politischer Theorie verpflichten für gewöhnlich die jeweils Herrschenden, im öffentlichen Bereich Werteneutralität anzustreben sowie unveräußerliche Menschenrechte zu schützen und zu stärken. Alle zeitgenössischen Varianten des Liberalismus vertreten zudem eine bestimmte Einstellung zur Verteilungsgerechtigkeit; das Spektrum reicht von libertär bis egalitär. 10 Weder ist der Liberalismus als Moralsystem, das persönliche Autonomie, Rechte, Verteilungsgerechtigkeit und religiöse Neutralität des Staates in den Mittelpunkt stellt, historisch gesehen älter als die Kerndemokratie, noch diente er ihr als konzeptuelles Fundament. Als eine Bündelung politischer Verfahren kann Demokratie als eine Ansammlung einfacher Spiele, gespielt von idealtypisch aufgefassten, rational eigennützigen Personen, konzipiert werden. Ich werde zu zeigen versuchen, dass man die Kerndemokratie auch als ein dynamisches, sich selbst verstärkendes Gleichgewicht begreifen kann.
Was war Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus?
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Dagegen hat die zeitgenössische politische Theorie des Liberalismus als eine Sammlung moralischer Verpflichtungen auf Ideale des Rechts und der sozialen Gerechtigkeit keine Gleichgewichtslösung in einer Bevölkerung rational eigennütziger Akteure, die ihre eigenen Interessen erkennen und diese strategisch verfolgen. Und eine solche Lösung soll sie wohl auch gar nicht haben. 11 Die zeitgenössische liberale Theorie, in der kantianischen Tradition neu begründet durch John Rawls’ epochale Theory of Justice (1971. Dt.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975), neigt dazu, Sicherheit und Wohlstand, die für eine moderne liberale/republikanische/demokratische Ordnung typisch sind, mehr oder weniger vorauszusetzen. Sie versucht, über das reine „Miteinanderauskommen“ (modus vivendi) in einer durch Wertepluralismus geprägten Gesellschaft hinauszustreben, indem sie eine moralische Rechtfertigung für eine gerechte Gesellschaftsordnung liefert. Diese Ordnung soll theoretisch für Menschen mit sehr unterschiedlichen religiösen Glaubensvorstellungen akzeptabel sein. Rawls’ berühmtes Gedankenexperiment mit dem „Schleier des Nichtwissens“ trennt moralische Akteure vom Wissen um ihre individuellen Umstände und versetzt sie so in die Lage, sich auf die „Grundstruktur“ zu einigen: auf die fundamentalen Regeln für eine gerechte Gesellschaft. 12 Weil aber eine gerechte Gesellschaftsordnung schwer aufrechtzuerhalten ist, sobald der „Schleier“ gelüftet wird und die Menschen wieder um ihre individuellen Lebensumstände wissen, definierte Rawls seine ursprüngliche Gerechtigkeitstheorie als eine ideale Theorie. Sie geht einfach von einer vollständigen Befolgung der vereinbarten Regeln aus, statt strategisch rationalen Akteuren nichtmoralische Motivationen für die Einhaltung dieser Regeln zu bieten (Rawls 1971: 8, 89–91; Valentini 2012). In seinen folgenden Arbeiten (1996, 1999) beschäftigt sich Rawls damit, dass liberale Werte an sich als Gesellschaftsordnung nicht selbsttragend sind. Dies betont auch Skinner in Liberty before Liberalism und propagiert eine „römische“ Version des Republikanismus als eine wünschenswerte, wenn auch nicht unbedingt liberale stabile Gesellschaftsordnung. Ich stelle hier eine „athenische“ Version der Demokratie vor. 13
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Ethische und politische Theorien können eng miteinander verflochten sein (wie etwa in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik und Politik), aber sie sind nicht notwendig oder kausal aufeinander bezogen: Einige ethische Theorien lehnen politische Aussagen ab; einige Politiktheorien vermeiden eine ethische Haltung. Ich stelle die Behauptung auf, dass man einen sicheren und erfolgreichen Verfassungsrahmen ohne Rückgriff auf die ethischen Annahmen der zeitgenössischen liberalen Theorie und sogar ohne die zentralen Annahmen des frühmodernen Liberalismus oder Republikanismus stabil etablieren kann. Die politische Praxis der Demokratie braucht Voraussetzungen, die liberalen und republikanischen Kernwerten von Freiheit und Gleichheit ähneln. Sie fördert bestimmte ethische Verpflichtungen, wenn auch nicht notwendigerweise die des kantianischen Liberalismus. So weit die demokratische Politik mit den Werten der zeitgenössischen liberalen Theorie vereinbar ist, kann sie dazu beitragen, dass sich eine Bevölkerung von mehr oder weniger rationalen, eigennützigen und stategisch handelnden Individuen an liberalen Prinzipien orientiert. Doch der Liberalismus ist nicht Bestandteil der Demokratie, und Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, die aufkommen, sobald ein demokratisches Fundament gelegt ist, sind nicht Thema dieses Buches. Die Demokratie „vor den Liberalismus“ zu setzen, wirkt auf den ersten Blick vielleicht so, als zäume man das Pferd begrifflich von hinten auf, weil sich der Liberalismus mit materieller wie auch mit Verfahrensgerechtigkeit beschäftigt und materielle Gerechtigkeit als Kernpunkt der politischen Philosophie gilt. Historisch gesehen gehen Vorstellungen in Bezug auf die faire Verteilung von Gütern der Ausübung von Demokratie in komplexen Gesellschaften voraus. 14 Gerechtigkeit wird sicher in jeder Geschichte über Demokratie ein Thema sein. Für viele Demokraten (z. B. Christiano 2008) liegt der Wert der Demokratie in ihrer Rolle bei der Verwirklichung einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Doch Demokratie ist, begrifflich wie historisch betrachtet, eine Antwort auf die Frage „Wer herrscht?“ und nicht auf Fragen danach, wem welcher Anteil der Güter zusteht, die
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durch soziale Kooperation produziert werden. Sowohl die griechischen Erfinder der Demokratie in der Antike wie auch die Gründer der hypothetischen Gesellschaft im Gedankenexperiment Demopolis näherten sich den Problemen des „Warum und wie kann man eine nicht-autokratische Regierung schaffen?“ natürlich mit jeweils eigenen Einstellungen zur materiellen Gerechtigkeit und Verfahrensgerechtigkeit. 15 Es war allerdings nicht nötig, sich auf die Bedingungen materieller Gerechtigkeit zu einigen, bevor sie nicht das Projekt in Angriff genommen hatten, eine existenzfähige Ordnung ohne Tyrannen zu errichten. Wenn wir die Demokratie verstehen wollen, gibt es gute Gründe, statt einer „materiell gerechten Gesellschaft“ zunächst einmal einen „nicht-autokratischen Staat“ zu betrachten. 16 Im 6. Jahrhundert v. Chr. öffnete sich in Athen wie im Amerika des 18. Jahrhunderts der revolutionäre Weg zur Demokratie durch die Delegitimierung der autokratischen Hoheitsgewalt, eine breite Präferenz für die Abschaffung der Tyrannei (anstelle der reinen Hoffnung auf einen gnädigeren Herrscher) und den eindeutigen Nachweis, dass viele Bürger als kollektiver politischer Akteur handeln konnten. Obwohl die Erfahrung der Ungerechtigkeit die Revolutionen nährte, konzentrierten sich die athenischen wie die amerikanischen Gestalter der neuen politischen Ordnung zunächst auf institutionelle Mechanismen, um eine Rückkehr der Tyrannei zu verhindern. Die Aufgabe, eine völlig gerechte oder anderweitig moralisch gute Gesellschaftsordnung zu schaffen, überließen sie ihren Nachfolgern; solche komplizierten Dinge stellt man besser zurück, bis der politische Rahmen gesetzt ist. 17 Aus der Geschichte erfolgreicher demokratischer Verfassungsgebung lässt sich nicht ableiten, dass Demokratie im grundlegenden Sinn auf der Skala der menschlichen Werte höher steht als materielle Gerechtigkeit. Andererseits lenkt der Blick auf die notwendigen Bedingungen für die Einrichtung der Demokratie die Aufmerksamkeit auf die Werte der politischen Teilhabe und staatsbürgerlichen Würde, die bei liberalen politischen Theorien, die sich vorrangig mit der Verteilungsgerechtigkeit beschäftigen, außen vor bleiben. Erst wenn
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Werte sichtbar gemacht und disaggregiert, also aufgeschlüsselt wurden, können wir die Frage nach ihrer relativen Bedeutung stellen. Ein Grund, sich mit der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus zu befassen, liegt also darin, dass man die Aufmerksamkeit wieder auf den intrinsischen Wert der Teilhabe an der gemeinsamen Selbstregierung für den Einzelnen richtet – einen Wert, der in der analytischen politischen Theorie oft unscharf geblieben, wenn nicht sogar geleugnet worden ist. 18 Im Folgenden möchte ich definieren, wie viel von dem, was liberale Demokraten schätzen, die Demokratie vor der Beimischung des Liberalismus leistet. Ich gehe nicht davon aus, dass allein die Demokratie liberalen Demokraten eine in ihren Augen gerechte Gesellschaftsordnung bieten könnte. Wir wir sehen werden (Kapitel 6), gibt es jedoch Spielarten des Liberalismus, die mit der Demokratie, zumindest in der Form, die ich hier diskutieren werde, nicht vereinbar sind. Aber ich werde auch gute Gründe (Kapitel 8) dafür anführen, dass die Demokratie tatsächlich ein stabiles Fundament für eine liberale Gesellschaftsordnung liefern und die Aufmerksamkeit auf andere wertvolle Lebensbedingungen lenken kann. Außerdem möchte ich jene Menschen erreichen, die sich nicht von den moralischen Positionen des Liberalismus angezogen fühlen, wohl aber von der Vorstellung einer nicht-tyrannischen Gesellschaftsordnung – Menschen also, die unter einer stabilen, nicht-autokratischen Regierung über sich selbst bestimmen möchten. Diese Menschen, von denen es, wie ich glaube, viele gibt, können mit Recht fragen, was die Demokratie im Hinblick auf Sicherheit und Wohlstand bietet, was sie im Hinblick auf Regeln und Verhaltensweisen erfordert und was sie im Hinblick auf Werte und Verpflichtungen beinhaltet. Einige Liberale mögen eine Unterscheidung von demokratischer Politik und liberaler Moral vielleicht als aggressiven Akt betrachten (als das moralische Äquivalent zur Verteilung von Messern an Geisteskranke), doch ich finde, dass die zeitgenössische politische Theorie jenen etwas zu sagen haben sollte, die nicht das ganze Paket „liberale Demokratie“ annehmen, dennoch ohne einen politi-
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schen Herrn leben wollen. Zudem offenbart ein besseres Verständnis der Bedingungen für eine Demokratie vor dem Liberalismus die Dummheit und Unrichtigkeit von Behauptungen zeitgenössischer illiberaler Populisten über das, was sie „Demokratie“ nennen. 19 Ich konzentriere mich auf die Demokratie, weil sie einerseits etwas ist, über das ich, wie ich meine, etwas Neues zu sagen habe, und weil es andererseits schon eine Menge guter analytischer Untersuchungen zum Liberalismus als solchen gibt. Über die Demokratie an sich ist zumindest in der modernen anglo-amerikanischen analytischen Forschungstradition weniger zu finden. Das liegt wohl zumindest teilweise daran, dass viele qualitativ hochwertige Demokratietheorien sich den Kreuzungen „demokratischer Liberalismus“ oder „liberale Demokratie“ verschrieben haben. 20 Dafür gibt es gute Gründe, denn demokratisch-liberale Mischformen bieten offenbar die besten verfügbaren Lösungen für Gesellschaften mit einem tief gehenden Wertepluralismus und stark ausgeprägten religiösen Identitäten. Zudem galten solche Mischformen vielen Menschen in der modernen Welt (auch mir) lange als bester normativer Rahmen der Gesellschaftsordnung. Doch in unserem hektischen Bemühen, genau festzulegen, was wir von einer politischen Ordnung erwarten und fordern, haben zeitgenössische liberale Demokraten die Dinge möglicherweise so sehr miteinander verschmolzen, dass sich kaum noch nachvollziehen lässt, welche Beziehungen denn nun tatsächlich zwischen Liberalismus und Demokratie bestehen – und welche nicht. In den Augen vieler moderner Politiktheoretiker bildet die Demokratie einen integralen Bestandteil liberaler Gerechtigkeitstheorien. 21 Der moralische Liberalismus kann meiner Überzeugung nach mit der Kerndemokratie vereinbar sein, auch wenn ich aufzeigen werde, warum bestimmte Umsetzungen liberaler Vorstellungen von Gerechtigkeit nicht mit der Demokratie zusammenpassen. Um jedoch zu entscheiden, ob und wann die relevanten Bedingungen und Werte kompatibel sind, sich gegenseitig stützen oder ausschließen, müssen wir Demokratie und Liberalismus voneinander trennen – was möglich sein sollte. Wie Duncan Bell gezeigt hat, entstand die Vorstellung
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der „liberalen Demokratie“, wie wir sie heute kennen, erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. 22 Andere moderne liberale Theoretiker behaupten, dass ein wohlmeinender Autokrat die Voraussetzungen für Liberalismus schaffen könne, der sich schließlich irgendwann mit der Demokratie verbinde – oder auch nicht (Zakaria 1997, 2003; Fukuyama 2011, 2014). Ein Autokrat könnte vielleicht die Regeln für eine liberale, aber nichtdemokratische Gesellschaft formulieren und durchsetzen. Allerdings würden die liberalen Regeln dann vom Willen des Herrschers abhängen, solange das Volk als kollektiver Akteur nicht die höchste politische Macht in Händen hält. 23 Ein Anführer mit der Macht, Gesetze zu erlassen und durchzusetzen, die einen koordinierten Widerstand in Form eines effektiven gemeinsamen Handelns seiner Untertanen verhindern, herrscht, wie es ihm gefällt – ungeachtet irgendwelcher „Hindernisse aus Pergament“, die man ihm mit seiner Erlaubnis in den Weg legt. 24 Diese Gefahr motiviert Demokraten dazu, Regeln einzuführen, die den Widerstand des Volkes erleichtern. Demokratie ist historisch wie theoretisch eine Ablehnung der Autokratie, und sei sie noch so wohlmeinend. Doch was ist mit der Gefahr der „illiberalen Demokratie“? Liberale Kritiker haben argumentiert, dass es sich bei der Demokratie vor der Beimischung des Liberalismus um nichts anderes als einen brutal illiberalen Populismus handelt (Riker 1982). Ich werde zu zeigen versuchen, dass die notwendigen Voraussetzungen für die Praxis der Demokratie nicht grundsätzlich liberal, aber ebensowenig illiberal sind. Genauso wie es in die Irre führt, wenn man Demokratie mit Liberalismus verschmilzt, ist es auch ein Fehler, Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus als Gegensatz zum Liberalismus aufzufassen. 25
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1.3. Normative Theorie, positive Theorie, historisches Denken Wenn man wissen will, was Demokratie ist, wozu sie gut ist und welche Voraussetzungen sie braucht, muss man drei Ansätze miteinander verbinden. Da wäre zunächst einmal die normative politische Theorie, die sich hier mit der Frage beschäftigt, was wir als menschliche Wesen benötigen, damit es uns als Individuen und als Mitgliedern von Gemeinschaften gut geht, und wie wir versuchen könnten, dies sicherzustellen. Weiterhin brauchen wir die positive politische Theorie, die strategisches Verhalten analysiert: Auf diese Weise lässt sich erklären, wie Probleme kollektiven Handelns so gelöst werden können, dass die Gesellschaftsordnung ebenso stabil wie anpassungsfähig bleibt und soziale Kooperation möglichst viele Vorteile bringt. Drittens ist schließlich historisches Denken wichtig, das Veränderungen in der dynamischen Beziehung zwischen Normen und Institutionen sowie sozialem Verhalten im zeitlichen Verlauf nachzeichnet. Dieser gemischte Ansatz ist in der zeitgenössischen politischen Theorie nicht unbedingt üblich, wohl aber bei vielen sehr bekannten politischen Theoretikern der klassischen Antike und der frühmodernen westlichen Tradition, etwa bei Thukydides, Aristoteles, Machiavelli, Hobbes, Locke, Rousseau, Hume, Smith, Montesquieu, Madison, Paine und Tocqueville. Die gegenläufigen und einander (gelegentlich) überschneidenden politischen Theorien zweier dieser Denker, nämlich Aristoteles (vor allem in Politik) und Thomas Hobbes (vor allem in Leviathan) werden in den folgenden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen. 26 Aristoteles, Hobbes und andere antike wie frühmoderne Theoretiker stellten fundamentale normative Fragen: Wie sollten in ihrer Entscheidung freie moralische Akteure ihr Gemeinwesen in Bezug auf Macht, Entscheidungsgewalt, Rechtswesen, Verteilung und Verhältnis zu anderen Einheiten ordnen? Was bräuchte man, um diese Gemeinwesen gerechter, legitimer oder demokratischer zu machen? Doch sie stellten auch fundamentale Fragen der „positiven Theorie“:
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Warum entscheiden sich einzelne Akteure so und nicht anders, und wie führen ihre Entscheidungen zu einem bestimmten Gemeinwesen, das im Hinblick auf Macht, Entscheidungsgewalt, Rechtswesen, Verteilung und Verhältnis zu anderen Einheiten so und nicht anders geordnet ist? Was würde man brauchen, um jene Ordnung so zu verändern, dass sie effizienter würde – dass sie zuverlässig mehr Menschen mehr und bessere Güter zu geringeren Kosten bereitstellen würde? Die antiken und frühmodernen Autoren begriffen, dass ihre normativen und positiven Theorien eine empirische Grundlage brauchten, und jene suchten sie üblicherweise in der Geschichte. Sie kannten sich in diesem Bereich sehr gut aus und interessierten sich für historische Entwicklung. Trotzdem gehörten sie nicht zu den Anhängern des Historizismus, der jede Gesellschaft als das einzigartige und unvergleichliche Produkt ihrer eigenen Vergangenheit behandelt oder historische Prozesse als unausweichlich auf ein benennbares Ende zulaufend begreift. Vielmehr verwendeten sie die Geschichte, um den Bereich des Möglichen zu definieren und auszuweiten. Sie erkannten, dass die frühere Existenz einer bestimmten Gesellschaftsordnung das Argument, dass „eine solche Gesellschaft unmöglich“ sei, widerlegt. Sie glaubten, aus historischen Beispielen des Erfolgs und des Scheiterns lernen zu können. 27 Wenn normative politische Theorie und positive Theorie heute scheinbar verschiedenen intellektuellen Welten angehören, hat das zumindest teilweise damit zu tun, dass die Fachleute der beiden Unterbereiche so unterschiedliche Sprachen verwenden: auf der einen Seite die Sprache der analytischen oder kontinentalen Philosophie und auf der anderen Seite die Sprache der Kausalschlüsse und der mathematischen Spieltheorie. Beide Sprachen können höchst technisch und für Nichteingeweihte undurchdringlich sein. Doch wie Bernard Williams (1993, 2005, 2006) gezeigt hat, kann politische Philosophie in eleganter Prosa geschrieben werden, und Michael Chwe (2013) hat mit Rückgriff auf die Romane von Jane Austen bewiesen, dass man für die Analyse sozialer Interaktion auf Basis spieltheoreti-
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scher Intuition nicht unbedingt Algebra braucht. Wenn wir die unterschiedlichen Sprachen außer Acht lassen, in denen zeitgenössische politische Philosophen und Sozialwissenschaftlicher ihre Theorien ausdrücken, und uns stattdessen den Ähnlichkeiten in den grundlegenden Fragen antiker wie frühmoderner politischer Theoretiker widmen, können wir sehen, dass die normative und die positive Theorie logisch miteinander verbunden sind. Sie bilden zwei Aspekte eines gemeinsamen Vorhabens, nämlich der Klärung der Frage, wie Entscheidungen, die Akteure in Gemeinschaften treffen, zu Formen sozialer Ordnung führen oder führen könnten, die mehr oder weniger wünschenswert sind.
1.4. Kurze Darstellung der Argumentation Die folgenden Kapitel sollen die Gültigkeit dreier Gruppen allgemeiner Thesen beweisen: I. Die Kerndemokratie ist eine ziemlich stabile gemeinsame Selbstregierung durch eine große und sozial breit gefächerte Organisation von Bürgern. Um längere Zeit bestehen zu können, braucht eine Demokratie Regeln, die durch habituelle soziale Verhaltensweisen zuverlässig gesichert werden. Diese Regeln müssen unter anderem die absolutistischen Tendenzen der kollektiven Herrscher beschränken und eine Bestrafung von Regelverletzungen durch Regierungsvertreter und andere mächtige gesellschaftliche Akteure zulassen, deren Handeln die demokratische Ordnung bedroht. Kerndemokratie ist keine Tyrannei der Mehrheit. Weder ist sie moralisch gebunden, noch wendet sie sich gegen Werteneutralität, universale Menschenrechte oder egalitäre Verteilungsprinzipien. Demokratie in ihrer grundlegenden Form ist weder die Antithese noch die Umsetzung des Liberalismus.
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II. Kerndemokratie kann gleichzeitig legitim und effektiv sein. Sie ermöglicht den Staatsbürgern ein vergleichsweise gutes und sicheres Leben ohne einen Herrn (wobei es den Nichtbürgern womöglich schlechter geht). 28 Sie ist gut für die Bürger, weil sie unter anderem: 1. die materiellen Bedingungen für menschliches Wohlergehen bereitstellt: angemessene Sicherheit vor äußeren und inneren Bedrohungen für Leben und Eigentum; hinreichende Wohlfahrt in Form von (zumindest) Nahrung, Unterkunft und Gesundheitsfürsorge; angemessene Möglichkeiten, gesellschaftlich anerkannte Projekte umzusetzen. 29 2. die freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten fördert: Geselligkeit, Vernunft und zwischenmenschliche Kommunikation. 3. wünschenswerte Bedingungen gesellschaftlicher Existenz bewahrt, vor allem politische Freiheit, politische Gleichheit und staatsbürgerliche Würde. 30 III. Eine Theorie der Kerndemokratie betont die Bedeutung der staatsbürgerlichen Erziehung. Sie stellt die Verbindung von politischen Praktiken und bestimmten Werten in den Vordergrund, die in der liberalen politischen Theorie oft eher marginalisiert werden, vor allem den intrinsischen Wert der Teilhabe und den unabhängigen Wert staatsbürgerlicher Würde. Sie liefert auch die Antworten auf zwei Fragen von Liberalen und Nicht-Liberalen: Wie kann man eine liberale Gesellschaft stabil und gleichzeitig anpassungsfähig machen? Wie könnte man eine nicht-liberale Gesellschaft ohne autokratische Herrscher aufrechterhalten? Vor allem jedoch möchte ich die Frage beantworten, ob eine demokratische Ordnung allein (ohne die Beimischung des Liberalismus) Stabilität und Beschränkung durch Gesetze bieten und gleichzeitig für ein angemessenes Sicherheits- und Wohlstandsniveau sorgen kann. Einige moderne Demokratietheoretiker hielten dies entweder aus Gründen, die sich aus der positiven politischen Theorie ergeben, für unvereinbar oder aus normativen Gründen heraus für nicht er-
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strebenswert. Joseph Schumpeter (1947) zum Beispiel, gefolgt von William Riker (1982, und andere) argumentierte, dass Demokratie keine gemeinsame Selbstregierung sein könne, da eine wirklich gemeinsame Selbstregierung wegen der mutmaßlichen Unmöglichkeit kollektiver Willensbildung und -äußerung nicht erreichbar sei. Sheldon Wolin (1996), dem sich einige „demokratische Agonisten“ anschlossen, vertrat die Ansicht, wahre Demokratie könne nicht stabil effektiv sein, weil die kollektive Handlungsfähigkeit verschwinde (sich verflüchtige), sobald Regeln in einer Verfassungsordnung verstetigt seien. 31 Benjamin Barber (1984) argumentierte in der Nachfolge Rousseaus, dass Demokratie nicht beschränkt sein solle, und behauptete, eine Demokratie müsse, um echt zu sein, auch „stark“ sein. Doch schon lange vor der modernen demokratischen Theorie wurde die Kerndemokratie fundamental infrage gestellt. In Leviathan behauptete Thomas Hobbes (1996 [1651]) bekanntermaßen, dass keine Regierungsform ohne eine übergeordnete, allmächtige Instanz die Sicherheit und den Wohlstand garantieren könne, die notwendig seien, um eine Gesellschaft aus dem brutalen „Naturzustand“ herauszuheben. Hobbes leugnete im Grunde die Möglichkeit einer selbstverstärkenden Gesellschaftsordnung, die irgendetwas bereitstellen könne, das auch nur annähernd an ein annehmbares Niveau von Sicherheit und Wohlstand heranreiche. Hobbes’ Haltung zur Notwendigkeit der Autokratie (im Sinne eines gesetzlosen Herrschers mit unbeschränkter Macht) fordert von Politiktheoretikern den Nachweis, dass eine Regierung, die eine normativ bessere Alternative zur krassen Entscheidung zwischen „Roheit“ (im Naturzustand) und „Sicherheit und wenigstens minimalem Wohlergehen unter einem gesetzlosen absolutistischen Herrscher“ bietet, auch den Anforderungen der positiven politischen Theorie genügen könnte. Diese Kapitel umreißen eine mögliche Antwort auf Hobbes’ Herausforderung. 32 Die hier vorgeschlagene Antwort wird minimalistisch präsentiert. Ich habe nicht vor, all das auszuführen, was sich ein normativer Theoretiker liberaler, perfektionistischer oder anderer Ausrichtung
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von einer demokratischen Gesellschaft erhoffen wird. Insbesondere behaupte ich in Bezug auf den Liberalismus nicht, dass die Demokratie an sich der Werteneutralität verpflichtet ist, individuelle Autonomie oder universale Menschenrechte garantiert oder Verteilungsgerechtigkeit sicherstellt. Demokratie, wie sie hier definiert ist, wird selbst ihren Staatsbürgern nicht alle Rechte bieten, die der zeitgenössische Liberalismus (nach Rawls oder anderen egalitären Gesellschaftstheoretikern) fordert. 33 Andererseits aber verhindern die Institutionen und Verhaltensweisen, die für die Erhaltung der Demokratie wesentlich sind, auch nicht unbedingt eine umfassendere Rechtsordnung. Die Demokratie kann darüber hinaus Güter bereitstellen, die der Liberalismus an sich nicht fördert. Sie kann analytisch vom Liberalismus unterschieden werden, selbst wenn sie sich, wie ich darlegen werde, als weitgehend vereinbar mit einigen Versionen des Liberalismus erweist. Kurz gesagt behaupte ich, dass Demokratie wünschens- und erstrebenswert sein kann, auch wenn sie weder liberal noch anti-liberal ist. Falls sich diese Behauptung in Theorie und Praxis bewahrheiten sollte, hätte dies beträchtliche Implikationen für die Politik. 34 Im Buch geht es folgendermaßen weiter: Kapitel 2 lässt die Geschichte der politischen Entwicklung im klassischen Athen Revue passieren, denn sie ist unsere bestdokumentierte Fallstudie einer funktionierenden, von den philosophischen Ideen frühmoderner oder heutiger Liberaler unberührten Demokratie. Besondere Aufmerksamkeit zollen wir dabei den ursprünglichen und den „ausgereiften athenischen“ Bedeutungen des griechischen Begriffs demokratia – was verstanden die Athener, die sie praktizierten, unter Demokratie? Kapitel 3 stellt das Gedankenexperiment Demopolis vor: die grundlegende öffentliche Ordnung einer fiktiven Gesellschaft von Menschen, die unserer Annahme zufolge zwar ganz verschieden sind, aber alle lieber in einem Land leben, das sicher und einigermaßen wohlhabend ist und überdies nicht von Autokraten regiert wird. Die Einwohner von Demopolis sind bereit, gewisse Kosten zu tragen, um in einem solchen Land zu leben, aber sie fordern auch
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eine adäquate Möglichkeit, außerhalb der Politik Projekte voranzutreiben, die ihnen persönlich am Herzen liegen. Kapitel 4 beschäftigt sich mit der Legitimierung von Demopolis, ausgehend von der Annahme, dass sich das Gemeinwesen noch keinen liberalen Überbau zu eigen gemacht hat. Ein legitimierendes Argument in Form der staatsbürgerlichen Erziehung für potenzielle zukünftige Bürger beantwortet die Frage, wozu Demokratie in materieller wie nicht-materieller Hinsicht gut ist. Kapitel 5 zeigt, dass Aristoteles und Hobbes trotz ihrer fundamental verschiedenen Vorstellungen von Moralpsychologie in der Ansicht übereinstimmten, dass Menschen angeborene Fähigkeiten für Geselligkeit, Rationalität und verbale Kommunikation besitzen. Demokratie bietet ihren Bürgern die uneingeschränkte Möglichkeit, diese Grundfähigkeiten durch die gemeinsame Selbstregierung auszuüben, was meiner Ansicht nach an sich schon positiv ist. Kapitel 6 prüft die Grundbedingungen der Kerndemokratie – politische Freiheit, politische Gleichheit und insbesondere die staatsbürgerliche Würde, die in der Möglichkeit der politischen Teilhabe zum Ausdruck kommt. Das rational eigennützige Handeln von Bürgern zur gegenseitigen Verteidigung der Bürgerwürde spricht das immer wieder auftauchende gesellschaftliche Problem an, wie man das Verhalten arroganter Individuen kontrollieren kann, die ihre eigene Überlegenheit zu zeigen versuchen, indem sie andere demütigen und bevormunden. Der Anspruch, dass teilhabende Bürger als Erwachsene behandelt werden, beschränkt darüber hinaus extreme Varianten libertärer und egalitärer Verteilungsgerechtigkeit. Kapitel 7 wendet sich der Delegierung von Macht an Repräsentanten zu und der Entwicklung von Instituitionen, die darauf ausgerichtet sind, wichtiges Fachwissen bei demokratischen Entscheidungen von allgemeinem Interesse zu nutzen, ohne dass der Staat durch eine Elite gekapert wird. Wenn die Bürger als Kollektiv fähig sind, sich selbst zu regieren, werden ihre Repräsentanten abgeschreckt, eine autokratische Herrschaft anzustreben. Eine Bürgerschaft ist in dem Maße vor
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den Gefahren kollektiven Unwissens gefeit, in dem sie Fachwissen effektiv nutzen kann. Kapitel 8 schließlich fasst die in den vorhergehenden Kapiteln entwickelte Theorie der Kerndemokratie noch einmal zusammen. Einige leicht vorstellbare Spielarten liberaler und nicht-liberaler Gesellschaften können ein grunddemokratisches Fundament gar nicht nutzen, wenn sie ihren Werten treu bleiben wollen. Dennoch könnte die Kerndemokratie einer ganzen Reihe von Liberalen und womöglich auch einigen religiösen Traditionalisten von Nutzen sein, die einen politischen Rahmen für eine Gesellschaft suchen, die einer erkennbaren Moralordnung verpflichtet ist. Und schließlich wird der vorsichtige Optimismus des Vorworts durch einen Epilog gedämpft: Dort entwerfe ich eine „Demokratie der Angst“, in der Hoffnung, dass ein kerndemokratischer Rahmen als Bastion gegen die entsetzlichen gesellschaftlichen Bedingungen einer möglichen Zukunft „nach dem Ende des Liberalismus“ dienen kann. Anmerkungen 1
Zu der Frage, wozu Demokratie gut ist, siehe Kraut 2007. Zu den „Bedingungen für Demokratie“: Ober 2003. 2 World Values Survey, Welle 6 (2010–2014): Frage V140: „Wie wichtig ist es für Sie, in einem Land zu leben, das demokratisch regiert wird? Für Ihre Antwort benutzen Sie bitte diese Skala, auf der 1 für ‚überhaupt nicht wichtig‘ und 10 für ‚absolut wichtig‘ steht.“ Frage V141: „Und [auf derselben Skala] wie demokratisch, meinen Sie, wird dieses Land heute alles in allem regiert?“ http://www.worldvaluessurvey.org/ abgerufen am 8. 3. 2017. Ergebnisse zusammengefasst in Achen und Bartels 2016: 4–6, Abb. 1.1. 3 Gallie 1955, der den Ausdruck des „Essentially Contested Concept“ („wesensmäßig umstrittener Begriff“) geprägt hat, zählt die Demokratie zu seinen vier „Live“-Beispielen, siehe bes. 168–169; 184–186. Solche Konzepte haben die folgenden Eigenschaften, die jeweils für die Diskussion in diesem Buch von Bedeutung sind: Sie sind bewertet in dem Sinne, dass sie etwas bezeichnen oder anerkennen. Sie sind in sich komplex, sodass sie eine Vielfalt von Beschreibungen zulassen, in denen verschiedene Aspekte in unterschiedlichen Gewichtungen abgestuft sind. Sie sind ihrem Charakter nach offen und wer-
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den aggressiv wie defensiv gebraucht. Diejenigen, die das Konzept verwenden, berufen sich typischerweise auf die Autorität eines historischen Musterbeispiels. Die Verwendung des Konzepts führt zu echten (produktiven, wenn nicht sogar lösbaren) Auseinandersetzungen bezüglich seiner Bedeutung. 4 Das griechische Wort demos kann alternativ auch „Bürgerversammlung“, „Mehrheit einer Bürgerversammlung“, „Bürger, die nicht der Elite angehören“ und „die vielen relativ Armen“ bedeuten. Diese anderen Bedeutungen sind sekundär, sie sind historisch später entstanden und leiten sich von der Grundbedeutung „Bürgerschaft/Volk“ ab. Siehe unten Kapitel 2. 5 Man beachte, dass die Legitimierung der Herrschaft des Demos jedem Bürger dargelegt werden muss, um sich dessen Zustimmung zu sichern und die Stabilität zu bewahren (Kap. 4.4), aber (anders als in liberalen Theorien des Gesellschaftsvertrags) keine Erklärung dafür ist, dass die Beschränkung eines angenommenen ursprünglichen Zustands vorpolitischer individueller Freiheit rational wünschenswert ist, und auch nicht (wie in liberalen Gerechtigkeitstheorien, z. B. Christiano 2008: 232–240) auf einem Anspruch in Bezug auf die Verteilungsgerechtigkeit gründet. Vielmehr bestreitet die Rechtfertigung für die Demokratie die Ansprüche rivalisierender Anwärter auf die Herrschaft dahingehend, dass ein anderes System besser in der Lage sei, die Zwecke zu erfüllen, um derentwillen der Staat existiert. 6 Wie unten näher erklärt, verstehe ich die liberalen Theoriewerke von John Rawls als maßgeblich für den zeitgenössischen „Mainstream“. Christiano 2008 und Estlund 2008 sind Beispiele expliziter Moraltheorien der Demokratie, die Rawls in mancher Hinsicht kritisch gegenüberstehen. Man muss dabei immer im Hinterkopf behalten, dass einige einflussreiche Strömungen der zeitgenössischen liberalen Theorie sich auf die Maximierung eines gesellschaftlich geschätzten Nutzens (z. B. Präferenzbefriedigung) konzentrieren, statt Rechte zu verteidigen (Singer 1993), und andere keine Werteneutralität des Staates erfordern (Raz 1986). 7 Kerndemokratie könnte man als eine Variante dessen betrachten, was Achen und Bartels 2016: 1, als die „Alltagstheorie der Demokratie“ bezeichnen, die besagt, dass „die Demokratie die Bürger zu den Herrschern macht und die Legitimität ihrer Zustimmung entspringt“. Achen und Bartels nehmen für sich in Anspruch, die „Alltagstheorie“ widerlegt zu haben, indem sie zeigten, dass sie auf empirisch falsifizierbaren und unrealistisch optimistischen Vorannahmen in Bezug auf das politische Wissen und Urteilsvermögen der Durchschnittsbürger basiert. Bei Achens und Bartels’ deflationärer Charakterisierung der „Alltagstheorie“ geht es vor allem darum, ideologische Präferenzen von Individuen und (insbesondere) von Gruppen (statt gemeinsamer Interessen) nachzuvollziehen. Sie konzentriert sich fast ganz auf
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Theorien und Studien zum amerikanischen Wahlverhalten. Ich überlasse es den Lesern, zu entscheiden, ob die hier entwickelte Theorie der Kerndemokratie durch ihre empirische Anfechtung widerlegt wird. 8 Zu den grundlegenden Übereinkünften, die eine Koordination vieler Individuen mit sonst unterschiedlichen Präferenzen ermöglichen, siehe Hardin 1999. Mein fiktives Demopolis ist nicht zu verwechseln mit der Kleinstadt Demopolis, Alabama (etwa 7500 Einwohner im Jahr 2010), dessen französische Gründer im 19. Jahrhundert den Namen angeblich zu Ehren ihrer demokratischen Ideale wählten: https://en.wikipedia.org/wiki/Demopolis, _Alabama (abgerufen am 1. 3. 2017). 9 So erleichtert die Kerndemokratie zum Beispiel die Mobilisierung gegen äußere und innere Bedrohungen der Regierung, ist aber möglicherweise nicht in der Lage, aus sich heraus Bürgern hinreichende Gründe zu bieten, um ihr Opfer im Krieg zu rechtfertigen, oder einen Weg, sich mit den gedachten Ansprüchen der Kriegstoten auseinanderzusetzen. Meinen Dank an Catherine Frost und Ryan Balot, die bei diesen Themen nicht lockergelassen haben. Zudem löst die Kerndemokratie vielleicht nicht das Problem des religiösen Pluralismus, dem Auslöser für die Entstehung des Liberalismus. 10 Bell 2014 zeichnet die Geschichte der Verwendung des Begriffs „Liberalismus“ im politischen Diskurs nach. Eine kritische Übersicht über den moralischen Liberalismus: Gaus 2014; seinerseits kritisch besprochen von Runciman 2017. Ich gehe nicht davon aus, dass der Liberalismus notwendig metaphysisch (statt politisch) oder ein umfassendes Wertesystem ist (Rawls 1996 trat dafür ein, dass er das nicht ist). Mein Ansatz hier entspricht dem von Williams 2005: Kap. 1 („Realism and Moralism in Political Theory“), der sagt, dass es für die politische Theorie nicht notwendig sei, zunächst ein moralisches Fundament zu legen. Allerdings zeigt sich tatsächlich, dass ethische Prinzipien aus der Praxis demokratischer Politik erwachsen (unten Kapitel 3.6, 5.4, 6.1). Siehe auch Hardin 1999 zu Koordinationstheorien des wechselseitigen Vorteils und Waldron 2013 zu „politischer Politiktheorie“. Für einen Überblick über moderne Versionen des politischen Realismus und den Kontrast zur „hochliberalen“ Theorie siehe Galston 2010 mit der Antwort von Estlund 2014. 11 Ich behaupte nicht, dass reale Menschen durch und durch rational agieren, in dem Sinn, dass sie eigennützig, strategisch, nicht-altruistisch oder unbeeindruckt von ethischen Emotionen oder Intuitionen handeln – also wie Richard Thalers (2015) „Econs“. Vielmehr geht meine Behauptung dahin, dass (1) ein gewisser Grad an strategischer Rationalität bei den meisten normalen Menschen deutlich wird und dass (2) diese Rationalität die MikroGrundlagen für einen modus vivendi unter Menschen mit ansonsten unter-
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schiedlichen moralpsychologischen Positionen bereitstellen kann, die sich (bisher) noch nicht auf gemeinsame, über jenen modus vivendi hinausführende Wertgrundsätze geeinigt haben. 12 Der frühmoderne „klassische“ Liberalismus, der auf Naturrecht, Annahmen über angeborene Freiheit und Gleichheit der Menschen und der Notwendigkeit, die Regierungsmacht zu beschränken, basiert, entstand als ein modus vivendi für einen modernen Staat in Verbindung und in der Auseinandersetzung mit dem Republikanismus (Kalyvas und Katznelson 2008). Diese klassische Form des Liberalismus wurde in Großbritannien und den Vereinigten Staaten tatsächlich als Regierungstyp angestrebt und umgesetzt. Eine ordnende Übersicht über die historische Bedeutung demokratischer (oder republikanischer) und klassisch liberaler Elemente in britischen und amerikanischen Regierungen vom späten 17. bis zum frühen 19. Jahrhundert würde mich weit über meine Fachgebiete hinausführen und ist für meine Darlegung nicht direkt relevant. Dank an Robert Keohane und Stefan Sciaraffa, die bei diesem Thema immer wieder nachgehakt haben. 13 Dynamische selbstverstärkende Gleichgewichte in der Gesellschaftstheorie: Greif und Laitin 2004. Das Fehlen einer Gleichgewichtslösung ist, kurz gesagt, das, was die ideale Theorie (paradigmatisch Platons Staat und Rawls 1971) von der Art „nicht-idealer Theorie“ unterscheidet, mit der ich mich hier beschäftige. Hardin 1999: 6–9 verweist darauf, dass der zeitgenössische Liberalismus, insoweit er sich auf die Verteilungsgerechtigkeit konzentriert, keine Gleichgewichtsheorie ist. Galston 2010: 398–400, weist in dieselbe Richtung, indem er betont, dass der politische Realismus Bedingungen sucht, die eine gesellschaftliche Stabilität ermöglichen, und dass das, was er „Hochliberalismus“ nennt, keine Antwort darauf hat, wie eine Gesellschaft verschiedener Individuen stabilisiert werden könnte. Ein zentraler Punkt von Skinner 1998, wenn auch nicht in der Sprache der Gleichgewichtstheorie ausgedrückt, ist die Unfähigkeit des Liberalismus, die Bedingungen seiner eigenen Existenz ohne eine politische Form, die den Bürgern Gründe gibt, den Staat zu verteidigen, zu sichern. Man beachte, dass das Fehlen einer Gleichgewichtslösung nicht impliziert, dass dem moralischen Liberalismus ein Interesse an oder eine Beschäftigung mit der Macht fehlt; siehe weiterführend Runciman 2017. 14 Antike Konzeptionen von sozialer Gerechtigkeit im Nahen Osten: Westbrook 1995; frühe griechische Vorstellungen von Gerechtigkeit: Lloyd-Jones 1971. 15 Zu den Methoden, mit denen das frühgriechische Recht Konzeptionen von Gerechtigkeit als Fairness bei der Verteilung von Gütern einsetzte, siehe Ober 2005b.
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1 · Die Kerndemokratie
Im Gegensatz dazu Pettit 2013, der beim Aufbau seiner republikanischen Demokratietheorie mit der Gerechtigkeit beginnt (die er aus der Freiheit als Nicht-Beherrschtwerden abzuleiten versucht). McCormick 2011 bietet eine Theorie der „machiavellischen Demokratie“, die sich wie Pettits Republikanismus auf das Nicht-Beherrschtwerden konzentriert, sich aber wie meine Darstellung der Kerndemokratie auch mit aktiver Bürgerteilhabe bei der Formulierung und Durchsetzung des Gesetzes (Kap. 3) beschäftigt und in ihrer Konzentration auf die Gefahren einer Kaperung durch Eliten (Kap. 6) explizit eher demokratisch als republikanisch ist. Im Mittelpunkt von McCormicks Theorie steht Machiavellis Darstellung des römischen Republikanismus in den Discorsi, wobei er durchaus erkennt (S. 78), dass Machiavelli einige Institutionen der tatsächlichen römischen Republik verzerrt darstellte. 17 Siehe dagegen die postrevolutionären Entwicklungsbahnen von Reformern, die nach der Französischen Revolution 1789, der Russischen Revolution 1917 oder der Chinesischen Revolution 1949 eine völlig gerechte oder tugendhafte Gesellschaft schaffen wollten. Die materielle Ungerechtigkeit der Institutionalisierung der Sklaverei in der US-amerikanischen Verfassung ist nur ein Beispiel für einen solchen Aufschub. 18 Zu den bemerkenswerten Ausnahmen, bei denen die bürgerschaftliche Teilhabe (jenseits des Wählens) eine zentrale Rolle für die Theorie spielt, gehören Pateman 1970; Fung 2004; Macedo et al. 2005; McCormick 2011. 19 Zur Definition des Populismus als eine Perversion der Demokratie siehe Müller 2016. 20 Eine kleine Auswahl aus der umfangreichen Literatur: Gutman 1980; Dahl 1989; Christiano 1996; Brettschneider 2007; Estlund 2008; Stilz 2009. Dagegen Rosanvallon 2006: 37 zur „Dualität … zwischen Liberalismus und Demokratie“. 21 Rawls 1996, 2001; J. Cohen 1996; Habermas 1992. Rawls 2001: 5 scheint ein Postulat einer „Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus“ zu akzeptieren, wenn er behauptet, dass seine Theorie der Gerechtigkeit als Fairness ihre Prinzipien von der „öffentlichen politischen Kultur einer demokratischen Gesellschaft“ ableitet (zitiert in Galston 2010: 388). Ellerman 2015 bietet ein zwingendes Argument dahingehend, dass der klassische Liberalismus tatsächlich die Demokratie impliziert in dem Sinne, dass die Individuen in ihren eigenen Organisationen federführend sein müssen. 22 Bell 2014: 694–704 führt die Verbindung von Demokratie und Liberalismus bis in das 19. Jahrhundert zurück, zeigt aber, dass die Mischform „liberale Demokratie“ erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts auftauchte: „Die wohl bedeutendste konzeptuelle Entwicklung der Zeit zwischen den Kriegen
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war das Auftauchen der Idee der ‚liberalen Demokratie‘.“ Vor 1930 kaum sichtbar, begann sie im nächsten Jahrzehnt vorher bestehende Benennungen euro-atlantischer Staaten zu ersetzen. In den 1940er- und 1950er-Jahren wurde der Begriff „gängig“ (Zitat: 703). Siehe auch Müller 2011. 23 Klassische Liberale (vor allem Locke in seiner Zweiten Abhandlung über die Regierung 1988 [1689]) haben lange nach Wegen gesucht, die Macht von Herrschern zu beschränken, etwa indem die Macht des Herrschers Gesetzen unterworfen werde, die mithilfe eines „Widerstandsrechts“ des Volkes durchgesetzt würden; siehe weiter dazu Bell 2014. Ohne die richtigen Institutionen haben die Menschen jedoch keine Mittel, um das Vorgehen gegen einen die Grenzen übertretenden Herrscher zu koordinieren. 24 „Hindernisse aus Pergament“ Federalist 48. Wenn der Herrscher durch die Hindernisse tatsächlich beschränkt wird, d. h. davon ausgehen kann, dass er bei einer Regelverletzung bestraft oder abgesetzt wird, ist er kein Autokrat im engeren Sinn. 25 Galston 2010: 391 benennt als eine Voraussetzung jeder realistischen Politiktheorie: „Die Individuen müssen übereinstimmen, dass die Kernherausforderung der Politik darin besteht, die Anarchie zu überwinden, ohne die Tyrannei zu akzeptieren.“ Allerdings schließt seine Definition von Tyrannei, die auf brutaler Terrorisierung und Beherrschung beruht, die „wohlmeinende Autokratie“ aus. In Anbetracht der Tatsache, dass der griechische Begriff tyrannos ursprünglich nicht nur brutale Herrscher bezeichnete, fühle ich mich berechtigt, „Nicht-Tyrannei“ als Synonym für „Nicht-Autokratie“ zu verwenden. Ich weiche allerdings von der griechischen Standardverwendung des Wortes ab, indem ich auch eine kleine Herrschaftskoalition (im griechischen politischen Vokabular eine dynasteia) in meine Definition von „Tyrannei“ aufnehme. 26 Das Konzept der „normativen und positiven politischen Theorie“, das neben der historischen Untersuchung die methodologische Basis dieses Buches bildet, entstand aus einem gemeinsamen Projekt mit Federica Carugati und Barry Weingast heraus, das wir in verschiedenen gerade in Vorbereitung befindlichen Artikeln und in Seminaren in Stanford zur „Politik mit hohem Einsatz“ entwickelten. Es ist in Carugati, Ober und Weingast 2015 und in Vorbereitung skizziert. Unser Ansatz versucht, den „manichäischen Dualismus“ zu überwinden, den Williams (2005: 12) pointiert als charakteristisch für die amerikanische politische Theorie und Politikwissenschaft hervorgehoben hat. Andere beschäftigen sich offenbar mit einem ähnlichen Projekt: z. B. auf ganz anderen Ebenen Hardin 1999; Rosanvallon 2006. Zwei neuere Bücher von bekannten Experten für amerikanische Politik, Achen und Bartels (2016) und Shapiro (2016) bieten gegensätzliche „realistische“
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1 · Die Kerndemokratie
Theorien demokratischer Politik und verbinden dabei normative und positive politische Theorie sowie (meist amerikanische) Geschichte. Obwohl beide Bücher stark vom zeitgenössischen Liberalismus geprägt sind, kommen die Autoren zu klar gegensätzlichen Positionen. Achen und Bartels fordern eine sehr viel größere Rolle für entpolitisierte Regulierungsbehörden und eine Beschränkung der Rolle des Wählens uninformierter Bürger. Shapiro fordert eine verstärkte Form des Schumpeter’schen Kampfes um Mehrheiten und prangert die sklerotischen Tendenzen republikanischer Beschränkungen des Mehrheitsprinzips an. Beide Bücher beginnen mit einer Standortbestimmung (in den Vereinigten Staaten, im frühen 21. Jahrhundert) und keines konzentriert sich auf die historischen Bedingungen der amerikanischen Gründerzeit, als viel auf dem Spiel stand. Keines spricht die Probleme an, die sich aus ihren bevorzugten Lösungen ergeben (bei Achen und Bartels: nichtverantwortliche Technokratie, bei Shapiro: populistische Autokratie), aber beide bringen dankenswerterweise die Probleme der jeweils anderen Position klar zur Sprache. 27 Herodot, Historien, ist ein Paradebeispiel. Meckstroth 2015 ist ein beeindruckendes Beispiel aus jüngster Zeit für eine normative demokratische Theorie, die ausdrücklich in der Geschichte gründet. Green 2015 fordert eine Annäherung zwischen Ideengeschichte und normativer politischer Theorie, aber er beschäftigt sich vor allem mit historischen Vorstellungen von Politik und nicht so sehr mit der Geschichte politischer Praxis. 28 „Gut für“ muss nicht unbedingt „notwendig für“ oder „hinreichend für“ implizieren. Das antike Athen war (wie die Vereinigten Staaten vor 1865) eine Sklavengesellschaft, in der Frauen und ansässige Fremde keine Teilhaberechte hatten. Allerdings wurde Nichtbürgern, auch wenigstens einigen Sklaven, ein gewisser Schutz durch das Recht gewährt: Ober 2010; unten Kapitel 4.3, 8.3. 29 Zu Angemessenheit und Gleichheit siehe Frankfurt 1987. 30 N.B. Die Liberalen schätzen heute meist tief greifendere und umfassendere Formen von Freiheit, Gleichheit und Würde, als die Kerndemokratie sie erfordert. Siehe Kapitel 6. 31 Demokratische Agonisten: unten, Kapitel 8, mit Anmerkung 6. 32 Hobbes’ Gesellschaftstheorie wird in den Kapiteln 4.3 und 5.1–3 ausführlicher diskutiert. Meine Deutung von Hobbes, wie ich sie hier vorstelle, versteht ihn als einen Theoretiker des Absolutismus, nicht als einen Proto-Demokraten, eine Position, die Tuck 2007 und 2016 vertritt. 33 Demokratie geht von einer gemeinsamen Verpflichtung aus, die (wenigstens) kollektive Sicherheit und eine minimale Wohlfahrt durch gemeinsame Selbstregierung durch die Bürger zum Ziel hat, und wird Konzepten, die
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diesen Zielen entgegenstehen, keine gleichberechtigte Stellung einräumen (Kapitel 8.5). Dennoch wird eine Kerndemokratie abweichende politische Meinungen zulassen, ja sogar dazu auffordern: Ober 1998. 34 Siehe Ober 2012, „Conclusions“. Ich beschäftige mich hier nicht mit der Frage der Demokratie (oder der Demokratiedefizite) in internationalen Institutionen, die über die Grenzen eines Staates hinausgehen, so wichtig diese Frage für die zeitgenössische normative Theorie auch sein mag.
Kapitel 2
Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen Eine politische Theorie der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus, die realistisch und nicht utopisch oder in anderer Weise idealisiert sein will, muss umsetzbar sein. Um diese Möglichkeit zu belegen, genügt ein einziges Beispiel. Die neue Form einer vom Volk ausgehenden Regierung, die die Athener direkt nach der Revolution von 508 v. Chr. schufen, war das erste politische Regime weltweit, das sich selbst als „Demokratie“ bezeichnete. Das klassische Athen vom späten 6. bis zum späten 4. Jahrhundert v. Chr. bietet zudem das bekannteste und am besten dokumentierte Beispiel einer dauerhaften Demokratie in einer komplexen Gesellschaft vor der Entwicklung des liberalen politischen Denkens. Die Geschichte der athenischen Demokratie und ihrer Institutionen habe ich an anderer Stelle ausführlicher dargelegt. 1 Hier werde ich mich, nachdem ich die politische Entwicklung Athens kurz habe Revue passieren lassen, mit der ursprünglichen und der ausgereiften Bedeutung des griechischen Wortes demokratia bei Anhängern und Kritikern der Demokratie in der antiken griechischen Welt beschäftigen. Damit will ich zeigen, dass sich in unserem historischen Fall sowohl das konzeptuelle Verständnis wie auch die institutionelle Form deutlich unterschieden von jener instabilen, willkürlichen und gelegentlich brutalen, von Populisten gesteuerten Tyrannei der Mehrheit, wofür viele die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus halten. Die antike athenische Gesellschaft besaß offensichtlich viele historisch bedingte Charakterzüge. Das Gedankenexperiment Demopolis im folgenden Kapitel löst sich von der Geschichte. Demopolis zeigt, dass ein von den Bürgern regierter Staat, der in vielen wichtigen
Die politische Geschichte Athens
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Zügen der athenischen Demokratie ähnelt, weder etwa durch Sklaverei oder ein ausschließlich männliches Wahlrecht belastet noch durch direktdemokratische Entscheidungswege in der Größe beschränkt sein muss.
2.1. Die politische Geschichte Athens Mit einer Gesamteinwohnerzahl von etwa 250 000 Personen, einer (erwachsenen männlichen) Bürgerschaft von mehreren Zehntausend Personen (vielleicht bis zu 50 000+ um 431 v. Chr.; etwa 30 000 im 4. Jahrhundert v. Chr., dem Zeitalter des Platon und Aristoteles) und einem Heimatterritorium von etwa 2500 km2 handelte es sich bei Athen um einen besonders großen Stadtstaat. Es war zudem außergewöhnlich vielfältig, umfasste mehrere unterschiedliche Regionen, viele lokale Kulte und Hunderte ökonomische Spezialisierungen. Die Athener waren sich der Unterschiede zwischen den einzelnen Schichten sehr bewusst. Die Organisation dieser Vielfalt innerhalb der Bürgerschaft gehörte zu den vorrangigen Aufgaben stadtstaatlicher Institutionen (Ober 1989). Athens Größe erwies sich erst dann als Vorteil, als nach der Revolution von 508 v. Chr. die bürgerliche Identität durch mehrere dramatische Reformen gestärkt und ein koordiniertes politisches Handeln einer großen Bürgerschaft bei Angelegenheiten von allgemeinem Interesse möglich wurde. Bedeutende postrevolutionäre demokratische Reformen machten alle männlichen Einwohner und (in der Zukunft) ihre männlichen Nachkommen ohne jede Besitz- oder Einkommensqualifikation zu mitbestimmenden Bürgern. Die neue Ordnung schuf auch einen Bürgerrat, der per Los aus den verschiedenen Regionen der Polis bestimmt wurde. Dieser Rat erledigte den Großteil des alltäglichen Regierungsgeschäfts und bestimmte die Tagesordnung einer gesetzgebenden Versammlung, an der alle Bürger teilnehmen durften. Im 4. Jahrhundert v. Chr. trat diese Versammlung jährlich 40-mal zusammen; durchschnittlich nahm ein Fünftel bis ein Viertel aller Bür-
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
ger daran teil. Die versammelten Bürger diskutierten über Gesetzesvorschläge und stimmten direkt darüber ab. Jede Stimme besaß das gleiche Gewicht. Auch die Geschworenen in den Volksgerichten und die meisten Magistrate wurden per Los bestimmt. Einige wenige Amtsträger, vor allem Militärbefehlshaber, Bautechniker und (später) bestimmte Finanzbeamte wurden für ein Jahr mit der Möglichkeit einer Verlängerung gewählt. Alle Bürgerbeamten mussten sich nach einem Dienstjahr einer offiziellen Befragung stellen. Die Demokratie Athens war eine unmittelbare Regierung durch die Bürger. Die versammelten Bürger stimmten direkt über die politischen Entscheidungen ab; sie wählten keine Repräsentanten, um für sie zu entscheiden. Und doch führt die gängige Ansicht, dass die Repräsentation ein rein modernes Konzept und dem antiken demokratischen Denken völlig fremd sei (z. B. Rosanvallon 2006: 62), in die Irre. Man stellte sich nämlich den athenischen Demos (also die Gesamtheit der Bürger) in Gestalt jener Bürger vor, die an der jeweiligen Versammlung teilnahmen. So wurde der Demos konzeptuell durch einen Teil der Bürger repräsentiert. Ähnlich wurden die Entscheidungen von den 500 ausgelosten Ratsherren, von Geschworenengerichten (üblicherweise bestehend aus 201 oder 501 Bürgern, die älter als 30 Jahre waren) und ausgelosten „Gesetzgebern“ (s. u. 2.3) als Entscheidungen des gesamten Volkes verstanden und waren für die gesamte Gemeinschaft bindend (Ober 1996: Kap. 8). Weil Athen verglichen mit den meisten modernen Nationalstaaten sehr klein war, sahen sich die Athener nicht mit den Problemen konfrontiert, die entstehen, wenn man die Regelsetzung an gewählte Repräsentanten delegiert (Kapitel 7). Es gibt aber in der athenischen Vorstellung von Demokratie, der wir uns unten (Kapitel 2.2) zuwenden, nichts, das eine politische Repräsentation unmöglich machen würde. Athens Demokratie dauerte mit zwei kurzen oligarchischen Zwischenspielen (410, 404 v. Chr.) bis 322 v. Chr. an. Die athenische politische Kultur entfaltete sich 180 Jahre lang, und die athenische Regierung erwies sich als überaus anpassungsfähig. Verständnis und Praxis der Demokratie wurden immer weiter verfeinert. Rede- und
Die politische Geschichte Athens
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Versammlungsfreiheit, Gleichheit der Stimmen und des Zugangs zu Ämtern und staatsbürgerliche Würde als Freiheit von Demütigung und Bevormundung wurden durch formale Regeln und damit verbundene Verhaltensnormen gestärkt. Die Athener justierten die institutionellen Mechanismen ihrer Regierung regelmäßig. Im Laufe des 5. Jahrhunderts v. Chr. wurden Gesetze beschlossen, die eine Bezahlung für viele Formen des öffentlichen Dienstes einführten, darunter auch für den Dienst als Geschworener in den Volksgerichten. Im Jahr 451 v. Chr. wurde das Bürgerrecht von Geburt an auf die legitimen Söhne einheimischer Frauen, die mit einheimischen Männern verheiratet waren, beschränkt, und damit wurden im Grunde die Athenerinnen als Mitteilhabende an der Bildung der Bürgerschaft anerkannt (während den Söhnen ausländischer Ehefrauen athenischer Männer das Bürgerrecht verweigert wurde). Im späten 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. beschränkten Verfassungsänderungen, die weiter unten in diesem Kapitel dargestellt werden, die direkte gesetzgeberische Macht der Bürgerversammlung, ohne die kollektive Macht der Bürger über alle Aspekte der Staatsregierung zu verringern. Es gab einige weitere institutionelle Innovationen Athens, die wir im Folgenden betrachten werden; doch vom Anfang bis zum Ende der demokratischen Ära blieb die Demokratie im Kern als Selbstregierung der Bürger erhalten. Die athenische politische Entwicklung bietet erste, historisch bedingte Antworten auf die Fragen, mit denen wir angefangen haben – Fragen dazu, was Kerndemokratie ist, warum sie entsteht, wie sie aufrechterhalten wird und wozu sie gut ist. An unseren heutigen Normen gemessen war Athen von einer liberalen Gesellschaft weit entfernt: Die athenische Demokratie entstand in einem kulturellen Rahmen, in dem aktive Teilhabe an der Regierung als Gesetzgeber, Geschworener oder Beamter strikt auf Männer und im Normalfall auf einheimische Männer beschränkt war. Die Sklaverei war stark verbreitet (vielleicht waren bis zu einem Drittel aller Einwohner Athens Sklaven) und galt weitgehend als selbstverständlich. „Frevel gegen die Götter“ war zwar nicht im Einzelnen im athenischen Recht
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
definiert, stellte aber ein Kapitalverbrechen dar. Der Ostrakismos vertrieb in bestimmten Fällen (immerhin nur temporär) Einzelne aus dem Staatsterritorium – ohne Prozess oder den Vorwurf eines Verbrechens –, wenn eine Mehrheit der Mitbürger sie als gefährlich oder in anderer Weise störend empfand. Und doch erfüllt die klassische athenische Definition von Demokratie zumindest meiner Ansicht nach die im ersten Kapitel angebotene vorläufige Definition von Kerndemokratie. Das Gedankenexperiment Demopolis, wie ich es im nächsten Kapitel darstellen werde, versucht, die Merkmale der Kerndemokratie zu verallgemeinern, indem es sie von den Besonderheiten der antiken griechischen Geschichte, Kultur und politischen Praxis loslöst. Wie in Kapitel 1 bereits erwähnt, kann keine Definition von Demokratie letzte Gültigkeit beanspruchen. Wichtig ist aber, dass Demokratie ursprünglich – und für die griechische Demokraten in der gesamten klassischen Antike – nicht „Tyrannei der Mehrheit“, sondern vielmehr „gemeinsame Selbstregierung durch die Bürger“ bedeutete. Zudem war die kollektive Macht der Bürger, einfach das zu tun, was sie wollten, wann immer sie sich als Körperschaft versammelten, von Anfang an durch Verfassungsregeln beschränkt. Sicher konnten athenische Populisten behaupten: „Es ist ungeheuerlich, wenn der demos nicht tun kann, was er will“, und populistische Demagogen brachten den versammelten Demos auch gelegentlich dazu, unüberlegt zu handeln, gegen seine eingeführten Normen, gegen seine Interessen und so, dass er es später bereute. 2 Doch dabei handelte es sich um Ausnahmen von der gängigen Praxis der an Regeln und Normen gebundenen Entscheidungsfindung. Wenn es häufiger solche irrationalen Akte gegeben hätte, wäre Athen in der kompetitiven Welt griechischer Stadtstaaten schnell gescheitert. Historisch entwickelten sich sogar klarere Regeln mit dem Ziel, den populistischen Opportunismus von Demagogen zu sanktionieren. Die athenische Demokratie erwies sich als robust angesichts extremer Erschütterungen wie der Zerstörung der Stadt durch Invasoren, einer Seuche, die wenigstens ein Viertel der Bevölkerung innerhalb weniger Jahre da-
Ursprüngliche griechische Definition
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hinraffte sowie eines extrem verlustreichen, sich lange hinziehenden Krieges. Zudem vermochte sie die meiste Zeit und für einen Großteil der Bevölkerung Athens ein relativ hohes Niveau an Sicherheit und Wohlstand zu bieten. 3 Da die Kerndemokratie in der komplexen athenischen Gesellschaft lange Zeit mehr oder weniger stabil und effektiv funktionierte, lässt sich das Argument, es könne keine Kerndemokratie gegeben haben, ipso facto widerlegen. Es ist somit bewiesen, dass die Kerndemokratie mit den Ansprüchen der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens, wie sie sich in relativ großen Gesellschaften zeigen, vereinbar ist. Natürlich war das antike Athen, wie bereits erwähnt, mit seiner Gesamtbevölkerung von einigen Hunderttausend Menschen winzig in Vergleich zu wichtigen modernen Nationalstaaten. Zudem besaß Athen zwar nach den Maßstäben der griechischen Antike eine überaus breit gefächerte Bevölkerung, und diese Vielfalt wurde auch schnell als ein Merkmal der Demokratie erkannt (Platon, Staat, Buch 8), doch war der Stadtstaat sicher nicht pluralistisch in dem Sinne, dass er größere Minderheiten mit primären Identitäten und politischen Präferenzen aufwies, die sich anhand unflexibler und anspruchsvoller monotheistischer Traditionen definierten. Fragen danach, wie weit eine Kerndemokratie wohl wachsen und ob sie den Anforderungen eines großen und pluralistischen Nationalstaats unserer Zeit gerecht werden könnte, sollen später beantwortet werden.
2.2. Ursprüngliche griechische Definition Bekanntlich verbindet das altgriechische Wort demokratia die Worte demos (Volk) und kratos (Macht). 4 Was ist das aber für eine Macht, und wer ist das Volk? Der zusammengesetzte Begriff wurde mit großer Sicherheit in Athen und wohl in der Generation der Revolution von 508 v. Chr. geprägt. In der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. behaupteten feindliche Kritiker, die wahre Bedeutung des Wortes sei „die uneingeschränkte Vorherrschaft der vielen Armen über die
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
wenigen Reichen“ – also die Tyrannei der eigennützigen Mehrheit. Diese kritische Umdeutung inspirierte Thomas Hobbes in Leviathan zu seiner Darstellung einer großen Versammlung, die womöglich als ein angemessen gesetzloser Souverän dienen könnte (allerdings erst als drittbeste Option, nach einem Alleinherrscher und einem kleinen herrschenden Rat); wir werden zu Hobbes’ Gedanken zur Demokratie in Kapitel 4 zurückkommen. Mutatis mutandis passt die Definition der antiken Kritiker zu Carl Schmitts (1932b) Konzept der Politik als Machtsystem, das durch existenzielle Kämpfe von Freunden gegen Feinde definiert wird. Schmitts Betonung der Auseinandersetzung wiederum ist die Basis einer ganzen Palette von politischen Theorien moderner demokratischer Agonisten. Dennoch ist die tyrannische Herrschaft der Mehrheit ganz entschieden nicht die Regierungsart, die sich die antiken griechischen Schöpfer des Begriffs vorgestellt hatten. 5 Wir sollten die feindseligen Aussagen der antiken griechischen Kritiker der Demokratie oder der von ihnen mehr oder weniger direkt beeinflussten Autoren nicht heranziehen, um zu definieren, was der Begriff ursprünglich bei den griechischen Erfindern der Demokratie im späten 6. und 5. Jahrhundert v. Chr. bedeutete. Noch viel weniger sollten wir die abschätzige Definition auf die ausgereifte Praxis der Demokratie anwenden, wie sie sich in Athen und anderen griechischen Stadtstaaten vom 4. bis zum 2. Jahrhundert v. Chr. entwickelte. 6 Ein philologischer Vergleich mit anderen zusammengesetzten griechischen Begriffen für Regierungsformen (monarchia, oligarchia, aristokratia, timokratia etc.) lässt vermuten, dass der demos in demokratia weiter gefasst war, als ihre Kritiker annahmen. Indem man kratos mit demos verband, wagte man eine optimistische Aussage zur kollektiven Stärke des demos und keine zynische Behauptung in Bezug auf die Beherrschung oder Unterordnung anderer. Es ist eine historische Tatsache, dass die Athener aufgrund ihrer kollektiven Stärke über andere herrschen konnten, insbesondere in der Zeit ihrer größten Machtentfaltung in der Mitte des 5. Jahrhunderts. Dies sollte
Ursprüngliche griechische Definition
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allerdings nicht mit der Bedeutung des Begriffs demokratia verwechselt werden. Das altgriechische Vokabular für politische Regierungsformen konzentrierte sich auf die Frage: „Wer herrscht?“ Zur Auswahl standen drei Optionen: ein Individuum, eine kleine, exklusive Koalition und eine große, inklusive Bürgerschaft. Tabelle 2.1. zeigt eine schematische Karte des terminologischen Terrains. Drei Schlüsselbegriffe für die Macht eines Einzelnen, einer elitären Koalition und der gesamten Bürgerschaft sind monarchia, oligarchia und demokratia. Selbst in dieser kleinen Zusammenstellung fallen zwei Dinge auf: Zunächst einmal geht es beim Begriff demokratia (von demos: die Bürger/das Volk) anders als bei monarchia (vom Adjektiv monos: alleinig) und oligarchia (von hoi oligoi: die wenigen), nicht um die „Zahl“. Der Begriff demos bezieht sich auf eine Gesamtheit von unbestimmter Größe (siehe unten). Anders als monarchia und oligarchia beantwortet demokratia daher nicht die Frage: „Wie viele sind zur Herrschaft ermächtigt?“ Und dann teilen sich die griechischen Namen für Regierungsformen in Begriffe mit dem Suffix -arche und solche mit dem Suffix -kratos. 7 Tabelle 2.1. listet die wichtigsten klassischen griechischen Begriffe neben einigen nachklassischen und modernen, vom Griechischen abgeleiteten Bezeichnungen auf. In Anbetracht der griechischen Neigung zu kreativen Neologismen, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Politik, ist es auffällig, dass einige Regierungsbezeichnungen auf der Liste fehlen. Der gängige griechische Begriff für „die vielen“ ist hoi polloi, und doch gab es keine pollokratia oder pollarchia. Auch monokratia, oligokratia oder anakratia sind nicht belegt. 8 Ich konzentriere mich zunächst auf die sechs fettgedruckten Begriffe in den Spalten 2 und 3 von Tabelle 2.1.: demokratia, isokratia und aristokratia aus der Reihe der Begriffe mit der Wurzel -kratos und monarchia, oligarchia und anarchia aus denen mit der Wurzel -arche. 9 Bei allen drei Begriffen mit der Wurzel -arche (Tabelle 2.1., Spalte III) geht es um das „Amtsmonopol“. Ein griechisches Amt war eine arche. Die öffentlichen Ämter als von der Verfassung definierte Ein-
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
heiten waren (im Plural) archai. Ein archon war ein hoher Magistrat: der Inhaber eines bestimmten Amtes mit genau umrissenen Pflichten. 10 Jede der drei Regierungsbezeichnungen mit der Wurzel -arche beantwortet daher die Frage: „Wie viele Herrscher (quasi aktuelle oder potenzielle Amtsträger) aus einer größeren Menge möglicher Herrscher gibt es im Staat?“ Die Antwort lautet: anarchia – keinen; monarchia – einen; oligarchia – einige wenige. Dagegen beziehen sich die -kratos-Begriffe (Tabelle 2.1. Spalte II) nicht auf Ämter oder Amtsträger als solche. Anders als arche wird das griechische Wort kratos nicht in der Bedeutung „Amt“ verwendet. Kratos muss sich hier auf die politische Macht beziehen, aber wenn es nicht um Macht durch monopolisierte Kontrolle über ein Amt geht, worum dann? Die linguistische Verwendung des Substantivs kratos und seiner Verbformen umfasst ein weites Spektrum, von „Stärke/Kraft, etwas zu tun“ über „Zwang“ bis zu „Herrschaft/Macht über“. Wir können die Bandbreite möglicher Bedeutungen für -kratos als Suffix in einer Regierungsbezeichnung einschränken. Anders als die -arche-Gruppe, die, wie wir gesehen haben, ausnahmslos aus „Zahlenbegriffen“ besteht, bezieht sich kein Präfix in der -kratosGruppe ausdrücklich auf eine Zahl. Auf den ersten Blick scheint es also bei den -kratos-Begriffen nicht um die Größe der Gruppe zu gehen, die Ämter innehat, herrscht oder andere als Untereinheit einer größeren Menge möglicher Herrscher regiert. Dient diese Begriffsgruppe dennoch dazu, jene, die durch Machtausübung herrschen, von jenen zu unterscheiden, die dadurch beherrscht werden? 11 Es ist möglich, sich analog zur oligarchia, in der hoi oligoi (die wenigen) die öffentlichen Ämter unter sich aufteilen, vorzustellen, dass aristokratia herrscht, wenn hoi aristoi (die Besten) die übrigen mit anderen Mitteln beherrschen. Der Begriff könnte daher meinen, dass „diejenigen, die herrschen, besonders gut sind – und die Beherrschten nicht“. Doch im Licht der positiven Konnotationen des griechischen Begriffs meint aristokratia wohl eher erstens die Vorzüglichkeit als das definierende Prinzip der Regierungsform und zweitens die Kraft oder Fähigkeit der Besten, die öffentlichen Ange-
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Ursprüngliche griechische Definition
Tabelle 2.1.: Griechische (und neo-griechische) Terminologien für Regierungsformen I
II
III
IV
A. Ermächtigte Wurzel -kratos
Wurzel -arche
B. Einer
Autokratie
monarchia tyrannia basileia
tyrannos basileus (König)
B. Wenige
aristokratia
oligarchia dynasteia
hoi oligoi (die wenigen)
C. Viele
demokratia isokratia ochlokratia (Pöbel)
Polyarchie
isonomia (Gesetz) isegoria (Rede) isopsephia (Stimme)
hoi polloi (die vielen) to plethos (Mehrheit) ho ochlos (Pöbel) isopsephos (Abstimmende)
D. Andere (exempli gratia)
timokratia anarchia (Ehre) gynaikokratia (Frauen) Technokratie
isomoiria (Anteile) eunomia (Gesetz) politeia (Mischung aus Demokratie und Oligarchie: wie von Aristoteles verwendet)
dynamis (Macht) ischys (Stärke) bia (Gewalt) kyrios (Herr) exousia (Berechtigung)
Andere RegierungsBezeichnungen
V Verwandte politische Begriffe: Personen, Abstrakta
Anmerkung: Frühere (im 5. Jahrhundert v. Chr. belegte) Formen fett, „Standard“-Begriffe aus dem späteren 5. und 4. Jahrhundert fett unterstrichen, exotische antike Erfindungen ohne Auszeichnung, nachklassische/moderne Erfindungen kursiv.
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
legenheiten entsprechend zu organisieren. In Aristoteles’ Systematik der Regierungsformen ist aristokratia die Bezeichnung der Regierungsform, in der wenige besonders Herausragende gerecht im gemeinsamen Interesse aller regieren, im Gegensatz zur oligarchia, in der die wenigen zum Vorteil ihrer Gruppe regieren. Öffentliche Ämter sind diesem Verständnis nach nur ein Mechanismus, den fähige Herrscher einsetzen können, um die öffentlichen Angelegenheiten entsprechend dem Kernprinzip der Vorzüglichkeit zu organisieren. 12 Unter den anderen Zusammensetzungen mit -kratos könnte man nur gynaikokratia, „weibliche Herrschaft“ oder Herrschaft von Frauen (gynaikos = Genitiv von gyne: Frau) auf monopolistische Amtsträgerinnen beziehen. Timokratia bezieht sich auf den abstrakten Begriff der time, der Ehre. In Platons Staat herrscht timokratia (die zweitbeste Regierungsform nach der Herrschaft eines Philosophenkönigs), wenn Ehre (vor allem als Mut konstruiert: Balot 2014) das definierende Prinzip der Regierung ist und die Ehrenhaften die öffentlichen Angelegenheiten dementsprechend organisieren. Auch isokratia bezieht sich auf eine Abstraktion, „Gleichheit“. Analog zu aristokratia und timokratia herrscht isokratia, wenn das allgemeine Prinzip der Regierung die Gleichheit ist und die öffentlichen Angelegenheiten entsprechend von Gleichen geregelt werden. In diesem Fall ist es besonders schwer, in kratos einen Bezug zur Vorherrschaft zu sehen, da Vorherrschaft an sich eine ungleiche Beziehung beschreibt. Isokratia wurde als ein Synonym für demokratia verwendet und ist daher besonders wichtig für unseren Vergleich. Isokratia teilt sich die Wurzel der Vorsilbe (iso- „gleich“) mit zwei anderen Begriffen, die Herodot, der Historiker des 5. vorchristlichen Jahrhunderts, als Synonyme für Demokratie benutzte: isonomia und isegoria. Ausgehend von isonomia (Gleichheit vor dem Gesetz) und isegoria (gleiches Recht, öffentlich zu reden) kann man annehmen, dass sich iso- im politischen Diskurs auf die Gleichheit im Zugang bezieht, im Sinne von „Recht/Befugnis, von etwas Gebrauch zu machen“. Isonomia ist Gleichheit im Zugang zum Gesetz, rechtskonformen Prozessen und
Ursprüngliche griechische Definition
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Schutz durch das Recht. Isegoria ist gleicher Zugang zu beratenden Foren: das gleiche Recht, zu öffentlichen Angelegenheiten zu sprechen und die Reden anderer anzuhören. Gleicher Zugang ist in beiden Fällen ein wertvolles Mittel, um andere wertvolle Instrumente einzusetzen (das Gesetz, die öffentliche Rede). Wie im Fall der aristokratia legt die positive Konnotation dieser wertenden politischen Begriffe nahe, dass ein gleicher Zugang zu dem jeweiligen Instrument in jedem Fall dem Gemeinwohl zuträglich ist. 13 Isokratia ist analog dazu der allgemeine Zugang zum Instrument des kratos. Sie ist die öffentliche Macht, die dem Gemeinwohl dient, indem sie ermöglicht, Dinge in einem öffentlichen Rahmen zu vollziehen. Kratos als Suffix für einen Regierungstyp ist also offenbar Macht nicht im Sinne einer Vorherrschaft oder eines Amtsmonopols, sondern positiver im Sinne von Stärke, Fähigkeit oder „Befugnis, Dinge zu tun“. Dies liegt durchaus innerhalb der Bandbreite des Wortes kratos und seiner Verbformen im archaischen und klassischen Griechisch. Unter der isokratia genießt jede Person, die zur Kategorie „jener, die gleich sind“ (also der Staatsbürger) gehört, Zugang zur öffentlichen Macht in diesem Sinne der „Befugnis“, und Gleiches gilt mutatis mutandis für die gynaikokratia, timokratia und aristokratia. 14 In all diesen Fällen beeinhaltet der Zugang zur öffentlichen Macht den Zugang zu öffentlichen Ämtern, beschränkt sich aber nicht darauf. Insgesamt würde ich sagen, dass es bei der -kratosGruppe eher weniger um das Monopol der Besetzung öffentlicher Ämter durch eine streng begrenzte Zahl von Personen ging, sondern vielmehr ursprünglich positiv um das Streben nach oder das Faktum der Ausübung der politischen Macht-als-Befugnis durch diejenigen, denen sie zustand: ob das nun die Frauen waren, die Ehrenhaften, die Besten, die Gleichen oder in der demokratia die Gesamtheit der Bürger. 15 Demokratia kann nicht bedeuten, dass „der demos mittels eines Ämtermonopols herrscht/beherrscht“, da der Singular demos (anders als der Plural hoi oligoi) sich auf eine Gesamtheit, ein „Volk“ beziehen muss – und dieses Volk kann nicht kollektiv „Amtsträger“ im gängi-
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
gen Sinne des Wortes sein. 16 Im klassischen Griechisch hatte demos vielfältige Bedeutungen, darunter die primäre Bedeutung „Bürgerschaft“ und die sekundären Bedeutungen „Bürgerversammlung“ und „die unteren Schichten“. 17 Im postrevolutionären politischen Kontext, in dem das zusammengesetzte Wort demokratia geprägt wurde, als alle einheimischen, erwachsenen männlichen Einwohner des athenischen Territoriums stimmberechtigt waren, muss sich demos auf „die Gesamtheit einer großen und vielfältigen Bürgerschaft“ beziehen (in Übereinstimmung mit der früheren Verwendung des Begriffs im Griechischen), und nicht auf „die vielen, die arm sind“ (d. h. „die keine Muße haben“), wie es spätere Kritiker der Demokratie verstanden. Wenn demos sich auf die „Bürgerversammlung“ bezieht, verweist der Begriff auf die Gesamtheit der Bürger insoweit, als alle Bürger teilnehmen durften. Der demos, der die Gesetzgebung in der jeweils zusammengekommenen Versammlung billigte, stand für die ganze Bürgerschaft. 18 Im klassischen Athen meinte also demos ursprünglich „die Gesamtheit der Bürger“ (die freie einheimische männliche Bevölkerung eines festgelegten Territoriums) – und keinen soziologisch begrenzten Teil der Bürgerschaft. Der demos der demokratia war ursprünglich ein inklusiver Begriff, der sich auf alle potenziellen Herrscher (in der relevanten Kategorie der freien, einheimischen, erwachsenen Männer) und nicht auf nur einige davon bezog. Wenn wir das aristotelische analytische Vokabular der Teile und des Ganzen verwenden, können wir sagen, dass der demos ein umfassendes Ganzes war, kein untergeordneter Teil. Thukydides lässt den demokratischen Politiker Athenagoras genau dieses in einer Rede vor der Bürgerversammlung von Syrakus herausstellen: „Demos ist ein Name für das Ganze; oligarchia nur für einen Teil.“ 19 Ausgehend von isokratia und anderen Zusammensetzungen mit -kratos ergibt der Begriff demokratia philologisch wie historisch einen Sinn: Die demokratia, die im Zuge der historischen Selbstbehauptung eines demos nach einer vom Volk ausgehenden Revolution auftauchte (Ober 2007), setzt die kollektive Befugnis des demos durch, Dinge zu tun, im positiven Sinn der kompetenten Organisa-
Ursprüngliche griechische Definition
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tion der öffentlichen Angelegenheiten zu herrschen. Wenn das stimmt, bezieht sich demokratia nicht in erster Linie auf die monopolistische Kontrolle des demos über die schon bestehende Staatsmacht. Demokratia ist nicht einfach „die Macht des demos“ im Sinne von „die Vorherrschaft oder monopolistische Macht des demos relativ zu anderen potenziellen Machthabern im Staat“. Vielmehr meint der Begriff umfassender den „ermächtigten demos“ – die Regierung, in der der demos eine kollektive Befugnis zugesprochen bekommt, Veränderungen im öffentlichen Bereich durchzusetzen. Und so geht es nicht nur um die kollektive Kontrolle des öffentlichen Bereichs durch das Volk (Pettit 2013), sondern vielmehr um dessen kollektive Fähigkeit, effektiv innerhalb dieses Bereichs zu handeln und ihn tatsächlich auch durch gemeinsames Handeln neu zu strukturieren. Die Institutionen der athenischen demokratia konzentrierten sich nie auf eine Mehrheitswahlregel, um Amtsträger zu bestimmen. Wahlen etwa von Generälen und direkte Abstimmungen über die Politik waren sicher wichtig – der einzelne athenische Bürger konnte nicht nur als isonomos und isegoros, sondern auch als isopsephos, als „gleich“ in Bezug auf seine Stimme bei der Wahl bezeichnet werden. Doch im Gegensatz zu isonomia und isegoria ist isopsephia eine „fehlende“ klassisch griechische Regierungsbezeichnung: Sie ist erst im 1. Jahrhundert v. Chr. belegt und war nie eine Umschreibung für demokratia. Den Ausdruck psephokratia (Stimm-Macht) gibt es im Altgriechischen nicht. Antike Kritiker der Volksherrschaft versuchten, demokratia in die monopolistische Beherrschung des Regierungsapparats durch die Stimm-Macht der vielen, die arm waren, umzudeuten. Das ist zum Beispiel die Strategie des sogenannten Alten Oligarchen, eines anonymen Autors des 5. Jahrhunderts (Ober 1998, Kap. 1). Dies dürfen wir jedoch nicht mit der positiven Bedeutung des Begriffs, wie er von griechischen Demokraten in der langen Geschichte der griechischen Demokratie immer wieder verwendet wurde, verwechseln. 20 Demokratia bedeutete also ursprünglich „die Befugnis des Volkes, Dinge zu tun“ – die Geschichte durch gemeinsames Handeln im grö-
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ßeren Rahmen zu gestalten. 21 Der Begriff Demokratie, wie ihn seine Schöpfer verwendeten, war deskriptiv und betonte, dass das Volk tatsächlich Veränderungen herbeiführen konnte. Wie wir sehen werden (Kapitel 2.6 und 2.7), erforderte ein gemeinsames groß angelegtes Handeln von den Bürgern den Einsatz angeborener menschlicher Fähigkeiten zu Vernunft und Kommunikation, um gemeinsam Pläne zu entwickeln und Ziele zu verfolgen. 22 Doch ihre Erfinder verwendeten „Demokratie“ auch normativ und meinten, das Volk solle in der Lage sein, Regeln festzulegen und durchzusetzen. Die ursprüngliche griechische Definition erfasst so den Kern dessen, was eine nicht tyrannische Form der Demokratie vom Grundsatz her und in der Praxis ist: legitime gemeinsame Selbstregierung durch die Bürger.
2.3. Ausgereifte griechische Definition Der griechische Begriff kratos kann, wie wir gesehen haben, im Sinne von Stärke wie auch von Zwang verwendet werden; beide Bedeutungen treffen sich in Akten der Regelfestlegung und -durchsetzung. Das kratos des athenischen demos verwirklichte sich in den für alle Mitglieder der athenischen Gemeinschaft bindenden Regeln und ihrer Durchsetzung. Im klassischen Athen ging man davon aus, dass die Bürger hin und wieder an den staatsbürgerlichen Aktivitäten teilnahmen, die die nicht-tyrannische Regierung aufrechterhielten; wer dies nicht tat, riskierte die Kritik seiner Mitbürger, er lief Gefahr, als „nutzlos“ bezeichnet zu werden, wie Thukydides’ Perikles es in seiner berühmten Gefallenenrede (Thukydides 2,40,2) ausdrückt. Das athenische Gesetz und die partizipativen Verhaltensnormen förderten politische Freiheit, politische Gleichheit und staatsbürgerliche Würde. In den Augen der athenischen Demokraten wie auch ihrer antiken Kritiker waren diese Bedingungen grundlegend für die dauerhafte Existenz der Demokratie. 23 Sie setzten jedoch ihrerseits wiederum eine gewisse Zurückhaltung bei der Ausübung des kratos durch das Volk voraus. In der griechischen politischen Geschichte kam man
Ausgereifte griechische Definition
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erst einige Zeit nach der demokratischen Gründungszeit zu der Erkenntnis, dass der Demos seiner eigenen Befugnis, Dinge zu tun, rechtliche Grenzen setzen muss und kann, indem er den Gesetzgebungsprozess reguliert. Am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. hatte man jedoch die Notwendigkeit dieser Grenzen anerkannt und sie im athenischen Recht formalisiert. Gerade die Erkenntnis, dass die Macht des herrschenden Demos durch das Gesetz eingeschränkt werden kann und sollte, unterscheidet in den Augen vieler die liberale Demokratie von der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus (Starr 2007). Solche Beschränkungen werden mit einem liberalen Ideal individueller Freiheit, verstanden als natürliche Bedingung oder unveräußerliches Menschenrecht, verbunden. Dabei hatten sich Theorie und Praxis rechtlicher Beschränkung der gesetzgebenden Macht bereits in der griechischen Antike gut entwickelt, lange bevor es Naturrechtslehren oder Naturrechtstheorie gab. Im klassischen Athen zwangen die Imperative der Sicherheit und des Wohlstands die Bürger, die Macht des versammelten Demos zu begrenzen. Die Erkenntnis über die Gefährdung der politischen Freiheit und Gleichheit durch die ungehemmte öffentliche Macht einer demokratischen Mehrheit machte aus der Notwendigkeit eine Tugend. Demokratie als Regierungsform hatte in der griechischen Welt etwa vierhundert Jahre lang Bestand; Theorie und Praxis der Demokratie entwickelten sich im Laufe dieser Zeit beträchtlich. Zur Zeit des Historikers Polybios im 2. Jahrhundert v. Chr. war der Begriff demokratia ein Synonym für „legitime nicht-autokratische Regierung“, und die Vorstellung einer „gemischten Regierung“ – in der Elemente, die man als monarchisch, aristokratisch und demokratisch verstand, dazu dienten, Tendenzen zur Autokratie, die jedem einzelnen Element innewohnten, entgegenzuwirken – war allgemein gängig. In der Praxis jedoch begann die Beschränkung durch Gesetze schon viel früher. 24 Bestimmte selbstauferlegte Beschränkungen der Macht des Demos den einzelnen Bürgern gegenüber scheinen mit der Gründung
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der Demokratie einherzugehen. Die Praxis des Ostrakismos zum Beispiel, durch den ein Individuum per Mehrheitsentscheid aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden konnte, wurde durch Verfahrensregeln beschränkt. Diese Regeln erforderten eine vorherige Mehrheitsentscheidung für einen Ostrakismos, erlaubten eine solche Entscheidung nur einmal im Jahr und begrenzten den Zeitraum der Ausweisung auf zehn Jahre. 25 Für unsere Zwecke entscheidend aber war eine innovative Gruppe rechtlicher Veränderungen im späten 5. und frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Sie ergaben sich aus der Einsicht der Athener, die Macht des Volkes, zu tun, was und wann immer es ihm einfiel, systematisch beschränken zu müssen, um den Staat stabil zu halten. Deshalb trennte man alltägliche Entscheidungen, die mit einfacher Mehrheit in einer gesetzgebenden Bürgerversammlung getroffen wurden, vom Grundgesetz, das durch einen aufwendigeren, vielstufigen Prozess entstand. Und man ordnete die „Beschlüsse“, die in der Versammlung verabschiedet wurden, kodifizierten grundlegenden „Gesetzen“ unter. 26 Nach dem Peloponnesischen Krieg setzten die Athener im späten 5. Jahrhundert v. Chr. mit demokratischen Mitteln eine neue Grundregel ein, derzufolge der unmittelbar ausgedrückte Willen der versammelten Bürgerschaft in Form eines „Beschlusses der Volksversammlung“ mit dem bestehenden Grundgesetz vereinbar sein musste. Kurz zuvor hatten sie dieses kodifiziert und archiviert. Jetzt unterschieden sie den Vorgang zur Festsetzung und Verbesserung des grundlegenden Gesetzes von den in der Volksversammlung direkt gefassten Beschlüssen. Das Grundgesetz konnte nur revidiert werden, wenn eine Mehrheit der versammelten Bürger dafür stimmte, einen Prozess anzustoßen, in dem bestimmte Gesetze hinterfragt und eventuell geändert wurden. Der üblichen Rekonstruktion des Prozesses zufolge wurden „Gesetzmacher“, die für die Prüfung und Autorisierung von Veränderungen verantwortlich waren, zufällig per Los aus allen über 30-jährigen Bürgern bestimmt (Hansen 1999: 167–168). Das Verfahren ähnelte einem Geschworenenprozess, bei dem vor mehreren Hundert Gesetzmachern ausführlich die Argumente für
Ausgereifte griechische Definition
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und gegen die Hinzufügung eines neuen Gesetzes ausgetauscht wurden. Wenn sie sich zu Änderungen entschlossen, hoben die Gesetzmacher gleichzeitig bereits bestehende Gesetze auf, die Bestimmungen des neuen Gesetzes widersprachen. Eine Ergänzung der Verfassung gestaltete sich nicht annähernd so schwierig wie heute etwa in den Vereinigten Staaten. Im Vergleich zu früheren Verfahren war der neue Prozess zur Veränderung des athenischen Grundgesetzes jedoch relativ langwierig, öffentlich und wohlüberlegt. Diese Innovation im Verfassungsrecht entstand in der Folge zweier oligarchischer Coups d’état und einer verheerenden militärischen Niederlage. Nach der Wiedereinsetzung der Demokratie im Jahr 403 v. Chr. erkannten die Athener, dass sie für eine neue Blüte politische Stabilität brauchten. Dazu wiederum musste sich die Mehrheit der Durchschnittsbürger glaubhaft einer Rechtsordnung verpflichten, die die Reichen und ihr Eigentum schützen würde. Bürger, die der Elite angehörten, mussten sich ihrerseits glaubhaft verpflichten, die Anrechte (z. B. die Bezahlung für den Dienst an der Öffentlichkeit) zu bewahren, die es den relativ Armen erlaubten, an der Politik teilzuhaben. Die Ära des Bürgerkriegs endete mit einem Versöhnungsabkommen, das, wie Edwin Carawan (2013) gezeigt hat, die Form eines Vertrags zwischen den elitären „Männern der Stadt“ und den Normalbürgern, den „Männern von Piräus“, annahm. Die neue Verfassungsordnung bestätigte, dass die soziale Vielfalt des Demos zu gegensätzlichen politischen Präferenzen führte. Aber sie erkannte auch an, was Federica Carugati (2015) den „Konsens der patrios politeia“ genannt hat, der diese vielfältige Bevölkerung durchzog – eine weitgehende Einigkeit, dass die Athener „von alters her“ nach ihren eigenen Gesetzen lebten. Alle stimmten darin überein, dass es gegen das Gesetz verstieß, wenn jemand die Fähigkeit der Athener, die unterschiedlichen Präferenzen auszugleichen und friedlich zusammenzuleben, aufs Spiel setzte. Weithin verbreitet war auch das Gefühl, eine Tolerierung der Gesetzlosigkeit würde zu Armut und Unsicherheit führen. Dieser allgemeine Konsens reichte aus, um die Neuver-
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pflichtung auf ein formelles System eines grundlegenden Verfassungsgesetzes in Angriff zu nehmen. Die Beschränkung der demokratischen gesetzgebenden Gewalt in Athen beruhte also auf einer austarierten Lösung, geboren aus einer höchst prekären sozialen Situation, in der die Menschen begriffen, durch Kooperation mehr erreichen zu können als durch Kämpfe. Das Ergebnis war das, was wir vielleicht die reife (philo-demokratische) griechische Definition von Demokratie nennen können: gemeinsame Selbstregierung durch eine gesellschaftlich breit gefächerte Bürgerschaft, beschränkt durch Verfassungsgesetze, die ebenfalls von den Bürgern aufgestellt wurden. Die antike Definition steht in Einklang mit zwei ebenso bekannten wie nachwirkenden Aussprüchen der frühen amerikanischen Politikgeschichte: Zunächst einmal Abraham Lincolns prägnante Beschwörung der „Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk“ in seiner Gettysburg Address. Kerndemokratie ist für das Volk in dem Sinn, dass sie die fundamentalen Interessen der gesamten Bürgerschaft erfüllen will, statt nur die Präferenzen einer Mehrheit zu befriedigen. Sie ist durch das Volk insofern, als die Bürger politische Beschlüsse treffen, ausführen und durchsetzen. Und sie ist eine Regierung des Volkes, da die Demokratie ein gemeinsamer Besitz ist. Die Bürger besitzen die Regierung, es ist ihre Regierung, weil sie ihr Urheber waren und sind. Diese kollektive Urheberschaft und Eigentümerschaft ist im letzten Jahrhundert in der Präambel der US-Verfassung bestätigt worden: „Wir, das Volk … setzen und begründen diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika.“ 27 Im politischen Kontext der Jahre 1787 und 1863 ging es natürlich um eine repräsentative Regierung, keine direkte Demokratie nach athenischem Vorbild. Wie oben bereits erwähnt, ent- und bestanden die antiken griechischen Demokratien unter besonderen historischen Umständen, die sich wohl kaum wiederholen werden. Sie wiesen unverwechselbare soziale und kulturelle Merkmale auf. Einige davon, etwa die Sklaverei und die fehlenden Teilhaberechte der Frauen, sind jeder zeitgenössischen Regierung, die heute als Demokratie gelten
Ausgereifte griechische Definition
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würde, fremd und zuwider. Doch wenn wir uns im nächsten Kapitel dem Gedankenexperiment Demopolis zuwenden, müssen wir dabei nicht den griechischen soziokulturellen Ballast oder die charakteristischen Einstellungen politischer Anführer im Amerika der Jahre 1787 oder 1863 mit uns tragen. Wenn man sich Demopolis als einen Staat des 21. Jahrhunderts vorstellt, werden seine Bürger keine moralische Verpflichtung auf die Prinzipien des Liberalismus brauchen, um auf die Sklaverei zu verzichten und die Teilhabe auch den Frauen zu öffnen. Alle antiken griechischen demokratischen Regierungen unterschieden sich, wie Paul Cartledge (2016) betont hat, verfahrensrechtlich von allen modernen Demokratien, weil sie auf die regelmäßige und direkte gesetzgebende Aktivität von Bürgern setzten. Ich habe oben die Ansicht vertreten (2.1), dass dieser Unterschied in den Verfahrensweisen nicht auf eine unüberbrückbare konzeptuelle Kluft verweist. In Kapitel 7 werden wir uns der Frage zuwenden, wie der Rahmen der Kerndemokratie eine Regierung stützen kann, in der die Menschen die primäre Verantwortung für einen Großteil der (wenn auch nicht notwendigerweise für die gesamte) Regelsetzung und -durchsetzung an Repräsentanten delegiert haben. Fürs erste gehe ich davon aus, dass Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus für einen modernen Staat relevant sein kann – solange nicht gezeigt wird, dass eine repräsentative Regierung eines großen Staates keine Kerndemokratie sein kann, also kein System der Selbstregierung, in dem die Staatsbürger fähige und (direkt oder durch Repräsentanten) kollektive Herrscher sind. 28 Wenn wir uns also im nächsten Kapitel dem Gedankenexperiment Demopolis zuwenden, halte ich es für möglich, dass die Regierung, die aus diesem Experiment hervorgehen wird, zeitweise an Repräsentanten delegiert werden könnte. Abstrahiert von den besonderen historischen Umständen, unter denen die antike Selbstregierung der Bürger entstand, erlaubt uns das Gedankenexperiment, ein kerndemokratisches System in verschiedene Kontexte zu setzen – auch in die Moderne.
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
Anmerkungen 1
Athenische Demographie, politische Institutionen und historische Entwicklung im Verhältnis zu athenischer Politik und Gesellschaft: Ober 1989, 2008. 2 „Ungeheuerlich“: Xenophon, Hell. 1.7.12: Die Volksversammlung verurteilt die Generäle der Schlacht bei den Arginusen summarisch zum Tode. Reue: ebenda, 1.7.35. 3 Ober 2008: Kap. 2 bemisst Athens Leistungsfähigkeit als Stadtstaat im Verhältnis zu anderen griechischen Stadtstaaten. Ober 2016 schätzt Wohlstandsund Einkommensungleichheit innerhalb der gesamten athenischen Bevölkerung im späten 4. Jahrhundert v. Chr. 4 Dieser Abschnitt ist angepasst und aktualisiert Ober 2008b entnommen, wo das philologische Argument für die ursprüngliche Bedeutung von Demokratie erstmals eingeführt wurde. 5 Mögliche Daten für die Entstehung des Begriffs demokratia: Hansen 1986. Kritiker der Demokratie: Ober 1998. Demokratische Agonisten: unten, Kapitel 8, Anm. 5. 6 Zur Demokratie im hellenistischen 3. und 2. Jahrhundert v. Chr. siehe Grieb 2008; Hamon 2010; Ma 2013; Teegarden 2014. 7 Das erste Auftauchen der griechischen Begriffe (mit Beispielstellen in den klassischen Autoren): Anarchia: Herodot 9.23; Aischylos, Suppl. 906. Aristokratia: Thukydides 3.82. Demokratia (und Verbformen): Herodot 6.43, Thukydides 2.37. Gynaikokratia: Aristoteles, Pol. 1313b. Dynasteia (als die schlechteste Form der Oligarchia): Aristoteles, Pol. 1292b10, 1293a31. Isegoria: Herodot 5.78, Demosthenes 21.124. Isokratia: Herodot 5.92.a. Isomoiria: Solon apud Aristoteles, Ath. pol. 12.3. Isonomia: Herodot 3.80; 3.142 (als Gegensatz zur dynasteia: Thukydides 4.78). Isopsephia: Dionysios von Halikarnassos 7.64. Isopsephos: Thukydides 1.141. Monarchia: Alkaios, Frag. 12; Herodot 3.82. Oligarchia (sowie aktive und passive Verbformen): Herodot 3.82.2; 5.92b; Thukydides 6.38 und 8.9; als Personifikation (auf dem Grabstein des Kritias): Scholion zu Aischines 1.39. Ochlokratia als negativ besetzte Form einer Herrschaft der vielen: Polybios 6.4.6 und 6.57.9. Timokratia: Platon, Pol. 545b; Aristoteles, Eth. Nic. 1160a. Ausführlichere Listen mit Belegstellen in Liddell, Scott und Jones 1968; Thesaurus Linguae Graecae: http://www.tlg.uci.edu/. 8 Demarchia bezieht sich nicht auf eine Regierungsform, sondern auf ein relativ untergeordnetes, lokales Amt (ho demarchos = der oberste Amtsträger in einer Stadt, der „Bürgermeister“). In diesem Fall bezieht sich das
Anmerkungen
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Präfix auf den Zuständigkeitsbereich des Amtes, nicht auf die Zahl der Herrschenden. 9 Alle diese Bezeichnungen sind im 5. Jahrhundert belegt, wobei oligarchia und aristokratia wahrscheinlich etwas später entstanden sind als demokratia, isokratia und monarchia. 10 Das Wort arche hat im Griechischen verschiedene miteinander verbundene Bedeutungen: Anfang (oder Ursprung), Reich (oder hegemonische Kontrolle eines Staates durch einen anderen), ebenso wie Amt oder Magistrat. Im klassischen Athen wurden jedes Jahr neun Archonten gewählt – neben mehreren Hundert anderen Amtsträgern: Hansen 1999. Zur Rolle von Ämtern im klassischen, insbesondere aristotelischen politischen Denken siehe Lane 2016. 11 Zum weiten Bedeutungsspektrum von kratos siehe Liddell, Scott und Jones 1968, s. v. Williams 1993: 105 verweist auf kratos als „physischen Zwang“ und die Assoziation des Wortes mit bia (Gewalt) in Aischylos’ Der gefesselte Prometheus. Vorherrschaft ist das, was Geuss 2008 als die Beziehung „wer über wen“ charakterisiert. 12 Positive Konnotationen: Liddell, Scott und Jones 1968, s. v. Aristoteles zur aristokratia: Politik 1279a34–37. Den Bedeutungsunterschied zwischen dem altgriechischen Begriff und mittelalterlichen und modernen Verwendungen von „Aristokratie“ betonen Fisher und van Wees 2015. 13 Isomoiria: „gleicher Anteil“ ist ein Begriff mit der Wurzel iso-, der offenbar aus einem etwas anderen semantischen Feld stammt. Solon, den die Athener später als den Vater der Demokratie betrachteten (Mossé 1979), spricht davon, dass die Unterschicht isomoiria im reichen Land Attika mit den Edlen forderte (kakoisin esthlous is[omoirian] echein: Ps.-Aristoteles, Ath. pol. 12.3 und Solon, fr. 34,9 West). Dies kann sich auf eine geplante Umverteilung von Land beziehen (siehe Rhodes 1981 ad loc.), obwohl auch andere Deutungen möglich sind. Thukydides (7.75.6) bezieht sich auf eine gewisse isomoiria, eine „Gleichheit im Unglück“ bei den sich zurückziehenden Soldaten in Sizilien 413 v. Chr., und merkt an, dass normalerweise mit vielen (polloi) geteiltes Leid Erleichterung bringe. 14 Leider kann ich die Gegenposition, dass in allen Fällen das, was betont wird (in normaler griechischer politischer Sprache, wenn auch nicht im philosophischen Vokabular eines Platon oder Aristoteles), das definierende Merkmal (besonders gut, weiblich, ehrenhaft, untereinander gleich) der Gruppe ist, die andere beherrscht, nicht widerlegen. Doch im Licht der positiven Konnotationen der betreffenden Begriffe (vielleicht mit der Ausnahme der gynaikokratia) und der allgemeinen griechischen Missbilligung einer brutalen Vorherrschaft von Herrschern über potenzielle Herrscher (freie,
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2 · Die Bedeutung von „Demokratie“ im klassischen Athen
einheimische Männer im Gegensatz etwa zu Sklaven) wirkt dies weniger wahrscheinlich. 15 Daraus kann man auch ableiten, warum es keine monokratia oder oligokratia gibt: „der Eine“ und „die Wenigen“ gelten, wenn sie die Herrschaftsgewalt haben, als inhärent stark und befugt, durch Kontrolle über Geld, besondere Ausbildung und hohe Geburt. Ihre Befugnis, Dinge zu tun, stand also nicht infrage – es ging eher darum, ob sie den Regierungsapparat kontrollierten oder nicht. 16 Aristoteles macht sich darüber im Buch 3 der Politik Gedanken. Siehe die Diskussion bei Lane 2013. 17 Liddell, Scott und Jones 1968, s.v; Donlan 1970. 18 Athenische Revolution von 508 v. Chr.: Ober 2007; generelles Stimmrecht ansässiger Männer nach der Revolution: Badian 2000. Demos in der Versammlung als Synekdoche für die gesamte Bürgerschaft im athenischen öffentlichen Diskurs: Ober 1996: 117–122. 19 Thukydides 6.39.1: „Man wird behaupten, Demokratie sei weder klug (xyneton) noch billig (ison); die, die das Geld hätten, seien auch am besten geeignet, zu herrschen (archein). Ich aber behaupte erstens, dass ‚Volk‘ (demos) ein Name für das Ganze sei (xympas), ‚Oligarchie‘ nur für einen Teil (meros) …“ 20 Platon, Polit., behält die Terminologie der Regierungsformen des 5. Jahrhunderts meist bei, „verdoppelt“ jedoch die Bezeichnung demokratia, sodass sie sich auf die Macht des Demos im positiven Sinn der „gesetzestreuen, begrenzten Herrschaft“ und im negativen als „gesetzlose Vorherrschaft“ bezieht. Bei Polybios (6.4.5) wird demokratia im 2. Jahrhundert v. Chr. zum generischen Begriff für „legitime, rechtstreue, republikanische Regierung“ – und steht damit im Kontrast zur ochlokratia, einem Neologismus für „gesetzlose Herrschaft des Pöbels“. 21 Diese Deutung ist konsistent mit der Verbindung von demos und kratos in Aischylos’ Die Schutzflehenden aus der Zeit um 463 v. Chr., wo sich angeblich die frühesten Umschreibungen des Wortes demokratia finden: „die herrschende Hand des Volkes“ (demou kratousa cheir: 604); „das Volk, die Macht, die die polis regiert“ (to damion, to ptolin kratynei: 699). 22 Zu den philosophischen Fundamenten einer methodologisch individualistischen Theorie des gemeinsamen Handelns folge ich Bratman 2014; Bratmans Theorie gemeinsamen Handelns haben Ober 2008; Stilz 2009; Pettit 2013 auf die Demokratie im Großen übertragen. Siehe dazu auch Kapitel 6.2. 23 Teilhabenorm, die reichlich Raum für die Verfolgung individueller Projekte lässt: Thukydides 2.40.2; politische Freiheit: Hansen 1996; politische Gleichheit: Raaflaub 1996; staatsbürgerliche Würde: Ober 2012.
Anmerkungen 24
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Griechische Demokratie außerhalb Athens: Robinson 1997, 2011. Polybios über Demokratie: bes. 6.4.5; zur gemischten Regierung: 6.11.11. 25 Ostrakismos: Forsdyke 2005; Ober 2015b: 174–175. 26 Athenische Verfassungsreformen des späteren 5. Jahrhunderts v. Chr. und danach: Hansen 1999; Canevaro 2015; ihr Kontext: Shear 2011; Carawan 2013. Motivation für Veränderungen: Carugati 2015, mit Literaturüberblick. 27 Zur Bedeutung der Präambel für eine demokratische Lesart der Verfassung siehe Amar 2005. 28 Repräsentative Demokratie: Pitkin 1967; Manin 1997; Urbinati 2006. Achen und Bartels, 2016 und Caplan 2007 sind markante Vertreter des Arguments, dass das Volk unter den Bedingungen der Moderne zu einer effektiven gemeinsamen Selbstregierung nicht fähig sei. Wie andere liberale Kritiker der Demokratie legen sie aber dennoch offensichtlich großen Wert darauf, den Begriff „Demokratie“ für die von ihnen bevorzugte Regierungsform beizubehalten, eine Strategie, die an Polybios erinnert. Natürlich ist Demokratie als eine Form organisatorischer Führung nicht nur für Staaten möglich; siehe zum Beispiel Manville und Ober 2003.
Kapitel 3
Die Gründung von Demopolis Das folgende Gedankenexperiment verdankt sich einer bedeutenden Tradition in der politischen Philosophie, zu der auch Platons Kallipolis und Rawls’ ursprüngliche Ideen gehören. Mein „Demopolis“Experiment ist allerdings weit weniger ambitioniert als diese großen Vorbilder. Zum Beispiel werden die Voraussetzungen gesellschaftlicher Gerechtigkeit nicht näher definiert. Demopolis soll keine Basis einer Gerechtigkeitstheorie sein, sondern sich mit der Frage nach der besten Gesellschaftsordnung befassen. Ich behaupte, mit der Kerndemokratie eine mögliche Antwort auf die Frage zu bieten, wie eine menschliche Gemeinschaft die Vorteile aus sozialer Kooperation zuverlässig realisieren kann. Wie kann man Sicherheit und Wohlstand erlangen, ohne von einem Herrn regiert zu werden – ohne sich der Macht eines autokratischen Monarchen oder einer oligarchischen Herrschaftskoalition zu unterwerfen? In jeder historischen Demokratie geht die Antwort darauf mit vielen historisch bedingten Merkmalen einher; im Fall von Athen spielt neben der Sklaverei und der Beschränkung des Wahlrechts auf Männer auch die geringe Größe mit hinein. Zusätzlich zur abstrakten Loslösung von den Umständen der jeweiligen historischen Zeit soll Demopolis die Frage beantworten, ob die Kerndemokratie auch im größeren Maßstab eine überzeugende Regierungsform ist. 1 Die Schwierigkeit der Frage, wie Kooperation ohne einen Herrn erreicht werden kann, hängt direkt mit der Größe zusammen. Für eine Gesellschaft, in der alle einzelnen Mitglieder der Gruppe einander kennen, ist sie relativ leicht zu beantworten. Man denke etwa an eine Universitätsfakultät, die Partner einer Anwaltskanzlei oder die Mitglieder eines Freizeitklubs. Wie wir später sehen werden (Kapitel 5.1), stammen die modernen Menschen von kleinen Gruppen
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von Jägern und Sammlern und lebten lange Zeit in solchen Formen der Gemeinschaft. Diese frühesten sozio-politischen Systeme werden überzeugend als demokratisch beschrieben. Eine Art von Demokratie scheint demnach zur natürlichen Lebensform des Menschen zu gehören. Als aber die Gemeinschaft an Größe zunahm, wurde der natürliche demokratische Grundzustand hinfällig. Wenn eine Gruppe derart wächst, dass gegenseitige Überwachung und informelle Durchsetzung der Normen sich nicht mehr umsetzen lassen, mindern Trittbrettfahrerei und die sogenannte „Tragik der Allmende“* die aus der Kooperation erwachsenden Vorteile, bedrohen das Überleben der Gruppe und fordern eine neue Antwort auf die grundlegende Frage nach der politischen Ordnung. Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft vor etwa 12 000 Jahren, gefolgt von den damit verbundenen Techniken der Nahrungsverarbeitung und -lagerung, erlangten die Gesellschaften ein großes Wachstumspotenzial. Sie wurden nicht nur größer und komplexer, sondern auch autokratischer, ein Trend, der – allerdings mit bemerkenswerten Ausnahmen – fast die gesamte Geschichte hindurch anhielt. 2 Aus Gründen, die der Politikwissenschaftler Mancur Olson (1965) vor einem halben Jahrhundert präzisierte, löst die Autokratie das Problem der Kooperation im größeren Maßstab durch die Einsetzung klarer Status- und Machthierarchien. Die Menschen an der Spitze der Hierarchie haben wegen der Renten, die sie bei den Menschen weiter unten in der Hierarchie eintreiben, einen starken Anreiz, Trittbrettfahrerei und andere Formen sozialer Devianz zu bestrafen. Wenn die Renten so verteilt sind, dass Menschen mit einem hohen Gewaltpotenzial dieses Potenzial nutzen, um den Autokraten zu stützen und abweichendes Verhalten zu bestrafen, wird der Anreiz zu deviantem Verhalten vermindert. 3 Durch die Angst vor Bestrafung nähert sich die Autokratie ein * Übernutzung von gemeinschaftlichen Gütern, etwa der Allmendeweide. Durch eine übermäßige Nutzung wird das Gut aufgezehrt. Eine Überweidung vernichtet z. B. die Allmende und gefährdet damit die Nutzer.
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Stück weit einem kooperativen Gleichgewicht, doch Autokratie erfordert wie jede Regierungsform Legitimität – die ich vorläufig als einen Zustand definiere, in welcher der Gehorsam gegenüber der Autorität üblich und vorhersagbar ist, weil die meisten Menschen die längste Zeit über diese Autorität als zwingend notwendig und richtig akzeptieren. Sie gehorchen, weil der Herrscher (oder unmittelbarer die Kultur im Hintergrund, die den Herrscher stützt) ihnen akzeptable Gründe anbietet, warum sie gehorchen sollten. 4 Historisch legitimierten sich Autokratien lange durch eine angeblich besondere und einzigartige Beziehung des Herrschers zu einer göttlichen Ordnung, verstärkt durch Ideologien, die soziale und politische Hierarchien als natürlich gegeben betrachteten. 5 Wenn die Untertanen die Autokratie aus diesen (in den Augen eines Demokraten falschen) Gründen heraus für legitim halten, werden die Befehle des Autokraten durch eine Kommandokette nach unten weitergegeben und auf allen Ebenen (mehr oder weniger genau und freiwillig) befolgt – so entsteht soziale Kooperation im großen Stil. Ihre historische Häufigkeit lässt vermuten, dass Autokratie oft gut funktioniert. Sie brachte vielen Menschen in vielen Zeiten und an vielen Orten eine soziale Ordnung. Nur wenn die Legitimität zusammenbricht, wenn die Untertanen die vom Autokraten angebotenen Gründe für einen Gehorsam nicht mehr überzeugend finden, wenn die Menschen die Autokratie zusammen mit der sie stützenden Hierarchie ablehnen, werden sie motiviert sein, Antworten auf die schwierige Frage zu suchen, wie man die Vorteile der Kooperation in einem größeren Rahmen ohne einen Herrn sichern könnte. Diese Frage wurde in der antiken Welt mit den Demokratien beantwortet, die die Athener und die Bürger mehrerer anderer griechischer Stadtstaaten einrichteten. Athen war einerseits viel zu groß, um von der „natürlichen“ Kleingruppen-Lösung Gebrauch machen zu können, andererseits aber, wie in Kapitel 2 festgestellt, sehr klein im Vergleich zu vielen modernen Nationalstaaten. Zudem entwickelten die antiken Stadtstaaten, wie bereits dargestellt, die Demokratie unter zeit- und ortsspezifischen kulturellen wie auch sozialen und ökonomischen Be-
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dingungen. Wenigstens einige dieser Bedingungen dürften sich wohl kaum wiederholen. Das Gedankenexperiment Demopolis soll zeigen, wie die Menschen das Problem der Kooperation ohne Herrschaft unabhängig von den besonderen Bedingungen der griechischen Antike lösen könnten.
3.1. Die Gründer und die Staatszwecke Wir beginnen mit einer gewöhnlichen Bevölkerung, die sowohl zahlreich (jenseits der Größe, bei der jeder jeden kennt) wie auch sozial und ökonomisch breit gefächert ist. Diese Bevölkerung pflegt dementsprechend unterschiedliche Werte, ist aber in fundamentalen Glaubensüberzeugungen nicht so tief gespalten, dass sie sich in einem oder am Rande eines religiösen oder ethnischen Krieges befände. Die Menschen teilen eine (nicht näher spezifizierte) Geschichte und Elemente der Zivilgesellschaft. Sie können leicht miteinander kommunizieren (sie sprechen dieselbe Sprache oder können problemlos übersetzen). Wir sortieren diese Bevölkerung nach der Präferenz der Individuen für eine autokratische Regierung. Nehmen wir an, das Ergebnis, als Graph dargestellt, ist eine Normalverteilungskurve, also glockenförmig wie in Abb. 3.1. dargestellt. Auf dem linken Ausläufer der Verteilung sind jene vertreten, die sich erbittert gegen einen Herrn wehren; auf dem rechten finden sich die Menschen mit einer starken Vorliebe für die Autokratie. Der Großteil der Bevölkerung liegt zwischen diesen Extremen. 6 Nun stellen wir uns vor, die Bevölkerung mit einer vertikalen Linie irgendwo links vom Höhepunkt der Kurve aufzuteilen. Diejenigen rechts von der Linie besitzen eine ziemlich hohe Toleranz oder sogar eine aktive Präferenz für die Autokratie. Links von der Linie reicht das Spektrum von denjenigen, die die Autokratie aktiv hassen, bis hin zu denjenigen, die ihr mit einer relativ niedrigen Toleranz begegnen. Die Menschen „links von der Linie“ sind es, um die es im Gedankenexperiment geht.
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Abb. 3.1. Verteilung der Menschen im Gedankenexperiment Demopolis.
Personenzahl
Gruppe der Gründer/ Bürger
Vom Gedankenexperiment ausgeschlossen
niedrig
hoch Toleranz/Präferenz für Autokratie
Die Gruppe „links von der Linie“ weist ansonsten die gleiche soziale, ökonomische und Wertevielfalt auf wie die ursprüngliche Gesamtbevölkerung. Nehmen wir jetzt an, dass diese „anti-autokratische, aber ansonsten breit gefächerte“ Gruppe von Menschen ein bestimmtes Territorium bewohnt und um eine Antwort auf die Frage danach ringt, wie man soziale Kooperation ohne einen Herrn erreichen kann. Trotz ihrer sonstigen Unterschiede herrscht unter den Mitgliedern der Gruppe eine allgemeine Übereinkunft darüber, dass sie kaum oder nicht bereit sind, unter einem Herrn zu leben. 7 Diese Übereinkunft kann man sich vielleicht als den ersten Schritt in einem dreistufigen konstitutionellen Prozess vorstellen. Der zweite Schritt ist die Einsetzung grundlegender Regeln, wie sie unten besprochen werden (3.3–3.5). Der dritte Schritt wird die Ausarbeitung weiterer Regeln sein, die unter anderem schwierige Fragen hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit beantworten. Die ersten beiden Stufen legen die umfassenden Regeln, die in der dritten Stufe aufgestellt werden, nicht schon vorher fest: Die Kerndemokratie kann ein sicheres Fundament für eine Vielzahl ganz unterschiedlicher demokratischer Regierungen liefern (Kapitel 8). Vor dem ersten Schritt einer allgemeinen Übereinkunft gehen wir davon aus, dass diejenigen in der ursprünglichen (Glockenkurven-)Bevölkerung, die sich rechts der Linie befinden, also jene, die eine mäßige bis
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hohe Präferenz/Toleranz für die Autokratie haben, jetzt ein anderes Territorium bewohnen. 8 Das Gedankenexperiment beruht nicht auf einer liberalen Prämisse der Werteneutralität, da es einen großen Teil der ursprünglichen Bevölkerung aufgrund ihrer politischen Einstellungen ausschließt. Während in anderen Bereichen der Wertepluralismus erhalten bleibt, wird das Problem der unterschiedlichen Präferenzen in Bezug auf die Regierungsform durch Teilung und Trennung gelöst und nicht etwa durch einen „überlappenden Konsens“* mittels einer wohlüberlegten Angabe von Gründen (Rawls 1996) oder durch irgendeine andere liberale Vorgehensweise. In dem Experiment kontrolliert eine bestimmte Gruppe von Menschen einen bestimmten Teil der Erde, macht sich aber keine Gedanken über ihr moralisches Recht darauf (Stilz 2011, 2013). Das Experiment beginnt innerhalb der Geschichte: In der Vergangenheit sind gute und schlechte, gerechte und ungerechte Dinge geschehen, die dazu führten, dass eine bestimmte Menschengruppe ein bestimmtes Land zu einer bestimmten Zeit besitzt. Jetzt müssen sie entscheiden, wie sie selbst so regieren sollen, dass sie unter anderem auch ihr Territorium verteidigen könnten, wenn feindliche Konkurrenten rivalisierende Ansprüche stellen sollten. Voraussetzung dieser Versuchsanordnung ist, dass sich die ursprüngliche Bevölkerung aufgespalten und vielleicht ein Territorium, das einst alle bewohnten, untereinander aufgeteilt hat (man denke etwa an die Vereinigten Staaten und Kanada nach 1776). Dies soll der Tatsache Rechnung tragen, dass zwar immer wieder in der Geschichte viele Menschen ohne einen Herrn leben wollten, andererseits aber auch sehr viele andere Menschen in allen Phasen der Menschheitsgeschichte eine Autokratie ertragen oder sogar vorgezogen haben. 9 Die Demokratie mag vielleicht als natürlich gelten, * Der überlappende Konsens (overlapping consensus, Rawls) ermöglicht jenseits unterschiedlicher Lebens- und Wertevorstellungen die allgemeine Unterstützung bestimmter Prinzipien.
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und ich werde dafür eintreten, dass gewisse menschliche Güter durch die Demokratie in einzigartiger Weise gefördert werden (Kapitel 5), doch sie war (in historischer Zeit) niemals die weltweit gegenüber der Autokratie bevorzugte Regierungsform. Meiner Meinung nach würden rational handelnde Menschen die Demokratie unter einigen definierbaren idealen Voraussetzungen wählen. Doch die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus ist keine ideale Theorie. Beginnen wir also mit einer großen und bunt gemischten Gruppe von Menschen, die eine Präferenz für die Nicht-Autokratie teilen und nach Regeln für sich als Bewohner eines Staates ohne Herrn suchen. 10 Dieser Staat wird in einer Welt rivalisierender Staaten existieren, die ganz unterschiedlich regiert werden; in einem davon wohnen jene, die sich in der ursprünglichen Verteilung rechts der Linie befanden. Daraus ergibt sich die potenzielle Gefahr von Rivalität mit möglichen Eroberungsversuchen. Außerdem werden Staaten vielleicht ihre Regierungsform wechseln; Bevölkerungen werden wachsen oder schrumpfen; Technik, Klima und anderes werden sich verändern. Ich mache keine genaueren Aussagen zur Größe der Nicht-Autokratie-Gruppe, doch wie oben bereits gesagt, ist sie so groß, dass nicht jeder jeden kennt. Die Gruppe ist im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation (Besitz und Einkommen), Lebenserfahrung und Wissen breit gefächert. Wie ebenfalls schon erwähnt, können immerhin alle in der Gruppe differenziert miteinander kommunizieren. Die Mitglieder befinden sich in keiner außergewöhnlichen psychologischen Verfassung. Es gibt keinen Schleier des Unwissens, kein Schwarmdenken, keine starke bestehende nationale (im Gegensatz zur staatsbürgerlichen) Identität. Die Menschen sind gesellig (in einem elementaren Sinne), setzen ihre Vernunft ein (sind aber auch durchschnittlich emotional mit durchschnittlichen kognitiven Grenzen), sind ziemlich eigennützige, strategisch denkende, kommunikative menschliche Wesen. Sie sind nicht übermäßig altruistisch oder völlig egoistisch. Sie alle wollen, dass es ihnen gut geht, zumindest in materieller Hinsicht, als Individuen und als Mitglieder gesellschaftlicher Untergruppen (z. B. Familien). Alle erkennen an, dass ein um-
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fangreiches System der sozialen Kooperation dazu notwendig ist. 11 Sie teilen ein gewisses Hintergrundwissen in Bezug auf politische und Sozialgeschichte, Gesellschafts- und Naturwissenschaften. Und als Gruppe verfügen sie über ein breites Spektrum an Interessen und Fähigkeiten. Einige Mitglieder sind Fachleute auf verschiedenen für das Regieren wichtigen Gebieten. Alle sind zunächst einmal bereit, bei anstehenden Entscheidungen Expertenwissen heranzuziehen. Allerdings werden sie auf die Experten nur hören, solange sie sicher sind, durch die Experten nicht die Kaperung des Entscheidungsprozesses zu riskieren und auf diese Weise womöglich eine Autokratie zu erschaffen. Die Menschen in der Gruppe sind „Gründer“, sie teilen die Absicht, die fundamentalen Regeln festzulegen, eine elementare Verfassung für einen unabhängigen Staat mit einem begrenzten Territorium. 12 Dieser Staat – nennen wir ihn Demopolis – muss drei Zwecke erfüllen, auf die sich die Gründer vorab verständigt haben. Alle drei unten aufgeführten Zwecke müssen nachhaltig gesichert sein. Keiner darf gegen einen anderen ausgetauscht werden. 1. Sicherheit. Der Staat kann auf Erschütterungen von außen reagieren (z. B. auf feindliche Nachbarn, Veränderungen der Umwelt). Er ist halbwegs robust gegenüber äußeren Bedrohungen wie auch inneren Konflikten oder Umstürzen. Er besitzt somit das Potenzial, lange Zeit zu bestehen. Seine Bewohner sind vor willkürlichen Bedrohungen von Leben und Eigentum relativ gut geschützt. 2. Wohlstand. Der Staat ist insgesamt eher wohlhabend als verarmt. Den Einwohnern werden mehr als genügend Chancen geboten, sich Besitz und Einkommen zu verschaffen, die ihnen die Verwirklichung von Lebensplänen über die Grundsicherung hinaus ermöglichen. Kollektiv erlaubt der Wohlstand dem Staat, erfolgreich mit rivalisierenden Staaten, autokratisch regierten wie anderen, zu konkurrieren, ohne die eigenen Einwohner arm zu machen. 13
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3. Nicht-tyrannische Regierung. Kein Individuum, keine kleine Gruppe monopolisiert die politische Herrschaftsgewalt; es gibt keine festgelegte Hierarchie politischer Macht. Entscheidend ist die Festlegung auf eine nicht-tyrannische Regierung (kein Herr, keine Autokratie). Ich verstehe Sicherheit und Wohlstand als allgemeine Zwecke, die die Bewohner realer Staaten in der gesamten Geschichte immer angestrebt haben. Kurz gesagt wollen die Gründer, was andere Menschen in der Geschichte auch gewollt haben. Das Besondere ist nur, dass sie nicht bereit sind, einen Herrn oder die Hierarchie, die mit einem Herrn einhergeht, zu akzeptieren. Sie vertrauen nicht auf das Wohlwollen der Diktatoren oder die Weisheit herrschender Eliten, sie lehnen die Ideologien des Gottesgnadentums und des aristokratischen Naturrechts ab. Andererseits vertreten sie unterschiedliche Meinungen dazu, was denn genau an der Autokratie auszusetzen sei: eine Neigung zur Grausamkeit, Gewalt oder Unterwerfung; eine Beeinträchtigung der Freiheit, Gleichheit oder Würde; eine räuberische Bedrohung von Wirtschaftsinteressen oder Privatsphäre; die lächerlichen, verachtenswerten oder ästhetisch abstoßenden öffentlichen Hervorbringungen – Paraden, Aufmärsche, Reden, Architektur. Die Gründer von Demopolis unterscheiden sich auch in ihren ethischen Orientierungen voneinander. Ihre Überzeugungen repräsentieren, wie Rawls es ausdrückt, verschiedene umfassende Konzeptionen des Guten. Es gibt Theisten, ethische Liberale, Republikaner, Verfechter des freien Willens oder des Egalitarismus usw. Sie teilen schon vorab nicht dieselben Gerechtigkeitsvorstellungen, sind sich vielleicht noch nicht einmal einig, wenn es um den intrinsischen Wert individueller Freiheit oder Gleichheit geht. Doch ihre Meinungsverschiedenheiten erreichen, wie bereits erwähnt, nicht den Punkt, an dem ein religiöser oder ethnischer Krieg drohen würde oder sogar schon im Gange wäre. Nachdem die Regeln festgelegt sind, werden manche Konzeptionen des Guten vielleicht durch die Steuerstruktur unterstützt oder durch staatliche Erziehung aktiv ge-
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fördert. Andere Konzeptionen werden zumindest als Optionen angeboten. Umfassende Konzeptionen, die auf die Autokratie abzielen, werden benachteiligt. So ist die Grundverfassung nicht der Werteneutralität verpflichtet, bestimmt aber auch nicht, welche Werte abgesehen von denen, die sich direkt aus den drei Staatszwecken ergeben, bevorzugt werden. 14 Ob Entscheidungen, die nach der Gründung getroffen werden, den Liberalismus begünstigen oder ausschließen werden, bleibt noch zu prüfen (Kapitel 8). Die Gründer gehen nicht davon aus, eine Regierung zu bilden, die für alle Menschen überall die beste ist. Vielmehr streben sie eine Regierung an, die ihnen behagt, und sind sich dabei bewusst, dass ihre Präferenz der Nicht-Tyrannei nicht für alle gilt. Sie sind darin, dass sie die Autokratie ablehnen, keine Kosmopoliten oder Universalisten, sondern vielmehr Lokalisten, wie Bernard Williams sie definiert. Sie suchen die beste nicht-autokratische Lösung für, wie Williams es ausdrückt, „jetzt und hier“. 15 Neben den drei grundlegenden Zwecken werden die Gründer jeweils unterschiedliche soziale Ziele verfolgen, über die sie sich insgesamt uneinig sind. Die von den Gründern eingesetzten Grundregeln müssen eine nachfolgende Gesetzgebung ermöglichen, die einen gewissen Rechtsstandard – wie unvollkommen auch immer – festschreiben wird. Verteilungsgerechtigkeit ist jedoch nicht das unmittelbare Ziel der Gruppe, die die grundlegenden Regeln aufstellt. Zwar wird die Frage nach der Verteilung in den Fokus rücken (Kapitel 3.4, 6.8), wenn wir die notwendigen Bedingungen zur Erreichung und Erhaltung der drei Zwecke genauer ausführen, doch ist Verteilungsgerechtigkeit an sich nicht das Ziel, das die Gründer in erster Linie anstreben. Ihnen ist klar, dass sie, bevor sie all die wie auch immer gearteten sozialen Bedingungen erschaffen, welche die wie auch immer definierte Gerechtigkeit fordert, zunächst einmal in einem sicheren, wohlhabenden, nicht-autokratischen Staat mit funktionierenden Verfahren für die Erstellung von Regeln leben müssen. Bevor sie Gesetze erlassen, mit denen Besitz oder Einkommen fair oder nach Verdienst verteilt werden, müssen sie als Gesellschaft die
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relevanten Güter, die dann womöglich verteilt werden könnten, erst einmal sicher besitzen und über ein angemessenes institutionelles Verfahren verfügen, um Entscheidungen über Verteilung und vieles andere zu treffen und durchzusetzen. Die Gründer sind bereit und manchmal sogar ganz begierig darauf, gewisse Kosten (Zeit, offengelegtes Wissen, Steuern) zu tragen, um die notwendigen Bedingungen für eine Kooperation ohne einen Herrn zu fördern. Sie wollen allerdings weder ihr Leben dem Regieren widmen noch hohe Kosten übernehmen, die die Verfolgung aller anderen Projekte unmöglich machen. In manchen Gesellschaftssystemen, die aus der ursprünglichen Gründung entstehen könnten, könnte man solche Projekte dann vielleicht autonom je nach frei gebildeten individuellen Präferenzen wählen (ethischer Individualismus). In anderen Systemen sind manche Projekte außerhalb des Bereichs gemeinsamer Selbstregierung womöglich durch eine traditionelle Kultur oder einen religiösen Glauben festgelegt. Ich werde solche anderen Projekte als „Projekte von sozialem Wert“ bezeichnen, um sie von den staatsbürgerlichen Pflichten zu unterscheiden. Die Bürger rechnen mit unterschiedlich hohen Teilhabekosten, aber nur wenige wünschen sich Nicht-Tyrannei um jeden Preis. Die meisten wollen Nicht-Tyrannei zu einem vernünftigen Preis; also auf einem Niveau, das ihnen angemessene Möglichkeiten sichert, ihre sonstigen Projekte zu verfolgen. 16 Nur einige wenige Gründer gehen davon aus, dass das Regieren zu ihrem vorrangigen Lebensprojekt wird. Manche Gründer wollen vielleicht in Isaiah Berlins (1969) Sinn der „Nichteinmischung“ frei sein, sie wollen die Möglichkeit haben, aus einem ganzen Spektrum möglicher Zwecke, die sie selbst für gut erachten, zu wählen oder auch nicht zu wählen. Andere, etwa jene, deren vorrangiges Lebensprojekt religiöse Hingabe ist und die die Tyrannei als eine Bedrohung ihres Glaubens sehen, interessieren sich vielleicht nicht für die freie Wahl unter verschiedenen Gütern. Doch genau wie jene, die die Wahlfreiheit wollen, werden sie die NichtTyrannei nicht unterstützen, wenn die Kosten so hoch sind, dass sie sie von der Verfolgung ihres vorrangigen Projekts abhalten. 17
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Wirtschaftswissenschaftlich können wir „was ein Gründer will“ als eine „Nutzenfunktion“ ausdrücken. Die Nutzenfunktion des „mittleren Gründers“ ist in Abb. 3.2. schematisch dargestellt. Jeder Gründer braucht eine Gesellschaft, die jedem Bürger zumindest die allernötigsten Lebensgrundlagen (weißes Feld) bereitstellt; er braucht die öffentlichen Voraussetzungen, die Sicherheit, Wohlstand und NichtTyrannei auf staatlicher Ebene sicherstellen (graues Feld); und er braucht den Raum, Projekte von sozialem Wert zu verfolgen (schwarzes Feld). Der mittlere Gründer hofft darauf, relativ wenig für das rein Lebensnotwendige aufbringen zu müssen. Etwas mehr Zeit möchte er auf die Versorgung mit öffentlichen Gütern verwenden, die meiste Zeit hingegen auf Projekte, die für ihn selbst von Wert sind. Abb. 3.2. Nutzenfunktion des mittleren Gründer-Bürgers
Diverse Güter Projekte von sozialem Wert
Öffentliche Güter Sicherheit, Wohlstand, NichtTyrannei auf staatlicher Ebene
Subsistenzgüter reine Lebenserhaltung
Die Nutzen der Gründer sind unterschiedlich, sowohl in Bezug auf die relative Größe der jeweiligen Felder (manche schätzen vielleicht staatsbürgerliche Pflichten höher als andere Projekte) wie auch in Bezug auf die Inhalte des schwarzen Feldes der Projekte von sozialem Wert. Doch jeder Gründer hat eine ähnlich strukturierte Nutzenfunktion und geht davon aus, dass die anderen sie auch haben. Die Struk-
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tur setzt wie im Fall der drei Staatszwecke voraus, dass die Inhalte der drei Felder nicht gegeneinander ausgetauscht werden können. So kann kein Zuwachs an öffentlichen politischen Gütern die völlige Beseitigung anderer Güter von sozialem Wert kompensieren. Die drei Felder befinden sich sogar in einer Rangordnung: weiß, grau, schwarz. Für jeden Gründer ist das eigene Überleben das wichtigste, dann folgen die öffentlichen Bedingungen sozialer Kooperation und schließlich die Projekte von sozialem Wert. Dabei ziehen die Gründer nicht den größten Nutzen aus den Aktivitäten in den weißen und grauen Feldern – vielmehr erkennen sie, dass ohne das schiere Überleben keine Chance auf öffentliche Güter aus sozialer Kooperation besteht, und ohne die öffentlichen Güter Sicherheit und Wohlstand wird es nicht ausreichend Gelegenheiten geben, andere von ihnen geschätzte Zwecke zu verfolgen. Die Nicht-Tyrannei wurde, wie wir gesehen haben, unter der Bedingung einer angemessenen Höhe der Kosten in das graue Feld aufgenommen. In Kapitel 5.5 werden wir sehen, dass die Bürger die Kosten der Nicht-Tyrannei bereitwilliger übernehmen, wenn sie die Demokratie als eine Quelle hochgeschätzter Güter aus dem grauen Feld sehen, die nur denen verfügbar sind, die an der Politik teilnehmen. Die Rangfolge wird stabil sein, wenn die Versorgung mit öffentlichen Gütern zuverlässig Projekte von sozialem Wert (schwarzes Feld) sichert. Das heißt nicht, dass alle möglichen Projekte immer vor der Einmischung geschützt sein werden, die aus der Notwendigkeit, öffentliche Güter zu sichern, entsteht. Die Rangfolge weiß/grau/ schwarz bedeutet, dass Projekte aus dem schwarzen Feld manchmal vielleicht durch Erfordernisse aus dem weißen oder grauen Feld beeinträchtigt werden. Doch der Staat wird eine Einmischung in Projekte von sozialem Wert durch den Verweis auf die drei Zwecke, für die er überhaupt existiert, rechtfertigen müssen. Eine exzessive oder willkürliche Einmischung würde zu Unzufriedenheit und Instabilität führen, letztlich die Sicherheit und Nicht-Tyrannei beeinträchtigen und zu so deutlichen Einschränkungen von Investitionen führen, dass letztlich auch der Wohlstand Schaden nehmen würde.
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3.2. Staatsmacht und Bürgerrecht Die Gründer wissen, dass Anarchie, so attraktiv sie theoretisch auch sein mag, im Licht der gefährlichen, wandelbaren Umgebung, in der ihre Gesellschaft existiert, keine praktische Option ist. Indem sie andererseits Nicht-Tyrannei als einen Hauptzweck für ihren Staat wählen, schließen sie die Option aus, einem Individuum oder einer Gruppe bedingungslos die Macht zu übertragen, um Regeln aufzustellen und durchzusetzen sowie über Meinungsverschiedenheiten zu entscheiden – denn folglich würden sie einen Herrn akzeptieren. Regeln und durch Regeln strukturierte Verhaltensweisen bringen vielleicht Bedingungen hervor, die eine Übertragung dieser Macht auf Repräsentanten erlauben wird (Kapitel 7.1–4). Doch in unserem Gedankenexperiment ist diese Zeit noch nicht gekommen. Die Gründer müssen die Regeln selbst und für sich selbst aufstellen und ratifizieren. 18 Mit den Regeln müssen sie sich kollektiv ermächtigen, diese auch durchzusetzen. Und in Anbetracht ihrer Verpflichtung auf nachhaltige Sicherheit müssen sie die Regeln so formulieren, dass ihre Nachfahren ihrerseits ebenfalls die Möglichkeit haben werden, Regelsetzer und Regeldurchsetzer zu sein, selbst wenn die politische Hoheitsgewalt an Repräsentanten delegiert worden sein sollte. Jede zukünftige Delegierung der Macht, Rechte aufzustellen und durchzusetzen, muss zu jedem Zeitpunkt widerrufbar sein, sodass die Delegierung eine kollektive Entscheidung bleibt und keine praktische Notwendigkeit wird. Weil sie sich weigern, Untertanen eines Souveräns zu sein, müssen die Gründer gemeinschaftlich als ein kollektiver Akteur handeln. 19 Zunächst einmal ist die Wahl des Regierungstyps eine klare Alternative. Entweder ist das Volk als Kollektiv fähig zu herrschen oder es hat einen Herrn. Weil sie früher schon übereingekommen sind, die Autorität abzulehnen (die erste Stufe), noch bevor sie sich auf Grundregeln geeinigt und diese eingesetzt hatten (die zweite Stufe), können wir die Gründer individuell als „Bürger“ und kollektiv als „Demos“ bezeichnen. Die Bürger und der Demos entstehen mit der
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allgemeinen Einigung auf die drei Zwecke Sicherheit, Wohlstand und nicht-tyrannische Regierungsform – und bevor irgendwelche Entscheidungen in Bezug auf die Regeln getroffen sind, mit denen diese Zwecke erreicht werden können. 20 Doch wer unter den Bewohnern von Demopolis gehört zu den Bürgern? 21 Die Frage, wer ermächtigter Bürger sein und damit den Demos bilden wird, ist zunächst einmal durch die kulturellen Normen festgelegt, die „jetzt und hier“ gelten. Im Licht der zeitgenössischen wie der historischen Gepflogenheiten in Bezug auf das Bürgerrecht ist es unwahrscheinlich, dass kleine Kinder wie voll ermächtigte Bürger behandelt werden (aber durchaus als Bürger in Ausbildung). Ebenso unwahrscheinlich ist es, dass kurzzeitige Besucher, denen jede tiefere Verpflichtung gegenüber dem Staat fehlt und die kein wirtschaftliches Interesse an ihm haben, Bürger sein werden. Verschiedene Kulturen haben die Frage, ob Arbeiter ohne Vermögen, Frauen, langfristig im Land lebende Fremde oder verurteilte Verbrecher Bürger mit politischen Teilhaberechten sind, unterschiedlich beantwortet. Eine grundlegende Inklusionsnorm für das Bürgerrecht in einer Kerndemokratie gibt es allerdings. Sie basiert auf dem Sicherheitsbedürfnis: Wenn Menschen, die man sich „kulturell jetzt und hier als Bürger vorstellen“ kann, ohne einen überzeugenden Grund aus der Gemeinschaft der Bürger ausgeschlossen werden, wird ihre Unzufriedenheit mit diesem ungerechtfertigten Ausschluss zu einer ständigen Quelle interner Konflikte. Auch von dieser Überlegung ausgehend definierte etwa Aristoteles die Kategorie des „Bürgers“ mit einem besonderen Bezug auf den Bürger in einem demokratischen Staat, nicht in einer Oligarchie. 22 Aufgrund dieser Überlegungen zur Sicherheit wird das Bürgerrecht in Demopolis auf alle ausgedehnt, die man sich an dem Ort und zu der Zeit kulturell als potenzielle Bürger vorstellt. Die Frage, „Wer sollte ein Bürger sein?“, werden wohl kaum alle, die gerade in Demopolis ansässig sind, identisch beantworten. Wahrscheinlich verändert sich die Antwort, auf die sich die gegenwärtigen Einwohner einigen, auch im Laufe der Zeit, wenn sich die Umstände ändern und
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die ursprüngliche Antwort hinterfragt wird, sei es durch Außenstehende oder durch die Einwohner selbst, die die Welt jetzt anders sehen als ihre Vorgänger. Aber wir können von einer zu einem jeweils gegebenen Zeitpunkt kulturell vorherrschenden Antwort auf die Frage ausgehen, wer denn nun ein Bürger ist. Diejenigen, die anderer Meinung sind, können sich für eine Änderung einsetzen. Wenn sie die Antwort als schlicht unerträglich betrachten, können sie aus der Gesellschaft ausscheiden (unten, 3.6). 23 Wenn ich behaupte, zu jedem Zeitpunkt gibt es eine vorherrschende kulturelle Vorstellung dazu, wer Bürger ist, umgehe ich die Frage, wie sich diese Vorstellung entwickelt hat. Wenn die Gründer (und ihre Nachfolger) nicht einsehen, dass die ursprüngliche Antwort auf die Bürgerrechtsfrage ein Produkt einer bestimmten Zeit war, riskieren sie die Verknöcherung ihres Staates und reduzieren dadurch dessen Fähigkeit, auf die Herausforderungen einer sich wandelnden Umwelt zu reagieren. Zu den sich entwickelnden und verändernden kulturellen Vorstellungen dazu, wer Bürger ist, wird ebenso die Überlegung gehören, wer das Bürgerrecht verdient, denn es wird auch als ein Gut verstanden, das für einige, aber nicht für alle längerfristig Ansässigen verfügbar ist. Bei der Gründung wie bei der Aufrechterhaltung der demokratischen Ordnung ist ethisches Urteilsvermögen bei der fundamentalen Frage staatsbürgerlicher Zugehörigkeit sehr wichtig. Aus diesen Gründen kann die Antwort auf die Frage „Wer ist ein Bürger?“ nie als endgültig beantwortet gelten. Sonst würde sie einer zukünftigen Generation, die Gründe dafür sieht, den Geltungsbereich von „Wir, das Volk“ erweitern zu müssen, die Hände binden. Bemerkenswerterweise neigt allerdings das Bürgerrecht dazu, eine Sperrklinke zu sein, die eine Bewegung in nur eine Richtung zulässt: Die Entscheidung einer Mehrheit, einer Kategorie von Personen das Stimmrecht zu entziehen, die gegenwärtig noch Bürgerrechte genießt, würde bedeuten, zu akzeptieren, dass ein Teil der Bürgerschaft ganz grundlegend wie ein Tyrann handeln kann, und das würde den dritten Staatszweck beschädigen. Dennoch könnte eine solche Ent-
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scheidung fallen, und das ist auch in demokratischen Staaten schon geschehen (berüchtigt ist die Internierung japanischstämmiger Amerikaner durch die amerikanische Regierung im Zweiten Weltkrieg). Solche „Ausnahmen“ können vorübergehend gelten; Demokratien werden sie vielleicht im Nachhinein als Fehler werten. Wenn man irgendeiner Minderheit innerhalb der Bürgerschaft ihren Status entzieht, bürgerliche Freunde und Mitbürger zu Feinden der Bürger und Ausgegrenzten umdefiniert, setzt man jeden Bürger diesem Risiko aus, da jeder zu irgendeiner Minderheit gehört. Immer, wenn eine Mehrheit von Bürgern anderen Bürgern das Stimmrecht entzieht, wird sie in jenem Moment zu einem kollektiven Tyrannen und eröffnet in dem Maße, wie die Entscheidung sich über einen Hauptzweck der öffentlichen Ordnung hinwegsetzt, den Weg zum Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung. 24 Wenn wir davon ausgehen, dass das Gründungsdatum von Demopolis im frühen 21. Jahrhundert n. Chr. liegt (und nicht wie im Fall Athens das späte 6. Jahrhundert v. Chr.), werden erwachsene Frauen und wenigstens einige lange Zeit ansässige Nichteinheimische in die Gemeinschaft der Bürger aufgenommen werden. Demopolis existiert innerhalb einer kompetitiven Staatenwelt, in der sich Informationen problemlos über Staatsgrenzen hinweg verbreiten. Wenn wir annehmen, dass der zeitliche Kontext unseres Gedankenexperiments die Moderne ist, wird der Hintergund, die globale kulturelle Vorstellung davon, „wer ein Bürger sein kann“, direkt oder indirekt von Prinzipien des Liberalismus beeinflusst sein. Wir müssen nicht glauben, die Gründer eines modernen Demopolis seien moralisch dem Liberalismus verpflichtet, um davon auszugehen, dass sie aus Vernunftsgründen Frauen und einigen nicht-einheimischen Ansässigen das Stimmrecht geben werden. 25 „Alle Personen, die man sich kulturell als Bürger vorstellt, sollten ermächtigte Bürger sein“ – als ein allgemeines politisches Prinzip definiert der Satz eine Unter-, aber keine Obergrenze. Wie wir in Kapitel 5.5 sehen werden, erfordern ethische Überlegungen, die sich aus Annahmen über die menschliche Natur ergeben, dass eine Demokra-
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tie den Ausschluss lange ansässiger Erwachsener von einem teilhabenden Bürgerrecht rechtfertigt, falls und wenn diese Überlegungen als Argumente für die Legitimität des Regimes eingesetzt werden. Andererseits hindert das politische Prinzip nicht daran, auf demokratischem Weg Regeln zu etablieren, die dazu führen werden, dass Einzelnen zeitweise oder auf Dauer ihr staatsbürgerlicher Status entzogen wird, wenn und falls ihr Verhalten staatsbürgerliche Normen verletzt. So lässt sich zum Beispiel die Frage, ob verurteilten Schwerverbrechern in den amerikanischen Rechtssystemen Wahlrechte rechtmäßig verweigert werden können, nicht dadurch automatisch beantworten, dass man sich leicht vorstellen kann, dass auch Verbrecher ein Wahlrecht haben. Falls allerdings die demokratische Ordnung dadurch delegitimiert werden würde, dass man Schwerverbrechern die Wahlrechte verweigerte, würde es sich von selbst verbieten, dies zu tun – aus denselben Vernunftsüberlegungen heraus, aus denen man all jene, die man sich kulturell als Bürger vorstellen kann, in das Bürgerrecht aufnimmt. Die Gründer-Bürger akzeptieren die Notwendigkeit organisierter politischer Macht und die Notwendigkeit der Legitimität, verstanden als allgemeiner, bereitwilliger Gehorsam gegenüber dieser Macht. Sie haben vor, Regeln einzusetzen, die die drei Zwecke Sicherheit, Wohlstand und Nicht-Tyrannei erreichbar machen, und sie wissen, dass diese Regeln durchgesetzt werden müssen; sie akzeptieren den dafür notwendigen Zwang. Andererseits haben die Gründer nicht vor, bereits jetzt all die Regeln festzulegen, die der Staat jemals brauchen wird. Sie gehen davon aus, dass in Zukunft fortlaufend neue Regeln bestimmt werden, um andere wichtige Aspekte der Politik einschließlich der Verteilungs- und ausgleichenden Gerechtigkeit („Stufe 3“, oben) zu ergänzen. Sie rechnen mit von außen wirkendem Wandel und Erschütterungen, die eine Reaktion der Gesetzgebung erfordern werden. Tatsächlich müssen die anfänglichen Gründungsregeln die Fähigkeit des Staates stärken, innovative Lösungen für zukünftige Probleme zu entwickeln. 26
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3.3. Teilhabe Wie Sicherheit und allgemeiner Wohlstand ist auch eine nicht-tyrannische Regierung für die Bürger ein öffentliches Gut. Sie ist nichtrivalisierend, denn wenn ein Bürger unter der Bedingung der NichtTyrannei lebt, mindert das nicht die Nicht-Tyrannei, die andere womöglich genießen. Sie ist nicht-ausschließbar, denn jeder Bürger (die ursprüngliche Gruppe „links von der Linie“, die das Territorium bewohnt) genießt denselben Status eines Lebens ohne Herrn. 27 Wie auch andere kollektive Besitztümer ist Nicht-Tyrannei als ein öffentliches Gut den bekannten Problemen der Trittbrettfahrerei und der Tragik der Allmende* ausgesetzt. Die öffentlichen Güter Sicherheit, Wohlstand und Nicht-Tyrannei können nur dann gleichzeitig bewahrt werden, wenn die Bürger kollektiv handeln, um Regeln zu erstellen und sie durchzusetzen. Dies bringt Kosten mit sich – Zeit und Energie, die man für das graue Feld der öffentlichen Güter aufwendet, könnten sonst in das schwarze Feld der Güter von sozialem Wert fließen. Wir gehen von dem Willen aller Bürger aus, die Nicht-Tyrannei zu bewahren. Doch in dem „Spiel“, in dem es um die Aufstellung und Erhaltung der Regeln geht, wird jeder rational eigennützige Bürger sich den Kosten entziehen, wenn er das öffentliche Gut voll und ganz genießen kann, ohne dazu etwas beitragen zu müssen. Der Staat wird unter dem Druck immer intensiverer Trittbrettfahrerei und kleiner Betrügereien nicht dauerhaft sicher, wohlhabend und ohne Herrn bleiben. 28 Die erste Regel der Gründer lautet daher: „Alle machen mit“, wenn es darum geht, die öffentlichen Güter zu sichern. Das bedeutet zumindest die Pflicht aller Bürger, auf die eine oder andere Weise zum Erstellen, Beurteilen und Durchsetzen der Regeln beizutragen. Entsprechend sind sie auch dazu verpflichtet, sich an der Sanktionierung jener zu beteiligen, die sich um ihre Teilhabepflicht drücken. Was genau zu dieser Pflicht der Beteiligung gehört, wird von den * Übernutzung von gemeinschaftlichen Gütern
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nachfolgenden Entscheidungen zu den Regeln, die Legislative, Exekutive und Judikative bestimmen, abhängen. Das Minimum ist ein gewisses Zeitpensum, um über öffentliche Angelegenheiten zu beratschlagen, seine Stimme zu wichtigen Dingen von allgemeinem Interesse abzugeben (in Wählen oder Referenden) und als Geschworener zu dienen. Ebenso kann dazugehören, persönliche Verantwortung für die Regeldurchsetzung zu übernehmen (Kapitel 6.6). Zumindest die Wohlhabenderen werden auch Steuern zahlen müssen. Ein gewisses Steueraufkommen wird der Sicherheit gewidmet sein. Andere Einnahmen werden für Grundversorgung und Bildung umverteilt werden. Die „Alle machen mit“-Regel erfordert auch für jeden Bürger den Zugang zu mindestens grundlegender Bildung, um Informationen abzurufen und verantwortlich Entscheidungen zu treffen als Wähler, Geschworener und womöglich auch als Amtsträger des Staates (z. B. als Mitglied eines Beratungsgremiums: Kapitel 7.7). Zudem werden die Bürger gewisse Wohlfahrtsgarantien brauchen, um bei der Arbeit der gemeinsamen Selbstregierung richtig mitwirken zu können: Wer die Teilhabekosten nicht auf sich nehmen kann, ohne dabei seine Existenz aufs Spiel zu setzen, wird sie auch nicht leisten wollen. Daher wird es zu den Teilhabepflichten jedes Bürgers gehören, dazu beizutragen, dass Gesundheitsfürsorge, Nahrung und Unterkunft auf wenigstens minimalem Niveau für alle Bürger gewährleistet sind. Die Verteilung spielt ins Narrativ der Kerndemokratie hinein als eine Bedingung, die die drei Staatszwecke sichert, nicht aber als eine Bedingung sozialer Gerechtigkeit. Der Umverteilungsbedarf, der sich aus der Mitmachregel ergibt, bildet eine Unter-, keine Obergrenze. Er geht den Entscheidungen voraus, die die Bürger dann später im Hinblick auf das Verteilungsniveau treffen werden, auf das sie sich abhängig von ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit schließlich einigen. Die Bürger streben eine sichere und wohlhabende Gesellschaft an. Jeder Bürger erwartet, dass der Staat Möglichkeiten, zu individuellem Wohlstand zu kommen (d. h. einen Raum, Projekte von sozialem Wert zu verfolgen), wie auch den Wohlstand der Gesellschaft als
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ganzer fördert. Welche Entscheidungen zur Verteilungsgerechtigkeit auch immer schließlich getroffen werden, der Steuersatz und die Umverteilungsfunktion der Steuern müssen so strukturiert sein, dass weder einige wenige Reiche (die mutmaßlich größten Steuerzahler) noch die Mehrheit mit einem mittleren bis niedrigeren Einkommen (die vermutlich in verschiedener Hinsicht von den öffentlichen Einkünften profitieren) Grund haben, sich vom nicht-autokratischen Status quo abzusetzen, weil sie sich in ihren Erwartungen, was die Möglichkeiten persönlichen Wohlstands betrifft, konsequent enttäuscht sehen. Wenn beim Steuersatz oder der Verteilung von Vorteilen etwas schiefläuft, besteht die Gefahr, dass die „Revolutionsschwelle“ (Kuran 1991, 1995) des betreffenden Bevölkerungsteils sinkt und dadurch das Risiko einer autokratischen Konterrevolution steigt und die Sicherheit des Staates erodiert. Wir werden auf die Grenzen, innerhalb derer Umverteilung in einer Kerndemokratie möglich ist, in Kapitel 6.8 noch einmal zurückkommen.
3.4. Gesetzgebung Die zweite Grundregel legt fest, wie man bei der Aufstellung zukünftiger Regeln der Stufe 3 grundsätzlich vorgehen wird. Ausgehend von der Übereinkunft zu den drei Staatszwecken werden einige Regeln vielleicht einvernehmlich bestimmt. Der Gesetzgebungsprozess muss Meinungsverschiedenheiten ausgleichen können, die bei manchen Themen so tief greifend sein werden, dass ein echter Konsens nicht zustande kommt. Es werden politische Diskussionen und Auseinandersetzungen folgen, weil die Bürger ganz unterschiedliche Werte vertreten und weil ihre jeweiligen Projekte zu einem Wettbewerb führen werden, wenn die Ressourcen für diese Projekte knapp sind. Die erste Regel erfordert ja, dass alle sich an der Politik beteiligen; bei nicht-einvernehmlichen Entscheidungen heißt dies, dass die Bürger (zumindest) unter irgendeiner Art von mehrheitsrechtlicher Entscheidungsregel abstimmen.
Gesetzgebung
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Nicht-Tyrannei heißt, kein definierter „Teil“ des Demos kann legitim als kollektiver Autokrat über den ganzen Demos herrschen. Jede Stimme muss gleich viel zählen, denn wenn bei extremer Ungleichheit die Stimme eines Individuums schwerer wiegt als die Stimmen aller anderen, ist dieses Individuum ein Tyrann. Wenn die Stimmen weniger schwerer wiegen als die der vielen, sind diese wenigen ebenso ein kollektiver Tyrann. Zudem wäre die Mitmachregel schon auf den ersten Blick unfair und würde daher zu Instabilität führen, wenn Bürger, die aufgefordert sind, ähnliche Teilhabekosten zu tragen, Stimmen mit unterschiedlichem Gewicht zugesprochen bekämen – wie etwa bei J. S. Mills (1861: Kap. 8) Vorschlag, Bürgern mit „geistiger Überlegenheit“ (belegt durch ihre elitäre Bildung) mehr Stimmen zu geben. 29 Teilhabe plus Nicht-Tyrannei heißt also, dass wie im klassischen Athen jeder Bürger gleiches Stimmrecht haben muss und die gleiche Chance, alle möglichen politischen Rollen zu übernehmen (z. B. als ein durch das Los bestimmtes Ratsmitglied: Kapitel 7.6), die im Laufe der Festsetzung der Regeln geschaffen werden. Die Bürger von Demopolis werden zwar in einigen wichtigen Punkten grundsätzlich verschieden sein (manche sind besser informiert, andere können sich besser ausdrücken usw.), aber ihre Stimmen werden gleich viel zählen. Die Frage, wie eine Mehrheit von Wählern davon abgehalten werden kann, als kollektiver Tyrann über eine Minderheit gleichberechtigter Wähler zu handeln, wird später besprochen (3.5). Die Gesetzgebung muss nicht nur auf nicht-tyrannische Verfahren ausgerichtet sein, sondern auch auf Effizienz. Ausgehend vom Sicherheitsbedürfnis in einem gefährlichen und wandelbaren Umfeld müssen die Grundsatzentscheidungen der Bürger besser sein als das Werfen einer Münze. 30 Wie bereits gesagt, werden die Bürger Erziehung und Wohlfahrt benötigen, um verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Sie werden zudem Informations-, Rede- und Versammlungsfreiheit brauchen, wenn sie die bestmöglichen Strategien entwickeln und umsetzen sollen. Dazu müssen sie die für ihre Entscheidungen relevanten Informationen frei beschaffen und zur Kenntnis
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nehmen können. Wer über Wissen verfügt, das für eine bestimmte Entscheidung wertvoll sein könnte, muss nicht nur Grund haben, dieses Wissen offenzulegen, sondern muss auch frei sein in dem Versuch, seine Mitbürger zu informieren (und dadurch zu beeinflussen). Weil es nicht von vornherein klar sein kann, wessen Informationen oder Wissen potenziell relevant sind, müssen alle in diesen wichtigen politischen Dingen gleichermaßen frei sein. Zudem hätten diejenigen Bürger, die im Hinblick auf Informationen, Rede und Versammlung nicht frei wären, faktisch einen Herrn – grundlegender Voraussetzungen, sich selbst zu regieren, beraubt, würden sie von demjenigen regiert, der die Nicht-Freiheit geschaffen und durchgesetzt hätte. Anders als in zeitgenössischen republikanischen Theorien der politischen Ordnung (Skinner 1998; Pettit 2014) muss politische Freiheit daher zwar nicht als das Rechtsprinzip der Kerndemokratie verstanden werden, ist aber dennoch eine notwendige Bedingung des Staates ohne Herr. Die Bürger müssen also funktionale politische Gleichheit und Freiheit genießen können. Damit Gleichheit und Freiheit in der Praxis funktionieren, müssen die Bürger einander mit Würde behandeln, als Personen, die der bürgerlichen Teilhabe wert sind. Ebenso müssen auch die Inhaber jedweder öffentlicher Ämter, deren Einführung sie letztlich beschließen, sie mit Würde behandeln. Ein Bürger, der würdelos behandelt, also etwa öffentlich gedemütigt oder entmündigt wird, ist funktional weder gleich noch frei. Zudem wird sich, wie wir in Kapitel 6.8 sehen werden, die staatsbürgerliche Würde als wertvoll erweisen, wenn es darum geht, die Forderungen von Verfechtern des freien Willens und des Egalitarismus abzumildern, sobald das Thema der materiellen Gerechtigkeit und Verteilung auf dem Tisch liegt. Inzwischen bleibt, so wie die Bildung und Wohlfahrt, auch die demokratische Verpflichtung auf Freiheit, Gleichheit und Würde fest in der Politik verankert. Bürger mit liberalen Werten werden Freiheit, Gleichheit und Würde als Zwecke an sich schätzen. Aber selbst jene Bürger, die das nicht tun, haben Grund, ihren instrumentellen Wert als Bedingungen anzuerkennen, ohne die eine nicht-tyrannische Ord-
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nung nicht gewahrt werden kann. Die Bedingungen Freiheit, Gleichheit und Würde können durch nachfolgende (Stufe 3) öffentliche, durch ein moralisches Gerechtigkeitskonzept geprägte Entscheidungen erweitert und ausgearbeitet werden. Bis dahin aber können die Bedingungen, die für eine effektive Gesetzgebung mit demokratischen Mitteln mindestens notwendig sind, nicht eingeschränkt werden, ohne dass einer der drei Staatszwecke geopfert wird.
3.5. Festschreibung Die dritte und letzte Gründungsregel schreibt die allgemeine Übereinkunft der Stufe 1 sowie die Regeln zu Teilhabe und Gesetzgebung der Stufe 2 fest. Sie beschränkt die kollektive Fähigkeit der Bürger, nachfolgende Regeln in Stufe 3 aufzustellen, die die drei Staatszwecke oder aber die Bedingungen, die diese Zwecke erreichbar machen, darunter politische Gleichheit, politische Freiheit und staatsbürgerliche Würde, bedrohen würden. Eine Einschränkung der Regierung zur Verteidigung grundlegender Freiheiten ist natürlich ein bekanntes Merkmal des Liberalismus. In unserem Gedankenexperiment entsteht die Beschränkung nicht aus Annahmen über den intrinsischen Wert der Autonomie, aus dem Naturrecht oder den Menschenrechten. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Imperativ, die Zwecke Sicherheit, Wohlstand und Nicht-Tyrannei in einer ansonsten bunt gemischten Bevölkerung zu erreichen. Freiheit, Gleichheit und Würde, wie sie die ersten beiden Regeln erfordern, werden der Sache nach staatsbürgerlich und politisch sein und damit weniger tief greifend und umfassend, als der Liberalismus es fordert (Christiano 2008: 138–154). Noch einmal: Die Kerndemokratie bietet eine Unter-, keine Obergrenze. Andererseits erlegt die Verpflichtung auf eine nicht tyrannische Regierung der Gesetzgebung einige Beschränkungen auf, die sich aus dem Liberalismus als solchem nicht ergeben. Die vorausgehende Einigung auf die drei Zwecke bedeutet, dass die Bürger als Gesetzgeber keine Regel aufstellen dürfen, die den Staat
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womöglich unsicher, arm oder autokratisch machen würde. Ein Beispiel für eine Gesetzgebung, die die Zwecke des Staates aufs Spiel setzt, wäre, wie wir gesehen haben, wenn einer Minderheit das Bürgerrecht mithilfe einer Mehrheitsentscheidungsregel entzogen würde. Kurz gesagt: die nachfolgenden Regeln der Stufe 3 müssen einem Grundstandard entsprechen, nämlich der allgemeinen Übereinkunft der Stufe 1 und den fundamentalen Regeln der Stufe 2. Die verankerten Verfassungsregeln müssen wiederum von den Bürgern durchgesetzt werden. Sie müssen daher allgemein bekannt sein, damit es sofort auffällt, wenn jemand diese verletzt. Die Einigung auf die drei Zwecke und die Kriterien für das Bürgerrecht zusammen mit den fundamentalen Regeln der Stufe 2 müssen daher so fest umrissen sein, dass jeder neue Regelvorschlag oder jedes Handeln eines staatlichen Amtsträgers, die einen der drei Zwecke bedrohen, sofort als Bedrohung erkannt werden. Regelverletzungen wiederum veranlassen jeden einzelnen Bürger dazu, sich am Widerstand gegen die Verletzung und, wenn nötig, gegen den Verletzer zu beteiligen. Dieser Widerstand kann sowohl eine institutionelle wie auch, falls notwendig, eine außer-institutionelle Pflicht sein, die jedem Bürger, der eine Verletzung wahrnimmt, auferlegt ist (Kapitel 6.5 und 6.6). Ein wirksamer Widerstand gegen die Verletzung von Grundregeln braucht Gesetze wie auch Verhaltensnormen. Gesetze müssen dem gewohnheitsmäßigen staatsbürgerlichen Verhalten zum Durchbruch verhelfen und es herstellen: Das Gesetz muss sofort ein Kristallisationspunkt für koordiniertes Handeln und auch für eine Art ständige staatsbürgerliche Erziehung sein. 31 Die Grundregeln der Gründer waren als das Minimum gedacht, das notwendig ist, um die drei Zwecke Sicherheit, Wohlstand und Nicht-Tyrannei zu erreichen. Bürger, die unterschiedliche Wertsysteme vertreten, darunter Liberale ebenso wie religiöse Traditionalisten, würden vielleicht jeweils umfassendere fest verankerte Regeln vorziehen. Liberale möchten womöglich die Trennung von Kirche und Staat festschreiben, Traditionalisten die Anerkennung göttlicher Autorität. Jede Gruppe wird in der nachfolgenden Stufe 3 der Regel-
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setzung die Möglichkeit haben, ihre eigenen Werte zu vertreten. Durch die Einigung der Bürger von Demopolis auf die drei Staatszwecke und die Maßgabe, dass Demopolis nicht am Rand eines religiösen oder ethnischen Krieges steht, können Entscheidungen über Angelegenheiten von großer Bedeutung für verschiedene Gruppen innerhalb der Gesellschaft aufgeschoben werden, bis das politische Fundament gelegt ist. Die Gründer wollen also so viel wie möglich der Zukunft überlassen, nicht nur überfrachtete ethische Themen, sondern auch wichtige Verfahrensfragen. Sie müssen in der Phase der Gründung nicht entscheiden, wie die Staatsmacht an Repräsentanten delegiert werden wird. Während die Grundregeln sicherstellen, dass das graue Feld der öffentlichen Güter und des bürgerschaftlichen Engagements Raum lässt für das schwarze Feld der Güter von sozialem Wert, ist das schwarze Feld nicht gesetzlich als eine unantastbare Rechtssphäre definiert, wie das in einem liberalen Regime der Fall wäre. Die Gründer wollen durchaus, dass die Grundregeln, die sie in dem Gründungsprozess der Stufe 2 auswählen, stabil sind und nur in einem mühevollen Prozess geändert werden können. Diese Regeln müssen Individuen und Gruppen erlauben, Pläne für die Zukunft zu machen und die übrigen Regeln für ihren Staat auszuhandeln. Die Festschreibung der Übereinkunft aus Stufe 1 und der Regeln aus Stufe 2 soll den Bürgern die Vorteile sichern, die sie vernünftigerweise im Austausch für die Kosten, die sie übernehmen müssen, erwarten können. Sie reduziert die Gefahr eines zerstörerischen Bürgerkrieges, indem sie die Voraussetzungen für eine Einigung darüber schafft, was eine Verletzung ist und wie man den Widerstand gegen Verletzungen koordiniert. Eine Festschreibung der Regeln zusammen mit der Pflicht zur Teilnahme am Widerstand gegen ihre Verletzung treibt die wohl zu erwartenden Kosten für potenzielle Verletzer in die Höhe: Diejenigen, die sich zu einer Regelverletzung entschließen, müssen kurz gesagt glauben, einen Bürgerkrieg gewinnen zu können. Je umfassender die Bürger die Regeln akzeptieren und internalisieren, desto deutlicher werden sich die Verletzer in der Unterzahl und ideologisch
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isoliert finden. Es spricht also alles gegen leichtfertige Veränderungen der Grundregeln sowie gegen ihre Verletzung. 32
3.6. Austritt, Eintritt, Zustimmung Die einmal formulierten Grundregeln in Bezug auf Teilhabe, Gesetzgebung und Festschreibung müssen durch einen regelkonformen Prozess ratifiziert werden – alle beteiligen sich an diesem Prozess als politisch freie und gleiche Bürger, in dem Bewusstsein, dass sie gerade ihre eigene Macht, neue Regeln zu schaffen, die die Staatszwecke blockieren würden, beschränken. Die „Gründer“ sind nicht nur diejenigen, die die Regeln entworfen haben, sondern alle, die sich durch Beratung und Stimmabgabe an ihrer Ratifizierung beteiligen. Nach dieser Ratifizierung sind die Bürger (und andere Einwohner) an die Grundregeln gebunden, ebenso wie an spätere Regeln, die in Einklang mit den Grundregeln aufgestellt werden. Während der Ausarbeitung der Regeln kommen manche Bürger jedoch vielleicht zu dem Schluss, dass die Kosten der Nicht-Tyrannei höher sind als die erwarteten Vorteile. Möglicherweise haben sie inzwischen eine Konzeption des Guten entwickelt, die die Autokratie vorzieht (etwa eine religiöse Überzeugung, die die Herrschaft eines Einzelnen mit einer besonderen Beziehung zur göttlichen Ordnung gebietet). Oder vielleicht fürchten sie, eine Regierung ohne Herr würde sich im Laufe der Zeit als instabil erweisen. Innerhalb des Demos könnte auf diese Weise eine Minderheit entstehen, die bereit ist, im Austausch gegen eine erhoffte Steigerung der Ziele mit sozialem Wert im schwarzen Feld auf das Merkmal der Nicht-Tyrannei im grauen Feld der öffentlichen Güter in Abb. 3.2. zu verzichten. Die Bürger (jetzt verstanden als eine Mehrheit, die keine Tyrannei will) müssen sich den politischen Präferenzen einer Minderheit, die eine Autokratie befürwortet, nicht anpassen. Wer sich entscheidet, weiterhin auf dem Territorium des Staates zu leben, sich aber nicht an der Arbeit beteiligt, eben die Regeln aufrechtzuerhalten, die die
Austritt, Eintritt, Zustimmung
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drei Staatszwecke bewahren, wird nicht den Status eines Bürgers haben. Diese „bürgerrechtsberechtigten Nicht-Bürger“ müssen vielleicht besondere Steuern zahlen oder andere Nachteile hinnehmen. Jeder Einwohner von Demopolis hat zwar weiterhin die Option, den Staat jederzeit zu verlassen, doch die Bürgerschaft wird es wohl aus Sicherheitsgründen (Mobilisierung) nicht so gern sehen, wenn die Zahl der Bürger in ihrem Staat sinkt. Deshalb werden die Gründer versuchen, jenen entgegenzukommen, die der Nicht-Tyrannei nur minimal positiv gegenüberstehen und die Mitmachregel nur zu den geringstmöglichen persönlichen Kosten unterstützen. Dieselben praktischen Überlegungen werden ins Spiel kommen, falls die Bürger von Demopolis sich je entscheiden sollten, eine Staatsreligion oder andere auf Werten basierende Regeln, die das Sozialverhalten prägen, festzulegen. Doch obwohl der Austritt von Beteiligten bedauerlich ist, werden die Bürger ihn nicht um jeden Preis verhindern. Sie akzeptieren, dass die Aufstellung einer neuen Regel womöglich zum Austritt einiger Individuen führen kann – d. h., dass manche sich vielleicht entscheiden, in einen rivalisierenden Staat umzuziehen, weil die Kosten des Verbleibs in diesem nicht-autokratischen Staat für sie höher geworden sind als die Kosten des Umzugs. 33 Diejenigen, die sich entscheiden, Bürger zu bleiben, nachdem die Grundregeln ratifiziert sind, bestätigen damit ihre Bereitschaft, die Autorität des neuen Staates als legitim zu akzeptieren. Legitimität wird typischerweise durch Konsens hergestellt, doch die Gründung von Demopolis basierte auf bejahender Billigung, einer bewussten Entscheidung jedes einzelnen Bürgers – selbst jener, denen andere Grundregeln lieber gewesen wären. Der Staat, den die Gruppe gründet, soll zudem auf unbestimmte Zeit hin bestehen. Deshalb müssen sich die Bürger, selbst wenn alle Erwachsenen, die nach Festlegung der Anfangsregeln bleiben, an der Gründung teilhatten und dadurch einwilligten, bestimmte Teilhabekosten zu tragen, der Frage stellen, wie sie die Zustimmung zukünftiger Bürger erlangen können. Zu diesen gehören Einwanderer, jetzt noch Minderjährige und die Angehörigen zukünftiger Generationen. Man kann nicht glauben, diese
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seien von vornherein bereit, die Kosten der Nicht-Tyrannei zu tragen. 34 Die ursprünglichen Staatsbürger bekräftigten faktisch ihre Bereitschaft, die Kosten für Erzwingungsregeln zu tragen, die für notwendig befunden werden, um Sicherheit, Wohlstand und Nicht-Tyrannei zu bewahren (z. B. Stimmabgabe, Besteuerung, Staatsdienst). Potenzielle Bürger teilen vielleicht nicht die Vorliebe für Nicht-Tyrannei zu womöglich hohen sozialen Kosten für einzelne oder Gruppen, denen sie angehören. Weil die Gründer sich einem sozialen und wohlhabenden Staat, der auf unbestimmte Zeit bestehen kann, verpflichtet haben und weil sie glauben, dass fortdauernde Sicherheit und Wohlstand Legitimität erfordern, müssen sie deshalb einen Plan haben, um die Zustimmung all jener zu erhalten, die durch Geburt oder Einwanderung in die Gemeinschaft eintreten. Da alle Bürger sich beteiligen sollen, müssen sie ihre Zustimmung auch aktiv bestätigen (also gleichsam selbst noch einmal an der Gründung teilnehmen) und nicht nur schweigend (nach Locke) oder hypothetisch (nach Rawls) beipflichten, wie es für die Legitimierung einer Regierung in der liberalen politischen Theorie ausreichen würde. 35 Diese Überlegungen weisen auf die Notwendigkeit von staatsbürgerlicher Erziehung ebenso wie von Abkommen mit anderen Staaten. Die staatsbürgerliche Erziehung wird auf die rationale Überzeugung zielen. Sie wird potenziellen Bürgern darlegen, wie wertvoll die Teilhabe an einem nicht-autokratischen Staat ist, der zudem noch Sicherheit und Wohlstand bietet. 36 Allerdings wird es der staatsbürgerlichen Erziehung – unabhängig davon, wie rational, faktenbasiert, emotional motivierend und rhetorisch gut sie präsentiert wird – nicht notwendigerweise gelingen, potenzielle Bürger von den Vorteilen gegenüber den Kosten zu überzeugen. Der Staat ohne Herr hat daher gute Gründe, anreizkompatible Regeln zu finden, die den zivilrechtlichen Status von ansässigen Nicht-Bürgern festlegen, und Übereinkünfte mit Nachbargemeinschaften zu schließen, sodass zwischenstaatliche Migration je nach Vorliebe für eine Regierungsform möglich und friedlich bleibt und die Sicherheit nicht bedroht.
Namensgebung
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3.7. Namensgebung Aus dem Gedankenexperiment über Gründerbürger, die die Grundregeln für einen anti-tyrannischen, wohlhabenden, sicheren Staat setzen, folgt, dass dieser Staat auf der Selbstregierung durch Bürger basiert, die kollektiv (mit aktiver Beteiligung der Bürger, die den Demos bilden), beschränkt (Regeln dürfen die Bedingungen nicht beeinträchtigen, die notwendig sind, um die Staatszwecke zu erreichen) und stabil effektiv in dem Sinne ist, dass sie eben jene politische Strategie hervorbringt, die den Staat gleichzeitig wohlhabend und sicher sein lässt. Die Gründer von Demopolis geben ihrem Regime den Namen „Demokratie“, womit sie ausdrücken wollen, dass der Demos tatsächlich in der Lage ist, die Bedingungen für eine beschränkte und gemeinsame Selbstregierung in einer gefährlichen und wandelbaren Welt zu schaffen und aufrechtzuerhalten. Das theoretische Modell der Demokratie, das sich aus dem Gedankenexperiment Demopolis ergibt, ist weitgehend konsistent mit dem, was die alten Griechen unter „Demokratie“ verstanden. Sie bezeichneten damit als Erste eine Regierung des Demos durch den Demos für den Demos, wobei sie unter Demos eine große und gesellschaftlich breit gefächerte Bürgerschaft verstanden. Die Gründer müssen daher nicht fürchten, dass der Begriff Demokratie eigentlich schon besetzt sein könnte als Bezeichnung für eine autokratische Herrschaft einer momentanen Mehrheit oder für die Verknüpfung von liberalen Prinzipien mit einer Regierung durch Mehrheitsentscheidungen, die durch die Herrschaft des Gesetzes beschränkt wird. Demopolis übernimmt zwar für seine Regierungsform einen Namen, den ursprünglich die Athener geprägt haben, ist jedoch nicht durch die historischen kulturellen oder sozialen Normen, Glaubensüberzeugungen oder Praktiken gebunden, die die griechischen Stadtstaaten charakterisierten. Demopolis muss sicherlich keine Sklavengesellschaft sein. Es kann Frauen und naturalisierte Ausländer in die Bürgerschaft aufnehmen. Es kann auch Verfassungsregeln entwickeln, die die Delegierung der Gesetzgebung, Rechtsprechung und
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Verwaltung an Repräsentanten erlauben, statt sie durch direktdemokratische Regierungsmechanismen auszuüben wie bei den Athenern in der Antike. Das wiederum bedeutet, dass die Größe von Demopolis nicht notwendigerweise beschränkt ist. Die Frage, wie die Einwohner von Demopolis als teilhabende Bürger verhindern können, dass sich Repräsentanten in autokratische Herrscher verwandeln, wird in Kapitel 7 aufgegriffen. Kapitel 2 und 3 haben gezeigt, dass Kerndemokratie in der antiken Praxis wie in der zeitgenössischen Theorie ein Weg ist, um Sicherheit, Wohlstand und eine nicht-tyrannische Regierung zu erlangen. In den nächsten vier Kapiteln wenden wir uns der Frage ihrer Legitimität zu und den notwendigen Bedingungen, um die demokratische Regierungsform aufrechtzuerhalten. Die Frage der Legitimität stellte sich für die Gründer nicht, da sie von vornherein eine Präferenz für die Nicht-Tyrannei teilten, an der Erstellung der Grundregeln für die Selbstregierung beteiligt waren und damit ihr Einverständnis gaben, sich diesen Regeln zu unterwerfen und die Kosten für ihre Durchsetzung zu tragen. Den zukünftigen Bürgern von Demopolis ist man eine Rechtfertigung schuldig. Auch von ihnen wird man erwarten, sich den Regeln zu unterwerfen und diese durchzusetzen, aber sie waren bei der Gründung nicht dabei. Sie teilen womöglich nicht die Vorliebe der Gründer für eine nicht-tyrannische Regierung. Mehr noch: Wenn die Kerndemokratie als eine realistische Regierungsform in einem Kontext, der über das antike Athen hinausgeht, überzeugend sein soll, muss ich einige jener Fragen beantworten, die die antiken wie die modernen Kritiker der Demokratie gestellt haben. Die Kapitel 4 bis 7 beschäftigen sich im Detail mit dem politischen Fundament des Gedankenexperiments Demopolis, um zu zeigen, wie eine Kerndemokratie, die zunächst keinen liberalen Überbau hat, mit Fragen unter anderem zur individuellen Motivation, zur staatsbürgerlichen Identität und zu der praktischen Einbeziehung von Fachwissen in die öffentliche Entscheidungsfindung umgehen könnte. In Kapitel 8 stelle ich eine theoretische Bandbreite moderner liberaler und nicht-liberaler Gesellschaften vor, für die der kerndemokratische
Anmerkungen
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Verfassungsrahmen in diesem Kapitel ein überzeugendes politisches Fundament ist – oder eben nicht. Anmerkungen 1
Vgl. Williams 2005: 3 zu der „ersten“ politischen Frage, in der es um „Sicherung der Ordnung, Schutz, Vertrauen und die Bedingungen der Kooperation“ geht. 2 Zum Gesamtzusammenhang der menschlichen Entwicklung seit der frühesten Vorgeschichte siehe Morris 2010; Harari 2015. Zum Übergang von Wildbeuterdemokratien zur Autokratie in komplexen Gesellschaften siehe die Übersicht bei Turchin 2015 mit der dort angeführten Literatur. 3 Siehe North, Wallis und Weingast 2009; Cox, North und Weingast 2012 wird ausführlicher in Kapitel 4.2 diskutiert. 4 Dies ist ein eher praktisches als ethisches (z. B. Christiano 2008: 232–240) Konzept der Legitimität. Zur Unterscheidung siehe Williams 2005: 5. Hier wird die Frage beantwortet, warum eine Regierung nicht ständig offene Gewalt anwenden muss, um Renten von den Untertanen zu erzielen, und nicht die Frage, warum ein Untertan als moralische Pflicht der Regierungsmacht gehorchen sollte. Siehe dazu ausführlicher Kapitel 4. 5 Gottähnliche Könige: Morris 2010. Zeitgenössische Versuche, die Autokratie zu legitimieren, haben sich auf Ideologie, Personenkult oder eine Nachahmung des äußeren Anscheins der Demokratie gestützt. Die Gründe, die Autokraten anbieten, wirken oft weniger überzeugend, wenn praktische Alternativen weithin bekannt werden. Das ist zumindest ein Grund dafür, dass die Demokratie im klassischen Griechenland wie in der Moderne an Boden gewann. 6 Wir könnten uns natürlich eine andere Verteilung vorstellen, in der viel mehr Menschen die Autokratie oder die Nicht-Autokratie unterstützen, sowie mit einer größeren bzw. kleineren Anzahl von Menschen in den längeren oder kürzeren Ausläufern; die Normalverteilung ist ein Instrument zur Vereinfachung und soll nichts über tatsächliche Präferenzverteilungen in echten Populationen aussagen. 7 Historisch mag diese Situation selten sein, aber sie ist bekannt, z. B. in Athen 508 v. Chr. oder Amerika 1776. Acemoglu und Robinson 2015 treten dafür ein, dass Demokratie (in einem etwas weiteren Sinn als hier angewendet) an die Staatsbildung anschließe und dass demokratische Übergänge eher durch einen starken Druck jener, die eine Beteiligung an der Regierung fordern, zu erklären seien als durch eine Entscheidung von Eliten. Man be-
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achte, dass eine allgemeine Übereinkunft keine Einmütigkeit voraussetzt, sich also nicht alle aus denselben Gründen heraus auf dasselbe einigen müssen. 8 Dieser dreistufige Prozess kann als eine Weiterentwicklung von Hardins (1999) zweistufigem Verfassungsprozess betrachtet werden, in dem die erste Stufe eine Übereinkunft bei allgemeinen Themen ist, die breit genug sein muss, um Koordination zu ermöglichen, und die nächste Stufe darin besteht, stärker konfliktbeladene Entscheidungen zu bestimmten Angelegenheiten zu treffen. 9 Scheidel (2017) präsentiert Daten zu den häufigen, erfolglosen Bauernaufständen im mittelalterlichen Europa, die zumindest vermuten lassen, dass eine echte Zufriedenheit mit der Herrschaft eines bestimmten Herrn historisch wohl nicht die Norm war. 10 Im Gedankenexperiment besteht eine Gleichzeitigkeit der Errichtung des Staates und der kerndemokratischen Verfassungsordnung. Das wäre unglaubwürdig, wenn wir Theoretikern der Staatenbildung folgen würden (vor allem Huntington 1996), die behaupten, die Staatenbildung müsse (mit einer autokratischen Regierung) der Demokratisierung vorausgehen. Doch die Abfolge „erst Staat, dann Demokratie“ ist empirisch wie theoretisch überzeugend hinterfragt worden. Siehe Acemoglu und Robinson 2015: 39–40 mit der dort angegebenen Literatur; Rosanvallon 2006: 34, „Das Politische meint den Prozess, durch den sich eine menschliche Gemeinschaft … konstituiert. Es ist ein stets kontroverser Prozess, in dem die expliziten oder impliziten Regeln dessen, was die Mitglieder der Gemeinschaft teilen und gemeinsam umsetzen können … ausgearbeitet werden.“ 11 Sie sind, kurz gesagt, „Menschen“, keine „Econs“ in der von Richard Thaler (2015) verwendeten und von Daniel Kahneman (2011) und anderen übernommenen Terminologie. 12 Im 21. Jahrhundert ist die Politik gewiss nicht auf die Aktivitäten von Staaten innerhalb fest umgrenzter Territorien begrenzt; siehe Runciman 2017. Doch wie Stilz (2009, 2011) und andere zeitgenössische Theoretiker zeigen, bleibt der Territorialstaat ein sehr wichtiger Gegenstand theoretischer Aufmerksamkeit und praktischer Bedeutung. Ich überlasse es zukünftigen Arbeiten, zu entscheiden, ob die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus in den Arten nicht-begrenzter Gemeinschaften, die Runciman und andere Theoretiker des Globalismus sich vorstellen, relevant ist oder nicht. 13 Mit Bezug auf Platons Staat (2.372d) dürfen wir vielleicht behaupten, der fertige Staat werde nicht mehr auf die Subsistenzbedingungen beschränkt sein, weil die Bürger Glaukons Präferenzordnung in Bezug auf die Grund-
Anmerkungen
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bedingungen des Lebens teilen. Glaukon lehnt Sokrates’ einfache und gesunde „erste Polis“ als eine nur für Schweine geeignete Stadt ab, weil er weiter oberhalb der Subsistenzgrenze leben will. 14 Nicht-Neutralität ermöglicht ein Regime, das jeweils bestimmte umfassende Konzeptionen bevorzugt: So können etwa beispielhafte Bürger (weil sie politische Teilhabe schätzen) für ihren Dienst, aus dem sie Nutzen ziehen, belohnt werden. Zur staatsbürgerlichen Erziehung siehe unten 4.4, 5.5. 15 Williams 2005: 8 und passim. Aus dieser Einsicht heraus verspüren die Mitglieder der Gruppe womöglich keine ethische Verpflichtung, die Demokratie jenseits der eigenen Grenzen zu fördern. 16 Es könnte den Anschein haben, als würden diejenigen, die bereit sind, einen hohen Aufwand zu tragen, von denen ausgenutzt, die nur einen minimalen Aufwand tragen wollen. Doch Erstere schätzen vielleicht auch die Teilhabe an sich oder als Instrument. Projekte von sozialem Wert können autonom gewählt werden, es kann aber auch anders kommen: Das Projekt eines Individuums könnte darin bestehen, die Mitbürger zu bekehren, mit dem Ziel, eine einheitliche Gemeinschaft mit gemeinsamem Glauben und gemeinsamer religiöser Praxis zu schaffen, sodass jedes Individuum dieselben Projekte im schwarzen Feld wählen würde. 17 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Berlins Konzept der Freiheit als Nichteinmischung siehe Pettit 2013. Zur Frage, ob die Entscheidungen, die unsere fiktiven Gründer getroffen haben, ein Fundament für ein nichtliberales Wertesystem bilden könnten, siehe Kapitel 8. 18 Die Frage, wer die Grundregeln verfasst, wird hier nicht behandelt. Es könnte ein Einzelner sein (z. B. Solon) oder eine kleine Gruppe (z. B. die amerikanischen Gründerväter); die Grundregeln müssen aber von den Gründern kollektiv aufgestellt worden sein, in dem Sinne, dass sie als Kollektiv Eigentümerschaft, Urheberschaft und Verantwortung für sie anerkennen. Die Ratifizierung der Grundregeln muss einem kollektiven Handeln der Bürgerschaft gleichen. 19 Ich versuche nicht, das philosophische, von Hobbes am Anfang des Leviathan so pointiert aufgeworfene Problem zu lösen, nämlich ob und wie die Rationalität oder die Vernunftgründe eines kollektiven Akteurs als die einer fiktiven Person verstanden werden müssen; dazu siehe die hilfreiche Diskussion von Stone 2015 und unten, 4.3. Für meine Absichten genügt es, die betreffenden Menschen gemeinsam zu bindenden Entscheidungen kommen lassen zu können, die sie dazu befähigen, die drei oben besprochenen vorrangigen Staatszwecke zu erreichen und aufrechtzuerhalten. 20 Ich versuche nicht, genauer zu beschreiben, wie die Einigung auf die drei Zwecke erreicht oder festgelegt wurde, mit der Ausnahme meiner Behaup-
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tung, die ersten beiden Zwecke (Sicherheit, Wohlstand) seien den meisten Formen sozialer Ordnung gemeinsam, sowie der Feststellung, dass der dritte (Nicht-Tyrannei) die Voraussetzung für dieses Gedankenexperiment ist. Das Problem der ursprünglichen Übereinkunft, die einen Regelbildungsprozess erst möglich macht, ist der demokratischen Theorie inhärent, wie Meckstroth 2015: 18–23 feststellt, der dies unter der Rubrik „das Paradox der Ermächtigung“ behandelt. Man beachte, dass diese vorausgehende Übereinkunft die Grundmenge möglicher Entscheidungen einschränkt und damit, indem sie die Annahme des „universalen Definitionsbereiches“ aus dem Unmöglichkeits resulltat der Urteilsaggregation schwächt, kollektive Urteile potenziell stabil macht: List und Pettit 2011, mit Besprechung in Ober 2013. 21 Die Frage: „Wer ist ein ermächtigter Bürger?“ wird in demokratischen Theorien manchmal als das „Grenzproblem“ bezeichnet: Whelan 1983. Weil unserer Festlegung zufolge die Gründer von Demopolis Lokalisten nach Williams sind, beschränke ich den Pool der möglichen Bürger auf die im Territorium Ansässigen, obwohl manche Politiktheoretiker eine solche Begrenzung als willkürlich und moralisch nicht haltbar betrachten. Eine Diskussion der Frage, warum die Grenze immer enger sein sollte als „alle, deren Interessen tangiert sind“, findet sich bei Goodin 2007. 22 Aristoteles, Politik 3.1275b5. Die „vorkonstitutionelle“ Entstehung eines Demos ist historisch z. B. in der Athenischen und der Amerikanischen Revolution belegt. Was man sich kulturell in Bezug auf die Bürgerrechte vorstellen kann, ist veränderlich und hat sich im Laufe der Zeit dramatisch verändert – ein Grund dafür, dass die fundamentalen Regeln einer Demokratie für eine Überarbeitung offen bleiben müssen. Die „kulturell vorgestellte“ Notwendigkeit der Inklusivität in der Demokratie zeigt, warum zum Beispiel das antike Sparta keine Demokratie war, obwohl es eine auf die Bürger ausgerichtete Gesellschaftsordnung besaß: Die Spartaner akzeptierten einen permanenten internen Kriegszustand als Kosten für den Ausschluss der „kulturell (im weiteren griechischen Kontext) als Bürger vorgestellten“ Heloten von der Teilhabe als Staatsbürger. 23 „Kulturell vorgestellt“ ist weniger inklusiv als „vorstellbar“. So stellt sich zum Beispiel Aristophanes in seiner Komödie Die Weibervolksversammlung ein „komisches“ Athen vor, wo die Frauen die Männer als politisch ermächtigte Bürger ersetzt haben (siehe Ober 1998a: Kap. 2). Es gibt aber keinen Grund zur Annahme, die Athener hätten sich außerhalb der Welt der Komödie jemals Frauen als Bürger mit vollen politischen Teilhaberechten vorgestellt (wohl aber als Bürger im Sinne von vollwertigen Mitgliedern der Gemeinschaft: siehe Patterson 2005).
Anmerkungen 24
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Zur Rolle der Auseinandersetzung bei der Konstituierung und nachfolgenden Umstrukturierung einer demokratischen Bürgerschaft siehe Frank 2010; Beaumont 2014; mit der Besprechung von Müller 2016. Der Ausnahmefall und Feinde der Bürgerschaft: Schmitt 1932b. staatsbürgerliche Freundschaft: Allen 2004. Gefahr der Umkehr der Sperrklinke: Hardin 1999: 310. Liberales Argument gegen den Entzug des Stimmrechts: Christiano 2008: 264–270. Wer einem Einzelnen, der als überaus gefährlich gilt, oder verurteilten Verbrechern das Stimmrecht entziehen darf, ist eine andere Frage. Ich greife das Problem des Ostrakismos, einen besonders klaren Fall, bei dem ein Bürger einiger Bürgerrechte beraubt wird, unten in Kapitel 8.3 auf. 25 Im Jahr 2015 durften Frauen in Saudi-Arabien erstmals wählen und sich als Kandidatinnen für einen Sitz im nominell regierenden Rat (2100 Sitze, von denen 1050 vom König ernannt werden) aufstellen lassen. Selbst in einer höchst religiösen Gesellschaft, in der Frauen nicht einmal Auto fahren dürfen, geht also das vorherrschende kulturelle Verständnis jetzt dahin, den Frauen grundlegende politische Teilhaberechte nicht länger verweigern zu können – allerdings haben diese Rechte bisher wenig praktischen Wert in Anbetracht der beschränkten gesellschaftlichen Möglichkeiten der Frauen und der allgemeinen Einschränkungen der politischen Freiheit. 26 Meckstroth 2015 ist ausdrücklich eine liberaldemokratische Theorie, deren erstes Prinzip der inhärente Wert gleicher Freiheit ist (S. 11) und in der es besonders um die Bedingungen geht, die für einen dynamischen Wandel innerhalb einer Verfassungsordnung nötig sind. 27 Das öffentliche Gut könnte zu einem ausschließenden „Klubgut“ übergehen, wenn wir uns eine große Anzahl von Einwanderern vorstellen, denen die Chance, sich für das Bürgerrecht zu bewerben, verweigert wird (z. B. langfristige „Gastarbeiter“); auch hier würde wieder der Sicherheitsaspekt gegen ihren Ausschluss sprechen. Zu beachten bleibt jedoch, dass eine Eignung nicht automatisch zur Zulassung zum Bürgerrecht führen wird; siehe unten 4.4 zu staatsbürgerlicher Erziehung und bestätigender Zustimmung. 28 Öffentliche Güter und wie die Tragik der Allmende überwunden werden kann: Ostrom 1990, Poteete, Janssen und Ostrom 2011. Tuck 2008 geht davon aus, dass Trittbrettfahrerei ein rein modernes Thema sei; siehe dagegen Ober 2009; Teegarden 2014. 29 Mills Anliegen einer fairen und effizienten Ungleichheit des politischen Einflusses bei Angelegenheiten von allgemeinem Interesse ist wichtig. Wie ich jedoch in Kapitel 7.5 darlege, sollte eine Ungleichheit des Einflusses auf Fachwissen zum jeweiligen Thema beruhen und kann ohne das Hilfsmittel ungleicher Stimmen umgesetzt werden. Zu den inneren Widersprüchen in Mills Vorschlag im Licht seines Einsatzes für staatsbürgerliche Erziehung
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und effektive Regierung siehe Thompson 1976. Ich danke Prithvi Datta für diesen Hinweis. 30 Zu Münzwurf-Entscheidungen als eine alternative (wenn auch nicht erstrebenswerte) Form politischer Beschlussfassung siehe Estlund 2008. 31 Zum Gesetz als einer Form der staatsbürgerlichen Erziehung in der klassischen griechischen Tradition siehe Platon, Gesetze; Teegarden 2014 zu den Tyrannenmordgesetzen in der klassischen griechischen Welt; Ober 2001 (= Ober 2005 Kap. 6). Vgl. Machiavelli, Discorsi 1.18. 32 Ein Beispiel für diese Situation ist die Geschichte Athens nach den Rechtsreformen des späten 5. Jahrhunderts v. Chr.: Carugati 2015. 33 Dies setzt voraus, dass es kein anderes Land gibt, das sie aufnehmen wird; siehe unten. Shapiro 2016: 65–66 betont die hohen Austrittskosten. 34 Man beachte, dass es bei der Frage, die auf der Ebene der Grundregeln gelöst werden muss, um die Zulassung neuer teilhabender Bürger geht, und nicht um Einwanderer ohne Bürgerrecht; zum Unterschied siehe Song in Vorbereitung. Die Frage allgemeiner Einwanderungspolitik zählt zu den vielen Dingen, die einer späteren Gesetzgebung vorbehalten sind. Einwanderer, die nicht bereit oder nicht in der Lage sind, sich an der Politik zu beteiligen, werden keine Bürger sein; ihre reduzierten Teilhabekosten können durch geringere Vorteile und/oder besondere Steuern ausgeglichen werden. Die allgemeine Einwanderungspolitik und das Bürgerrecht werden allerdings miteinander verwoben sein, wenn die Legitimität des Staates teilweise auf Ansprüchen des menschlichen Wohlergehens beruht, die dahingehen, dass man den meisten langfristig Ansässigen die Möglichkeit gibt, Bürger zu werden: Kapitel 5.5 zum „Generationenproblem“ und dem allgemeinen Problem der Unbestimmtheit des „Volkes“ im Laufe der Zeit siehe Espejo 2011: bes. Kap. 7. 35 Idealbedingungen, die den wesentlichen Inhalt der Regeln definieren, denen ein rationales Individuum hypothetisch zustimmen würde, liegen dem Gedankenexperiment von Rawls 1971 zugrunde. Er versuchte, mit dem „Schleier des Unwissens“ frühere Ideen der stillschweigenden Zustimmung, die auf fortdauernder Anwesenheit und dem Konsum von öffentlichen Gütern innerhalb eines Rechtssystems beruhten, zu verbessern. Hardin 1999: Kap. 4, lehnt jede Zustimmungstheorie („eine Scharade“ einer „Geheimgruppe von Metaphysikern“: 180) zugunsten der „Duldung“ ab: Man tut sich nicht mit anderen zusammen, um eine Meuterei gegen die Regierung anzuzetteln. Hardin beschreibt die aktive Zustimmung als „eine tote politische Theorie“ (143). Er beschäftigt sich nicht mit der Art bestätigenden Zustimmung, die die Basis der Kerndemokratie bildet, aber es kann gut sein, dass er diese ebenso ablehnen würde wie allgemein jede demokratische Teilhabe
Anmerkungen
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(166–169). Ein Problem ist hier, dass „Zustimmung“ als die Bereitschaft, der Empfänger der Aktivität eines anderen zu sein (sei es nun tatsächlich, stillschweigend oder hypothetisch), das ist, was ein Untertan einem Herrscher entgegenbringt (oder ein Patient einem Arzt, ein Teilnehmer eines Experiments demjenigen, der das Experiment durchführt); sie passt damit schlecht zu den Gründen, aus denen heraus ein Bürger zustimmt, sich dem kollektiven Projekt der Selbstregierung anzuschließen. Siehe dazu genauer Kapitel 4.4. 36 Zum Inhalt der staatsbürgerlichen Erziehung in Demopolis siehe die Kapitel 4–6. Zu Demokratie und Überzeugung siehe Garsten 2009, 2011; Ober 1989, 2014.
Kapitel 4
Legitimierung und staatsbürgerliche Erziehung In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde die bereits vor dem Aufkommen des Liberalismus existierende Urform der Demokratie in ihrem theoretischen und historischen Kontext als gemeinsame und beschränkte Selbstregierung einer gesellschaftlich breit gefächerten Bürgerschaft beschrieben. Die politische Geschichte des alten Athens hat gezeigt, dass eine kerndemokratische Regierungsform auch für Gesellschaften geeignet ist, die weit komplexer sind als jene Jäger- und Sammler-Gemeinschaften, in denen das Prinzip der partizipativen Selbstregierung zuerst praktiziert wurde. In einem Gedankenexperiment wurden sodann von einer hypothetischen Personengruppe die Rahmenbedingungen für einen Staat festgelegt, der sowohl dazu in der Lage ist, seine Bewohner vor der Tyrannei zu bewahren, als auch für Sicherheit und Wohlstand zu sorgen. Die Verfassungsregeln der imaginären Bürger von Demopolis entsprechen dabei weitgehend der historischen Konzeption und Demokratiepraxis des „gereiften klassischen Griechentums“. Allerdings ist Demopolis nicht den spezifischen historischen Umständen der antiken griechischen Kultur und Gesellschaft verpflichtet. In diesem Kapitel wenden wir uns nun der Legitimierung der Demokratie zu. Dabei geht es um die Frage, wie man den Staat und seine Regeln vor denjenigen rechtfertigen kann, die bei seiner Gründung nicht anwesend waren, dennoch dazu gezwungen sind, sich seiner Hoheitsgewalt unterzuordnen, indem sie den Zeitaufwand und die Steuern akzeptieren, die zur Erhaltung des Regierungssystems notwendig sind. Um die Legitimität von Demokratie nachzuweisen und sie vor künftigen Bürgern zu rechtfertigen, die der Tyrannei womöglich weniger ablehnend gegenüberstehen als die
Materielle und demokratische Güter
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Staatsgründer, muss man sie gegen den Vorwurf verteidigen, gemeinsame Selbstregierung könne nicht effektiv für die Wahrung von Wohlstand und Sicherheit sorgen und zugleich in ihrer Macht beschränkt sein. Meine Apologie (im antiken Sinne) wird jedoch aufzeigen, dass materielle und nicht-materielle, von der Demokratie bereitgestellte Güter einander in Theorie und Praxis ergänzen. Die Beweisführung hierfür fußt auf den Inhalten einer lebenslangen, formalen wie informalen staatsbürgerlichen Erziehung, die potenziellen Bürgern von Demopolis nach der kerndemokratischen Gründung zuteilwird. Sie dient dazu, die Funktionsweise von Demokratie zu erklären, und zeigt auf, wie eng und produktiv die Methoden und Ergebnisse von positiver bzw. normativer politischer Theorie und Geschichtsforschung miteinander verwoben sind.
4.1. Materielle und demokratische Güter Um sich als vernünftige und wohltuende Alternative gegenüber nicht-demokratischen Formen der sozialen Ordnung wie dem Hobbes’schen Absolutismus zu legitimieren, muss eine direkte Demokratie dazu in der Lage sein, ihre Bürger zuverlässig mit wichtigen Gütern zu versorgen. Zuallererst muss sie das Leben und die Gesundheit der Individuen gegen innere und äußere Bedrohungen schützen. Weiterhin muss sie, um eine echte Alternative zu sein, neben diesen materiellen auch für ein angemessenes Angebot an „demokratischen Gütern“ sorgen. Dabei handelt es sich um nicht-materielle, jedoch hochgeschätzte Güter, die den Bürgern durch das Praktizieren von Demokratie entstehen. 1 Das ist umso wichtiger, weil nicht mit letzter Sicherheit nachgewiesen werden kann, dass die effektivste Demokratie tatsächlich Lebensbedingungen schaffen kann, die besser sind als das effektivste autokratische System. Ein demokratisches System verlangt den Bürgern notwendigerweise einen gewissen Aufwand in Form von Verantwortung und Teilhabe ab. Dieser Aufwand darf, worauf ich in Kapitel 3 hingewiesen
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4 · Legitimierung und staatsbürgerliche Erziehung
habe, nicht so hoch sein, dass er das Streben nach Gütern von sozialem Wert verhindert (das schwarze Feld in Abb. 3.2.). Wenn man sich jedoch vor Augen hält, dass Zeit und Energie begrenzte Ressourcen sind und die Ansprüche an sie letztlich eine Nullsumme bilden, dann handelt es sich bei den Teilhabekosten von demokratischen Bürgern um „Gelegenheitskosten“. Sie verbrauchen Zeit und Energie, die ansonsten dem Streben nach anderen Gütern gewidmet worden wären. 2 Zwar wird eine Autokratie den Untertanen ebenso Steuern und eine Gehorsamspflicht auferlegen wie eine direkte Demokratie, aber die Teilhabekosten sind jeweils ganz unterschiedlich. 3 Eine wohlmeinende Autokratie wird ihren Untertanen (zumindest im Augenblick und in der vorhersehbaren Zukunft) weniger öffentliche Verpflichtungen abverlangen, als es eine Demokratie bei ihren Bürgern tut. Ein Umstand, der den Angehörigen einer Autokratie einen etwas größeren Spielraum für eigene Vorhaben ermöglicht. Wenn die materiellen Voraussetzungen vergleichbar, der Aufwand für die Demokratie jedoch höher ist, braucht ein rational denkender künftiger Bürger von Demopolis gute Gründe, um die Selbstregierung der Autokratie vorzuziehen. Einige Bürger werden (aus welchen Gründen auch immer) das Verdikt der Gründer über die relative Bösartigkeit von Autokratien vermutlich teilen. Vielleicht brauchen sie gar keine Rechtfertigung außer der in Kapitel 3 gelieferten. Sie werden die Regeln befolgen und den Aufwand klaglos erdulden. Andere potenzielle Bürger hingegen stimmen der negativen Meinung über die Tyrannei womöglich nicht zu und werden zu Recht fragen, ob sich der Aufwand einer Selbstregierung überhaupt lohnt. Wegen des damit verbundenen Mehraufwands werden unterschiedliche Individuen den Wert der erzeugten bzw. bereitgestellten Güter ganz unterschiedlich beurteilen. Angenommen ich verwende auf meine langweilige Arbeit als Hersteller von irgendetwas ebenso viel Zeit und Energie wie auf meinen aufregenden Zeitvertreib als Maler. Ich schätze die Malerei höher ein als mein Handwerk, verbringe jedoch viel Zeit damit, Dinge anzufertigen, weil ich ansonsten hungern müsste und mir die Ressourcen fürs Malen fehlten. Wäre
Materielle und demokratische Güter
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mein Lebensunterhalt hingegen gesichert, würde ich die Arbeit aufgeben und mich ganz und gar der Malerei widmen. Wenn „politische Teilhabe“ nun die langweilige Arbeit ist und „Güter von sozialem Wert“ der Zeitvertreib, werde ich – unter der Voraussetzung, dass mein Lebensunterhalt gesichert ist – die Autokratie der Demokratie vorziehen. Wenn ich die Teilhabe jedoch als Selbstzweck betrachte oder die Teilhabekosten mir Güter verfügbar machen, deren Wert jenen der Gelegenheitskosten übersteigt, dann werde ich die Demokratie über die Autokratie stellen. Diese Situation ist in Abbildung 4.1. wiedergegeben. Abb. 4.1.: Demokratischer Bürger oder Untertan eines wohlmeinenden Autokraten A. Demokratischer Bürger
B. Untertan eines wohlmeinenden Autokraten
Für Güter von sozialem Wert aufgewendete Zeit
Für Güter von sozialem Wert aufgewendete Zeit
Für Mitwirkungspflichten aufgewendete Zeit
Mit der Sicherung von Subsistenz-Gütern verbrachte Zeit
Mit der Sicherung von Subsistenz-Gütern verbrachte Zeit
Damit ein vernünftiges Individuum sich für A anstelle von B entscheidet, muss der Gesamtwert des grauen und schwarzen Feldes in A größer sein als der Wert des schwarzen Feldes in B. Wir gehen davon aus, dass der Wert des weißen Feldes in A und B derselbe ist.
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4 · Legitimierung und staatsbürgerliche Erziehung
Wenn beide Systeme gleichermaßen Sicherheit und Wohlstand garantieren, der Aufwand für die Demokratie jedoch deutlich höher ist, werden diejenigen, die nicht befürchten, der Autokrat könne eines Tages vielleicht weniger wohlwollend sein, die Demokratie nur unter den folgenden Umständen einer Autokratie vorziehen: 1.) Sie stellt zuverlässig Güter bereit, die unter einer Autokratie nur schwer oder gar nicht verfügbar sind – ganz gleich, wie wohlmeinend diese auch ist. 2.) Die „demokratischen Güter“ stehen nur denjenigen zur Verfügung, die auch dazu bereit sind, die notwendigen Teilhabekosten zu akzeptieren. 3.) Der Wert der demokratischen Güter übertrifft den der Gelegenheitskosten, die durch die Mitwirkung an öffentlichen Aufgaben entstehen. In Bezug auf Abbildung 4.1 gilt: Damit ein rationales Individuum sich für Option A (Bürger einer Demokratie) und nicht für Option B (Untertan eines wohlmeinenden Autokraten) entscheidet, muss der sich aus dem grauen (Beteiligungsaufwand) und schwarzen Feld (für Vorhaben von sozialem Wert aufgewendete Zeit) in Option A ergebende Gesamtwert höher sein als der Wert des schwarzen Felds in Option B. Dieses und auch das nächste Kapitel sollen zum einen zeigen, dass eine Kerndemokratie ein auch im Vergleich mit einer Autokratie hohes Sicherheits- und Wohlstandsniveau erreichen kann. Und zum anderen, dass der Wert der durch politische Teilhabe erzeugten Güter die Gelegenheitskosten übersteigt – zumindest für Leute, die eine klare Vorstellung von ihren eigenen Interessen haben. Einige der durch Teilhabe entstehenden Güter können ausschließlich von den Erzeugern selbst konsumiert werden, denn nur, indem sich das Individuum aktiv um ihre Erschaffung bemüht, werden sie für es verfügbar. In diesem und im nächsten Kapitel wird das Augenmerk auf teilhabespezifische materielle und demokratische Güter gerichtet. Wie wir in Kapitel 3.3 gesehen haben, handelt es sich bei einigen demokratischen Gütern um nicht-rivalisierende und nicht-ausschließbare öffentliche Güter. Kapitel 6 und 7 sollen schließlich zeigen, dass eine Kerndemokratie durchaus Mechanismen entwickeln kann, um zwei
Staaten mit beschränktem Zugang
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spezifischen Bedrohungen zu begegnen. So kann öffentliches Gut wegen seiner Assoziierung mit politischer Freiheit, politischer Gleichheit und Bürgerwürde leicht von solchen verunreinigt und missbraucht werden, die nicht dazu bereit sind, die Teilhabekosten zu tragen. Die zweite Gefahr geht von einer koordinierten politischen Elite aus, der die Autorität zwar vom Demos übertragen wurde, die sich in Wahrheit jedoch nur ihren eigenen Interessen verpflichtet fühlt. Wenn eine Demokratie keine geeigneten Mittel zur Hand hat, um kollektiv gegen Trittbrettfahrer und die Tragik der Allmende vorzugehen oder um einmal delegierte Autorität zu widerrufen, sobald deren Repräsentanten ihren Verpflichtungen gegenüber der Öffentlichkeit nicht mehr nachkommen, wird sie in einer wettbewerbsorientierten und sich ständig wandelnden Welt nicht lange überleben.
4.2. Staaten mit beschränktem Zugang Ein verbreitetes Standardmodell für nicht-demokratische, durch das Aufkommen der Landwirtschaft ermöglichte soziale Ordnungen wurde jüngst als „Ordnung mit beschränktem Zugang“ charakterisiert. 4 In einer solchen Ordnung liegt die Macht in den Händen von verhältnismäßig wenigen. Und sobald das Subsistenzniveau einmal überschritten ist, beginnen die Machthaber damit, sich einen Großteil der Überschüsse aus dem Kapital und der Arbeit anderer Mitglieder der Gesellschaft als politische Renten anzueignen. Diese nach dem Prinzip des Rent-Seeking agierenden Machthaber sind naturgemäß stark am Erhalt der bestehenden sozialen Ordnung interessiert und daher gezwungen, jede Form der unautorisierten Gewaltanwendung im Inneren zu unterbinden. Um ihre Gesellschaft zugleich vor äußeren Bedrohungen zu schützen, erschaffen sie eine Militärmacht. Der Staat mit beschränktem Zugang ist überhaupt durch ein sehr rationales Verhalten seiner Machthaber gekennzeichnet. In ihrem Bestreben, ihr Monopol auf die politischen Renten zu sichern, verweigern sie potenziellen Rivalen den Zugang zu staatlichen Institutionen
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4 · Legitimierung und staatsbürgerliche Erziehung
und hindern sie überdies an der Bildung neuer Organisationen, aus denen alternative Institutionen erwachsen könnten. 5 Der voll entwickelte Staat mit beschränktem Zugang kann nach den Begriffen der positiven politischen Theorie als gefestigt gelten, weil er Güter nach dem „Proporzprinzip“ verteilt, also an Individuen und Gruppen in direktem Verhältnis zu ihrer Fähigkeit, die soziale Ordnung durch Anwendung von Gewalt zu bedrohen (Cox, North und Weingast 2012). Auf diese Weise wird potenziellen Störern der Anreiz genommen und jenen, deren Absicht es ist, die soziale Ordnung zu verändern, die Möglichkeit, ihre Pläne in die Tat umzusetzen. Im Vergleich mit frei zugänglichen Systemen ist der Staat mit beschränktem Zugang in der Regel jedoch deutlich unproduktiver, weil er schlicht keinen Anreiz für Investitionen in Humankapital und solche Institutionen bietet, die fairen Wettbewerb garantieren sollen. Zudem wird ein nach dem Rent-Seeking-Prinzip agierender Herrscher einen großen Anteil an einem kleinen monopolistischen System gegenüber einem kleineren und weniger sicheren Anteil am großen Kuchen eines offenen Marktes bevorzugen. Wenn eine Kerndemokratie verglichen mit einem beschränkt zugänglichen Staat weniger dazu imstande ist, ein stabiles soziales Gleichgewicht zu erzeugen, das für innere und äußere Sicherheit vor gewalttätigen Übergriffen und ein zumindest minimales Wohlstandsniveau sorgen kann (gemeint ist ein oberhalb der Subsistenz liegender Pro-Kopf-Konsum: s. das weiße Feld in Abb. 3.2.), dann spielt es womöglich keine Rolle, welche anderen nützlichen, nicht-materiellen Vorzüge die Demokratie bietet. Sobald sie ihren Bürgern im Notfall keine materielle Unterstützung zukommen lassen kann, riskieren diese, unter das Existenzniveau zu fallen. Und wenn ihr Überleben nicht mehr gewährleistet ist, werden die meisten Menschen andere Werte als wichtiger erachten. Vor allem der Umstand, dass eine Demokratie ihre Bürger deutlich schlechter vor innerstaatlicher Gewalt und äußeren Feinden schützen kann als ein Staat mit beschränktem Zugang, ist jedoch ein Manko, das all ihre sonstigen Vorteile nicht auszugleichen vermögen. Wie wir gesehen haben, waren die Grün-
Hobbes’ Herausforderung
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der-Bürger von Demopolis nicht dazu bereit, ihren Wohlstand oder ihre Sicherheit dem Schutz vor der Tyrannei zu opfern. Sie setzten einfach voraus, dass alle drei Grundbedingungen unter den von ihnen festgelegten demokratischen Verfassungsregeln gleichzeitig umsetzbar sind. Doch stimmte ihre Prämisse? Wenn wir uns mit den nicht-materiellen Gütern befassen, die eine Demokratie ihren Bürgern vor dem Aufkommen des Liberalismus bieten konnte, dürfen wir die bereits mehrfach angesprochene Schlüsselfrage nicht aus den Augen verlieren: Kann Kerndemokratie, ein System, für das ein beschränktes kollektives Mitregieren der Bürger charakteristisch ist, zuverlässig für die Sicherheit seiner Bürger und ein adäquates Wohlstandsniveau sorgen? Beantworten lässt sich diese Frage nur mit einem besonders schlagkräftigen Einwand gegen die Auffassung, dass beschränkte bürgerliche Selbstregierung weder für Sicherheit noch für Wohlstand sorgen könne.
4.3. Hobbes’ Herausforderung Im Leviathan beantwortet Hobbes die Frage mit einem ausdrücklichen „Nein“. Seine Begründung basiert auf der Annahme, dass Menschen von Natur aus sowohl rationale als auch emotionale Wesen sind. 6 Sie sind eigennützig (Nutzenmaximierer), hochmütig (sie streben nach Ehren, die ihre selbsternannte Überlegenheit bezeugen) und infolgedessen gefährlich füreinander. Eine Gefahr, welche der ursprünglichen Gleichheit der Menschen in ihrem herrenlosen „Naturzustand“ entspringt. Jeder von uns hat einen angeborenen Anspruch auf alles, ist überzeugt, ein Recht darauf zu haben und ist dazu bereit, jeden zu töten, um es auch zu bekommen. Die Verfügbarkeit von Waffen und die Möglichkeit der kurzfristigen Bandenbildung vorausgesetzt, ist selbst das stärkste Individuum empfänglich für das in jedem Mitglied der Gesellschaft latente Gewaltpotenzial. Angetrieben von Eigeninteresse und emotionaler Selbstüberhöhung, so schließt Hobbes, wird sich das mörderische Potenzial
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der menschlichen Rasse verwirklichen, und so leben alle in der Angst vor einem gewaltsamen Tod – es sei denn, zwei Bedingungen sind erfüllt. Erstens: Jeder von uns schätzt das Leben höher als die Ehre. Und zweitens: Jeder von uns hat Todesangst vor einer dritten Partei, die das Töten verbietet. Aus diesen Hobbes’schen Prämissen folgt, dass Menschen ohne sinnvolle Vorschriften sowie ausreichend mächtige und angemessen motivierte Vollstrecker einer dritten Partei nicht dazu in der Lage sind, in verlässlicher Weise gegenseitige Verpflichtungen einzugehen. Ohne diese Fähigkeit können Menschen jedoch keinen Nutzen aus der Kooperation miteinander ziehen und verbleiben daher in einem gefahrvollen und ärmlichen Zustand. Das Gleichgewicht dieses Naturzustands verhindert folglich sowohl Sicherheit als auch Wohlstand. Hobbes kommt zu dem Schluss, dass Menschen ohne diese dritte Partei, den Leviathan, einen absoluten, durch die Vereinbarung zwar eigennütziger, aber auch ängstlicher und vernünftiger Individuen eingesetzten Herrscher und Vollstrecker, dem Naturzustand nicht entfliehen können. Es ist ein Vertrag, bei dem sie ihre natürliche Freiheit gegen die durch einen Souverän garantierte Sicherheit eintauschen. Andernfalls sei das menschliche Leben dazu verdammt, „arm, einsam, schmutzig, brutal und kurz“ zu sein. Ausgehend von dem, was wir heute positive politische Theorie nennen, behauptet Hobbes ferner, dass es schlicht keine Alternative zur Unterwerfung unter einen Souverän gäbe – zumindest nicht für jene, die unbedingt gut und sicher leben wollen, also jenseits des gewalttätigen Kampfes aller gegen alle, der für den Naturzustand so charakteristisch ist. Gemeint ist ein absoluter Herrscher, der unabhängig von Gesetzen agieren kann und dessen Handlungsspielraum nicht durch so etwas wie Gewaltenteilung eingeschränkt wird. Er muss außerhalb aller formalen Zwänge verbleiben, denn nur ein unabhängiger Souverän kann als zuverlässige dritte Partei und als Vollstrecker seinen Aufgaben nachkommen. Zivilisation ist nur möglich, wenn Individuen die Fähigkeit besitzen, verlässliche Verpflichtungen miteinander ein-
Hobbes’ Herausforderung
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zugehen (etwa in Form von Verträgen). Mit anderen Worten, es braucht Absolutismus, um den Naturzustand hinter sich zu lassen. 7 Diese Sichtweise hat schwerwiegende Konsequenzen für das, was Menschen vernünftigerweise von einer sozialen Ordnung erwarten dürfen. Wenn Hobbes recht hat, dann wird der Souverän ein System etablieren, in dem die Untertanen voreinander geschützt sind, da er jegliche Form unautorisierter Gewaltanwendung im Inneren unterdrückt. Ferner ist davon auszugehen, dass der Souverän Kräfte mobilisiert, um äußeren Bedrohungen seiner Autorität zu begegnen. Außerdem können die Untertanen damit rechnen, dass die Verhinderung endemischer Gewalt zu einer stärkeren sozialen Kooperation und damit zu einem Wohlfahrtsniveau führen wird, das die prekären Bedingungen des Naturzustands übertrifft. Abgesehen von der Garantie für Leib und Leben und einer geringfügigen Verbesserung der materiellen Existenzbedingungen durch die Forcierung sozialer Kooperation gibt Hobbes seinen Lesern jedoch wenig Anlass zu glauben, dass unser Leben besonders gut wäre. Wir können keineswegs sicher sein, unter der Herrschaft Leviathans mehr zu besitzen als das, was wir unbedingt zum Überleben brauchen, denn der Souverän kann sich jederzeit dazu entschließen, die Überschüsse abzuschöpfen. Und auch wenn er dafür sorgt, dass wir verstärkt untereinander Verträge schließen, so gibt es doch keinen Vertrag zwischen dem Souverän und uns. Solange er damit nicht mein Leben bedroht, kann der Souverän meinen Besitz konfiszieren (Leviathan 29.169–170) und mich willentlich erniedrigen (Leviathan 10.43). Tatsächlich kann der Herrscher alles von mir verlangen – mit Ausnahme meines Lebens, dessen Erhalt der ursprüngliche Grund dafür war, dass ich die Übereinkunft eingegangen bin. Wenn der Souverän unser Leben bedroht, ist die Übereinkunft beendet und wir kehren in den Naturzustand zurück. Da alle vernünftigen Menschen eine Aversion gegen den Naturzustand haben, wird es ein kluger Souverän jedoch vermeiden, das Leben seiner Untertanen zu bedrohen. Zusätzlich zum Erhalt ihres Lebens können diese allerdings auf die Güte des absoluten Herr-
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schers nur hoffen sowie darauf, dass er ihr Eigentum und ihre Würde respektiert. Ebenso können die Ehrgeizigen nur hoffen, für ihre Verdienste auch angemessen entlohnt zu werden. Eine Garantie für die Fairness und das Wohlwollen des Souveräns besteht nicht. Der Machthaber könnte wie Hadrian ein guter, will sagen altruistischer und weit blickender Herrscher sein, der berechtigte Gründe für seine Demütigungen oder Enteignungen hat, auch wenn seine Maßnahmen Untertanen in Armut stürzen oder sogar seinem eigenen Geldbeutel schaden. Das ist es zumindest, was Hobbes hofft (Leviathan 30.175). Andererseits könnte der Souverän ebenso gut ein (nichtmörderischer) Caligula oder ein Agamemnon wie aus den beiden ersten Büchern der Ilias sein – ein kurzsichtig agierender Herrscher, der sich nimmt, was er will, und Gefallen daran findet, seine Untertanen zu erniedrigen (Leviathan 18.94). Kurz gesagt behauptet Hobbes, dass die Einsetzung des Leviathan die einzige Möglichkeit für uns darstellt, der ständigen Furcht vor einem baldigen Tod zu entrinnen, der unser Schicksal ist, wenn wir uns nicht einer absolutistischen Regierung unterwerfen. Aber auch dann werden wir keine sicheren Eigentumsrechte haben und das Subsistenzniveau kaum überschreiten. Das „Schweigen des Gesetzes“ bietet uns eine gewisse Freiheit, aber nur insofern, als dass wir nicht körperlich am Handeln gehindert werden, solange das Gesetz es nicht verbietet. Wir können nicht erwarten, in Würde zu leben, es sei denn, es gefällt dem Souverän. In Form seiner Vertreter stellt der absolute Herrscher die einzige Quelle des Rechts dar, auf dessen Vollstreckung er das Monopol besitzt. Er allein legt die juristischen Standards für die Verteilung der Früchte sozialer Zusammenarbeit fest. Auch wenn Hobbes’ idealer Herrscher die Großen und Reichen unter seinen Untertanen nicht übermäßig bevorzugt (Leviathan 30.180), gibt es keine Garantie dafür, dass fortwährend faire Standards gelten. 8 Wenn wir die positive politische Theorie ernst nehmen, dann suggeriert Hobbes, dass wir vernünftigerweise nicht darauf hoffen dürfen, auch nur ein Minimum an Sicherheit und Wohlstand zu erreichen, solange wir nicht willens sind, eine außerhalb des Gesetzes stehende
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dritte Partei als Vollstrecker einzusetzen, der zudem nicht ohne Weiteres wieder abgesetzt werden kann (Hampton 1988). Hobbes hält jedoch noch eine weitere Herausforderung bereit – eine Herausforderung, der sich alle um Stabilität bemühten Gestalter einer politischen Ordnung stellen müssen. Gemeint ist das soziale Störpotenzial, das von Individuen mit dem Hang zur Ehrliebe ausgeht. In jeder Gesellschaft gibt es sie: Menschen, die übermäßig von ihren eigenen Fähigkeiten überzeugt sind und nach Anerkennung für ihre Überlegenheit gieren, Menschen, deren Zorn geweckt wird und die dazu neigen, die Regeln zu brechen, sobald sie sich nicht ausreichend gewürdigt fühlen. Unter dem Leviathan werden diese Menschen systematisch frustriert, weil sie allesamt gleich und ohne Ehren gehalten werden wie Knechte vor einem Herrn. Weil die Gewährung bürgerlicher Auszeichnungen im Ermessen des Souveräns liegt, hängen Ehre oder Schmach nicht von der erbrachten Leistung, sondern allein von der Laune des Machthabers ab. Hobbes hofft, dass die Erziehung der Untertanen im Hinblick auf die Rechte des Souveräns und die Verteilung bürgerlicher Auszeichnungen an verdiente, aber nicht allzu ehrgeizige Männer diesem Problem entgegenwirken. Dennoch könnte ein Ehrliebender in extremen Fällen – man denke nur an Homers Achilles – die Erlangung großer Ehren über das Leben selbst stellen. Daraus ergibt sich ein schwerwiegendes Problem für jede Äquivalenztheorie, die wie jene von Hobbes darauf beruht, dass ihre Akteure das Leben über alle anderen Güter stellen. 9 Die Frage des Umgangs einer Kerndemokratie mit ihren ehrsuchenden und zur Selbstüberhöhung neigenden Mitgliedern wird in Kapitel 6 behandelt. An dieser Stelle liegt mein Augenmerk jedoch auf Hobbes’ Auffassung von der Notwendigkeit eines absoluten und zentralistischen Souveräns. Luc Foisneau (2016: 25–47) hat gezeigt, dass Hobbes sein eigenes Gedankenexperiment im Leviathan auf etwas gründet, das man einen „demokratischen Moment“ nennen könnte. Die Einsetzung des Souveräns beruht nämlich letztendlich auf einer Mehrheitsentscheidung des Volkes. Eine Konsensentscheidung ist es allerdings nicht, denn
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längst nicht alle dem Naturzustand Verhafteten sind auch vernünftig genug, um zu erkennen, dass die Einsetzung des Leviathans den einzigen Ausweg aus der Misere darstellt. Wie Foisneau jedoch zu Recht betont, ist der demokratische Moment genau dies: Sobald der Leviathan einmal eingesetzt wurde, ist es mit der Demokratie vorbei. Als Antwort auf die klassische Frage „Wer herrscht?“ bietet Hobbes drei Optionen an: Ein Individuum (Monarchie), eine kleine Koalition (Aristokratie) oder eine Masse ganz gewöhnlicher Menschen (Demokratie). Allerdings stellen diese Möglichkeiten für Hobbes eine absteigende Rangliste dar und er zeigt sich entschieden anti-demokratisch in seinen Ansichten über eine souveräne Masse. Er räumt zwar ein, dass der Demos im Prinzip durchaus als absoluter Souverän agieren könne, stellt jedoch klar, dass er zwangsläufig ein schlechterer Herrscher ist, als es ein Individuum oder eine kleine Gruppe wäre. Nach Hobbes’ Auffassung bietet die Demokratie nur dann einen Ausweg aus dem Naturzustand, wenn man sie als (nicht-mörderische) Tyrannei der Mehrheit begreift. Der Demos kann also nur dann ein Souverän im Hobbes’schen Sinne sein, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Der Demos darf nicht durch das Gesetz behindert werden und er muss eine fiktive Person verkörpern, deren einheitlicher Wille durch den Mehrheitsbeschluss unzweideutig zum Ausdruck kommt. Natürlich ist es möglich, einen Demos in der Ikonografie oder Literatur zu personifizieren, so wie die Athener es auf öffentlich ausgestellten Dokumentenreliefs taten oder Aristophanes in seinen Komödien. Aber auch ohne den Hinweis auf Unmöglichkeitstheoreme und Abstimmungszyklen wird deutlich, wie problematisch das Konzept einer nicht-anonymen Wahl für den Ausdruck eines einheitlichen Willens ist. Dafür sorgen bereits die Diversität und die unterschiedlichen Gruppenidentitäten innerhalb einer partizipatorischen Gemeinschaft von Bürgern, die laut Hobbes zugleich Untertanen sein müssen. Für Hobbes stellt sich denn auch eher die Frage, ob die Bürger als natürliche Menge mit unterschiedlichen Einzelinteressen überhaupt dazu in der Lage sind, als künstliches „Volk“ in einer Versammlung effizient und mit einem einheitlichen Willen zu handeln,
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dem sich schließlich alle unterwerfen. Wenn es – wie in jeder realen Demokratie – Beratungsbedarf vor der Entscheidung gibt oder die an einer Versammlung teilnehmenden Menschen – wie in einer direkten Demokratie – eine aktive Rolle beim Regieren spielen, anstatt wie ein „schlafender Souverän“ nur passiv danebenzustehen, lautet die Antwort schlicht nein. 10 Das einem hypothetischen Hobbes’schen Leviathan-Demos inhärente Problem hat Carl Schmitt (1932b) mit seiner Freund-FeindUnterscheidung verdeutlicht. Eine Mehrheitswahl legt den Umstand offen, dass der Souverän gespalten ist. Was die Mehrheit überzeugt hat, wird von der Minderheit abgelehnt, die der Mehrheitsmacht nun hilflos gegenübersteht. Sie wird gegen den Wahlausgang opponieren und ist womöglich sogar bereit, zu kämpfen. Die nachträgliche Feindschaft der Minderheit ist kein Problem bei einer Wahl, durch die der Leviathan an die Macht gelangt – solange es sich bei dem Souverän nicht um den Demos handelt. Einmal etabliert, wird von einem Monarchen oder einem Bündnis aus Eliten erwartet, sich sämtliche Untertanen gleichermaßen zu unterjochen. Alle müssen gehorchen, ganz gleich, wie sie abgestimmt haben. 11 Wenn der Demos jedoch sich selbst als Souverän einsetzt, dann werden die Untertanen ihm nicht dieselbe Ehrfurcht entgegenbringen wie einem unitären Herrscher. Im hypothetischen Fall eines neu eingesetzten Leviathan-Demos könnte sich die siegreiche Mehrheit dazu entschließen, den Mitgliedern der „Kein-Leviathan-Minderheit“ das Wahlrecht zu entziehen, weil es sich bei diesen um potenziell gefährliche Feinde handelt. Als Folge davon könnten bei nachfolgenden Wahlen andere „feindliche Minoritäten“ in ähnlicher Weise entrechtet werden. Ein solcher staatsbürgerlicher Regress wird in einen Krieg münden, wenn das Gewaltpotenzial der verbleibenden Bürger nicht ausreicht, um die Entrechteten in Schach zu halten. Kapitel 6 und 7 werden zeigen, dass diese regressive, den gesetzlosen Leviathan-Demos mit Selbstzerstörung bedrohende FreundFeind-Logik in kerndemokratisch strukturierten Gesellschaften nicht zwangsläufig entsteht. Ein ans Gesetz gebundener Demos mit unver-
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brüchlichen Regeln ist Hobbes’ Herausforderung nämlich durchaus gewachsen – Regeln, die die Bürger dazu anregen und befähigen, gemeinsam gegen Regelbrecher vorzugehen. Dazu werden in diesen Kapiteln mehrere lokale demokratische Gleichgewichte untersucht, was ergiebiger ist, als das ganze System als Einzelspiel zu modellieren. Hobbes’ Darstellung des „Demos als Souverän“ enthält überdies eine „Giftpille“, weil die klassische griechische Demokratie – sein bestes historisches Beispiel einer Mehrheitstyrannei – seiner (falschen: Ober 2015b) Ansicht nach daran scheiterte, die für ein gutes und sicheres Leben notwendigen Güter bereitzustellen. Sie sei sogar in etwas ausgeartet, das einem Krieg aller gegen alle nicht unähnlich gewesen sei. Hobbes’ Demokratiekonzept ist in erster Linie Thukydides’ Werk entlehnt. Es war Hobbes, der die erste englische Übersetzung von Thukydides’ Der Peloponnesische Krieg (erschienen 1629) verfasste, also schon lange vor dem Leviathan (erschienen 1651). Nach Hobbes’ eigener Aussage war Thukydides eine sehr wichtige Quelle für seine Überzeugung, dass Mehrheits-Tyranneien in der Realität nur schlecht funktionieren und grundsätzlich instabil sind. 12 Für Hobbes wie für viele andere antike und frühneuzeitliche politische Theoretiker ist der Beweis für die Unfähigkeit der Mehrheitsdemokratie, auch nur für ein Minimum an Sicherheit und Wohlstand zu sorgen, in der Geschichte der griechischen Stadtstaaten zu finden; vor allem in der Geschichte des demokratischen Athens, dessen Scheitern im Peloponnesischen Krieg er deutlich hervorhebt. Nach Auffassung von Hobbes kam das Versagen der Mehrheitstyrannei aber auch ganz besonders in Thukydides’ (3.81–85) albtraumhaftem Bericht über die Aktionen der Demokraten und Oligarchen während des Bürgerkriegs auf Korkyra zum Ausdruck. Seine Schilderung des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung auf der Insel bot die Vorlage für Hobbes’ Beschreibung des Naturzustands in Leviathan. In Hobbes’ Augen ist die Annahme, eine stabile Demokratie habe tatsächlich irgendwann einmal für Wohlstand und Sicherheit gesorgt, illusorisch: Das seien immer nur dem Namen nach „Demokratien“ gewesen. Tatsächlich (vgl. Thukydides 2.65.9 über Perikles als heim-
Staatsbürgerliche Erziehung
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lichen Monarchen) habe es sich in den betreffenden Fällen stets um die Herrschaft eines Einzelnen oder einiger weniger gehandelt. 13 Aus dem Blickwinkel der positiven politischen Theorie stellt sich nun die Frage, wie eine Kerndemokratie der Herausforderung begegnen soll, die sich aus Hobbes’ Prämissen ergibt. Genauer gesagt: Wie können wir – und zwar ebenso jeder einzelne von uns wie alle zusammen als Bürger eines Kollektivs – sicher und in Wohlstand leben, ohne einem Autokraten oder einem elitären Bündnis die Macht zu übertragen? Wenn wir nämlich Demokratie als gemeinsame und beschränkte Selbstregierung von Bürgern verstehen, müssen wir in der Tat erklären, wie eine solche politische Ordnung stabil sein und gleichzeitig für Sicherheit und ein Minimum an Wohlstand sorgen kann. Nur wenn wir zeigen können, dass ein kerndemokratisches System tatsächlich in der Lage ist, alle diese Bedingungen zu erfüllen, können wir das Problem lösen, vor das Hobbes uns stellt. Die Lösung liegt, wie ich glaube, in den ursprünglichen Gütern der Demokratie, wie sie vor dem Aufkommen des Liberalismus existierten. Diese urdemokratischen Güter entspringen eben jenen Bedingungen, die erforderlich sind, damit eine Demokratie verlässlich für Sicherheit und Wohlstand sorgen kann.
4.4. Staatsbürgerliche Erziehung Jeder Demopolis-Gründer hatte seine eigenen Gründe, die Autokratie abzulehnen. Wie wir gesehen haben, ist nicht entscheidend, warum es für den Einzelnen unerträglich war, einem Gebieter zu unterstehen. Es musste nur Einigkeit darüber bestehen, dass es unerträglich war. Wie sich zeigte, lehnten nicht zwangsläufig alle künftigen Bürger die Tyrannei von vornherein ab. Wenn die Bürger aber nicht darin übereinstimmen, dass allein schon die Vermeidung von Tyrannei die Teilhabekosten rechtfertigt, dann läuft die demokratische Regierung Gefahr, die Basis ihrer Legitimierung zu verlieren. Die gegenwärtigen Bürger von Demopolis müssen also bereit sein,
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den künftigen Bürgern überzeugende Gründe an die Hand zu geben, weshalb auch sie die Abwesenheit von Tyrannei schätzen sollten. 14 Sie können das in Form einer staatsbürgerlichen Erziehung tun, die Argumente für den hohen instrumentellen Wert gemeinsamer Selbstregierung liefert. Die staatsbürgerliche Erziehung von Demopolis ist ebenso wie die jedes anderen Systems, das seine Bürger als rationale (und emotionale) Wesen behandelt, an sich schon ein Argument für die Legitimität des Systems. Die Erziehung könnte zum Teil im Rahmen eines schulischen Lehrplans erfolgen, darf sich jedoch nicht auf den formalen Unterricht beschränken. Um die Bürger davon zu überzeugen und dazu anzuregen, durch ihre Beteiligung Verantwortung zu übernehmen, muss die Erziehung zudem lebenslang stattfinden. Es reicht nicht aus, die Logik der demokratischen Grundregeln, die damit verbundenen politischen Normen und die Gepflogenheiten staatsbürgerlichen Verhaltens nur zu begreifen, die Bürger müssen all das verinnerlichen. Die staatsbürgerliche Erziehung in Demopolis verschreibt sich keineswegs einer strikten Werteneutralität. Sie zielt vielmehr darauf ab, Bürger mit einer ausgeprägten sozialen Identität hervorzubringen: Männer und Frauen, denen die demokratischen Werte in Fleisch und Blut übergegangen sind – und zwar aus Überzeugung. Als Begründung für die Wahl einer demokratischen Ordnung reicht nicht die Behauptung aus, dass ohnehin kein vernünftiger Mensch etwas anderes wollen würde. Grundvoraussetzung für das Funktionieren einer Demokratie ist die Wahrung der Menschenwürde, was auch die intellektuelle Entmündigung der Bürger ausschließt. Deshalb muss die Rechtfertigung der staatsbürgerlichen Ordnung über jedes paternalistische Gehabe hinauswachsen, das sich allein auf den Wert von Tradition beruft. Stattdessen müssen die Erzieher von Demopolis potenziellen Bürgern überzeugende und zum Mitwirken anspornende Begründungen dafür liefern, weshalb die Dinge hier auf eine bestimmte Art und Weise gehandhabt werden – man kann sie nicht einfach wie Kinder damit abspeisen, dass es nun einmal so und nicht anders gemacht werde. 15
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Die von den imaginären Demopolis-Gründern ebenso wie von den realen Bürgern Athens festgelegten Regeln wurden – wie gesehen – erdacht, um dem Imperativ der Erhaltung von Sicherheit und Wohlstand in einer herrenlosen Gesellschaftsordnung gerecht zu werden. Bei der Entwicklung eines Lehrplans für Staatsbürgerkunde können die Erzieher von Demopolis sich auf die Erkenntnisse der zeitgenössischen Natur- und Sozialwissenschaft berufen. Sie können auf einen großen Literaturbestand verweisen, der den engen Zusammenhang zwischen Demokratie und wirtschaftlicher Entwicklung unterstreicht. So findet sich in der heutigen Sozialwissenschaft kein Hinweis darauf, dass autokratische Staaten die ökonomischen Standards der demokratischen übertreffen würden. Außerdem können sie die Stabilität einer ganzen Reihe antiker und moderner demokratischer Staaten ins Feld führen, während viele autokratische Staaten mit beschränktem Zugang vergleichsweise instabil waren und sind. Und schließlich können sie Studien zitieren, die einen positiven Zusammenhang zwischen Massendemokratie und militärischem Erfolg belegen. In Bezug auf die grundlegende Frage, ob Demokratie für Wohlergehen und Sicherheit sorgen kann, belegen die modernen Sozialwissenschaften demnach eindeutig, dass Hobbes mit seinen aus Erfahrung gewonnenen Erkenntnissen falsch lag. 16 Es gibt sogar Hinweise darauf, dass sich eine nicht-tyrannische Gesellschaftsordnung positiv auf die Volksgesundheit auswirkt, weil sie mit flacheren Hierarchien einhergeht und dem Einzelnen mehr Kontrolle über das eigene Schicksal erlaubt. In seiner „Whitehall II Study“ (1991) wandte Michael Marmot Methoden der Sozialepidemiologie an, um die Gesundheit britischer Staatsdiener zu untersuchen. Sein höchst belastbares Ergebnis war ein „Gesundheitsgefälle“: Je weiter unten jemand innerhalb einer Rangordnung stand, desto schlechter war seine Gesundheit. Auch im Rahmen einer Untersuchung über Ungleichheiten beim Zugang zur Gesundheitsversorgung wies Marmot (2004) einen Zusammenhang zwischen Gesundheitszustand und Status nach. Mit anderen Worten: Statusunterschiede führen eindeutig zu Gesundheitsunterschieden. Und
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dieses „Status-Syndrom“ korreliert offenbar mit dem Grad, in dem Menschen über ihr eigenes Leben bestimmen können: Personen mit geringer Kontrolle leiden eher unter chronischem Stress. Ein ähnlicher Zusammenhang zwischen niedrigem Status, höherem Stress und schlechterer Gesundheit konnte interessanterweise auch bei Tieren mit ausgeprägtem Sozialverhalten beobachtet werden. Robert Sapolsky (2004, 2005) untersuchte den gesundheitsschädlichen Effekt von hierarchie- und statusinduziertem Stress bei vielen nichtmenschlichen Arten. Es ist demnach sehr wahrscheinlich, dass demokratische Gesellschaften sich allein schon durch die Verminderung jener starken, für Autokratien so charakteristischen Status-, Kontrollund Hierarchieunterschiede positiv auf das menschliche Wohlbefinden auswirken. Darüber hinaus existieren empirische Belege dafür, dass die Nähe eines Vorgesetzten negativ mit der subjektiven Zufriedenheit von Untergebenen korreliert. In einer gemeinsam mit Kollegen durchgeführten Studie über die sozialen Faktoren subjektiver Zufriedenheit am Arbeitsplatz berichtet Daniel Kahneman (2001: 394), dass es vor allem „die unmittelbare Gegenwart eines Vorgesetzten“ ist, die sich in dieser Weise auf die Mitarbeiter auswirkt. Wie sich zeigte, war dies tatsächlich „das einzige, was schlimmer war, als allein zu sein“. Dieses Ergebnis passt gut zu den Erkenntnissen von Bruno Frey und Alois Stutzer (2000, 2002) über die Auswirkungen direkt-demokratischer Institutionen auf die Zufriedenheit der Bewohner von Schweizer Kantonen. Zu den überraschendsten Resultaten gehörte, dass die Menschen sich umso wohler fühlten, je besser entwickelt die betreffenden Institutionen des jeweiligen Kantons waren. Eine weitere, damit zusammenhängende Erkenntnis der Studie besagt, dass die Zufriedenheit mit dem Dezentralisierungsgrad der Regierungsgewalt, also dem Föderalismus, zunahm. Bemerkenswerterweise sind die Bürger der betreffenden Regionen zufriedener, obwohl Bewohner ohne Staatsbürgerschaft in materieller Hinsicht sogar noch stärker von den direkt-demokratischen Initiativen und Referenden zu profitieren scheinen. Frey und Stutzer vermuten daher, dass nicht ein
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besseres materielles Auskommen, sondern die Möglichkeit, an der demokratischen Praxis zu partizipieren, Grund für das erhöhte Wohlbefinden ist. 17 All das macht insofern Sinn, als die gemeinsame Selbstregierung einen „natürlichen menschlichen Grundzustand“ darstellt, den Standardmodus menschlicher Sozialorganisation für Tausende von Generationen vor dem Aufkommen der Landwirtschaft. Die Erzieher von Demopolis können also auf die empirisch belegten Zusammenhänge zwischen Demokratie, wirtschaftlichem Wachstum, Sicherheit, Gesundheit und subjektiver Zufriedenheit verweisen. Aber sie werden sich nicht allein auf kausale Begründungen stützen, um künftige Bürger vom Wert einer nicht-autokratischen Gesellschaftsordnung zu überzeugen. Es kommt nämlich nicht nur darauf an, wofür Demokratie gut ist, sondern auch warum und wie sie es ist. Die Antwort darauf ergibt sich aus der Verbindung der Güter materiellen Wohlstands mit dem, was ich zuvor als demokratische Güter beschrieben habe. So können die Erzieher zu Recht behaupten, die von ihnen erdachten Grundregeln ermöglichten den Bürgern verlässlichen Zugang zu bestimmten demokratischen Gütern. Und sie können gute Gründe dafür liefern, diese Güter hoch zu schätzen – sei es um ihrer selbst willen oder weil sie ein Mittel darstellen, um andere lohnende Ziele zu erreichen. Die Voraussetzung dafür sind jedoch genau festgelegte demokratische Mechanismen. Ein wesentlicher Bestandteil der staatsbürgerlichen Erziehung von Demopolis besteht demnach darin, „potenziellen Bürgern“ – also jenen, die im Moment der Gründung noch zu jung waren, nachfolgenden Generationen sowie Immigranten – vor Augen zu führen, weshalb sie die freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten, politische Freiheit, Gleichheit und Bürgerwürde ebenso so hoch schätzen sollten wie die Mechanismen für deren Umsetzung. Und genau darin liegt der besondere Nutzen der staatsbürgerlichen Erziehung von Demopolis. Sie kann nämlich zeigen, dass allein der Eigenwert dieser erst durch die Beteiligung der Bürger erzeugten Güter und ihre Bedeutung für den Erhalt von Wohlstand und Sicher-
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heit es rechtfertigen, sowohl die unbedingte Autorität einer demokratischen Regierung als auch den vergleichsweise hohen Aufwand zu akzeptieren, der mit der Teilhabe einhergeht. Der staatsbürgerliche Lehrplan von Demopolis ist jedoch nicht im Sinne einer auf Unredlichkeit beruhenden Indoktrination ideologisch geprägt. Vielmehr sind die Argumente für den Wert der Güter ebenso stichhaltig wie logisch. Sie wurden von Fakten oder zumindest von plausiblen Postulaten abgeleitet, die auf natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen basieren und durch die Geschichtsforschung bestätigt werden. 18 Einige dieser Erkenntnisse betreffen die menschliche Natur und die Bedingungen, die für das menschliche Gedeihen förderlich sind. Wenig überraschend ähnelt die pädagogische Methode der staatsbürgerlichen Erziehung von Demopolis der Methodologie dieses Buches, das den Ansatz der positiven politischen Theorie, die die Ergebnisse der zeitgenössischen Sozialwissenschaften untermauert, mit der normativen politischen Theorie, den Geschichtswissenschaften und einigen Aspekten der Naturwissenschaft verbindet. 19 In meinem Bemühen, das Fortbestehen und die Legimitierung des Staates mit der staatsbürgerlichen Erziehung zu verknüpfen, folge ich einigen klassischen griechischen Theoretikern. Sowohl Platon in Der Staat und Die Gesetze als auch Aristoteles in seiner Politik waren zutiefst beunruhigt über die Form und den Inhalt der staatsbürgerlichen Erziehung. Allerdings basiert die Erziehung in Demopolis nicht auf dem Prinzip der „edlen Lüge“, wie Platon sie in Der Staat ausführt. Sie stimmt eher mit der Überzeugung von Aristoteles (Politik, Bücher 7 und 8) überein, dass es verabscheuungswürdig sei, die Erziehung und somit das System als Ganzes auf Unredlichkeit zu gründen, ganz gleich wie edel diese auch sein möge. Und ich schließe mich der Ansicht von Aristoteles an, dass Bürger-in-Ausbildung rationale Gründe brauchen, um die Werte, in denen sie unterrichtet werden, auch anzunehmen. Diese Gründe müssen mit ihren jeweiligen Veranlagungen und Interessen in Einklang stehen. Doch anders als im Fall der staatsbürgerlichen Erziehung in Aristoteles’ „Polis unserer Gebete“ muss in Demopolis kein einheitlicher Tugendstandard ge-
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lehrt werden, denn in ihrer Reinform ist Demokratie nicht auf das unitäre Konzept eines höchsten Guts festgelegt. Natürlich könnten die Bürger vollkommen in ihren Vorstellungen über das höchste Gut übereinstimmen und es zur Staatsreligion erheben. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass ein kerndemokratisch strukturiertes System seinen Bürgern ein breites Spektrum an Konzepten bietet, denen sie nach eigenem Ermessen folgen können. Diese alternativen Wege werden in Kapitel 8 besprochen. Die engste Parallele zur staatsbürgerlichen Erziehung in Demopolis ist vielleicht Christopher Bobonichs (2002) Interpretation der Vorschriften, die mit den Gesetzen von Magnesia, jenem idealen, auf Kreta zu gründenden Staat in Platons Die Gesetze verbunden sind. Nach Bobonich sollten diese Vorschriften die Bürger von der Befolgung der Gesetze überzeugen, indem sie an die Vernunft der Menschen appellierten und ihnen verdeutlichten, dass ein gesetzestreues Verhalten letztlich ihrem eigenen Wohl diene. Ebenso sorgte – wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe (Ober 2005: Kapitel 6) – die praktische Erfahrung durch die Mitwirkung an der athenischen Demokratie für eine effektive staatsbürgerliche Erziehung der Athener. Durch ihr bürgerschaftliches Engagement verstanden sie nicht nur, wie ihre Regierung arbeitete, sondern auch, warum Demokratie gut für sie selbst als Individuen oder als bürgerschaftliches Kollektiv war. 20 Dieses Buch ist letztlich so etwas wie eine Synopse der legitimierenden staatsbürgerlichen Erziehung, die jeder Generation künftiger Bürger von Demopolis zuteilwird. Dabei handelt es sich um eine Erziehung, in deren Verlauf künftige Bürger die ihnen gegebenen Begründungen nicht nur als rational akzeptieren, sondern auch als Motivation empfinden sollten, sich zu beteiligen und eine soziale Identität anzunehmen, die zumindest in Teilen auf ihrer Aktivität als Staatsbürger beruht. Nur wenn das gelingt, ist auch der hohe Aufwand gerechtfertigt, den der Staat in Form des demokratischen Selbstregierens von seinen Bürgern einfordert. Dieser Anspruch ist essenziell für die Existenz des Staates, wird aber nur anerkannt, wenn
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er sich auf individuelle und gemeinschaftliche Interessen gründet. Allein wenn das der Fall ist, können wir davon ausgehen, dass die potenziellen Bürger willens sein werden, wenn nicht gar glücklich, die Rolle gesetzestreuer, teilhabender Bürger zu übernehmen. Der soziale Tatbestand des Bürgerseins wird dabei durch den Sprechakt der Affirmation jedes einzelnen Bürgers bekräftigt, was das Bestehen von Demopolis für eine weitere Generation sichert. Mit anderen Worten, eine Kerndemokratie ist solange robust, wie sie als erstrebenswert erkannt wird und die Entscheidung für sie ganz bewusst erfolgt. 21 In den Kapiteln 5 und 6 wenden wir uns nun den Motivationsgründen zu, welche die Erzieher von Demopolis anführen können, um einen rational denkenden, skeptischen Einwohner davon zu überzeugen, die soziale Identität eines Bürgers anzunehmen und bereitwillig die mit dem Bürgersein einhergehenden Pflichten zu übernehmen. Wir beginnen im folgenden Kapitel mit dem Gedanken, dass staatsbürgerliche Teilhabe nicht nur einen Aufwand darstellt, der für die Sicherung des demokratischen Systems nun einmal geleistet werden muss, sondern auch von beträchtlichem Nutzen für jeden einzelnen Bürger ist. Anmerkungen 1
In Kapitel 5 lege ich dar, dass die natürlichen menschlichen Fähigkeiten einen Standard vorgeben, durch den demokratische Güter bewertet werden können. Demokratische Güter können als richtig oder moralisch zulässig angesehen werden oder auch nicht, wenn sie mit anderen Bewertungsstandards verglichen werden; s. Kapitel 8. 2 Die Argumente von Hardin 1999: 155–174 gegen eine umfassende politische Teilhabe erinnern an einen als Beschwerde formulierten, (zu recht oder nicht) in unterschiedlicher Form Oskar Wilde zugeschriebenen Aphorismus: „Das Problem mit der Demokratie (dem Sozialismus) ist, dass dabei zu viele Abende draufgehen.“ – Mit „von sozialem Wert“ meine ich nicht, dass es sich beim Bewerten um einen eigenständigen Vorgang handelt (im Kant’schen oder einem anderen liberalen Sinne), sondern dass die Vorhaben und ihre
Anmerkungen
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Ziele sich von den Verantwortlichkeiten und Gütern unterscheiden, die durch politische Teilhabe entstehen. 3 Natürlich zeichnen sich auch einige Autokratien (z. B. die ehemalige Sowjetunion, das maoistische China oder das heutige Nordkorea) durch hohe Teilhabekosten aus. Ganz zu schweigen von den psychischen Dissonanzen, die dabei entstehen. Man denke an das Wählen von Kandidaten, die zuvor von der Regierung gebilligt wurden, an die Anwesenheit bei regierungsfreundlichen Versammlungen und Reden, die Verehrung von Autoritätssymbolen und so fort. 4 North, Wallis und Weingast 2009. Der „Staat mit beschränktem Zugang“ wird von North, Wallis und Weingast als „der natürliche Staat“ bezeichnet. Ich verwende den Begriff des „natürlichen Staats“ hier nicht, um eine Verwechslung mit Hobbes’ „Naturzustand“ zu vermeiden. Obwohl sie bemerkenswerte empirische Belege für ihre theoretischen Forderungen zusammenstellen, ist die von North, Wallis und Weingast beschriebene Ordnung mit beschränktem Zugang eher ein allgemeines Modell als die Beschreibung eines real existierenden Zustands. 5 Anders als das klassische Athen erfüllen die meisten dokumentierten vormodernen Gesellschaften die Erwartung, dass in einem Staat mit beschränktem Zugang die Mehrzahl der Werktätigen das Subsistenzniveau kaum überschreitet. Scheidel 2010; Ober 2016. Milanovic, Lindert, und Williamson 2011 bieten eine Methode, um die „Möglichkeitsgrenze der Ungleichheit“ einer Gesellschaft, also die Grenzen der Ressourcenbeanspruchung durch Nicht-Eliten abzuschätzen, die ausgehalten werden können, ohne dass es zu einem demografischen Kollaps käme. Eine stabile demokratische Gesellschaft muss deutlich außerhalb dieser Grenze liegen. Sie muss nicht nur in ausreichender Weise Überschüsse generieren, sondern auch genug davon in den Händen der Produzenten belassen. Ein absolutistisches System im Hobbes’schen Sinne hingegen wird sich dieser Grenze so weit wie nur möglich annähern. 6 Zur Rolle der Emotionen in Hobbes’ Darstellung der menschlichen Motivation, s. Foisneau 2016, 123–146. 7 Tuck 2016 versucht Hobbes’ Bekenntnis zum Absolutismus abzumildern, indem er die besonders in dessen frühen Werken (Elements of Law, beendet 1640 und De Cive, veröffentlicht 1642, 2. Ausgabe 1647) erkennbaren „demokratischen“ Elemente und seine Auffassung von Freiheit als Nichteinmischung hervorhebt. Ich beziehe mich hier jedoch auf Leviathan (veröffentlicht 1651) und folge damit der herkömmlichen Sichtweise, nach der Hobbes – nicht zuletzt in diesem Werk – dem Absolutismus aufs Engste verpflichtet ist: Der Leviathan, mithin der ideale Monarch, muss außerhalb
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des Gesetzes stehen und darf nicht durch irgendwelche ausgleichenden Institutionen eingeschränkt werden. Hierzu s. zuletzt Foisneau 2016. 8 Im Gegensatz zur zeitgenössischen Neo-Hobbes’schen Schule, die den Wert starker, hoch-zentralisierter „Leviathane“ für nachhaltigen Wohlstand betont (Morris 2014), zeigen Acemoglu und Robinson 2015, 32 (unter Bezugnahme auf die Geschichte des modernen Ruanda), dass es „im Gegensatz zur Auffassung von Hobbes wohl eher der Leviathan ist, der das Leben ‚schmutzig, brutal und kurz‘ macht, anstatt ebendies zu verhindern“. 9 Hobbes zur Erziehung: Leviathan 30. Die Rechte des Souveräns müssen „eifrig und wahrhaftig gelehrt werden, denn sie lassen sich durch kein bürgerliches Gesetz und nicht durch Terror oder rechtmäßige Bestrafung aufrechterhalten“: 30.175. Durch den Souverän verteilte Ehrungen: 10.43–44; es ist jedoch gefährlich, die Beliebten und Ehrgeizigen auszuzeichnen: 30.183. Vor dem Souverän sind alle anderen wie Knechte, „gleich und ohne jede Ehre in Gegenwart des Herrn“: 18.93. Ehre und Schmach nach der Laune des Souveräns: 10.43 (am Beispiel des Königs von Persien). Zu Prahlerei und Selbstüberschätzung, empfundener Missachtung, Zorn und Verbrechen: 6.27, 8.35, 13.61, 27.155. – Mein Dank gilt Alison McQueen, die mich auf diese Punkte hingewiesen hat. 10 Der „Schlafende Souverän“ ist das Thema von Tuck 2016. Über die Unterscheidung von Menge und Volk bei Hobbes und das Problem von Deliberation und Regierung s. Tuck 2016: 99–103. Anderson 2009 vertritt die Ansicht, dass der Demos im antiken Athen in Hobbes’scher Manier personifiziert wurde, und begründet dies mit den Ausführungen zu den Teilen und dem Ganzen in Aristotoles’ Politik; dagegen s. Ober 1996: 117–120, 2013b. 11 Hobbes, Leviathan 18.90: „Weil der größere Teil mit seinen Stimmen einen Souverän deklariert hat, muss jener, der widersprochen hat nun mit den übrigen übereinstimmen oder er wird verdientermaßen von ihnen vernichtet.“ S. ferner Tuck 2016, bes. 104 Nr. 40. 12 Zu Hobbes Thukydides-Übersetzung s. Iori 2015, der (Kapitel 8) betont, dass Hobbes in diesem Werk durchgehend demokratiekritisch ist. Deutlich wird dies in seiner Einführung, der Frontispizgestaltung und seiner Wortwahl in der Übersetzung selbst. Nach Iori geht diese kritische Haltung mit einer Aussage in Hobbes’ Autobiografie konform, in der es heißt, Thukydides habe ihm gezeigt, „democratia … quam sit inepta“. Mein Dank gilt Paul Demont, der mich auf Ioris Arbeit hingewiesen und mir eine Vorabversion seiner Rezension des Buches zur Verfügung gestellt hat. 13 Zur Nutzung von Thukydides (und nicht Aristoteles) als Vorlage für Hobbes’ Demokratiekonzept s. Hoekstra 2007 mit Skinner 2007; dagegen Tuck 2007.
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Dieses Bedürfnis nach Rechtfertigung ist das, was Williams (2005: 4–6) die „grundlegende Legitimierungsfrage“ nennt. 15 Die staatsbürgerliche Erziehung von Demopolis ist gewiss nicht liberal, aber sie ist auch nicht „auf autoritäre Weise schulmeisterlich“, wie es von Shklar 1983: 33 abgelehnt wird. Auf die Frage, ob eine liberale Gesellschaft auf den Fundamenten einer Demokratie errichtet werden kann, die für ihre Legitimierung eine staatsbürgerliche Erziehung ihrer Bürger benötigt, und zugleich all jenen, die mit den Grundsätzen dieser Erziehung nicht übereinstimmen, den freien Austritt gestattet, s. unten Kapitel 8.4. 16 Zum Zusammenhang zwischen Demokratie und wirtschaftlichem Wachstum: Ober 2015b mit der angegebenen Literatur. Demokratie als Hauptursache von Wachstum: Acemoglu und Roninson 2006; Acemoglu, Naidu, Restrepo und Robinson 2014; Demokratie als Wachstumseffekt: Boix 2003, 2015. Demokratie und militärischer Erfolg: Reiter und Stamm 2002. 17 Zur dunklen Seite der direkten Demokratie in der Schweiz, wie sie etwa in den voreingenommenen Entscheidungen zur Immigration zum Ausdruck kommt, s. Hainmüller und Hangartner 2013. 18 Allerdings muss der Lehrplan die menschliche Natur weder erschöpfend behandeln noch mit einer vollständigen Liste der Bedingungen aufwarten, die der menschlichen Entwicklung förderlich sind. Die Lehrinhalte sollten vielmehr realitätsnah sein und die für das Gedeihen verantwortlichen Aspekte in akkurater Weise – also in Übereinstimmung mit natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen – unter den Bedingungen des „Hier und Jetzt“ darstellen (Williams 2005: 8). Wenn andere Aspekte der menschlichen Natur und andere Bedingungen anderswo das Gedeihen anderer fördern, dann ist dies kein Argument gegen die realitätsnahe Erziehung der potenziellen Bürger von Demopolis. 19 Mein in Stanford abgehaltenes Seminar über „Erfindung von Regierung“ stellte meinen eigenen unvollkommenen Versuch dar, den „formal-instruktiven“ Teil dieser Art von staatsbürgerlicher Erziehung auf einen Zeitraum von zehn Wochen einzudampfen. 20 Staatsbürgerliche Erziehung ist auch für Hobbes’ Leviathan-Staat wichtig (Leviathan 30, vgl. o. Anm. 9): Hobbes fordert, dass die Gesetze des Souveräns in einfacher Sprache abgefasst werden, damit sie allgemein bekannt und allen verständlich sind, die sich ihnen unterwerfen müssen. 21 Soziale Tatbestände und Sprechakte: Austin 1975; Searle 1995. Ich versuche nicht, die Form oder den Inhalt der Affirmation von Bürgern der Post-Gründergenerationen zu spezifizieren, aber sie könnte in Form eines Schwurs erfolgen, der an dem Punkt des Erwachsenenlebens zu leisten wäre, an dem man sich dazu bereit fühlt, die mit dem Bürgersein einhergehenden
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Verantwortungen und Privilegien zu übernehmen. Staatsbürgerliche Eide sind selbstverständlicher Teil der modernen Demokratie. Sie werden z. B. von Schöffen oder Mitgliedern der Streitkräfte verlangt. Naturalisierte amerikanische Staatsbürger etwa werden dazu aufgefordert, einen Eid abzulegen, der sie u. a. dazu verpflichtet, die Verfassung zu unterstützen: https://www. uscis.gov/us-citizenship/naturalization-test/naturalization-oath-allegianceunited-states-america (aufgerufen am 27. April 2017). Es ist unklar, warum der Zufall, in Amerika geboren worden zu sein, die Eingeborenen von der Verpflichtung losspricht, eine ähnliche Erklärung abzugeben. Zum Bürgereid der antiken athenischen Epheben und seiner Wiedergeburt an einigen amerikanischen Universitäten im 20. Jh. s. Hedrick 2004.
Kapitel 5
Menschliche Grundfähigkeiten und staatsbürgerliche Teilhabe Wenn wir akzeptieren, dass Geschichte ein Beweis für das Mögliche ist, scheint Hobbes’ Behauptung widerlegt, nur der Absolutismus könne Sicherheit und Wohlstand gewährleisten. Anders als Hobbes kennen wir aus der vorliberalen Antike und der liberalen Moderne eine ganze Reihe gut dokumentierter Beispiele für nicht-absolutistische Regierungen – stabile Regierungen, die alle Kriterien einer gemeinsamen und beschränkten Selbstregierung seitens der Bürger oder ihrer Repräsentanten erfüllen und den Einwohnern obendrein ein vergleichsweise gutes und sicheres Leben ermöglichen. 1 Doch wie bereits im vorherigen Kapitel erwähnt, reicht die empirische Widerlegung allein nicht aus. Die Selbstregierung der Bürger muss gegenüber denjenigen legitimiert werden, die bezweifeln, dass die historischen Leistungen der Demokratie eine Garantie für zukünftige Erträge aus staatsbürgerlichen Anstrengungen sind, oder die eine Autokratie schlicht für eine weniger aufwendige Lösung halten. Deshalb müssen wir noch immer der Frage nachgehen, warum und wie die beschränkte Selbstregierung für Sicherheit und Wohlstand sorgen kann – und zwar ohne die besonderen Merkmale des Liberalismus. Wir müssen mit anderen Worten bestimmen, wofür Demokratie jenseits aller materiellen Erfordernisse taugt. In diesem und im nächsten Kapitel werde ich zeigen, dass die Fähigkeit der Demokratie, die notwendigen materiellen Voraussetzungen zu schaffen, aufs Engste mit den demokratischen Gütern verbunden ist – Gütern, zu denen die freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten, politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde gehören und die dem Einzelnen erst durch seine Beteiligung an der gemeinsamen Selbstregierung zugänglich werden. Die-
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se Güter stellen kein Hindernis auf dem Weg zu adäquaten oder gar luxuriösen materiellen Lebensbedingungen dar, sondern sind vielmehr ein essenzieller Bestandteil der positiven politischen Theorie der Kerndemokratie. Die Überlegungen zur normativen politischen Theorie werden verdeutlichen, weshalb Demokratie tatsächlich eine Antwort auf die Herausforderung von Hobbes’ positiver Theorie ist. Indem wir Rahmenbedingungen festlegen, wie sie für viele soziale Organisationsformen – vom Hobbes’schen Absolutismus bis hin zur staatsbürgerlichen Ordnung bei Aristoteles – charakteristisch sind, können wir zeigen, wie die Kerndemokratie ihre historisch belegbare Fähigkeit erreicht, beständig für günstige Existenzbedingungen zu sorgen. Und es wird deutlich werden, welche Rolle dabei die demokratischen Güter spielen. Wir können Hobbes’ Herausforderung also in Form der positiven politischen Theorie begegnen und mithilfe der normativen Theorie die Zweifel daran ausräumen, ob die Demokratie ohne Liberalismus überhaupt für etwas gut ist. Dazu müssen wir nur einige simple Annahmen treffen und zwar in Bezug auf 1.) die für den Menschen charakteristischen Fähigkeiten, 2.) den methodologischen Individualismus, 3.) die Interdependenz als Imperativ der Kooperation und 4.) die Veränderlichkeit des Umfeldes, in dem Gesellschaften existieren. Auch wenn mir diesbezüglich nicht alle Leser folgen werden, gibt es vielleicht einen Weg, um über die bloße Annahme hinauszugelangen, „unsere Intuitionen“ (ein bei Staatstheoretikern beliebter Kunstbegriff) würden über die Voraussetzungen sozialer Ordnung zutreffen. Dazu ist es notwendig, die Apologetik der Demokratie auf jene Grundbedingungen zu stützen, in denen Hobbes und Aristoteles übereinzustimmen scheinen. Wie wir sehen werden, gibt es hinsichtlich bestimmter menschlicher Fähigkeiten tatsächlich kleine, aber entscheidende Überlappungen zwischen den Positionen der beiden. Diese Erkenntnis ist umso bedeutungsvoller, da Hobbes sein normatives und positives theoretisches Unterfangen als Widerlegung von Aristoteles’ Sichtweisen über den natürlichen Zusammenhang zwischen menschlicher Geselligkeit und Politik verstanden hat – Sicht-
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weisen, die Hobbes rundheraus als absurd, abstoßend und ignorant charakterisierte. 2 Es geht mir keineswegs darum, die großen Unterschiede zwischen Aristoteles und Hobbes in Bezug auf Fragen der Moralpsychologie, Ethik und politischen Theorie zu verwischen. Tatsächlich werden ihre Differenzen sogar umso deutlicher, wenn man über ihre geringen Gemeinsamkeiten klar ist. Doch gerade weil Hobbes Aristoteles in so vielem vehement widerspricht, erscheint jede Übereinstimmung nur umso richtiger – zumal wenn heutige Sozial- und Naturwissenschaftler zu denselben Schlüssen kommen. Allerdings beschränken sich die Übereinstimmungen zwischen Aristoteles und Hobbes auf einige Grundvoraussetzungen sozialer Ordnung, über deren Implikationen sie bereits wieder uneins sind. So gehen ihre Auffassungen darüber, was besagte Grundvoraussetzungen für die Demokratie und das menschliche Gedeihen bedeuten, weit auseinander. Und ich gebe gerne zu, dass die partielle Überlappung ihrer Positionen von den massiven Meinungsunterschieden in anderen wichtigen Punkten überschattet wird. Dass die Ansichten von Hobbes und Aristoteles über die Natur erfolgreicher Herrschergewalt und deren Zusammenhang mit Gesetzgebung und Gesetzesvollstreckung so sehr divergieren, ist jedoch nicht entscheidend. Wichtiger ist, dass ihre begrenzten, von den modernen Sozial- und Naturwissenschaften untermauerten Übereinstimmungen hinsichtlich der menschlichen Fähigkeiten als Ausgangspunkt für die Beantwortung der Frage dienen können, wie die Erzieher von Demopolis den Aufwand für die Aufrechterhaltung eines kerndemokratischen Systems gegenüber skeptischen künftigen Bürgern rechtfertigen sollen. Meine wichtigste Prämisse im Folgenden ist, dass Menschen ebenso wie andere Lebewesen über anlagebedingte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen. Diese menschlichen Grundfähigkeiten sind Geselligkeit, Vernunft und Kommunikation. Sie werden weiter unten, unter Berücksichtigung der von Aristoteles und Hobbes vorgebrachten Argumente, eingehender behandelt. Die freie Ausübung dieser Fähigkeiten ist, wie ich zeigen werde, ein intrinsisches Gut, das
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nur in einer Demokratie voll verwirklicht werden kann. Die drei sekundären, die Individualität, die Interdependenz und die Wandlungsfähigkeit des Menschen betreffenden Annahmen folgen aus dieser primären und werden im nächsten Kapitel detaillierter aufgegriffen, wo sie ihrerseits als Grundlage für die oben aufgelisteten demokratischen Güter dienen.
5.1. Geselligkeit „Geselligkeit“ meint das Streben nach einem Leben in norm-strukturierten Gruppen, die sich aus verschiedenartigen Individuen zusammensetzen (also kein „Schwarmbewusstsein“). Es ist ein Verhalten, das nicht nur typisch menschlich ist, sondern auch essenziell für das Wohlbefinden des Einzelnen. Aristoteles hebt diesen Punkt in seiner Politik als einen Aspekt der Moralpsychologie hervor und führt ihn in der Tierkunde näher aus. Er unterteilt das Tierreich in zwei Hauptkategorien. In die erste gehören für ihn alle Arten, deren Mitglieder im Wesentlichen Einzelgänger sind, ohne das Bedürfnis, in komplexerer Weise mit der eigenen Art zu interagieren – wie das etwa bei Orang-Utans, Wildkatzen, Hummeln oder Spinnen der Fall ist. In die zweite Kategorie ordnet er all jene Arten ein, die stets in Gruppen leben, also Vogel- oder Fischschwärme, Herden von Pflanzenfressern und Primatengruppen. Aristoteles stellt fest, dass die Individuen innerhalb dieser sozialen Tiergruppen häufig einen enormen passiven Nutzen aus ihrer Geselligkeit ziehen. Viele Pflanzenfresser etwa – denken wir nur an Antilopen, Büffel oder Zebras – profitieren massiv von der Vervielfachung der Einzelsinne. Eine einzige Antilope sieht, hört oder riecht ein Raubtier, das sich nähert, und ergreift daraufhin die Flucht, was für den Rest der Herde das Signal ist, sich ebenfalls in Sicherheit zu bringen. Allerdings erzeugen oder teilen Antilopen keine öffentlichen Güter. Es gibt also einen gegenseitigen Vorteil, aber keine aktive Zusammenarbeit, um ihn zu schaffen. 3
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Aristoteles definiert jedoch eine Unterkategorie von gruppenbildenden Tieren, deren Mitglieder ein aktiveres Sozialleben führen, indem sie bei der Erzeugung gemeinschaftlich genutzter Güter kooperieren. Das Verhalten von Lebewesen, die öffentliches Gut erzeugen, bezeichnet Aristoteles als „politisch“. Als ein wichtiges Beispiel führt er staatenbildende Insekten an. In seiner Politik hebt er die Honigbienen hervor, zählt in der Tierkunde (1.1.20) aber auch Ameisen, Wespen und Kraniche zu den politischen Tieren. Er merkt an, dass von diesen Arten „einige sich einem Oberhaupt unterwerfen, während andere keiner Führung unterstehen. So unterwerfen sich etwa Kraniche und die verschiedenen Bienenarten einem Oberhaupt, während bei Ameisen und zahlreichen anderen Wesen jeder sein eigener Herr ist.“ Fälschlicherweise glaubte Aristoteles, dass jeder Bienenstock einen „König“ habe, der die Aktivitäten der übrigen Bienen lenke. Richtig lag er hingegen in der Annahme, dass die Ameisen eines Staates bei der Schaffung öffentlicher Güter zusammenarbeiten, ohne dabei eines Herrn zu bedürfen. Ebenso wie Honigbienen produzieren und lagern Ernteameisen Futter, das von allen Individuen des Baus gemeinsam genutzt wird. Alle Kreaturen, die in klar umrissenen Gemeinschaften leben, öffentliche Güter erzeugen und sie miteinander teilen, sind Aristoteles’ Verhaltenstaxonomie zufolge politische Wesen. 4 Auch Menschen gehören für Aristoteles in diese Unterkategorie. Das ist die Grundlage seiner berühmten Behauptung, der Mensch sei ein politisches Wesen (Politik 1.1253a1–3). Tatsächlich hält Aristoteles Menschen für die politischsten Wesen überhaupt – im Hinblick auf unser Verhalten sind wir also so etwas wie staatenbildende Insekten, wenngleich auf einem sehr hohen Niveau. Hobbes setzt sich mit dieser Charakterisierung des Menschen auseinander, indem er auf Aristoteles’ Vergleich mit den staatenbildenden Insekten Bezug nimmt: „Es ist richtig, dass einige Lebewesen wie Bienen und Ameisen gesellig miteinander leben (weshalb sie von Aristoteles zu den politischen Wesen gezählt werden). Dabei werden sie jedoch nur von ihren eigenen Urteilen und Trieben geleitet und haben überdies keine Sprache, mit deren Hilfe sie einander mitteilen
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könnten, was ihrer Ansicht nach förderlich für das gemeinsame Wohl ist.“ Hobbes gesteht freilich ein, dass „deshalb vielleicht mancher wissen will, warum die Menschheit nicht ebenso handeln kann“ (Leviathan 17.86). Hobbes’ Urteil hierzu fällt recht eindeutig aus: 1.) Anders als Insekten befinden Menschen sich seiner Meinung nach „stets im Wettstreit um Ehre und Würde“. 2.) Für staatenbildende Insekten sind öffentliche und private Güter identisch, „aber der Mensch, dem es Freude bereitet, sich mit anderen zu messen, kann nur Herausragendes genießen“. 3.) Da Insekten nicht über Vernunft verfügen, können sie die Arbeit der Führung nicht bemängeln – anders als Menschen, die dies gewohnheitsmäßig tun. 5.) Im Gegensatz zu Menschen unterscheiden staatenbildende Insekten nicht zwischen Unrecht und Schaden. 6.) „Letztens ist die Übereinstimmung dieser Kreaturen natürlich“, während Menschen nur künstlich, also durch Verträge zu einer Übereinkunft gelangen können. Und dazu benötigen sie nach seiner Auffassung eine dritte Partei als Zwangsvollstrecker der Vereinbarungen – nämlich einen absoluten, über dem Gesetz stehenden Herrscher (Leviathan 17.86–87). 5 Hobbes widerspricht also Aristoteles’ Version von menschlicher Geselligkeit. Er sieht darin weder die Voraussetzung für eine stabile, potenziell rechtschaffene und eudämonische öffentliche Ordnung noch die Basis für Normen, die den natürlichen Wechselwirkungen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft entspringen. Nach Hobbes’ Auffassung verachten Menschen im Naturzustand soziale Interaktion, die sie als gefährlich und schädlich für ihren Stolz erachten (Leviathan 13.61). Für ihn stellt sich daher die Frage, warum Menschen überhaupt in Gesellschaften zusammenleben, obwohl sie von Natur aus doch unsozial sind (Foisneau 2016: 121–122). Während er also Aristoteles’ These zurückweist, dass die menschliche Gesellschaft auf gemeinsamen Erfolg und das Erreichen des höchsten Guts ausgerichtet sei, scheint Hobbes zugleich mit einer Grundthese in Platons Staat (4.369b-372a) übereinzustimmen, nämlich dass Menschen voneinander abhängig sind, weil sie nur dann gut leben
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können, wenn sie ein verzweigtes System sozialer Kooperation erschaffen. Menschen müssen demnach einen Weg finden, um in einer Gemeinschaft zu leben, wenn sie ein akzeptables materielles Existenzniveau erreichen wollen. Wie erwähnt, charakterisiert Hobbes das menschliche Leben im Naturzustand als „einsam, arm, schmutzig, brutal und kurz“. Wenn wir das Adjektiv „einsam“ ernst nehmen, müssen wir annehmen, dass Menschen vor der Etablierung des Souveräns schlicht nicht dazu in der Lage sind, innerhalb einer Gesellschaft zusammenzuarbeiten. Wie Kinch Hoekstra jedoch zeigt (Hoekstra in Vorbereitung: Teil 1), ist die Bedingung einer „einsamen“ Existenz in Hobbes’ Naturzustand eine rhetorische Übertreibung, der schon sein Hinweis auf Kleingruppenbildung („Bund“) an gleicher Stelle widerspricht. Tatsächlich ist die menschliche Fähigkeit zur Bildung von Gruppen, die gemeinsame Ziele formulieren und erreichen können, allein deshalb essenziell für Hobbes’ Naturzustand, weil sie sicherstellt, dass selbst das stärkste Individuum Grund hat, andere zu fürchten (Leviathan 13.60). Auch Hobbes glaubte also, das Leben sei in norm-strukturierten sozialen Gruppen unerlässlich für das menschliche Wohlergehen: Erst dieses Leben macht den Gesellschaftsvertrag zur Schaffung des Leviathans überhaupt möglich. Die zum Leviathan führende Übereinkunft setzt das Wissen der Menschen voraus, dass sie unter den richtigen Bedingungen zu sozialer Kooperation fähig sind. Obwohl Hobbes, wie sich folglich festhalten lässt, natürliche Geselligkeit als Triebfeder für soziale Zusammenarbeit entschieden bestreitet, stimmt er mit Aristoteles darin überein, dass Menschen über eine inhärente Fähigkeit zur sozialen Kooperation verfügen und die Ausübung dieser Fähigkeit für das menschliche Gedeihen notwendig ist. In der realen Welt leben Menschen seit jeher in norm-strukturierten sozialen Gruppen. 6 Archäologischen und anthropologischen Hinweisen zufolge lebte der biologisch moderne Mensch (ebenso wie seine hominiden Vorgänger und Verwandten) als Jäger und
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Sammler in kleinen Gruppen von allenfalls einigen Dutzend Individuen. Solche Gruppen sind ausnahmslos norm-strukturiert. In den von Anthropologen untersuchten Jäger-und-Sammler-Gesellschaften etwa ziehen Normverletzungen Sanktionen vonseiten der anderen Gruppenmitglieder nach sich. Bemerkenswerterweise sind die Normen in Jäger-und-SammlerGemeinschaften zwar eindeutig nicht liberal, aber in politischer Hinsicht durchaus demokratisch. Auch höhere Primaten wie Schimpansen, Gorillas und Bonobos – mithin die nächsten biologischen Verwandten des Menschen – leben in Gruppen. Anders als diese zeichnen sich menschliche Jäger-und-Sammler-Verbände typischerweise jedoch weder durch ein „Alphatier“ noch durch eine strikte Gruppenhierarchie aus. Es gibt keinen König oder Chef. Das Fehlen eines Anführers ist das Ergebnis eines aktiven Widerstands gegen Dominierungsversuche von „Möchte-gern-Alphas“ (Boehm 1999). Das Spektrum dieses Widerstands reicht von Missfallensbekundungen über Ausgrenzung bis hin zur Hinrichtung. Als Folge dieser „negativen Dominanzhierarchie“ werden Entscheidungen über Angelegenheiten von allgemeiner Relevanz daher zumeist nach dem Konsensprinzip getroffen und nicht nach dem Willen eines Einzelnen oder einer kleinen Gruppe. Nach Abspaltung der Menschen, Schimpansen und Bonobos von ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren lebten die Vorläufer des modernen Menschen über Millionen Jahre in kleinen Gruppen und entwickelten schließlich ihr heutiges biologisches Erscheinungsbild. An einem bestimmten Punkt der Evolution löste sich die menschliche Geselligkeit jedoch von jener strikten Hierarchie, die für andere Primaten so typisch ist. Anschließend lebten wir für viele Zehntausend Jahre, also den größten Teil der Menschheitsgeschichte, in kleinen, im Wesentlichen demokratischen Gruppen – eine Lebensweise, die sich erst mit dem Aufkommen des Ackerbaus vor etwa 12 000 Jahren änderte. Daraus muss man vernünftigerweise schließen, dass Demokratie die natürliche, als Folge evolutionärer Anpassung genetisch in uns verankerte Form menschlichen Zusammenlebens ist, während
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etwa eine starke Dominanzhierarchie die natürliche Form z. B. einer Schimpansengesellschaft darstellt. 7 Evolutionsforschung und Sozialwissenschaft einmal beiseitegelassen, scheinen Aristoteles und Hobbes also in Bezug auf die menschliche Fähigkeit, in kleinen Gruppen zusammenzuarbeiten, grundsätzlich übereinzustimmen. Hobbes würde auch nicht bestreiten, dass solche Gruppen sich Regeln ausdenken können, die ihnen die Verfolgung gemeinsamer Ziele erlauben – obwohl diesen Zielen seiner Überzeugung nach zwangsläufig ein mörderisches Potenzial innewohnt, das das im Naturzustand vorherrschende Klima der Furcht weiter verschärft. Neben der Unsicherheit, die aus dieser tödlichen Bedrohung erwächst, würde er überdies die relative Armut von Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften betonen. Auch Aristoteles vermutet unter Berufung auf ältere „anthropologische“ Überlegungen von Protagoras, Demokrit und Platon, dass die Mitglieder sehr kleiner, auf Blutsverwandtschaft basierender Menschengruppen füreinander gefährlich sein können und zudem eher durch Naturgewalten bedroht sind. 8 Aristoteles und Hobbes könnten daher übereinstimmen, dass die Zusammenarbeit in kleinen Gruppen eine natürliche menschliche Fähigkeit ist. Allerdings ist sie allein nicht imstande, für Bedingungen zu sorgen, unter denen diese Gemeinschaften wirklich erblühen können; ja, sie kann nicht einmal ein akzeptables Sicherheits- und Wohlstandsniveau garantieren. Damit diese materiellen Grundbedingungen erfüllt werden, müssen menschliche Gemeinschaften größer und komplexer werden. In Kapitel 3 haben wir allerdings gesehen, dass – wie Mancur Olson und die auf ihn folgende Generation von Sozialwissenschaftlern gezeigt haben – mit der Größe und Komplexität von Gruppen das gemeinschaftliche Handeln immer schwieriger wird.
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5.2. Vernunft Mit dem zweiten Komplex menschlicher Fähigkeiten, der strategischen Rationalität, bewegen wir uns auf einem Terrain, das Hobbes zusagen dürfte, während es Aristoteles eher fremd erscheinen würde. Da Hobbes den Stolz und die Ruhmsucht des Einzelnen hervorhebt, stellt er sich die Menschen offenbar nicht als die kalten analytischen Nutzenkalkulierer der Rational-Choice-Theorie vor, jene imaginären (oder in jedem Fall seltenen) Akteure, die Thaler (2015) als „Econs“ bezeichnet hat. Das für einige, wenn nicht für alle Menschen charakteristische Verlangen nach Ruhm und der Wunsch nach anerkannter Überlegenheit widersetzen sich jeder simplifizierten Vorstellung von Rationalität. Doch Hobbes stützt seine Begründung des Gesellschaftsvertrags auf die Annahme, dass gewöhnliche erwachsene und gesunde Menschen Präferenzen haben, die auf rationalen Überlegungen beruhen. So werden sie das Leben selbst, Sicherheit und Wohlergehen über alle anderen Güter stellen. Und er nimmt an, wir verfolgen unsere öffentlichen und privaten Interessen nach strategischen Gesichtspunkten. Ferner war Hobbes bewusst, dass Menschen die Fähigkeit zu rationaler Präferenzordnung und strategischem Denken auch bei ihren Mitmenschen erkennen können und dementsprechend planen und handeln. Eine Kernaussage in Leviathan ist, dass strategische Rationalität unter den Bedingungen ursprünglicher Gleichheit und gegenseitiger Bedrohung die Möglichkeit ausschließt, gegenseitige Verpflichtungen einzugehen, die allgemeingültig und glaubwürdig genug sind, um die Menschheit aus dem Naturzustand zu befreien. Deshalb nützt nach Hobbes das soziale Gleichgewicht ohne eine als Vollstrecker agierende dritte Partei in Person eines über dem Gesetz stehenden Souveräns im Hinblick auf die Primärgüter auch nur wenig. Und die Menschen können nicht den Grad und die Komplexität sozialer Organisation erreichen, die notwendig wären, um die Voraussetzungen für Sicherheit und Wohlstand zu schaffen. Aristoteles hingegen betont ausdrücklich das Potenzial für soziale Ordnung und die Versorgung mit öffentlichen Gütern, das der
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menschlichen Geselligkeit innewohnt. Folglich hätte er den Gedanken wohl zurückgewiesen, dass die Menschen von Natur aus strategisch-rationale Wesen seien, die im ständigen Wettstreit mit allen anderen, identisch agierenden Akteuren stets nur auf ihren eigenen Nutzen bedacht seien. In Buch 1 der Politik (1252b14–30) beschreibt er die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft als natürlichen Vorgang von der einfachsten Form der Kernfamilie (plus Sklaven) über sippenbasierte lokale Gemeinschaften aus einigen Familiengruppen bis hin zur vergleichsweise großen und komplexen Polisgesellschaft, die in seinen Augen das natürliche Ende (telos) der menschlichen Sozialentwicklung darstellt. In einigen Passagen aus der Politik scheint Aristoteles allerdings in vielen Punkten mit Hobbes’ Bewertung der Art und Weise übereinzustimmen, wie strategische Rationalität die Menschen als soziale Wesen von Bienen, Ameisen oder anderen inhärent „politischen“ Tieren unterscheidet. Hobbes’ Kernpunkt in der oben zitierten Passage über staatenbildende Insekten (Leviathan 17.86–87) ist der Umstand, dass es einzelnen Ameisen und Bienen schlicht an persönlichen Interessen oder Präferenzen fehlt, die sie in Konflikt mit dem Gemeinschaftsinteresse von Staat oder Stock bringen könnten. Aber selbst wenn sie eigene Präferenzen besäßen, fehlt Ameisen und Bienen darüber hinaus jede Form von strategischer Vernunft, die es ihnen erlauben würde, Pläne zu schmieden, um ihr Eigeninteresse zu verfolgen. Staatenbildende Insekten kooperieren „ganz und gar“ und konkurrieren nicht miteinander um knappe Ressourcen. Sie führen keine Konflikte miteinander, die nicht auf einem Irrtum beruhen (etwa, wenn sie einen Angehörigen des eigenen Volkes mit einem Fremden verwechseln). Im Gegensatz dazu haben, so Hobbes, Menschen gewichtige, auf Eigeninteresse basierende Beweggründe wie Ruhm, Selbsterhöhung oder das Leben selbst, weshalb sie dazu neigen, eher miteinander zu konkurrieren als im Sinne des Gemeinwohls zusammenzuarbeiten. Und die Ressource der strategischen Rationalität versetzt sie in die Lage, ihre privaten Ziele ebenfalls zu verfolgen. Hobbes wollte Aristoteles widerlegen, doch dieser erkennt in sei-
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ner Beschreibung des menschlichen Sozialverhaltens in der Politik offen an, wie leicht einzelne „Teile“ der Gemeinschaft – Individuen oder Untergruppen, deren Präferenzen sehr viel enger gefasst sind als das „Gemeinwohl“ – Interessen entwickeln können, die nicht mit dem Gemeinschaftsinteresse konform gehen. Und er räumt ein, dass „Teile“ strategisch vorgehen könnten, um auf Kosten der Gesamtheit persönliche Vorteile zu erlangen. Ein Großteil der Bücher 3 bis 6 der Politik befasst sich denn auch mit Problemen, die entstehen, wenn es Teilen der Gesellschaft (Einzelnen oder Gruppen) nicht gelingt, ihre Interessen mit denen des politischen Ganzen, mithin des Staates, in Einklang zu bringen. In Buch 1 der Politik (1252b14–30) behauptet Aristoteles nicht nur, die Polis sei der natürliche Endpunkt menschlicher Geselligkeit, sondern auch, dass es „im Allgemeinen schwer ist, zusammenzuleben und an allen menschlichen Angelegenheiten teilzuhaben“ (1263a15– 16, vgl. 1286b1). Und obwohl es „in jedem den Antrieb gibt, in einer politischen Gemeinschaft zu leben, war dennoch derjenige, der Menschen zuerst zusammenbrachte (um in einer Polis zu leben), der Schöpfer des höchsten Guts“ (1253a29–31). Der essenziellen Rolle des Gesetzgebers und formaler Regeln wendet Aristoteles sich in Buch 7 zu. Hier entwirft er die bestmögliche Form der natürlichen Polis, nämlich „die Polis unserer Gebete“. Er hebt hervor, dass formale, von einer Autorität eingeführte und durchgesetzte Regeln erforderlich sind, damit die „Polis unserer Gebete“ langfristig gedeihen kann. Diese Regeln wären natürlich nicht notwendig, wenn Menschen wie Ameisen oder Bienen von Natur aus unfähig wären, etwas anderes zu sein als durch und durch kooperativ. Ebenso wie Hobbes identifiziert auch Aristoteles die inhärente strategische Rationalität des Menschen als Quelle potenzieller Nicht-Kooperation – die bei Untergruppen und Individuen ausgeprägte Fähigkeit also, Präferenzen zu erkennen und in dem Wissen zu verfolgen, dass Rivalen um knappe Güter dasselbe tun. 9 Anders als Hobbes glaubt Aristoteles jedoch, das Problem der Kooperation sei auch ohne einen über dem Gesetz stehenden Souve-
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rän zu lösen, und zwar mithilfe von Regeln, die die Bürgergemeinschaft in die Lage versetzen, sich selbst zu regieren. In einer „bestmöglichen“ aristotelischen Polis herrschen die Bürger ebenso wie in realen griechischen Demokratien der klassischen Epoche über einander (als Richter und Magistrate) und werden wiederum von ihren Mitbürgern beherrscht. Bürgerliche Selbstregierung, wie Aristoteles sie versteht, ist nachhaltig, erzeugt sowohl Sicherheit als auch Wohlstand und wird durch Gesetze beschränkt. Allerdings behauptet auch Aristoteles nicht, dieser glückselige Zustand sei leicht zu erreichen. In den mittleren Büchern der Politik beschreibt er detailliert, wie es in real existierenden, von ihren Bürgern regierten griechischen Poleis zu einem Rückgang der Prosperität kommt, nachdem Teile der Gesellschaft ihre eigenen Interessen über diejenigen der politischen Gemeinschaft des Stadtstaates gestellt hatten. Er geht keineswegs davon aus, dass die bestmögliche menschliche Gemeinschaft, in der jedes Mitglied gedeiht, soweit seine Natur es ihm erlaubt, jemals allein durch die Manifestation der natürlichen Geselligkeit des Menschen entstehen könne. Obwohl es unter den heutigen Sozialwissenschaftlern verschiedene Ansichten über die Rolle der strategischen Rationalität beim menschlichen Verhalten und bei der Sozialorganisation gibt, begründet die Mehrzahl von ihnen gesellschaftliche Erklärungsansätze mit Annahmen über ebendiese Fähigkeit. Menschliche Rationalität an sich ist unvollkommen. So haben Experimentalpsychologie, Verhaltensökonomie und neurologische Studien über die Rolle von Emotionen bei der Urteilsfindung zu der inzwischen weitgehend anerkannten Erkenntnis geführt, dass Rationalität, wenn man sie als kalkulierbare Nutzenmaximierung versteht, an ihre Grenzen stößt. Andererseits wollen diese neuen Arbeiten nicht etwa zeigen, dass Vernunft als Streben nach Eigeninteresse nicht existiert, sondern nur, wie und in welchem Ausmaß die Vernunft begrenzt ist. Tatsächlich ist strategische Kalkulation ein von Sozialwissenschaftlern weitgehend akzeptiertes Standardmerkmal menschlicher Interaktion. Die Rolle der Rationalität in den Erklärungsansätzen ist durch die
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Erkenntnisse der modernen Psychologie eingeschränkt, aber nicht ersetzt worden. 10 Die Bereiche, in denen Aristoteles und Hobbes übereinzustimmen scheinen, fügen sich meines Erachtens gut in den heutigen sozialwissenschaftlichen Mainstream ein. Für Hobbes wie für Aristoteles waren die Menschen in erster Linie mit ihrem eigenen Wohlergehen befasst. Zwar glaubten beide, dass Emotionen eine wichtige Rolle beim menschlichen Verhalten spielten; sie vermuteten aber auch, dass zu den charakteristischen Merkmalen der Menschheit eine ausgeprägte Fähigkeit zum logischen Denken gehört. Rationalität erlaubt es Individuen, ihre Präferenzen zu ordnen, sodass sie ihre Ziele in mehr oder weniger kohärenter Weise verfolgen können. Sie befähigt uns, strategische Pläne in dem Bewusstsein zu entwerfen, dass andere in ähnlich rationaler Weise agieren. Hobbes wie auch Aristoteles sahen das Prinzip der Kooperation als essenziell für das menschliche Gedeihen in großen und komplexen Gesellschaften an. Und beide hielten das Befolgen von Regeln für eine Grundvoraussetzung der Kooperation. Sie legten ferner dar, dass die Legitimität eines Systems von der rationalen Akzeptanz dieser Regeln durch die Untertanen abhängt. Beide glaubten also, Menschen müssten freiwillig gehorchen, um ein System zu legitimieren – in Anerkennung der Tatsache, dass es jedem Einzelnen besser gehen wird, wenn alle die Regeln befolgen.
5.3. Kommunikation Die dritte Grundfähigkeit des Menschen ist seine ausgeprägte zwischenmenschliche Kommunikation. Gemeint ist der Einsatz von Sprache unter Menschen, die einander brauchen, um sich miteinander zu beratschlagen, Informationen auszutauschen, Vertrauen aufzubauen und Vorschläge für gemeinsames Handeln zu unterbreiten, bis sie schließlich zu folgerichtigen Entscheidungen von großer Tragweite für die beteiligten Parteien gelangen. Hobbes und Aristoteles
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hielten die Entwicklung und den instrumentellen Gebrauch von Sprache für eine grundlegende menschliche Eigenschaft. Beide vermuteten richtigerweise, dass die Verwendung von Sprache und die damit einhergehende Entwicklung von Symbolsystemen ein universelles Phänomen aller Menschengruppen ist. Aristoteles (Politik 1253a8–18) führt an, dass der Gebrauch von Sprache, um über Möglichkeiten und Ziele oder Nutzen und Gerechtigkeit zu kommunizieren, den Menschen zum „politischsten“ Lebewesen mache. „Unter den Lebewesen besitzt allein der Mensch die Fähigkeit der Sprache (logos) … Die Sprache aber dient dazu, das Nützliche und Schädliche und darum auch das Gerechte und das Ungerechte darzulegen. Denn das unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen: Er allein hat einen Sinn für Gut und Böse, Gerecht und Ungerecht und andere moralische Empfindungen.“
Laut Hobbes (Leviathan 17.87) unterscheidet sich der Mensch durch die Verwendung von Sprache von den staatenbildenden Insekten. Hobbes und Aristoteles waren äußerst versiert auf dem Gebiet der Rhetorik und schrieben über dieses Thema. Beide waren sich daher bewusst, dass Sprache für prosoziale Ziele genutzt werden kann – etwa wenn sie in Form von Beratungen darauf abzielt, die Kooperation zwischen größeren Personengruppen zu fördern. Doch war ihnen ebenso klar, dass Sprache auch für die Verfolgung eigennütziger strategischer Ziele missbraucht werden kann, und dass strategische Kommunikation in Form von Täuschung und Manipulation Politiker korrumpieren und die Basis sozialer Kooperation unterminieren kann. Weiterhin befassten sie sich auf die eine oder andere Weise mit Erziehung als prosozialer Form von Kommunikation: Individuen lehren (offenbaren ihr Wissen) oder lernen, indem sie mit anderen kommunizieren. 11 Auch hier fügt sich wieder die Übereinstimmung zwischen Aristoteles und Hobbes über die Besonderheit der menschlichen Kommunikationsfähigkeit und die Zwecke, für die sie genutzt wird, gut in den Mainstream der heutigen Wissenschaft ein. Nach wie vor um-
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stritten ist freilich, wann und wie genau Rede und Sprache im Gefolge der zerebralen Entwicklung des Menschen andere psychologische Merkmale sowie die Fähigkeit ausgebildet haben, Gruppen sozial zu organisieren. Fest steht aber: das Sprechen und der Einsatz von Sprache für strategische Zwecke wie für kooperative Ziele bilden universelle Merkmale der menschlichen Gesellschaft. Und weder der potenzielle Wert von Kommunikation für die Schaffung komplexer Kooperationsformen noch die Gefahr, die von täuschender und manipulativer Rede für das Gemeinwohl ausgeht, werden in Zweifel gezogen. 12
5.4. Die Ausübung von Grundfähigkeiten als demokratisches Gut Die menschlichen Fähigkeiten Geselligkeit, Rationalität und Kommunikation scheinen hinsichtlich Ursprung und Funktion eng miteinander verknüpft zu sein und sich überdies gegenseitig zu beeinflussen. 13 Unter den Primäreigenschaften, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheiden, stehen diese drei an oberster Stelle; man betrachtet sie sogar als die Vorbedingung menschlicher Sozialordnung. Auch andere Säugetierarten sind überaus sozial, verfolgen individuelle wie gemeinschaftliche Ziele und kommunizieren für diese miteinander, doch im Vergleich zum Menschen sind ihre Sprach- und Denkfähigkeiten sehr begrenzt. Die ausgeprägte Verknüpfung von Geselligkeit, Rationalität und kommunikativen Fähigkeiten könnte man daher (neben anderen) als grundlegend für die Menschheit bezeichnen. 14 Wie wir allerdings auch gesehen haben, erschwert diese Verknüpfung die Entstehung größerer sozialer Einheiten, weil der Einsatz von strategischer Rationalität durch Trittbrettfahrer der Größe und Komplexität effektiv funktionierender menschlicher Gemeinschaften zunächst Grenzen setzt. Andererseits hat dieselbe Verknüpfung von Eigenschaften historisch gesehen menschlichen Gemeinschaften überhaupt erst ermöglicht, Mechanismen zu ersinnen und zu imple-
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mentieren, die einander fremde Menschen dazu bewegen, sich glaubhaft für gemeinsame Ziele einzusetzen. Der Hauptmechanismus sind Regeln (Normen und Gesetze), die – auf angemessene Weise durchgesetzt – Abweichler zuverlässig ausfindig machen und bestrafen können, während die Kooperationswilligen belohnt werden. Und die Erkenntnis, dass menschliche Geselligkeit (ungeachtet unserer Fähigkeit, einander Schaden zuzufügen), Rationalität (ungeachtet der Grenzen menschlicher Vernunft) und Kommunikation (auf pro- wie auch antisoziale Weise) grundlegend für die Menschheit sind, enthält zugleich eine Antwort auf die Frage, was Demokratie über Sicherheit und materiellen Wohlstand hinaus noch leisten kann: Demokratie ist gut für die freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten. 15 Hobbes hätte dieser Aussage zweifellos widersprochen, auch wenn er einigen ihrer Prämissen wohl zugestimmt hätte. Aristoteles hätte sie bestenfalls als problematisch erachtet. Es handelt sich in jedem Fall um nur eine aus einer ganzen Palette von Behauptungen, die aufgestellt wurden, um den Wert demokratischer Teilhabe zu unterstreichen. Das demokratische Gut, das ich in diesem Kapitel verteidige, soll unabhängig vom vertrauten Spektrum liberaler Güter sein und unabhängig von solchen Gütern, die auf religiösen Vorstellungen beruhen. Und es ließen sich noch weitere Güter anführen, von denen das demokratische unabhängig sein sollte. Außerdem ist meine Darstellung der Kerndemokratie als potenzieller Rahmen für einen liberalen oder einen traditionell-religiösen Staat intendiert (siehe Kapitel 8). Je nachdem, wie man sich die zukünftige Entwicklung von Demopolis vorstellt, können also viele verschiedene moralische Gründe dafür geltend gemacht werden, warum und wie Bürger von der Teilhabe an der Regierung profitieren. Mein Eintreten im Folgenden für eine freie Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten als demokratisches Gut ist nur ein Beispiel und eine mögliche Antwort auf die Frage, wozu Demokratie ohne den Liberalismus gut ist. Die Gründer von Demopolis könnten es als Argument vorbringen, um künftigen Bürgern zu verdeutlichen, weshalb sie die Tyrannei verabscheuen sollten und wie sie sowohl psychisch als auch materiell
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von öffentlichen Aktivitäten profitieren würden, in denen sie ansonsten vielleicht nur den mit ihnen einhergehenden Aufwand erkennen würden. Die freie Ausübung der menschlichen Grundfähigkeiten durch Beteiligung an der Demokratie fördert das menschliche Gedeihen über das schlichte materielle Wohlergehen hinaus. Unter den Bedingungen der Kerndemokratie kommunizieren Bürger offen und frei und benutzen ihren Verstand, um gemeinsam Entscheidungen zu treffen, die für sie selbst von höchster Bedeutung sind. Sie übernehmen Verantwortung für die Umsetzung dieser Entscheidungen und tragen die sich daraus ergebenden Konsequenzen. Im Gegensatz zu anderen politischen Organisationsformen erlaubt Demokratie nicht nur, sondern verlangt geradezu die gemeinsame Ausübung dieser drei Grundfähigkeiten durch teilhabende Bürger. Sich als Bürger durch die prosoziale Anwendung von Verstand und Kommunikationsfähigkeiten an politischer Aktion zu beteiligen, heißt nämlich, sich selbst zu regieren. Wenn die gesteckten gesellschaftlichen Ziele erreicht werden sollen, erfordert die Teilhabe an demokratischer Kultur und demokratischen Institutionen ein stetes aktives Denken und Kommunizieren. Ganz nebenbei verfeinert die Demokratiepraxis auf diese Weise die Geselligkeit des Menschen, schärft seinen Verstand und verbessert seine Kommunikationsfähigkeiten. 16 Die These von der Bedeutung der freien Ausübung kann entweder auf der Basis subjektiver Werteerfahrungen oder auf einer eher anspruchsvollen, quasi-aristotelischen Grundlage entwickelt werden. Letztere geht davon aus, dass für jedes existierende Wesen bestimmte Dinge objektiv gut sind – deren Güte also nicht von der subjektiven Erfahrung des jeweiligen Wesens abhängt. 17 Sowohl die subjektive als auch die objektive Version des Arguments setzen voraus, dass jede Art von Lebewesen (Mensch, Katze usw.) charakteristische Grundfähigkeiten besitzt – sprich natürliche Fähigkeiten, die diese Art von Lebewesen unverwechselbar machen. Die Möglichkeit, seine Grundfähigkeiten auf richtige (gesunde, nicht-parasitäre) Weise auszuüben, ist gut für diese Art von Wesen: Sie ist entweder gut, weil sie als sub-
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jektiv gut erfahren wird (weil sie den Wunsch befriedigt, die Fähigkeit auszuüben, eine Vorliebe erfüllt, Freude macht usw.) oder weil die Ausübung der Fähigkeit – in quasi-aristotelischem Sinne – für diese Art von Lebewesen objektiv gut ist. In beiden Fällen steht die Ausübung der Fähigkeiten in Unabhängigkeit zu ihren Produkten, bietet aber zugleich eine gute Ergänzung zu diesen. 18 Die These, die freie Ausübung von Grundfähigkeiten stelle ein intrinsisches Gut dar, lässt sich am Beispiel einer Hauskatze illustrieren. Hauskatzen, wie wir sie kennen, stammen von den genetisch beinahe identischen Wildkatzen ab. Diese Vorfahren wurden durch den zufälligen und nicht-intelligenten Prozess der natürlichen Selektion zu hochspezialisierten Jägern kleiner Beutetiere „designt“. Die Beute wird von den Katzenpfoten mit ihren einziehbaren Krallen gefangen, die sich mit einem hochspezialisierten Jagdwerkzeug vergleichen ließen. Eine jagende Katze lauert, pirscht sich an und stürzt sich schließlich mit den Pfoten auf ihre Beute. Wie jeder weiß, der bereits einige Zeit mit Katzen verbracht hat, ist das Anspringen ein auffallendes und zugleich ausgesprochen charakteristisches Verhalten für diese Tiere. Es ist typisch für junge sowie ausgewachsene Katzen, ja selbst noch für die eine oder andere alte, gebrechliche Katze. Obwohl der Jagdinstinkt eindeutig von der materiellen Notwendigkeit des Beutemachens herrührt, beschränkt er sich bei Hauskatzen nicht nur auf die Futterbeschaffung. Eine gewöhnliche gesunde Katze wird voller Eifer immer wieder irgendwelche Gegenstände wie eine Beute anspringen. Ihre einzige Belohnung scheint dabei die Aktivität an sich zu sein. 19 Das Anspringen – also das Springen auf ein für eine Beute gehaltenes Objekt – ist ex hypothesi eine Grundfähigkeit von Katzen. Eine Katze kann auf materieller Ebene existieren, ohne jemals die Möglichkeit zu haben, diese Fähigkeit auszuüben. Sie kann am Leben gehalten werden, in einem kleinen Käfig etwa, wo man sie mit Futter usw. versorgt. Doch zu behaupten, eine Katze, die ihr Leben in einem Käfig verbringt, würde ein angemessenes und gutes Katzenleben führen, wäre schlicht und einfach falsch. Es hieße, die Tatsache zu leug-
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nen, dass die Möglichkeit zum Anspringen (neben anderen Aktivitäten) ein wesentlicher und notwendiger Teil dessen ist, was das Leben einer Katze gut macht – gleichgültig, ob es nun als subjektiv oder objektiv gut erfahren wird. 20 Darüber, dass Tiere leiden, wenn man ihnen jede Möglichkeit zur Ausübung ihrer Grundfähigkeiten verwehrt (oder ihnen das Futter, die Unterkunft usw. entzieht), sind sich die meisten Menschen gewahr und bezeichnen es als Tierquälerei. Wenn das richtig ist, kann man das Leben einer Katze, die zwar alle Güter besitzt (Futter, Unterkunft usw.), die man aber der Möglichkeit beraubt, ihre Fähigkeit des Anspringens auszuüben – sei es nun um zu jagen oder um zu spielen –, kaum erfüllt nennen. Diejenigen, die Katzen ihr Leben lang in kleinen Käfigen halten, quälen sie und machen sich somit schuldig. Eine Katze, die ihr Leben in einem Käfig verbringt, erleidet einen Verlust, den unter normalen Umständen keine Katze erdulden sollte. Es mag irgendeine konsequentialistische Rechtfertigung dafür geben, eine Katze in einem kleinen Käfig zu halten, Tatsache bleibt aber, dass die Katze im Käfig unter ansonsten gleichen Bedingungen ein fundamental schlechteres Leben lebt als eine Katze, die Beute oder Spielzeug anspringen kann. In Analogie dazu muss der Mensch für ein angemessenes Gedeihen demnach seine Grundfähigkeiten ausüben, muss seinen Verstand einsetzen und innerhalb eines sozialen Milieus kommunizieren können. Überlegung und Deliberation (also das Kommunizieren mithilfe von Sprache über wichtige Angelegenheiten von gemeinschaftlichem Belang) 21 sind charakteristische menschliche Grundfähigkeiten und soziale Fähigkeiten, die für prosoziale (mit öffentlichem Gut verträgliche) Ziele genutzt werden. 22 Die Ausübung dieser Fähigkeiten wird von den meisten Menschen als subjektiv gut erfahren: Wir setzen ständig Sprache und Verstand im gemeinschaftlichen Umfeld ein (in der Familie, unter Freunden und bei freiwilligen Zusammenschlüssen aller Art), und zwar so, dass – oberflächlich betrachtet – die Ausübung dieser Fähigkeiten subjektiv von uns geschätzt wird. Man darf jedoch annehmen, dass die Ausübung der Grundfähig-
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keiten auch objektiv gut für den Menschen ist. Denn selbst jene, die keinerlei Lust, Befriedigung, Vorliebe oder Freude bei der Verwendung von Sprache und Verstand in sozialen Kontexten empfinden, ziehen nichtsdestotrotz Gewinn daraus. Gleichwohl muss man sich die freie Ausübung nicht als das höchste objektive menschliche Gut oder als die subjektiv wünschenswerteste menschliche Erfahrung vorstellen. Einige Menschen werden, wie Aristoteles im 10. Buch der Nikomachischen Ethik, die Kontemplation als erstrebenswerteste menschliche Aktivität erachten, während andere glauben, dass sich der mit der Ausübung der drei Fähigkeiten verbundene Wert aus einer höheren Wertequelle speist (z. B. Gott oder Recht) und dass der Eigenwert der freien Ausübung folglich geringer ist als der instrumentelle Wert, der im Erfüllen anderer, höherer Zwecke liegt (z. B. Anbetung oder Gerechtigkeit). Dennoch werden auch sie darin übereinstimmen, dass ein menschliches Wesen es als Verlust empfindet, wenn man es der Chance beraubt, zu kommunizieren oder seinen Verstand für prosoziale Zwecke einzusetzen. Das ist ein Grund dafür, warum etwa Isolationshaft als besonders strenge Form der Bestrafung von Gefangenen gilt. Doch ob nun von subjektivem oder objektivem, von intrinsischem oder instrumentellem Wert, die gebündelte Anwendung von Geselligkeit, Verstand und Kommunikation allein reicht für das menschliche Gedeihen nicht aus: Ein hungernder und ungeschützter Mensch kann nicht gedeihen, ganz egal, wie intensiv man ihn mit seinen Gefährten kommunizieren oder seinen Verstand einsetzen lässt. Kerndemokratie gründet sich auf ihre Fähigkeit, für Sicherheit und Wohlergehen zu sorgen. In Abschnitt 5.6 (s. u.) argumentiere ich, dass dies durch den Einsatz der Bürger und ihrer Grundfähigkeiten gelingt. Gemeinsame Selbstregierung meint die gemeinsame Aktivität von Bürgern bei der Ausübung ihrer Grundfähigkeiten, mithin den Einsatz von Vernunft und das Kommunizieren für prosoziale Zwecke auf höchstem Niveau – auf der Ebene der wichtigsten Entscheidungen und Ergebnisse, darunter auch Sicherheit und Wohlergehen.
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5.5. Freie Ausübung der Grundfähigkeiten und teilhabende Bürgerschaft Genauso wie eine Katze in einem Käfig leidet, weil ihr die Chance auf ein erfülltes Katzenleben verweigert wird, ergeht es auch einem Menschen, den man der Möglichkeit beraubt, seinen Verstand und sein Kommunikationspotenzial für prosoziale Zwecke einzusetzen. Er wird sich elend fühlen und kein erfülltes Leben haben. 23 Jeder, der dafür mitverantwortlich ist, dass andere systematisch an der gemeinschaftlichen Ausübung ihrer drei Grundfähigkeiten gehindert werden, schadet damit seinen Artgenossen – unabhängig davon, ob ihnen damit eine subjektive Erfahrung oder ein objektives Gut entzogen wird. Nun ließe sich einwenden, dass Grundfähigkeiten auch in sozialen Situationen frei ausgeübt werden können, die nichts mit gemeinsamer Selbstregierung zu tun haben – z. B. in der Familie, unter Freunden oder bei freiwilligen Zusammenschlüssen –, und somit auch das damit einhergehende subjektive und objektive Gut vollständig erworben wird. Es stellt sich also die Frage, auf welcher Basis die freie Ausübung von Grundfähigkeiten an sich als ein spezifisch demokratisches Gut (und als Instrument zum Erwerb anderer Güter) angesehen werden kann, das zugleich den Aufwand rechtfertigt, den die Teilhabe an einer Kerndemokratie mit sich bringt. Ein wohlmeinender Tyrann könnte Deliberationen auf zivilgesellschaftlicher Ebene (etwa bei religiösen Vereinigungen) oder im Bereich der regionalen Rechtsprechung (etwa in Gemeindeversammlungen) erlauben, während er politische Beratungen auf staatlicher Ebene konsequent untersagt. Wenn jemand gegen diese Einschränkung protestiert, könnte der Tyrann darauf hinweisen, dass er selbst in vielen gesellschaftlichen Situationen von Beratungen ausgeschlossen ist, etwa, wenn sie im Familienkreis oder im Rahmen freiwilliger Zusammenschlüsse stattfinden, denen er nicht angehört. Der Opponent seinerseits kann darauf hinweisen, dass der Ausschluss des Tyrannen von Familienberatungen oder Zusammenschlüssen mit überzeugenden Gründen erfolgt: Er gehört nicht dazu oder ist schlicht
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kein Mitglied der betreffenden Gruppe. Der Opponent hingegen gehört sehr wohl dazu, denn er ist ein Mitglied des Staates. Warum aber wird er dennoch an der Ausübung seiner Fähigkeiten gehindert, warum darf er nicht auch auf staatspolitischer Ebene seinen Verstand einsetzen und auf prosoziale Weise kommunizieren? Die offenkundige Antwort ist paternalistisch: Der Tyrann weiß schon am besten, was gut für ihn ist. Diese Antwort ist bevormundend und verletzt daher die Würde des Betroffenen (Kapitel 6). Jedes Mitglied des Staates, dem die Möglichkeit zur Teilhabe an der Regierung verweigert wird, verbringt sein Leben wie unter einem „Glasdach“, über dem es seine Fähigkeiten ausüben könnte, aber nicht kann, weil der Herrscher es verbietet. Das Leben unter dem Dach mag ansonsten noch so befriedigend sein. Allein schon die Existenz des Daches ist ein unausgesetzter Affront gegen den Bürger, eine Verunglimpfung der ureigenen Fähigkeiten, die ihn zu einem Menschen machen. Darüber hinaus wirft das Monopol des Tyrannen auf die Hoheitsgewalt einen Schatten auf alle anderen sozialen Situationen, in denen es dem Betroffenen gestattet ist, seine Fähigkeiten anzuwenden, denn die Erlaubnis dazu kann durch den Tyrannen widerrufen werden. Deshalb ist die Ausübung auch nicht wirklich frei: Der Bürger muss immer bedenken, was er kommuniziert, denn seine Aussage könnte den Zorn des Tyrannen wecken. Hobbes würde ihm sagen, er sei im „Schweigen des Gesetzes“ frei, aber der Schatten des Tyrannen hat die Form von Gitterstäben, hinter denen der Bürger jederzeit verschwinden könnte. Wir müssen noch nicht einmal Aristoteles’ teleologische Darstellung von der Priorität des Staates akzeptieren, um zu behaupten, dass dem Betroffenen auf diese Weise ein ebensolcher Schaden zugefügt wird wie der Katze im Käfig. Ähnlich wie im Fall der eingesperrten Katze mag der Tyrann überzeugend klingende Gründe anführen, weshalb er anderen untersagt, über öffentliche Politik zu beraten. Eine Kernaussage der in diesem Buch (und von den imaginären Erziehern in Demopolis) entwickelten Ansätze ist jedoch, dass es dafür schlicht keine angemessene Rechtfertigung geben kann,
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weil – prima facie – rein gar nichts für die Annahme spricht, dass Sicherheit und Wohlergehen der Autokratie bedürfen. 24 Wenden wir uns der Geschichte zu: Man darf nicht vergessen, dass das politische System Athens von ausschließlich männlichen, überwiegend einheimischen, Sklaven besitzenden Bürgern getragen wurde, die die Autorität besaßen, über sämtliche Angelegenheiten von allgemeinem Interesse zu befinden. Gleichzeitig blieben zahlreiche, seit langer Zeit auf dem Polisgebiet ansässige Erwachsene von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Nicht-Bürger waren in Athen zwar nicht gerade das menschliche Äquivalent zur „Katze im Käfig“. Sie setzten zweifellos ihren Verstand ein und kommunizierten über Angelegenheiten von allgemeiner Relevanz. Es ist sogar anzunehmen, dass letztlich einige ihrer Informationen, Ideen und Meinungen über die Bürger, mit denen sie sozial interagierten, Einfluss auf die Politik der Stadt hatten. 25 Aber die athenischen Frauen, Sklaven und die meisten ansässigen Fremden blieben offiziell von den institutionalisierten Foren ausgeschlossen, in denen die bevollmächtigten Bürger debattierten und Politik machten. Nicht-Bürger hatten keine Stimme in der Versammlung, bekleideten keine öffentlichen Ämter und saßen nicht in Ausschüssen. Mit anderen Worten: Frauen und langfristig Ansässige unter athenischer Hoheit wurden systematisch an der freien Ausübung ihrer menschlichen Grundfähigkeiten gehindert. Indem die Athener dies taten, indem sie ihnen nicht erlaubten, ihren Verstand und ihr Kommunikationspotenzial bei wichtigen Angelegenheiten und in politischen Entscheidungsgremien einzubringen, haben sie – das können wir heute sagen – großes Unrecht begangen. Dieser Vorwurf entspringt freilich einer heutigen Sichtweise, die unvermeidlich von liberalem Gedankengut geprägt ist, ohne jedoch auf den Konzepten liberaler Menschenrechtsvorstellungen zu beruhen. Aber kann man den Athenern diesen Vorwurf auch nach den Maßstäben ihrer eigenen Kultur machen? Vermutlich ja. Sie hatten einen Sinn für politische Teilhabe als menschliches Gut und sie nutzten das Konzept der freien Ausübung menschlicher Grundfähig-
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keiten für die Legitimierung ihrer Demokratie. 26 Bei allem Respekt für Aristoteles (s. u.) gibt es keinen Hinweis darauf, dass sich diese menschlichen Fähigkeiten, also das Geselligkeits-, Vernunft- und Kommunikationspotenzial von Frauen, Sklaven oder Ausländern in den Augen der meisten Athener von dem der einheimischen Männer unterschieden hätten. Einheimische athenische Männer hatten also keine vernünftige Rechtfertigung dafür, warum die politische Teilhabe auf sie beschränkt bleiben sollte. Sie hatten keine bessere Begründung als „so wird’s hier eben gemacht – außerdem stellt der Ausschluss nach unseren kulturellen Vorstellungen von Bürgerschaft keine Bedrohung für die Sicherheit des Staates dar“. Der zweite Teil dieser Behauptung (sollte sie denn gemacht werden) ist vielleicht nicht ganz korrekt. Wie ich bereits an anderer Stelle ausgeführt habe (Ober 2008: 258–263) entzog der Ausschluss von Frauen und langfristig Ansässigen (einschließlich Sklaven) von der politischen Teilhabe dem athenischen Staat wichtige menschliche Ressourcen und verhinderte auf diese Weise, dass Athen sein staatliches und gesellschaftliches Potenzial voll ausschöpfte. Wie erwähnt, hängt die Legitimität einer Kerndemokratie davon ab, inwieweit sie dazu in der Lage ist, demokratische und materielle Güter verfügbar zu machen. Demokratische Güter können auf vertretbare Weise bereitgestellt werden oder auch nicht. Aus den ethischen Betrachtungen, die sich aus der freien Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten ergeben, ist jedoch zu schlussfolgern, dass die Athener sich schuldig gemacht haben, indem sie Frauen, Sklaven und langfristig Ansässigen die Ausübung ihrer Grundfähigkeiten auf höchster gesellschaftlicher Ebene verweigerten – eine Schuld, an der auch die kulturellen Rahmenbedingungen im klassischen Griechenland nichts ändern. Da eine Kerndemokratie die freie Ausübung als Argument für ihre Legitimität anführt, ist sie gezwungen, jeden Ausschluss langfristig Ansässiger von der politischen Teilhabe zu rechtfertigen. So sollten in Demopolis alle über längere Zeit auf dem Staatsgebiet Ansässigen – ab initio – als Kandidaten für eine staatsbürgerliche
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Erziehung gelten, die zugleich die Grundlage für den Eintritt in den Status eines teilhabenden Bürgers ist. Diese Stärkung des Prinzips, dass „alle, die kulturell als Bürger gedacht werden, auch Bürger sind“, geht auf das zurück, was Bernard Williams (2005: 3–6) die „grundlegende Legitimitätsfrage“ nennt. Dass der Staat langfristig Ansässige mit ausreichend Gelegenheiten zur freien Ausübung ihrer Grundfähigkeiten versorgt oder sich zumindest ihnen gegenüber rechtfertigt, wenn er es nicht tut, ist gewissermaßen ein Rechtsanspruch. Er ist jedoch unabhängig von (aber meiner Ansicht nach auch nicht unvereinbar mit) jener Art von Menschenrechten, auf deren Einhaltung liberale politische Theoretiker drängen. Eine Rechtfertigung für den Ausschluss von der Teilhabe darf den Existenzzwecken eines kerndemokratischen Staates allerdings nicht zuwiderlaufen. In Anbetracht dessen, welche Bedeutung das Gut der politischen Teilhabe und die Idee der menschlichen Grundfähigkeiten für ihn hatten, hätte Aristoteles eigentlich erkennen müssen, dass der Ausschluss langfristig Ansässiger von der Bürgerschaft einer speziellen Rechtfertigung bedurfte. Womöglich hat er das sogar, leider ist dabei jedoch nur etwas herausgekommen, das eher einem moralpsychologischen Pflaster als einer philosophischen Argumentation ähnelt. Freie ausländische Bewohner (wie er selbst einer war) ganz und gar ignorierend, versuchte Aristoteles, den Ausschluss von Frauen und Sklaven von der aktiven politischen Teilhabe mit der ebenso armseligen wie unspezifizierten Behauptung zu rechtfertigen, dass es diesen beiden Bevölkerungsgruppen nun einmal an der Fähigkeit zu deliberativem Denken mangele (Ober 2015). Auch wenn Aristoteles’ Begründung für den Ausschluss ganzer Bevölkerungsgruppen von der politischen Teilhabe natürlich in geradezu peinlicher Weise unangemessen war, muss man dessen ungeachtet überlegen, ob sich der Ausschlussgedanke an sich nicht dennoch im Gefüge einer Kerndemokratie – wenn auch sicher nicht im Liberalismus – verankern ließe. Die Frage, ob ein heutiger Demos das Recht hätte, größere Personengruppen, wie etwa religiöse Non-Kon-
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formisten, von politischer Teilhabe auszuschließen, wird in Kapitel 8.5 wieder aufgegriffen. Aber kommen wir noch einmal auf die staatsbürgerliche Erziehung zurück. Das Argument, dass sich die Ausübung der Grundfähigkeiten positiv auf das menschliche Gedeihen auswirkt und dass Demokratie die soziale Organisationsform ist, in der diese Fähigkeiten am besten ausgeübt werden können, wird durch empirische Resultate der Gesundheitsforschung und Erkenntnisse über subjektive Zufriedenheit untermauert (wenn auch nicht bewiesen), die in Kapitel 4.4 besprochen wurden. Wenn Marmots Whitehall-Studien – kontrafaktisch – gezeigt hätten, dass es den Stress vermindert und die Gesundheit fördert, ein rangniedriges Individuum innerhalb einer strikten Hierarchie zu sein, dann würde die Auffassung, eine vergleichsweise nicht-hierarchische politische Ordnung fördere menschliches Gedeihen, ein starkes Sonderplädoyer benötigen. Ähnlich verhielte es sich, wenn Stutzers Studie über die Wirkung direkter Demokratie auf die subjektive Zufriedenheit ergeben hätte, dass mehr Demokratie die Lebenszufriedenheit verringere. Auch das wäre ein Problem für die Demokratie, würde es doch die Zufriedenheitsthese unterminieren. Obwohl es sicher ein wenig zu simpel wäre, menschliches Gedeihen mit körperlicher Gesundheit oder subjektiver Zufriedenheit gleichzusetzen, existiert diesbezüglich fraglos eine positive Korrelation. Wenn aber nicht-autokratische Bedingungen Gesundheit und Zufriedenheit vorteilhaft beeinflussen, dann dürfen diese Faktoren ihrerseits zugunsten der These über den Zusammenhang von Fähigkeitsausübung, Demokratie und Gedeihen angeführt werden. Die Gelegenheitskosten der Teilhabe bleiben real und signifikant. Vor dem Hintergrund der Grundfähigkeiten-These sind diese Kosten nunmehr jedoch als ebenso reale wie signifikante Vorteile anzusehen. Weil der aus der freien Ausübung der Grundfähigkeiten erwachsende Nutzen ein Wesenszug ebendieser Ausübung ist, liegt der Nutzen des Einzelnen, der als Bürger an der Demokratie mitwirkt (durch Einsetzen seines Verstands und Kommunikation in sozialen Milieus, um
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Entscheidungen über Aspekte von allgemeinem Belang zu treffen), nicht zuletzt in der Teilhabe an sich. Für Teilhabe-Verweigerer hingegen ist dieser inhärente Nutzen nicht erreichbar – auch wenn sie ihre Fähigkeiten in anderen sozialen Situationen anwenden und von ihrer Beteiligung an anderen Entscheidungsprozessen profitieren (oder darunter leiden) mögen. Trittbrettfahrer in einer demokratischen Ordnung betrügen nämlich nicht nur ihre Mitbürger, sondern letztlich sich selbst. Ihre Bestrafung sollte jedoch im Sinne von Besserung und Abschreckung und nicht als Vergeltungsmaßnahme erfolgen.
5.6. Von den Grundfähigkeiten zu Sicherheit und Wohlstand Wie oben angedeutet, könnte ein absoluter Herrscher seinen Untertanen die Möglichkeit zur Beratung über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse mit dem Argument verweigern, die daraus entstehenden Nachteile – konsequentialistisch kalkuliert – würden durch einen Zugewinn an Sicherheit und Wohlergehen wettgemacht, sodass unter dem Strich ein Reingewinn an Lebensqualität bleibt. Diese konsequentialistische Sichtweise überzeugt umso mehr, wenn der Zugewinn auf keine andere (weniger gefährliche) Weise erreicht werden kann. Genau das ist der Kern des Arguments, das Hobbes zugunsten des Absolutismus vorbringt. Wie wir gesehen haben, lässt sich Hobbes’ Auffassung jedoch empirisch widerlegen, weil zumindest eine (wenn auch moralisch tadelnswerte) Kerndemokratie angeführt werden kann, die in einem Ausmaß für Sicherheit und Wohlergehen gesorgt hat, das Autokratien in nichts nachsteht. Und Hobbes’ These wäre endgültig vom Tisch, wenn sich zeigen ließe, dass Kern- (also partizipative) Demokratien diese Aufgabe sogar noch weit zuverlässiger erfüllen als der Absolutismus. 27 Eine strenge induktive Beweisführung, die eine Verbindung zwischen der freien Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten und dem erhöhten materiellen Wohlergehen auf individuellem und staat-
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lichem Niveau herstellt, würde den Rahmen dieses Buches allerdings sprengen. Aber auch so ist nicht schwer zu erkennen, weshalb der Einsatz von Geselligkeit, Verstand und Kommunikation in einer breit gefächerten Gesellschaft ebenso mit Sicherheit und Wohlergehen verbunden ist wie mit der Steigerung der subjektiven Zufriedenheit. Sobald sie innerhalb einer Gemeinschaft uneingeschränkt kommunizieren und ihren Verstand anwenden können, werden Menschen nämlich rasch erkennen, über welche speziellen Fähigkeiten und Talente sie im Vergleich zu anderen verfügen. Die freie Ausübung der Grundfähigkeiten sollte daher zu entsprechenden Investitionen in das Humankapital der Gesellschaft führen und somit einer effizienteren ökonomischen Spezialisierung Vorschub leisten. Die größere Spezialisierung und das Humankapital wiederum sollten durch die Entwicklung komparativer Marktvorteile das allgemeine Wohlstandsniveau erhöhen. Außerdem kann die freie Anwendung von Verstand und Kommunikationsfähigkeiten durch alle relevanten Mitglieder einer Gesellschaft unter den richtigen Umständen zu besseren, mithin effektiveren Entscheidungen über allgemeine Angelegenheiten (insbesondere im Hinblick auf die Erzeugung und den Erhalt öffentlicher Güter) und damit zu einer produktiveren und faireren Politik führen. Wobei die größere Fairness darin zum Ausdruck kommt, dass sich der Wohlstandszugewinn über die gesamte Gesellschaft verteilt (als Gemeinschaftsgut) und nicht nur einer kleinen, nach dem Rent-Seeking-Prinzip agierenden Elite zugutekommt (als privates oder als Klubgut), wie es bei einem typischen Staat mit beschränktem Zugang der Fall wäre (s. o. Kapitel 4.2). Es gibt eindeutige (wenn nicht sogar unbestreitbare) Hinweise darauf, dass offenere Gesellschaften auch sicherer sind und stärker prosperieren. Die freie Ausübung menschlicher Fähigkeiten erfordert einen offenen Zugang zu öffentlichen Institutionen. Und der Umstand, dass Ordnungen mit offenem Zugang solche mit beschränktem Zugang nachweislich ausstechen, spricht für eine Gleichsetzung von Demokratie und menschlichem Gedeihen. 28
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Wie bereits angemerkt, ist der inhärente und instrumentelle Wert der freien Ausübung von Grundfähigkeiten wohl nicht die einzige Rechtfertigung, die zugunsten der Teilhabe als demokratischem Gut angeführt werden kann. Auch andere von liberalen und religiösen Überzeugungen unabhängige Gründe für den Wert der Teilhabe sind denkbar. Zudem könnten, falls ein liberaler oder religiöser Oberbau auf dem Fundament der Kerndemokratie errichtet werden sollte (siehe Kapitel 8), bei der Erziehung der Bürger verschiedene wertebasierte Rechtfertigungen für die Demokratie zum Tragen kommen. Beim Argumentieren mit dem Prinzip der freien Ausübung der Grundfähigkeiten kommt es weniger darauf an, künftigen Bürgern die eine Lösung für das Problem der Rechtfertigung von Kerndemokratie anzubieten. Vielmehr geht es darum, zu zeigen, dass die staatsbürgerlichen Erzieher in Demopolis potenziellen Bürgern Gründe für den Vorzug der Demokratie gegenüber der Autokratie und die Rechtfertigung des vergleichsweise hohen, mit der Teilhabe verbundenen Aufwands für den Erhalt der Demokratie nennen könnten. Und dies könnten sie tun, ohne Bezug auf irgendwelche liberalen oder religiösen Wertvorstellungen nehmen zu müssen. Die nächste Reihe von Gründen, die Demopolis’ Erzieher anführen könnten, betrifft die Voraussetzungen von Demokratie, den Status dieser Voraussetzungen als demokratische Güter und ihre Beziehung zum materiellen Wohlergehen. Es müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein, um mittels einer gut organisierten zwischenmenschlichen Kommunikation und Individuen mit unterschiedlichen Talenten das Humankapital einer demokratischen Gemeinschaft zu erhöhen oder für die Bereitstellung von öffentlichen Gütern einzusetzen und dadurch das Sicherheits- und Wohlstandsniveau zu verbessern. Dafür notwendig sind politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde. Mithilfe der weiter oben eingeführten Annahmen über Individualität, Interdependenz und Wandlungsfähigkeit schließlich lässt sich erklären, weshalb Freiheit, Gleichheit und Würde der Kerndemokratie entspringen und wie sie
Anmerkungen
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in einem robusten sozialen Gleichgewicht erhalten werden können. Diesen Aspekten wenden wir uns im folgenden Kapitel zu. Anmerkungen 1
Antike: Ober 2008: das demokratische Athen und seine bedeutenden Leistungen in Bezug auf die Sicherheit und den materiellen Wohlstand seiner Bürger. Moderne: Doucouliagos und Ulubaşoǧlu 2008: Überblick und Meta-Regression über moderne Demokratie und Wirtschaftsleistung; Cox, North und Weingast 2012 präsentieren Daten über Systemstabilität. Hier vermute ich, dass es moderne repräsentative Demokratien gibt, die durchaus zu meiner Definition von Kerndemokratie passen; s. u. Kapitel 8.1. Da man für die empirische Widerlegung jedoch nur ein Gegenbeispiel braucht, hängt sie nicht von dieser Behauptung ab. 2 So z. B. in Leviathan 4.46: „Und ich glaube, dass nichts in der Naturphilosophie absurder genannt werden könnte als die Metaphysik des Aristoteles oder noch unvereinbarer mit der Regierung als vieles von dem, was er in seiner Politik gesagt hat, oder noch ignoranter als große Teile seiner Ethik.“ Nach wie vor eine nützliche Zusammenfassung von Hobbes’ Ansichten über die Politik des Aristoteles ist Laird 1942. 3 Etwas komplizierter ist die Situation bei einigen herdenbildenden Arten, in denen die einzelnen Mitglieder reihum risikoreiche soziale Pflichten übernehmen, etwa indem sie die Funktion von Wachtposten übernehmen oder bei der Abwehr von Raubtieren zusammenarbeiten, was sie teuer zu stehen kommen kann. Aber das Prinzip ist, wie ich hoffe, klar geworden. 4 Aristoteles’ Bienenkönig (Tierkunde 5.21) ist bekanntlich eine Königin, mithin die Mutter aller Bienen eines Stocks. Allerdings lenken Bienenköniginnen die Aktivitäten des Schwarms ebenso wenig wie Ameisenköniginnen die ihres Volkes. Zu den überraschend komplexen Formen der Zusammenarbeit bei Honigbienen, insbesondere bei der überlebenswichtigen Suche nach einem neuen Nistplatz, siehe Seeley 2010. 5 Die vorangegangenen vier Absätze sind angepasst übernommen aus Ober 2015b: Kapitel 3. 6 Auch Einsiedler hängen von den Hintergrundbedingungen ab, die durch die Geselligkeit anderer entstanden sind, etwa indem sie Werkzeuge verwenden, die im Rahmen sozialer Organisation erfunden und entwickelt wurden. 7 Über Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften, „negative Dominanzhierarchie“ und nicht-autokratische Politik im Gegensatz zu Schimpansen und anderen Primaten: Boehm 1999, 2012, 2012b; Harari 2015; Turchin 2015.
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Die bekanntesten Beispiele vor-aristotelischer Anthropologie finden sich bei Demokrit (DK B252); Platon, Protagoras; Platon, Der Staatsmann. 9 Über das Verhältnis von natürlicher (Buch 1) und bestmöglicher Polis (Buch 7) s. Ober 2015. Ferner Ober 1996: Kapitel 11 bes. 169–170; Ober 1998: 295–297 mit der zitierten Literatur (297 Anm. 19). 10 Simon 1955; Kahneman 2011; Thaler 2015. Das Konzept der Eingeschränkten strategischen Rationalität kannten auch griechische Autoren: Ober 2009; Ober und Perry 2014, ebenso wie griechische Gestalter öffentlicher Institutionen: Ober 2008. Mit „Sozialwissenschaft“ ist in erster Linie Politik- und Wirtschaftswissenschaft gemeint. 11 Aristoteles, Rhetorik, mit Kennedy 1963; Hobbes, Leviathan, mit Skinner 2008. 12 Ursprünge der Sprache: Harari 2015; Framing: Lakoff 2003 [1980]; Rhetorik in der zeitgenössischen politischen Theorie: Garsten 2011. 13 Zu Ursprüngen und Funktion von Geselligkeit, Rationalität und Kommunikation: Harari 2015 mit der angegebenen Literatur. 14 Andere Kandidaten für grundlegende menschliche Fähigkeiten sind nicht schwer zu finden, so z. B. Williams 2005: 99 über die Befähigung, Schmerz zu empfinden (nicht nur physisch, wie andere Lebewesen, sondern auch virtuell), und die Empfänglichkeit für Zuneigung (wiederum ebenso virtuell wie körperlich) samt der Qual, die ihr Verlust bedeutet. 15 Das Thema dieses Abschnitts ist in Teilen angelehnt an Ober 2007b. Dort erörtere ich, warum die Kategorien, mit denen ich hier befasst bin, sich auf gesunde Erwachsene beschränken und was ich mit nicht-parasitärer Ausübung von Fähigkeiten meine. Mit „Freiheit“ meine ich hier nicht mehr als den primitiven Zustand, wie er von Williams 2005: 79 definiert wurde: „die simple Vorstellung, nicht durch irgendeine Art menschlichen Zwangs daran gehindert zu werden zu tun, was Du willst“ [hier: was Du willst, weil es gut für Dich als Wesen ist]. Meine These ist dem „Fähigkeitsansatz“ der Wirtschafts- und Ethiktheorie nicht unähnlich (z. B. Sen 1993; Nussbaum 2011), bleibt jedoch minimalistisch: Anders als Sen und vor allem Nussbaum versuche ich nicht, sämtliche Fähigkeiten zu spezifizieren, die für ein erfülltes menschliches Leben nach heutigen liberalen Maßstäben notwendig sind. 16 Staatenbildende Insekten (z. B. Bienen oder Ameisen) arbeiten im großen Stil zusammen, ohne über ein Äquivalent zum menschlichen Verstand zu verfügen. Aber Bienen und Ameisen können auch nicht in derselben Weise wie Menschen als Individuen betrachtet werden. Obwohl Kommunikation auch bei ihnen eine wichtige Rolle spielt, unterscheiden sich die Mechanismen, durch die staatenbildende Insekten Sicherheit und Wohlergehen erlan-
Anmerkungen
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gen, grundlegend von denen menschlicher Gemeinschaften: Ober 2015b, Kapitel 3. 17 Sie ist insofern aristotelisch, da sie sich auf jene Art von Argumenten gründet, wie Aristoteles sie vorbringt, auch wenn sie nicht sein eigenes Argument ist. Zur Unterscheidung s. Ober 2013b. Es sei darauf hingewiesen, dass die allgemeine Idee, die Ausübung natürlicher menschlicher Fähigkeiten sei essenziell für das menschliche Gedeihen, nicht sehr aristotelisch ist. In Die Metaphysik der Sitten legt Kant dar, dass der höchste Zweck des Menschen die Entwicklung seiner natürlichen Fähigkeiten sei (zitiert in Starr 2007: 72). Doch wie Williams (2005: 102) anmerkt, befasst sich Kant anders als Aristoteles und ich selbst in diesen Kapiteln nicht mit empirischen Fähigkeiten. 18 Einige Fähigkeiten, etwa zu essen oder sich zu vermehren, sind allen Lebewesen gemeinsam. Essen ist eine essenzielle Vorbedingung für das Gedeihen, aber nicht (in und durch sich selbst) bestimmend für eine spezielle Art von Wesen. In der Definition von Gedeihen muss die freie Ausübung von Grundfähigkeiten m. E. der Ausübung bzw. der potenziellen Ausübung (ein Tier kann auch gedeihen, ohne sich zu vermehren) dieser allgemeinen Fähigkeiten hinzugefügt werden. 19 Zur Evolution und dem Verhalten von Katzen: Bradshaw 2013. Ich wähle das Katzenbeispiel nicht nur, weil ich selbst eine Menge Erfahrung mit diesen Tieren habe, sondern auch, weil Hauskatzen ihren wilden Vorfahren verhaltensmäßig und morphologisch näherstehen, als dies bei Hunden oder anderen Tieren der Fall ist, mit denen die meisten Leser vertraut sind. 20 Ich berufe mich hier auf die Beobachtungen eines Nicht-Experten, der jedoch mit einigen Katzen zusammengelebt hat. Nagel 1974 fragte bekanntlich: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, um auf die Existenz eines subjektiven Bewusstseins bei nicht-menschlichen Lebewesen hinzuweisen und darauf, dass man unmöglich wissen kann, wie dieses Bewusstsein beschaffen ist, es sei denn mit Begriffen aus der Welt der Vorstellung. Meine These geht von einer Katze mit subjektivem Bewusstsein aus (weshalb es Sinn macht, zu sagen, etwas sei gut für eine Katze, anstatt für einen Fels oder eine Pflanze). Ich kann selbstverständlich nicht objektiv wissen, was der Akt des Anspringens für eine Katze bedeutet. Ich glaube jedoch nicht, dass für meine „gut für“-Behauptung „ist wie“-Wissen notwendig ist. 21 Ich benutze den Begriff der „Deliberation“ in einem gewöhnlichen Sprachsinn, der Debatte, Streit und auch rhetorische Manipulation einschließt, und nicht im speziellen Sinn einer „reziproken Rechtfertigung durch Gebens- und Nehmensgründe, die von allen Parteien akzeptiert werden können“, wie er von deliberativen Demokraten verwendet wird.
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Das ist einer der Hauptgründe, warum Lügen, Grausamkeit, Betrug usw. – die ebenfalls zu den menschlichen Fähigkeiten gehören – üblicherweise getadelt werden, während der Gebrauch von Verstand und Sprache zur Förderung prosozialer Ziele gewöhnlich gelobt wird. 23 Ich vermute, dieses Argument der inhärenten Fähigkeiten ist mit einigen religiösen Konzepten kompatibel. Ein religiöser Mensch könnte (wenn auch m. E. fälschlicherweise) sagen, der Mensch sei von Gott so gemacht worden und das „Design“ somit nicht darwinistisch, sondern „intelligent“. 24 Man beachte, dass dieser Beweisführung zufolge allein schon das Diktator-Sein (unabhängig vom sonstigen Unrecht, das man als Diktator begangen hat) Grund für Sanktionen sein könnte. Wenn die These der inhärenten Fähigkeiten stimmt, kann kein noch so wohlmeinendes Verhalten des Diktators das von ihm an seinen Untertanen begangene Unrecht wettmachen. Ich danke Charles Girard und Huw Duffy (neben anderen) dafür, mich zur Auseinandersetzung mit den Grundfähigkeiten animiert zu haben. 25 Siehe z. B. die gesammelten Aufsätze in Taylor und Vlassopoulos 2015; Tiersch 2016. 26 Ober 1989 diskutiert den Hintergrund athenischer Ideen über den Eigenwert von Teilhabe für die Bürger und die Beziehung der freien Ausübung einer weit verbreiteten Fähigkeit, vernünftig zu denken und zu kommunizieren, zu antiken athenischen Verteidigungen der Demokratie gegen elitäre Kritiker. 27 Für ein historisches, auf den Erfahrungen des antiken griechischen Stadtstaates beruhendes Argument in dieser Richtung, s. Ober 2015b. 28 Die Grundidee stammt von Thomas Paine, Rights of Man II (1995 [1792]: 227–233), der seinerseits auf Gedanken von Adam Smith in Wealth of Nations aufbaut. Vgl. auch Aristoteles Politik 3.11 mit Ober 2013 und Ober 2008. Landmore 2012 über epistemische Demokratie. In Ober 2015b: Kapitel 5 führe ich meine Vermutung an, dass die oben beschriebenen Bedingungen die wirtschaftliche und kulturelle Blüte der klassischen griechischen Welt erklären. Geringere Ungleichheit fördert Prosperität: Milanovic 2011; Dabla-Norris und andere 2015. Offener Zugang übertrifft beschränkten Zugang: North, Wallis und Weingast 2009.
Kapitel 6
Bürgerwürde und andere notwendige Bedingungen Die Kapitel 4 und 5 befassten sich mit der staatsbürgerlichen Erziehung, die künftigen Bürgern von Demopolis zuteil wird, um die Kerndemokratie ihnen gegenüber zu legitimieren. Es genügt jedoch nicht, die Macht des Staates gegenüber seinen Bewohnern grundsätzlich zu rechtfertigen. Ebenso wichtig ist eine Frage, die sich jeder potenzielle Bürger stellen sollte und die das staatsbürgerliche Erziehungsprogramm beantworten muss: Warum sollte ein vernünftiger Mensch sich dafür entscheiden, die vergleichsweise hohen Gelegenheitskosten zu akzeptieren, die mit der politischen Teilhabe verbunden sind? Tatsächlich gründet sich die Legitimität einer Kerndemokratie auf ihre Fähigkeit, in ausreichendem Umfang materielle und nicht-materielle Güter bereitzustellen, um diese Kosten zu kompensieren. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, muss die Kerndemokratie sich „Hobbes’ Herausforderung“ stellen und zeigen, dass die gemeinsame und beschränkte Selbstregierung der Bürger auch ohne eine als Regelvollstrecker agierende dritte Partei in adäquater Weise für Sicherheit und Wohlergehen sorgen und obendrein den Wert nicht-materieller demokratischer Güter verdeutlichen kann. Ich habe dargelegt, dass Demokratie dieser Herausforderung aufgrund ihres glaubhaften Einsatzes für die freie Ausübung der menschlichen Grundfähigkeiten Geselligkeit, Vernunft und Kommunikation gewachsen ist. Wenn das richtig ist, dann entstehen materielle Güter durch die Bereitstellung von demokratischen Gütern. Geklärt werden muss allerdings noch, wie Demokratie das Problem der sozialen Kooperation ohne die Beigaben des Liberalismus lösen kann und wie groß eine Kerndemokratie überhaupt sein darf. Wenn das antike Athen mit seinen einigen Zehntausend Bürgern die
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Obergrenze der Bürgerpopulation einer Kerndemokratie repräsentieren sollte, wird man die in diesem Kapitel entwickelte politische Theorie auf moderner staatlicher Ebene nur sehr begrenzt anwenden können.
6.1. Bedingungen und Werte Bereits lange vor dem Aufkommen des Liberalismus haben antike griechische Demokratien ganz ohne autokratische Maßnahmen für Wohlstand und Sicherheit gesorgt. Aber wie gelang ihnen das? Und wie kann eine auf einen Stadtstaat zugeschnittene Regierung so weit vergrößert werden, wie es für einen modernen Staat erforderlich wäre? Um diese Fragen zu beantworten, reicht es nicht aus, einen Mechanismus zu finden, der die normative und positive Theorie den beobachtbaren Fakten anpasst. Darüber hinaus muss man erklären, wie es einer Demokratie gelingen kann, die mit dem kollektiven Handeln einhergehenden Probleme nachhaltig zu lösen und zugleich gute Politik zu fördern. Denn solange eine dafür geeignete Theorie fehlt, bleiben demokratische Institutionen anfällig gegenüber den Anfechtungen der Autokratie. Seit der Antike haben Kritiker der Demokratie behauptet, dass Bürgerregierungen nicht mehr zuverlässig funktionieren, sobald sie mit komplexen Problemen und schweren Krisen konfrontiert werden. 1 Und der scheinbare Vorteil, den „starke zentralisierte Regierungen in den kompetenten Händen einiger weniger Experten“ versprechen, wirkt umso verlockender, wenn Demokraten auf die Frage, wie eine Demokratie gefährliche Herausforderungen bewältigen kann, keine bessere Antwort parat haben, als „irgendwie wursteln wir uns schon durch“. 2 Wie lassen sich potenzielle Bürger davon überzeugen, dass die „Zielgröße“ der historischen Erfolge demokratischer Staaten einer „Einflussgröße“ entsprungen ist, die sich aus den Verdiensten des Systems selbst zusammensetzt und nicht aus unkalkulierbaren Faktoren wie z. B. Glück, die in Zukunft vielleicht gar nicht mehr be-
Bedingungen und Werte
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stehen? 3 Es genügt nicht, den aus der freien Ausübung der Grundfähigkeiten resultierenden Eigenwert von Demokratie aufzuzeigen. Darüber hinaus muss der staatsbürgerliche Lehrplan einer Kerndemokratie zufriedenstellende Erklärungen dafür enthalten, wie das System auch unter wechselnden Bedingungen Sicherheit und Prosperität garantieren kann. Er muss verdeutlichen, weshalb das demokratische soziale Gleichgewicht ebenso gegen äußere Erschütterungen geschützt ist wie gegen solche, die sozialen Entwicklungen im Inneren entspringen. Um diese Fragen zu beantworten, kehren wir zu den vier „einfachen Annahmen“ zurück, die in der Einführung des vorherigen Kapitels skizziert wurden. Bislang habe ich nur die erste besprochen, bei der es um Geselligkeit, Rationalität und Kommunikation als Vorbedingungen sozialer Ordnung ging. Um zu klären, wie Demokratie nachhaltig materielle und demokratische Güter bereitstellen kann, wenden wir uns nun den drei anderen Annahmen zu, nämlich dem methodologischen Individualismus, der Interdependenz als Imperativ der Kooperation und der Wandelbarkeit der Umwelt, in der Gesellschaften existieren. Im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen sind diese drei Annahmen aufs Engste mit den Grundvoraussetzungen der Kerndemokratie verbunden, auf die in Kapitel 3.4 bereits kurz hingewiesen wurde. Gemeint sind politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde. Dieses Kapitel nun befasst sich mit der Bürgerwürde. Sie ist die Voraussetzung, um als vollwertiges soziales und politisches Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden und dadurch gegen staatsbürgerliche Erniedrigungen und Bevormundung gefeit zu sein. Bürgerwürde bildet eine Grundvoraussetzung für Demokratie, die – ebenso wie die freie Ausübung der Grundfähigkeiten, mit der sie eng verbunden ist – im Mainstream der liberalen politischen Theorie allzu oft vernachlässigt wird. Sobald man Bürgerwürde jedoch als eigenständigen Faktor anerkennt und sie nicht unter Freiheit oder Gleichheit subsummiert, wird deutlich, wie wichtig sie für den Erhalt der Kerndemokratie ist. Würde ist die Antwort auf ein Problem, für das
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Hobbes’ Theorie keine Lösung hat. Mit ihrer Hilfe kann eine Regierung auch solche Menschen zu prosozialem Verhalten bewegen, die sich selbst als anderen überlegen betrachten und aufgrund ihres Charakters bzw. ihrer Präferenzordnung zuallererst nach Anerkennung dieser Überlegenheit streben. Solche Menschen – Hobbes beschreibt sie als ehr- und ruhmsüchtig – stellen ein ernsthaftes Problem für den Leviathan dar, sobald sie das Auskosten ihrer selbst ernannten Überlegenheit und die Geringschätzung anderer über das Leben selbst stellen. Die Notwendigkeit, die Würde aller zu bewahren, rechtfertigt demnach die Schaffung demokratischer Regeln, die für Gleichheit bei Wahlen und anderen Formen der Teilhabe sorgen. Zugleich werden auf diese Weise extreme Liberalisten und Egalitaristen mit überzogenen Ansprüchen an die Verteilungsgerechtigkeit in die Schranken gewiesen. In Übereinstimmung mit kantianischen Liberalen betrachte ich persönlich Würde, Freiheit und Gleichheit als Ziele von intrinsischem Wert, die folglich um ihrer selbst willen und nicht nur als notwendige Bedingungen oder Mittel zum Erreichen anderer Ziele angestrebt werden sollten. Ich behaupte, dass einige, jedoch nicht alle Bürger von Demopolis diese Überzeugung teilen. Wie in Kapitel 3.1 gesehen, lehnten die Gründer von Demopolis Autokratie aus völlig verschiedenen Gründen ab und fühlten sich ganz unterschiedlichen Werten verpflichtet. Aber meine persönlichen und die Werturteile von Demopolis’ ursprünglichen Bürgern tun in diesem Zusammenhang nichts zur Sache. Kerndemokratie wirkt sich, wie ich zeigen werde, positiv auf die Schaffung und den Erhalt der Bedingungen für Würde, Freiheit und Gleichheit aus. Außerdem kann sie die Wertschätzung der Bürger für diese drei Faktoren selbst dann vergrößern, wenn ihnen kein Eigenwert beigemessen wird oder sie nicht bereits vorab geschätzt wurden. Denn – so werden die Erzieher von Demopolis ausgehend von den Annahmen über Individualität, Interdependenz und Wandelbarkeit argumentieren – Demokratie kann nur unter den politischen Bedingungen von Freiheit, Gleichheit und Würde in einem leistungsstar-
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ken Gleichgewicht gehalten werden. Nur dann kann sie demzufolge zuverlässig für ein angemessen hohes Sicherheits- und Wohlstandsniveau sorgen. Freiheit, Gleichheit und Würde an sich sind jedoch keine epiphänomenalen Konditionen, die einer Demokratie optional oder im Nachhinein hinzugefügt werden können, sobald sie als unabhängiger Wert erkannt wurden. Vielmehr handelt es sich um fundamentale Praxisbedingungen, die für den Erhalt eines demokratischen sozialen Gleichgewichts unverzichtbar sind. Die Gründe hierfür werden deutlich, wenn man die Auswirkungen von Individualität, Interdependenz und Wandelbarkeit auf die Organisation des Wissens innerhalb einer demokratischen Gemeinschaft betrachtet.
6.2. Individualität, Interdependenz und Wandelbarkeit Menschen mit unterschiedlichen und potenziell konkurrierenden Interessen sind voneinander abhängig, weil sie kooperieren müssen, um sich in einer veränderlichen Umwelt zu behaupten. Diese Prämisse ergibt sich aus dem im vorangegangenen Kapitel erörterten Umstand, dass es sich bei Geselligkeit, Rationalität und Kommunikation um menschliche Grundfähigkeiten handelt. Wie wir gesehen haben, ist nach Ansicht von Hobbes und Aristoteles jede dieser Fähigkeiten für das menschliche Gedeihen notwendig – auch wenn ihre diesbezügliche Einsicht ganz unterschiedlichen moralpsychologischen Sichtweisen entspringt und sie jede dieser Fertigkeiten überdies ganz unterschiedlich gewichten sowie völlig verschiedene Schlüsse aus deren Verknüpfung ziehen. Hobbes glaubte, dass die praktische Interdependenz von Individuen in einer veränderlichen Umwelt zwangsläufig zu einer einheitlichen Lösung für das Problem des menschlichen Gedeihens führt, die er in der unbegrenzten politischen Autorität eines über dem Gesetz stehenden Souveräns sieht. Wie sich jedoch gezeigt hat, wird diese These durch die historische Evidenz widerlegt. In diesem Abschnitt nun untersuchen wir die drei
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Eigenschaften Individualität, Interdependenz und Wandelbarkeit, um zu bestimmen, wie eine nicht-autokratische soziale Ordnung zuverlässig durch Mechanismen für Sicherheit und Wohlergehen sorgen kann, die bestimmte Formen von Freiheit, Gleichheit und Würde erfordern. Der methodologische Individualismus, mit dem ich mich hier befasse, ist eher ein deskriptives als ein normatives Konzept menschlicher Motivation. Es darf nicht mit dem ethischen Individualismus verwechselt werden, der einen eigenständigen Willen externen Motiven gegenüberstellt und den kantianischen Liberalismus untermauert (Williams 1993: Kapitel 2). Der Individualismus, um den es mir hier geht, ist nicht moralisch, sondern dem soziologischen oder epistemischen Holismus entgegengesetzt. Er setzt voraus, dass jede menschliche Gruppe (einschließlich der antiken griechischen Stadtstaaten: Murray 1990) unabhängig vom Grad ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Homogenität einen Verbund darstellt, der aus verschiedenen Individuen, vielfältigen Denkweisen sowie zahlreichen Identitäten und daher potenziell widersprüchlichen Interessen besteht. Soziale Identitäten sind äußerst wichtig für jede deskriptive Darstellung von sozialer Ordnung; und kein Mensch kann sich jemals allein aus sich selbst heraus erfinden. Aber anders als Ameisen oder Bienen sind einzelne Menschen dazu in der Lage, ihre Eigeninteressen als etwas zu erkennen, das sich vom Gemeinschaftsinteresse unterscheidet. Der inhärente Pluralismus jeder menschlichen Gemeinschaft erzeugt Uneinigkeit. Wie in Kapitel 5.2 gesehen, war dieser Umstand von zentraler Bedeutung für das von Aristoteles und Hobbes gleichermaßen erkannte Problem der strategischen Rationalität, für das die Politik eine Lösung finden muss. Unter den richtigen Bedingungen – die von den beiden freilich unterschiedlich definiert werden – können Konflikte ihrer Ansicht nach durch den Einsatz von Vernunft und zwischenmenschlicher Kommunikation friedlich ausgeräumt und gemeinsame Interessen erkannt werden. Für Hobbes bestand die Lösung des Problems der „unterschiedlichen privaten Meinun-
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gen“ im unitären Willen eines Souveräns, bei dem es sich idealerweise um einen Monarchen handeln sollte. Aristoteles hingegen sah den Schlüssel in der Annäherung vieler tugendhafter Bürger-Herrscher (als natürliche Teile) an die Gerechtigkeit als Gemeingut des Staates (als natürliches Ganzes). Da die Erziehung einen Weg zur Ausbildung von sozialer Identität darstellt und zu diesem Zweck ganz bewusst von weisen Machthabern installiert wurde, hielten Aristoteles und Hobbes sie für essenziell, um sich auf gesellschaftlicher Ebene einigen zu können. Wie Michael Bratman (1999: 93–161, 2014) gezeigt hat, kann gemeinsames Handeln philosophisch als komplexe gemeinschaftliche Aktivität erklärt werden. Bratman geht davon aus, dass Individuen Absichten haben: Zu sagen „wir beabsichtigen“, etwas zusammen zu tun, bedeutet zuallererst, dass Absichten, die zwei oder mehr Menschen haben, diesen gemeinsam sind: X beabsichtigt, etwas zu tun, und Y beabsichtigt, dasselbe zu tun. Anders als Rousseaus Konzept des „allgemeinen Willens“ erlauben gemeinsame Absichten berechtigte Debatten und Meinungsverschiedenheiten. Doch um gemeinsam handeln zu können, müssen Individuen nicht nur bestimmte Absichten gemeinsam haben, sondern auch ihre Pläne teilweise miteinander verzahnen, ein Minimum an Kooperationsbereitschaft zeigen und über relevante gemeinsame Kenntnisse verfügen. Bratmans Modell beruht auf dem minimalistischen Postulat einer Gruppe aus wenigstens zwei Personen, die sich zu einer einfachen gemeinsamen Aufgabe verpflichten (etwa zusammen ein Haus anzustreichen). Anna Stilz, Emilee Chapman und andere politische Theoretiker haben kürzlich gezeigt, dass Bratmans Ansatz für gemeinsames Handeln auch auf größere Gruppen übertragen werden und dazu beitragen kann, die gemeinsame Selbstregierung durch die Bürger eines großen demokratischen Staates zu erklären. Wählen etwa ist eine Form gemeinsamen Handelns, die – wenn sie richtig organisiert ist – alle Bedingungen Bratmans erfüllt. 4 Die nächste Annahme besteht darin, dass Menschen voneinander abhängig sind und daher miteinander kooperieren, wenn es um hohe
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Einsätze geht. Die Interdependenz, mit der ich mich hier beschäftige, ist eine Minimal-Bedingung. Sie meint nicht mehr, als dass Menschen einer Gemeinschaft einander brauchen, um ihre Existenz zu sichern. Unter den richtigen Voraussetzungen können sich Interdependenznetzwerke jedoch über die Grenzen der politischen Gemeinschaft und damit weit über das fürs Überleben Notwendige hinaus ausdehnen. Aber das Überleben kommt zuerst. Die Prämissen, die dieser Annahme zugrunde liegen, wurden mit Bezug auf Aristoteles und Hobbes bereits im Zusammenhang mit der Fähigkeit des Menschen zur Geselligkeit erörtert (Kapitel 5.1). Voneinander abhängige Lebewesen wie die Menschen müssen kooperieren, weil sie gezwungen sind, sich einander glaubhaft zu verpflichten, um eine funktionsfähige Gesellschaft zu erschaffen, die auf dem Eingehen glaubwürdiger Verpflichtungen zwischen den Mitgliedern basiert. Wenn eine Gesellschaft mit starkem Konkurrenzdruck oder anderen existenziellen Bedrohungen konfrontiert wird (etwa schwerwiegenden Klimaveränderungen) und es ihr nicht gelingt, ein adäquates soziales Kooperationsniveau zu sichern, steht sie vor ihrer Vernichtung (siehe weiter Ober 2008: 80–84). Sobald Bedingungen eintreten, die das individuelle und kollektive Überleben bedrohen, wächst mit der erhöhten Notwendigkeit, zu kooperieren, auch die Wahrscheinlichkeit, dass Mitglieder der Gemeinschaft ein verstärktes Interesse an öffentlichen Gütern entwickeln, die für die gemeinsame Sicherheit essenziell sind. Aristoteles und Hobbes begründeten ihre jeweiligen Thesen zu den Ursprüngen menschlicher Gemeinschaft auf Risiko-Szenarien. Die vergleichsweise geringe Gefährdungslage, der sich die wohlhabenden Bürger entwickelter Länder in der „postideologischen Ära“ nach dem Zweiten Weltkrieg ausgesetzt sahen, hat die liberale politische Theorie offenbar gegenüber der Erkenntnis abstumpfen lassen, dass Überleben und Interdependenz aufs Engste miteinander verknüpft sind. 5 Jetzt, in einer von Klimawandel, religiöser und ethnischer Gewalt, ökonomischen Verwerfungen und Massenflucht gekennzeichneten Epoche, sollte die Politikwissenschaft – was für Aristoteles und Hobbes
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ganz selbstverständlich gewesen wäre – diesem Aspekt in ihren Theorien vielleicht wieder etwas mehr Aufmerksamkeit schenken. Die letzte Annahme lautet, dass sich die Umwelten, in denen sich menschliche Gesellschaften entfalten, üblicherweise verändern. Umweltveränderungen können durch äußere Einwirkungen zustande kommen (neue Rivalen, technologische Veränderungen, Krieg, Klimawandel usw.) oder durch innere Faktoren bedingt sein, da Institutionen und Normen sich stetig weiterentwickeln. Durch den wiederholten Umgang und die Erfahrungen mit den Institutionen verändern sich vernunftbegabte und kommunikative menschliche Akteure ebenso wie die von ihnen geschaffenen Institutionen. Einige Veränderungen sind nur subtil, andere hingegen dramatisch. 6 Die Fähigkeit einer Gesellschaft, über längere Zeit die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Mitglieder zu gewährleisten, hängt nicht zuletzt davon ab, wie schnell und wirksam sie auf Veränderungen externer oder interner Umstände reagieren kann. Mit anderen Worten: Eine Gesellschaft muss dazu in der Lage sein, die Bedingungen sozialer Kooperation auf eine Weise zu revidieren, die neuen Herausforderungen effizient begegnet, ohne dabei die soziale Ordnung zu gefährden. Die Annahmen über Individualität, Interpendenz und Wandelbarkeit unterstreichen den Umstand, dass sich die Bürger einer Kerndemokratie, wenn sie in einer risikobehafteten Umwelt überleben wollen, Hobbes’ Herausforderung stellen und ein möglichst hohes soziales Kooperationsniveau erreichen müssen. Anders als der Absolutismus verfügt die Demokratie nicht über die Ressourcen einer zentralisierten Kontrollgewalt und einer unitären dritten Partei, die für die Durchsetzung von Verträgen sorgt. Ihr fehlen also die Instrumente des Hobbes’schen Souveräns, um ein soziales Kooperationsniveau zu erzwingen, das hoch genug ist, um Sicherheit und Prosperität zu gewährleisten. Wie also können Demokratien, obwohl sie aus so vielen verschiedenen, voneinander abhängigen herrenlosen Individuen bestehen, ausreichend öffentliche Güter bereitstellen, um gegen risikoreiche
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Herausforderungen in einer veränderlichen Welt gewappnet zu sein? Der Versuch, die zentralisierte Kontrollgewalt eines unitären Souveräns nachzuahmen, würde wahrscheinlich scheitern. Mit seiner Ansicht, dass ein sozial breit gefächerter Demos und besonders ein Demos, der durch das Gesetz beschränkt wird, dabei wohl ein recht schwaches Bild abgäbe, hatte Hobbes durchaus recht. Auch seine Behauptung, unter den richtigen Umständen (etwa im heutigen China) könne ein vom Gesetz nicht eingeschränkter Souverän (in diesem Fall eine kleine kohäsive Herrschergruppe) zumindest eine Zeit lang die Sicherheit und den wachsenden Wohlstand einer großen Gemeinschaft aus eigennützigen Individuen garantieren, war nicht falsch. Sein Fehler (die Quelle seiner falschen Voraussage, dass keine Kerndemokratie auf lange Sicht den prekären Bedingungen des Naturzustands entfliehen könne) war es, anzunehmen, dass die mit dem unitären Souverän verbundene zentralisierte Kontrollgewalt die einzige Möglichkeit darstellt, um angesichts von Individualismus, Interdependenz und Wandelbarkeit eine umfassende soziale Kooperation zu erreichen.
6.3. Wissen und kollektives Handeln Die Regeln, nach denen eine Gesellschaft geordnet ist, wirken sich unmittelbar auf ihre Anpassungsfähigkeit aus. So ist eine gut organisierte Kerndemokratie in der Lage, Hobbes’ Voraussage zu widerlegen, weil unter den richtigen Bedingungen die Vielfalt der Mitgliederansichten eher eine Bereicherung als eine Belastung darstellt. Vielfalt hat einen positiven Effekt, wenn die Probleme kollektiven Handelns durch ein System von beschränkter und gemeinsamer bürgerlicher Selbstregierung gelöst werden (wie Aristoteles es fordert). Unter solchen Umständen wird den einzelnen Bürgern mit ihren unterschiedlichen Kenntnissen und Fähigkeiten der Anreiz geboten, in sich selbst zu investieren (indem sie kurzfristige Gewinne zugunsten von mehr Erziehung oder Ausbildung zurückstellen), um dadurch
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ihre eigenen komparativen Vorteile zu erhöhen, das Humankapital ihrer Gemeinschaft zu vergrößern und das potenziell nützliche Wissen zu vermehren. Sobald sie nicht länger fürchten müssen, ausgenutzt zu werden und einen „Ertrag des Gimpels“ zu erleiden (indem sie durch naives Kooperieren mit strategisch unkooperativen Spielern Nutzwert opfern), haben Bürger allen Grund, ihr Wissen auszutauschen und beim Lösen von Problemen zusammenzuarbeiten, die die Sicherheit und das Wohlergehen aller betreffen. Die demokratischen Bedingungen Freiheit, Gleichheit und Würde regen nämlich nicht nur Investitionen in das Humankapital aller möglichen Bereiche an, sondern fördern auch die Offenlegung und den Austausch von Wissen, das durch diese Investitionen zusätzlich an Wert gewinnt. Eine wohlgeordnete demokratische Gesellschaft kann Umweltveränderungen entspringende Probleme durchaus effektiver lösen als ein Autokrat. Denn in einer Gesellschaft, in der die Menschen in ihre eigene Ausbildung investieren, besitzt nicht nur eine kleine Teilgruppe (etwa ein Herrscher und sein elitäres Bündnis) ohne Weiteres Zugang zu nützlichem Wissen, sondern jedes einzelne Mitglied. Und während freier Wissenszugang für die Herrschenden in einem Staat mit beschränktem Zugang oder einem autokratischen System gefährlich werden kann, ist beim Kollektiv einer Demokratie das Gegenteil der Fall. Die Vergrößerung des für Problemlösungen geeigneten Wissensschatzes kann nämlich nicht nur die mit der hierarchischen Befehlskette eines Autokraten verbundenen Effizienzgewinne, sondern auch etwaige Effizienzverluste kompensieren, die mit der Teilhabe vieler Individuen am demokratischen Regierungsprozess einhergehen (Ober 2008). Um sein Lösungspotenzial voll ausschöpfen zu können, muss das verfügbare Wissen freilich effektiv organisiert werden – was eine Frage der richtigen Gestaltung der Institutionen und Mechanismen ist, worauf wir an anderer Stelle noch zurückkommen werden. Doch zunächst befassen wir uns mit dem Problem des kollektiven Handelns. Damit eine Demokratie bei der Lösung von gemeinschaft-
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lichen Problemen den größtmöglichen Nutzen aus dem Einsatz ihrer Wissensressourcen ziehen kann, müssen die damit verbundenen Regeln und kulturellen Gepflogenheiten die Bürger dazu anregen, in sich selbst zu investieren, um sodann zu kooperieren und ihr Wissen mit anderen zu teilen, ohne sich um einen „Ertrag des Gimpels“ zu sorgen. Außerdem müssen – nachdem das Problem des kollektiven Handelns (ex hypothesi) gelöst wurde – die betreffenden Regeln und Gepflogenheiten so strukturiert werden, dass die richtige Art von Wissen zur richtigen Zeit an den richtigen Ort im „Lösungsraum“ gelangt. Unmengen von unstrukturiertem „Datenmüll“ aus Detailwissen richten bei der Suche nach der bestmöglichen Lösung bisweilen nämlich mehr Schaden an als ein Mangel an nützlichem Wissen. Die Frage, wie man durch die Organisation vielfältiger, verstreuter Wissensressourcen eine herrenlose soziale Kooperation erreichen kann, die beständig öffentliche Güter in einem für Sicherheit und Wohlergehen ausreichenden Umfang erzeugt, ist nicht leicht zu beantworten. Ohne Freiheit, Gleichheit und Würde geht es jedenfalls nicht.
6.4. Politische Freiheit und Gleichheit Bei Freiheit und Gleichheit handelt es sich um politische Bedingungen, die aufs Engste mit der Demokratie im Sinne einer gemeinsamen bürgerlichen Selbstregierung verknüpft sind. Für viele Menschen sind Freiheit oder Gleichheit (oder beides) gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Tyrannei. Wenn Freiheit und Gleichheit hingegen nicht als demokratische Ziele angesehen werden, wenn Bürger weder frei miteinander kommunizieren noch ihre Gedanken oder Informationen über Angelegenheiten von öffentlicher Relevanz austauschen können, kann man eine Regierung kaum bürgerlich nennen. 7 Und man kann schwerlich behaupten, sie würden sich selbst regieren, wenn Bürger keine politisch Gleichen sind. Die enge Beziehung von politischer Freiheit und Gleichheit zur
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Demokratie ist durch historische Zeugnisse belegt. Freiheit und Gleichheit werden von den meisten antiken griechischen Autoren für Kernkompetenzen und Kernwerte der Demokratie gehalten. Kritiker (z. B. Platon und andere politische Philosophen) wie Sympathisanten (z. B. Demosthenes und andere politische Redner) der in Athen und anderen griechischen Staaten praktizierten Demokratieform betrachteten das Versprechen von Freiheit und Gleichheit als hervorstechendstes Merkmal demokratischer Staaten. Freiheit bedeutete in demokratischen Stadtstaaten vor allem Rede- und Versammlungsfreiheit, aber auch, sich nicht vor unautorisierten Eingriffen oder willkürlichen Enteignungen durch mächtige Magistrate oder Privatleute fürchten zu müssen. Gleichheit hingegen bedeutete, die gleiche Stimme, das gleiche öffentliche Rederecht und den gleichen Zugang zum Gesetz, den Behörden oder anderen öffentlichen Institutionen zu haben wie alle anderen. 8 In einer breit gefächerten Gemeinschaft aus voneinander abhängigen Individuen, die regelmäßig aktiv an gemeinsamen Unternehmungen teilnehmen, können politische Freiheit und Gleichheit die Erzeugung von privaten und öffentlichen Gütern auf hohem Niveau fördern. Unter den richtigen institutionellen Bedingungen werden freie Individuen, die weder Enteignungen durch eine tyrannische Regierung noch nach dem Rent-Seeking-Prinzip agierende Eliten fürchten müssen, vernünftigerweise in die Entwicklung ihrer eigenen speziellen Fähigkeiten und Talente investieren und dadurch den allgemeinen Spezialisierungsgrad, den komparativen Kostenvorteil und das Humankapital der Gesellschaft erhöhen. Durch gleichen Zugang zu Institutionen (z. B. bei Schlichtungsverfahren) und öffentlichen Informationen (etwa über Handelsrechte) verringern sich zudem die Transaktionskosten, weil dadurch Informationsasymmetrie und Befangenheitstendenzen abnehmen, was nichts anderes bedeutet, als dass Amtsträger in ähnlichen Fällen nicht mehr ohne Weiteres unterschiedlich urteilen können. Und in dem Umfang, wie die Transaktionskosten sinken, werden das Transaktionsvolumen und die Transaktionsgewinne der Beteiligten steigen, was wiederum zu einer
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Erhöhung des gesellschaftlichen Gesamtvermögens führt. Außerdem ist es im Interesse aller freien und gleichen Bürger, ebendies auch zu bleiben, weshalb sie – wiederum unter den richtigen institutionellen Bedingungen – vernünftigerweise nützliche Informationen und Spezialwissen austauschen, wenn sie gemeinsam Politik über Angelegenheiten von allgemeinem Interesse machen. Wenn breit gestreutes technisches und soziales Wissen offengelegt und geteilt wird, kann die Gemeinschaft bessere und innovativere Lösungen im Hinblick auf die Herausforderungen einer sich verändernden Umwelt entwickeln. Je mehr das Humankapital wächst, je stärker die Transaktionskosten sinken und je besser die öffentliche Ordnung durch bessere Informationen und geteiltes Wissen wird, desto mehr vergrößert sich der Gesamtgewinn aus sozialer Kooperation. Wenn ein signifikanter Teil dieses Gewinns in öffentliches Gut investiert wird und private Gewinne breit verteilt sind, statt von Eliten als politische Renten abgeschöpft zu werden, wird die Gemeinschaft mit der Zeit immer sicherer und wohlhabender werden. Diese Entwicklung ist in der Geschichte Athens und anderer demokratischer griechischer Stadtstaaten hinreichend dokumentiert. 9 Auf die Gestaltung von Mechanismen, mit deren Hilfe eine Demokratie effektiv Wissen für eine bessere Gesamtpolitik anhäufen kann, kommen wir in Kapitel 7 zurück. Der Schlüssel für das richtige Design dieser Mechanismen – so viel sei an dieser Stelle bereits vorweggenommen – liegt zum einen darin, das verfügbare Fachwissen einzusetzen, ohne dabei eine Vereinnahmung der Regierung durch die Wissenseliten zu riskieren. Zum anderen muss politischem Versagen ebenso wie politischen Erfolgen die notwendige Beachtung geschenkt werden. Vorrangig stellt sich jedoch die Frage, wie ein Kollektiv aus herrenlosen Bürgern Bedingungen schaffen kann, in denen sich jedes Individuum nicht nur zur Befolgung der Regeln verpflichtet fühlt, auch wenn dies kostspielige persönliche Investitionen in Praktiken zum Erhalt öffentlicher Güter erfordert, sondern auch dazu, sich an der Bestrafung der Regelbrecher zu beteiligen.
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6.5. Bürgerwürde als gelebte Erfahrung Eine Demokratie kann nur dann nachhaltig für Sicherheit und Prosperität sorgen, wenn Freiheit und Gleichheit sich gegenseitig stützen und keines der beiden Prinzipien auf Kosten des anderen maximiert wird. Unter solchen Umständen leben Bürger ohne Furcht vor Enteignung und Ausbeutung und können ihr Leben dementsprechend planen. Ihr gleicher politischer Status geht dann mit einem hohen sozialen Status einher, sodass alle aufrecht stehen können, ohne sich in Furcht voreinander (in einem Hobbes’schen Naturzustand) oder in Ehrfurcht vor einem uneingeschränkten Herrscher (einem Hobbes’schen Souverän) ducken zu müssen. Die politische Freiheit und rechtliche sowie politische Gleichheit demokratischer Bürger sind gesichert, wenn die Mehrheitsmacht und die Befugnisse von Einzelnen oder Gruppen durch verfassungsmäßige Garantien beschränkt sind, die den Einzelnen vor willkürlichen Bedrohungen von Leib und Besitz schützen. Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts und die polizeilichen Übergriffe gegen afro-amerikanische Gemeinschaften haben jedoch in schmerzlicher Weise gezeigt, dass verfassungsmäßige Garantien nur dann von praktischem Wert sind, wenn sie im Leben der Menschen auch zum Tragen kommen. Die nach dem Bürgerkrieg formulierten Zusätze zur Verfassung der Vereinigten Staaten versprachen allen Bürgern Freiheit und Gleichheit. Dieses Versprechen wurde jedoch durch die systematische Erniedrigung unter Berufung auf die „Jim-Crow-Gesetze“ und rassistische Normen in vielen amerikanischen Bundesstaaten ausgehebelt. Damit Freiheit und Gleichheit nicht nur Lippenbekenntnisse bleiben und die Demokratie Sicherheit und Wohlstand als Basisgüter für alle bereitstellen kann, müssen auch die schwächsten und verletzlichsten Bürger in ihrem Alltag die Erfahrung machen, dass ihre Würde gewahrt bleibt. Sie müssen am eigenen Leib spüren, dass ihr Wert als teilhabende Bürger anerkannt wird und sie vor Erniedrigung und Bevormundung sicher sind. 10
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Im ersten Kapitel habe ich dargelegt, dass Kerndemokratie über ein implizites Ethos verfügt. Besonders deutlich werden die ethischen Aspekte von Demokratie, sobald es um Würde geht. Hier ist die Grenze zwischen politischem und zwischenmenschlichem Verhalten am durchlässigsten. Ein Bürger, der Opfer einer Erniedrigung durch mächtige öffentliche Amtsträger, Privatleute oder Interessengemeinschaften wird, ist nicht frei in dem für eine teilhabende Staatsbürgerschaft erforderlichen Sinne. Ein erwachsener Bürger, dessen Rede und Handeln wie die eines Kindes abgetan werden, ist nicht im maßgeblichen Sinne gleich. Und wie wir gesehen haben, wäre es unsinnig, ohne freie und gleiche Bürger von einer Demokratie zu sprechen. Durch den demokratischen Imperativ, die Würde jedes einzelnen Bürgers zu bewahren, entstehen Verfahrensvorschriften und Gepflogenheiten, mit deren Hilfe man die von Rechtsliberalen geforderte, auf die Entrechtung schwächerer Bürger hinauslaufende Maximierung der persönlichen Freiheit verhindern kann. Auch der linksegalitären Forderung nach einer Maximierung sozialer Gerechtigkeit, die die Eigentumsrechte der Bürger verletzen würde, wird auf diese Weise ein Riegel vorgeschoben. Eine angemessene Rücksichtnahme auf die Würde des Einzelnen schützt die Demokratie also vor der Bedrohung, die aus dem Missbrauch der Mehrheitsmacht für übersteigerte persönliche Freiheiten oder überzogene ökonomische Gleichheit erwachsen kann (siehe unten Kapitel 6.8). Würde dient außerdem dazu, die Werte der Kerndemokratie aufzufüllen. Ich habe behauptet, dass eine Kerndemokratie politische Freiheit und politische Gleichheit gewährleisten muss, um dauerhaft existieren zu können. Die politischen Ausdrucksformen von Freiheit und Gleichheit, die für den Erhalt einer Kerndemokratie erforderlich sind, erscheinen den Liberalen jeglicher Couleur jedoch vermutlich als viel zu „blutleer“. Liberale Projekte polstern Freiheit und/oder Gleichheit daher gerne ein wenig auf, indem sie den grundlegenden Inhalten – zumeist unter dem Stichwort Autonomie – Gerechtigkeit, inhärente Rechte und entsprechende moralische Pflichten hinzufügen.
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Auch der Blick auf die unabhängigen Anforderungen der Bürgerwürde fügt der gelebten Erfahrung demokratischer Bürgerschaft grundlegende Inhalte hinzu – wenn auch keine spezifisch liberalen oder moralischen (dagegen Christiano 2008: 138–154). Dies geschieht zudem so, dass ein nachhaltiges, sich selbst verstärkendes soziales Gleichgewicht einer breit gefächerten Bevölkerung gefördert wird, die sich aus rational-eigennützigen Individuen zusammensetzt. Kurz gesagt: Würde macht eine Kerndemokratie gehaltvoller und stärker. Das Konzept staatsbürgerlicher Würde spielt als Wert ebenso wie als eine Reihe von Praktiken eine wichtige Rolle in der staatsbürgerlichen Erziehung von Demopolis. Dieser Teil des Lehrplans gründet auf der Ansicht, dass Demütigung erfahrungsgemäß nicht nur denjenigen schadet, die sie erdulden müssen, sondern auch der Demokratie insgesamt, weshalb es Regeln zur Wahrung der Würde braucht. Gedemütigt zu werden, indem man mit Verachtung gestraft oder wie ein Kind behandelt wird, bringt für den Einzelnen Leid bzw. die Gefahr des Leidens mit sich. Wenn ich einer Demütigung ausgesetzt bin, werde ich von denen als minderwertig behandelt, die ihre eigene Überlegenheit geltend machen wollen. Wenn ich einer Bevormundung ausgesetzt bin, hält man mich für unfähig, meine eigenen Interessen zu erkennen und zu verfolgen. Sobald ein Erwachsenenleben von Erniedrigung und Bevormundung oder anhaltender Furcht davor geprägt ist, kann es sich um kein gutes Leben handeln. Auch wenn Würde allein für ein erfülltes Leben nicht ausreichen mag, ist ein Leben in Würde – ceteris paribus – zweifellos besser als ein würdeloses. Demütigung schadet jedoch – wie gesagt – nicht nur dem Einzelnen, sondern auch der Demokratie als gemeinsamer Selbstregierung. Erniedrigung ist unvereinbar mit der Art von Freiheit, die für den Erhalt von Demokratie notwendig ist, weil ein Mensch, der sie erfährt, nicht seine Meinung sagen oder die Art des freimütigen Umgangs mit anderen pflegen kann, die partizipatorisches Bürgersein verlangt. Wenn ich weiß, dass ich öffentlich gedemütigt werde, sobald
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ich meine Meinung über bestimmte Themen sage oder mit bestimmten Leuten verkehre, werde ich – sofern ich nicht so außergewöhnlich mutig bin, wie es z. B. viele Mitglieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung in der Mitte des 20. Jahrhunderts waren – vermutlich den Mund halten und auf besagten Umgang verzichten. Ich werde mich denjenigen beugen, die mich demütigen können, und um ihre Erlaubnis ersuchen, bevor ich spreche oder mich dazugeselle. Ich werde vor ihnen katzbuckeln und kriechen, wenn ich fürchten muss, dass die Ausübung meiner formalen politischen Freiheiten ihren Unmut erregen könnte. Wenn ich mit denjenigen, die mich erniedrigen, den öffentlichen Raum betrete, bin ich verkannt und unsichtbar. Meine Anwesenheit zählt in etwa so viel wie die eines Dieners auf einer aristokratischen Dinner-Party. 11 Ebenso ist Bevormundung nicht mit der Art von Gleichheit vereinbar, wie sie für den Erhalt von Demokratie erforderlich ist. Demokratie ist nur ein Lippenbekenntnis, wenn ich in der Öffentlichkeit spreche, meine Worte aber als kindisches Gebrabbel abgetan werden; wenn den Informationen und Argumenten, die ich vorbringe, ungeachtet ihrer Bedeutung für das Thema der öffentlichen Diskussion kein Respekt entgegengebracht wird; wenn man mir den Zugang zu Informationen verweigert, die notwendig sind, um mir eine begründete Meinung bilden zu können. Demokratie ist nur eine Illusion, wenn Bürger im Zustand der Bevormundung gehalten werden, indem man ihr Stimmrecht auf Optionen beschränkt, die zuvor als unbedenklich eingestuft oder von einer paternalistischen Elite genehmigt wurden. Demokratie als gemeinsame Selbstregierung kann nur dann funktionieren, wenn alle Bürger das gleiche hohe Ansehen haben. Dazu dürfen sie nicht in ihren Handlungen beeinträchtigt werden oder von Demütigung bedroht sein. Außerdem müssen sie angehört werden, ihre Stimme in Abstimmungen über wichtige Angelegenheiten muss genauso zählen wie die aller anderen und sie müssen selbst über riskante Optionen urteilen können. Der im 20. Jahrhundert geläufige Bürgerrechtsslogan „Ich bin ein Mensch“ richtete sich gegen Demütigung und Bevormundung, denn er forder-
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te den Respekt und die Anerkennung ein, auf die jeder Erwachsene einen Anspruch hat, weil er der Teilhabe an einer bürgerlichen Gesellschaft würdig ist. In Würde zu leben, schließt die Wertschätzung mit ein, die uns andere entgegenbringen, und die Art, wie wir generell von ihnen behandelt werden. Würde manifestiert sich darin, wie wir uns anderen gegenüber und wie sie sich uns gegenüber benehmen. Würde ist von beträchtlicher Bedeutung für eine Demokratie, denn sie ist eine Frage des Respekts und der Anerkennung, die wir einander in der Öffentlichkeit dadurch zeigen, dass wir uns durch unsere Worte und Taten als der politischen Teilhabe würdig erweisen. Bürgerwürde ist ein robustes Konzept, das von rationalem Eigennutz, allseits bekannten und akzeptierten Regeln sowie von verinnerlichten Normen und eingeübten Verhaltensweisen getragen wird, die sich aus der gemeinsamen Anerkennung ebendieser Regeln entwickelt haben. Im staatsbürgerlichen Kontext verwandelt sich Würde von einem knappen, der Laune eines Herrn oder einem Nullsummenkampf entspringenden Gut in eine reichlich vorhandene, allen zugängliche Ressource, die sich aus der Abstimmung derjenigen speist, die ein gemeinsames Interesse an ihrem Erhalt haben. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich vom Ruhm. Obwohl gerade in einer Kerndemokratie ein guter Grund dafür besteht, außerordentliche öffentliche Leistungen mit besonderen Ehrungen zu belohnen (siehe Kapitel 6.6), sorgt die Bürgerwürde für ein insgesamt hohes, alle Bürger einschließendes Respektsund Anerkennungsniveau. Durch die Schaffung einer allen Bürgern gemeinsamen Wissensbasis und von Anreizen, die dafür sorgen, dass Einzelne für das Gemeinwohl tätig werden, kann Bürgerwürde den Rückfall in die Tragik der Allmende verhindern. 12 Sobald Bürger einsehen, dass es besser ist, in einem System zu leben, das die Bürgerwürde hochhält, als in einer autokratischen Ordnung, in der die Untertanen stets Gefahr laufen, gedemütigt zu werden, haben sie allen Grund, auch die Würde anderer zu verteidigen. Die Mobilisierung von Bürgern zur Verteidigung der Würde wird durch Regeln (Gesetze und Normen) erleichtert, die definieren, wel-
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ches Verhalten einen Verstoß darstellt, und Rechtsmittel festlegen, mit deren Hilfe gemeinsam dagegen vorgegangen werden kann. Dazu müssen die demokratischen Institutionen über wohlverstandene Mechanismen verfügen und den Menschen (öffentlichen Amtsträgern und privaten Bürgern gleichermaßen) angemessene Anreize bieten, damit sie diejenigen, deren Würde etwa durch polizeiliche Einschüchterung oder Hassverbrechen verletzt wird, aktiv verteidigen. Wenn die Regeln entsprechend strukturiert sind, können jedes Mitglied und jede Gruppe einer bürgerlichen Gemeinschaft, die Demütigung erfahren, in dieser Hinsicht Hilfe von ihren Mitbürgern erwarten. In der Regel wird diese Hilfe darin bestehen, dass ihre Bürgergenossen etwa als Schöffen in den Gerichtshöfen sitzen. Aber sie kann auch in konkreten Handlungen einzelner Bürger oder der Bürgerschaft insgesamt zum Ausdruck kommen.
6.6. Ein Bürgerwürde-Spiel Ein demokratisches, die Bürgerwürde bewahrendes Gleichgewicht kann in einem einfachen Spiel mit zwei oder drei Spielern dargestellt werden. In diesem Spiel gibt es eine Regel (ein Gesetz oder eine Norm), die Demütigung verbietet, und diese Regel ist allgemein bekannt. Wir gehen ferner davon aus, dass es innerhalb der Gesellschaft Menschen gibt, die gemäß Hobbes vom Wunsch nach Selbsterhöhung angetrieben werden und durch die Erniedrigung anderer nach Bestätigung ihrer eigenen Überlegenheit suchen. Nehmen wir an, bei Spieler 1 (S1) handelt es sich um ein mächtiges Individuum (einen öffentlichen Amtsträger oder eine elitäre Privatperson), das Gefallen an der Demütigung schwacher (armer, verwirrter, kranker) Menschen findet. In der einfachsten, der Zwei-Spieler-Version des Spiels, muss sich S1 beim ersten Zug entscheiden, eine schwächere dritte Partei entweder zu respektieren oder zu demütigen, wobei er durch letztere Handlung die Regel verletzen würde, die ein solches Verhalten verbietet.
Ein Bürgerwürde-Spiel
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Wenn S1 demütigt und Spieler 2 (S2) – ein regelkundiger Normalbürger – Zeuge des von S1 begangenen Verstoßes wird, entscheidet sich S2 entweder dafür, die dritte Partei zu verteidigen oder die Beleidigung zu ignorieren. Wenn er entsprechend motiviert ist (wie oben in Kapitel 6.5 besprochen), wird S2 die dritte Partei eher in Schutz nehmen und die Beleidigung nicht übergehen. Wenn jedoch S1 davon ausgehen muss, dass S2 sich für die dritte Partei einsetzen und damit das von S1 bevorzugte Resultat, nämlich die kostenlose Demütigung eines anderen, blockieren wird, wird S1 sich entscheiden, die Würde der dritten Partei zu respektieren, anstatt den hohen Preis der Konfrontation mit S2 zu zahlen. Der Gleichgewichtspfad ist also „S1 respektiert die dritte Partei“ und das Ergebnis des Spiels „keine Herausforderung der Würde“ – sprich keine Demütigung der schwachen dritten Partei. Das Spiel stellt somit ein würdebewahrendes, soziales Gleichgewicht dar (Ober 2012: 832–835). Die ausführlichere, in Abbildung 6.1. dargestellte Drei-SpielerVersion des Spiels fügt der Gleichung die Möglichkeit besonderer öffentlicher Ehrungen hinzu. Das Spiel beginnt mit denselben Annahmen über S1 und die dritte Partei wie die Zwei-Spieler-Version. Wie zuvor zieht S1 die „Demütigung“ dem „Respekt“ vor und S2 überlegt sich, ob er dem mächtigen S1 die Stirn bieten soll. Doch in diesem Fall benötigt S2 die Hilfe anderer Bürger, wenn sein Eingreifen Erfolg haben soll. S2 könnte diese Hilfe suchen, indem er S1 in einem öffentlichen Prozess der illegalen Demütigung bezichtigt. S1 und S2 rivalisieren zudem miteinander um besondere öffentliche Ehrungen (etwa Ansehen oder ein politisches Amt) und streben daher beide nach öffentlicher Anerkennung. Spieler 3 ist ein Demos mit der Autorität, über Fälle illegaler Demütigung zu entscheiden und besondere öffentliche Ehrungen zu verteilen. Wenn S1 die dritte Partei respektiert, ehrt der Demos S1 oder niemanden. Wenn S1 die dritte Partei demütigt und S2 die Beleidigung ignoriert, entscheidet der Demos, ob S2 geehrt wird oder nicht. Wenn S2 die dritte Partei verteidigt, indem er S1 vor Gericht bringt, verurteilt der Demos S1 oder spricht ihn frei. „Würde verteidigt“ ist das Ergebnis, wenn S1 demü-
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tigt, S2 verteidigt und der Demos verurteilt. „Würde verloren“ ist das Resultat, wenn der Demos S1 freispricht oder S2 die Beleidigung ignoriert (unabhängig davon, ob S2 geehrt wird oder nicht). Und das Ergebnis ist „keine Herausforderung der Würde“, wenn S1 die Würde der dritten Partei respektiert (unabhängig davon, ob S1 geehrt wird oder nicht). Abb. 6.1. Das Drei-Spieler-Bürgerwürde-Spiel verurteilen
Würde verteidigt (-5, 4, 3)
freisprechen
Würde verloren (3, -5, -2)
nicht ehren 2
Würde verloren (5, -2, -3)
ehren 2
Würde verloren (-1, 5, -5)
Niemand wird geehrt
Keine Herausforderung der Würde (-2, 0, 4)
ehren 1
Keine Herausforderung der Würde (2, -3, 5)
3 verteidigen 2 demütigen ignorieren 1
3
respektieren
3
Bemerkungen: Spieler 1 und 2 rivalisieren um Ehrungen. Spieler 3 ist der Demos. Präferenzordnungen werden als quantitative Werte für jeden Spieler angezeigt (1, 2, 3). Die gestrichelte Linie stellt den Gleichgewichtspfad dar. Die gepunktete Linie gibt den Gleichgewichtspfad des Zwei-Spieler-Spiels wieder (gespielt von 2 und 3), wenn 1 sich für Demütigung entscheidet und den Pfad damit verlässt. Die Strich-Punkt-Linie bezeichnet den Gleichgewichtspfad für den Fall, dass 2 den Pfad durch „Ignorieren“ verlässt, nachdem 1 ihn zuvor bereits durch seine Entscheidung zur Demütigung verlassen hat.
Ein Bürgerwürde-Spiel
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Die in Abbildung 6.1 angegebenen Zahlen geben die Präferenzen jedes Spielers in Bezug auf die möglichen Ergebnisse des Spiels wieder. Die Zahlenwerte in Klammern hinter jedem Ergebnis repräsentieren dessen Wert für jeden Spieler (in der Reihenfolge S1, S2, S3: Demos): 5 bedeutet exzellent, 0 neutral und -5 sehr schlecht. Jeder Spieler strebt angesichts der Züge der anderen nach dem höchsten Resultat für sich selbst. Das bestmögliche Ergebnis für S1 (Wert 5) besteht in der kostenlosen Demütigung der dritten Partei, während seinem Rivalen (S2) zugleich die Ehrungen verweigert werden. Die Annahme hierbei ist, dass die Ehrungen für S2 zwar vorgeschlagen, aber vom Demos abgelehnt wurden. Das nächstbeste Ergebnis (Wert 3) ist der Freispruch. Der Wert ist geringer, weil S1 sich der Gerichtsverhandlung stellen muss. Das drittbeste Ergebnis (Wert 2) besteht im Verzicht auf die Demütigung bei gleichzeitigen öffentlichen Ehrungen. Die Annahme in diesem Fall ist, dass S1 ebenso nach öffentlichen Ehrungen strebt wie S2. Das viertbeste (Wert -1) ergibt sich aus der Demütigung der dritten Partei auf Kosten der Ehrung seines Rivalen. Das fünftbeste (Wert -2) besteht im Verzicht auf die Herausforderung der Würde, ohne selbst in den Genuss von Ehrungen zu kommen. Die Annahme hierbei ist, dass keine Ehrungen vorgeschlagen wurden. Das schlechteste Ergebnis (Wert -5) kommt durch die extrem hohen Kosten eines juristischen Schuldspruchs zustande. Das beste Ergebnis für S2 (Wert 5) besteht im Gewinn von Ehrungen ohne Kosten für ihn selbst. Sein nächstbestes Ergebnis (Wert 4) kommt durch den Sieg über seinen Rivalen und die Erhöhung seines Ansehens durch das Erreichen eines Schuldspruchs vor Gericht zustande. Das drittbeste: Er ist gleichgültig (Wert 0) gegenüber einer Welt, in der die Würde nicht herausgefordert und niemand geehrt wird. Das viertbeste (Wert -2) ist die Verweigerung eigener Ehrungen. Das fünftbeste (Wert -3) wäre die Ehrung seines Rivalen. Das schlechteste Ergebnis (Wert -5) besteht im Freispruch von S1, der auf diese Weise sein bevorzugtes Ergebnis erzielt und auf Kosten von S2 an Ansehen gewinnt.
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S3: Der Demos bevorzugt die Situation (Wert 5), in der die Würde nicht herausgefordert und prosoziales Verhalten der Bürger honoriert wird. Er zieht das Ehren dem Nicht-Ehren vor, weil Ehrungen die Bereitschaft der Bürger erhöhen, die potenziell hohen Kosten eines aktiven staatsbürgerlichen Engagements zu akzeptieren. Das nächstbeste Ergebnis wäre ein Zustand (Wert 4), in dem es nicht zu einer Herausforderung der Würde kommt und keine Ehrungen vergeben werden. Das drittbeste (Wert 3) besteht in der Verurteilung des Regelübertreters: Die Gewinne (das Spektakel der Verhandlung, die Staatseinnahmen aus den Bußgeldern) übersteigen die Kosten, die durch die Abhaltung des Prozesses entstehen. Nicht sonderlich erstrebenswert ist das viertbeste Ergebnis, bei dem es zu einem Freispruch in der Verhandlung kommt (Wert -2): Obwohl die Autorität des Demos durch das Abhalten des Prozesses gewahrt bleibt, wird S1 womöglich wieder gegen die Regeln verstoßen. Ähnlich verhält es sich beim fünftbesten (Wert -3), das im Verlust der Würde besteht, ohne dass es zu einer Gerichtsverhandlung kommt, während S2 zugleich die Ehrungen verweigert werden. Das schlechteste Ergebnis (Wert -5) ergibt sich aus dem Verlust der Würde und der gleichzeitigen Ehrung von S2, obwohl dieser bei der Verteidigung der dritten Partei so schmählich versagt hat. Das Gleichgewicht des Spiels definiert sich wie folgt: Weil die Reihenfolge der Demos-Präferenzen dazu führt, dass S2 eingreift, wenn S1 demütigt, besteht die beste Option für S1 darin, die Würde nicht herauszufordern und stattdessen geehrt zu werden, was zugleich das prognostizierte Ergebnis darstellt. Der Gleichgewichtspfad (Abbildung 6.1., gestrichelte Linie) ist: S1 respektiert und der Demos ehrt S1. Wie in der einfacheren Zwei-Spieler-Version, auf der diese Drei-Spieler-Version basiert, ist dieses Spiel ein teilspielperfektes Nash-Gleichgewicht. Wenn aber S1 den Gleichgewichtspfad verlässt, indem er sich für die Demütigung entscheidet, besteht der Gleichgewichtspfad im entstehenden Zwei-Parteien-Unterspiel (Abbildung 6.1., gepunktete Linie) darin, dass S2 verteidigt und der Demos verurteilt. Das prognostizierte Ergebnis lautet demnach „Würde vertei-
Ein Bürgerwürde-Spiel
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digt“. „Würde verloren“ ist nur dann das prognostizierte Ergebnis, wenn S2 den Pfad zerstört, weil er die Beleidigung ignoriert, während S1 abseits des Pfades demütigt. In diesem Fall wäre der Gleichgewichtspfad „keine Ehrung für S2“ (Abbildung 6.1., strich-gepunktete Linie). Dieses erweiterte Spiel vereinfacht die in einer realen Gesellschaft herrschenden Bedingungen, ganz unabhängig davon, wie demokratisch sie auch sein mag, zweifellos sehr stark. In der realen Welt wird es immer vom Gleichgewichtspfad abweichendes Verhalten geben, weil Menschen nicht als vollkommen rationale und informierte Akteure agieren. Aber durch seine Vereinfachung illustriert das Spiel, wie demokratische Institutionen (Regeln, die Demütigung verbieten, und der Demos als kollektiver Akteur) zusammen mit staatsbürgerlichen Normen, in denen prosozialer Wettbewerb in Form von Rivalität um öffentliche Ehrungen erlaubt ist, Verhaltensgrundlagen schaffen, die einer Verteidigung der Bürgerwürde zuträglich sind. Wie wir in Kapitel 4.3 gesehen haben, sind Menschen, die leidenschaftlich nach Anerkennung streben, wahrscheinlich unzufrieden in einer Gesellschaft, die von einem Hobbes’schen Monarchen oder Bündnis beherrscht wird: In Gegenwart des Souveräns, vor dem niemand mehr als ein Diener ist, sieht sich der Ruhmsüchtige gezwungen, im statusniedrigen Zustand der Gleichheit mit allen anderen zu verharren. Ob Ehrungen erwiesen werden oder Schmach erduldet werden muss, liegt allein im Ermessen des Souveräns. Allerdings wird der Souverän Schwierigkeiten haben, die Unzufriedenen an ihrem Streben nach Selbsterhöhung zu hindern, denn es ist nicht leicht, jene Art menschenverachtendes Verhalten zu überwachen und zu unterbinden, das – wie Hobbes richtig erkannt hat – zu einer Destabilisierung des Systems führt. Die Agenten des Souveräns können nicht immer überall sein. Durch ihren Hang zum Hochmut könnten die Ruhmsüchtigen nebenbei weniger Loyalität an den Tag legen, wenn es darum geht, die Wünsche des Souveräns zu erfüllen. Dadurch ist der Leviathan weit weniger gefestigt, als er es im Fall einer universellen Präferenzordnung wäre, in der die Furcht vor dem Tod stets
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an erster Stelle steht, denn sie würde das menschliche Verhalten vorhersagbar machen. Hobbes eigene realistische Einschätzung der menschlichen Psychologie droht somit sein schönes rationales Gedankenexperiment zu unterminieren. Eine kerndemokratische Ordnung leidet nicht unter derartigen Beeinträchtigungen. Ein Einzelner kann vom Demos für seine außerordentlichen Dienste an der Gemeinschaft geehrt und damit in den Augen der Öffentlichkeit erhöht werden, ohne dass dadurch die Bürgerwürde anderer Schaden nimmt. Und ein Empfänger von Ehrungen steht nicht im unüberwindlichen Schatten eines Monarchen oder elitären Bündnisses. Wie das Spiel zeigt, ist es vorteilhaft für den Demos, seine Ehrungen auf eine für den Einzelnen kalkulierbare Weise zu erweisen bzw. zu verweigern. Vor diesem Hintergrund können einfache Bürger praktisch immer und überall als Wächter agieren und als Ersthelfer eingreifen, wenn es zu Verletzungen der Würde kommt. Und sie haben allen Grund, die Kosten zu tragen, die es mit sich bringt, aufkeimenden Bedrohungen der Würde entgegenzutreten. In einer realen Gesellschaft verteidigen die Menschen die Würde anderer natürlich nicht nur aus Eigennutz. Sie handeln aus moralischer Empörung heraus oder schlicht aus Altruismus, was würdebewahrende staatsbürgerliche Ordnungen zusätzlich stärkt und auf eine breitere Grundlage stellt. In erster Linie davon abhängig sind sie jedoch nicht. 13
6.7. Würde und staatsbürgerliche Tugenden Es beinhaltet durchaus Risiken, Individuen oder Körperschaften zur Verantwortung zu ziehen, die danach trachten, andere zu erniedrigen – denn die Regelübertreter und ihre Verbündeten könnten Vergeltungsmaßnahmen ergreifen. Deshalb ist bis zu einem gewissen Grad auch Mut gefragt. Die Verteidigung der Bürgerwürde kann folglich nicht ohne die Sekundärtugend der Zivilcourage gelingen (Balot 2014). Die Bürgerwürde verlangt dem einzelnen Bürger jedoch kein
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übertriebenes Maß an Mut ab: Niemand braucht so todesmutig zu sein, wie es einige Mitglieder der Bürgerrechtsbewegung waren, solange andere Bürger bereit und in der Lage sind, ihr Handeln miteinander abzustimmen. Das gelingt ihnen, wenn sie Regeln aufstellen und mittragen, die eine sofortige Antwort auf Bedrohungen der Würde ermöglichen. Als Bürger einer Gemeinschaft mit klar strukturierten Regeln darf ich also vernünftigerweise erwarten, dass die Mitglieder meiner Gemeinschaft aktiv werden (und durch die Schaffung der richtigen Institutionen bereits präventiv aktiv geworden sind), um meine Würde zu verteidigen. Zum Teil tun sie das, weil sie anerkennen, dass es in ihrem eigenen Interesse als Individuen liegt, die 1.) ihrerseits durch die Arroganz der Starken bedroht werden können, 2.) mit der Verteidigung ihrer eigenen Würde beschäftigt sind und 3.) erkennen, dass die Bewahrung der Würde die Hilfe von Mitbürgern erfordert. Bürgerwürde ist daher zugleich tugendhaft, reziprok und rational. 14 In einer Kerndemokratie wird die Verantwortung einer Bürgergruppe für die Wahrung der Würde aller gesetzlich geregelt und in der politischen Kultur verankert. Das Gesetz dient dabei als Kristallisationspunkt (der Begriff geht auf Schelling 1980 [1960] zurück), indem es eine effektive Koordinierung der Handlungen von Amtsträgern und Bürgern gewährleistet (Weingast 1997). Weil allgemein bekannt ist, dass die Verantwortung für das Reagieren auf Bedrohungen der Würde eine gegenseitige ist, kann ich davon ausgehen, dass meine Entscheidung, zur Verteidigung eines anderen einzuschreiten, mit den Präferenzen und Interessen meiner Mitbürger konform geht und sie ihre Handlungen mit den meinen abstimmen werden. Wenn ich jemand anderen verteidige, verhalte ich mich also nicht naiv und laufe nicht Gefahr, einen „Ertrag des Gimpels“ zu erfahren. Und so wird, um es noch einmal zu sagen, unsere kollektive Würde als Bürgerschaft garantiert, wenn sich jeder Einzelne ganz bewusst für das System einsetzt, weil es letztlich für das Wohlergehen jedes Einzelnen sorgt. Um ein auf Respekt und Anerkennung basierendes System inner-
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halb einer umfangreichen, aus ganz unterschiedlichen Individuen bestehenden Bevölkerung aufrechterhalten zu können, bedarf es jedoch einer weiteren bürgerlichen Sekundärtugend: Selbstbeherrschung (in der klassischen griechischen Ethik: Sophrosyne). Als Bürger sollten wir freiwillig von selbst erhöhenden Handlungen absehen, wenn sie die Würde eines anderen kompromittieren könnten. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Die Vernunft sorgt dafür, dass es gar nicht so sehr auf die Tugend des Einzelnen ankommt. Auch wenn wohl jeder von uns jenen Drang nach arroganter Selbstüberhöhung in sich trägt, den Hobbes als endemisch ansah, verzichten wir als vernünftige Bürger aus drei einander überschneidenden Gründen dennoch darauf, diesem Impuls zu folgen: Erstens, weil wir die Regeln kennen und wissen, dass unser Verhalten von vielen anderen beobachtet wird, die umgehend darauf reagieren, wenn wir die Regeln brechen. Wir erwarten also, für unsere Verstöße bestraft zu werden. Zweitens, weil die Erziehung durch ebendiese Regeln unseren zeitlichen Horizont erweitert hat. Wir glauben nun, dass es auf lange Sicht in unserem Interesse ist, auf kurzfristige Freuden zu verzichten, wenn sie auf Kosten der Würde anderer gehen. Und drittens haben wir Würde als motivierende Norm verinnerlicht, sodass arrogantes Handeln kein simpler Quell der Freude mehr ist. Es ist unwahrscheinlich, dass wir echten Genuss dabei empfinden, andere zu erniedrigen oder zu bevormunden. 15 Der Schlüssel zur Aufrechterhaltung einer auf Bürgerwürde basierenden Ordnung liegt demnach in der gemeinsamen Verpflichtung aller Bürger, die Würde zu respektieren und zu schützen. Ferner muss Einigkeit darüber bestehen, welches die richtigen Handlungen sind, um dieses Ziel zu erreichen. Wenn wir erkennen, dass die Bewahrung des Systems bürgerlicher Würde im Interesse aller ist, wird jeder von uns seinen Teil der Verantwortung dafür übernehmen. Und jedem von uns wird bewusst werden, dass wir einander und der Gemeinschaft verpflichtet sind, sodass Pflichterfüllung unter den gegebenen institutionellen und kulturellen Bedingungen eine rationale Entscheidung darstellt.
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Wenn jeder von uns das Richtige tut, also korrekt handelt und damit seine Pflichten erfüllt, bewahren wir gemeinsam die Würde von uns allen. Wenn wir außerdem unser Verhalten miteinander abstimmen, indem wir Rechtsnormen als Kristallisationspunkte verwenden, um Entscheidungen und Handlungen entsprechend anzupassen, ist niemand stark genug, um die Regeln ungestraft zu brechen, und niemand bleibt ungeschützt, ganz gleich, wie schwach er auch sein mag. Es stärkt unser Engagement und Einvernehmen, wenn wir anerkennen, dass nur koordiniertes Verhalten unsere Würde erhält. Und der Wettbewerb der Ehrgeizigen um Ehrungen kann ein solches Verhalten sogar fördern, solange das nicht-rivalisierende Gut der Bürgerwürde dabei unangetastet bleibt. Darüber hinaus wird das System durch Reputationseffekte gestärkt, wenn Bürger diejenigen, die nicht zum Erhalt des Würdesystems beitragen, gemeinsam tadeln und sanktionieren, während sie zugleich diejenigen loben und belohnen, die sich bei der Verteidigung der Würde auszeichnen. 16 Tatsächlich steht die Bürgerwürde dem Wunsch, sich hervorzutun, oder der Erwartung, für herausragende Leistungen entsprechend anerkannt zu werden, durchaus nicht im Wege. Wie das Drei-Spieler-Spiel nahelegt, schafft die Bürgerwürde sogar Raum für die Anerkennung außerordentlicher Verdienste und die Bewilligung besonderer Ehrungen an solche, die sie wünschen und verdienen. Eine entsprechend angepasste Form der kompetitiven Meritokratie kann in einem auf Bürgerwürde basierenden System demnach funktionieren, solange sich das Streben nach öffentlich anerkannter Exzellenz an prosozialen Zielen orientiert. Hinzu kommt, dass die Verteidigung der Bürgerwürde innerhalb einer Bürgerschaft keineswegs dazu führen muss, dass den Bürgern die Würde derjenigen gleichgültig ist, die nicht zur Bürgergemeinschaft gehören. Tatsächlich haben Bürger ein rationales Interesse an der Bewahrung der Würde von Nicht-Bürgern, wenn ihr Leben über Netzwerke aus gegenseitiger Abhängigkeit und/oder Vertrautheit mit dem von Nicht-Bürgern verbunden ist oder wenn Bürger nicht ohne Weiteres von Nicht-Bürgern zu unterscheiden sind. Um die Interes-
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sen ihrer Bürger zu verteidigen, kann eine Kerndemokratie daher den gesetzlichen Schutz über den Kreis der eigentlichen Bürger hinaus erweitern (Ober 2005: Kapitel 5). Es ist natürlich nicht auszuschließen, dass innerhalb einer Bürgerschaft selbstgefällige und boshafte Formen von Borniertheit entstehen (Kateb 2006). Aber ebenso kann das Gespür für Bedrohungen der Bürgerwürde auch dazu führen, dass der Wert der Menschenwürde an sich erkannt wird (Ober 212: 844). Das Beispiel der Bürgerwürde verdeutlicht, wie eine Demokratie durch ein sich selbst verstärkendes Gleichgewicht (wie unvollkommen es im Detail auch verwirklicht sein mag) in einer Bevölkerung aus (mehr oder weniger) eigennützigen Individuen getragen wird. Das Würdesystem basiert auf den rationalen und sachkundigen Entscheidungen von Bürgern, die genau wissen, dass auch sie selbst mit Bedrohungen konfrontiert sein können. Jeder Einzelne handelt auf vorhersehbare, das System stützende Weise, indem er die Kosten trägt, die das Reagieren auf Bedrohungen mit sich bringt. Denn er darf vernünftigerweise erwarten, dass sein eigenes Leben besser wird, wenn er sich so verhält. Ermöglicht wird die Koordinierung eines breit gefächerten Kollektivs aus individuellen sozialen Akteuren durch die allgemeine Kenntnis der geltenden Regeln, während die Chance auf die Erlangung staatsbürgerlicher Ehren als Belohnung für außerordentliche Leistungen den Einzelnen zugleich dazu anspornt, die Initiative zu ergreifen.
6.8. Zwischen Freiheit und Gleichheit Da von den Bürgern in Demopolis ein Handeln wie das von verantwortungsbewussten Erwachsenen erwartet wird, dürfen sie ihrerseits erwarten, ebenfalls wie solche behandelt zu werden. Deshalb sind die Regeln von Demopolis und die Erziehung, die der Rechtfertigung dieser Regeln dient, nicht-paternalistisch. Als Erwachsener behandelt zu werden, ohne sich einer paternalistischen Intervention unterord-
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nen zu müssen, bedeutet Entscheidungsfreiheit. Dadurch werden die Bürger freilich mit Risiken konfrontiert, die Eltern ihre Kinder niemals eingehen ließen, und erhalten Zugang zu Informationen, die Eltern von ihren Kindern fernhalten würden. Eltern gehen zu Recht davon aus, dass die Fähigkeit ihrer Kinder, die potenziellen Kosten gegen die zu erwartenden Vorteile abzuwägen, noch nicht voll entwickelt ist und dass sie durch den falschen Gebrauch von Informationen die Risiken wahrscheinlich nicht richtig einschätzen können. Um sie zu beschützen, neigen Eltern dazu, ihren Kindern bestimmte Informationen vorzuenthalten (z. B. wie man einen Herd einschaltet, ein Auto startet oder ein Gewehr lädt), die sie dazu verleiten könnten, etwas zu tun, was ihnen selbst schaden könnte. Auch die Fähigkeit erwachsener Bürger, Risiken zu bewerten oder Informationen zu verarbeiten, ist natürlich nicht unfehlbar. Die Regierung eines demokratischen Staates könnte daher versuchen, ihre Bürger vor einigen Risiken zu beschützen, ohne sie dabei zu bevormunden. So wird sie aus Gründen der nationalen Sicherheit bestimmte Informationen geheim halten oder von Autofahrern verlangen, Sicherheitsgurte anzulegen. Weil jedoch Würde eine notwendige Voraussetzung für Demokratie ist, darf ein demokratischer Staat kein paternalistischer sein. In aller Regel muss er den Bürgern daher erlauben, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und er muss die Ausnahmen von dieser Regel ihnen gegenüber rechtfertigen. 17 Seine eigenen Entscheidungen in unterschiedlichsten Bereichen zu treffen (Politik, Finanzen, Beruf, zwischenmenschliche Beziehungen, Sport), birgt Risiken. Risiken auf sich zu nehmen und die Konsequenzen inhärent riskanter Entscheidungen zu akzeptieren, ist jedoch eine Grundbedingung des Handelns als echter Erwachsener und verantwortungsvoller Bürger. Wenn wir in Würde leben wollen, müssen wir die Möglichkeit haben, riskante Entscheidungen zu treffen bzw. an riskanten Entscheidungen teilzuhaben, die nachhaltigen Einfluss auf uns selbst und die Gemeinschaft als Ganze haben. Von Erwachsenen darf man erwarten, dass sie Risiken im Allgemeinen besser einschätzen als Kinder. Dennoch können wir unsere Umwelt
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niemals vollständig kontrollieren. Jeder Mensch ist geradezu chronisch Fehlern ausgesetzt (eigenen oder denen anderer) und den Launen des Schicksals unterworfen. Wenn wir Entscheidungen treffen, versuchen wir, die Risiken abzuschätzen; dafür denken wir nach, kommunizieren und beurteilen die Pläne anderer. Unsere Bewertungen sind jedoch unvollkommen und können Fehleinschätzungen unterliegen. Ein unvorhergesehenes Ereignis kann auch die beste Kalkulation über den Haufen werfen (Kahneman 2011). Aber Risikobewertungen bleiben so lange rational, wie sie auf guten Gründen und zutreffenden Informationen beruhen. Und sie werden umso besser, je mehr wir lernen, systematische Fehleinschätzungen in unserem eigenen und dem Denken anderer zu erkennen. Informationen gelangen auf verschiedene Weise zu den Akteuren. Die Informationen, die nötig sind, um Risiken abzuwägen und Fehleinschätzungen zu vermeiden, können aus privaten wie aus öffentlichen Quellen kommen. In einer Bürgergemeinschaft gehören adäquat publizierte Regeln sowie allgemein bekannte Normen und Gepflogenheiten zu den unabdingbaren öffentlichen Informationen. Die Bürgerwürde schützt das Recht aller Bürger, persönliche Entscheidungen zu treffen, als teilhabende Mitglieder der Bürgergemeinschaft zu agieren und öffentliche Entscheidungen über gemeinschaftliche Belange zu treffen. Sie erlaubt es Erwachsenen, als Erwachsene zu agieren, denn sie können Informationen anwenden und Risiken abwägen. Die Bevormundung der Erwachsenen durch das Verbot, riskante private und öffentliche Entscheidungen treffen zu dürfen, wird durch die Bürgerwürde verhindert. Sie gestattet der Demokratie, eine positive regulierende Rolle in Bezug auf Freiheit und Gleichheit auszuüben. Nicht-Bevormundung ermöglicht es Bürgern, über widersprüchliche Anforderungen von Freiheit und Gleichheit zu urteilen, und verhindert, dass die beiden Faktoren aus dem Gleichgewicht geraten. Auf diese Weise schiebt die Nicht-Bevormundung sowohl der Entstehung eines aufdringlichen Gouvernantenstaates, der darauf versessen ist, alle Reste von Ungleichheit zu beseitigen, wie auch der
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vorsätzlichen Beibehaltung großer Ungleichheiten im Namen der individuellen Freiheit einen Riegel vor. 18 In Würde zu leben, bedeutet, jeder Mensch muss die Freiheit haben, logische Entscheidungen in Bezug auf unterschiedlichste risikobehaftete Angelegenheiten zu treffen. Wir müssen auf der Grundlage unserer eigenen Risikobewertungen und Nutzenabwägungen selbst bestimmen können, ob wir etwas tun oder lassen und ob wir für diesen oder jenen Kandidaten bzw. für diese oder jene Politik stimmen. Unsere Würde ist gewahrt (das heißt, wir werden nicht wie Kinder behandelt, die vor bestimmtem Wissen geschützt werden müssen, das sie zu übermäßig riskanten Handlungsweisen verleiten könnte), wenn jeder von uns einen adäquaten Zugang zu Informationen hat, die für unsere Entscheidungen von Bedeutung sind. Da öffentliche Informationen für die Risikobewertung überaus wichtig sind, liegt es in der Verantwortung der Bürger (insbesondere solcher, die ein Staatsamt bekleiden), einander relevante Informationen zugänglich zu machen. Andererseits wird unsere Würde durch Falschinformationen bedroht, weil sie uns dazu verleiten können, persönliche (etwa gewagte Investitionen) oder kollektive Risiken einzugehen (z. B. eine gefährliche öffentliche Politik), auf die wir uns nicht eingelassen hätten, wenn wir in Besitz der korrekten Informationen gewesen wären. Das Vortäuschen und Verschleiern von Informationen schadet der Würde vor allem dann, wenn es von behördlicher Seite ausgeht. Amtsträger bevormunden Bürger, wenn sie ihnen den Zugang zu wichtigen Informationen verweigern oder sie mit falschen Informationen versorgen – etwa, wenn sie die Risiken verbergen, die mit privaten oder öffentlichen Investitionen verbunden sind. 19 Die Würde ist allerdings auch durch einen behördlichen Paternalismus bedroht, der vorgibt, alle Zufallseffekte und Risikoauswirkungen aus unserem Leben oder unseren Entscheidungen zu tilgen. Eine Staatsgewalt, die Bürger der Möglichkeit beraubt, auf der Grundlage individueller Risiko- und Chancenbewertungen nach eigenem Gutdünken zu handeln oder abzustimmen, greift deren Würde an. Eine solche Staats-
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gewalt behandelt ihre Bürger wie Mündel, die eines von der Regierung bestellten Vormunds bedürfen. Man traut ihnen schlicht und einfach nicht zu, Verstand und Informationen auf die richtige Weise einzusetzen, wenn es um Entscheidungen geht, die schwerwiegende Folgen für sie selbst und die Gemeinschaft haben können. 20 Wie wir in Kapitel 3.4 und 6.4 gesehen haben, sind Freiheit (der Entscheidung, insbesondere in Bezug auf Rede- und Vereinigungsfreiheit) und Gleichheit (des Status und der Möglichkeiten, insbesondere in Bezug auf Gesetz und öffentliche Entscheidungsfindung) notwendige Bedingungen für Demokratie. Doch wie schlägt eine Demokratie den richtigen Kurs ein, wenn die Anforderungen von Freiheit und Gleichheit einander zuwiderlaufen? Wie sollen demokratische Bürger zwischen den politischen Optionen entscheiden, wenn Freiheit und Gleichheit nicht gleichzeitig maximiert werden können? Wie das Prinzip der Würde durch das Verhindern von Bevormundung das Kontinuum der Verteilungsgerechtigkeit einschränkt, ist in Abbildung 6.2. dargestellt. Abb. 6.2. Einschränkungen der Verteilungsgerechtigkeit Libertärer Kurs Egalitärer Kurs
G
Kontinuum der Verteilungsgerechtigkeit
Unwürde aufdringlicher Gouvernantenstaat
Würdezone (Nicht-Bevormundung)
F Unwürde Mangel an Ressourcen
Bemerkungen: Das Kontinuum der Verteilungsgerechtigkeit reicht von völliger Gleichheit (G) bis zu totaler Freiheit (F). Der libertäre Kurs drängt nach links, der egalitäre nach rechts. Es hängt von Würdeerwägungen ab, wie weit G und F ihren jeweiligen Kursen folgen können. Die Unzulässigkeit von Unwürde in einem demokratischen System definiert die Grenzen egalitärer und libertärer Ambitionen. Die Würdezone zwischen den beiden senkrechten Pfeilen ist der Bereich innerhalb des Kontinuums, in dem die Nicht-Bevormundung der Bürger gewährleistet ist. Diese Zone definiert den akzeptablen
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Bereich politischer Optionen für demokratische Verteilungsgerechtigkeit. Der Demos einer Kerndemokratie kann seine Verteilungspolitik an jedem beliebigen Punkt des Kontinuums innerhalb der Würdezone ansetzen, nicht jedoch außerhalb.
Die Bedrohung der Würde durch den Paternalismus liefert eine argumentative Handhabe gegen jene verbindlichen Formen des Egalitarismus, die Zufallseffekte ganz und gar aus dem Leben der Menschen verbannen wollen: Sie schränken die Möglichkeiten des Einzelnen, eigene riskante Entscheidungen zu treffen, radikal ein oder vermeiden die Auswirkungen dieser Entscheidungen vollkommen. Eine Politik, die alle Auswirkungen des Zufalls auf die Chancen des Einzelnen ausmerzen will (etwa durch die Beseitigung aller durch die Erziehung und den Bildungsstand bedingten Effekte), oder die versucht, exakt gleiche Ergebnisse durchzusetzen, erfordert umfangreiche paternalistische Eingriffe in das Leben der Menschen – Eingriffe, die offenkundig einer Bevormundung gleichen. Da Bürgerwürde auf dem gleichen öffentlichen Status aller Bürger als Mitglieder einer politischen Gemeinschaft basiert, setzt sie dem Umfang des staatlichen Paternalismus enge Grenzen, auch wenn dieser bis zu einem gewissen Grad ein legitimes Mittel auf dem Weg zu mehr Verteilungsgerechtigkeit ist. Wenn wir auf die Frage vorausblicken, was „Demokratie ohne Liberalismus“ den Liberalen bieten kann (ebenso wie den nicht-liberalen Gegnern der Tyrannei: Kapitel 8), kann eine Theorie der Kerndemokratie der liberalen Theorie (insbesondere Rawls’ Rangordnung) zusätzliche Gründe liefern, weshalb die Ansprüche der Freiheit bisweilen Vorrang gegenüber denjenigen der Gleichheit haben müssen. 21 Bürgerwürde erfordert demnach eine Regierung, die allen Bürgern den Zugang zu Ressourcen ermöglicht, die es ihnen erlauben, öffentliche wie private Entscheidungen zu fällen und als Bürger eine anspruchsvolle, inhärent risikobehaftete politische Rolle in der Gemeinschaft zu übernehmen. Menschen, die man der materiellen Basisgüter beraubt, die sie benötigen, um anständig zu leben und für die Zukunft zu planen, sind letztlich genauso in ihren Wahlmöglichkei-
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ten eingeschränkt wie die mündelartigen Untertanen eines Gouvernantenstaates. Deshalb fördert eine redistributive öffentliche Wohlfahrtspolitik, die in ausreichendem Umfang Ernährung, Unterkunft, persönliche Sicherheit, Ausbildung und Gesundheitsversorgung aller Bürger sicherstellt, letztlich die Würde, denn sie gestattet es dem Einzelnen, bedeutende persönliche Entscheidungen zu treffen, kalkulierte Risiken einzugehen und am Gemeingut teilzuhaben. Um die Würde der Bürger sicherzustellen, müssen also in angemessenem Umfang öffentliche Ressourcen bereitgestellt werden. Nur so bekommt jeder Bürger die Möglichkeit, private Risiken einzugehen (etwa zugunsten von Investitionen in die eigene Ausbildung, die in der Zukunft zu noch größeren Gewinnen führen kann, auf kurzfristige Gewinne zu verzichten) und an öffentlichen Angelegenheiten teilzuhaben. Die Würde bildet somit ein Bollwerk gegen extreme Formen des Wirtschaftsliberalismus. Zwar schränkt sie die individuelle Freiheit ein, um sicherzustellen, dass alle Bürger Entscheidungen treffen und in vollem Umfang an der Gemeinschaft teilhaben können. Doch indem sie das tut, sorgt die Würde für ein Minimum an materiellen Basisgütern (das weiße Feld in Abbildung 3.2.), ohne die das Leben nicht wirklich lebenswert sein kann. 22 Indem sie extremen Formen von Freiheit (der Missachtung des Staates) oder Gleichheit (staatlichem Paternalismus) eine Absage erteilt, beschreitet die Kerndemokratie einen Mittelweg, auf dem jeder Einzelne letztlich so viel Freiheit und Gleichheit genießt, wie mit der Würde aller vereinbar ist. Wie im ersten Kapitel erwähnt, kann Demokratie ohne den Liberalismus zwar nicht mit einem konkreten Konzept für Verteilungsgerechtigkeit aufwarten. Aber sie ist mit einem inhärenten Mechanismus ausgestattet, der es ihr erlaubt, die gegensätzlichen Ansprüche egalitärer und libertärer Gerechtigkeitskonzepte zu organisieren. Wie andere Aspekte von Demokratie ohne Liberalismus wird auch die hier ausgeführte Theorie der Bürgerwürde durch historische Zeugnisse untermauert (wenn auch nicht bewiesen). Obwohl der altgriechischen Sprache ein voll ausgearbeitetes, an dasjenige von Frei-
Anmerkungen
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heit und Gleichheit angepasstes Würde-Vokabular fehlt, sind die grundsätzlichen, oben skizzierten Aspekte von Demütigung und Bevormundung im demokratischen athenischen Rechtsdiskurs über Ehre (timé), den Vorgang der „Entehrung“ (hybris) und in den entsprechenden persönlichen und öffentlichen Äußerungen dazu bestens repräsentiert. Im klassischen Athen konnten aktiv nach Ehrungen strebende Bürger, die außerordentliche Zivilcourage oder Großzügigkeit zeigten, erwarten, dass ihnen dafür formale öffentliche Anerkennung gezollt wurde (Whitehead 1993; Lambert 2011; Domingo 2016). Andererseits zogen Handlungen von Magistraten oder anmaßenden Privatpersonen, die man als Bedrohung für den Status der Bürger wahrnahm, gesetzliche Sanktionen nach sich und konnten zu einer lebhaften Reaktion verantwortungsvoller Bürger führen. 23 Im nächsten Kapitel wenden wir uns der Frage zu, wie eine direkte Demokratie die Institutionen und Praktiken von partizipatorischer Selbstregierung und Bürgerwürde bewahren kann, wenn sie einerseits die Früchte von Expertenwissen zur Entscheidungsfindung und zur öffentlichen Ordnung erntet, während sie andererseits vermeiden muss, zur Beute ebendieser Wissenseliten zu werden. Als Rahmen für die Beantwortung zumindest einiger Aspekte dieser Frage bietet sich einmal mehr das historische Beispiel des klassischen Athen an. Um jedoch zu beweisen, dass eine Theorie der Kerndemokratie tatsächlich von Relevanz für die Moderne ist, muss ich zeigen, dass sie nicht vollständig auf direktdemokratischen Prozeduren beruht und nicht nur im kleinen Maßstab eines antiken Stadtstaates funktioniert. Anmerkungen 1
Das ist die Kernthese von Schmitt (1932a) über „den Ausnahmefall“, aber auch von Theoretikern der „bürgerlichen Unfähigkeit“ wie Achen und Bartels 2016. 2 Runciman 2013 führt die Gefahren aus, die mit der Selbstüberschätzung verbunden sind. Wenn sie ihre Fähigkeit zum „Durchwursteln“ bereits unter Beweis gestellt haben, neigen Demokraten zu dem Irrglauben, sich auf ähnliche Weise durch alle denkbaren Krisen lavieren zu können.
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Natürlich muss ein System politischer Entscheidungsfindung und -umsetzung, das in der Vergangenheit gut funktioniert hat, nicht zwingend auch zur Lösung zukünftiger Probleme geeignet sein. Aber die potenzielle Unzulänglichkeit existierender Herangehensweisen (und damit die Möglichkeit eines produktiven institutionellen Wandels) kann nur im Rahmen eines demokratischen Prozesses thematisiert werden und das auch nur dann, wenn die Bürger verstehen, wie das System arbeitet. Das Gleichgewicht zwischen Lernen und Innovation zu finden, ist die vielleicht größte Herausforderung für eine Demokratie: Ober 2008a. 4 Zur Anwendung von Bratmans Theorie des gemeinsamen Handelns im Bereich demokratischer Politik: Stilz 2011; zum Wählen: Chapman 2016. Ich selbst habe die Anwendung von Bratmans Modell auf die athenische Demokratie erörtert in Ober 2008: Kapitel 1 unter spezieller Bezugnahme auf die Ausarbeitung von Bratmans Theorien durch List und Pettit 2011; s. ferner Ober 2013. Pettits komplexes „Zwei-Aspekte-Modell“ von Demokratie (Pettit 2013; bes. 285–292), das die Bedeutung des Einflusses und der Kontrolle durch den Demos betont, versucht die Ambivalenz zwischen den (intentionellen oder nicht-intentionellen) Handlungen vieler Individuen bei der „Bildung“ einer politischen Ordnung und dem daraus entstehenden „Staatsvolk“ aufzulösen, das man sich als staatlichen, mit einem unabhängigen Willen versehenen Akteur vorstellen kann. Pettit unterscheidet diesen Akteur von Rousseaus Begriff des allgemeinen Willens und von der fiktiven öffentlichen Person, die Hobbes’ politischer Souverän darstellt. Ich selbst habe es ganz bewusst vermieden, vom einheitlichen Willen und von Volkssouveränität (im Sinne der staatlichen Autorität schlechthin im Gegensatz zum rechtlichen Status eines Landes in einer Staatenökologie) zu sprechen, weil diese Begriffe m. E. mehr verbergen, als sie über die demokratischen politischen Prozesse erklären, mit denen ich mich hier befasse. Siehe ferner Espejo 2011: bes. Kapitel 2–3. 5 Obwohl internationale Beziehungen im Zeitalter der Atomwaffen überaus risikobehaftet sind, scheint sich die politische Theorie nur am Rande damit zu befassen. Dieser Aspekt wurde gewissermaßen ausgelagert und den wenigen realistischen Theoretikern internationaler Beziehungen und einigen marginalisierten Pazifisten überlassen. Zur realistischen politischen Theorie des 20. Jahrhunderts im Schatten des nuklearen Holocaust s. McQueen 2017. 6 Das Aufhalten des endogenen Wandlungsprozesses ist seit der Antike ein fundamentales Ziel von politisch Konservativen. Beispiele enthalten Platons Staat, in dem jede Veränderung nach der Etablierung des idealen Staates von Kallipolis degenerativ ist, und Der Staatsmann, wo sich in Abwesenheit eines echten Experten ein „zweitbester“ Regierungsansatz auf Gesetze gründet, die
Anmerkungen
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gegen Veränderungen resistent sind. Der von William F. Buckley festgelegte Leitsatz (19. November 1955) für die konservative National Review lautete „Sie stellt sich der Geschichte in den Weg und ruft ‚Stopp‘.“ Dagegen beschreiben Konservative und Demokraten gleichermaßen die Demokratie als systematisch empfänglich für Veränderungen. 7 Der Unterschied zwischen der Pflicht eines Bürgers, seine Stimme zu erheben, und der Pflicht eines autokratischen Untertanen, ebendies nicht zu tun, wird durch eine Passage von Kant unterstrichen. Als Reaktion auf einen Befehl König Friedrich Wilhelms II., er solle mit dem Schreiben über Religion aufhören, meinte Kant: „Wiederruf und Verläugnung seiner inneren Überzeugung ist niederträchtig und kann niemandem zugemutet werden; aber Schweigen in einem Falle wie der Gegenwärtige ist Unterthanspflicht und wenn alles was man sagt wahr seyn muß so ist darum nicht auch Plicht alle Wahrheit öffentlich zu sagen“ (AA 12.380). 8 Siehe die Aufsätze von Ostwald, Hansen, Raaflaub und Cartledge in Ober und Hendrick 1996. 9 Für eine detailliertere Diskussion darüber, wie und warum Freiheit und Gleichheit das Humankapital vergrößern, die Transaktionskosten senken und eine effektive Anhäufung nützlichen Wissens ermöglichen, siehe Ober 2008, 2010, 2013, 2015b. 10 Polizeischikane als fundamentaler Bruch rechtsstaatlicher Regeln: Gowder 2016. Dieser Abschnitt ist an Ober 2012 angelehnt. 11 Demütigung ist eher eine soziale Lage als eine Emotion. Sie ist etwas völlig anderes als Schmach und hat eine andere Beziehung zur Politik. Zu Demokratie und Schmach s. Saxonhouse 2006; Tarnopolsky 2010. Sie unterscheidet sich auch sehr von Demut oder Bescheidenheit: So ist z. B. in der demütigen Haltung eines frommen Menschen in Gegenwart einer göttlichen Manifestation, eines weltlichen angesichts eines Naturwunders oder eines Anfängers vor einem Meister keinerlei Erniedrigung vonnöten. Sich anstelle von Stolz für Demut oder für bescheidene Verhältnisse anstelle von Grandezza zu entscheiden, ist ohne Zweifel mit einem Leben ohne Demütigung und Bevormundung vereinbar. 12 Soziale Beachtung und Anerkennung: Hegel, Philosophie des Rechts; Würde als Sichtbarkeit: Ralph Ellison, Der unsichtbare Mann (1952 [dt. 1995]), nach Allen 2004. Anerkennung und Würde: Taylor 1994. Würde, Respekt und Reziprozität: Gutmann und Thompson 1996. Soziale Grundlagen von Selbstachtung (nicht Selbstachtung im Sinne einer Einstellung zu sich selbst) als Teil der von Bürgern verlangten Primärgüter in einer gerechten Gesellschaft: Rawls 2001: 58–60. Würde als soziale Beziehung und Voraussetzung
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6 · Bürgerwürde und andere notwendige Bedingungen
(zusammen mit materiellem Wohlergehen und Autonomie) für Gerechtigkeit: Cohen 1997; Darwell 2006; Christiano 2008: besonders 63, 93. 13 Von modernen Staaten zur Verteidigung der Ehre aufgestellte Regeln schließen Gesetze gegen Hassdelikte ein. Nichtsdestotrotz treten Bürger Hassdelikten bisweilen in Form koordinierter Handlungen kollektiv entgegen; siehe z. B. http://www.niot.org (abgerufen am 26. März 2016). Neben staatlichen Gesetzen existieren auch eine ganze Reihe von öffentlichen und privaten Organisationen mit einem breiten Spektrum formaler wie informeller Regeln und Mechanismen, die etwaigen Bedrohungen der Würde ihrer Mitglieder entgegenwirken. Solche Bedrohungen müssen noch nicht einmal krimineller Natur sein, um Wiedergutmachung zu verlangen. Für die Angehörigen moderner amerikanischer Universitäten geltende Vorschriften etwa verbieten viele Aktivitäten, die nach staatlichem Recht nicht strafbar sind. 14 Die Vorstellung, dass sich der Schwache mit anderen abstimmt, um die Starken in Schranken zu halten, war dem politischen Denken der Griechen durchaus vertraut: vgl. Platon, Gorgias 483b–e. 15 Vgl. Platon, Der Staatsmann, wo staatsbürgerliche Ordnung vom Gleichgewicht zwischen Mut und Mäßigung abhängig gemacht wird. Selbstbeherrschung/Mäßigung/Besonnenheit (Sophrosyne) ist eine der vier klassischen Tugenden (zusammen mit Mut, Weisheit und Gerechtigkeit), die im bewertenden Vokabular des demokratischen Athen vom mittelmäßigen/gemäßigten/würdigen (metrios) Bürger verkörpert wurde. Hier wie an anderer Stelle beziehe ich mich auf Aristoteles’ (Nikomachische Ethik) Theorie des ethischen Trainings durch Gewöhnung und Praxis (askesis). 16 Über die prosoziale Rolle von Achtung und Missachtung vgl. Brennan und Pettit 2004. 17 Die würdebasierte Ablehnung von Paternalismus spricht Regierungen nicht davon frei, Bürger zu prosozialem Verhalten zu ermutigen, etwa durch die Anwendung des „Opt Out-Verfahrens“ anstelle des „Opt In-Verfahrens“ beim Entwurf von Formularen, mit denen Bürger entscheiden, ob sie ihre Organe im Fall eines Unfalltodes spenden wollen (Kahneman 2011: 373). Auch die legitime Autorität einer Regierung, Menschen vom Eingehen bestimmter persönlicher Risiken abzuhalten, wird dadurch nicht infrage gestellt. Meine Würde ist nicht ernstlich kompromittiert, weil ich von Gesetzes wegen dazu gezwungen bin, beim Autofahren einen Sicherheitsgurt anzulegen. Die Einschränkung ist geringfügig und der Gesamtnutzen offensichtlich. Aber die Bürgerwürde begrenzt den Umfang öffentlicher Autorität: Sobald das Ausmaß einer Regelung zur Risikominderung an Bevormundung grenzt, bedroht sie die Würde.
Anmerkungen 18
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Ich folge Williams 2005: Kapitel 9 („Freiheits- und Gleichheitskonflikte“) gegen Rousseau und Dworkin, indem ich davon ausgehe, dass es in einem Staat, den seine Bürger als legitim akzeptieren, Konflikte zwischen freiheitsund gleichheitsbasierten Ansprüchen geben kann (und wird). 19 Aristoteles, Politik 1278a24–40, 1297a7–13 wendet sich aus ähnlichen Gründen gegen die Täuschung der Bürger durch den Staat oder seine Machthaber. Er widerspricht damit Platons Position im Staat, wo Kallipolis von „edlen Lügen“ getragen wird. In diesem Licht betrachtet, war die systematische Fehlinformation, mit der die Bush-Regierung die Invasion des Irak gegenüber dem amerikanischen Volk (und dem Rest der Welt) gerechtfertigt hat, ein Angriff auf die Bürgerwürde. 20 Siehe Anderson 2007 über die Notwendigkeit von Risikoelementen bei der Einrichtung der Umverteilungsskala im demokratischen Egalitarismus. 21 Rawls 1971, 1996, 2001. Siehe ferner Anderson 1999, 2007. Glücksegalitaristen versuchen die mit Ergebnisgleichheit verbundenen Probleme zu vermeiden, indem sie den Wert der Chancengleichheit betonen, die gewährleisten soll, dass Menschen eine echte Wahl haben. Die Idee dabei ist, dass alles am selben Punkt beginnt (sprich: identische Gene, Erziehung, Ausbildung, Gesundheit und gleiches Einkommen) – welche Entscheidungen Menschen anschließend treffen, liegt dann ganz in ihrer eigenen Verantwortung. Doch wie Anderson (s. o.) als Erwiderung auf glücksegalitaristische Kritiker ausführt, geht die strikte Unterscheidung in „wahlfreier (Un-)Glücksfall/nicht wahlfreier (Un-)Glücksfall“ fehl, da jeder Punkt eines Lebenswegs als ein neuer Anfang angesehen werden kann, der einen Neustart in perfekter Gleichheit verlangt. Daraus würde folgen, dass individuelle Entscheidungen keinerlei Auswirkungen hätten, was den Grundgedanken des Glücksegalitarismus ad absurdum führt, der ja gerade darin besteht, die Wahlmöglichkeit zu erhalten. 22 Ein ähnliches Argument für ein wirtschaftliches Minimum und gegen einen strengen Libertarismus wurde aus anderen Gründen von Christiano 2008: 112–116, 261, 272–274 vorgebracht. 23 Ich diskutiere die athenischen Belege für den Diskurs und die Praxis der Verteidigung von Würde in Ober 2000 (= 2005: Kapitel 5), 2011: 840–843.
Kapitel 7
Delegierung und Fachwissen Ausgehend von den Imperativen der Teilhabe und Würde muss die Kerndemokratie staatliche Bevormundung ablehnen. Die Bürger sind aufgerufen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und Verantwortung für sie zu übernehmen. Wenn sie kollektiv wie unvernünftige Kinder handeln, gibt es keinen Erwachsenen, an den sie sich wenden können, wenn etwas schiefgeht. Es gibt keinen klugen Steuermann mit fester Hand am Steuerruder des Staatsschiffs (in Platons berühmter Metapher), keine technokratische Bürokratenelite, die bereitsteht, die Dinge in die Hand zu nehmen, falls der politische Prozess nicht funktionieren sollte. Allerdings ist auch eine Kerndemokratie wie jede Regierungsform in einer wandelbaren und kompetitiven Umgebung auf Fachwissen angewiesen, wenn sie Sicherheit und Wohlstand erreichen und bewahren will. Die Kerndemokratie kann auf die „Weisheit der vielen“ hoffen, aber sie kann nicht ohne wirklich fachkundige Expertise auf vielen schwierigen, für die Politik wichtigen Feldern auskommen. Zudem muss der Expertenrat eingeholt werden, ohne die nicht-bevormundenden Bedingungen der bürgerlichen Selbstverwaltung dafür zu opfern. Die antiken Athener erfanden Mechanismen, die den direktdemokratischen Regierungsinstitutionen den Zugang zur Expertise ebneten, doch um eine Bevormundung zu umgehen, bedarf es nicht notwendigerweise einer direkten Demokratie im athenischen Stil. Die Bürger einer großen, modernen Kerndemokratie können die Macht der normalen Gesetzgebung an gewählte Repräsentanten delegieren. Sie müssen allerdings institutionelle Schutzvorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass Repräsentanten und Experten nicht die legitime Macht des Demos untergraben. Der Demos muss fähig sein, selbst zu regieren. 1
Schlafender Souverän oder wachsamer Demos?
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7.1. Schlafender Souverän oder wachsamer Demos? Ausgehend von der griechischen Geschichte können wir damit rechnen, dass in Krisenzeiten das sonst bestehende Vertrauen des Demos in die eigene kollektive Urteilskraft einer gewissen Unsicherheit weicht. Sie kann einem populistischen Führer den Weg bahnen, der verspricht, im Namen des Demos zu handeln, und versichert, dessen geheimsten Sehnsüchten eine Stimme zu geben und die väterliche Autorität auszuüben, die der Demokratie zuvor gefehlt hat. Im Staat (Bücher 8 und 9) warnte Platon davor, die Demokratie würde Tyrannen hervorbringen. Er beschrieb einen Regierungskreislauf, in dem gerade die besonders typischen Verhaltensweisen freiheits- und gleichheitsliebender Demokraten letztendlich zur übelsten und repressivsten Form der Tyrannei führten. In Athen kam Platons hypothetisches Szenario nicht zum Tragen (die kurze Tyrannei der Dreißig nach dem Peloponnesischen Krieg war von Sparta eingesetzt und nicht von den Athenern gewählt worden), doch ist nicht zu leugnen, dass einer Demokratie oftmals eine Tyrannei folgte – in der Antike wie in der Moderne. Die Angst, ein unfähiger Demos werde eine sehr schlechte Politik machen und/oder die Demokratie werde eine Tyrannei hervorbringen, führte zu Theorien, die eine Delegierung der Macht auf einen Repräsentanten als eine einmalige, auf Dauer angelegte Entscheidung fordern. Wie Luc Foisneau (2016) betont hat, vertrat auch Thomas Hobbes in Leviathan diese Position. Das Gedankenexperiment, in dem Hobbes seinen nicht an Gesetze gebundenen Herrscher einsetzt, beginnt mit einer bindenden Mehrheitsentscheidung derjenigen, die die Untertanen des Souveräns sein werden, sobald der Vertrag geschlossen ist. Im entscheidenden Moment übergibt der Demos seine Entscheidungsmacht endgültig und unwiderruflich. Nur wenn ein Souverän (in welcher Gestalt auch immer) irrational den Tod ansonsten gehorsamer Untertanen fordert, dürfen sie ihren Kontrakt lösen; sie kehren dann zum anarchischen Naturzustand zurück. Richard Tuck (2016) bezieht sich auf die frühmoderne politische
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7 · Delegierung und Fachwissen
Theorie, wenn er behauptet, die moderne Demokratie sei entstanden, als der Demos seine Macht delegierte und zum „schlafenden Souverän“ wurde. Dahinter steht die Vorstellung, dass das Volk die souveräne Macht behält, sich aber komplett aus der Regierungstätigkeit zurückzieht. Ein teilhabender Demokrat wird diesen Schlaf des Demos-Souveräns als Koma deuten, das in jeder wichtigen politischen Hinsicht nicht vom Tod zu unterscheiden ist. Doch selbst wenn der Demos aus seinem Schlummer erwachen sollte, wird nach Hobbes der rationale Eigennutz die Bürger davon abhalten, sich in die Regierung einzumischen, solange der Herrscher nicht zum Mörder wird. Die zeitgenössische liberale Theorie versucht ebenfalls, die Regierung von der höchstinstanzlichen Souveränität des Volkes zu trennen: Sie verweist auf die Rolle verfassungsrechtlicher checks and balances, auf unabhängige Justiz- und Ordnungsbehörden oder auch auf das Burke’sche Ideal kompetenter Repräsentanten, die zwischen den Wahlen ohne Einmischung ihrer Wähler regieren. 2 Die Idee des schlafenden Souveräns entstand, wie Tuck (2016) zeigt, zunächst in monarchischen Regimen, in denen die Individualität und Sterblichkeit des Königs als Problem betrachtet wurde. So gibt ein individueller Souverän selbst im bewusstlosen Zustand während des Schlafens seine königliche Macht nicht auf. Noch kritischer wird es, wenn dieser einzelne Souverän ein Kleinkind ist oder in Gefangenschaft gerät und dadurch seinen Untertanen keine Befehle erteilen kann. Das Dilemma wurde gelöst, indem man die legitime Macht des Monarchen konzeptuell vom Regieren des Staates trennte. Ein Demos ist ein Kollektiv; das Problem der Sterblichkeit des Monarchen besteht nicht in einer Demokratie. Weil ein Demos in Aristoteles’ Worten „viele Füße und viele Hände und viele Sinneswerkzeuge hat“ (Politik 3.11.1281b5), beeinträchtigen ihn nicht die Schwierigkeiten, die zu der Metapher vom schlafenden Souverän führten. Ein teilhabender Demos kann wachsam bleiben und muss in der Lage sein, delegierte Macht auch wieder zu entziehen, ohne sich die Kosten der Anarchie aufzuladen. Tatsächlich besteht die Teilhabe in einer Kerndemokratie, in der die Gesetzgebung an Repräsen-
Schlafender Souverän oder wachsamer Demos?
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tanten delegiert worden ist, sogar in eben dieser Wachsamkeit und Reaktionsbereitschaft. Der Demos kann und muss wie der riesige, vieläugige Wächter der griechischen Mythologie, Argos Panoptes, die Augen stets offen halten. Der Mythos über den Riesen, der vom listigen Gott Hermes auf Geheiß des tyrannischen Zeus eingeschläfert und getötet wird, erinnert die Bürger von Demopolis daran, sich nicht durch rhetorische Kniffe, so genial sie auch sein mögen, einlullen lassen zu dürfen. Die Bürgerschaft muss reagieren können, sobald sie eine Verletzung der Bedingungen feststellt, unter denen sie die Macht delegiert hat. Wenn man davon ausgeht, dass der Demos seine Repräsentanten rund um die Uhr bewacht, stellt sich die Frage, wie die Bürger einer Kerndemokratie Fachleute oder Expertise, die nicht in leicht verfügbarer Form für den Normalbürger niedergelegt ist, einsetzen können. Warum vertreibt der Schatten der ständigen Wachsamkeit des Demos die Fachleute zusammen mit dem nur ihnen zugänglichen Fachwissen nicht aus dem politischen System? Ohne Zugang zu Fachwissen wird die Demokratie unter einer fundamentalen Unwissenheit leiden. Und das tut sie auch nach Meinung der Kritiker, die von den epistemischen Grenzen der Bürger sprechen, wie wir später noch sehen werden. Wie kann die Kerndemokratie auf diesen vernichtenden Vorwurf reagieren? Die Expertise ist mit der Teilhabe verbunden. Die erste Grundregel von Demopolis lautet: Alle Bürger beteiligen sich an der Arbeit, die gemeinsame Selbstregierung aufrechtzuerhalten (Kapitel 3.3). Die Bürger von Demopolis willigen ein, die Teilhabekosten der Kerndemokratie zu zahlen, weil sie diese Kosten als unerlässlich für die Bewahrung der drei Staatszwecke anerkennen und weil sie Teilhabe als einen Vorteil erkennen. Weil sie aber auch angemessene Möglichkeiten fordern, Projekte zu verfolgen, die weit von ihrem staatsbürgerlichen Leben entfernt sind, müssen die Regierungslasten durch eine Beschränkung der Gelegenheitskosten möglichst gering gehalten werden. In einem kleinen Staat wie dem klassischen Athen befähigte eine begrenzte direkte Teilhabe der Bürger an der Regierung, in der
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7 · Delegierung und Fachwissen
gesetzgebenden Versammlung, als Geschworene oder als per Los bestimmte Amtsträger die Demokratie, die Zwecke Sicherheit und Wohlstand zu erfüllen. Athenische Bürger hatten Raum für ihre eigenen Projekte und es ging dem demokratischen Athen verglichen mit den rivalisierenden Stadtstaaten gut, ohne dass es nötig war, das Rechtssystem gewählten Repräsentanten zu übertragen und eine aufwendige Regierungsbürokratie zu etablieren. Man kann sich allerdings nur schwer vorstellen, wie sich ein großer, komplexer moderner Nationalstaat im Alltag durch die regelmäßige direkte Teilhabe aller Bürger regieren lässt. Wenn die Kerndemokratie die Herausforderungen der Größe und Komplexität in der Moderne meistern und Fachwissen einsetzen soll, muss sie fähig sein, Macht zu delegieren.
7.2. Systematische Korruption und die Gefahr einer Tyrannei Nehmen wir einmal an, die Verfassung von Demopolis sei nach der Festsetzung der Grundregeln, die ich in Kapitel 3 umrissen habe, ausgearbeitet worden, sodass sie jetzt die Delegierung politischer Macht vom Demos auf Repräsentanten erlaubt. Die Form der Repräsentation spezifiziere ich nicht näher. Man könnte die Repräsentanten mithilfe einer der heute in modernen Staaten üblichen Wahlmethoden oder einer Methode der Entscheidungstheoretiker wählen oder sie per Los bestimmen (so wie es Reformer vorgeschlagen haben, die die Demokratie effektiver gestalten wollen). Ich lege auch nicht fest, inwieweit die Repräsentanten die Präferenzen ihrer Wählerschaft umsetzen müssen, statt ihrem eigenen unabhängigen Urteil zu folgen. Es genügt, davon auszugehen, dass die Repräsentanten delegierte Macht ausüben werden, um die Politik festzulegen, auszuführen und durchzusetzen, und dass die Staatszwecke dieselben bleiben: Wohlstand, Sicherheit und Nicht-Tyrannei. 3 Nicht-Tyrannei bedeutet, die Machtausübung der Repräsentanten unterliegt der Bedingung, dass die Bestimmungen nicht verletzt werden, unter denen ihnen die Verwaltungsgerichtsbarkeit übertra-
Systematische Korruption und die Gefahr einer Tyrannei
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gen wurde. In diesen Bestimmungen ist mindestens festgelegt, dass die Repräsentanten keine Politik gegen die Interessen des Demos machen dürfen, wie sie sich in den drei Staatszwecken ausdrücken. Von manchen politischen Maßnahmen wird nur ein Teil des Demos profitieren, doch die Repräsentanten dürfen keine Regeln aufstellen und durchsetzen, die einzig und allein ihren eigenen Interessen zuträglich sind. Das heißt, ein Repräsentant, der eigennützig handelt und auf Kosten der gemeinsamen Interessen der gesamten Bürgerschaft seine eigenen Partikularinteressen befriedigen will, verletzt die Bedingungen, unter denen der Demos die Macht delegiert hat. Wenn diese Verletzung nicht geahndet wird, hat der Staat faktisch einen Herrn, und das Ende der Nicht-Tyrannei ist eingeläutet. Unter manchen Umständen können Repräsentanten, die die Bedingungen ihrer Ernennung verletzen, durch die bekannten Wahlprozesse beseitigt werden: Man wählt im Nachhinein die „Versager“ ab. Kompetitive Parteipolitik ist ein gängiger Mechanismus, der es einer Bürgerschaft erleichtern soll, nicht zufriedenstellende Repräsentanten aus dem Amt zu entfernen. Unter anderen Umständen kann eine Verfassung, die so ausgelegt ist, dass sie die verschiedenen Regierungsgewalten untereinander ausbalanciert, gegen Verletzungen vorgehen. Ein korrupter Gesetzgeber kann etwa durch einen Gerichtsprozess zur Rechenschaft gezogen werden. 4 Doch weder der Wettbewerb an der Wahlurne noch konstitutionelle checks and balances werden greifen, wenn eine ganze politische Klasse zu der Erkenntnis gekommen ist, dass ihre Interessen als Klasse anders liegen als die des Volkes. Dieser Umstand kann als ein Sonderfall systematischer Korruption gelten. Ich lasse die Frage beiseite, ob systematische Korruption dieser Art tatsächlich ein Kennzeichen zeitgenössischer demokratischer Systeme ist (wie einige Kritiker sagen) oder nur eine theoretische Möglichkeit. Unabhängig davon muss sich die Kerndemokratie mit der Möglichkeit auseinandersetzen, dass eine politische Klasse sich absprechen könnte, um die Regierung zu kapern und de facto zum Tyrannen zu werden. 5 Um dies zu verhindern, muss der Demos in der Lage sein, die
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7 · Delegierung und Fachwissen
Delegierung von Macht an Repräsentanten zu widerrufen. Dieser Widerruf muss nicht unbedingt umfassend oder auf Dauer angelegt sein. Betrachten wir einmal den Fall von Repräsentanten mit legislativen Befugnissen, die in einer drängenden öffentlichen Angelegenheit nicht angemessen gehandelt haben. In manchen solchen Fällen könnte die Legislative einem anderen Teil der Regierung übertragen werden (etwa einer Gerichtskommission, Dekreten des Regierungschefs oder einer kompetenten Regierungsbehörde). Um aber die Drohung des Widerrufs glaubwürdig zu machen, muss der Demos selbst entscheiden können, was im Fall gesetzgeberischer oder anderer regierungsamtlicher Vergehen geschehen soll, die in eine Tyrannei abzugleiten drohen. Das heißt: Die Bürger müssen wachsam sein und zumindest für eine begrenzte Zeit als kollektiver Herrscher funktionieren können. Das Regime muss der ursprünglichen Bedeutung von Demokratie als „die Befugnis des Demos“ (Kapitel 2.2) gerecht werden. Das Volk muss bereit sein, die eigenen Regeln aufzustellen und in Kraft zu setzen. 6
7.3. Ein Delegierungsspiel Dass der Demos die Fähigkeit zur direkten Selbstregierung behalten muss, damit die Demokratie nicht durch einen eigennützigen Repräsentanten übernommen werden kann, zeigt ein einfaches Spiel mit drei Spielern: Natur (N), Repräsentant (R) und Demos (D). Die Natur wird hier verstanden als eine vorausgehende Geschichte der Gestaltung von Institutionen und der staatsbürgerlichen Erziehung. Sie kommt zur Veranschaulichung mit ins Spiel, hat aber keine Präferenzen in Bezug auf die Ergebnisse und trifft keine Entscheidungen aufgrund von erwarteten Spielzügen der übrigen Spieler. Die Entscheidungen der Natur sind durch die Geschichte des demokratischen Staates vor dem Anfang des Spiels festgelegt. Die vier möglichen Ergebnisse des Spiels sind der Status quo der repräsentativen Demokratie, Tyrannei (Kaperung durch eine Elite),
Ein Delegierungsspiel
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direkte Demokratie (nach dem Entzug der an die Repräsentanten delegierten Macht) und ein anarchischer Naturzustand, wie Hobbes ihn beschreibt. Die Form des Spiels und die je nach Ergebnis unterschiedlichen Erträge für Repräsentant und Demos sind in Abb. 7.1. dargestellt. Das Spiel hat zwei Ausgangspunkte, abhängig davon, ob der Demos zur Selbstregierung fähig ist oder nicht. In beiden Fällen gehen wir davon aus, dass der Demos die Regierungsmacht an einen Repräsentanten, etwa eine gewählte gesetzgebende Körperschaft, delegiert hat, unter der Bedingung, dass der Repräsentant die Bedingungen der Delegierung nicht verletzt. Die Präferenzen der Spieler in Bezug auf die Ergebnisse sind in der Reihenfolge Repräsentant, Demos in Abb. 7.1. angegeben. Abb. 7.1. Das Delegierungsspiel mit drei Spielern D entzieht die Macht: direkte Demokratie (1,3) R verletzt D fähig
D entzieht die Macht nicht: Tyrannei (5,0) R verletzt nicht: repräsentative Demokratie (3,5)
N
D entzieht die Macht: Naturzustand (-5,-5) R verletzt D unfähig
D entzieht die Macht nicht: Tyrannei (5,1) R verletzt nicht: Rep. democacy (3,5)
Anmerkungen: N = Natur, D = Demos, R = Repräsentant. Je nach Entscheidung von N entstehen zwei parallele Teilspiele. Die Erträge für Repräsentant und Demos sind in der Reihenfolge R, D angegeben. Das prognostizierte Ergebnis für jedes Teilspiel ist fett gedruckt.
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7 · Delegierung und Fachwissen
Rs bevorzugtes Ergebnis ist die Tyrannei, also seine Herrschaft ohne Beschränkungen. Dafür muss er die Bedingungen verletzen, ohne dass D ihm die Macht entzieht. Rs zweitbestes Ergebnis ist der Status quo der repräsentativen Demokratie, in der R die Regierungsmacht behält, aber von der Zustimmung von D abhängig ist. Rs drittbeste Option ist die direkte Demokratie; die einzelnen Mitglieder, die R bilden, sind Bürger und können (unter der Annahme, dass sie ihren Status nicht als ein Ergebnis der Verletzung verloren haben) dieselben Vorteile wie andere Bürger nutzen. Das schlechteste Ergebnis für R ist der Naturzustand, der aus den Gründen, die Hobbes angibt, für alle schlecht ist. D zieht die repräsentative der direkten Demokratie vor, doch mit keiner allzu starken Präferenz. D erkennt, dass der Status quo ihm etwas bessere Möglichkeiten bietet, Zeit für Güter von sozialem Wert einzusetzen, und geht davon aus, dass ein fähiger R einen gewissen Grad an Regierungserfahrung und politischem Wissen mitbringen wird. D ist aber bereit, zumindest gelegentlich selbst Gesetze zu erlassen, weil er nicht nur Tyrannei missbilligt, sondern aus den in Kapitel 5 diskutierten Gründen heraus politische Teilhabe auch um ihrer selbst willen schätzt. Während es unter einer repräsentativen Demokratie andere Formen der Teilhabe gibt, die D offenstehen, ist die direkte Gesetzgebung eine besonders starke Form der staatsbürgerlichen Teilhabe. Ds drittbestes Ergebnis ist die Tyrannei. Das schlechteste Ergebnis ist für D wie für R der anarchische Naturzustand. R zieht zuerst und entscheidet sich für oder gegen eine Verletzung der Bedingungen. Wenn R sich entscheidet, die Bedingungen nicht zu verletzen, endet das Spiel und das Ergebnis ist der Status quo der repräsentativen Demokratie. Wenn R seine Rechte überschreitet, entscheidet D, ob er ihm die Macht entzieht oder nicht. Wenn D sich dazu entschließt, die Macht nicht zu entziehen, ist das Ergebnis Tyrannei – R kann den Staat jetzt nach seinen eigenen Interessen regieren. Wenn D sich entschließt, ihm die Macht zu entziehen, wird das Ergebnis davon abhängen, ob die Natur D zum Regieren befähigt hat
Ein Delegierungsspiel
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oder nicht. Falls D ein fähiger Regent ist, ist das Ergebnis eine direkte Demokratie. Wenn D unfähig ist, zu regieren, ist das Ergebnis wieder ein anarchischer Naturzustand. Falls D den Staat regieren kann, ist das Gleichgewicht hergestellt, wenn R die Bedingungen nicht verletzt; das erwartete Ergebnis des Spiels ist der Status quo der repräsentativen Demokratie. Konfrontiert mit einem fähigen D ist Rs bevorzugtes Ergebnis, die Verletzung der Bedingungen ohne den Machtentzug durch D, nicht verfügbar, weil D die direkte Demokratie der Tyrannei vorzieht. Falls D nicht fähig ist, Gesetze zu erlassen, sieht das Gleichgewicht so aus, dass R verletzt und D nicht entzieht; das erwartete Ergebnis ist Tyrannei. In diesem Fall kann R ungestraft verletzen, weil D die Tyrannei dem anarchischen Naturzustand vorzieht, der als Ergebnis zu erwarten ist, falls ein unfähiger D R die Macht entzieht. Falls D fähig ist und R vom Weg abweicht, indem er die Bedingungen verletzt, sieht das Gleichgewicht so aus, dass D R die Macht entzieht, und das vorausgesagte Ergebnis ist eine direkte Demokratie. Wenn D unfähig ist und vom Weg abweicht, indem er R nach dessen Verletzung die Macht entzieht, folgt darauf der Naturzustand. Das Delegierungsspiel zeigt, wie wichtig die Regierungsfähigkeit des Demos mithilfe der Mechanismen der direkten Demokratie für diejenigen ist, die großen Wert auf eine nichttyrannische Regierungsform legen. Ein fähiger Demos kann glaubhaft damit drohen, die Macht wieder zu entziehen. Somit werden rational handelnde Repräsentanten, die den Status quo der direkten Demokratie vorziehen, nicht die Bedingungen verletzen, unter denen sie die Macht übertragen bekommen haben. In der realen Welt wird ein fähiger Demos delegierte Macht nicht entziehen müssen, solange die Repräsentanten „auf dem Weg“ bleiben – solange also das Verhalten von Repräsentanten in der realen Welt den Annahmen über rational handelnde Akteure, denen alle Informationen zur Verfügung stehen, folgt, von denen das Spiel ausgeht. Wenn die Repräsentanten vom Weg abweichen, indem sie die Bedingungen verletzen, und wenn ihre Verletzung vom fähigen Demos als solche erkannt wird, müssen sie damit
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rechnen, dass der Demos interveniert und (voraussichtlich zeitweise) von der Verfahrensnorm der Repräsentation zur außergewöhnlichen Notlösung der direkten Demokratie wechselt. Solange Repräsentanten im Wettbewerb miteinander stehen (innerhalb eines Bereichs oder zwischen den verschiedenen Bereichen der Regierung) und solange nur der Demos über ihren Wettbewerb urteilt, wird die Verfassungsordnung ohne einen Entzug delegierter Macht bestehen bleiben. Der Demos kann unter diesen Umständen von den Fähigkeiten, der Erfahrung und dem Fachwissen von Repräsentanten und den verschiedenen Behörden, die ihre Anstrengungen als Gesetzgeber unterstützen, profitieren. Konfrontiert mit einer ehrgeizigen und geschlossenen Gemeinschaft von Repräsentanten – einer systematisch korrupten politischen Klasse, die ihr Handeln mit dem Ziel, die Macht des Demos zu ursurpieren, koordinieren kann –, hängt ein Demos, der nicht dazu fähig ist, tatsächlich die Regierungsgeschäfte zu führen und abstrakt „als Souverän zu regieren“, von den „Hindernissen aus Pergament“ ab – von den Verfassungsregeln, die die Repräsentanten beschränken. Sollten die Repräsentanten dahin kommen, sich als ein kollektiver Akteur mit von denen des Demos abweichenden Präferenzen zu verstehen, werden sich die konstitutionellen Hindernisse wohl als schwach erweisen. In dem Fall wird eine Demokratie, der ein fähiger Demos fehlt, voraussichtlich in eine Tyrannei übergehen, wenn sie den Naturzustand vermeiden will. Es mag eine wohlmeinende Tyrannei sein; die autokratischen Herrscher mögen Sicherheit und Wohlergehen auf hohem Niveau bieten. Dennoch hat ihre Regierung nicht das Recht, sich als Demokratie zu bezeichnen.
7.4. Selbstregierung der Bürger Das Fazit des Delegierungsspiels lautet: Ein Demos, der die NichtTyrannei schätzt, hat gute Gründe, institutionelle Mechanismen einzuführen und seine Bürger so zu erziehen, dass sie in der Lage sind,
Selbstregierung der Bürger
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notfalls direkt zu regieren. Man kann sich dies als einen Sonderfall des allgemeinen „Widerstandsrechts“ vorstellen, das seit John Lockes Zweite Abhandlung über die Regierung eine tragende Säule nicht-absolutistischer politischer Theorie ist und Vorläufer in altgriechischen Gesetzen hat, die zum Tyrannenmord aufrufen (Teegarden 2014). Die Rückkehr zur direkten Herrschaft des Demos (unter der Annahme, dass die Ratifizierung von Grundregeln bei der Gründung der Ursprungsakt direkter Demokratie war) muss allerdings nicht durch eine Volksrevolution geschehen, in der alle bestehenden Regierungsinstanzen abgeschafft werden oder eine neue Verfassung angenommen wird. Den Bürgern genügt vielleicht bereits eine verfassungsrechtliche Option, um ein rechtsetzendes Referendum einzuleiten und durchzuführen, falls die gesetzgebenden Repräsentanten ihren Auftrag verletzen, indem sie eine Regel gegen das Gemeinwohl aufstellen oder in einer lebenswichtigen Angelegenheit nicht im gemeinsamen Interesse handeln. Die Praxis direkter Selbstregierung durch die Bürger ist in der Moderne ganz und gar nicht unbekannt. Gesetzgebung in Form von direkten Referenden ist in einigen westlichen Bundesstaaten der USA üblich und wird von modernen europäischen Staaten gelegentlich eingesetzt, um über Angelegenheiten mit enormen Folgen zu entscheiden; das „Brexit“-Referendum in Großbritannien im Jahr 2016 ist ein Beispiel dafür. 7 Ähnlich sind Normen direkter Bürgerverantwortung für die Durchsetzung von Regeln in Form von Zuschauerintervention und Nachbarschaftswachen vertraute Merkmale der Moderne. 8 Gleichzeitig besteht aber keine Garantie für das Funktionieren der direkten Demokratie. Bürgereinsatz bei der Durchsetzung von Regeln kann zu üblen Formen von Vigilantismus führen. Referenden können von Menschen mit Sonderinteressen gekapert werden und zu Konsequenzen führen, die eine Mehrheit der Wähler nicht beabsichtigte. Es gibt sicher historische Fälle, antike wie moderne, in denen die praktische Umsetzung direktdemokratischer Selbstregierung fehlschlug. Doch anekdotische Belege beweisen nicht, dass sie notwendi-
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gerweise fehlschlagen muss. Wenn die Bürger einer Demokratie Gründe haben, fähig sein zu wollen, und wenn sie bereit sind, die Kosten für diese „Befähigung“ zu tragen, bleibt die Frage, wie der Demos diese Fähigkeit erreichen kann, ohne sich in unangemessene Kosten zu stürzen. Und hier geht es wieder um Gestaltung – um die Entwicklung kosteneffektiver Erziehungssysteme und institutioneller Mechanismen. Natürlich könnte es unter den Bedingungen der Moderne möglicherweise keine Gestaltungslösung geben, die einen fähigen Demos zu angemessenen Preisen schaffen kann. Eine solche Unmöglichkeit jedoch zur Prämisse einer Regierungstheorie zu machen, wie es einige zeitgenössische Fürsprecher der Epistokratie (Wissensherrschaft) tun (Brennan 2016), wirkt bestenfalls übereilt. Um eine Demokratie im ursprünglichen oder grundlegenden Sinn, also eine Kerndemokratie zu sein, muss eine rechtmäßige Demokratie die Fähigkeit der Menschen, direkt zu regieren, erhalten. Damit ist ein Grund für die Relevanz der Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus für eine moderne Demokratietheorie angedeutet. Es ist wohl tatsächlich unwahrscheinlich, dass eine moderne große Demokratie zu jeder Zeit direkt von ihren Bürgern regiert wird. Andererseits jedoch bleibt jede moderne Demokratie, die nicht bei bestimmten Entscheidungen im Notfall auf das Volk zurückgreifen kann, anfällig dafür, von einer politischen Elite gekapert zu werden. Eine solche Übernahme lässt sich unter den spezifizierbaren Bedingungen systematischer Korruption leicht vorstellen. Wenn Bürger eine Demokratie wollen, die einer möglichen Übernahme durch die Elite starken Widerstand entgegensetzt, müssen sie darauf achten, ihre Institutionen so anzulegen und sich selbst so zu erziehen, dass ihre kollektive Befugnis zum Regieren stabil bleibt und im allgemeinen Wissensschatz verankert ist. Oft hört man, moderne Staaten könnten aufgrund ihrer Größe und der komplexen Themen, mit denen sie sich beschäftigen müssen, nicht einmal zeitweise direktdemokratisch regiert werden. 9 Wie wir gesehen haben, bleibt Repräsentation die bevorzugte Option für die Alltagsgeschäfte einer großen Kerndemokratie, in der Bürger sich für
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andere Projekte von sozialem Wert interessieren. Wir haben aber ebenso gesehen, dass die Bürger in der Lage sein müssen, die repräsentative Regierung zugunsten einer direkten Selbstregierung vorübergehend aufzulösen, um systematische Korruption und eine anschließende Übernahme durch eine Elite abwehren zu können. Ist ein moderner Demos hierzu in der Lage? Wenn die Themen, mit denen sich die Regierung auseinandersetzen muss, derart komplex sind, dass im eigenen Namen handelnde Bürger sie nicht ohne Weiteres behandeln können, lautet die Antwort: Nein, der Demos ist hierzu nicht in der Lage. Folglich ist der Staat inhärent der Gefahr einer Tyrannei durch eine Elite ausgesetzt: Ein Demokrat kann dann bestenfalls auf tugendhafte oder wohlmeinende Repräsentanten hoffen. Allerdings wäre dieser Schluss etwas voreilig. Offen bleibt nämlich, inwieweit die Komplexität den Themen der Moderne innewohnt oder inwieweit sie eine Sache der Regierungssysteme ist, die komplexer geworden sind, als es eigentlich notwendig wäre, um die wichtigsten Themen zu behandeln. Wenn eine Kerndemokratie alle drei Staatszwecke verteidigen soll, muss die Regierung lenkbar genug sein, um von einem fähigen Demos geführt zu werden, bis die Macht an eine neue Auswahl von Repräsentanten übergeben werden kann. Man sollte also danach fragen, bis zu welchem Grad die Komplexität einer modernen Regierung von der Komplexität der Themen gelöst werden kann, mit denen sich diese Regierung befassen muss. Die Themenkomplexität muss nicht so weit reduziert werden, dass jeder Bürger jede Angelegenheit selbst versteht. Wie ich später zeigen werde, kann ein direkt regierendes Volk mit der richtigen Gestaltung der Institutionen hochwertiges Fachwissen nutzen, wenn es Urteile zu Themen von großer öffentlicher Bedeutung abgibt. Könnte man die übliche Geschichte über die Beziehung zwischen Größe und Komplexität und demokratischer Entscheidungsfindung vielleicht sogar umkehren? Statt Größe und Komplexität der Regierung als eine Beschränkung der Demokratie zu betrachten, könnten wir vielleicht eher die Demokratie als eine Beschränkung der Größe
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und Komplexität der Regierung sehen. Diese Beschränkung würde die Form (aber vielleicht nicht den wesentlichen Inhalt) der Gesetzgebung der Volksrepräsentanten beeinflussen, weil sie einen Anreiz in die Gestaltung der Gesetzgebung einführen würde, der zeitgenössischen liberalen Demokratien fehlt: Sobald die Beschränkung von Größe und Komplexität allgemein bekannt ist und als ein wesentliches Merkmal der Demokratie gilt, wird die Bürgerschaft Repräsentanten belohnen, die eine elegante, schlanke Gesetzgebung fördern, um öffentliche Zwecke so einfach wie möglich zu erreichen. Die Bürger werden jene abstrafen, deren politische Vorschläge unnötig kompliziert wirken. Wie im Fall der Beschränkung starker Formen libertärer und egalitärer Verteilungsgerechtigkeit durch die staatsbürgerliche Würde (Kapitel 6.8) bedeutet die Beschränkung durch Entzug der Zustimmung, dass die Bedingungen, die notwendig sind, um eine Kerndemokratie zu erhalten, jene Formen des Liberalismus zurückdrängen, die von einem ständigen unbeschränkten Wachstum der Regierung abhängen. Moderne Staatsregierungen sind von Haus aus groß und komplex. Wenn aber, um die Zwecke zu erhalten, um derenwillen ein liberaler Staat überhaupt existiert, ein System liberaler Regierung so groß und komplex sein muss, dass es selbst den fähigsten Demos daran hindert, gelegentlich die Regierung direkt und im eigenen Namen zu übernehmen, dann verschieben sich unvermeidlich die Gewichte zwischen Liberalismus und Demokratie – zumindest bei einer Kerndemokratie, in der man aktiv auf die Gefahr der sich aus systematischer Korruption ergebenden Tyrannei reagieren muss. Andererseits gibt es auf den ersten Blick keinen Grund dafür, dass die Regierung einer liberalen Demokratie unbedingt riesig und behäbig sein muss statt angemessen groß und elegant. Liberalisten plädieren schon lange dafür, die Regierung im Namen der individuellen Freiheit zu reduzieren. Gleichzeitig drängen Mainstream-Liberale mit eher egalitären Konzeptionen sozialer Gerechtigkeit auf institutionelle Reformen, die darauf zielen, unnötig komplexe Regierungsstrukturen zu verschlanken. 10 Eine demokratische Beschränkung der Größe
Interessen, Wissen, Fachleute
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und Komplexität der Regierung muss nicht zwangsläufig als Hindernis für die Umsetzung fundamentaler liberaler Werte betrachtet werden, sondern vielmehr als eine Herausforderung an die Demokraten aller Lager, die Regierungsinstitutionen möglichst elegant zu gestalten.
7.5. Interessen, Wissen, Fachleute In einer Kerndemokratie sind befähigte Bürger, die sich ihrer staatsbürgerlichen Würde, Gleichheit und Freiheit sicher sind, letztendlich für öffentliche Entscheidungen verantwortlich. 11 Der demokratische Gesetzgebungsprozess wahrt den Zweck der nicht-tyrannischen Regierung, indem er sich gegen eine Übernahme durch eine Elite wehrt. Er muss auch die Zwecke Sicherheit und Wohlstand wahren. Unter sonst gleichen Bedingungen werden Entscheidungen besser auf die gewünschten Ergebnisse ausgerichtet sein, wenn sie auf umsetzbarem Wissen über wichtige Wesenszüge der Welt beruhen. Seit der Antike haben Politiktheoretiker gefragt, ob ein politisches Regime gleichzeitig demokratisch und epistemisch, also wissensbasiert, sein kann. Können politische Prozesse die Kernverpflichtungen der Demokratie ausdrücken und verteidigen und den Interessen der Bürger dienen, wenn Entscheidungen auf wohlbegründeten Überzeugungen und nicht auf schlecht untermauerten populären Meinungen gründen? Kann der demokratische Prozess dazu dienen, Präferenzen der Mehrheit festzulegen und umzusetzen sowie gleichzeitig relativ kluge kollektive Entscheidungen zu treffen? Wie eine demokratische Gemeinschaft Wissen einsetzen könnte, um klug unter Alternativen zu wählen, ist eine Frage des institutionellen Designs, der Gestaltung politischer Institutionen, die schon lange vor dem Liberalismus gestellt wurde und noch heute relevant ist: Sie beschäftigte Politiktheoretiker und Gesetzgeber des klassischen Griechenlands und ist eine zentrale Frage heutiger Politikwissenschaftler (Callander 2011). Das Thema brennt unter den Nägeln,
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nicht zuletzt, weil es über die Grenzen von Staaten hinausgeht. Universitäten, Unternehmen, NGOs, Verbände und transnationale Behörden stehen vor der Frage, wie viele Personen, die bestimmte Interessen teilen, klug zwischen verfügbaren Optionen entscheiden können. 12 Neben anderen antiken und modernen Kritikern sagt auch Platon, dass die Verpflichtung der Demokratie auf Freiheit und Gleichheit die Bürger notwendigerweise dazu bringt, eher willkürliche Wünsche als echte Interessen zu verfolgen und ihre Entscheidungen eher aus falschen Meinungen als aus Wissen heraus zu treffen. Die Kritiker kommen zu dem Schluss, dass Demokratie inhärent antiepistemisch sei und nur eine nicht-demokratische Regierung eine Politik machen könne, die den wahren Interessen der Menschen entspreche. 13 Falls die Kritiker der Demokratie recht haben sollten – falls im Unterschied zu einer geordneten wissensbasierten Autokratie die nicht reduzierbare Verpflichtung der Kerndemokratie auf Teilhabe, Freiheit, Gleichheit und Würde ein selbst regierendes Kollektiv ergibt, das von Natur aus nicht in der Lage ist, effektiv nützliches Wissen einzusetzen, um eine Politik zu machen, die günstige Ergebnisse zeitigt –, so müssen wir fragen, ob die Erhaltung der Demokratie die Kosten von weniger Sicherheit und weniger Wohlfahrt rechtfertigt. Für jene, die unter einer Regierung zu leben hoffen, die gleichzeitig ohne Herr, sicher und wohlhabend ist, wäre es natürlich besser, wenn diese Frage rein hypothetisch bliebe. Ein wissensbasierter Demokratieansatz verspricht zumindest, dass unter den richtigen Bedingungen ein Entscheidungsprozess, der die gemeinsame Selbstregierung fördert, besser abschneiden kann als zufällige Entscheidungen – und somit die Interessen der Bürger durch das Erzielen relativ günstiger Ergebnisse stärken kann. Falls das so ist und falls nicht gezeigt werden kann, dass ein nicht-demokratischer epistemischer Prozess besser abschneidet, müssen die mutmaßlichen Vorteile, die mit dem demokratischen Gut der freien Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten verbunden sind, und die Güter, die sich aus den Bedingungen politischer Freiheit, politischer
Interessen, Wissen, Fachleute
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Gleichheit und staatsbürgerlicher Würde ergeben, nicht gegen die zu erwartenden Kosten schlechterer Politik eingetauscht werden. Es muss nicht zu einer Verschlechterung der staatlichen Leistung führen, wenn man die Gesetzgebung, die man an Repräsentanten delegiert hat, zeitweilig wieder auf die Menschen selbst überträgt. In einer wissensbasierten Demokratie müssen die Bürger, die über wichtige Wissensquellen, echtes Fachwissen und Fachleute verfügen, an den Entscheidungen teilhaben. Doch wie lässt sich garantieren, dass den Fachleuten Gehör geschenkt wird, sich daraus aber keine Herrschaft der Fachleute entwickelt, was das Ende der politischen Gleichheit und zumindest potenziell auch das Ende der Freiheit und staatsbürgerlichen Würde bedeuten würde? Ob eine Demokratie angemessen verschiedene Formen von Expertise einbeziehen und gleichzeitig alle Kernverpflichtungen wahren kann, hat die Politiktheoretiker und -praktiker seit der Antike beschäftigt. Dies bleibt ebenso wie die allgemeine Frage, ob eine Demokratie jemals klug sein kann, auch für die heutigen Theoretiker noch relevant. Philip Pettit etwa trat (in einem Werk, das jetzt offenbar durch Pettit 2013 überholt ist) für eine Verfassungsordnung ein, in der die „auktoriale“ Macht, Gesetze zu geben, bei entpolitisierten beratenden Körperschaften liegt, die über die geeignete professionelle Expertise verfügen, während die normalen Bürger auf eine „edierende“ Rolle beschränkt sind, die erst zum Zuge kommt, wenn die Fachleute ihre gesetzgeberische Arbeit erledigt haben. 14 Die Beziehung der Demokratie zum Fachwissen ist ein aktuelles Thema in Debatten über Politik; einige Kritiker behaupten hierbei, die Demokratie sei aufgrund ihres angeblich anti-epistemischen Charakters den Herausforderungen etwa des langfristigen Klimawandels oder einer globalisierten Wirtschaft nicht gewachsen (Shearman und Smith 2007; Caplan 2007; Somin 2013). Wie sieht ein demokratischer Prozess aus, der gute Entscheidungen über wichtige (ja sogar existenzielle) Dinge hervorbringen kann und dadurch die gemeinsamen Interessen der Bürger fördert, während er gleichzeitig die Kernverpflichtungen der Demokratie be-
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wahrt? Eine einflussreiche Antwort geht dahin, dass man die Präferenzen (in bezug auf Repräsentanten oder politische Strategien) freier Bürger sammelt, indem man ihre gleich gewichteten Stimmen zählt. Neben anderen hat auch Robert Dahl (1989, 2015) gegen Platon und andere Theoretiker der wissensbasierten Regierung die Ansicht vertreten, dass demokratische Werte gewahrt und Interessen der Bürger vorangetrieben werden, wenn die politische Grundlinien von einer Mehrheit der Wähler bestimmt werden, deren Präferenzen ausdrücken, wo sie ihre Vorteile am besten gewahrt sehen. Dahls Ansatz bewahrt Freiheit, politische Gleichheit und Würde, indem er behauptet, dass (1) jeder einzelne Wähler seine Interessen am besten (wenn auch notwendigerweise nur unvollkommen) abschätzen kann und dass (2) eine Mehrheit solcher individuell gewählter Präferenzen, ausgedrückt als gleichberechtigte Wählerstimmen, es verdient, als politische Linie des Staates umgesetzt zu werden. Wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, wird die Mehrheitswahl tatsächlich ein notwendiges Kennzeichen einer Kerndemokratie sein, und das Wählen zählt zu den grundlegenden Bürgerpflichten. 15 Und dennoch müssen die Präferenzen der Mehrheit, selbst wenn sie die wahren Interessen der Mehrheit abbilden, nicht zwangsläufig die gemeinsamen Interessen der Bürger widerspiegeln, ganz zu schweigen von den Interessen aller Bürger. 16 Die Präferenzen einer Mehrheit könnten die grundlegendsten Interessen Einzelner oder einer Minderheit ignorieren oder verletzen; deshalb sind in liberalen Demokratien bestimmte Interessen von Gesetzes wegen als Grundrechte geschützt. Auf Rechten basierende Entscheidungsvorgänge sind allerdings bei der Behandlung gemeinsamer Interessen im Angesicht existenzieller Bedrohungen nicht unbedingt besonders wirksam. Tatsächlich ist eine Regierung, je stärker sie auf unverletzlichen individuellen Rechten frei nach Kants Ausspruch fiat iustitia, pereat mundus („Es soll Gerechtigkeit geschehen, und gehe die Welt darüber zugrunde“) gründet, bewusst umso schlechter darauf ausgerichtet, gemeinsame existenzielle Interessen voranzubringen. Klassische Theoretiker vor dem Aufkommen des Liberalismus
Interessen, Wissen, Fachleute
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verfolgten bei der Frage nach der Bewahrung von Werten und der Pflege von Interessen ganz andere Ansätze. Aristoteles hielt es für grundlegend ungerecht, die Sonderinteressen einer Mehrheit in einer Demokratie (oder einer ermächtigten Minderheit in einer Oligarchie) zu fördern, wenn darüber die gemeinsamen Interessen vernachlässigt wurden. Er ging davon aus, dass eine gerechte Gemeinschaft alles dafür tun würde, um gemeinsame im Unterschied zu Teil- oder Gruppeninteressen herauszuarbeiten, und durch einen angemessenen Einsatz praktischer Klugheit (phronesis) höchstwahrscheinlich geeignete politische Strategien auswählen würde, um diese Interessen zu fördern. Politische Entscheidungsfindung stellte für Aristoteles (wie aus anderen Gründen auch für Platon) ein wissensbasiertes Unternehmen dar. Sie sollte die besten verfügbaren Antworten auf Fragen von gemeinschaftlichem Belang finden und umsetzen. Wenn wir bereit sind, die gängigen (wenn auch nicht unversellen) Gedanken zu akzeptieren, dass (1) die Menschen echte Interessen (und nicht nur Präferenzen) haben und dass (2) einige Interessen von vielen Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden, gibt es demzufolge keinen Grund, von vornherein die Möglichkeit abzulehnen, dass bestimmte Interessen (etwa an Sicherheit und Wohlstand) weit genug verbreitet sein werden, um sie zu Recht als allgemein bezeichnen zu können. Mehr noch muss man nicht Anhänger des aristotelischen Eudämonismus sein, um das Verfolgen bestimmter allgemeiner Interessen für ein normativ erstrebenswertes politisches Ziel zu halten oder um anzunehmen, praktische Klugheit sei nicht nur die Domäne einer winzigen Elite und könne tatsächlich der Aufgabe, bestimmte Interessen als gemeinsam zu identifizieren, gerecht werden. Für die Zwecke dieses Buchs ist die bessere Entscheidung diejenige Option, die alles in allem ein Interesse, das alle Mitglieder einer Bürgergemeinde verfolgen, am besten fördert. Wir müssen Aristoteles darin folgen, dass die Politik nicht auf die Suche nach den besten Antworten in Bezug auf gemeinsame Interessen und ihre Förderung reduziert werden kann oder sollte: Bei vielen politischen Angelegenheiten in einer pluralistischen Gemeinschaft
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wird es auch um harte Entscheidungen zu widerstreitenden sozialen Werten und Konzeptionen gerechter Verteilung gehen; viele weitere Angelegenheiten betreffen nur die Interessen bestimmter Personen. Es wird also reichlich Raum für politische Meinungsverschiedenheiten, Diskussionen und selbst Konflikte geben. Dennoch wirkt es unglaubwürdig, zu behaupten, Politik beschäftige sich nie mit Interessen, die man vernünftigerweise für gemeinsam erachtet, und sollte dies auch nie tun. Demokratische Politiker formulieren in der Antike (Ober 1989) wie in der Moderne ihre Vorschläge so, als würden diese dem gemeinsamen Interesse dienen; ihre Rhetorik ist nicht ganz leer, denn sie erkennt eine gemeinsame Überzeugung an, dass man sich in der Politik auch um gemeinsame Interessen kümmern sollte. Gemeinsame Interessen könnten hypothetisch durch einen Konsens festgelegt werden, doch für meine Zwecke ist ein solcher Konsens nicht nötig. Mehrheitsmechanismen können dazu dienen, ein gemeinsames Interesse zu identifizieren und es voranzutreiben, so lange die Mehrheitsentscheidung tatsächlich eine bessere Entscheidung im gemeinsamen Interesse ist, wie ich sie oben beschrieben habe. Man kann wohl kaum annehmen, dass Mehrheitsvoten immer (oder auch nur oft) gemeinsame Interessen genau identifizieren und vorantreiben; bei vielen Stimmabgaben wird es legitimerweise um die Präferenzen eines Teils des Demos gehen. Für meinen Punkt reicht es, dass gewisse Interessen allgemein geteilt werden und dass es in solchen Fällen so etwas wie die bessere Politik gibt und diese durch einen epistemischen Prozess möglicherweise feststellbar ist. Man kann gemeinsame Interessen und partikulare Präferenzen niemals völlig voneinander trennen, doch eine Konzentration auf geteilte Interessen begrenzt die Subjektivität der Entscheidungsfindung und macht es so möglich, die Leistung der Gruppen, die Entscheidungen treffen, zu bewerten (Yates und Tschirhart 2006). Um auf den ersten Blick glaubwürdig zu sein, muss jede Annäherung an die epistemische Demokratie sich mit den Herausforderungen der Transitivität (und damit der Zirkelpräferenz), der kollektiven
Interessen, Wissen, Fachleute
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Vernunft und der Elitenkontrolle befassen. Um stabile Ergebnisse zu liefern, müssen Optionen transitiv geordnet sein, sodass, wenn A > B und B > C ist, dann auch A > C ist. 17 Entscheidungen eines Kollektivs werden zyklische Mehrheiten für Optionen nur unter den richtigen Bedingungen vermeiden (List und Pettit 2011). Deliberation (regelstrukturierter Austausch von Meinungen und Begründungen für diese Meinungen unter denen, die Entscheidungen treffen) und das Sammeln unabhängiger Mutmaßungen (Independent Guess Aggregation wie etwa beim Condorcet-Jury-Theorem) sind die beiden am häufigsten angeführten epistemischen Annäherungen an demokratische Entscheidungsfindung. Ich möchte zeigen, dass die Relevant Expertise Aggregation, der unten beschriebene demokratische Entscheidungsfindungsprozess, den Herausforderungen der kollektiven Entscheidung ebenso gut oder besser gewachsen ist als die konkurrierenden Ansätze Deliberation und Independent Guess Aggregation (zumindest in ihrer herkömmlichen Form) und sich somit dafür eignet, in Demopolis zu Entscheidungen zu führen. 18 Wenn demokratische Politik ein Mittel sein soll, um herauszufinden, welche verfügbare Option am besten einem gemeinsamen Interesse dient, bedient sie sich auch des Wissens (genaue Informationen, echte Überzeugungen). In Anbetracht von Klarheiten und Eventualitäten kann dies nicht heißen, dass sie „den Ansatz identifiziert, der unfehlbar ein gemeinsames Interesse verwirklicht“. Vielmehr geht es darum, „unter verfügbaren Alternativen die Option zu wählen, die alles in allem die beste Chance hat, ein gemeinsames Interesse voranzubringen“. Zwei fundamentale Voraussetzungen müssen gegeben sein: (1) muss es tatsächlich bessere Optionen geben, die Chancen auf ein gutes Ergebnis müssen also besser sein, wenn diese statt jener Option gewählt wird, und (2) müssen diejenigen, die die Entscheidung treffen, unter den richtigen Bedingungen bessere Optionen erkennen können. 19 Optionen sind voraussichtlich besser, wenn sie die relevanten Fakten über die Welt gründlicher berücksichtigen. Der Untersuchung der tatsächlichen Gegebenheiten kommt in diesem Kontext große
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Bedeutung zu: Unter sonst gleichen Bedingungen führen Optionen, die die relevanten Fakten berücksichtigen, wahrscheinlicher zu einem insgesamt besseren Ergebnis als jene, die dies nicht tun. Weil es mir hier eher um Demokratie als um Liberalismus geht, bewerte ich nicht den moralischen Status der Interessen, die eine demokratische Gemeinschaft verfolgt (etwa indem ich die gemeinsamen Interessen einer Gemeinschaft abwäge gegen globale Interessen oder universale Menschenrechte). Ebenso wenig interessiert mich der normative Wert der epistemischen Demokratie im Vergleich etwa zum agonistischen Pluralismus (Honig 1993; Lacau und Mouffe 2001); wie oben festgestellt, gibt es innerhalb der Kerndemokratie reichlich Raum für Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen. Und schließlich möchte ich auch nicht beweisen, dass epistemische Demokratien in jedem Fall besser funktionieren als Autokratien. Mir geht es vielmehr um das Design institutioneller Mechanismen, die Bürger in einer Kerndemokratie in die Lage versetzen, Entscheidungen zu treffen, die insgesamt mindestens so gut sind wie jene, die wohl in einer gut funktionierenden Autokratie zum Tragen kommen würden. Diese Mechanismen müssen gemeinsame Interessen fördern (in Demopolis: die drei Staatszwecke) und gleichzeitig die notwendigen Bedingungen der Demokratie erhalten. Epistemische Entscheidungsfindung muss sich mit Fachwissen auseinandersetzen. Experten auf einem Gebiet (sagen wir, Schachmeister) können eher als andere ein erwünschtes Ergebnis (den Gewinn einer Partie) erzielen, und die Wahrscheinlichkeit, dieses Ergebnis zu erzielen, wird durch bessere Entscheidungen (gute Züge) gesteigert. Kallipolis in Platons Staat ist ein Beispiel für ein ideales wissensbasiertes Regime, in dem es sich bei den Herrschern um politische Fachleute handelt. Ihre Entscheidungen bilden genau die Form des Guten ab und schaffen dadurch eine gerechte und sehr leistungsfähige (wohlhabende und sichere) Gesellschaft. Kallipolis ist allerdings weder realistisch noch demokratisch. Es ist undemokratisch, weil einige wenige Experten herrschen, ohne die anderen Bürger zu konsultieren, und weil es auf systematischer Täuschung („edlen
Interessen, Wissen, Fachleute
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Lügen“) beruht. Es ist unrealistisch, weil es von der Existenz politischer Generalfachleute ausgeht. Die Philosophenkönige sind „wie Architekten“ in ihrer überlegenen Kenntnis eines Entwurfs, der das Handeln all jener, deren Arbeit (und zuarbeitendes Fachwissen) notwendig ist, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen und zu erhalten, perfekt lenkt. 20 Eine Voraussetzung der Kerndemokratie besteht aber nun darin, dass keine politischen Generalfachleute existieren (siehe Kapitel 3). Dahl hat argumentiert, dass der Autokrat nicht besser über die Präferenzen anderer urteilen kann als sie selbst. Vor allem aber verfügt kein Individuum, keine kleine Koalition über all das Wissen, das für die Sicherung der gemeinsamen Interessen der staatsbürgerlichen Gemeinschaft relevant ist. 21 Politik unterscheidet sich durch ihre Komplexität von jenen gut erforschten Lernfeldern, in denen Einzelne echte Expertise erlangen können (etwa Schach oder Geigenspiel: Ericsson 2006). Es gibt demzufolge keine Generalfachleute in Politik, weil solche Experten, da sie nun einmal keinen Zugang zur Form des Guten (oder einer ähnlichen metaphysischen Resource) haben, sich ein ganzes Spektrum an schwer zu erwerbendem Spezialwissen aneignen müssten, das die Grenzen des menschlichen kognitiven Fassungsvermögens sprengt. Dieses Argument können die staatsbürgerlichen Erzieher von Demopolis zugunsten eines Regimes ohne Herr anführen. Es ist jedoch überaus einleuchtend, von der Existenz echter Fachleute innerhalb vieler Bereiche auszugehen, die bei der politischen Entscheidungsfindung eine Rolle spielen (Ericsson u. a. 2006). Wohlmeinende Experten der einzelnen Bereiche können – fälschlicherweise – ebenso wie wahnhafte politische Anführer zu der Überzeugung kommen, sie seien Experten für alles. Die möglichen katastrophalen Folgen, wenn Fachleute für einzelne Bereiche und wahnsinnige Anführer unbeschränkte politische Macht übertragen bekommen, sind gut dokumentiert (Scott 1998). Das sollte aber kein Grund dafür sein, Expertise auf relevanten Gebieten von der demokratischen Entscheidungsfindung auszuschließen. Ziel der Relevant Expertise Aggregation ist es, bereichsspezifisches Fachwissen in den Prozess der Entschei-
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dungsfindung einzubringen, ohne Experten oder Autokraten die politische Macht zu überlassen. 22
7.6. Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie In früheren Arbeiten habe ich verschiedene Ansätze beschrieben, mit denen eine Gruppe Fachwissen sammeln kann, das bei Entscheidungen zwischen vielfältigen Optionen zu Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse relevant sein könnte. Ausgehend von Variationen in den Entscheidungsregeln decken diese Ansätze ein ganzes Spektrum ab: Es gibt nicht-demokratische, bei denen Experten, die nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, Entschlüsse fassen, ebenso wie demokratische, bei denen Stimmbürger letztendlich die Entscheidungen treffen, die zuvor von Fachleuten auf verschiedenen Feldern beraten worden sind. Die Relevant Expertise Aggregation (REA) hat folgende Kernmerkmale (der Prozess ist in Abb. 7.2. schematisch dargestellt): Das Thema, zu dem die Entscheidung getroffen werden muss, wird in eine begrenzte Zahl spezifizierbarer Teile oder Bereiche zerlegt, die für das Thema relevant sind. Die Frage, wie man mit einem Staudamm in einem Fluss umgeht, könnte etwa unter anderem wirtschaftliche, ökologische und soziale Auswirkungen haben. 23 Verlässliche Fachleute, denen man gute Gründe geliefert hat, ihre wahre Meinung kundzutun, finden sich zu jedem Gebiet. Die Gebiete werden in eine Rangfolge gebracht und je nach ihrer Relevanz für die Entscheidung gewichtet (sagen wir, von 0 bis 1, wobei die Summe der Gebiete 1 ergeben soll). Eine begrenzte Zahl von Optionen (Wahlmöglichkeiten, verstanden als mögliche Lösungen für ein Problem) wird festgelegt und auf jedem Gebiet wird darüber abgestimmt. In jedem Bereich wird ein Ergebnis ermittelt, indem man die Zahl der Stimmen mit der Relevanzgewichtung des Gebietes multipliziert. Das Endergebnis ist die Summe der Bereichsergebnisse. Dieses Endergebnis legt die Entscheidung für eine Option entweder fest (in nicht-
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Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie
demokratischen Fassungen der Methode) oder trägt zur Entscheidung für eine Option bei (in demokratischen Fassungen). 24 Abb. 7.2. Epistemischer Entscheidungsprozess und Relevant Expertise Aggregation
A’
ZY XW
• • • • • • • • • • • • • • • Entscheidungsträger (ET)
8 > > >
> > :
?
Thema, das XW entschieden/ Problem, Für die Entscheidung das gelöst werden muss relevante Faktoren
I II III Optionen
Entscheidungsmechanismus
Z
Z
Experte 1, 2, 3
Y
Y
Experte 1, 2, 3
X
X
Experte 1, 2, 3
W
W
Experte 1, 2, 3
Erklärung: Die erste Abfolge (A) stellt einen typischen epistemischen Prozess dar: Zu einem bestimmten Thema (?) bewerten Entscheidungsträger (ET) relevante Faktoren (Z, Y, X, W), identifizieren dann mittels eines Entscheidungsmechanismus ein Spektrum von Optionen (I, II, III). Wenn der Prozess erfolgreich ist, wählen sie die beste Option. Bei der Relevant Expertise Aggregation (Abfolge A) werden die relevanten Faktoren in Bereiche zerlegt, die Bereiche werden gewichtet, und man bemüht sich um Expertenaussagen zu den einzelnen gewichteten Bereichen. Der Entscheidungsmechanismus aggregiert dann die Voten der ET zu den gewichteten Bereichen, um zur besten Option zu gelangen.
Ich konzentriere mich hier auf die demokratischste Variante der Relevant Expertise Aggregation, einen Prozess, in dem die Regeln für die Festlegung der Fachbereiche und der politischen Optionen zunächst nicht genauer umrissen werden und der in einer direkten Abstimmung der Bürger über die Optionen gipfelt. Er soll den Weg illustrie-
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ren, auf dem eine direkte Demokratie wertvolles Fachwissen in die Entscheidung über existenziell bedeutsame Themen einbeziehen kann. Unser Fall basiert auf der historischen athenischen Reaktion auf die Gefahr eines Persereinfalls im Jahr 481 v. Chr., wie ihn der Historiker Herodot (Historien 7.140–144) beschrieben hat und wie er im „Themistokles-Dekret“ (einem antiken Dokument, das die athenische Reaktion ausführlich beschreibt) aufgezeichnet ist. Athen war eine direkte Demokratie. In Kapitel 7.7 werde ich darlegen, wie sich der Ansatz auch auf eine Demokratie anwenden ließe, die im Normalfall von Repräsentanten regiert wird, und beantworte damit die Frage, wie Kerndemokratie im großen Maßstab funktionieren kann. Einige Aspekte der folgenden Darstellung, die zeigen soll, wie ein wissensbasierter Entscheidungsprozess in einer Kerndemokratie in einzelne Stufen aufgegliedert werden könnte, sind hypothetisch. Der tatsächliche Prozess des Jahres 481 v. Chr. lief sicher chaotischer ab, doch das, was ich hier beschreibe, stimmt mit den bekannten Fakten über Entscheidungsprozesse im antiken athenischen Rat und in der Bürgerversammlung überein (Rhodes 1985; Hansen 1987; Missiou 2011). Der Fall stellt sich wie folgt dar: Ein demokratisch ernannter Bürgerrat bereitet eine Tagesordnung für eine größere gesetzgebende Versammlung vor. Die Versammlung steht allen Bürgern offen und ist ermächtigt, bindende Entscheidungen zu Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse zu fällen. Verfahrensregeln ordnen die Deliberation und Abstimmung im Rat wie in der Versammlung. Fachgebiete (und Fachleute auf jedem Gebiet) und politische Optionen werden in frühen Phasen des Entscheidungsprozesses frei gewählt. Bestimmte Bedingungen im Hintergrund, wie sie auch anderen nicht- oder semi-demokratischen Formen der REA gemeinsam sind, werden vorausgesetzt: die Gruppe, die die Entscheidung trifft, sucht nach der besten Option bei der Behandlung einer Angelegenheit von gemeinsamem Interesse, die Themen sind in Teile zerlegbar, die jeweils eine spezifizierbare Relevanz für das zur Diskussion stehende Thema haben, und jeder Teil ist als ein Fachgebiet erklärbar. Diese
Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie
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Hintergrundbedingungen sind allgemein bekannt. Die Gruppe, die die Entscheidung trifft, bleibt die ganze Zeit über bestehen, und ihre Mitglieder passen ihre Urteile aufgrund neuer Informationen an. 25 Als sich im Jahr 481 v. Chr. eine gewaltige persische Armee darauf vorbereitete, weit in den Westen nach Europa vorzustoßen, sah sich der athenische Staat in seiner Existenz bedroht. Die Frage, wie man auf diesen Einfall reagieren sollte, wurde letztlich durch eine Abstimmung in einer für alle Bürger offenen Versammlung getroffen, an der auch mehrere Tausend Bürger teilnahmen. Ein Rat aus 500 durch das Los bestimmten Bürgern legte die Tagesordnung für die Versammlung fest. Seine Aufgabe war es, die verschiedenen strategischen Optionen zu umreißen. Die griechische Bezeichnung für den Rat (boulê) bezieht sich direkt auf dessen deliberative Funktion (bouleuein = „beratschlagen“), und ziemlich sicher wurde im Rat auch formell abgestimmt. Als die Versammlung zusammentrat, hatten sich drei vorrangige Optionen – Flucht, Kampf zu Lande, Kampf auf dem Meer – herausgeschält. Weil die Tagesordnung der Versammlung vorher bekannt gegeben wurde, hatten die normalen Bürger Gelegenheit, vor der Zusammenkunft untereinander zu beratschlagen, bevor sie als Bürgerschaft entschieden, wie der Staat auf diese existenzielle Bedrohung reagieren sollte. Athen war zwar Kämpfe mit seinen griechischen Nachbarn gewohnt, doch ein Angriff des Perserreiches stellte die Stadt vor eine Ausnahmesituation. Weil Entscheidungsregeln nicht im Voraus die relevanten Fachgebiete für außergewöhnliche Fälle festlegen können und weil es bei der entscheidenden Abstimmung in der Versammlung direkt um die Optionen ging, teilten die Bürger die Verantwortung nicht nur für die Beurteilung der Fachleute, sondern auch für die Festlegung relevanter Gebiete, auf denen die Expertise womöglich von Wert sein konnte, und für das Aufsummieren fachspezifischer Expertise zur Entscheidung für eine Option. Die Verfahrensaufgabe, relevante Gebiete und Fachleute ausfindig zu machen, wurde in einem ersten Schritt durch Deliberation und Wahl im Rat erledigt, doch alle Bürger in der Versammlung mussten die Fachleute beur-
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teilen und die Summen fachspezifischer Expertise errechnen. Es gibt eine erhebliche Streuung unter den Bürgern im Hinblick auf die individuelle Fähigkeit, diese Aufgaben zu erledigen. Tabelle 7.1. zeigt eine hypothetische Verteilung von Fähigkeiten in einer Stichprobe von 25 Bürgern. Eine Minderheit der Bürger in dieser Auswahl liegt unter dem angenommenen Punkt (0,5 auf einer Skala von 0 bis 1), von dem an eine Stimme einen positiven Beitrag zu jeder Aufgabe leistet. Weil jedoch das mittlere Kompetenzniveau in jeder Spalte bei über 0,5 liegt, können wir uns auf eine Variante des Condorcet-JuryTheorems berufen (Grofman, Owen und Feld 1983; List und Goodin 2001) und davon ausgehend annehmen, dass das Kollektiv bei jeder Aufgabe angemessen gut abschneiden wird. Wenn die Zahl der Wähler steigt (von 500 Ratsherren auf Tausende Versammlungsteilnehmer), steigt entsprechend auch die Wahrscheinlichkeit einer Bandbreite unter den abgegebenen Stimmen, die geeignet ist, eine beste Entscheidung aus den verschiedenen Optionen heraus zu liefern. 26 Der Rat greift das Thema des Persereinfalls in Zusammenkünften auf, die weniger zeitbeschränkt sind als die anschließende entscheidende Versammlung. Die Deliberation beginnt mit der Festlegung der relevanten Fachgebiete. Ausgehend von ihrer Erfahrung bei der Beratung anderer Themen haben die Ratsherren einen guten Eindruck von der Verteilung von Fähigkeiten unter ihnen – das heißt, sie haben so etwas wie Tabelle 7.1. im Kopf. 27 Weil sie auf der Suche nach der besten Entscheidung sind und es dabei um viel geht, erlauben die Ratsherren ihren Kollegen A, B, C, D und Y, die sie zu Recht (Tabelle 7.1., Spalte 1) für besonders fähig halten, um die relevanten Bereiche festzulegen, die Führung in diesen Deliberationen zu übernehmen. Ratsherr A erhält die Unterstützung der Mehrheit für die Bedeutung der Haltung der Götter und damit der Moral der Bevölkerung. 28 Dies wird zu einem Gebiet, auf dem man sich nach Expertenratschlägen umhören wird. Die Ratsherren B, C, D und Y liefern überzeugende Argumente zugunsten anderer Gebiete: die strategischen Ziele Persiens, die athenische Mobilisierungsfähigkeit, Einstellungen und Möglichkeiten der Verbündeten Athens und potenzielle
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Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie
Tabelle 7.1. Hypothetische Verteilung bei Abstimmenden über Verfahrensaufgaben Abstim- Zerlegung Finden Gewichten Berechnung Beurteilung Durchmende in Teil- von Fach- von Fach- der Aggre- der Fach- schnitt bereiche leuten leuten gation leute A 0,85 0,45 0,55 0,6 0,3 0,542 B 0,8 0,85 0,45 0,65 0,4 0,617 C 0,75 0,8 0,4 0,45 0,85 0,642 D 0,7 0,75 0,4 0,4 0,35 0,500 E F G H I J K L
0,45 0,6 0,55 0,5 0,45 0,4 0,35 0,3
0,4 0,35 0,6 0,35 0,5 0,45 0,4 0,35
0,8 0,35 0,7 0,65 0,6 0,55 0,5 0,45
0,85 0,8 0,75 0,45 0,65 0,6 0,55 0,5
0,75 0,7 0,65 0,6 0,55 0,5 0,45 0,4
0,642 0,546 0,646 0,504 0,546 0,500 0,454 0,404
M N O P Q R S T
0,25 0,3 0,35 0,4 0,65 0,5 0,55 0,6
0,3 0,25 0,5 0,55 0,4 0,55 0,5 0,55
0,5 0,55 0,6 0,3 0,4 0,35 0,55 0,45
0,45 0,4 0,5 0,45 0,25 0,3 0,35 0,4
0,35 0,5 0,25 0,3 0,75 0,4 0,45 0,5
0,375 0,408 0,450 0,433 0,496 0,425 0,488 0,504
U V W X Y Durchschnitt
0,65 0,45 0,45 0,45 0,85 0,53
0,45 0,65 0,4 0,75 0,8 0,52
0,5 0,55 0,6 0,65 0,35 0,51
0,45 0,5 0,55 0,6 0,45 0,52
0,55 0,6 0,65 0,3 0,75 0,51
0,521 0,554 0,538 0,563 0,663 0,52
12
12
10
12
Unter 0,5
11
9
Hinweis: In jeder Kategorie gilt eine Kompetenzskala von 0 bis 1, die die Wahrscheinlichkeit, richtig zu urteilen, ausdrückt.
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7 · Delegierung und Fachwissen
Bedrohungen der athenischen Einheit. Die Auswahl relevanter Gebiete endet, wenn sich keine Mehrheit mehr für ein weiteres Gebiet findet. 29 In Deliberationen und Abstimmungen legt der Rat die relative Wichtigkeit der einzelnen Gebiete fest und bestimmt die Fachexperten, die ihre Gutachten abgeben werden. Bei der Diskussion über die Empfehlungen der Experten spielen die Ansichten von C, E, F, Q und Y – von denen man weiß, dass sie Fachleute besonders gut beurteilen können (Tabelle 7.1., Spalte 2) – eine wichtige Rolle. Im Laufe immer neuer Deliberationen und Abstimmungen ergeben sich die drei vorrangigen Optionen (Flucht, Landkampf, Seeschlacht), und man holt die Meinungen der Experten zu diesen Optionen ein. Im Zuge dieses Prozesses setzt der Rat den „Kampf zur See“ an die erste Stelle. 30 Nachdem die Optionen geklärt sind und eine Rangfolge erstellt ist, wird eine Bürgerversammlung einberufen, wo die Ergebnisse der Deliberationen und Abstimmungen im Rat vorgestellt werden. Die Versammlung stellt dann ihre eigenen Deliberationen an, sodass potenziell noch weitere Fachgebiete, die der Rat übersehen hat, erwogen werden können. Herodot berichtet (7.142), dass „viele Meinungen“ kundgetan wurden und bekannte Bürger sich für unterschiedliche Optionen aussprachen. Für und gegen jede Option wurden Expertengutachten vorgetragen – nach Herodot erklärten bestimmte Orakeldeuter (chresmologoi), dass die Götter die Option der Seeschlacht missbilligten. Obwohl die Athener sich dem Wert der freien Rede stark verpflichtet fühlten, können wir, wenn wir von der späteren Praxis des 4. Jahrhunderts v. Chr. ausgehen, annehmen, dass diejenigen, die im jeweils relevanten Gebiet als Nicht-Fachleute galten, nicht immer angehört wurden; die Zeitbeschränkungen ließen den Luxus, uninformierten Meinungen zuzuhören, nicht zu. 31 In der letzten Stufe, der Abstimmung, setzt sich die Option durch, die die relevantesten Gebiete und die glaubwürdigsten Fachleute am besten berücksichtigt. Weil es in der endgültigen Abstimmung direkt um die Optionen geht, ist jeder einzelne Bürger dafür verantwortlich, selbst die relative Bedeutung der verschiedenen Ge-
Relevant Expertise Aggregation. Eine athenische Fallstudie
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biete zu berechnen (Tabelle 7.1., Spalte 3) und die Experten auf jedem Gebiet zu beurteilen (Spalte 2). Zweifellos werden manche Bürger ein relativ triviales Gebiet überbewerten. Und doch erlegt die Annahme, dass es eine adäquate aggregierte Kompetenz in der Verfahrensaufgabe der Errechnung gibt, den Bürgern keine unerträgliche kognitive Bürde auf. Ihre Belastung ist auf jeden Fall geringer als die von Wählern bei öffentlichen Referenden in modernen liberalen Demokratien, bei denen die Erstellung einer Rangfolge der Relevanz einzelner Fachgebiete durch eine beratschlagende Körperschaft ebensowenig vorgesehen ist wie eine Zertifizierung der Fachexperten. Im Jahr 481 v. Chr. setzte sich die Option der Seeschlacht, die Themistokles in die Form eines Antrags (den die Inschrift mit dem Dekret wiedergibt) gegossen hatte, schließlich durch. Themistokles’ eigener Ruf als vertrauenswürdiger Anführer und als Fachmann in Marineangelegenheiten spielte bei dieser Entscheidung sicher eine Rolle. Zudem deuten Herodot wie auch das Dekret an, dass diejenigen, die die Seeschlacht-Option bevorzugten, verschiedene gewichtige Bereiche, zu denen Fachwissen geäußert worden war, aufgriffen: Auf die Haltung der Götter ging Themistokles ein, indem er laut Herodot (7.143) das wichtige Orakel überzeugend neu deutete. Persiens strategische Ziele, die Pläne für die Mobilisierung der athenischen Kriegsmarine, die Einstellungen und Möglichkeiten der griechischen Verbündeten und die Vorkehrungen zur Sicherung der Einheit, indem man ins Exil vertriebene Bürger zurückrief, wurden im Dekret im Einzelnen aufgeführt. Weil man bei der endgültigen Abstimmung die Zahl der erhobenen Hände schätzte, statt Stimmzettel zu zählen, konnte die Versammlung die Entscheidung als ein „vereintes Ganzes“ wahrnehmen, obwohl sie nicht einstimmig war (Schwartzberg 2010; vgl. Canevaro im Erscheinen). Herodot und das Dekret beschreiben die Entscheidung als einen Beschluss des Volkes von Athen, nicht einer Mehrheit. Die Abstimmung der Versammlung zugunsten des Kampfes zur See galt als ein direkter Ausdruck des kollektiven Urteils des Demos über eine Angelegenheit von großem gemeinsamem Interesse. Das Dekret wurde am nächsten Tag umge-
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setzt, die Generäle begannen, den athenischen Kriegsschiffen Kapitäne, Seesoldaten und Ruderer zuzuweisen. In Anbetracht der Unmöglichkeit, kontrafaktische Ergebnisse anzugeben, wissen wir nicht, ob die athenische Versammlung sich wirklich für die beste Option entschied, aber der Kampf zur See erscheint im Nachhinein sicher sinnvoller als die anderen Optionen. Die Entscheidung beeinflusste, wie Herodot betont, den Lauf der griechischen Geschichte insgesamt positiv für die Athener. Er erklärt (7.139), dass die athenische Entscheidung das Ergebnis des Krieges bestimmte und dass nach dem Sieg in der Schlacht bei Salamis das demokratische Athen zur Vormacht in der griechischen Welt aufstieg. An anderer Stelle (5.97.2–3) verweist er darauf, dass die Entscheidungen der athenischen Versammlung manchmal auch schlechte Ergebnisse zeitigten. Und doch trug die Fähigkeit der Athener, nützliches Wissen durch demokratische Urteilsprozesse zu organisieren und so relativ gute politische Entscheidungen zu treffen, auf längere Sicht dazu bei, Athen zu einem außergewöhnlich einflussreichen, sicheren und wohlhabenden Staat zu machen (Ober 2008).
7.7. Das Aggregieren von Fachwissen in einer großen Demokratie Das antike Athen war mit einer Gesamteinwohnerzahl von vielleicht einer Viertelmillion im Vergleich zu den meisten modernen Staaten geradezu winzig. Das ist sicher ein Grund dafür, dass der Ansatz der Relevant Expertise Aggregation dort als vorrangige Form der Gesetzgebung durch direkte Stimmabgabe der Bürgerschaft so gut funktionierte. Allerdings könnte dieser Ansatz auch an die Verhältnisse eines weitaus größeren demokratischen Staates angepasst werden, in dem die Gesetzgebung normalerweise an Repräsentanten übertragen ist. Den Grundsatz der vorbereitenden Deliberation über Fachgebiete und Experten durch ein kleineres, die Tagesordnung festlegendes Gremium, das als Berater einer größeren gesetzgebenden Körperschaft auftritt, könnte ein System der politischen Repräsentation
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ohne große Umstände übernehmen. Ist REA aber auch für einen direktdemokratischen Gesetzgebungsprozess in der Größe anpassbar – zum Beispiel für ein System, in dem gelegentlich öffentliche Referenden vorgesehen sind? Das Bürgerreferendum hat unter Sozialwissenschaftlern keinen besonders guten Ruf. Sie weisen zu Recht darauf hin, dass die meisten Bürger den sehr hohen Aufwand an Zeit und Energie nicht auf sich nehmen, um die Informationen zu beschaffen, die notwendig sind, um ihre Stimme verantwortungsvoll abzugeben. Deshalb können solche Referenden nicht zuverlässig eine Politik hervorbringen, die die Präferenzen der Mehrheit nachzeichnet – von der Sicherung des gemeinsamen Interesses ganz zu schweigen (Achen und Bartels 2016: Kap. 3). Die Gestaltung des REA-Prozesses, wie sie oben beschrieben ist, könnte dieses Problem vielleicht entschärfen. Wie in Kapitel 3.1 dargestellt, muss die Kerndemokratie die Frage beantworten, warum ein rationales Individuum sich dafür entscheiden sollte, die hohen Kosten verantwortlicher Mitarbeit als Bürger zu zahlen. Der REA-Prozess zielt auf epistemisch befriedigende Ergebnisse, ohne den einzelnen Bürgern eine unrealistisch schwere kognitive Bürde aufzuerlegen oder eine so große Mühe, dass sie die Beschäftigung mit anderen Projekten von sozialem Wert ausschlösse. Die oben beschriebene Fallstudie legt nahe, dass im antiken Athen so etwas wie ein REA-Prozess tatsächlich das erwünschte Ergebnis ohne übermäßige Kosten hervorbrachte. Die Frage ist, ob der Prozess auf größere Bevölkerungen anpassbar und damit für einen großen modernen Staat potenziell geeignet wäre. Wenigstens hypothetisch könnte der REA-Prozess an ein zeitgenössisches System öffentlicher Entscheidungsfindung durch Bürgerreferenden angepasst werden. 32 Nachdem ein Volksbegehren, über das die Bürgerschaft direkt abstimmen soll, durch einen etablierten Prozess vorgeschlagen und bestätigt worden ist, könnte mittels eines demokratischen Prozesses (etwa Losentscheid, also durch zufällige Auswahl) ein repräsentativer Bürgerrat bestimmt werden. Durch einen Prozess der Deliberation und Abstimmung ähnlich dem athenischen Beispiel legt der Bürgerrat dann eine Gruppe von Fachgebie-
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ten fest, die für das Thema relevant sind, hört Expertenmeinungen zu jedem Bereich und identifiziert zwei oder mehr Optionen und bringt sie in eine Rangordnung. Die Ergebnisse der Ratsarbeit (einschließlich der Gewichtung der einzelnen Gebiete und der Abstimmungsergebnisse zu jeder Option, nach Gebieten geordnet) werden vor der Volksabstimmung zum Thema veröffentlicht. Die veröffentlichten Ergebnisse sollen den Wählern wertvolle und gut aufbereitete Informationen über die Urteile eines Querschnitts ihrer Mitbürger geben (Hawthorne o. D.: 40–53). Einige Wähler nehmen sich vielleicht die Zeit, die Darstellung des Rats über die Hearings, Abstimmungen und Abwägungen kritisch zu prüfen. Doch auch indem man als Wähler einfach die nach Relevanz gewichteten Gebiete prüft, anhand derer der Rat abstimmte, kann man erkennen, wie gut die Entscheidung und die Rangfolge der Gebiete im Rat die eigene Einschätzung abbildet. Die Abstimmungen in jedem Bereich zeigen, wie die verschiedenen Optionen jeweils abgeschnitten haben, ausgehend von der Beurteilung der Expertenaussagen durch die Ratsmitglieder. Die Wähler wissen, welche Option gewählt würde und wie die Endergebnisse für jede Option aussähen, wenn die Entscheidung auf der Basis der gesammelten Abstimmungen der Ratsmitglieder zu den einzelnen Gebieten getroffen werden würde. Und sie können all dies bei der eigenen Wahl zwischen den Optionen mit abwägen, im Lichte ihrer Ansichten zur Kompetenz der Ratsmitglieder und irgendwelcher anderer Informationen, die sie einbeziehen wollen. REA ähnelt realen Experimenten, bei denen es darum geht, die Deliberation in die demokratische Entscheidungsfindung einzubeziehen (Warren und Pearse 2008), aber sie liefert unter Umständen mehr direkt nützliche Informationen zu deutlich niedrigeren Informationsbeschaffungskosten für jeden einzelnen Wähler. 33 Diese kursorische Darstellung eines demokratischen Ansatzes zur Aggregation von Fachwissen lässt notwendigerweise vieles unausgeführt – vor allem die Einzelheiten der Debatten, durch die Fachgebiete, Optionen und Fachleute in einem Prozess wiederholter Deliberation und Abstimmung identifiziert und eingestuft werden. Die
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Fingerübung soll zeigen, dass eine sehr große Bürgerschaft theoretisch in der Lage ist, wertvolle Expertise zu nutzen, wenn sie über sehr wichtige Angelegenheiten und gemeinsame Interessen direkt abstimmt. Zudem passiert dies zu vernünftigen Kosten und ohne die demokratische Kernverpflichtung der Teilhabe oder die Bedingungen von Freiheit, Gleichheit und Würde zu opfern. Der REA-Ansatz geht von einer gewissen Kompetenz der Bürger aus, wenn es um die Festlegung von Optionen, Fachleuten, Fachgebieten und Rangfolgen geht. Er nimmt zudem ein gewisses Allgemeinwissen in Bezug auf politische Prozesse an; eine Fähigkeit und Bereitschaft, durch Erfahrung zu lernen, wie man überaus fähige von unfähigen Fachleuten unterscheidet; und eine allgemeine Übereinkunft, dass einige demokratische Entscheidungen zu Recht als Angelegenheiten für aggregiertes Urteil statt für aggregierte Präferenzen gelten. Ob diese Annahmen für eine bestimmte Bevölkerung gelten, hängt von der Verteilung und der späteren gesellschaftlichen Entwicklung der (wie Aristoteles sie nennt) praktischen Klugheit ab. Die Überlegungen zu den natürlichen menschlichen Fähigkeiten in Kapitel 5 unterstützen die Annahme, dass das Potenzial, praktische Klugheit zu entwickeln, angemessen verteilt ist. In meiner Erörterung der staatsbürgerlichen Erziehung verweise ich darauf, wie eine demokratische Gesellschaft, die sich hinreichend Gedanken über ihr eigenes Fortbestehen macht, dieses Potenzial systematisch kultivieren könnte. Der Zugang zur Gesetzgebung, den ich in diesem Kapitel umrissen habe, ist nicht als die vorrangige Entscheidungsmethode für einen großen, modernen Staat gedacht. Sie eignet sich nicht für die vielen Entscheidungen, die maßgeblich auf der Basis von Mehrheitspräferenzen getroffen werden müssen. In großen Staaten kann er als Ergänzung des vertrauten Systems konkurrierender parlamentarischer oder präsidentieller demokratischer Repräsentation dienen. Doch selbst unter der Annahme, dass die direkte Beteiligung von Bürgern an Entscheidungen zu Themen von gemeinsamem Interesse nicht mehr als eine gelegentliche Ergänzung zur Regierung durch Reprä-
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sentanten bleibt, bildet sie ausgehend von den oben angeführten Gründen für eine auf Widerruf delegierte Macht eine wesentliche Ergänzung: Die Demokratie muss ihrer Definition nach eine Übernahme durch die Elite verhindern. In fast jeder Demokratie gehören die Repräsentanten auf die eine oder andere Weise der Elite an. Nun können die Eliten zwar miteinander konkurrieren, dennoch bleibt aber die Gefahr, dass die Repräsentanten sich zusammentun, um Interessen der Elite gegen das gemeinsame Interesse des Demos durchzusetzen. Wenn man Repräsentanten daran hindern will, ihre Position auszunutzen, um das politische System zu übernehmen, darf ihnen kein Monopol auf den Gesetzgebungsprozess eingeräumt werden. 34 Die institutionelle Antwort der Kerndemokratie auf diese Bedrohung besteht in der ständigen Bereitschaft der Bürger, den Staat direkt zu regieren, und zwar nicht nur im eigenen Namen, sondern auch durch eigene Entscheidungen. Selbst wenn sie nur selten genutzt wird, zwingt die Existenz einer glaubwürdigen direktdemokratischen Alternative die der Elite angehörenden Repräsentanten dazu, in ihrem eigenen Interesse als privilegierte politische Akteure die gemeinsamen Interessen genau im Blick zu behalten. So minimieren sie die Wahrscheinlichkeit, dass die Bürgerschaft von der direkten Alternative Gebrauch machen wird. Das Interesse der Bürger daran, diese Alternative glaubwürdig zu halten, gibt ihnen Anlass dazu, sich zu bilden, aber auch Repräsentanten, die im gemeinsamen Interesse Gesetze mit einem Blick auf elegante Einfachheit erlassen, zu belohnen, sowie jene abzustrafen, die das nicht tun. Durch das System, das ich als Relevant Expertise Aggregation beschrieben habe, soll ein fähiger Demos direkte Verantwortung für die Gesetzgebung in einem großen, modernen Staat übernehmen können. Es ist nach der athenischen Erfahrung mit der direkten Demokratie modelliert. Die Entscheidungsprozesse in Athen waren nachweislich fehlbar, und REA wäre ebenfalls eine fehlbare Methode der Politikgestaltung. Unter der Prämisse, dass unter möglichen Optionen eine beste Wahl existiert, würde ein REA-Prozess nicht notwen-
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digerweise eine Gruppe von Optionen ausfindig machen, die die beste Option enthält, oder die beste Option in dieser Gruppe auswählen. Doch solange nicht eine unfehlbare Methode der Politikgestaltung entwickelt ist, sollte man eine Entscheidungsmethode nicht ausschließen, nur weil sie fehlbar ist. Direkte Demokratie als gelegentliches Hilfsmittel muss hinsichtlich konsistenten Regierens nicht so gut sein wie das am besten funktionierende repräsentative System. So lange sie deutlich besser abschneidet als die Zufallsentscheidung und zumindest mit der Leistung einer gut funktionierenden Autokratie mithalten kann, erfüllt sie die funktionalen Anforderungen einer Kerndemokratie. Wenn die direkte Alternative wahrscheinlich eine viel schlechtere Politik hervorbringt, kommt es sehr teuer, eine Übernahme durch die Elite durch einen Widerruf der Entscheidungsmacht zu verhindern – selbst wenn dieser nur selten zum Einsatz kommt. Wenn aber die direkte Alternative wirklich wissensbasiert und dadurch zu einer innovativen und wertvollen Politik in der Lage ist, kann sie über ihren Wert hinaus einen potenziellen Vorteil haben, da sie den Zweck der Nicht-Tyrannei wahrt. Ob ein gelegentlicher Rückgriff auf direktdemokratische Regierungsformen in einer realen Demokratie einen Nettonutzen in Bezug auf Wohlstand und Sicherheit erbringen würde, wenn die Bürger die bestmögliche Erziehung hätten, ist nicht leicht zu beantworten. Die empirischen Daten zu modernen Referenden können zu dieser Antwort in Anbetracht der beschränkten staatsbürgerlichen Erziehung, die moderne Demokratien anbieten, nichts beitragen. Die vorausgehenden Kapitel zeichneten die grundlegenden Regeln eines kerndemokratischen Systems nach, die staatsbürgerliche Erziehung seiner Bürger, die Werte, die es stützt, und einige der Institutionen, die entwickelt werden müssten, um es nachhaltig zu bewahren. Im Schlusskapitel möchte ich von den Spezifika der Demokratiegeschichte im alten Athen und dem Gedankenexperiment Demopolis zu einer allgemeinen Demokratietheorie kommen.
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Anmerkungen 1
Athenischer Einsatz von Fachleuten: Pyzyk 2015; Ismard 2015. Shapiro 2016: 75–78 betont die Notwendigkeit, Expertise für die Politik zu rekrutieren, dabei aber eine Übernahme durch eine Elite zu vermeiden. 2 Zum Beispiel Hardin 1999; Shapiro 2016: 2–16; Achen und Bartels 2016. 3 Politische Theorie der Repräsentation: Pitkin 1967; Manin 1997; Urbinati 2006. 4 Shapiro 2016. In Shapiros von Schumpeter geprägter Theorie ist das Regieren die Aufgabe kompetenter und kompetitiver gewählter Eliten, die in periodischen Wahlen belohnt oder bestraft werden. Dies setzt ein genaues retrospektives Wählen voraus, das nach Meinung von Achen und Bartels 2016: Kap. 4–7 in der modernen Demokratie unüblich ist. Starr 2007 bietet eine Übersicht der bekannten republikanischen Prozesse des Mächtegleichgewichts und der Gewaltenteilung. 5 Systematische Korruption wird normalerweise definiert als die Korruption des Wirtschaftssystems durch die Politik oder umgekehrt: Wallis 2008. Hier abstrahiere ich von bestimmten Mechanismen, die es einer politischen Klasse erlauben könnten, sich in ihrem eigenen Partikularinteresse gegen das gemeinsame Interesse des Demos abzusprechen. 6 Shapiro 2016: Kap. 4 meint, dass republikanische „ausgleichende Institutionen“ dies nicht schaffen werden. Liberale machen sich vielleicht zu Recht Sorgen darüber, dass der Entzug delegierter Macht zu Entscheidungen führen könnte, die weniger Rücksicht auf Menschenrechte nehmen. Hainmueller und Hangartner 2013 zeigen zum Beispiel, dass Einbürgerungsentscheidungen von direktdemokratischen Kantonsversammlungen in der Schweiz häufiger Personen aus unzulässigen Gründen (ethnische Zugehörigkeit und ursprüngliche Nationalität) diskriminierten als Entscheidungen von juristisch rechenschaftspflichtigen Repräsentanten. Ob staatsbürgerliche Erziehung die diskriminierende Varianz beseitigen könnte, ist nicht geklärt. 7 Referenden in den Vereinigten Staaten und Europa: Cronin 1989; Kaufmann und Waters 2004; Achen und Bartels 2016: Kap. 3. Direkte Demokratie und öffentliche Ordnung: Fung 2015. 8 Zuschauerintervention und gesellschaftliche Normen: Burn 2009; Gidycz, Orchowski und Berkowitz 2011. Bürgerwacht-Organisationen und Intervention: Fung 2004. 9 Die Annahme, dass Größe und Komplexität der Regierung effektive direkte Demokratie ausschließen: Dahl und Tufte 1973; Achen und Bartels 2016. 10 Somin 2013, mit Ober 2015c, diskutiert einige Ansätze zur schrumpfenden Größe der Regierung im Rahmen einer epistemischen Demokratietheo-
Anmerkungen
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rie. Sunstein 2013 bietet Vorschläge zu einer Vereinfachung der Regierung aus einer Perspektive innerhalb des Mainstream-Liberalismus. 11 Dieser Abschnitt ist leicht verändert übernommen aus Ober 2013. 12 Zu den wichtigen Arbeiten zur epistemischen Demokratie gehören Cohen 1986, 1996; List und Goodin 2001; List 2005; Bovens und Rabinowicz 2006; Anderson 2006; Page 2007; Estlund 2008; Furstein 2008; Fischer 2009; Schwartzberg 2010; List und Pettit 2011 (Kapitel 4); Landemore und Elster 2012; Landemore 2012. Eine realistische Theorie der epistemischen Demokratie sollte anreizkompatibel sein (Ober 2008: 5–22), ich biete hier aber kein formelles Modell an. 13 Einen Überblick über die antiken Kritiker liefert Roberts 1994; Ober 1998. Zu den modernen epistemischen Kritikern der Demokratie gehören Caplan 2007 und Somin 2013. 14 Pettit 2004: 57–62; dagegen: Urbinati 2012. Pettits Position scheint sich in seinem letzten Werk geändert zu haben (Pettit 2013), in dem die auktoriale und die edierende Rolle zusammenfallen. 15 Die demokratische Standardnorm „Eine Person, eine Stimme“ ist nicht der einzige Weg, auf dem sich Präferenzen ausdrücken können. Posner und Weyl 2015 zum Beispiel schlagen eine Wahlform vor, die eine differenzielle Gewichtung der Präferenzintensität der einzelnen Individuen erlauben und so einige Probleme der Wahlgleichheit umgehen würde. Es ist aber nicht klar, ob ihr Ansatz die politische Gleichheit respektiert und damit die demokratische Legitimität aufrechterhält: Ober, im Erscheinen. 16 Wie in Kapitel 3 dargelegt, folge ich Rousseau nicht in seiner Annahme, dass in einer Kerndemokratie das gemeinsame Interesse das Interesse aller sein müsse. 17 Zur Zirkelpräferenz und zyklischen Mehrheiten als einem Thema in der epistemischen Demokratie siehe List und Goodin 2001; Dryzek und List 2003; List 2011; Elster 2011, mit Literaturangaben. 18 Zu Deliberation und Independent Guess Aggregation siehe weiterführend Ober 2013. 19 Wie Callander (2011) feststellt, können Entscheidungsträger niemals von vornherein sicher sein, dass sie sich richtig entscheiden, und auch im Nachhinein wissen sie nie genau, ob ein Ergebnis aufgrund ihrer Entscheidung zustande gekommen ist. Wie er jedoch darlegt, macht dies die Hoffnung, bessere Optionen zu identifizieren, nicht überflüssig. Hawthorne (o. D.: 5) tritt dafür ein, dass „es für ein weites Spektrum philosophisch seriöser Ansichten [über das öffentliche Gut, mit Zitaten von Aristoteles, Locke, Rousseau, Mill, Rawls] so etwas wie die bessere Politik zumindest in manchen Fällen gibt und … dass solche Ansichten Beistand und Zuspruch in dem
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finden könnten, was Jury-Theoreme über die Fähigkeit von Mehrheiten, die bessere Politik zu finden, besagen“. 20 Architektonisches Modell: Platon, Der Staatsmann. In seinem frühen Werk Protreptikos (Fragment zitiert bei Iamblichos, Protreptikos 10.54.12– 10.56.2) verwendet Aristoteles den Architekten als ein Modell des idealen Gesetzgebers. Entsprechend wendet Aristoteles einen „architektonischen“ Rahmen auf die Politikwissenschaft (Nikomachische Ethik 1.2.1094a26–b7) wie auf philosophische Grundlagen (Metaphysik 1.2.981a30–982b7) an, doch in diesen späteren Werken spricht er nicht von einem Meister-„Architekten“. Mein Dank gilt Monte Johnson dafür, dass er meine Aufmerksamkeit auf diese und andere Schlüsselstellen bei Aristoteles gelenkt hat. 21 Estlund (2003, 2008), der den Begriff „Epistokratie“ für eine Herrschaft durch Experten geprägt hat, entwickelt ein moralisches Gegenargument. Mein Argument in Übereinstimmung mit dem von Shapiro 2016: 33–34 geht davon aus, dass die Argumentation für die Epistokratie schon im Ansatz falsch ist, weil sie falsch voraussetzt, dass, weil es ja tatsächlich Fachleute in für die Politik relevanten Bereichen gibt, auch Fachleute für die Politik im Allgemeinen existieren (als Gegensatz zu relativ kompetenten politischen Anführern). 22 Die Aufteilung eines Themas in Bereiche, in denen Fachkunde fassbar ist, wird in der Literatur zur Entscheidungsexpertise als „die Prozesszerlegungsperspektive“ beschrieben: Yates und Tschirhart 2006: 426–427. Siehe ebenda: 435 dazu, wie die vielfältigen Faktoren, die in komplexe Entscheidungen hineinspielen, „echte generelle Expertise in der Entscheidungsfindung“ bei Einzelnen vermutlich „überaus selten“ machen werden. Die Wirtschaft ist ein Feld, auf dem Bereichsfachleute manchmal die Rolle des Experten, der sich mit allem auskennt, einzunehmen suchen: Caplan 2007. 23 Mögliche Optionen wären zum Beispiel, den Staudamm so zu belassen, wie er ist, ihn neu zu bauen, um einen bestimmten Zweck besser zu erreichen, oder ihn ganz zu entfernen. 24 Ausführlicher dazu Ober 2013. 25 Diese anderen Formen der Relevant Expertise Aggregation sind in Ober 2013 ausführlicher dargestellt. 26 Natürlich würde der Größenzuwachs nach der Standardbeweisführung von Condorcet die Wahrscheinlichkeit, die beste Option zu finden, sinken lassen, wenn die Durchschnittskompetenz unter 0,5 läge. 27 Es mag unrealistisch wirken, zu glauben, dass jeder Ratsherr die Fähigkeiten seiner 499 Kollegen richtig einschätzen konnte. Allerdings wurde ein Großteil der eigentlichen deliberativen Arbeit des Rates in zehn repräsentativen Gruppen von jeweils 50 Männern erledigt (Ober 2008: 142–155). Dass
Anmerkungen
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jeder Ratsherr eine mehr oder weniger genaue „REA-Fähigkeiten-Tabelle“ seiner 49 Gruppenkollegen im Kopf hatte, erscheint durchaus plausibel. 28 Der Wille der Götter wurde kryptisch in Antworten auf athenische Anfragen zu den strategischen Optionen an das Apollon-Orakel in Delphi geoffenbart. Götter und der Wert von Orakeln galten bei den meisten Griechen als akzeptierte Tatsachen. Sie waren keine nicht hinterfragbaren Naturgegebenheiten, aber doch entscheidende gesellschaftliche Fakten (Searle 1995), die beträchtliche Auswirkungen auf das Verhalten hatten. 29 Die Abfolge von Deliberation und Wahl ist hypothetisch, und die Fachbereiche sind aus den Worten des Dekrets geschlossen, doch der athenische Rat ließ sich regelmäßig Fachgutachten (z. B. von Generälen) zu verschiedenen Aspekten wichtiger Themen vortragen: Rhodes 1985: 42–46. Wir haben zwar keine Belege für formelle Abstimmungen zur Festlegung relevanter Bereiche, doch die Abstimmung nach Bereichen war in Athen sicher bekannt, vor allem wenn die Versammlung jedes Jahr darüber abstimmte, ob die einzelnen Teile des Gesetzbuches neu autorisiert oder überarbeitet werden sollten: MacDowell 1975: 66–69. Aristoteles, Rhetorik 1.1359b34–1360a12 unterteilt den übergeordneten Gesetzgebungsbereich „Krieg und Frieden“ (siehe Anm. 8) in vier einzelne Bereiche, zu denen man die Aussagen von Militärfachleuten erwartete: (1) nationale militärische Kapazität, gegenwärtig und potenziell; (2) frühere Beziehungen zu und militärische Entwicklungen in konkurrierenden Staaten; (3) relative Stärke konkurrierender Staaten; (4) Ergebnisse früherer Konflikte. 30 Dass die Empfehlung des Rates bei der letzten Abstimmung angenommen wurde, deutet die Formel zur Inkraftsetzung des Dekrets an: „beschlossen von Rat und Demos“. Dekrete, die ohne die Empfehlung des Rates verabschiedet wurden, verwendeten gewöhnlich die Formel „beschlossen vom Demos“: Hansen 1999: 139–140. 31 Nichtfachleute auf relevanten Gebieten wurden niedergeschrien: Plato, Protagoras 319b–c. Zur Rolle von Fachleuten in der Gesetzgebung und der Reaktion von demokratischen Zuhörern auf Experten im Athen des späten 5. und 4. Jahrhunderts v. Chr. siehe Ober 1989: 314–327; Kallet-Marx 1994. 32 Einige amerikanische Bundesstaaten, vor allem Oregon, setzen tatsächlich offizielle Citizen Review Boards ein, um den Wählern bei Referenden Handlungshilfen zur Verfügung zu stellen; siehe die Diskussion in Mendez 2016: Kapitel 4. 33 Alternativ könnte die Aufgabe des Rates darauf beschränkt sein, relevante Bereiche und Optionen festzulegen, und unabhängige Bürgergremien könnten bestimmt werden, um Expertenaussagen zu hören und über die Optionen in den einzelnen Bereichen abzustimmen. Dadurch würden die Mög-
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lichkeiten der Ratsangehörigen, strategisch zu agieren, eingeschränkt. Andererseits aber würden sich die Abstimmenden untereinander nicht kennen und könnten daher die Fähigkeiten der anderen nicht abschätzen. 34 Ich diskutiere diese Themen mit Bezug auf das klassische Athen in Ober 1989.
Kapitel 8
Eine Theorie der Demokratie Eine wirklichkeitsnahe normative und positive politische Theorie der Demokratie sollte vor allem zweierlei leisten: Zum einen muss sie erklären, wie es demokratischen Staaten trotz der diesbezüglichen Vorteile autokratischer Führung in der Vergangenheit gelungen ist, ebenso erfolgreich für Sicherheit und Wohlergehen zu sorgen. Zum anderen muss sie deutlich machen, mit welcher Art von Gesetzen, Normen und Verhaltensweisen demokratische Bürger das Gedeihen ihrer Gemeinschaft am besten fördern. Die Bedeutung liberaler Werte in der zeitgenössischen politischen Theorie und liberaler Institutionen in den modernen Verfassungen hat die Aufmerksamkeit der Theoretiker auf den Beitrag des Liberalismus zum Erfolg und den Zielsetzungen der Demokratie gelenkt. Dieses Buch hingegen hat den Anteil der gemeinsamen und beschränkten Selbstregierung der Bürger bei der Verwirklichung dieser Ziele herausgearbeitet und beleuchtet.
8.1. Theorie und Praxis Wie das Gedankenexperiment Demopolis gezeigt hat, ist Kerndemokratie eine Antwort auf die Frage, wie eine große, breit gefächerte Bürgergemeinschaft in einer Welt miteinander konkurrierender Staaten eine stabile politische Ordnung schaffen kann, die sowohl sicher und prosperierend als auch nicht-autokratisch ist. Dazu braucht es nichts weiter als Regeln, die eine gemeinsame und beschränkte Selbstregierung durch motivierte und tüchtige Bürger ermöglichen – Menschen, die allen Grund haben, politisch zu kooperieren und obendrein die Fähigkeit besitzen, ihre Taten auch umzusetzen. Wie am Beispiel des klassischen Athen deutlich wurde, ist Demokratie
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8 · Eine Theorie der Demokratie
unter den richtigen Bedingungen in der Theorie wie in der historischen Praxis durchaus dem gewachsen, was ich „Hobbes’ Herausforderung“ genannt habe. Mit anderen Worten: Sie widerlegt Hobbes’ Behauptung, jeder sichere und prosperierende Staat bedürfe einer als Vollstrecker agierenden dritten Partei in Gestalt eines über dem Gesetz stehenden Souveräns. Kerndemokratie löst das Problem des kollektiven Handelns – den entscheidenden Punkt von Hobbes’ Herausforderung –, indem sie Bürger, die der Tyrannei ablehnend gegenüberstehen und zugleich ein gemeinsames Interesse an Sicherheit und Prosperität haben, davon überzeugt, dass die Teilhabekosten von allen Mitbürgern zusammen getragen werden. Weil diese Kosten zugleich als Nutzen aufgefasst werden und die Demokratie den Ambitionierten einerseits hohe Ehrungen bieten kann, während sie andererseits störende Formen der Selbsterhöhung bändigt, geht sie überdies das Problem der psychologischen Motivation an, für das Hobbes in Leviathan keine Lösung hatte. Demokratie stattet Bürger mit Instrumenten in Form von Verfahrensmechanismen und Verhaltensgewohnheiten aus, die es ihnen ermöglichen, als Einzelne und als Demos effektiv auf die Herausforderungen und Veränderungen der Welt zu reagieren, in der sie leben. Bürger, die bereit und in der Lage sind, gemeinsam gegen Regelübertreter vorzugehen, um sich vor der Ausbeutung durch die Überheblichen und Mächtigen zu schützen, werden in das Humankapital der Gemeinschaft investieren und ihr Wissen mit anderen teilen, wenn es für die Verfolgung ihrer gemeinsamen Interessen förderlich ist. Die Erweiterung des Wissensschatzes und seine effiziente Anwendung kompensieren zudem die relativ hohen Betriebskosten gemeinsamer Selbstregierung, zumal ihre epistemische Vielfalt und Tiefe der Kerndemokratie einen Vorteil gegenüber autokratischen Staaten verschaffen. Das Ergebnis ist ein beschränktes Selbstregierungssystem, das für ein angemessenes Wohlstandsniveau sowie für die interne und externe Sicherheit einer umfangreichen, gesellschaftlich breit gefächerten Bevölkerung innerhalb eines begrenzten Territoriums sor-
Theorie und Praxis
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gen kann. Dieses System überträgt den Bürgern in Form der politischen Teilhabe eine erhebliche, wenn auch nicht erdrückende Verantwortung. Kerndemokratie bringt anpassungsfähige Institutionen hervor und fördert das Engagement für politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde, indem sie Bedingungen schafft, die Sicherheit, Prosperität und eine nicht-tyrannische Ordnung ermöglichen und bewahren. Kerndemokratie versorgt Bürger zuverlässig mit dem demokratischen Gut der freien Ausübung ihrer menschlichen Grundfähigkeiten. Das heißt, sie können ihren Verstand und ihre Kommunikationsfähigkeit für prosoziale Zwecke einsetzen, indem sie im Rahmen von Deliberationen Entscheidungen über wichtige, das Wohlergehen aller betreffende Angelegenheiten fällen. Weil eine Kerndemokratie politische Teilhabe zugleich als Verantwortung und als Gut erkennt, forciert sie außerdem den Prozess der bürgerlichen Inklusion, denn sie ist gezwungen, den Ausschluss langfristig auf dem Staatsterritorium Ansässiger vom Status der Bürgerschaft zu rechtfertigen. Zugleich muss sie dafür sorgen, dass die Bürger in den demokratischen Existenzzwecken des Staates und den politischen Instrumenten geschult werden, die notwendig sind, um diese Zwecke zu sichern. Und weil alle langfristig Ansässigen potenzielle Bürger sind, sollte der Staat allen auf seinem Territorium lebenden Menschen diese staatsbürgerliche Erziehung zukommen lassen. Eine Kerndemokratie kann die Macht für die täglichen Regierungsgeschäfte an Repräsentanten delegieren. Sie muss aber auch Mechanismen entwickeln, die es den Bürgern erlauben, sich Fachwissen zunutze zu machen. Zugleich sollte der Demos wachsam bleiben gegenüber einer möglichen Vereinnahmung des Staates durch seine Eliten. Die Bürger selbst müssen regieren können, falls die Repräsentanten die Kompetenzen missbrauchen, die ihnen vom Demos übertragen wurden. Um seine partizipatorische Rolle in einem demokratischen System erfüllen zu können, muss jeder Bürger Zugang zu Erziehung und angemessenem Wohlstand haben. Obwohl Kerndemokratie an sich keine gerechtigkeitsbasierten Verteilungsprinzipien
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generiert (vergleichbar z. B. mit dem Differenzprinzip bei Rawls 1971), muss sie Bürgern und potenziellen Bürgern dennoch ein Mindestmaß an Wohlergehen und Ausbildung garantieren. Kerndemokratie ist ein Garant für politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde. Sie erhält diese Bedingungen aufrecht, ganz unabhängig davon, ob sie von den Bürgern um ihrer selbst willen geschätzt werden oder nicht, denn ohne sie kann die Tyrannei schlicht nicht vermieden werden. Außerdem fördern diese drei Faktoren die soziale Kooperation in einem Ausmaß, das ausreicht, um existenziellen Bedrohungen zu begegnen, weil die Vertreter der Kerndemokratie einer autokratischen, hierarchiebasierten Gesellschaftsordnung samt zentralisierter Führung und ideologischer Mystifizierung das kollektive Handeln hochmotivierter und rational-eigennütziger Bürger entgegensetzen. Das geschieht mithilfe allgemein bekannter Regeln (Gesetze und Normen), die als Kristallisationspunkte dienen, um Bürger für die Verteidigung der Bürgerwürde zu mobilisieren, die wiederum eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass jeder Bürger den für die volle Teilhabe so essenziellen gleichen hohen Status hat. Überdies trägt Würde dazu bei, die miteinander konkurrierenden Ansprüche von Freiheit und Gleichheit an die Verteilungsgerechtigkeit zu mäßigen, wodurch ein sich selbst verstärkendes soziales Gleichgewicht geschaffen wird. Ihre Legitimität erhält eine Kerndemokratie dadurch, dass sie Bürgern und potenziellen Bürgern mittels staatsbürgerlicher Erziehung nahebringen kann, weshalb sie demokratisch verfügten Regeln gehorchen sollten und warum der Beteiligungsaufwand für die Staatsbürgerschaft von jedem einzelnen Bürger mitgetragen werden muss. Demokratie kann institutionelle Mechanismen und damit verbundene Verhaltensgewohnheiten entwickeln, die das Erkennen, Aggregieren und Mobilisieren von Fachwissen ermöglichen, während sie zugleich die Vereinnahmung des Staates durch die Eliten verhindert. Das erlaubt es den Bürgern, über verschiedenste politische Optionen zu urteilen, die für das Gemeinschaftsinteresse von Bedeutung sind. An Repräsentanten delegierte Macht bleibt vorbehaltlich und
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widerrufbar, was wiederum ein Anreiz für die Repräsentanten ist, das in sie gesetzte Vertrauen nicht zu missbrauchen. Theoretisch kann Demokratie somit zuverlässig für das Erreichen der Staatsziele, also für Sicherheit, Prosperität und die Vermeidung von Tyrannei sorgen. Und es gibt keinen Grund, warum sie in Bezug auf die beiden erstgenannten Ziele nicht mindestens ebenso erfolgreich sein sollte wie eine Autokratie. In der Praxis allerdings ist Demokratie nicht so leicht zu realisieren. Ein politisches System, das (im Rahmen der historisch bedingten Vorgaben) dem anhand von Demopolis illustrierten Idealtyp einer Kerndemokratie recht nahe kommt, wurde für die Dauer von etwa sechs Generationen in Athen verwirklicht (Ober 2008, 2012). Athen ist das am besten dokumentierte Beispiel für eine dauerhafte und leistungsstarke, vom frühmodernen oder zeitgenössischen Liberalismus noch unberührte Demokratie. Auch wenn die Athener ihrer eigenen legislativen Autorität konstitutionelle Grenzen setzten, war ihre Staatsordnung eine direkte Demokratie, die keiner gewählten Repräsentanten bedurfte. Allerdings war Athen nach den Standards der Moderne auch ein sehr kleiner Staat. Damit Kerndemokratie unter heutigen Bedingungen möglich ist, muss sie daher skalierbar sein. Repräsentative Institutionen sind eine Lösung für das Größenordnungsproblem, geben den Eliten zugleich aber auch neue Möglichkeiten, die Regierung für sich zu vereinnahmen. Die Umsetzung der Demokratie wird durch Wertepluralismus erschwert: Hobbes war nicht tendenziös, auch wenn er mit seiner Behauptung falsch lag, bürgerliche beschränkte Selbstregierung könne (ebenso wie andere beschränkte Regierungsformen) nicht für Sicherheit und Wohlstand sorgen. Andererseits überrascht es nicht, dass Demokratie ungeachtet ihrer langen Geschichte als die gebräuchliche soziale Organisationsform menschlicher Kleingruppen vor dem Aufkommen des Ackerbaus und der Entstehung großer Staaten nur selten im historischen Gedächtnis komplexer Gesellschaften haften geblieben ist. Und obwohl Demokratie heutzutage nahezu überall angestrebt wird, hat
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man ebenfalls nahezu überall das Gefühl, dass sie nur unvollkommen verwirklicht wurde. Eine ganze Reihe gescheiterter Demokratisierungs-Experimente im 20. und 21. Jahrhundert verdeutlicht denn auch, wie schwierig die Einführung einer bürgerlichen Selbstregierung ist. Aufgrund der eng miteinander verwobenen, in die demokratische Theorie und Praxis des 19. Jahrhunderts verstrickte Geschichte von Republikanismus und Liberalismus in Europa und Amerika (Kalyvas und Katznelson 2008) ist die Kerndemokratie in der Moderne nur schwer zu erfassen. Kein antikes oder modernes System entspricht dem skizzierten Idealtyp vollkommen. Dennoch können einige moderne Staatsordnungen wegen ihrer den Bürgern gegenüber verantwortlichen Repräsentanten als beschränkte bürgerliche Selbstregierungen gelten. Beispiele hierfür sind die Vereinigten Staaten in der Jackson-Ära des frühen 19. Jahrhunderts und die Bürgerrechts-Ära in der Mitte des 20. Jahrhunderts; die britische parlamentarische Demokratie des späten 19. Jahrhunderts, die europäischen Sozialdemokratien des mittleren 20. Jahrhunderts und die höchst pluralistische Demokratie des modernen Indiens. Aber was ist mit der Kerndemokratie heutzutage? In zeitgenössischen liberal-demokratischen Staaten ist die Zuflucht zu Volksentscheiden und bürgerlichen Gesetzesinitiativen auf lokaler oder nationaler Ebene häufig mit einem Aufbegehren der Bürger gegen eine empfundene Bevormundung durch die Vertreter einer verantwortungslosen Regierung verbunden. Die Existenz unabhängiger Stellen und Repräsentanten ist durchaus mit den Konzepten des zeitgenössischen Liberalismus und der Idee einer regierungsunabhängigen demokratischen Macht des Volkes vereinbar. Aber hinter populistischer Politik und/oder der Zuflucht zu direktdemokratischen Mechanismen, wie sie in vielen modernen Staaten zu beobachten sind, steckt zumeist die weitverbreitete Überzeugung, die Regierung werde unrechtmäßig von Eliten und Technokraten dominiert, die nach eigenem Gutdünken und gegen die Interessen der gewöhnlichen Menschen herrschen.
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Volksentscheide und Bürgerinitiativen scheinen symptomatisch für ebenjenen anti-tyrannischen Impuls zu sein, der sich bereits in Jäger- und Sammlergemeinschaften gegen aufkeimende Dominanzhierarchien wandte und letztlich zur Entstehung der demokratischen Regierungsform im antiken Athen führte. Im imaginären Demopolis sind die Bürger fähig zu regieren, weshalb die gelegentliche Hinwendung zur direkten Demokratie der Leistungsfähigkeit des Staates auch nicht schadet. Aber die verkümmerte staatsbürgerliche Erziehung vieler moderner Staaten ist der Aufgabe, einen kompetenten Demos zu erschaffen, anscheinend nicht mehr gewachsen. Ohne eine angemessene staatsbürgerliche Erziehung fehlen den Bürgern jedoch der Antrieb und die Fähigkeiten, sich selbst zu regieren. In diesem Fall begünstigt der anti-tyrannische Impuls populistische Tendenzen und/oder die mögliche Vereinnahmung des Staates durch Eliten, weil Demagogen und finanzielle Interessen die politische Debatte bestimmen. Außerdem fördert er unter diesen Umständen instabile Pervertierungen der Demokratie, weil er opportunistischen Politikern die Möglichkeit gibt, anti-tyrannische Gefühle in Paranoia und eine verdrehte Nostalgie für mythische Zeiten zu verwandeln, in denen noch nationale Einheit und bürgerliche Tugenden herrschten. Schlimmstenfalls könnten die inkohärenten Eingriffe eines unfähigen Demos in den Hobbes’schen Naturzustand münden. Die Furcht vor unerwünschten Resultaten wie diesem hat sogar zur Ablehnung der bürgerlichen Selbstregierung durch einige liberale Theoretiker und Politikwissenschaftler geführt. Dieses Buch hingegen verteidigt die Demokratie, indem es zeigt, wie ein Demos lernen kann, zu regieren. Es verdeutlicht, wie Bürger unter den entsprechenden, realistisch erreichbaren Bedingungen über sich selbst als Gesamtheit herrschen können.
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8.2. Und wozu das Ganze? Sir Moses Finley, ein einflussreicher Althistoriker, der von 1964 bis 1982 in Cambridge lehrte, soll angeblich stets darauf bestanden haben, dass die Verfasser komplizierter Werke über obskure Themen die Bedeutung ihrer Arbeit erklärten. Seine hartnäckigen Fragen könnte man in wenigen Worten zusammenfassen: „Wozu?“ 1 Ich stelle mir diese lakonische Frage als Kurzfassung einer größeren Herausforderung vor: Angenommen, wir als kritische, aber potenziell wohlwollende Leser mit einem aufrichtigen Interesse am Thema Ihres Buches sind gewillt anzunehmen, dass alles, was Sie behaupten, richtig ist. Warum aber sollten diese Resultate von Interesse für uns sein? Was haben wir gelernt? Wie verändern Ihre Schlüsse die Art und Weise, wie wir über wirklich wichtige Angelegenheiten denken sollten?
Eine „Wozu-Herausforderung“ an die liberalismusfreie Demokratietheorie ließe sich etwa mit dem Umstand rechtfertigen, dass demokratische Ideen erst seit dem 18. und 19. Jahrhundert wieder in der Praxis umgesetzt wurden, und zwar in Verbindung mit typisch liberalen institutionellen Gestaltungsprinzipien wie Repräsentanz, Gleichgewicht der Regierungsgewalt, Föderalismus und dem Konzept einer von jeder Regierungsbehörde unabhängigen Volkssouveränität. Diese Gestaltungsprinzipien wurden im Rahmen liberaler Ideen und Werte entwickelt und waren vermutlich entscheidend für das Entstehen und den Fortbestand demokratischer Ordnungen in großen modernen Staaten. Warum also stelle ich hier eine lästigen Theorie vor, die der Demokratie nicht nur ihre modernen Möglichkeiten raubt, sondern sich überdies auf ein winziges antikes Beispiel stützen muss, um ihre Realisierbarkeit zu beweisen? Im ersten Kapitel habe ich dargelegt, dass es durchaus sinnvoll ist, Demokratie als solche sowohl analytisch (weil Demokratie und Liberalismus verschiedene Dinge sind) als auch historisch (weil es Demokratie schon vor dem Aufkommen des Liberalismus gab) von libera-
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ler Demokratie zu unterscheiden. Aber das beantwortet noch lange nicht die „Wozu-Frage“. Dieses Abschlusskapitel soll daher deutlich machen, welchen praktischen Wert eine Theorie von Demokratie ohne Liberalismus für die Implementierung und Gestaltung zeitgenössischer liberaler und nicht-liberaler politischer Ordnungen haben kann. Außerdem vergleiche ich dabei die von mir entwickelte Demokratietheorie mit anderen zeitgenössischen Demokratiekonzepten.
8.3. Zu anti-liberal oder zu liberal? Wie ich in den vorangegangenen Kapiteln zu zeigen versucht habe, ist Kerndemokratie – im grundlegenden Sinne einer dem Erhalt von Sicherheit und Wohlstand sowie dem Verhindern von Tyrannei dienenden Regelsammlung – ein genuin politisches Phänomen. Dennoch ist sie in der heutigen Welt nirgends aufzufinden, denn moderne Systeme besitzen einen Überbau aus mit Werten aufgeladenen Regeln – Werte, die in liberalen demokratischen Ordnungen das Bekenntnis zur persönlichen Autonomie, zu universellen Menschenrechten, zur Verteilungsgerechtigkeit und zur religiösen Neutralität des Staates beinhalten. Und so wie die oberirdisch sichtbaren Teile eines Gebäudes scheint dieser Überbau das Wesentliche des demokratischen Systems zu repräsentieren. Wie ich jedoch bereits angedeutet habe, wird eine politische Ordnung ohne solides Fundament ebenso wenig standhalten wie ein Gebäude. In Erwiderung auf die „Wozu-Herausforderung“ weise ich deshalb darauf hin, dass eine Theorie der Kerndemokratie durchaus von grundlegendem Interesse sein kann, wenn es ihr gelingt, als Fundament zu dienen, auf dem sich liberale wie nicht-liberale Überbauten aus Regeln und Normen errichten lassen. Darüber hinaus sollte dieses Fundament eine grundlegende Umgestaltung des Überbaus erlauben und auch dessen vollständigen Abriss und Wiederaufbau unbeschadet überstehen. Mit anderen Worten, es sollte Veränderungen ermöglichen, ohne die politische Basis des Staates zu zerstören
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und das Fortbestehen eines Regierungssystems zu gefährden, das die Bewahrung der existenziellen, von allen Bürgern anerkannten Staatszwecke im Auge hat. Eine solche politisch robuste Basis würde einen umfassenden Wertepluralismus der Staatsbewohner, andauernde Uneinigkeit und sogar eine offene Auseinandersetzung mit den moralischen Zielen des Staates erlauben, ohne gleich dessen Existenz zu bedrohen. Zudem wäre ein solches Fundament auch Garant einer grundsätzlichen Übereinstimmung, denn es ermöglicht den Bürgern, zusammenzuarbeiten. Um liberale und nicht-liberale Institutionen und Normen zu stützen, muss das Fundament der Demokratie nicht inhärent liberal oder anti-liberal sein. Es muss lediglich dazu in der Lage sein, zwei Einwände zu widerlegen, die – oberflächlich betrachtet – durchaus berechtigt erscheinen. Wir können uns diese Einwände als Skylla des „zu anti-liberal für den Erhalt des Liberalismus“ und Charybdis des „zu liberal für die Bewahrung nicht-liberaler Normen“ vorstellen. Und die Passage zwischen Strudel und Untiefen ist tatsächlich erschreckend eng. Der erste Einwand lautet, dass Demokratie ohne Liberalismus inhärent anti-liberal sei. Ein politisches System ist nach meiner Ansicht anti-liberal, wenn für seine Existenz inhärent anti-liberale Bedingungen, also Institutionen, Normen und Verhaltensgewohnheiten notwendig sind. Anti-liberale Bedingungen wären in diesem Zusammen solche, die von heutigen Liberalen als ethisch unzulässig angesehen oder von einer zeitgenössischen liberalen Verfassung gesetzlich verboten würden. Natürlich gibt es innerhalb des heutigen Liberalismus ein ganzes Spektrum von Ansichten darüber, was ethisch zulässig ist und was gesetzlich verboten werden sollte. Dennoch muss wohl jedes System als anti-liberal gelten, dessen Existenz von Sklaverei, einer diskriminierenden Staatsreligion oder menschenrechtswidrigen politischen Institutionen abhängt. Ebenso wie andere griechische Staaten dieser Zeit unterstützte das antike Athen die Sklaverei, hatte eine Staatsreligion und praktizierte den Ostrakismos. So gesehen war die athenische ganz offen-
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kundig eine anti-liberale Gesellschaft. Es ist jedoch die Frage, ob die Existenz der athenischen Demokratie als politisches System tatsächlich von diesen (oder anderen) anti-liberalen Faktoren abhing. Oft wurde dies bejaht. Einige liberale politische Theoretiker beschuldigten ihre nicht- oder weniger liberalen Kollegen sogar der „PolisNostalgie“ und charakterisierten die antike Demokratie als inhärent anti-liberal. 2 Es besteht kein Zweifel daran, dass antike griechische Demokratien, selbst wenn wir uns auf den Bereich der Bürgergemeinschaft beschränken, in allen entscheidenden Punkten in der Tat nicht liberal waren. Die Athener waren nämlich nicht nur Sklavenhalter und schlossen Frauen ebenso wie langfristig ansässige Ausländer vom Recht auf politische Teilhabe aus, sondern hatten auch ein Gesetz gegen Gottlosigkeit. Bürger konnten (wie im Fall von Sokrates schändlicherweise auch geschehen) wegen Verstoßes gegen allgemeine Frömmigkeitsstandards vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Außerdem konnte ein Bürger aufgrund der athenischen Institution des Scherbengerichts ohne Prozess von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden – ohne formal einer Gesetzesübertretung angeklagt worden zu sein und ganz einfach nur deshalb, weil eine Mehrheit seiner Mitbürger sich durch seine Anwesenheit gestört fühlte. Wenn sich Demopolis als Modell einer modernen Kerndemokratie dieser Art von Regeln verschreiben muss (oder der Sklaverei oder der Beschränkung des Teilhaberechts auf männliche Einheimische), weil sie notwendige Rahmenbedingungen für ihre Existenz sind, dann ist dieses System tatsächlich zutiefst anti-liberal in dem Sinne, dass es ganz ohne liberale Eigenschaften auskommen muss. Wenn sich das als richtig erweisen sollte, hätte die Kerndemokratie einen wichtigen „Wozu-Test“ in der Tat nicht bestanden. Und es ist kaum anzunehmen, dass ein notwendigerweise anti-liberales System für die Menschen hier, also in der entwickelten westlichen Welt, von großem Interesse wäre. Schlimmer noch: Wenn es mir nicht gelingen sollte, die „notwendigerweise anti-liberale“ Version der „Wozu-Frage“ zu beantworten, wäre ich nicht weit über frühere, rein historische
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Arbeiten über die Demokratie vor dem Aufkommen des Liberalismus hinausgelangt. Auch der zweite Einwand würde, sollte er zutreffen, mein Projekt relativ uninteressant machen. Er lautet, dass moderne demokratische Großstaaten überhaupt nur unter liberalen Bedingungen (Institutionen, Normen und Verhaltensweisen) existieren können. Wenn das richtig ist, kann es nirgendwo auf der Welt einen demokratischen Staat ohne Liberalismus geben. In diesem Fall wäre eine nicht-liberale Demokratie, ob nun (im oben erwähnten Sinne) anti-liberal oder nicht, entweder eine historische Kuriosität, mithin das nicht reproduzierbare Produkt der einzigartigen Bedingungen eines vergangenen Zeitalters, oder eine Fantasie und als solche das Produkt sehnsüchtiger Projektionen von nicht-liberalen Theoretikern. Und in beiden Fällen wäre sie nur von geringer Bedeutung für die politische Theorie. Wenn aber eine nicht-liberale Demokratie unter den Bedingungen der Moderne unmöglich verwirklicht werden kann, ist jeder modernen Bevölkerung, die den Liberalismus nicht annehmen kann oder will ipso facto die Chance verwehrt, in ihrer eigenen demokratischen Ordnung zu leben. Um den zweiten „notwendigerweise liberalen“ „Wozu-Test“ zu bestehen, müsste eine Kerndemokratie (eine, deren Existenz nicht von den besonderen Umständen der griechischen Antike abhängt) also dazu in der Lage sein, unter den Rahmenbedingungen eines nicht-liberalen Systems zu bestehen. Ich muss demnach zeigen, dass Demokratie (jenseits der Antike) nicht inhärent liberal ist. 3 Sollte Kerndemokratie tatsächlich notwendigerweise liberal sein, wäre beim Gedankenexperiment Demopolis (vorausgesetzt, es wird für plausibel gehalten) bestenfalls eine recht fadenscheinige Theorie der liberalen Demokratie herauskommen. Angesichts des bereits existierenden breiten Spektrums an ausgefeilten Theorien über liberale Demokratie wird eine weitere, unausgereifte Variante die Menschen im entwickelten Westen kaum von den Sitzen reißen – geschweige denn die vielen Menschen in anderen Teilen der Welt, die
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sich zwar stark von der Idee einer nicht-tyrannischen Regierung, jedoch nicht vom Liberalismus angezogen fühlen (siehe Kapitel 8.5). Einige dieser Menschen mögen unter den richtigen Bedingungen bereit sein, die Kosten einer teilhabenden Staatsbürgerschaft zu tragen. Aber Werteneutralität und/oder einige andere essenzielle Bestandteile des zeitgenössischen Liberalismus werden sie ablehnen. Die antike Demokratiepraxis war also in vielerlei Hinsicht nicht liberal. Aber gibt es auch Anzeichen dafür, dass sie in anderer Hinsicht zugleich liberal gewesen sein könnte? Tatsächlich weisen einige institutionelle Merkmale der klassischen athenischen Demokratie eine gewisse Ähnlichkeit mit Aspekten des Liberalismus auf. 4 Obwohl Bürgerwürde nicht auf den universellen Menschenrechten beruht, kann sie, wie ich an anderer Stelle dargelegt habe (Ober 2000 = 2005: Kapitel 5), als eine Sammlung von „Quasi-Rechten“ verstanden werden. Ich habe darauf hingewiesen, dass politische Freiheit und politische Gleichheit, die für die athenische Demokratie unabdingbar waren, auch Eckpfeiler der liberalen politischen Theorie sind. Die Entwicklung hin zu einer strengeren Rechtsstaatlichkeit, wie sie am Bekenntnis zu gerichtlicher Unparteilichkeit ablesbar ist, und der Umstand, dass einige athenische Institutionen neben Bürgern auch Nicht-Bürgern offenstanden, sind Merkmale einer diesbezüglich durchaus mit liberalen Werten in Einklang stehenden Regierung. Sollten diese anscheinend liberalen Merkmale der athenischen Demokratie auf ein Bekenntnis der Kerndemokratie zur Werteneutralität hinauslaufen, wäre sie jedoch nur von geringem Nutzen für eine Gruppe, die auf der Suche nach einem nicht-liberalen und nichttyrannischen politischen System ist. Wenn die Kerndemokratie bestimmte Formen menschlichen Guts (im Rawls’schen Sinne) aus dem öffentlichen Raum verbannt, etwa indem sie die Etablierung einer Staatsreligion verbietet, ist sie zweifellos zu liberal für die Zwecke traditionell religiöser Gesellschaften, deren Angehörige nach einer nicht-tyrannischen politischen Ordnung streben. Formuliert man die beiden gegen die Kerndemokratie vorgebrachten Einwände in Fragen um, wird deutlich, welches Potenzial
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in dieser politischen Theorie steckt. Sie kann ihren Wert beweisen, indem sie sich der „Wozu-Herausforderung“ stellt und die Fragen der beiden oben erwähnten imaginären Menschengruppen zufriedenstellend beantwortet. Die erste Gruppe sagt: „Wir wollen eine sichere und prosperierende liberale Gesellschaft aufbauen. Wie können wir sie mit einem stabilen Fundament versehen?“ Die zweite Gruppe sagt: „Wir wollen eine sichere und prosperierende nicht-tyrannische Gesellschaft aufbauen, die mit unseren traditionellen religiösen Überzeugungen in Einklang steht. Zu welchen Institutionen und Verhaltensweisen müssen wir uns verpflichten, um dieses Ziel zu erreichen?“ Wenn die Antworten der kerndemokratischen Theorie den Ansprüchen beider Gruppen genügen, wäre auch die „Wozu-Frage“ beantwortet. Zudem spiegeln die Bedenken dahinter das Hier und Jetzt sehr gut wider, denn es gibt in der realen Welt viele Menschen, die sich nach stabilen liberalen oder auch nach nicht-liberalen und nichttyrannischen Gesellschaften sehnen. Die „Wozu-Frage“ wäre auch deshalb beantwortet, weil die derzeitige demokratische Theorie keine zufriedenstellenden Antworten für die Menschen der beiden angenommenen Gruppen hat. Die zeitgenössische liberale politische Theorie etwa speist Liberale, die nach einer stabilen Ordnung suchen, sinngemäß mit Aussagen wie dieser ab: „Kümmert euch einfach um die richtigen liberalen Werte, dann kommen die demokratischen Institutionen schon ganz von selbst.“ Wenn die von mir in den vorangegangenen Kapiteln aufgestellte These richtig ist, dass Demokratie im Gegensatz zum Liberalismus einer realen, großen und vielfältigen Bevölkerung aus eigennützigen Individuen eine Gleichgewichtslösung bieten kann, dann ist diese Antwort jedoch nicht zufriedenstellend. Auch Nicht-Liberalen auf der Suche nach einer nicht-tyrannischen Ordnung hat die liberale Theorie gegenwärtig nicht viel zu bieten. Ihr Ratschlag an diese Menschen lautet: „Kümmert euch einfach um die richtigen demokratischen Institutionen. Die bringen zwar die Verpflichtung auf bestimmte liberale Werte mit sich, aber
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das sollte euch nicht weiter beunruhigen.“Aber wenn diese Verpflichtung sie nun doch zutiefst beunruhigt, dann hat die zeitgenössische liberale demokratische Theorie denjenigen, die nicht willens sind, ihre vorhandenen Grundwerte an die Prämissen des Liberalismus anzupassen, nicht das Geringste zu sagen. Zeitgenössische nicht-liberale politische Theorien wie der agonistische Pluralismus befassen sich zwar mit Themen, die von der liberalen Theorie übergangen oder ignoriert werden. Aber die agonistische demokratische Theorie setzt sich nicht mit Fragen der Stabilität von Systemen und der Bildung von Institutionen auseinander, wie sie im Mittelpunkt des Interesses der beiden Menschengruppen stehen, die ich mir vorstelle. 5 Endgültig bestanden wäre die „Wozu-Herausforderung“, wenn sich zeigen ließe, dass ein klares Verständnis von Demokratie ohne Liberalismus politische Auswirkungen auf die reale Welt hat. Insbesondere im Nahen Osten hat die Politik der „Demokratieförderung“ im 21. Jahrhundert eine Menge menschliches Elend erzeugt, denn sie basierte augenscheinlich auf recht verworrenen Demokratievorstellungen. Die mit der Demokratieförderung befassten politischen Entscheidungsträger der Amerikaner und ihrer Verbündeten – wie gut (oder schlecht) ihre Intentionen im Hinblick auf die Menschen in fremden Ländern auch gewesen sein mögen – scheinen nur wenig Gespür für den Unterschied zwischen Demokratie und Liberalismus gehabt zu haben. Hinzu kam ein mangelndes Verständnis für die Erfordernisse einer funktionierenden bürgerlichen Selbstregierung oder die Anforderungen, die eine Demokratie an ihre Bürger stellt. 6 Für diejenigen, die von einer demokratischen Theorie Antworten auf Fragen nach einem sicheren Fundament für ein liberales und ein nicht-liberales, nicht-tyrannisches System sowie Erkenntnisse darüber erwarten, wie politische Entscheidungsträger auf diese Art von Hoffnungen und Ambitionen reagieren sollten, ist die kerndemokratische Theorie tatsächlich von substanziellem Interesse – auch wenn sie zugegebenermaßen nur vorläufige Antworten bieten kann. In den
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letzten beiden Unterabschnitten dieses Kapitels befasse ich mich mit den Bedenken, die Angehörige der beiden oben genannten angenommenen Gruppen vermutlich vorbringen würden, wenn man ihnen sagte: „Kerndemokratie kann euch helfen, euer Problem zu lösen.“ So werden Menschen, denen erzählt wurde, sie könnten ein nachhaltiges liberales System auf dem Fundament der Kerndemokratie errichten, vermutlich befürchten, dass die Regeln einer Kerndemokratie zwangsläufig zur Schaffung einer fundamental anti-liberalen Verfassungsordnung führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Bürgergemeinschaft und die Gesellschaft als Ganze. Wenn das der Fall ist, kann Kerndemokratie in der Tat nicht als vor-liberales Fundament eines liberalen Staates dienen. Auf der anderen Seite werden Menschen, die sich eine nicht-liberale und nicht-tyrannische Ordnung wünschen, die Sorge haben, dass eine gemeinsame bürgerliche Selbstregierung von ihnen verlangt, sich dem liberalen Prinzip der religiösen Neutralität zu verpflichten. Wenn es jedoch gelingt, diese liberalen und nicht-liberalen Befürchtungen zu zerstreuen, kann auch die „Wozu-Frage“ ad acta gelegt werden. Was nicht heißen soll, dass die kerndemokratische Theorie sämtliche Bedenken ausräumen kann, die von Liberalen und Nicht-Liberalen vorgebracht werden mögen. 7
8.4. Ein Fundament für ein liberales System? Ob die Kerndemokratie als Fundament für ein liberales System geeignet ist, lässt sich mithilfe zweier Fragen überprüfen, in denen die Sorge zum Ausdruck kommt, ob beschränkte Selbstregierung außerhalb vorinstallierter liberaler Rahmenbedingungen überhaupt möglich sein kann. Die erste fällt in den Bereich der Theorie: Gibt es irgendetwas in der demokratischen Verfassung des imaginären Demopolis, das diese als Fundament für einen liberalen konstitutionellen Überbau ungeeignet macht? Die zweite ist historischer Natur: Waren die anti-liberalen Merkmale der politischen Ordnung des an-
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tiken Athen essenziell für die Vermeidung von Tyrannei und die Gewährleistung von Sicherheit und Prosperität? Die Verfassungsordnung von Demopolis stützt – um gleich mit der Beantwortung der ersten Frage zu beginnen – sicher nicht jede Variante des Liberalismus, die im zeitgenössischen Mainstream der politischen und ethischen Theorie zu finden ist. Da Demopolis für die Sicherung seiner Grenzen sorgt und relativ hohe Anforderungen (in den vorangegangenen Kapiteln im Hinblick auf die staatsbürgerliche Erziehung skizziert) an die staatsbürgerliche Teilhabe stellt, handelt es sich um einen Staat im herkömmlichen Sinne des Wortes. 8 Deswegen bildet die Kerndemokratie auch kein geeignetes Fundament für jene kosmopolitischen liberalen Ordnungen, die jede Form staatlicher Restriktion im Hinblick auf Einwanderung oder Vergabe des Bürgerrechts als illegitim ansehen. Einige Vertreter der liberalen demokratischen Theorie haben sich nämlich für eine strikt kosmopolitische Weltordnung und gegen Grenzkontrollen oder Einschränkungen bei der Gewährung von Staatsbürgerschaften ausgesprochen. 9 Weil Prosperität zu den Staatszielen gehört, wird sich Demopolis außerdem den Forderungen von Verfechtern globaler Gerechtigkeit nach „Nivellierung nach unten“ widersetzen, denn diese sieht einen Wohlstandstransfer von den reichen zu den ärmeren Ländern vor, damit alle Menschen auf der Welt ungefähr das gleiche, relativ niedrige (nach den Standards entwickelter Länder) materielle Existenzniveau haben. 10 Allerdings kommt auch aus den Reihen der liberalen demokratischen Theorie Kritik an solchen kosmopolitischen und globalen Gerechtigkeitsthesen. So plädieren nicht wenige liberale Theoretiker für einen Staat, der nicht nur die Autorität hat, den Zugang zu seinem Territorium und die Vergabe der Staatsbürgerschaft zu kontrollieren, sondern auch lokales über globales Wohlergehen stellt. Diese „liberaletatistischen“ Ansätze sind eindeutig liberal, denn sie berufen sich nicht auf nationalistische Sonderrechte oder einen gemeinsamen historisch-kulturellen Hintergrund. Wenn aber die Argumente der liberalen Etatisten stichhaltig sind, können auch Demopolis’ Beschrän-
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kungen in Bezug auf Einwanderung und Staatsbürgerschaft oder die Bevorzugung der eigenen gegenüber einer universellen Prosperität ipso facto nicht als grundsätzlich anti-liberal gelten. 11 Auch für jene Varianten des Liberalismus, die auf unterschiedlichen Konzepten innerstaatlicher Verteilungsgerechtigkeit beruhen und extreme Formen von sozialer Gleichheit oder persönlicher Freiheit propagieren (Kapitel 6.8), bietet Demopolis keine geeignete Basis. Dies liegt an dem regulierenden Einfluss der Bürgerwürde, die ein beträchtliches Maß an sozialen Dienstleistungen für die Bürger verlangt. Da deren Erhalt ein entsprechend hohes Steuerniveau erfordert, kommt es sehr wahrscheinlich zu Konflikten mit den Prinzipien des Marktlibertarismus. Darüber hinaus beschränkt die Bürgerwürde aber auch das Ausmaß der Umverteilung materieller Güter in Demopolis, was mit den Interessen der zum Staatssozialismus tendierenden Formen des Liberalismus kollidiert. Ungeachtet der Restriktionen, die dem Liberalismus durch die Kerndemokratie auferlegt werden, bleibt Demopolis dennoch offen für zahlreiche, auf liberalen Prinzipien beruhende gesellschaftliche Arrangements. Das Spektrum reicht nach meiner Einschätzung vom tugendzentrierten Bürgersinn, wie ihn Michael Sandel (1998) vertritt, über den demokratischen Republikanismus in der neuen Arbeit von Phillip Pettit (2013), die von J. S. Mill (1861) bevorzugte utilitaristisch-repräsentative Demokratie, den experimentellen Pragmatismus von John Dewey (1917), die anti-elitäre „machiavellistische Demokratie“ von John McCormick (2011), Rawls’ Recht der Völker (1999 [dt. 2002]), den übergreifenden Konsens in Rawls’ Werk Politischer Liberalismus (1996 [dt. 2003]) bis hin zum deontologischen, gerechtigkeitszentrierten, unter dem „Schleier des Nichtwissens“ erschaffenen System in Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit (1971 [dt. 1975]). 12 Dass keines dieser Systeme von außen betrachtet wie Demopolis aussieht, liegt nur daran, dass der von mir so genannte wertebasierte Überbau das Erscheinungsbild des Systems grundlegend verändert hat und die kerndemokratische Infrastruktur verbirgt. Die staatsbürgerliche Erziehung, die es den Bewohnern von
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Demopolis ermöglicht, ihre Bürgerpflichten auf kompetente Weise zu erfüllen, eignet sich nicht für jene Spielarten des Liberalismus, die auf einer extremen individuellen Autonomie beruhen und daher jegliche Einmischung des Staates in die persönlichen Ziele der Bürger ablehnen. Die staatsbürgerliche Erziehung von Demopolis hingegen fördert eine politische Präferenz für die Vermeidung der Tyrannei. Außerdem betont sie den Wert der freien Ausübung menschlicher Grundfähigkeiten, also der Geselligkeit, der Rationalität und der Fähigkeit, auf höchsten Entscheidungsebenen zu kommunizieren. Darüber hinaus versucht sie einen bestimmten Charakter bzw. spezifische Verhaltensmuster zu erschaffen (insbesondere in Bezug auf die Verteidigung der Bürgerwürde), die auf der gemeinsamen Überzeugung basieren, die Demütigung und Bevormundung anderer sei etwas Schlechtes. Andererseits ist die staatsbürgerliche Erziehung von Demopolis nicht ideologisch geprägt, sondern basiert auf der Realität. Sie beruft sich auf historische Evidenz sowie auf natur- und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse, was auch ihre Revidierbarkeit angesichts neuer wissenschaftlicher Entdeckungen einschließt. Sie kann zwar keine religiösen Überzeugungen beinhalten, die eine politische Teilhabe verbieten, schreibt ansonsten aber keine bestimmte Haltung gegenüber einer göttlichen Ordnung vor. Darüber hinaus ist die staatsbürgerliche Erziehung von Demopolis freiwillig, denn es gibt (wenn auch kostspielige) Ausstiegsmöglichkeiten. So kann man sich entscheiden, ein ansässiger Nicht-Bürger zu sein (welche Beeinträchtigungen das auch nach sich ziehen mag) oder die Gemeinschaft ganz zu verlassen. Bedeutende, dem Leitbild der persönlichen Autonomie verpflichtete liberale Theoretiker haben das Recht und die Pflicht eines liberalen Staates hervorgehoben, die verbindlichen Normen des staatlichen Bildungswesens durchzusetzen, wenn nötig auch gegen die religiösen Überzeugungen der Eltern. Es ist also anzunehmen, dass eine staatsbürgerliche Erziehung, wie sie eine Kerndemokratie von ihren Bürgern verlangt, durchaus genügend Spielraum für eine ganze Reihe von Liberalismus-Varianten bietet. 13
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An dieser Stelle sollte die offenkundige Abhängigkeit der Kerndemokratie von politischer Freiheit, politischer Gleichheit und Bürgerwürde jeden Liberalen beruhigt haben. Auch wenn die Konzepte, die kerndemokratischer Freiheit, Gleichheit und Würde zugrunde liegen, vielen Liberalen etwas zu blutleer erscheinen mögen, sind sie als notwendige Bedingungen doch fest im System verankert und ein erster Schritt zu expliziteren, mit liberalen Werten aufgeladenen Konzeptionen. Denn obwohl die Kerndemokratie weder Werteneutralität (anders als oben spezifiziert) noch Menschenrechte einfordert, steht sie ihnen nicht im Wege. Wenn wir uns erneut der Geschichte zuwenden, wird deutlich, dass das Bürgerrecht zwar ein klar definierter Status in der athenischen Gesellschaft war, Athen aber dennoch nicht von kastenartigen Strukturen geprägt war. Freie Nicht-Bürger waren weder systematisch schlechter gestellt noch war ihr Leben scharf von dem der Bürger getrennt. Neueste Studien zur athenischen Sozialgeschichte zeigen, wie sehr das Leben von Bürgern und Nicht-Bürgern miteinander verwoben war. Obwohl das Bürgerrecht für einen privilegierten Zugang zu bestimmten Formen des Eigentums sorgte (insbesondere Landbesitz) und die Voraussetzung bildete, um wählen oder ein Amt bekleiden zu dürfen, partizipierten Bürger und Nichtbürger weitgehend gleichberechtigt an vielen Aspekten des wirtschaftlichen und religiösen Lebens. Gleiches gilt für das Vereinswesen. Das athenische Zivilrecht etwa schützte Nicht-Bürger auf unterschiedlichste Weise. Überhaupt wurde der Zugang zu den öffentlichen Institutionen im Verlauf der demokratischen Geschichte Athens tendenziell immer offener. 14 Im Übrigen gibt es keinen Grund anzunehmen, dass eine Ausweitung der staatsbürgerlichen Rechte auf alle freien langfristig Ansässigen die Sicherheit oder Prosperität der antiken Polis Athen in irgendeiner Form beeinträchtigt hätte. Wie wir in Kapitel 2.1 gesehen haben, dehnte Athen die Vergabe der Staatsbürgerschaft so weit aus, wie es die antike griechische Vorstellungswelt zuließ, doch ebendiese kulturellen Vorstellungen beschränkten die vollen Teilhaberechte auf
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die in Athen geborenen Männer und einige privilegierte Ausländer. Es wäre jedoch unsinnig zu glauben, dass die Sicherheit oder Prosperität Athens von der Beschränkung der Bürgerschaft auf erwachsene Männer abhing. Das Gegenteil dürfte der Fall gewesen sein. Wären die Athener über ihren kulturellen Schatten gesprungen und hätten die politischen Teilhaberechte auf einheimische Frauen und solche ansässigen Ausländer ausgeweitet, die willens waren, die Verpflichtungen einer teilhabenden Staatsbürgerschaft auf sich zu nehmen, hätte es der staatlichen Entwicklung der Polis aller Voraussicht nach zusätzlichen Schub verliehen. Tatsächlich legt der in Kapitel 7.4 postulierte kausale Zusammenhang zwischen epistemischer Diversität der Bürgerschaft und effektiver Politik nahe, dass eine solche Inklusion die Kapazitäten des athenischen Staates beträchtlich vergrößert hätte. 15 Der ökonomische Beitrag der Sklaverei zur antiken griechischen Gesellschaft andererseits ist eine verzwickte Angelegenheit. Hätte ein kontrafaktisches Athen die Sklaverei abgeschafft und z. B. ehemaligen Sklaven nach dem Peloponnesischen Krieg das Wahlrecht gewährt, wäre die Polis sehr wahrscheinlich sicherer und wohlhabender gewesen als das reale Athen in den folgenden 80 Jahren. 16 Das häufig vorgebrachte Argument, die für die staatsbürgerliche Teilhabe notwendige Muße sei überhaupt erst durch die Sklaverei ermöglicht worden, ist nicht stichhaltig. 17 Die Arbeitsbeiträge der Sklaven waren zwar von großem Wert für den Staat, aber es scheint keineswegs undenkbar, dass Athen eine ausreichend große Zahl an freien Arbeitern angezogen hätte, sodass der Erwerb von Sklaven gar nicht notwendig gewesen wäre. Da die Löhne zumindest einiger Sklaven ebenso hoch waren wie die von freien Bürgern und ortsansässigen Fremden, die der gleichen Tätigkeit nachgingen, lässt sich nicht erkennen, dass die Sklaverei an sich (im Gegensatz zum Arbeitsbeitrag ortsansässiger freier und unfreier Nicht-Bürger) massiv zum materiellen Gesamtwohlstand der Gemeinschaft beitrug. 18 Fraglos lieferten als sachverständige Sekretäre dienende Staatssklaven bürokratisches Fachwissen, das für den Staat von großem Nutzen war. Wahrscheinlich
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jedoch verfügten auch freie Menschen (Bürger oder ortsansässige Fremde, die als Sekretäre in Ämtern arbeiteten) über eine vergleichbare Expertise. 19 Gleichwohl ist denkbar, dass freie Arbeit allein nicht ausgereicht hätte, um die drei wesentlichen Staatszwecke Sicherheit, Wohlstand und die Vermeidung von Tyrannei im Wettbewerbsumfeld der griechischen Stadtstaaten zu erfüllen. 20 Aber selbst wenn man dafür in Athen auf das Mittel unfreier Arbeit zurückgreifen musste, ist die Geschichte in diesem Zusammenhang nicht entscheidend: Jetzt und hier, im entwickelten Teil der modernen Welt, sind Maschinen unsere Sklaven. Sie verrichten einen großen Teil der schweren Produktionsarbeit, die ansonsten von Menschen getan werden müsste. Und Maschinenarbeit kostet zudem noch weniger. Unfreie, Sklaven- oder sklavenähnliche Menschenarbeit ist in vielen modernen Gesellschaften, einschließlich liberaler Demokratien, zwar nach wie vor weit verbreitet (wenn auch offiziell illegal), doch wäre es angesichts der technologischen Möglichkeiten der Moderne unsinnig zu behaupten, irgendein liberales oder nicht-liberales demokratisches System bedürfe der Sklaverei, um nachhaltig für Sicherheit und Prosperität zu sorgen. Wenden wir uns noch einmal den Bedingungen innerhalb der athenischen Bürgergemeinschaft zu. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Gesetze, die Frömmigkeit verordnen, oder Institutionen wie das Scherbengericht für das Funktionieren einer Kerndemokratie essenziell sein könnten. Im Fall Athens legte das Gesetz gegen Gottlosigkeit nicht fest, was genau Frömmigkeit war. Es oblag dem Mehrheitsbeschluss der Bürgerversammlung, sich in jedem spezifischen Fall zwischen den Frömmigkeitsauffassungen von Kläger und Beklagtem zu entscheiden. An anderer Stelle habe ich ausgeführt (Ober 2010), dass persönliche Verantwortung für die Auswirkungen der eigenen öffentlichen Äußerungen einen zentralen Aspekt der athenischen Vorstellung von freier Rede darstellte. Die Verurteilung des Sokrates’ im Jahr 399 v. Chr. lässt sich daher zum Teil mit der Überzeugung seiner Mittbürger erklären, dass sich der Philosoph strafbar gemacht
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hatte, indem er sich weigerte, die Verantwortung für die (wenn auch unbeabsichtigten) Auswirkungen seiner Aussagen zu übernehmen. Obwohl die „Übernahme der persönlichen und rechtlichen Verantwortung für die Auswirkungen öffentlicher Rede“ nicht unbedingt zu den zentralen Prinzipien des Liberalismus gehört, handelt es sich um eine a priori nicht anti-liberale Verpflichtung. 21 Das Ostrakismosgesetz blieb zwar die gesamte demokratische Ära hindurch rechtskräftig, doch wurde nach 415 v. Chr. kein Scherbengericht mehr abgehalten. Da die athenische Demokratie auch lange danach noch Bestand hatte, kann es sich beim Ostrakismos folglich nicht um eine für ihre Existenz notwendige Bedingung gehandelt haben. 22 Obwohl Athen niemals ein liberaler Staat geworden ist, sorgten – wie ich an anderer Stelle bereits ausführlicher dargelegt habe – bestimmte, von den Bürgern festgelegte Regeln im Laufe der Zeit dafür, dass auch in Athen ansässigen Nicht-Bürgern, mithin Frauen, Ausländern und sogar Sklaven, zumindest grundsätzlich eine Rechtssicherheit zuteilwurde, die einem Recht gleichkam. Außerdem tendierte der Staat besonders in den Generationen nach dem Peloponnesischen Krieg zunehmend dazu, die religiösen Interessen nichtathenischer und nicht-griechischer Minoritäten öffentlich anzuerkennen und zu fördern (durch die Bewilligung von öffentlichem Land für Heiligtümer) sowie Nicht-Bürgern in bestimmten Bereichen mehr Möglichkeiten zur Beilegung von Rechtstreitigkeiten zu eröffnen. 23
8.5. Eine nicht-liberale und nicht-tyrannische Ordnung? Die zweite oben erwähnte Frage wurde von einer hypothetischen Gruppe religiöser Traditionalisten gestellt. Auch diese sind auf der Suche nach einer sicheren nicht-tyrannischen Gesellschaftsordnung, lehnen jedoch die religiöse Werteneutralität des Staates und vielleicht noch andere Leitsätze des Liberalismus ab. Es versteht sich von selbst, dass die Kerndemokratie für jede Gemeinschaft ungeeignet ist, deren
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Überzeugungen eine autokratische politische Autorität verlangen. So wird eine Religionsgemeinschaft nur wenig mit der Kerndemokratie als Regierungsform anfangen können, wenn ihre Grundsätze dazu führen, dass politisch nicht rechenschaftspflichtige Individuen oder Gruppen allein aufgrund ihrer (vermeintlich) besonderen Beziehung zur göttlichen Ordnung mit der finalen Entscheidungsbefugnis über wichtige Angelegenheiten der öffentlichen Ordnung ausgestattet werden – etwa in Form eines Veto-Rechts bei Entscheidungen einer demokratischen Volksversammlung oder nicht rechenschaftspflichtiger legislativer Befugnisse. Andererseits könnte sich eine religiöse Gemeinschaft, in der die ultimative Regierungsgewalt nicht in den Händen eines Individuums oder einer kleinen Gruppe liegen muss, im Prinzip durchaus für die Implementierung einer Kerndemokratie entscheiden. Eine solche Gemeinschaft mag die Etablierung einer Staatsreligion anstreben, sich als intolerant gegenüber anderen religiösen Auffassungen zeigen und als Voraussetzung für die Staatsbürgerschaft religiöse Konformität verlangen. Damit wäre sie zwar alles andere als liberal, aber der Weg zur Kerndemokratie wäre ihr ipso facto nicht versperrt. Politische Rede- und Vereinigungsfreiheit sowie die politische Gleichheit der Bürger bleiben jedoch auch in einer nicht-liberalen Kerndemokratie unverrückbare Bedingungen. Die Bürger müssen die Freiheit haben, neue institutionelle Strukturen zu entwerfen und zu verfechten, und es muss ihr kollektives Urteil sein (das z. B. durch Wählen – etwa von Repräsentanten oder direkt bei der Gesetzgebung – zum Ausdruck kommt), das den politischen Kurs der Gemeinschaft in Angelegenheiten von allgemeinem Interesse bestimmt. Die für eine Kerndemokratie essenziellen politischen Formen von Freiheit und Gleichheit schließen nicht notwendigerweise auch „Gewissensfreiheit“ oder Toleranz gegenüber religiösen Überzeugungen ein, die von der Gemeinschaft als falsch angesehen werden. Autonomie im Sinne der liberalen Moraltheorie könnte dem Wertesystem der betreffenden religiösen Gemeinschaft demnach durchaus fremd sein. Außerdem wäre es möglich, dass die durch den nicht-liberalen
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demokratischen Staat etablierte Religion hierarchisch strukturiert ist und einigen Individuen aufgrund bestimmter, für die Bürgerwürde irrelevanter Merkmale (etwa Herkunft oder „Berufung“) einen speziellen sozialen Status zugesteht. Solange aber die religiöse Hierarchie einem gleichen politischen Status der Bürger nicht im Wege steht und sie bei ihrer Teilhabe an der gemeinsamen Selbstregierung ihrer Gemeinschaft nicht demütigt oder bevormundet, muss eine solche soziale Hierarchie keineswegs ein Hindernis für die Entwicklung von Demokratie darstellen. Wie wichtig Bürgerwürde für die Kerndemokratie ist, das erkennt jeder im Laufe seines Bürgerlebens, denn sie schützt den Einzelnen vor der Willkür von Regierungsbeamten oder mächtigen Mitbürgern. Dagegen garantiert sie keine Statusgleichheit innerhalb einer Glaubensgemeinschaft. Das verfassungsmäßige Bürgerrecht könnte durch Geschlecht, Geburtsrecht oder andere Bedingungen eingeschränkt sein, die in einem liberalen System für die politische Teilhabe belanglos wären. Obwohl Kerndemokratie von der Unterschiedlichkeit der Bürger profitiert, erfordert sie keine Diversität über alle Parameter, die der Gleichheit in modernen liberalen Gesellschaften zugrunde liegen. Auf der anderen Seite verlangen, wie wir gesehen haben, die politische Stabilität und die Sicherheitsanforderungen der Kerndemokratie, dass alle Menschen, die kulturell als potenzielle Bürger vorstellbar sind, die Möglichkeit haben, mittels staatsbürgerlicher Erziehung die Staatsbürgerschaft zu erlangen. Und in der heutigen Zeit kann eine Gesellschaft kaum noch behaupten, dass einheimische erwachsene Frauen als Bürger nicht infrage kämen. Auch die strikte Beschränkung der Bürgerschaft auf jene, die sie als ihr Geburtsrecht reklamieren können, ist für demokratische Staaten zunehmend schwerer zu begründen. Ohne eine plausible Rechtfertigung kann die gesetzliche Begrenzung des Bürgerrechts jedoch zu einer Destabilisierung der Gesellschaft führen und das Staatsziel der Sicherheit bedrohen. Kerndemokratie garantiert notwendigerweise ein ganzes Bündel von Bürgerrechten, von denen einige aus Vernunftgründen auch Nicht-Bürgern gewährt werden könnten – zuallererst denjenigen, de-
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ren Leben eng mit dem von Bürgern verbunden ist. Im Fall Athens führten Demokratiepraxis, die Erfahrung von Bürgerwürde, die inhärente Gefährdung der sozialen Ordnung durch die Überheblichkeit der Starken und die Anerkennung der ökonomischen und sonstigen Vorzüge, die der Gemeinschaft durch die Anwesenheit von NichtEinheimischen zugutekamen, schließlich dazu, dass Rechtssicherheit und Rechtsschutz in wichtigen Bereichen auch auf Menschen ausgeweitet wurden, die nicht der Bürgerschaft angehörten. Dennoch könnte sich eine kerndemokratische Gesellschaft möglicherweise gegen die gesetzliche Verankerung und den aktiven Schutz universeller Menschenrechte entscheiden. Eine nicht-liberale Demokratie könnte durchaus die Prämisse ablehnen, dass alle Menschen von politischen Erwägungen unabhängige Rechte besitzen – seien sie nun natur-, vernunft- oder gottgegeben. 24 Die Kerndemokratie ist demnach eine theoretische Option für eine hypothetische Menschengruppe, die nach einer nicht-tyrannischen und nicht-liberalen Gesellschaftsordnung Ausschau hält. Offen bleibt allerdings, ob sie auch eine praktische Option für reale zeitgenössische, religiös geprägte Gemeinschaften ist. Die für eine Kerndemokratie erforderlichen Bedingungen, also staatsbürgerliche Teilhabe, politische Freiheit, politische Gleichheit und Bürgerwürde, setzen dem Umfang der religiösen Autorität nämlich Grenzen. Außerdem könnte die Neigung der Demokratie, auf die Herausforderungen einer veränderlichen Umwelt mit der Schaffung neuer Institutionen zu reagieren, eine Bedrohung für die Staatsreligion darstellen. Zudem müsste eine heutige Kerndemokratie, die das Bürgerrecht auf – sagen wir – einheimische männliche Gläubige beschränkte, nicht nur mit gut organisierten Autokratien, sondern auch mit demokratischen Staaten konkurrieren, die über eine breiter gefächerte Bürgerschaft verfügen. In Kapitel 7.4 habe ich ausgeführt, dass die Zusammenführung des nützlichen, über die Bürgerschaft verteilten Wissens (von Experten oder anderen) einen Wettbewerbsvorteil gegenüber nicht-demokratischen Staaten darstellt. Jede Demokratie,
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die sich dazu entscheiden würde, die Vergabe der Staatsbürgerschaft in der oben beschriebenen Weise einzuschränken, würde auf einen bedeutenden Teil potenziell nützlichen, im Besitz der größeren Gemeinschaft befindlichen Wissens und damit auf einen wichtigen Vorteil verzichten. Blickt man unter Berücksichtigung des historischen Beispiels Athen den Spielbaum hinab und hält sich die Konsequenzen vor Augen, die ein Bekenntnis zur Kerndemokratie mit sich bringt, dann könnte die hypothetische, nach einer nicht-tyrannischen und nicht liberalen Gesellschaftsordnung suchende Gruppe durchaus die Kosten für zu hoch halten. Oder sie stellt bei dem Versuch, demokratische Institutionen zu schaffen, die zugleich Wohlstand, Sicherheit und eine nicht-liberale Ordnung garantieren sollen, fest, dass das damit einhergehende Problem der Gestaltung der Institutionen unlösbar ist. Dieser Abschnitt sollte allerdings auch nicht suggerieren, dass es leicht ist, unter heutigen Bedingungen eine nicht-liberale Kerndemokratie einzurichten. Ich wollte lediglich zeigen, dass diese konzeptuelle Möglichkeit nicht von vornherein ausgeschlossen werden darf. * * * Ziel dieses Buches war es, eine grundlegende Form von Demokratie zu definieren, die für ihre Existenz notwendigen Bedingungen zu spezifizieren und die Güter aufzulisten, die sie in der Theorie und der historischen Praxis bereitstellt. Ich habe zu zeigen versucht, dass Demokratie auch ohne den normativen und institutionellen Apparat des Liberalismus oder jedes andere moralbasierte Wertesystem möglich ist. Natürlich kann Kerndemokratie nicht alles bieten, was die meisten Menschen heutzutage von einer modernen Regierung erwarten. Aber sie beantwortet eine zentrale Frage der politischen Philosophie vor und nach dem Liberalismus: Wie können wir, wer auch immer wir sind, besser zusammenleben?
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Anmerkungen 1
Finleys Methode wird in seinen Werken deutlich, z. B. Finley 1975, 1985. Holmes 1979 (mit besonderem Bezug auf die Arbeiten von Leo Strauss und Hannah Arendt); Waldron 1992. 3 Müller 2016 betrachtet „anti-liberale Demokratie“ als Kategorienfehler, aber er versteht Demokratie auch als eine Tyrannei der Mehrheit, verteidigt von demokratischen Agonisten und Autokraten, die sich selbst als Demokraten stilisieren. 4 Vgl. Balot 2016, der darauf hinweist, dass ich in früheren Arbeiten die Ära der klassischen griechischen Demokratie als in wichtigen Aspekten der liberalen Demokratie nicht unähnlich dargestellt habe. Für ältere Betrachtungen über das „liberale antike Athen“ siehe Havelock 1957; Jones 1964. 5 Das Spektrum der zeitgenössischen demokratischen Theorie, die sich gegen den Moralismus von Rawls und Habermas’ Verzerrung des politischen Liberalismus wendet, umfasst ebenso „Realisten“ (Philip 2007; Geuss 2008; Galston 2010; Floyd 2011; Waldron 2013 mit der Erwiderung von Estlund 2014) wie „Agonisten“ (Honig 1993, 2001; Laclau und Mouffe 2001; Mouffe 2000, 2005). Wolin 1994, 1996 zeichnet sich durch ein spezifisch anti-institutionalistisches Demokratieverständnis aus, das eher kritisieren und Machtsysteme untergraben als ein stabiles Regierungssystem schaffen oder erhalten soll. 6 Schmidt und Williams 2008: 199–204 identifizieren „Demokratieförderung“ als eines von vier Hauptmerkmalen der Bush-Doktrin zur Stärkung amerikanischer Außenpolitik im Irak und anderswo auf der Welt im frühen 21. Jahrhundert. Vom Standpunkt eines realistischen außenpolitischen Ansatzes aus betrachtet, merken Schmidt und Williams (202) an: „Das große Projekt der Verbreitung von Demokratie im Nahen Osten auf der Basis vermeintlich universeller liberaler Prinzipien [Betonung hinzugefügt] ist nichts weiter als das jüngste Beispiel für den moralistischen und missionierenden Geist amerikanischer Außenpolitik.“ Carothers 2007 bietet eine kritische Rückschau auf amerikanische Demokratiebildungsversuche während der Amtszeit von George W. Bush. 7 Natürlich wird jede Gruppe noch andere Bedenken haben – aber hier soll nur gezeigt werden, dass der vorliegende Entwurf einer kerndemokratischen Theorie für beide Gruppen interessant genug ist, um weitere Überlegungen zu rechtfertigen. Hingegen ist es nicht das Ziel dieser Abhandlung, alle denkbaren Einwände endgültig auszuräumen. 8 Die Definition von Staat und die Frage, ob die griechische Polis (wie ich glaube) als echter Staat anzusehen ist, werden diskutiert von Rhodes 1995; 2
Anmerkungen
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Berent 1996, 2000, 2006; Hansen 2002. Gerade weil ich die griechische Polis für einen richtigen Staat halte, glaube ich nicht, dass die Beteiligung gewöhnlicher Bürger an der Vollstreckung von Regeln Demopolis zu einer „akephalen, staatslosen Gesellschaft“ macht. 9 Zur Illegitimität staatlicher Grenzkontrollen angesichts der Erfordernisse globaler Gerechtigkeit: Carens 1987; Archibugi 2012; Abizahdeh 2012. 10 In Brock und Moellendorf 2005 finden sich Aufsätze für und gegen eine kosmopolitische globale Gerechtigkeit. Pogge 2008 ist ein einflussreiches Statement der Position, dass Gerechtigkeit einer strikten Umverteilung des globalen Vermögens bedarf. 11 Liberale Staatstheoretiker: Blake 2003; Stilz 2009, 2011; Scheuerman 2012 als Reaktion auf kosmopolitische Liberale (oben) und Vertreter des Nationalismus (besonders Miller 2000) sowie Verfechter der „Shared Culture“ (besonders Kymlicka 1995). Es sei darauf hingewiesen, dass die Legitimität von Demopolis nicht von nationalistischen Faktoren oder einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund abhängt. 12 Tatsächlich steht Kerndemokratie nicht im Widerspruch zu jener Art liberaler Umverteilungsprogramme, wie sie z. B. von Tomasi (2012) auf der rechten bis hin zu Rawls auf der linken Seite propagiert werden. Sie ist allerdings unvereinbar mit Nozick 1974 auf der libertären oder Cohen 2008 auf der sozialistischen Seite. 13 Shklar 1989: 33 behauptet, dass „kein liberaler Staat jemals eine edukative Regierung haben kann, die nach der Schaffung einer bestimmten Art von Charakter strebt und ihre eigenen Überzeugungen durchsetzt“. Demopolis möchte seinen Bürgern zwar bestimmte Verhaltensgewohnheiten anerziehen, zwingt ihnen aber nicht die eigenen Überzeugungen auf, sodass es keineswegs „vorsätzlich und ausschließlich auf inhärent autoritäre Weise didaktisch“ ist. Liberalismus und verbindliches staatliches Bildungswesen: Gutmann 1999; Macedo 2000; Reich 2002 mit der angegebenen Literatur. 14 Zu miteinander verknüpften Leben von Bürgern und Nicht-Bürgern siehe die gesammelten Aufsätze in Taylor und Vlassopoulos 2015. Offenerer Zugang im Laufe der Zeit: Ober 2010. 15 Die in der Aristophanes-Komödie Weibervolksversammlung beschriebene Machtübernahme der Frauen beruht auf der Annahme, dass die Frauen eine bessere Sicherheits- und Prosperitätspolitik machen als die Männer. Obwohl es natürlich eine Komödie ist, kommt darin der Gedanke zum Ausdruck, dass sich die Athener durch den Ausschluss der Frauen von der politischen Teilhabe eine Ressource entgehen ließen, die für den Staat hätte von Nutzen sein können.
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Ein Vorschlag, allen Nicht-Bürgern einschließlich jenen Sklaven das Wahlrecht zu geben, die die demokratische Seite während des jüngsten Bürgerkrieges unterstützt hatten, wurde von der athenischen Volksversammlung angenommen, jedoch per Gerichtsbeschluss annulliert: Aristoteles Der Staat der Athener 40.2. Das hätte zwar nicht unmittelbar zur Abschaffung der Sklaverei geführt, wäre aber vielleicht ein Schritt in diese Richtung gewesen. Aristoteles Politik 1.1255a–b weist darauf hin, dass einige Theoretiker, denen er aufs Schärfste widerspricht, jegliche Form der Sklaverei als unnatürlich ablehnen. Monoson 2011: 272 charakterisiert die antiken Sklaverei-Kritiker, auf die Aristoteles anspielt, als Abolitionisten. 17 Siehe Wood 1988, der den postulierten Zusammenhang zwischen Sklaverei und staatsbürgerlicher Muße widerlegt. 18 Sklavenarbeit und Volkswirtschaft: Scheidel 2008; E. Cohen 1992. Freilassung: Zelnick-Abramson 2005, 2009; Akrigg 2015; Kamen in Vorbereitung. 19 Ismard 2015 behauptet, dass das „Outsourcing“ des in vielen Bereichen von der Regierung benötigten Fachwissens an Staatssklaven dem Schutz der bürgerlichen Demokratiekultur in Athen diente. Zu Fachwissen innerhalb der Bürgerschaft (wie darüber hinaus) siehe Pyzyk 2015. 20 Osborne 1995 z. B. behauptet, die dauerhafte Existenz des demokratischen Athens hinge tatsächlich von Sklavenarbeit ab. Scheidel 2008 bietet einen Überblick darüber, in welchem Umfang die antiken Ökonomien auf Sklavenarbeit angewiesen waren. 21 Was das Standardbeispiel für die Grenzen öffentlicher Rede, nämlich das „Feuer-Rufen in einem vollbesetzten Theater“ hinlänglich verdeutlicht. Williams 1993: Kapitel 3 zeigt, dass die Intention in den antiken griechischen Vorstellungen über die persönliche Verantwortung für das Geschehene eine untergeordnete Rolle spielt. Und er vertritt die Ansicht, dass die alten Griechen mit dieser wie mit anderen ethischen Überlegungen mehr oder weniger richtig lagen. 22 Ostrakismos: Ober 2015b: 174–175 mit der angegebenen Literatur. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich der „Schatten“ eines drohenden Scherbengerichts im Verlauf des 4. Jahrhunderts v. Chr. in irgendeiner Weise ausgewirkt hätte. 23 Ober 2008: 249–253; aber vgl. ebenda 258–263 über den beschränkten „Fairnesshorizont“ im klassischen Athen. 24 Wie in vielen anderen Gesellschaften üblich, verlangten auch die kulturellen Normen der antiken Griechen (unter dem Deckmantel göttlicher Anweisung) eine respektvolle Behandlung von Fremden. Innergriechische Kriege wurden zwar nach vage vereinbarten Regeln geführt (Ober 1996: Kapitel 5), aber diese Normen erreichten nicht im entferntesten das Niveau von echten
Anmerkungen
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„Menschenrechten“. Ob es im spätklassischen Griechenland eine Vorstellung von „natürlichen Rechten“ gab, ist umstritten: Mitsis 1999; Cooper 1999: 427–448.
Epilog Demokratie nach dem Liberalismus
Dieses Buch offeriert dem Leser eine Theorie der Demokratie als gemeinsame Selbstregierung von Bürgern. Es hebt den positiven Wert politischer Teilhabe für den Einzelnen hervor, den Wert der Bürgerwürde als Garant der Teilhabe und den Wert einer staatsbürgerlichen Erziehung, die die Bürger auf ebendiese Teilhabe vorbereitet. Im Vorwort habe ich meine Theorie als verhalten optimistisch bezeichnet. Doch ebenso wie ein berühmter Artikel von Judith Shklar (1989 [dt. 2013]: „Der Liberalismus der Furcht“) wurde auch dieses Buch im Schatten der Furcht geschrieben. Meine Befürchtung ist, dass dem zeitgenössischen Liberalismus schlicht die notwendigen Mittel fehlen, um die dringlichsten politischen, ökonomischen und ökologischen Probleme unserer Zeit anzugehen. Wenn die Institutionen des Liberalismus diesen Herausforderungen jedoch nicht gewachsen sind, könnten sich die Bürger entwickelter Länder in einem durchaus vorstellbaren Szenario entscheiden (mit wie großem Bedauern auch immer), einschlägige Elemente des zeitgenössischen Liberalismus über Bord zu werfen. Was wird dann geschehen? Wenn Liberalismus und Selbstregierung tatsächlich so sehr miteinander verflochten sind, dass sie gemeinsam stehen oder fallen, wird die Demokratie in sich zusammenstürzen und durch irgendeine Form der Autokratie ersetzt werden. Sollten sich meine Thesen aus den vorangegangenen Kapiteln hingegen bewahrheiten, würde ein kerndemokratisches Gerüst auch noch intakt bleiben, nachdem viele Eigenschaften des zeitgenössischen Liberalismus verloren gegangen sind. Wenn die kerndemokratische Grundstruktur weiterbesteht und ich in Bezug auf die Bedingungen richtig liege, die für ihren Erhalt erforderlich sind, gibt es eine annehmbare (wenn auch nicht optimale) nicht-liberale Alternative zu Unsicherheit, Verelendung
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Epilog
und Tyrannei. Wenn es sich bei der Kerndemokratie, wie ich ferner behaupte, nicht um eine Mehrheitstyrannei handelt und sie folglich auch nicht von anti-liberalen Populisten missbraucht werden kann, ist sie zudem die passende demokratische Antwort auf alle opportunistischen Versuche, den Begriff „Demokratie“ in einer post-liberalen Welt für autokratische Zwecke zu okkupieren. Selbst für liberale Demokraten wäre die Kerndemokratie in diesem Fall eine Alternative zur Hoffnungslosigkeit, in deren Abgründen sie sich ansonsten verlieren würden. Die Herausforderungen, vor denen die liberalen Demokratien in den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts stehen, sind gewaltig, wenn nicht gar existenziell. Inzwischen sind, während ich diese Worte schreibe, ein Vierteljahrhundert seit der post-sowjetischen Demokratisierungswelle und ein Jahrzehnt seit dem Aufstieg und Fall der George-W.-Bush-Doktrin eines amerika-geführten Demokratisierungsimperialismus vergangen. In Russland und China wurde die autokratische Herrschaft erfolgreich mit Kapitalismus und Nationalismus verschmolzen. Amerika ist mit einer politischen Polarisierung, Rassenkonflikten und virulenten Formen des Techno-Populismus konfrontiert, die versuchen, den Liberalismus als bösartige und maßlose „politische Korrektheit“ zu diffamieren. Die liberalen Ordnungen Europas befinden sich im Würgegriff einer nicht enden wollenden Finanzkrise, einer langen ökonomischen Rezession sowie einer wachsenden Migrations- und Flüchtlingskrise. Nicht-staatlicher, von apokalyptischen Ideologien gespeister und über globale Netzwerke kommunizierter Terrorismus fordert die Werte der Toleranz, liberale Staaten und internationale Institutionen gleichermaßen heraus. In vielen Teilen der Welt ist derzeit die Wiedergeburt eines exklusiven Nationalismus zu beobachten, der offen von den politischen Führern propagiert wird. Diese Ideologie hat etwas Verlockendes, während der Begriff „Liberalismus“ mittlerweile vielen Menschen – Rechten wie Linken – als Schimpfwort gilt. Liberalismus wird ebenso mit Elitedenken, Globalisierung und Raubtierkapitalismus assoziiert
Epilog
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wie mit Zwietracht säenden Lobgesängen auf die Vielfalt an sich und einem pauschalen Verzicht auf traditionelle Werte. Außerdem wird Liberalismus häufig (von Liberalen und ihren Gegnern) einer Vision von Volksherrschaft gegenübergestellt, deren Ziel die ethno-nationale Selbstbestimmung und deren Hauptmechanismus die Volksabstimmung ist. Ich schreibe dies nach dem britischen Referendum im Juni 2016, in dem eine Mehrheit der Wähler im Vereinigten Königreich entschieden hat, die Europäische Union zu verlassen. Auf das britische Referendum folgte dann, fünf Monate später, die Wahl eines amerikanischen Präsidenten, dessen populistische Wahlkampagne von heftigen Anfeindungen gegen den Liberalismus gekennzeichnet war. 1 Überall auf der Welt, selbst in Ländern, die einst als Vorreiter eines liberalen Internationalismus galten, ist das Aufkeimen einer provinziell-nationalistischen Politik zu beobachten, die einen immensen Druck auf die liberalen Aspekte liberaler Demokratien ausübt. Staaten und Staatenbünde in weiten Teilen der entwickelten Welt sehen sich derzeit mit der schwierigen Frage konfrontiert, ob sie bereit sind, ihren eigenen Wohlstand und ihre Sicherheit für die Prinzipien eines universellen Menschenrechts aufs Spiel zu setzen, das in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und in vielen nationalen Verfassungen verankert ist. Immer häufiger scheint die Antwort „nein“ zu lauten. Ein halbes Jahr vor der Brexit-Entscheidung, im Dezember 2015, hat Schweden – ein Land mit einer besonders starken Tradition in Bezug auf die Anerkennung von Flüchtlingsrechten – seine Grenzen geschlossen, um die existierende Gesellschaftsordnung zu schützen. Das Ringen um einen Kompromiss zwischen Sicherheit und Wohlstand auf der einen sowie der Verpflichtung gegenüber den universellen Menschenrechten auf der anderen Seite steht heutzutage in vielen Ländern ganz oben auf der staatspolitischen Agenda. Der Trend, für den die schwedische Flüchtlingspolitik, der Brexit und der Wahlsieg Donald Trumps stehen, mag sich als ephemer erweisen. Aber vielleicht auch nicht. Es ist keineswegs gewiss, dass die Wähler
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des 21. Jahrhunderts auch weiterhin eine auf die Wahrung der universellen Menschenrechte ausgerichtete Politik unterstützen, wenn sie fürchten müssen, dass diese Politik auf Kosten der Sicherheit und des Wohlstands ihres Heimatlandes geht. Die Wahlkampagne von Donald Trump war ebenso wie die Brexit-Kampagne von der Betonung der nationalen Selbstbestimmung und einer Dämonisierung von Migranten geprägt. Im Vorfeld des britischen Referendums etwa bildeten intellektuelle Linke und xenophobe Rechte ein ziemlich seltsames Gespann. Beide forderten die britischen Bürger im Namen der Demokratie dazu auf, die Europäische Union zu verlassen. Während des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfs von 2016 prangerten linke wie rechte Kritiker des Status quo Banker und Regierungsinsider als selbstsüchtige Eliten ohne Bezug zu den gewöhnlichen Bürgern an. Inzwischen hat Marine Le Pen, die Anführerin des rechtsextremen französischen Front National, in einem Leitartikel der New York Times die Entscheidung der Briten, aus der Europäischen Union auszutreten, als „ersten echten Sieg des Volkes“ gefeiert. Sie sagte voraus, dass „der patriotische Frühling nicht mehr aufzuhalten“ sei. Die Führer der in ganz Europa wiederauflebenden ultra-nationalistischen Parteien bejubelten Trumps Wahlsieg als revolutionären Aufbruch in eine neue Ära – als „das Ende des 20. Jahrhunderts“, um es mit Le Pens Worten zu sagen. All dies muss nicht notwendigerweise bedeuten, dass sich die liberale Demokratie in einer Todesspirale befindet. Aber nach den jüngsten Entwicklungen kann es keineswegs als sicher gelten, dass eine auf den Prinzipien des zeitgenössischen Liberalismus beruhende Politik bei der Weiterentwicklung der Industrienationen auch in Zukunft die Regel sein wird. 2 Liberale Theoretiker werden sich angesichts der gegenwärtigen Situation vielleicht angewidert oder verzweifelt von der Demokratie abwenden, eine Philosophenherrschaft propagieren und darauf drängen, dass die Staatsgewalt in die fähigen Hände einer dafür ausgebildeten Elite gelegt wird (Brennan 2016). Diese Lösung ist jedoch unrealistisch: Wie Platon vor ihnen fehlt auch den Epistokraten des
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21. Jahrhunderts ein praktikabler Plan, um eine unwissende demokratische Mehrheit davon zu überzeugen, sich friedlich der Herrschaft einer mutmaßlich weisen Minderheit zu unterwerfen. Aber selbst wenn es liberalen Epistokraten irgendwie gelänge, die Bürger zum Verzicht auf die kollektive Selbstregierung zu bewegen, legen die in diesem Buch formulierten Thesen nahe, dass die (ehemaligen) Bürger damit einen großen Fehler begingen. Nicht nur, dass sie auf diese Weise die Voraussetzungen für ihr eigenes Gedeihen verlören, eine liberale Epistokratie wäre auch inhärent instabil. Wie ich ausgeführt habe, braucht Liberalismus ein demokratisches Fundament, um dauerhaft in einer Bevölkerung aus auch nur teilweise eigennützigen Individuen bestehen zu können. Für Liberale, die Menschenrechte als etwas Absolutes ansehen, ist dieses Buch zweifellos unbequem. Doch es sollte zeigen, dass Kerndemokratie zuverlässig politische Bedingungen bewahrt, die für einen Gutteil dessen stehen, was Liberale als Rechte zu verteidigen versuchen. Und es liefert liberalen Demokraten Argumente, um nationalistischen Populisten entgegenzutreten, die unter dem Deckmantel der Demokratie xenophobe Politik betreiben. Liberale weisen zu Recht darauf hin, dass die Kerndemokratie den Aufstieg populistischer Despoten womöglich nicht verhindern und folglich in eine Autokratie münden könnte. Allerdings können Despoten nur dann die Macht übernehmen, wenn bürgerliche Selbstregierung auf eine simple Form der Mehrheitstyrannei reduziert wird. Dieses Buch hat jedoch gezeigt, dass Kerndemokratie ebendies nicht ist. Die Vereinnahmung der Demokratie durch populistische Nationalisten, die weniger am politischen System als am Markennamen interessiert sind, ist nur zu verhindern, wenn anerkannt wird, dass Bürger sich nur dann tatsächlich selbst regieren können, wenn neben Rede- und Vereinigungsfreiheit auch politische Gleichheit und Bürgerwürde gewährleistet sind. Während national-populistische Opportunisten diese Bedingungen gerne verunglimpfen, werden sie – wenngleich aus unterschiedlichen Gründen – von liberalen und auch vielen nicht-liberalen Bürgern in der Regel umso mehr geschätzt. Die
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kerndemokratische Theorie misst Sicherheit, Wohlstand und der Vermeidung von Tyrannei eine hohe Bedeutung zu. Darum bin ich auch überzeugt, dass sie eine mehr als geeignete Grundlage für einen breiten politischen Konsens ist. Wenn ich richtig liege, bietet die Kerndemokratie darüber hinaus einen gangbaren politischen Weg durch eine post-liberale Welt. Natürlich hoffe ich nach wie vor, dass es der liberalen Demokratie gelingen wird, die Herausforderungen zu meistern, vor denen sie gegenwärtig steht. Da das Entstehen einer post-liberalen Welt derzeit jedoch eine reale Möglichkeit darstellt, ist es die Pflicht eines demokratischen Theoretikers, darauf vorzubereiten. Wenn es richtig ist, dass die Kerndemokratie das menschliche Gedeihen fördert und zugleich als Kristallisationspunkt für ein breites politisches Bündnis dienen kann, muss einem aber auch angesichts eines solchen Szenarios nicht bange werden. Im Gegenteil, es gibt allen Grund zur Hoffnung. Anmerkungen 1
Während mit 51,9 % tatsächlich eine Mehrheit der Briten für den Austritt aus der EU stimmte, verfehlte Donald Trump die Stimmenmehrheit bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2016. Die Gesamtzahl der gewonnenen Bürgerstimmen war jedoch verfassungsrechtlich irrelevant, weil Trump die Mehrheit im Wahlmännerkollegium errungen hatte, einer von den liberalen Gestaltern der amerikanischen Verfassung geschaffenen Institution, die eine direkt-demokratische Entscheidungsfindung verhindern soll. 2 Linke Intellektuelle für den Brexit: Richard Tuck, „The Left Case for Brexit“: https://www.dissentmagazine.org/online_articles/left-case-brexit, abgerufen am 2. Mai 2017. Leitartikel von Marine Le Pen: http://www.nytimes. com/2016/06/28/opinion/marine-le-pen-after-brexit-the-peoples-spring-isinevitable.html, abgerufen am 2. Mai 2017. Europäische Ultra-Nationalisten, die Trumps Wahlsieg feiern: http://www.nytimes.com/2016/11/12/world/ europe/donald-trump-marine-le-pen.html, abgerufen am 2. Mai 2017.
Danksagung Die Ideen in diesem Buch wurden über viele Jahre hinweg ausgebrütet. Ihre gegenwärtige Form geht auf eine Einladung des Centre for Political Thought der Universität Cambridge zur Abhaltung der Seeley Lectures im Oktober 2015 zurück. Mein tiefster Dank gilt daher der Historischen Fakultät von Cambridge, meinen außerordentlich großzügigen Gastgebern John Robertson und Christopher Meckstroth sowie den vielen Studenten in Cambridge, die meine Vorlesungen und das Seminar besucht, tiefgründige Fragen gestellt und eindringliche Anmerkungen beigetragen haben, was meinen Besuch ungeheuer lohnend und angenehm gemacht hat. Clare Hall bot mir während meines Aufenthalts eine ideale Unterkunft. Ein Forschungssemester der Universität Standford und ein Stipendium des Stanford Humanities Center im Studienjahr 2013/14 ermöglichten mir eine Auszeit von meinen Lehrverpflichtungen, um einen ersten Entwurf der Vorlesungen zu entwickeln. Eine A.-G.-Leventis-Gastprofessur an der Universität Edinburgh im Herbsttrimester 2015 gab mir die Gelegenheit, das Manuskript in angenehmer Umgebung und im Gespräch mit interessierten Kollegen ein erstes Mal redaktionell zu überarbeiten. Vor und nach den Vorlesungen in Cambridge wurde ich eingeladen, Teile des Themas im Rahmen verschiedener Vorträge, Workshops und Seminare vorzustellen. Ich bedanke mich für die wichtigen Hinweise und anregenden Fragen an der University of California in Berkeley, am Charleston College, am Dartmouth College, an der University of California in Davis, an der University of Edinburgh, am EHESS (Paris), an der Central European University (Budapest), am IHR (London), an der McMaster University, an der University of Maryland in Baltimore, an der University of New Hampshire, an der Princeton University, an der St. Andrews University, an der Stanford University, am Trinity College (Dublin), an der UNISA (Pretoria), an
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Danksagung
der University of Washington, an der Wesleyan University sowie am William and Mary College. Zwei anonyme Leser sowie viele Freunde und Kollegen haben das Manuskript oder Teile davon hilfreich kommentiert. Sie haben mich auf diese Weise vor sachlichen Fehlern bewahrt und außerdem dazu ermutigt, mein Lesespektrum zu erweitern; und sie haben mich ermahnt, meine Thesen sorgfältiger zu durchdenken und sie klarer darzustellen. Zu großem Dank verpflichtet bin ich daher Danielle Allen, Ryan Balot, Annabel Brett, Mirko Canevaro, David Carter, Paul Cartledge, Federica Carugati, Emilee Chapman, Sean Corner, Paul Demont, Huw Duffy, Jacob Eisler, Amos Espeland, John Ferejohn, Luc Foisneau, Catherine Frost, Charles Girard, Deborah Gordon, Ben Gray, Stephen Halliwell, Jon Hesk, Kinch Hoekstra, Bob und Nan Keohane, Melissa Lane, Tony Lang, Jacob Levy, Steve Macedo, Bernard Manin, Adrienne Mayor, Alison McQueen, Chris Meckstroth, Jan-Werner Müller, Rob Reich, Nicholas Rengger, John Robertson, Stefan Sciaraffa, Artemis Seaford, Matt Simonton, Sarah Song, Peter Stone, David Teegarden, Mathias Thaler, Barry Weingast und Leif Wenar. Ihre großzügige Hilfe hat dieses Buch formal wie inhaltlich ungemein verbessert. Dennoch bleibt es eine persönliche Sicht auf die Demokratie, mit der sicher nicht jeder übereinstimmt. Der übliche Hinweis, dass verbliebene Fehler allein der Verbohrtheit des Autors geschuldet sind, gilt hier ganz besonders. Für die behutsame und flüssige Übersetzung ins Deutsche möchte ich an dieser Stelle Karin Schuler und Andreas Thomsen danken, und Leoni Hellmayr für das Fachlektorat. Von der politikwissenschaftlichen Seite aus hat Daniel Schulz vom Münchner Geschwister-Scholl-Institut das von Götz Fuchs zusammengestellte Team beraten. Ihm und seinem verlegerischen Enthusiasmus verdanken die Leserinnen und Leser aus Deutschland, dass mein Buch zeitgleich mit der englischsprachigen Originalausgabe erscheint. Vor allem jedoch möchte ich meiner Lebensgefährtin Adrienne Mayor danken, ohne die ich niemals etwas Vernünftiges zu Papier gebracht hätte.
Bibliografie Abizahdeh, Arash. 2012. „On the Demos and Its Kin: Nationalism, Democracy, and the Boundary Problem“. American Political Science Review. 106: 867–882. Acemoglu, Daron, und James A. Robinson. 2006. Economic Origins of Dictatorship and Democracy. New York und Cambridge: Cambridge University Press. —. 2015. „Paths to Inclusive Political Institutions“. Working Paper. Acemoglu, Daron, Suresh Naidu, Pascual Restrepo und James A. Robinson. 2014. Democracy Does Cause Growth. Cambridge, Mass.: National Bureau of Economic Research. Achen, Christopher H., und Larry M. Bartels. 2016. Democracy for Realists: Why Elections Do Not Produce Responsive Government. Princeton, N.J.: Princeton University Press. Akrigg, Ben. 2015. „Metics in Athens“. S. 155–176 in Communities and Networks in the Ancient Greek World, hg. v. Claire Taylor und Kostas Vlassopoulos. Oxford und New York: Oxford University Press. Allen, Danielle. 2004. Talking to Strangers: Anxieties of Citizenship since Brown v. Board of Education. Chicago: University of Chicago Press. Amar, Akhil Reed. 2005. America’s Constitution: A Biography. New York: Random House. Anderson, Elizabeth. 1999. „What Is the Point of Equality?“ Ethics. 109: 287– 337. —. 2006. „The Epistemology of Democracy“. Episteme: Journal of Social Epistemology. 3 (1): 8–22. —. 2007. „How Should Egalitarians Cope with Market Risks?“ Theoretical Inquiries in Law. 9: 61–92. Anderson, Greg. 2009. „The Personality of the Greek State“. Journal of Hellenic Studies. 129: 1–22. Archibugi, Daniele, Mathias Koenig-Archibugi und Raffaele Marchetti, hg. 2012. Global Democracy: Normative and Empirical Perspectives. Cambridge und New York: Cambridge University Press. Austin, John L. 1975. How to Do Things with Words. Cambridge, Mass.: Harvard University Press [dt.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart: Reclam. 1972].
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Register
Abstimmung 175, 185, 223 f., 236 ff. Agamemnon 106 agonistischer Pluralismus 220, 255 agonistische demokratische Theorie 255 „Alle machen mit“-Regel 76 Alte Oligarch, der 47 analytische politische Theorie 16, 116, 124 Anarchie 31, 71, 200 anti-tyrannischer Impuls 247 arche 41 ff. archon 42 Argos Panoptes 201 aristokratia 40 ff., 55 Aristophanes 92, 108, 269 Aristoteles 14 –, Nikomachische Ethik 14, 143, 196, 238 Politik 14, 116, 126, 127, 133 f., 200 f. Tierkunde 126 f. –, über staatsbürgerliche Erziehung 116 –, über Demos 200 –, über Fähigkeit des Menschen 164 –, über politische Entscheidungsfindung 217 –, zur Definition des „Bürgers“ 72 aristotelischer Eudämonismus 217 Athen 34–57 –, anti-liberale Gesellschaft in 250 f. –, Bevölkerung von 35 –, Bürgerschaft in 37, 260 –, Bürgerrat in 35 –, Deliberationen des Rats der 500 226 ff. –, Deliberationen der Bürgerversammlung 228 –, Demokratie 15 –, als unmittelbare Regierung durch die Bürger 36 –, Zeit der 37
–, –, –, –, –, –, –, –,
demokratische Geschichte von 260 Falldarstellung 224 f. Frömmigkeit in 262 Größe 35 Option der Seeschlacht 229 f. politische Geschichte von 35 ff. politische Teilhabe in 146 f. Reaktion auf die Gefahr eines Persereinfalls im Jahr 481 v. Chr. 224 ff. –, Rat der 500 225 –, Sklaverei in 261 –, Suche nach relevanten Gebieten und Fachleuten 225 f. –, Stufe der endgültigen Abstimmung 228 –, Terminologie der Regierungsformen 39 ff. –, Vielfalt in 35 athenische Demokratie 36 f. –, und politische Gleichheit 253 –, und politische Freiheit 253 –, und Liberalismus 253 Austen, Jane 20 Autokratie 108 ff. –, Ablehnung der 18, 160 –, Demokratie versus 98 ff., 274 ff. –, Legitimität von 59 f. –, Notwendigkeit von 23 –, Präferenz der Bevölkerung für eine 61 f. Autonomie, individuelle/persönliche 8, 11 f., 24, 261 Barber, Benjamin 23 Befugnis, siehe auch Grundfähigkeiten 8, 44 ff., 56, 171, 204, 210, 264 Bejahende Billigung 85, 118 Bell, Duncan 17 f. Berlin, Isaiah 68
Register Bevormundung/Entmündigung 25, 37, 145, 159, 171, 173 f., 184, 187 ff., 193, 195, 196, 198, 246, 259, 265 Bobonich, Christopher 117 Bratman, Michael 163 „Brexit“-Referendum 209, 275 f. Bürger 187 –, Akzeptieren der Staatsmacht von 85 –, Besteuerung der 77 f., 86 –, Bürgerrechte 266 –, Treffen von Entscheidungen 187 f. –, Expertise der 201 f. –, Frömmigkeit der 274 –, Gleichheit und Freiheit 80 f. –, Interessen der 215 f. –, nicht-tyrannische Regierung und 76 –, öffentliche Güter und 76 f. –, Religion 263 ff. –, Risikoeinschätzungen 186 ff. –, Selbstregierung 208 ff., 242 –, Staatsbürgerliche Erziehung 86 –, Teilhabe der 76 ff. –, Zwecke des Staates und 65 f. –, nicht-tyrannische Regierung 66 –, Wohlstand 65 –, Sicherheit 65 Bürgerrat 35 Bürgerrechte 11, 37, 71 ff., 82, 92 ff., 257, 260, 265 f. –, im antiken Athen 37, 260 –, staatsbürgerliche Erziehung und 111 ff., 258 f. –, Staatsmacht und 71 ff. Bürgerversammlung 27, 37, 46, 50, 224 f., 228, 262 Bürgerwürde 169 ff. –, als ein „Quasi-Recht“ 253 –, als gelebte Erfahrung 171 ff. –, als Grundvoraussetzung für Demokratie 159 –, Bedrohung der 189 –, Freiheit und 186 ff. –, Gleichheit und 159, 186 ff. –, in Demopolis 258 –, Individualität 161 ff.
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–, Interdependenz 161 ff. –, im klassischen Athen 192 f. –, Kerndemokratie und 159 ff. –, kollektives Handeln 166 f. –, Menschenrechte und 253 –, Politische Freiheit 168 ff. –, Reputationseffekte 185 –, Risiken und 175, 182 f., 187 ff. –, Spiel zur 176 ff. –, Tugenden 182 ff. –, Verteidigung der 183 –, Wandelbarkeit 161 ff. –, Werte 157 ff. –, Wirtschaftsliberalismus und 192 –, Wissen 161 Bush, George W. 197, 268, 274 Caligula 106 Carawan, Edwin 51 Cartledge, Paul 53 Carugati, Federica 31 Chapman, Emilee 163 China 166, 278 chresmologoi (Orakeldeuter) 228 Chwe, Michael 20 f. Condorcet-Jury-Theorem 219, 226 Dahl, Robert 216 Delegierungsspiel 204 ff. Delegierung von Macht 198 ff. –, Aggregieren von Fachwissen 230 ff. –, Fachleute 213 ff. –, in der Kerndemokratie 243 f. –, Interessen 213 ff. relevant expertise aggregation 222 ff. –, Selbstregierung der Bürger 208 ff. –, Spiel 204 ff. –, systematische Korruption und 202 ff. –, Wissen 213 ff. Deliberation, bei Entscheidungsfindung 219 Demagogen 38, 247 Demokratie –, Alltagstheorie der 27 –, als Ablehnung der Autokratie 18
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Register
–, als Ausweg aus dem Naturzustand 108 –, anti-liberale 24, 250 ff., 256, 268 –, athenische 36 f. –, „athenische“ Version von 13 –, ausgereifte griechische Definition von 48 ff. –, der Angst 26 –, direkte 52, 97 f., 193, 204 ff., 223 f., 235, 245 –, epistemische 214 f., 218 ff., 236 f. –, Etymologie von 39 ff. –, Größe und Komplexität von Staat und 210 ff. –, historische Praxis der 11 Kern-, siehe Kerndemokratie –, konstitutionelle –, Legitimierung von 96 ff. –, liberale 2, 8, 16 ff., 30 f., 49, 212, 216, 229, 252 f., 262, 274 ff. –, machiavellische 30, 258 –, menschliche Grundfähigkeiten in der 123 ff. –, nach dem Liberalismus 273 ff. –, nichtliberale 250 f. –, repräsentative 153, 204 ff. –, Theorie der 241 ff. –, ursprüngliche griechische Definition von 39 ff. –, Wertepluralismus und 245 demokratisches Gut 97 ff. –, Ausübung von Grundfähigkeiten als 138 ff. –, in der Kerndemokratie 243 demokratia 24 ff. Demopolis 58 ff. –, als ein Staat 257 –, als Modell einer Kerndemokratie 251 –, Austritt von Bürgern 84 ff. –, Bevölkerung 61 f. –, Bürgerrecht in 71 ff. –, Bürgerwürde in 258 –, Eintritt von neuen Bürgern in 84 ff. –, Festschreibung der Gesetze in 81 ff. –, Gesetzgebung 78 ff.
–, Gründer 61 ff. –, Kosten für 68 –, ethische Orientierungen 66 f. –, Nutzenfunktion 69 f. –, Namensgebung, als Demokratie 87 ff. –, Prosperität in 256 f. –, Staatsmacht in 71 ff. –, Staatsbürgerliche Erziehung in 111 ff., 258 f. –, Staatszwecke 61 ff. –, Steuern und Besteuerung 66 ff., 77 f., 85 f., 94 –, Teilhabe in 76 ff. Demos 108 f. –, als Hobbescher Souverän 108 –, athenischer 35 ff. –, Bürgerwürde-Spiel 178 –, Definition von 8, 45 f. –, Delegierung von Macht 198 –, Existenz von 71 –, im Delegierungsspiel 204 ff. –, kollektive Befugnis des 46 kratos und43, 48 –, legitime Macht des 198 –, Leviathan- 109 –, Macht des 49 –, schlafender Souverän und 199 –, Selbstregierung der Bürger 208 ff. –, soziale Vielfalt des 51 –, systematische Korruption und 202 ff. –, Wachsamkeit des 199 ff. Demütigung 25, 36 f., 80, 106, 173 ff., 176 ff., 193, 259, 265 Der Peloponnesische Krieg (Thukydides) 110 Der Staat (Platon) 116, 199, 220 Dewey, John 258 Die Gesetze (Platon) 116 Diktatoren, wohlwollende 15, 66, 144 Dritte Partei als Vollstrecker 9, 30, 35, 104, 106 f., 128, 132, 157, 165, 242 „Econs“ 132 Ehre 43 f., 103 f., 107, 128, 180, 186, 193
Register Eine Theorie der Gerechtigkeit (Rawls) 13, 258 Elite, technokratische 8, 246 Elitedenken 278 f. ethischer Individualismus 12, 68, 162 ethisches Urteilsvermögen 73 Expertise/Fachwissen 201, 220 ff. –, Aggregieren von 230 ff. Föderalismus 114 Finley, Moses 248 Foisneau, Luc 107 Form des Guten 221 Freiheit, siehe auch politische Freiheit 160, 264 –, athenische Demokratie und 253 –, Bürgerwürde und 186 ff. –, Kerndemokratie und 244, 260 Fremdenfeindlichkeit 288 Frey, Bruno 114 Frömmigkeit 251, 262 Gefallenenrede (Thukydides) 48 Gemeinsame Selbstregierung 143 Gemeinsame Interessen 35, 44, 52, 76 f., 93, 117 f., 132 ff., 158, 162, 170, 202 f., 209, 213 ff., 222, 224, 229, 231, 233 f., 264 Generalfachleute 221 Gemeinsames Handeln 163 Gemischte Regierung 49 Gerechtigkeit –, ausgleichende 75 –, materielle 14 f., 80 –, Verfahrens- 14 –, Verteilungs- 8 f., 11 f., 14 f., 24 f., 29, 62, 67, 75, 77 f., 160, 190 ff., 212, 244, 249, 258 Gesellschaftsgröße 59 Geselligkeit 126 ff. Gesetzgebung 78 ff. Gesundheit 22, 113 ff., 149, 192, 197 Gettysburg Address 52 Gewalt 9, 59, 66, 89, 101 ff., 109, 164 Gleichheit 159 f.
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–, athenische Demokratie und 253 –, Bürgerwürde und 171, 186 ff. –, Kerndemokratie und 244 –, politische 1, 11, 22, 25, 48 f., 80 f., 101, 115, 123, 152, 159 ff., 168 f., 171 f., 215 f., 243 f., 253, 260, 264, 266, 277 –, politische Freiheit und 168 ff. Globalismus 90 Gründer (von Demopolis) 61 ff., 66 ff. Grundfähigkeiten –, freie Ausübung der 144 ff. –, charakteristische 140 ff. gynaikokratia 43 ff., 55 Hadrian 106 Herodot 32, 44, 224, 228 ff. Hobbes, Thomas 19 –, „Hobbes' Herausforderung“ 23, 103 ff., 124, 157, 165 –, Leviathan, siehe Leviathan (Hobbes) –, zum nicht an Gesetze gebundenen Herrscher 199 –, zum „Naturzustand“ 23, 103 ff., 108, 110, 119, 128 f., 131 f., 166, 171, 199, 247 –, zur menschlichen Geselligkeit 127 ff. –, zur Notwendigkeit der Autokratie 23 Hohe Einsätze 163 f. Honigbienen, als staatenbildende Insekten 127 Humankapital 102, 151 f., 166 f., 169 f., 195, 242 Hume, David 19 hybris 193 independent guess aggregation 219 Individualität 161 ff. Innovation 37, 50 f., 75, 170, 194, 235 Institutionen, Gestaltung von 167, 204, 210 f., 212 f., 267 Interdependenz 161 isegoria 43 ff., 47 isokratia 41, 43 ff.
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Register
isonomia 43 f., 47 isonomos 47 japanischstämmige Amerikaner, Internierung im Zweiten Weltkrieg 74 „Jim-Crow-Gesetze“ 171 Kallipolis 220 Kant, Immanuel 216 Kantone, Schweiz 114 Kapitalismus 278 Katze, anspringende 141 f. Kerndemokratie 7 ff., 241 ff. –, als Zustand vor dem Liberalismus 11 ff. –, Bürgerrechte und 265 f. –, Bürgerwürde und 159 ff. –, Demokratische Güter in der 243 –, Einschränkung der Vergabe der Staatsbürgerschaft in der 266 f. –, Freiheit und 244, 260 –, Gleichheit und 243 f., 260 –, Infragestellen der 23 –, in zeitgenössischen liberal-demokratischen Staaten 246 f. –, Legitimität der 244 –, Legitimität und Befugnis in der 8 –, Legitimität und Effektivität in der 22 –, Liberalismus und 252 f. –, Menschenrechte und 8, 12, 260, 266 –, Politische Theorie der 7 ff. –, normative 19 ff. –, positive 19 ff. –, Problem des kollektiven Handelns und 242 –, Religionsgemeinschaft und 264 –, Stabilität der 21 –, Übertragung von Macht in der 243 –, Werte der 172 f. –, Ziel der 10 f. Kollektiver Akteur 18, 71, 91, 181, 208 Kollektives Handeln 166 ff., 242 Kommunikation 136 ff. Konsens 51 f., 63, 78, 85, 107 f., 130, 218, 258, 278
Konzept des „allgemeinen Willens“ 163 Korruption 202 ff. kratos 39 ff., 48 kulturelle Norm 72, 87, 270 kulturelle Vorstellung 73 ff., 92, 147, 260 f., 265 Le Pen, Marine 280, 282 Legitimität –, „grundlegende Legitimitätsfrage“ 148 –, von Autokratie 59 f. –, von Demokratie 96 ff. –, von Kerndemokratie 8, 22, 147 Leviathan (Hobbes) 19, 23, 40, 103 ff., 128 f., 132 f., 137, 160, 181 f., 199, 242 Liberale Demokratie 2, 16 f., 61, 249 ff., 278 –, Abwesenheit 250 –, Herausforderungen an 273 f. –, Rahmenbedingungen für 251 Liberale politische Theorie 11 f., 15, 86, 159, 164, 253 f. Liberalismus 2 ff., 246 –, als Schimpfwort 274 –, athenische Demokratie und 253 –, Demokratie als Fundament für 256 ff. –, Demokratie nach 273 ff. –, demokratischer 17 –, in Demopolis 257 –, kantianischer 14, 162 –, Kerndemokratie als Vorläufer von 11 ff. –, Moral und 12 f. –, Politische Theorie von 12 –, Selbstregierung und 273 Liberty before Liberalism (Skinner) 13 Lincoln, Abraham 52 Locke, John 19, 31, 86, 209, 237 Los 36, 50, 79, 201 f., 225 Machiavelli 19 machiavellische Demokratie 30, 258 Macht 42 Madison, James 19 Marmot, Michael 113, 149
Register Maßstab 59, 210, 230 ff., 236 materielle Güter 97 ff., 147 materielle Gerechtigkeit 14 f., 80 McCormick, John 30, 258 Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 275 menschliche Abhängigkeit 163 f. menschliches Gedeihen 3, 7, 116, 125, 129, 136, 140, 143, 149, 151, 155, 161, 241, 277 f. menschliche Grundfähigkeiten 123 ff. –, Ausübung als demokratisches Gut 138 ff. –, Freie Ausübung 144 ff. –, Geselligkeit 126 ff. –, Kommunikation 136 ff. –, Teilhabende Bürgerschaft und 144 ff. –, Vernunft 132 ff. menschliche Natur 39, 74 f., 103, 116, 121 Menschenrechte –, Bürgerwürde und 253 –, „grundlegende Legitimitätsfrage“ und 148 –, Kerndemokratie und 8, 12, 260, 266 –, liberale Demokratie und 250 –, Menschenrechtserklärung 275 –, Sicherheit und 275 –, Wohlstand und 275 Meritokratie 185 Mill, John Stuart 79, 258 monarchia 40 ff., 43, 55 monokratia 41, 56 Montesquieu 19 moralischer Liberalismus 12 f. Mut 182 f. Nachbarschaftswachen 209 Nationalismus 278 Natur, im Delegierungsspiel 204 ff. Naturzustand 23, 103 ff., 119, 128 f., 131, 132, 166, 171, 199, 205 ff., 247 nicht-staatlicher Terrorismus 278 Nicht-Tyrannei 66 –, als ein öffentliches Gut 76
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–, Religion und 263 ff. –, systematische Korruption und 202 f. –, Teilhabe und 79 –, Volksgesundheit und 113 –, zu einem vernünftigen Preis 68 Nikomachische Ethik (Aristoteles) 14, 143, 196, 238 normative politische Theorie 19 ff., 123 f., 158, 241 Nutzenfunktion 69 öffentliche Güter 76 oligarchia 40 ff., 46, 55 Oligarchie 43, 72, 217 Olson, Mancur 59, 131 Ostrakismos 38, 50, 93, 250, 263, 270 Paternalismus 1, 112, 145, 174, 186 f., 189, 191 f., 196 Peloponnesischer Krieg 50, 110, 199, 261, 263 Pettit, Philip 30, 47, 80, 194, 215, 219, 237, 258 Philosophenherrschaft 280 f. Philosophenkönige 44, 221 phronesis 217 Platon 35, 58, 116 f., 128 f., 131, 169, 198 f., 214, 216 f., 220, 276 f. Pluralismus –, agonistischer 220, 255 –, religiöser 11, 28 –, Uneinigkeit und 162 –, Werte- 13, 17, 63, 245, 250 Politik (Aristoteles) 14, 19, 116, 126 f., 133 ff., 137, 153, 197, 200, 270 Politische Freiheit 214 f., 243 f., 253, 260, 266 Politische Gleichheit 1, 11, 22, 25, 48 f., 80 f., 101, 115, 123, 152, 159 ff., 168 f., 171 f., 215 f., 243 f., 253, 260, 264, 266, 277 Politische Teilhabe 147 –, Gelegenheitskosten 149 –, in Athen 146 f. –, in der Kerndemokratie 242 f.
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Register
Politische Theorie –, agonistische 255 –, analytische 16 –, ideale 13 –, liberale 11 f., 15, 86, 159, 164, 253 f. –, normative 19 ff., 31 f., 97, 123 f., 158, 241 –, positive 19 ff., 31 f., 97, 102, 104, 106, 111, 116, 124, 158, 241 –, wirklichkeitsnahe 241 politische Tiere 127 pollarchia 41 pollokratia 41 Polybios 49, 57 Populismus/Populisten 2, 4, 17 f., 30, 34, 38, 199, 246 f., 274 f., 277 positive politische Theorie 19 ff., 31 f., 97, 102, 104, 106, 111, 116, 124, 158, 241 Primaten 126, 130, 153 Projekte/Güter von sozialem Wert 68, 76, 83 f., 206, 210 f. „Proporzprinzip“ 102 psephokratia 47 Rational-Choice-Theorie 132 Rationalität 132 ff. Ratsherren 36, 226, 238 f. Rawls, John 13, 24, 59, 63, 66, 86, 191, 243 f., 253, 258, 268 f. Recht der Völker (Rawls) 258 Rechte, siehe auch Menschenrechte –, Bürger-, siehe Bürgerrechte –, „natürliche“ 11 rechtmäßige Demokratie 210 Rechtsprechung 71 Rechtfertigung (von Zwang) 97 –, Deliberation und 219 –, für den Ausschluss von der Teilhabe 148, 243 –, konsequentialistische 142 Regeln, siehe auch Gesetzgebung –, Durchsetzung von 48, 209 –, Festschreibung von 81 ff. Regierung, Größe und Komplexität der 211 f.
Relevant Expertise Aggregation 219 –, Condorcet-Jury-Theorem 226 –, Eine athenische Fallstudie 222 ff. –, Deliberationen der Bürgerversammlung 228 –, Deliberationen des Rats 226, 228 –, endgültige Abstimmung 225, 228 f. –, Falldarstellung 224 f. –, Gefahr eines Persereinfalls 224 ff. –, Rat der 500 225 –, Seeschlacht-Option 228 ff. –, Suche nach relevanten Gebieten und Fachleuten 225 ff. –, demokratische Variante 223 f. –, Gebiete 222 –, Kernmerkmale der 222 f. –, Skalierbarkeit 231 ff. Religion 2, 4, 85, 117, 250, 253, 264 ff. religiöser Pluralismus 11 Rent-Seeking-Prinzip 101 f., 151, 169 repräsentative Demokratie 153, 204 ff. Repräsentanten –, Ausübung von Macht 202 –, Beseitigung von 203 –, bürgerliche Selbstregierung und 209 ff. –, Delegation von Macht an 198, 243 –, politische Macht 202 –, Widerruf von 203 f. –, der Elite angehörende 234 –, Gesetzgebung an 200 f. –, im zeitgenössischen Liberalismus 246 –, im Delegierungsspiel 204 ff. –, Nicht-Tyrannei und 202 f. –, Rechtsprechung 71 –, Selbstregierung und 123 –, ständige Bewachung der 201 –, Wahl von 202 Republikanismus 13 f., 29, 30, 246, 258 Riker, William 18, 23 Rousseau, Jean-Jacques 4, 19, 23, 163, 194, 197, 237 Russland 8, 274
Register Sandel, Michael 258 Sapolsky, Robert 114 Schlacht von Salamis 230 Schlafender Souverän 109, 120, 199 ff. –, Entstehung 199 f. –, Macht des Monarchen 200 –, Sterblichkeit 200 „Schleier des Nichtwissens“-Gedankenexperiment (Rawls) 13, 64, 94, 258 Schmitt, Carl 40, 109 Schumpeter, Joseph 23, 32 Schweden 8, 279 Selbstbeherrschung 183 f., 196 Selbstregierung 1 ff., 9, 16, 21, 23, 37 f., 48, 52 f., 57, 68, 77, 87 f., 96 ff., 103, 111 f., 115, 123, 135, 143 f., 157, 163, 166, 168, 173 f., 193, 201, 204 f., 208 ff., 241 f., 245 ff., 255 f., 265, 273, 277 Sicherheit 11, 13, 16, 22 f., 32, 39, 49, 58, 65 f., 69 ff., 75 f., 81 f., 86, 88, 96, 100, 102 ff., 106, 110 f., 113, 115, 123 f., 126, 132, 135, 139, 143, 145 ff., 150 ff., 161 f., 164 ff., 171, 192, 198 f., 202, 208, 213 f., 217, 235, 242, 245, 249, 256 f., 260 ff., 278 –, Bürgerwürde und 243 –, Menschenrechte und 275 f. –, „Naturzustand“ und 103 f. Skinner, Quentin 13, 29, 120, 154 Sklaven und Sklaverei 30, 32, 34 f., 52 f., 58, 87, 133, 146 ff., 261 ff., 270 –, anti-liberale Demokratie und 250 –, Ausschluss von politischer Teilhabe 146 –, in der athenischen Gesellschaft 37 f., 147, 250 f. –, in der historischen Demokratie 58 –, menschliche Sozialentwicklung und 133 –, Nicht-Bürger 146 –, ökonomischer Beitrag zur antiken griechischen Gesellschaft 261 f. Souverän –, als einzige Quelle des Rechts 106 –, „demokratischer Moment“ und 107
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–, Demos als 108 –, „Freund-Feind-Unterscheidung“ 109 –, Gewährung bürgerlicher Auszeichnungen 107 –, Schlafender, siehe schlafender Souverän –, Übereinkunft mit 105 –, Unterwerfung unter 104 –, Wohlwollen vom 106 soziales Gleichgewicht 102, 132, 152 f., 159, 161, 173, 177, 244 soziale Identität 112, 117 f., 162 f. soziale Kooperation –, Anti-Autokratie und 62 –, Autokratie und 59 –, Demokratie und 14 f., 157 f., 165 –, Fähigkeit zu 129, 164 –, hohes Niveau von 165 –, Humankapital und 166 f. –, Kerndemokratie und 244 –, menschliche Abhängigkeit und 128 f. –, menschliches Gedeihen und 64 f. –, öffentliche Güter und 70 –, ohne einen Herrn 62 –, veränderliche Umwelt und 161 –, Wohlfahrtsniveau und 105 soziale Ordnung/ Gesellschaftsordnung –, Autokratie und 60 –, Gefährdung 266 –, moralische Rechtfertigung für 13 –, nicht-demokratische 101 –, nicht-liberale 266 –, normativer Rahmen für 17 –, positive politische Theorie und 19 –, „Proporzprinzip“ und 102 –, Rent-Seeking und 101 –, selbstverstärkende 23 –, soziale Identitäten und 162 –, Versorgung mit öffentlichen Gütern und 132 f. –, Vorbedingungen/Grundvoraussetzungen 125, 138 ff., 159 –, Zusammenbruch 74, 110 sozialer Status 264 f.
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Register
Spiele –, Bürgerwürde-Spiel 176 ff. –, Drei-Spieler-Version 177 ff. –, Gleichgewicht 180 f. –, Zwei-Spieler-Version 176 f. –, Delegierungsspiel 204 ff. Sprache 136 ff. Staaten mit beschränktem Zugang 101 ff. staatenbildende Insekten 127 f., 133, 137, 154 staatsbürgerliche Erziehung –, Demokratie und 22, 149 –, Form und Inhalt 116 –, in Demopolis 111 ff. –, Ziel der 86 –, Lehrplan 113 –, soziale Identität und 112 staatsbürgerliche Tugenden 182 ff. –, Mut 182 f. –, Selbstbeherrschung 184 Staatsbürgerschaft –, Einschränkungen der 257 f. –, teilhabende 144 ff., 172, 253, 261 Staatsmacht 71 ff. –, Delegierung der, siehe Delegierung von Macht –, Gehorsam gegenüber der 60, 75, 98 Stabilität 4, 22, 27, 29, 51, 107, 113, 255, 265 „Status-Syndrom“ 113 f. Steuern/Besteuerung 4, 66 f., 68, 77 f., 85 f., 94, 96, 98, 258 –, Bürger und 86 –, „bürgerrechtsberechtigte NichtBürger“ 85 –, Gründer und 68, 76 f. –, in Demopolis 66 f., 258 –, öffentliche Güter und 76 f. Stilz, Anna 163 Stutzer, Alois 114 f., 149 technokratische Eliten 8, 198, 246 teilhabende Bürgerschaft 144 f., 257 –, Ausschluss lange ansässiger Erwachsener 74 f.
–, Erniedrigung und 171 f. –, Gelegenheitskosten 149, 157 Territorium (von Demopolis) 62 Terrorismus, nicht-staatlicher 274 Thaler, Richard 28, 90, 132 Themistokles-Dekret 224, 229, 239 Thukydides 19, 46, 48, 54 ff., 110, 120 Tierkunde (Aristoteles) 126 f. Tierreich, Kategorien 126 f. timokratia 40, 43 ff., 54 Tocqueville, Alexis de 19 Toleranz/Tolerierung 12 –, gegenüber Gesetzlosigkeit 51 –, gegenüber religiösen Überzeugungen 264 –, nicht-staatlicher Terrorismus und 274 Tradition/traditionelle Kultur/Traditionalisten –, frühmoderne westliche 19 –, Gründer und 68, 82 –, kantianische 13 –, religiöse 26, 39, 82, 263 „Tragik der Allmende“ 59, 76, 93, 101, 175 Trittbrettfahrer/Trittbrettfahrerei 59, 76, 93, 101, 138, 150 Trump, Donald 275 f., 278 Tuck, Richard 32, 93, 119 f., 199 f., 278 Tyrannenmord 94, 209 Tyrann /Tyrannei 4, 15 f., 31, 68, 73 f., 79, 84, 96 ff., 103, 110 ff., 139 f., 144 f., 168 f., 191, 199, 202 ff., 211 f., 242, 244 f., 249, 256 f., 259, 262, 273 f., 277 f. Tyrannei der Mehrheit 21, 34, 38 ff., 108, 268 Vereinigte Staaten –, Demokratie im 18. Jahrhundert 15 –, direkte Referenden 209 –, Verfassung 52, 171 Verfahrensgerechtigkeit 14 Verteilungsgerechtigkeit 8 f., 11 f., 14 f., 24 f., 27, 29, 62, 67, 77, 160, 190 ff., 212, 244, 249, 258 Vorherrschaft 39 f., 44 f., 47, 55 f.
Register Wahlen 202, 279 f. Wandelbarkeit 165 f. Werteneutralität 11 f., 21, 24, 27, 63, 67, 112, 253, 260, 263 Wertepluralismus 13, 17, 63, 245, 250 Whitehall Studien (Marmot) 113, 149 Williams, Bernard 20 f., 28, 67, 89, 91 f., 121, 148, 154 f., 162, 197, 268, 270 Wirtschaftsliberalismus 192 Wissen 166 ff. Wohlstand 65 –, Bürgerwürde und 171 –, Grundfähigkeiten und 150 ff. –, in Demopolis 256 f. –, Menschenrechte und 275 f. –, Naturzustand und 103 f. –, Staatliche Förderung von 77 Wolin, Sheldon 23, 268
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Würde 159 f., 175 f. –, Bedrohung der 189 Bürger-, siehe Bürgerwürde –, staatsbürgerliche Tugenden und 182 ff. –, Werte der Kerndemokratie und 172 Zeus 201 Zivilgesellschaft 9 –, Geschichte und Elemente der 61 –, Tyrannen und 144 f. Zuschauerintervention 209 Zufriedenheit –, am Arbeitsplatz 114 –, subjektive 114 f., 149, 151 Zwang/Erzwingungsregeln 75, 86 Zweite Abhandlung über die Regierung (Locke) 209 ff.
»Demokratie muss nicht als eine verunglückte Mehrheitsregel verstanden werden.« Josiah Ober
www.zabern.de ISBN 978-3-8053-5120-1
Umschlaggestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.
Ober · Demopolis oder was ist Demokratie?
Foto: Privat
Josiah Ober ist seit 2006 Professor für Alte Geschichte und politische Wissenschaften an der Stanford University. Ober zählt zu den am häufigsten zitierten Altertumswissenschaftlern und politischen Philosophen unserer Zeit. Sein letztes Buch wurde in DAMALS als »intellektuell mitreißend« hochgelobt.
JOSIAH OBER
Demopolis oder was ist Demokratie?
Demokratie – am Ende? Fassungslos stehen viele vor den populistischen Angriffen auf Demokratie und liberale Institutionen. Kaum jemand will beides getrennt voneinander betrachten, manche fürchten, wir könnten das eine mit dem anderen verlieren. Doch müssen wir uns nicht die Frage stellen, was den Kern unserer Demokratie ausmacht – statt Autokraten das Feld zu überlassen? Josiah Ober, einer der einflussreichsten Historiker und politischen Philosophen unserer Zeit, führt uns »Demopolis« vor Augen, jene Urform der Demokratie, in der jeder die Erfahrung macht, als Staatsbürger zu handeln und behandelt zu werden, mit einer »Bürgerwürde« ausgestattet zu sein; ob im alten Athen, in liberalen Demokratien, ja selbst in einem postliberalen Zeitalter. »Natürlich hoffe ich nach wie vor, dass es der liberalen Demokratie gelingen wird, die Herausforderungen zu meistern, vor denen sie gegenwärtig steht. Da das Entstehen einer post-liberalen Welt derzeit jedoch eine reale Möglichkeit darstellt, ist es die Pflicht eines demokratischen Theoretikers, darauf vorzubereiten. Wenn es richtig ist, dass die Kerndemokratie das menschliche Gedeihen fördert und zugleich als Kristallisationspunkt für ein breites politisches Bündnis dienen kann, muss einem aber auch angesichts eines solchen Szenarios nicht bange werden. Im Gegenteil, es gibt allen Grund zur Hoffnung.« Josiah Ober