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German Pages 128 Year 1998
Dekonstruktion Die Literaturtheorie der 1990er von
Pil Dahlerup Aus dem Dänischen von Barbara Säbel
1998 Valter de Gruyter • Berlin • New York
SAMMLUNG
GÖSCHEN
2813
Titel der dänischen Originalausgabe: Pil Dahlerup, Dekonstruktion — W e r n e s Litteraturteori
Die Deutsche
Bibliothek
—
CIP-Einheitsaufnahme
Dahlerup, Pil: D e k o n s t r u k t i o n : die L i t e r a t u r t h e o r i e der 1 9 9 0 e r / v o n Pil D a h l e r u p . A u s d e m D a n . von B a r b a r a S ä b e l . — Berlin ; N e w Y o r k : de G r u y t e r , 1 9 9 8 (Sammlung Göschen ; 2813) Einheitssacht.: Dekonstruktion
ISBN 3-11-015516-8
©
Copyright für alle deutschsprachigen Rechte 1998 by Walter de Gruyter G m b H & C o . , D - 1 0 7 8 5 Berlin ©
für die dänische Originalausgabe 1991 by
Pil Dahlerup and Gyldendalske Boghandel, Nordisk Forlag A. S. Copenhagen Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Diskettenkonvertierung und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer G m b H , Berlin
Vorwort
„Dekonstruktion" bezeichnet viele Dinge. Sie bedeutet „Niederreißen", „Auflösung" und „Ent-Strukturierung". Im engeren Sinne verweist sie auf eine bestimmte philosophische Richtung, die von dem französischen Philosophen Jacques Derrida inspiriert ist. Im weiteren Sinne umfaßt sie ganz unterschiedliche Denkweisen, die gemeinsam allein das Ziel haben, eine Reihe traditioneller Konzepte — etwa des Textes, der Identität, der Wissenschaft — aufzulösen. In der engeren Bedeutung ist die literarische Dekonstruktion eine von der Derridaschen Philosophie beeinflußte Textlektüre. Im weiteren Sinne repräsentiert sie die Gesamtheit der Auflösungserscheinungen des herkömmlichen Literaturbegriffs. Ihre Verbindung zu Jacques Derrida ist nicht zwingend, selbst wenn ihre Ergebnisse dies mitunter nahelegen. Dekonstruktion als Literaturtheorie steht im Gegensatz zum Strukturalismus. Während die Strukturalisten einen Text nach bedeutungstragenden Strukturen durchsuchen, fahnden die Dekonstruktivisten nach Elementen, die Strukturen zusammenbrechen lassen. In anderen Worten glaubt der Strukturalismus daran, daß der menschliche Verstand alles ergründen kann, daß es die vornehmste Aufgabe der Wissenschaft ist, objektiv existierende Strukturen aufzudecken, und daß wissenschaftliche Resultate verifizierbar und diskutierbar sind. In der Textanalyse ist das strukturalistische Ideal die erschöpfende, einfache und widerspruchsfreie Analyse. Alle diese Vorstellungen werden von der Dekonstruktion demontiert. Ziel ihrer Vertreter ist es, aufzuzeigen, wie die Logik von Texten zusammenbricht, sie lehnen die Vorstellung einer wissenschaftlichen Wahrheit ab. Ein Forscher kann
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Vorwort
einzig und allein neue Texte produzieren. Dekonstruktivistische Leser und Leserinnen werden sich niemals um eine erschöpfende Untersuchung bemühen, sie haben die Idee von Einfachheit und Widerspruchsfreiheit abgelegt. Diese Gegenüberstellung von Strukturalismus und Dekonstruktion, die deren entscheidenden Unterschied in der jeweiligen Haltung gegenüber Logik und Vernunft ansiedelt, mag für den Anfang recht nützlich sein. Doch liegt eine zentrale Schwierigkeit darin, daß ab einem gewissen Punkt der Unterschied sich selbst aufhebt. Wenn Dekonstruktivisten logische Zusammenbrüche in Texten lokalisieren, glauben sie, damit eine richtigere Beschreibung des Textes geleistet zu haben; sie kehren zu einem Wahrheitsanspruch zurück. Ebensowenig kann eine dekonstruktivistische Lektüre vermeiden, auf der Grundlage logischer Prämissen zu arbeiten, wenn sie den Kollaps von Logik nachweist. Ich selbst kam mit der Dekonstruktion in Berührung, als ich 1987—1988 Gastdozentin an der Universität Berkeley in Kalifornien war. Ich wurde sozusagen in sie hineingeworfen, da sich meine Studenten für diese neue Lektüremethode interessierten. Ich würde mich selbst nicht als uneingeschränkte Anhängerin dieser neuen Richtung bezeichnen. An den meisten meiner neukritischen und strukturalistischen Sichtweisen halte ich fest, betrachte die Dekonstruktion jedoch als eine notwendige Revision. Ich erlebe sie als Befreiung, wenn sie die Literaturtheorie von dogmatischen Interpretationen löst und Bedeutung offen und pluralistisch macht. In gewisser Hinsicht zeigt die Dekonstruktion größeren Respekt vor dem Text als Kunst. Sie kann jedoch auch zu Kleinkrämerei und „Auflösung um der Auflösung willen" führen. Angesichts dieser Herausforderungen bleibe ich bei meinem literaturwissenschaftlichen und -pädagogischen Motto: den Kopf kalt und das Herz warm halten. Folgt man ihm, wird man
Vorwort
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von wechselnden Z e i t e n und Literaturtheorien nicht überfahren. Die nachstehende E i n f ü h r u n g in die D e k o n s t r u k t i o n k o n zentriert sich auf vier wesentliche P u n k t e , die die E n t w i c k lung von Strukturalismus zu D e k o n s t r u k t i o n mit sich geführt hat. Ich behaupte nicht, d a m i t eine vollständige Übersicht gegeben zu h a b e n . Mein D a n k gilt R e d a k t e u r i n Inge D a m m für gute R a t schläge und Geduld. D a n k e n m ö c h t e ich auch T h o m a s Bredsdorff und D r u d e D a h l e r u p für Unterstützung und k o n struktive Kritik. April 1 9 9 1
Pil Dahlerup
Inhaltsverzeichnis
1. Von einer Eigenschaft des Textes zu einer Erfahrung des Lesers Der Leser Der Leser als Textproduzent: Stanley Fish Der Leser als Textproduzent: Jonathan Culler Der Leser als Textproduzent: Riffaterre, Jauss, ForrestThomson Leserpädagogik Der Leser im Text Eine Lektüre mit dem Leser
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2. Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in Literaturtheorie — Erneuerung und Modeerscheinung . . . Der Strukturalismus Literarischer Strukturalismus in den 1960er Jahren . . Dekonstruktion: Derrida Dekonstruktion der Gegensatzstruktur Dekonstruktion als Analysemethode Literarische Dekonstruktion, Barbara Johnson Dekonstruktion der Literaturgeschichte, Hillis Miller
26 26 28 31 34 38 39 42 48
3. Von was es bedeutet zu wie es bedeutet Paul de Man Das Literatur an der Literatur Das Rhetorische an der Rhetorik Symbol und Allegorie Literatur ist selbst ein Zeichen
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Inhaltsverzeichnis
Das romantische Symbol Allegorisch lesen Ein Idealist Wie bedeutet Psalm 139?
41 68 77 79
4. Von Frau zu Geschlecht Jeder Feminismus ist Dekonstruktion Keine Dekonstruktion ist Feminismus Dilemma der feministischen Dekonstruktion Im System denken Subjekttheorie Es gibt kein Zeichen für Frau: Julia Kristeva Écriture féminine: Hélène Cixous Ein Zeichen für Frau: Luce Irigaray Erfahrung und Semiotik . . . . Das patriarchalische und das phallokratische Subjekt Feministisch-dekonstruktivistische Literaturkritik . . . Arachnologie Schrift und Macht Lesen wie eine Frau Abschluß
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Bibliographie Allgemein Kapitel 1 Kapitel 2 Kapitel 3 Kapitel 4
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1. Von einer Eigenschaft des Textes zu einer Erfahrung des Lesers
Im Laufe dieses Jahrhunderts hat sich der Textbegriff markant entwickelt. Er verlagerte sich dabei u. a. von der expliziten auf die implizite Ebene. Es ist nicht mehr das Gesagte, dem die größte bedeutungstragende Funktion beigemessen wird. Verschiedene literaturwissenschaftliche Schulen haben vielmehr nachgewiesen, daß Bedeutung „zwischen den Zeilen" oder im ungeschriebenen „ S u b t e x t " liegt. Entsprechend zeigten psychoanalytische Richtungen, daß es quer zum expliziten Text ein Netzwerk impliziter Strukturen gibt, die von einem „Mitschreiber" im Unterbewußtsein des Verfassers stammen. Wie dann im einzelnen die Organisation dieses Netzwerkes definiert wird, hängt von der jeweiligen psychoanalytischen Richtung ab; die Freudianer finden beispielsweise ein Organisationsprinzip im Ödipuskomplex, die Jungianer eines in der Individuation. Marxistische Deutungen haben auf die ideologischen Strukturen kapitalistischer Entfremdung und Verdinglichung in Texten aufmerksam gemacht. Strukturalistische Wissenschaftler stellten demgegenüber die These auf, daß die Bedeutung eines Textes durch die Beziehungen der verschiedenen formalen Textelemente zueinander entsteht; „ H a n d l u n g " ist für sie das Verhältnis zwischen verschiedenen Aktanten, „ T h e m a " das Verhältnis zwischen binären Wertstrukturen und „ A u s s a g e " das Verhältnis zwischen dem Gesagten und der Art und Weise, auf die es gesagt wird. Diese ganze Entwicklung ist Ausweis einer ständigen Verfeinerung von Texttheorie und Textanalyse. Es muß festgehalten werden, daß im gleichen Zeitraum, in dem der techni-
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Von einer Eigenschaft des Textes
sehe Fortschritt eine erhöhte Präzision der verschiedensten Meßgeräte mit sich brachte, eine humanistische Disziplin wie die Textanalyse diese Entwicklung in ihrem Bereich ebenfalls durchlaufen hat. Es ist zumindest dem professionellen Leser nicht mehr möglich, naiv und buchstäblich zu lesen. Mit der Dekonstruktion hat der Textbegriff noch einmal eine Wendung genommen. Die Grenze verläuft jetzt nicht mehr zwischen expliziter und impliziter Bedeutung im Text selbst. Nun wird behauptet, daß die Textbedeutung überhaupt nicht im Text liege, sondern ein Resultat der Arbeit des Lesers mit dem Text sei. Die Textbedeutung hat aufgehört, Eigenschaft des Textes zu sein und ist zu einer Erfahrung des Lesers geworden. Diese Entwicklung verdankt sich dem sog. ReaderResponse Criticism, einem — vor allem amerikanischen — Interesse für das, was im Leser / in der Leserin vor sich geht, wenn sie lesen. Der Reader-Response Criticism ist unabhängig von der auf Derrida zurückgehenden Dekonstruktion entstanden; da er aber eine Auflösung des bisherigen Textbegriffes mit sich gebracht hat, kann auch er zur Dekonstruktion gerechnet werden. Dies betrifft z. B. Jonathan Culler, der sich gleich im ersten Kapitel seines Buches Ort Deconstruction mit dem Leser beschäftigt. Im deutschen Raum hat v.a. Wolfgang Iser die rezeptionsästhetische Theorie mit Werken wie Der implizite Leser (1972) und Der Akt des Lesens (1974) geprägt. Leserpädagogische und -psychologische Ansätze wurden beispielsweise von folgenden Titeln vorgestellt: A. C. Baumgärtner und A. Beinlich, Lesen — Ein Handbuch: Lesestoff, Leser und Leseverhalten, Lesewirkungen, Leseerziehung, Lesekultur (1973); H. Heuermann, R Hühn und B. Röttger, Literarische Rezeption: Beiträge zur Theorie des Text-Leser-Verhältnisses und seiner empirischen Erforschung (1975); und N. Groeben und R Vorderer, Leserpsychologie: Lesemotivation — Lektürewirkung (1988).
Der Leser
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Der Leser Der Leser (oder Zuhörer) hat seinen Platz in der Literaturtheorie, seit diese existiert. Schon Aristoteles hatte eine Vorstellung von der Rolle des Lesers. Für ihn war der Leser derjenige, der durch Literatur emotional angesprochen werden sollte. Das Mitleiden und das Lachen des Lesers waren Teil der Funktion von Literatur, ihr Zweck der Zustand der Katharsis (Reinigung), in den das Publikum versetzt wurde. Aristoteles' Gedanken sind in verschiedenen Variationen von Poetologen späterer Zeiten weitergeführt worden. Im Reader-Response Criticism geschieht nun etwas entschieden Neues: dem Leser wird eine kognitive Funktion zugeteilt, er ist nicht mehr nur der, auf den der Text wirkt, sondern trägt selbst zur Bedeutung des Textes bei; manche glauben sogar, daß der Text erst vom Leser produziert wird. Doch kann der Leser auch ein Element im Text sein. Theoretiker, die sich auf diesen Aspekt konzentrieren, sprechen sich dafür aus, daß ebenso wie zwischen Autor (außerhalb des Textes) und Erzähler (im Text) differenziert wird, der Leser aus Fleisch und Blut vom Leser als Textelement unterschieden werden sollte. Diese Theoretiker arbeiten daran, unsere Aufmerksamkeit gegenüber dem Leser im Text zu schärfen; dadurch ist dieser Teil der Literaturtheorie auf gleiche Höhe mit den diversen Erzähltheorien gekommen. Eine Gruppe von Theoretikern interessiert sich aus pädagogischen Gründen für den Leser. Sie setzen beim Problem ein, daß so viele junge Menschen das Interesse an Literatur verloren haben, und bemühen sich, dieses Interesse wiederzubeleben. Das erreichen sie, indem sie „starke" Leser schaffen, d. h. Leser, die sich bei der Lektüre die ganze Zeit selbst einbringen. Diese Leser werden darin geschult, Augen und Ohren für die Erfahrungen des Textes zu öffnen und sie mit ihren eigenen Erfahrungen zu konfrontieren.
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Von einer Eigenschaft des Textes
Der Begriff „Leser" kann also bedeuten: ein Textbenutzer, ein Textproduzent, ein Textelement und ein Textkommentator.
Der Leser als Textproduzent: Stanley Fish Der radikalste und provozierendste unter jenen Theoretikern, die den Leser als Textproduzenten auffassen, ist Stanley Fish. Er lancierte seine Sichtweise schon 1967 im Buch über den im 17. Jahrhundert lebenden englischen Dichter John Milton, Surprised by Sin: The Reader in Paradise Lost. In dem vielfach diskutierten Buch Is There a Text in this Class? von 1980 revidiert und radikalisiert Stanley Fish seine Theorie noch weiter. Dies zeigt sich u. a. in den Abschnitten „How I Stopped Worrying and Learned To Love Interpretation" (Fish 1980:1-17) und „Literature in the Reader" (Fish 1980:21-67, Nachdruck aus New Literary History 1970). In diesen Artikeln und Büchern formuliert Stanley Fish die Kernthese, daß alle Literatur im Grunde vom Leser handle. Deshalb müsse der Leser das eigentliche Objekt der Literaturanalyse sein. Aus dieser Perspektive formuliert Stanley Fish Fragen, die man dem Text stellen bzw. nicht stellen sollte. „Was bedeutet dieser Satz?" („what does this mean?") wird ersetzt durch „Was tut dieser Satz?" („what does this do?", Fish 1980:3). Letzteres besagt: was macht dieser Satz mit dem Leser? Welche Prozesse setzt er im Kopf des Lesers in Gang? Derartige Fragen bringen Fish dazu, den Begriff „Lesen" umzudefinieren. Lesen ist kein Resultat, sondern ein Ereignis, es ist etwas, das geschieht. Stanley Fish behauptet, daß einem das Wichtigste im gesamten Leseprozeß entgehe, wenn man einen Text erst auslege, nachdem man ihn ganz gelesen habe. Sein Argument
Der Leser als Textproduzent: Stanley Fish
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ist, daß der Leseprozeß ein Verlauf in der Zeit ist, daß von Zeile zu Zeile etwas geschieht. Er verwendet deshalb nicht den Ausdruck „Textanalyse", sondern sagt stattdessen „Textlektüre". Fish ist sich darüber im klaren, daß gegen seine Lesemethode zahlreiche Einwände gerichtet werden können und auch gerichtet worden sind; u. a. wurde er der Subjektivität beschuldigt. Fish hält entgegen: besser eingestandene und kontrollierte Subjektivität als falsche Objektivität. Auf eine generelle Kritik antwortet er, der größte Vorzug seiner Methode sei, daß sie funktioniere. Stanley Fish hat seine Sichtweise im Laufe der Zeit geändert und weiterentwickelt, das Obenstehende ist sozusagen die Basis seines Denkens. Im Milton-Buch Surprised by Sin von 1967 stellte Stanley Fish als einer der allerersten die Leserproblematik zur Diskussion. Sein Buch weckte große Aufmerksamkeit, nicht nur als originelle Milton-Deutung, sondern auch als generelle Literaturtheorie. Fish behauptet, Miltons berühmtes Epos Paradise Lost handle nicht in erster Linie vom Sündenfall, sondern von der Erniedrigung und der Wiederaufrichtung des Lesers. Der Leser werde in die religiöse Problematik involviert, da Milton sein Werk so geschrieben habe, daß der Leser im Leseprozeß selbst in eine Reihe religiöser Erfahrungen hineingezogen werde. Stanley Fish argumentiert mit einer großen Anzahl von Textbeispielen für seine Thesen. Im 2. Kapitel zeigt er etwa, wie Milton den Leser in die härteste aller Erfahrungen hineinzwingt, nämlich jene, seinen Fähigkeiten und Wahrnehmungen nicht vertrauen zu können. Z u m Beispiel können wir Zeit und Raum der religiösen Vorstellung nicht erfassen. Stanley Fish führt als Illustration den Vergleich an, den Milton verwendet, um die Größe von Satans Speer zu beschreiben:
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Von einer Eigenschaft des Textes His spear, to equal which the tallest pine Hewn on Norwegian
hills to be the mast
O f some great Ammiral, were but a wand (1.292—294) [An seinem Speere, gegen den die höchste Fichte, auf Norwegens Gebirg' gefällt, Als Mast zu dienen einem Admiral, Ein kleines Rütchen nur, schritt er dahin (1.342—345)]
Die Pointe liegt in dem Umstand, daß Milton die Vorstellung von Größe nur aufbaut, um sie gleich anschließend niederzureißen. Durch diesen Prozeß wird dem Leser bewußt, daß er keine Möglichkeit hat, den Begriff „Größe" zu verstehen. Fish betont, daß sich dieser Prozeß auch dann wiederholt, wenn der Leser das erwähnte Zitat mehrmals liest. Jedes Mal sehen wir eine hohe norwegische Kiefer vor uns, und jedes Mal erfahren wir, daß sie nicht größer als ein gewöhnlicher Stab ist. Weil der Leser dabei auf seine eigenen Grenzen aufmerksam gemacht worden ist, kann Milton mit dem religiösen Zerstören und Wiederaufrichten beginnen. Der christliche Leser ist vertraut mit Situationen, in denen Gott Versuchungen schickt, um dem Menschen seine verborgenen Schwächen bewußt zu machen. Obwohl diese Einsicht schmerzhaft ist, liegt in ihr auch ein gewisses Maß an Freude: der Mensch erfährt, daß Gott in ihm wirkt, wodurch seine seelische Gesundheit gestärkt wird. In eine ähnliche Versuchung führt Miltons Rhetorik den Leser. Der Leser wird beispielsweise entdecken, daß er der heroischen Größe und der Beredsamkeit Satans verfällt oder der Versuchung erliegt, Adam Recht zu geben, wenn dieser sündigt. In beiden Fällen weiß der Leser sehr genau, daß Satan und Adam falsch handeln, die Versuchung, ihren Argumenten zu glauben, ist aber dennoch groß. Durch diesen Prozeß wird der Leser sich seiner eigenen Sündhaftigkeit bewußt: daher der Titel Surprised by Sin („Überrascht von der Sünde").
Der Leser als Textproduzent: Stanley Fish
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Stanley Fish legt im Milton-Buch seine Ansätze ungeheuer überzeugend und wohldokumentiert dar. Zu diesem Zeitpunkt seiner Entwicklung sieht er das Lesen noch als Zusammenspiel zwischen Autor und Leser und kann es sich erlauben, Kunstfertigkeit und Souveränität des Verfassers anzuerkennen. Lesen besteht darin, auf der Grundlage der vom Autor gesetzten Bedingungen in einen Text einzutreten. Erst später, im Verlauf der 1970er Jahre, formuliert Fish seine extremen Thesen vom Leser als Hauptproduzenten. Ich vermute, daß er im Nachhinein seinem eigenen Erfolg erlegen ist und der Versuchung nicht widerstehen konnte, Provokationen zu schaffen, die logischer Gegenargumentation nicht standhalten und an die er wohl selbst kaum glauben kann. „Surprised by Sin" ließe sich auch über Stanley Fish selbst sagen. Nach 1980 ist es für Fish nicht mehr der Leser, sondern die
„Interpretationsgemeinschaft"
(„interpretive
Commu-
nity"), die den Text schafft. Damit meint er, daß der Leser immer so reagieren wird, wie er es in der literarischen Schule, zu der er gehört, gelernt hat. Leser lesen also unterschiedlich, weil sie verschiedenen Interpetationsgemeinschaften zugehören; stimmen ihre Lektüren hingegen überein, bedeutet dies, daß sie den gleichen Interpretationshintergrund haben. Es geht darum, so Fish, der „Tyrannei des Textes" („tyranny of the text", Fish 1980:7) zu entkommen. In diesem Gedankengang wird deutlich, daß die Konzentration auf den Leser vor allem auch Teil der Abrechnung mit Autoritäten darstellt, deren eine der Autor ist. Roland Barthes war es, der geradeheraus den „Tod des Autors" proklamiert hat. Das Verschwinden von Verfasser und Verfasserintention verbindet die Konzepte des Reader-Response Criticism auch mit jener Auflösung des Subjektes, für die die Dekonstruktion im allgemeinen steht. Darüber hinaus kann man den Einzug des Lesers auf Kosten des Verfassers auch als Neuauflage des
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Von einer Eigenschaft des Textes
Kulturkampfes werten: die Unproduktiven übernehmen die Arbeit der Produktiven und geben diese als ihre eigene aus. In ähnlicher Weise hat eine patriarchalische Religion in der Taufzeremonie die vom Körper der Frau geborenen Kinder „wiedergeboren" und das Kapital die Arbeitskraft der Werktätigen vereinnahmt.
Der Leser als Textproduzent: Jonathan Culler Im Buch Structuralist Poetics von 1975 vertritt Jonathan Culler Standpunkte, die trotz ihrer strukturalistischen Ausrichtung nahe än Stanley Fishs Idee der Interpretationsgemeinschaft liegen. Hauptgesichtspunkt ist, daß zentrale Aspekte der Textrealisierung auf der Erwartungshaltung der Leser basieren. Dieser Gesichtspunkt kommt vpr allem im Kapitel zur Lyrik — "Poetics of the Lyric" — zum Tragen, der den selbständigsten Abschnitt des Werkes bildet. Culler behauptet hier, der Strukturalismus habe die Dichtung vernachlässigt, um im Anschluß eine strukturalistische Dichtungstheorie zu entwerfen. Auch wenn Provokation gewöhnlich nicht Sache Cullers ist, wirkt seine Definition der lyrischen Gattung doch wie eine Herausforderung: Dichtung ist eine „Lesestrategie" („strategy of reading", Culler 1975:163). Das heißt, daß sie also keine Qualität des Textes, sondern Resultat des Lektüreverhaltens des Lesers ist. Culler versucht, seine Behauptung zu stützen, indem er einen Zeitungsausschnitt wie ein Gedicht in Verse einteilt (ursprünglich ein französisches Verfahren). Jedes einzelne Wort des Textes wechselt die Bedeutung, so Culler, wenn es wie Poesie und nicht wie ein Zeitungsartikel gelesen wird.
Der Leser als Textproduzent: Jonathan Culler
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Hier sur la Nationale sept Une automobile Roulant à cent à l'heure s'est jetée Sur un platane Ses quatre occupants ont été Tués. (Culler 1975:161)
(„Gestern ist auf der A7 ein Fahrzeug mit 100 km/h gegen einen Baum geschleudert. Die vier Insassen wurden getötet.") Die Bedeutung des Ausdrucks „gestern" ändert sich Cullers Meinung nach durch lyrisches Lesen: er verweist dann nicht auf ein bestimmtes Datum, sondern eine allgemeine Form von Zeit, eine allgemeine Bedingung. Der Umstand, daß die Fahrgäste passiv gegen den Baum „geschleudert" wurden, erhält neues Gewicht, und durch den Mangel an Details ergibt sich für den ganzen Text ein Ton von Absurdität. Die Zeilensprünge, durch die „gegen einen Baum" und „getötet" hervorgehoben werden, führen in diese Absurdität zusätzlich ein tragisches Moment ein. Das Beispiel zeigt, daß dasselbe Wort eine andere Bedeutung erhält, wenn es auf eine andere Leseerwartungen trifft. Ich selbst habe Cullers Beispielanalyse mit einigen Studenten wiederholt. Eine Gruppe untersuchte einen Satz aus einem Fahrschullehrbuch: „Wenn man an eine Anhöhe kommt, muß man die Geschwindigkeit heruntersetzen". Wie ein Gedicht gelesen, erhalten die Worte symbolischen Charakter: sie scheinen die Lebensweisheit zu reproduzieren, daß man gerade dann aufhören soll, wenn ein existentieller Höhepunkt erreicht ist. Diese Lehre ist Ausdruck für Resignation und Angst vor persönlicher Entfaltung. Ein Leser, der eine solche Lektüre durchführt, kann sich nicht vorstellen, daß das Gedicht von der faktischen Anleitung handelt, wie man Auto fahren soll, er gibt den Worten deshalb eine übertragene Be-
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Von einer Eigenschaft des Textes
deutung und macht so aus der Fahrschulregel eine Lebenslehre. Meiner Meinung nach zeigen diese Beispiele sehr klar, daß Gattungsbestimmungen von der Lesererwartung abhängig sind: es geht hier um zwei wesensverschiedene Lesemethoden. Culler berücksichtigt jedoch nicht, daß der Leser trotz allem nicht alleiniger Produzent des Textes ist, Texte machen selbst eine Vorgabe. Sie haben auch ohne Einbeziehung des Lesers Qualitäten, die sie zu Lyrik oder Nicht-Lyrik machen: obengenannte Beispiele können wie Gedichte gelesen werden und werden dabei ihren Charakter ändern; sie werden aber niemals zu guten Gedichten werden. Beispielsweise fehlt ihnen der Konnotationsreichtum, d. h. die Bedeutungsvielfalt, über den die poetische Sprache verfügt, sie machen im großen und ganzen auch keinen Gebrauch von all den Kunstgriffen, die Dichtung mit Worten — etwa durch Tropen und Figuren — zu leisten vermag. Aus seiner einleitenden Lektüre leitet Culler vier Erwartungshaltungen ab, mit denen der Leser der Dichtung begegnet. Diese werden gleichzeitig zu vier Lesestrategien: 1) Eine Erwartung von Abstand und Unpersönlichkeit („distance and impersonality", 164), 2) Eine Erwartung von Totalität oder Kohärenz („totality or coherence, 170), 3) Eine Erwartung von Signifikanz oder Wesentlichkeit („significance", 175), 4) Eine Erwartung von Widerstand („resistance", 178). Punkt 1) betrifft besonders Zeit- und Ortsbestimmungen sowie Personalpronomina. Wenn in einem Brief z. B. „Ich" steht, so erwarten wir, daß dieses „Ich" auf das faktische Ich des Autors referiert. Wenn in einem Gedicht „Ich" steht, erwarten wir den Bezug auf eine tatsächliche Person hingegen nicht. Anhand der Texthinweise muß der Leser deshalb selbst das „Ich", von dem gesprochen wird, konstruieren. Gleiches gilt für Zeit- und Ortsadverbien. Tritt in einem lyrischen Text das Wort „Jetzt" auf, erwartet man nicht, daß über eine ge-
Der Leser als Textproduzent: J o n a t h a n Culler
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genwärtige, faktische Situation gesprochen wird, sondern versucht, aus dem Text heraus das fiktive „ J e t z t " zu bestimmen. Mitunter ist die fiktionale Rede offensichtlich: das „Ich" in einem Text kann z. B. eine Wolke sein, der Leser muß in diesem Fall seine Phantasie benutzen und an der Fiktion mitdichten, daß eine Wolke reden kann, und zugleich zu verstehen versuchen, was erreicht wird, wenn der Wolke ein solcher Status zugewiesen wird. Jonathan Cullers Erwartungshaltung 1) schärft unsere Aufmerksamkeit gegenüber dem Umstand, daß „Ich", „ D u " , „ H i e r " oder „ J e t z t " in der Lyrik immer Fiktionen sind, und daß die Fiktion einen aktiven Einsatz auf der Leserseite erfordert. Erwartungshaltung 2) richtet sich auf die Aspekte Z u s a m menhang und Totalität. Ein Gespräch kann aus Fragmenten bestehen, ein Gedicht ebenfalls, doch setzt hinsichtlich der lyrischen Darstellung, so Culler, stets die Erwartung nach Totalität ein. Der Leser will selbst zwischen den Bruchstükken, Leerstellen und Andeutungen im Text einen Z u s a m menhang herstellen, indem er sie zusammenfaßt. D a m i t dies auf kompetente Weise geschehen kann, bedarf es einer Vorstellung davon, welche Arten von Z u s a m m e n f a s s u n g überhaupt möglich sind. Culler zählt einige Ganzheitskonstruktionen auf, die ihm wesentlich erscheinen: zunächst das Z u sammenfassen in Gegensatzsystemen, jenes Verfahren also, das der Strukturalismus in der Analyse grundlegender Gegensatzpaare verwendet. Eine solche Z u s a m m e n f a s s u n g könnte etwa in der Vorstellung münden, daß ein Text durch den Gegensatz von Leben und Tod organisiert ist. Ferner ist die Bildung von Vier-Punkt-Analogien möglich: z. B. kann man zur Auffassung kommen, daß in einem bestimmten Text die Werte dergestalt angeordnet sind, daß sich M ä n n lichkeit zu Licht verhält wie Weiblichkeit zu Dunkelheit. Verläuft die Z u s a m m e n f a s s u n g dialektisch, m a g es jedoch
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Von einer Eigenschaft des Textes
scheinen, als bewege sich der Text von einer These über die Antithese zur Synthese; dies ist in bezug auf ein Beispiel denkbar, in dem eine Bewegung vom Leben über den Tod hin zum ewigen Leben stattfindet. Zusammenfassung kann nach Cullers Worten auch durch die Durchführung von Niveausprüngen stattfinden, wenn etwa ein T e x t von unlösbaren Konflikten dominiert wird (wie Lust/Pflicht) und der Zwiestreit durch den Eingriff einer anderen Ebene (Religion) beseitigt werden kann, die den Gegensatz aufhebt. Schließlich verweist Culler auf die Möglichkeit, unter den textuellen Fragmenten Totalität durch Hinzuziehung außertextueller Ganzheitstheorien zu schaffen. Dies könnte durch eine psychoanalytische Betrachtungsweise, ein marxistisches Gesellschaftmodell oder die Verfasserbiographie geleistet werden. Was auch immer man tut, die Zusammenfassung bleibt doch immer eine Konstruktion. Sie stellt die Einlösung der Lesererwartung nach Zusammenhang her, nach einem Text, der trotz seiner Bruchstückhaftigkeit noch eine Totalität ausmacht. Der Vorteil der von Culler als Nr. 2) aufgeführten Erwartung ist, daß sie die Leseroperationen, die sie in Gang setzt, gleichzeitig bewußt macht. Die meisten Leser, jedenfalls die allermeisten Lehrer, deuten einen T e x t mit Hinblick auf die eine oder andere Totalität. Wenn dies unreflektiert geschieht, k o m m t es zu einseitigen Analysen. Durch Cullers Modell ergibt sich die Möglichkeit von Reflektiertheit: die Leser machen darauf aufmerksam, daß sie eine und zugleich welche Totalität sie erwarten. Der Nachteil des Ansatzes scheint darin zu liegen, daß der Zusammenhang vollständig dem Leser überantwortet wird; es findet keine Diskussion darüber statt, o b nicht der Text selbst Zusammenhänge anlegt. Auf diese Weise umgeht Culler die Frage nach literarischer Qualität.
Der Leser als Textproduzent: Jonathan Culler
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Erwartung Nr. 3) stellt als Erwartung von Wesentlichkeit die Erweiterung von 2) dar. Der Leser geht davon aus, daß Lyrik Themen von existentieller Tragweite behandelt, da es ansonsten ja keinen Grund zum Schreiben geben würde. Wenn ein Text daher unmittelbar davon handelt, daß am Hang eine Bremse zu gebrauchen ist, hält der Leser dies für zu banal und aktiviert seinen „Symbolisierungs-Mechanismus". Das Alltägliche und Konkrete wird Symbol für etwas anderes und Wesentlicheres. Hier ist Culler ein weiteres Mal den zentralen Lesestrategien auf der Spur, läßt das Qualitätsproblem wieder unbeachtet und schließt so die Möglichkeit aus, daß ein Text banal sein kann. Cullers Erwartung Nr. 4) ist die Erwartung von Widerstand und dessen Überwindung. Wenn der Leser Lyrik liest, wird er sehr schnell auf Tropen und Figuren stoßen, die das Gedichtverständnis erschweren. Da Tropen und Figuren aber sprachliche Mechanismen sind, kann der mit ihren Prozessen vertraute Leser den Text als vollständig und verständlich lesen. Cullers zentrale Auffassung, die ich voll und ganz teile, besteht in der Hervorhebung, daß die Lektüre von Lyrik Wissen und Training der Leser voraussetzt. Culler schreibt hierzu: „Das Repertoire rhetorischer Figuren ist ein Satz von Instruktionen, die Leser anwenden können, wenn sie auf Probleme im Text stoßen, obwohl mitunter nicht die Operationen selbst sondern mehr die Rückversicherung, die rhetorische Kategorien dem Leser bieten, entscheidend sind: die Rückversicherung, daß das, was seltsam erscheint, in der Tat vollkommen akzeptabel ist, da es einen figurativen Ausdruck darstellt und deshalb verstanden werden kann. Wenn man weiß, daß Hyperbel, Litotes, Zeugma, Syllepsis, Oxymoron, Paradox und Ironie möglich sind, wird man nicht überrascht sein, auf Worte und Phrasen zu treffen, mit denen man so umgehen muß, wie diese Figuren es vorgeben." (Culler 1975:181)
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Von einer Eigenschaft des Textes Der Leser als Textproduzent: Riffaterre, Jauss, Forrest-Thomson
Michael Riffattere hat ein ganzes Buch über die Funktion des Lesers beim Lesen von Lyrik geschrieben, Semiotics ofPoetry (1978). Riffaterre teilt Cullers Ansichten über weite Strecken, ist jedoch radikaler in seinem Vorgehen und wesentlich detailreicher in der Darstellung. Er unterscheidet zwischen zwei Ebenen im Text. Die erste nennt er den „Sinn" („meaning"), sie ist das unmittelbar Zugängliche, das auf die Welt außerhalb des Textes verweist und mit dem der Leser bei der ersten Lektüre arbeitet. Schon beim ersten Lesen jedoch treten Hindernisse auf — nämlich Tropen und Figuren —, die die Lektüre innerhalb eines realistischen Universums unmöglich machen. Diese Hindernisse, die Jonathan Cullers „Widerstand" entsprechen, nennt Riffaterre „Ungrammatikalitäten" („ungrammaticality", Riffaterre 1978:2). Durch sie wird der Leser gleichsam zur Arbeit gezwungen, -denn von solchen Signalen ausgehend wandelt er den unmittelbaren, realistischen „Sinn" („meaning", 2) des Textes in eine „Bedeutung" („significance", 2) auf höherer Ebene um. Der Transformationsprozeß ist wesentlich für die Gattung Lyrik und wird vom Leser vorgenommen, wobei Riffaterre nicht impliziert, daß damit alle Tätigkeit beim Leser liegt. Die Lektüre ist nicht frei, sondern auf jene Auswahl von Tropen und Figuren festgelegt, die der Autor geschaffen hat. Dies sind Riffaterres maßgebliche Gesichtspunkte. Zusätzlich enthält seine Schrift eine Fülle von Beispielen für „Ungrammatikalitäten" und Sprachprozesse, in die erstere den Leser versetzen. Insofern ist Semiotics ofPoetry ein sehr lehrreiches Buch, dessen Analyse weit über die bekannten Tropen und Figuren hinausgeht, die etwa Jonathan Culler anführt. Hinsichtlich des Lektürevorgangs gehen Hans Robert Jauss" und Riffaterres Meinungen auseinander. Wir beginnen
Der Leser als Textproduzent: Riffaterre, Jauss
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das Lesen, so Jauss, mit einer ästhetischen Faszination, auf die der intellektuelle Genuß folgt, rhetorische Prozesse nachzuvollziehen und zu verstehen. Dann aber — und hier liegt der Unterschied zu Riffaterres Ansichten — kehren wir zu einer auf höherem Niveau angesiedelten Ästhetik zurück, zu der Ebene nämlich, wo wir Wohlklang und intellektuelle Befriedigung zugleich genießen. Veronica Forrest-Thomson arbeitet auf einer Linie mit Culler und Riffaterre und ist begreiflicherweise auch von Paul de Man inspiriert (vgl. Kapitel 3). Das Besondere ihres Ansatzes besteht darin, daß sie mit ungewöhnlicher Stärke den Kunstcharakter der Literatur hervorhebt, wie schon aus dem Titel Poetic Artifice (1978) ersichtlich wird. Sie geht hier hart mit allen thematischen Textlektüren ins Gericht, die ihrer Meinung nach nichts mit Literatur zu tun haben. Gleichzeitig kritisiert sie solche Lesarten, die beständig „naturalisieren", d. h., Dichtung und faktische Wirklichkeit in Beziehung zu setzen versuchen. Dichtung, so die Autorin, ist Sprache in der Sprache. Sie bedient sich einer ganz anderen Logik als die Alltagsprache, setzt ganz andere Prozesse in Gang und verweist nicht unmittelbar auf tatsächliche Verhältnisse. Zwar ist nicht zu bestreiten, daß Dichtung über Themen und Aussagen verfügt, entscheidend aber ist das Instrumentarium, mit dem Dichtung Themen aussagt. Shakespeares Sonette sind Kunstwerke nicht aufgrund der Ansichten, die sie vorführen, sondern aufgrund „der Vielfalt der Organisationsformen, an denen der Geist des Lesers über vierzehn Verse hinweg teilnimmt" (Booth 1979:ix, zitiert in Thomson 1978:4). Veronica Forrest-Thomsons Konzeption wird in folgendem Zitat besonders deutlich: „Vertrauen in das Schon-Bekannte ist natürlich nicht an sich schlecht. Es ist der generelle Mechanismus des rationalen Kunstwerkes. Einspruch kann aber gegen die Tendenz erhoben werden,
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Von einer Eigenschaft des Textes das Schon-Bekannte und Schon-Gedachte zum Ziel zu erklären, die Dichtung zu etwas Obskurem und Dunklem zu machen, das nur durch Übersetzung in das Schon-Bekannte verständlich wird. Wenn die Poesie sich selbst rechtfertigen will, muß sie mehr als das leisten; sie muß das Schon-Bekannte assimilieren und einer Überarbeitung unterwerfen, die seine Kategorien aufhebt und in Frage stellt, alternative Ordnungen schafft." (Forrest Thomson 1978:53)
Wolfgang Iser und Umberto Eco haben beide mit vergleichbaren Aspekten gearbeitet. Iser hat vorgeschlagen, zwischen „Text" (den Buchstaben auf dem Papier) und „Werk" (Produkt, an dessen Ausformung der Leser beteiligt ist) zu unterscheiden. Ergiebig ist besonders Isers Hinweis auf die zahlreichen „Löcher" im Text, die der Leser auszufüllen hat; damit sind z. B. Assoziationsreihen gemeint, die durch Metaphern ausgelöst werden, wenn der Leser das Spiel zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nutzt, das der Text aufwirft. Umberto Eco hat aus ähnlicher Perspektive den Begriff des „offenen Kunstwerkes" lanciert. Gemeint ist damit ein Text, der prinzipiell unabgeschlossen und unabschließbar ist, da er immer neue Ketten von Leserkonnotationen ausnützen kann.
Leserpädagogik Die meisten mit der Rolle des Lesers beschäftigten Theoretiker haben sich mehr oder weniger deutlich zur Krise des Literaturunterrichtes geäußert. Teil ihres Projektes ist es daher auch, die pädagogische Situation zu verbessern, und zwar mit zwei grundsätzlich verschiedenen Methoden: während die eine Gruppe die Aufmerksamkeit des Lesers gegenüber dem Text fördern möchte, versucht die zweite, den Leser selbst zu stärken. Letztere Theoretiker interessieren sich
Leserpädagogik
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nicht für den Text und nicht für die Literatur, sondern für den Leser. N o r m a n Holland ist der radikalste Vertreter dieser Richtung, insofern er in seinen Publikationen die Behauptung aufstellt, daß Leser nur das zur Kenntnis nehmen können, was von ihnen selbst handele. Jeder einzelne verfolgt sein jeweiliges „Identitätsthema", nämlich immer das, was er sieht und worauf er reagiert. Wir lesen, um unsere Identität zu entwickeln und füllen unsere eigenen Wünsche und Ängste in das literarische Werk. Was wir sehen, ist das, was wir uns wünschen, was wir nicht sehen, das, was wir verdrängen. Kathleen McCormick, Gary Waller und Linda Flower haben das Buch Reading Texts („Texte lesen", 1987) herausgegeben. Es ist ein sehr charakteristisches Beispiel für eine Literaturpädagogik, die den Leser stärken will. Gerichtet ist die Publikation an amerikanische Collegestudenten: „Wenn Du liest, schaffst Du Deinen eigenen Text — sei es in Form einer psychischen oder einer mündlichen Reaktion, eines schriftlichen Kommentars, einer Prüfungsaufgabe oder gleich eines Buchs. Es ist Dein Text, entstanden aus Deinem Erlebnis, den Text eines anderen zu lesen." (McCormick 1987:151)
Der Band setzt sich aus zahlreichen Lektüreaufgaben zusammen. Ihnen ist gemeinsam, daß der Leser aufgefordert wird, seine eigenen Erfahrungen den Erfahrungen des Textes entgegenzusetzen. Folgendes ist die Lektüreanleitung zu den Eingangszeilen von Stephen Cranes Novelle The open boat: „Wie würdest Du diese Passage lesen? Mit anderen Worten, was würdest Du dazu sagen? Du könntest sagen, sie schafft eine bestimmte Atmosphäre. Wenn Du aber präziser sein möchtest, beginnst Du nach Belegen zu suchen, und zwar weniger, im Text selbst als in den Eindrücken, die der Text Dir vermittelt. Vielleicht verwendest Du in beiden Fällen Deine eigenen Erfahrungen, denkst beispielsweise an Situationen, in denen Du selbst Angst
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Von einer Eigenschaft des Textes hattest. Wenn D u dies tust, achte darauf, wie Du fast automatisch Deine eigene Erfahrung in die Lektüre einbaust. D u verknüpfst Deine eigenen Signifikate mit den Signifikanten des Textes, und Deine Signifikate können von jenen anderer Leser völlig verschieden sein. Mit diesem Buch möchten wir Dich dazu bringen, daß D u dies sehr bewußt und überlegt tust, so daß D u jedes Mal, wenn D u liest, so viel eigene Erfahrung und Wissen aufrufst wie möglich. Lesen bedeutet nicht bloß, Information vom Verfasser zum Leser zu übertragen: es ist eine Tätigkeit, in die D u als Individuum und Mitglied einer bestimmten Gesellschaft tief und aktiv involviert bist." (McCormick 1987:7)
Das pädagogische Konzept der Verfasser ist herausfordernd. Sein Vorzug ist, das es literaturfremde Leser ansprechen kann, sein Nachteil jedoch, daß diese Leser möglicherweise literaturfremd bleiben, weil sie lernen, daß Literatur der Ort der Begegnung mit ihnen selbst und nicht mit etwas Neuem und Andersartigem ist.
Der Leser im Text Die stark gewachsene Beachtung des Lesers hat verschiedene Theoretiker dazu geführt, die Kommunikationssituation Sender—Botschaft—Empfänger auch im Text anzusetzen: wie den Erzähler gibt es auch einen Leser im Text. In einzelnen Fällen, wie der direkten Hinwendung des Erzählers, tritt der Leser explizit auf. Interessant aber ist vor allem die implizite Ebene im Text, die sich dann eröffnet, wenn der Leser zu einem ebenso wichtigen Element wie der Erzähler wird. Während es bereits zahlreiche Erzählertheorien gibt, entstehen jetzt auch diverse Lesertheorien, von denen Gerald Prince eine der überzeugendsten liefert. Jede Erzählung, argumentiert Prince, setzt einen „Nullstatus-Leser" („Zero-Degree Narratee", Prince 1980:9) voraus, einen Leser also, der
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Sprache versteht und im Gedächtnis behält, was gesagt wird, jedoch nicht weiß, was geschehen ist und geschehen wird und der keine Informationen über die Personen hat. Der fiktive Leser wird immer dann sichtbar, wenn sich im Text eine Abweichung von diesem Null-Status ereignet. Gerald Prince gibt sieben Beispiele für solche Abweichungen: 1) alle expliziten Hinwendungen an den Leser, inklusive aller Du-Anreden („mein lieber Freund"). 2) Alle „Wir"- und „Man"-Aussagen. 3) Fragen oder rhetorische Fragen („Doch wer hat noch keine unaffektierten Prinzessinnen [...] plötzlich Schimpfworte benutzen hören?"). 4) Negationen der Ansichten, der Erwartungen etc. des Lesers („Nein, es war nicht seine Geliebte, zu der Vincent Molinier an diesem Abend ging"). 5) Bezugnahmen auf außertextuelle Erfahrungen („eine jener Tränen, die, selbst wenn sie zu Boden fallen, zum Himmel auffliegen"). 6) Vergleiche, da sie den Leserhorizont andeuten, insofern der zweite Teil des Vergleichs auf das dem Leser Bekannte hinweist. 7) Überflüssige Erklärungen, z. B. die Entschuldigung des Erzählers, wenn er ein Gefühl nicht beschreiben kann. Wenn man die Abweichungen von der Null-Position sammelt, ist eine Charakterisierung des impliziten Lesers möglich. Dieser kann dabei ebenso nuanciert und verläßlich sein wie der Erzähler, wir sind die Arbeit mit einem derartigen Textfaktor lediglich nicht gewohnt. Wenn wir erkennen, daß auch zwischen Erzähler und Leser im Text ein Spiel inszeniert werden kann, ergibt sich noch ein weiteres Glied im komplizierten Netzwerk textueller Bedeutungen. Peter Rabinowitz hat in etwas anderer Form mit dem Leserbegriff gearbeitet. Er behauptet, daß jeder epische Text mindestens vier verschiedene Leser habe, und daß jeder faktische Leser im Lauf der Lektüre alle vier Positionen einnehme. Das Lesevergnügen liegt dabei gerade im Wechsel zwischen den unterschiedlichen Leserrollen.
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Leser Nr. 1 ist der faktische Leser aus Fleisch und Blut. Leser Nr. 2, genannt „der Leser des Verfassers", ist ein hypothetischer Leser, der sich auf dem gleichen kulturellen Niveau wie der Autor befindet. Dieser Leser bildet sozusagen Voraussetzung dafür, daß überhaupt erzählt werden kann. Leser Nr. 3, „der Leser des Erzählers", nimmt letzteren beim Wort und glaubt alles. Die kleine Meerjungfrau kann beispielsweise nur erzählt werden, wenn wir mit einem Teil unseres Bewußtseins akzeptieren, daß es die Meerjungfrau wirklich gibt. Leser Nr. 4 ist der „ideale Leser", der die Ansichten des Verfassers teilt und deshalb — aus der Sicht des Autoren — der Wunschleser ist. Walker Gibson hat im stark beachteten Aufsatz „Authors, Readers, Speakers, and Mock Readers" die Vorstellung eingeführt, daß wir, wenn wir lesen, unser gewöhnliches Selbst verlassen und zu fiktiven Personen werden, von der Lektüre geschaffen. Dieser Gesichtspunkt ist denen Norman Hollands beinahe entgegengesetzt. Walker Gibson beschreibt den Prozeß, durch den wir zu „Mock Readers" (fiktiven Lesern) werden, in folgender Weise: „Jedesmal, wenn wir die Seiten eines neuen Textes aufschlagen, begeben wir uns in ein neues Abenteuer hinein und werden zu einer anderen Person — einer Person, die genauso kontrolliert, definierbar und fern von der chaotische Alltagsexistenz ist wie der Liebhaber in einem Sonett. Dem Grad unserer literarischen Sensibilität unterworfen, werden wir von der Sprache neugeschaffen. Wir nehmen dieses Erlebnisses halber eine Reihe von Haltungen und Eigenschaften an, die die Sprache uns vorgibt, und werfen das Buch weg, wenn wir sie nicht annehmen können." (Gibson 1 9 8 0 : 1 )
Die noch spezifischere Frage, was es heißt, „als Frau zu lesen", werde ich im Kapitel über die feministische Dekonstruktion behandeln.
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Eine Lektüre mit dem Leser Die diversen Theorien zur Rolle des Lesers bei der Textlektüre können in verschiedene Richtungen führen. Ich wähle hier eine Perspektive, die vom Literaturbegriff Monroe C. Beardsleys ausgeht: „Ein literarisches Werk ist ein Diskurs, in dem ein wichtiger Teil der Bedeutung implizit ist." (Beardsley 1958:126). Gemäß diesem Ansatz liegt die Bedeutung eines literarischen Textes in der Kommunikation zwischen Werk und Leser. Der Verfasser hat im Werk eine Reihe von Potentialen impliziter Bedeutung angelegt, die der Leser aktivieren kann. Der Leser kann die Aktivierung dieser Potentiale auch unterlassen und den Text als Spannungsfeld von Bedeutungen erleben, deren Anziehungskraft darin liegt, daß sie latent, verborgen bleiben. Ein anderer Leser wird sie hingegen als Herausforderung erleben, sich aktiv an der Bedeutungsproduktion des Textes zu beteiligen. Ulla Hahns Gedicht „Bleib" (1983) weist ein dichtes implizites Bedeutungsnetz auf. Bleib Zieh. Ich weiß du weißt du hast gewonnen bleib mir nur bis zum nächsten Zuge treu Ich will nichts weiter hab mein Teil bekommen Jetzt bist du dran Ich bin so frei (Hahn 1983:18)
Als erster Eindruck bleibt dem Leser wohl eine gewisse Vorstellung einer Grundsituation von Spiel und Liebe, doch
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Von einer Eigenschaft des Textes
erhält er noch kein klares Bild. Die Besonderheit des Textes besteht darin, daß auch die fortgesetzte Lektüre immer weitere Unklarheiten zu Tage fördert. Erst nach abgeschlossener Erklärungsarbeit erreicht der Leser eine eindeutige Position. Es können verschiedene Textebenen ausgemacht werden: 1. Eine Handlungssituation, in der ein Ich und ein Du ein Spiel, z. B. Schach, spielen, und in der das Ich erkennt, daß es verliert. 2. Eine Gesprächssituation, in der das Ich ein Du anspricht. 3. Ein Botschaftsniveau, in dem die Mitteilung eines Ichs an ein Du entfaltet wird. 4. Eine zusammenfassende Ebene, die vom Titel des Gedichts vorgegeben wird. In all diesen vier Ebenen gibt es Doppeldeutigkeiten, so daß die Verwirrung, die man beim ersten Lesen erlebt, sich bei der weiteren Untersuchung noch vervielfältigt. Das Schachspiel läßt sich nicht den ganzen Text über als reales Schachspiel verstehen, sondern muß mitunter metaphorisch als das Liebesspiel in einer Paarbeziehung gelesen werden. Dies geht u. a. aus Aussagen wie „bleib mir nur bis/ zum nächsten Zuge treu" und „Ich bin so frei" hervor, die innerhalb des Schachvokabulars keinen Sinn ergeben. Ulla Hahn hat von Beginn an die beiden Spiele miteinander verwoben. Es ist nicht so, als handle der Text von Schach und der scharfsinnige Leser übersetze dies als „Liebe", vielmehr ist das Gedicht so gemacht, daß die Realebene (Schach) und die übertragene Ebene (Liebe) miteinander vermischt sind. Die Überschrift „Bleib" gehört demnach zur Liebesebene, während das erste Wort, „Zieh", dem Schachbereich zugeordnet ist, und so fort bis zum Schluß. Bezeichnetes und Bezeichnendes sind von Anfang bis Ende miteinander verschränkt; dies kann beim Leser Unsicherheit darüber auslösen, was nun eigentlich die Grundsituation ist: ein Schachspiel, das als Beziehungsspiel, oder eine Beziehungssituation, die als Schachspiel verstanden werden kann.
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Hinzu kommt, daß auch die Gesprächssituation selbst unterschiedlich beschrieben werden kann. Man kann den Text so lesen, daß einige Repliken, die zur Schachsituation gehören, tatsächlich gesprochen werden, nämlich „Zieh" und „Jetzt bist du dran". Den Rest kann man sich als vom Ich während eines Schachspiels gedacht vorstellen. Liest man das Gedicht in dieser Weise, so steht nach außen das Ich trotz seines Verliererstatus über dem Du. Es sagt nur das,'was notwendig ist, um das Schachspiel am Laufen zu halten. Die Liebesperspektive der Situation entwickelt das Ich nur in seinen Gedanken. Liest man hingegen den Text als etwas, das das Ich zum Du sagt, so geht es um einen anderen Typus von Ich, nämlich einen Verlierer, der aus seiner Verliererposition heraus eine Menge Dinge im Kopf des Dus deponieren will. In beiden Lektüren jedoch bleibt das Du still. Lesart Nr. 1 mag dem Leser den Eindruck einer verfahrenen Situation vermitteln, in der der eine Teil nichts und der andere nur das Allernotwendigste sagt. Im zweiten Fall kann das Schweigen des Dus die Lesersensibilität gegenüber der Verzweiflung des Ichs erhöhen: es spricht gegen eine Mauer. Dies waren Ausführungen zur Gesprächssituation selbst, doch wird der Leser sich auch mit dem Redeinhalt beschäftigen müssen. Was will eigentlich das Ich dem Du mitteilen? Zunächst legt das Ich einen Grund für die Partnerschaftsprobleme dar, die Untreue des Dus. Dies geschieht im Satz „bleib mir nur bis/ zum nächsten Zuge treu". Diese Wendung ist ungrammatikalisch. In die Alltagssprache übersetzt, könnte man sie folgendermaßen deuten: ,Du kannst mir nicht länger als zwei Schachzüge treu bleiben.' Es geht hier um eine Hyperbelkonstruktion, die die grenzenlose Untreue andeutet, der das Ich sich ausgesetzt fühlt. Gleichzeitig hat der Satz „Jetzt bist du dran" aggressive Konnotationen.
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Wenn Untreue das Problem ist, zu welcher Lösung kommt dann das Ich? Der Text bietet zahlreiche Möglichkeiten an. In bestimmten Formulierungen sagt oder denkt das Ich ganz deutlich, daß es genug hat und nicht bereit ist, weiterzumachen. Die Konsequenz wäre ein ,Danke und Adieu' in Verbindung mit einem Türknallen. Doch das Ich bleibt und wartet den nächsten Z u g (das Ausspielen) des Dus ab. In diesem Abwarten liegen insofern masochistische Konnotationen. Das Ich begreift, daß es verloren hat und beide Partner dies wissen, trotzdem wartet es — auf der Schachebene auf das Schachmatt, auf der Liebesebene z. B. auf den endgültigen Bruch oder weitere Kränkungen durch das Du. Z u all dem kommt noch der Gedichttitel „Bleib", der nur als ,bleib bei mir' verstanden werden kann. Der Titel kann als Summe der Aussagen des Ichs gelesen werden, ob man sich jetzt vorstellt, daß es der Schlußsatz des Dus oder des impliziten Erzählers ist. Die Überschrift steht im offenen Gegensatz zu Äußerungen wie „Ich will nichts weiter" oder „Ich bin so frei". „Frei" ist genau das, was dieses Ich nicht ist. Diese fortgesetzte Beschäftigung mit dem Text zeigt, daß er auf allen Niveaus gleichermaßen ambivalent ist. Wenn der Leser diese Klärungsarbeit leistet, wird er vielleicht selbst einen Irritationsprozeß durchlaufen, der dem des Textes gleicht: er kann sozusagen (um mit Stanley Fish zu sprechen) ,von der Irritation überrascht werden'. Nach Beendigung der Lektüre ist der Leser ein Stück weiter als das Ich des Textes: er sieht, daß die Doppeldeutigkeit der verbale Ausdruck für einen Gefühlzustand ist. Doch verleiht der Text selbst auch einer Verfasserin Ausdruck, die mit großem technischem Können ein Gefühl von Verwirrung schafft, das sie vielleicht selbst einmal hat empfinden müssen, um diesen Text schreiben zu können. Die zahlreichen Möglichkeiten für die Klärung der impliziten Textpotentiale können noch vermehrt werden, wenn der
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Leser den ganzen Lyrikband miteinbezieht, dessen Stücke gerade vom Titel Spielende verbunden werden, in dem es also noch ganz andere Spieler gibt, auf die sich die Konnotationen von „Bleib" richten können. Mit dieser impliziten Assoziation gibt Ulla Hahn dem Leser die Möglichkeit, eine Reihe von Parallelen zu etablieren: zwischen Kunst und Liebe, zwischen Fiktionalem und Persönlichem, zwischen den ganz unterschiedlichen Gefühlen, die die Texte — darunter „Bleib" - behandeln. Es gibt genug Material für Leser, die gerne arbeiten wollen.
2. Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
Dekonstruktion im engeren Sinn — oder im eigentlichen Sinn — ist die Bezeichnung einer philosophischen Richtung, deren Hauptvertreter der französische Philosoph Jacques Derrida (geb. 1930) ist. Sein Durchbruchswerk ist De la grammatologie (1967, dt. Grammatologie, 1983). Die literaturwissenschaftliche Ausformung der Dekonstruktion ist vor allem ein amerikanisches Phänomen. Jacques Derrida wurde 1966 zu einer Universitätskonferenz in den USA eingeladen, wo sein Auftreten eine neue literaturtheoretische Welle auslöste. Zu ihrem Zentrum wurde die Yale Universität, wo eine Reihe von Literaturwissenschaftlern durch Derridas Überlegungen teils direkt inspiriert wurde, teils Antrieb zur Formulierung von Gedanken erhielt, mit denen sie schon länger gearbeitet hatten. Maßgeblich waren hier Harold Bloom, Paul de Man, Geoffrey Hartman und J. Hillis Miller. Gemeinsam mit Derrida gaben sie 1979 das Buch Deconstruction and Criticism heraus, das später als das literarische Manifest der Gruppe gewertet werden sollte. Für die zweite Generation der amerikanischen Dekonstruktion ist Barbara Johnson repräsentativ; sie erhielt ihre Ausbildung an der Yale Universität und wurde dann Professorin in Harvard. Wie jede neue literaturtheoretische Bewegung löste die Dekonstruktion in ausgeprägtem M a ß gute und schlechte Entwicklungen aus.
Literaturtheorie — Erneuerung und Modeerscheinung Im Laufe der letzten 20 Jahre hat eine Reihe von Literaturtheorien — Strukturalismus, Marxismus, Psychoanalyse, Fe-
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minismus — einander abgelöst. Jetzt also kommt die Dekonstruktion. Die neuen Theorien, die bis heute entstanden sind, haben alle, ihren Ursprung in anderen als literaturwissenschaftlichen Fachgebieten. Positiv daran ist, daß Literatur in größeren Zusammenhängen gesehen wird und neue Perspektiven eröffnet werden. Doch auch die negative Wirkung zeigt sich in zahlreichen Ausformungen. Eine von ihnen ist, daß Literatur als Gegenstand vernachlässigt wird, wenn alles sich darum dreht, Literaturtheorie oder sonstige Theorien zu lesen. Dies geschieht nicht in böser Absicht. Ein sorgfältiger Lehrer und Forscher muß sich mit dem Neuen auseinandersetzen. Ist dieses Neue beispielsweise der Marxismus, so sollte man nicht nur Karl Marx' Schriften lesen, sondern auch alle Deutungen und Literaturtheorien, die auf ihnen aufbauen. Wer sich jedoch erinnert, daß Das Kapital je nach Ausgabe drei bis vier dicke Bände umfaßt, und daß es einige Zeit braucht, diese zu lesen, beschränkt sich vielleicht auf ein paar Aufsätze über das Werk, wodurch es zu einem Wissen zweiter, dritter oder vierter Hand, mit anderen Worten, Dilettantismus, kommt. Es gibt keine unmittelbare Lösung dieses Zeitproblems, das jede neue Literaturtheorie mit sich bringt. Eine dritte Lösung, die ich persönlich bevorzuge, ist die rein literarische. Es zeigt sich, daß einige wesentliche Literaturtheorien von amerikanischen Forschern kommen, die sich mit der Dekonstruktion beschäftigt haben. Da es allein diese literaturwissenschaftliche Ausformung ist, die mein Interesse weckt, kann ich mich mit soviel Derrida-Lektüre zufriedengeben wie notwendig ist, um die jeweilige Theorie, zu verstehen. Für eine literarische Untersuchung ist es davon abgesehen gleichgültig, wie stark die Theorie auf Derridas Philosophie aufbaut. Er ist kein Guru, dessen Lehren befolgt werden müssen. Das einzig Wichtige ist, daß ein neuer Ansatz auch etwas wesentlich Neues über Literatur zu sagen hat.
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
Das jüngste Interesse an der Dekonstruktion zeigt sich oft unabhängig von der amerikanischen Bewegung. Es hängt dann eher mit einer generellen Problematisierung aller Systeme zusammen, einer Bewegung, die man „poststrukturalistisch" nennen könnte. Derridas Konzeptionen und die Dekonstruktion können als zwei von vielen Artikulationen dieser ganz allgemeinen Struktureinebnung betrachtet werden. Hinzu kommt schließlich, daß die jeweilige neue Theorie gut oder schlecht sein kann. Sie kann grundlegendes Neudenken oder oberflächliches Modephänomen sein. Der beste Wegweiser durch den Theoriedschungel ist ein kritisches Gespür. Dies braucht man besonders, wenn es sich um die Dekonstruktion handelt. Zuerst jedoch ist es erforderlich, einige Hauptaspekte des Strukturalismus in Erinnerung zu rufen, gegen die die Dekonstruktion reagiert.
Der Strukturalismus Der Strukturalismus wurde am Anfang dieses Jahrhunderts als Sprachtheorie entwickelt. Gleichzeitig wurde festgesetzt, daß die Sprache nur ein — wenn auch sehr charakteristisches — Beispiel für den Aufbau von Bedeutungssystemen ist. Der Begriff „Struktur" kann mit Greimas als eine autonome Einheit interner, hierarchisch aufgebauter Relationen definiert werden (vgl. Greimas 1966). Darüberhinaus wird Struktur durch die drei folgenden grundlegenden Eigenschaften charakterisiert: die Vorstellung von Ganzheit, die Vorstellung von Transformation und die Vorstellung der Selbstregulierung (vgl. Hawkes 1979). Die Struktur ist nicht statisch, sie ist nicht nur strukturiert, sondern auch strukturierend. Sie kann Veränderungsprozesse beinhalten, durch die Neues entsteht. Wenn man Sprache als Struktur auffaßt, dann können
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beispielsweise ausgehend von der Grundstruktur „Satz" immer neue und andere Sätze gebildet werden. Diese Prozesse können ohne jegliche Zuführung von außen ablaufen, sie sind selbstregulierend. Die Grundlage des Strukturalismus schuf der schweizerische Sprachforscher Ferdinand de Saussure (1857—1915). Sein Hauptwerk, Coürs de Linguistique Generale (dt. „Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft"), wurde 1916 postum herausgegeben. Er faßte Sprache als eine Struktur auf, d. h., betrachtete nicht ihre historische Entwicklung, sondern das Sprachsystem. Dieses beschrieb er als System von Zeichen, wobei jedes Zeichen aus zwei Bestandteilen besteht, dem Bezeichnenden (signifiant) und dem Bezeichneten (.signifie). Das Bezeichnende ist lautend, so wie die vier Laute R-O-S-E; das Bezeichnete ist unsere Vorstellung von einer duftenden roten Blume mit Dornen. Die Beziehung zwischen Laut und Bedeutung ist zufällig (arbiträr), es könnten ebenso gut die Laute P-F-E-R-D sein, die die genannte Blume bezeichnen. Shakespeare hat es poetischer ausgedrückt: ,A rose with any other name would smell as sweet" ( R o m e o and Juliet, Akt II, Szene 2). Da das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem eine zufällige Konstruktion ist, ist auch die Beziehung zwischen dem Zeichen und der Wirklichkeit zufällig. Die Buchstaben R-O-S-E erhalten ihre Bedeutung nicht deshalb, weil sie einen wesenhaften Zusammenhang mit der Blume haben, sondern weil sie sich von anderen Buchstabenkombinationen unterscheiden, z. B. P-O-S-E, und weil wir diesen Unterschied, diese Differenz als Konvention akzeptiert haben. Eine Konsequenz dieser Sichtweise ist, daß es keinen Zusammenhang zwischen Sprache und physischer Wirklichkeit gibt, eine andere, extremere Schlußfolgerung ist, daß wir schlechterdings keine Vorstellung von einer Wirklichkeit außerhalb von Sprache haben können.
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
Das Sprachsystem ist in Saussures Theorie Modell für andere Zeichensysteme. Die Sprache ist zu dieser Modell-Funktion deshalb geeignet, weil sie ein besonders deutliches Beispiel für die vollkommene Zufälligkeit des Verhältnisses zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem liefert. Für Saussure ist die Welt des Menschen jedoch gefüllt mit Zeichensystemen, etwa der Mode, der Gewohnheiten, der Ökonomie, der Familie; in keinem jener Systeme ist die Beziehung der beiden Bestandteile des Zeichens aber so zufällig wie in der Sprache. Kleider sind beispielsweise eine Bezeichnung für Geschlecht, sozialen Status, Zeitalter, Ökonomie und Geschmack, sie können jedoch nie ganz zufällig sein, sie müssen sich z. B. immer zu einem gewissen Grad nach dem Körper richten. Wenn man Saussures Strukturalismus zusammenfassen will, kann man sagen, daß er in drei grundlegenden Punkten mit der damals traditionellen Weltsicht gebrochen hat (vgl. Descombes 1980). Der Strukturalismus ist zunächst eine neue Weise des Analysierens (vgl. Bredsdorff 1967). Er bricht mit verschiedenen atomistischen Theorien (der Teil geht dem Ganzen voraus), ebenso mit diversen holistischen Systemen (das Ganze geht den Teilen voraus). Der Ganzheitsbegriff des Strukturalismus ist nämlich nicht die (romantische) Vorstellung von Teilen, die gemeinsam auf eine organische Ganzheit hinarbeiten. Die Ganzheit ist eine Art Modell, eine Hypothese, die es möglich macht, die Organisation einer speziellen Ganzheit zu beschreiben und sie mit einer anderen zu vergleichen. Zum Beispiel haben strukturalistische Anthropologen die Familiensysteme unterschiedlicher Völker verglichen. Zum anderen ist der Strukturalismus eine Theorie über Bedeutung. Diese kann verkürzt so formuliert werden: das Zeichen geht der Bedeutung voraus, d. h., die Bedeutung existiert nicht unabhängig vom Zeichen. Die Bedeutung ist kein Inhalt, der in eine Form gefüllt werden kann. Bedeutung entsteht als. Rela-
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tion zwischen dem Bezeichnenden und dem Bezeichneten. Drittens ist der Strukturalismus eine Theorie vom Subjekt. Dieses wird nicht länger als eine selbständige Größe um einen, selbständigen Kern herum aufgefaßt, sondern als ein Glied, das nur in Beziehung zu den sozialen Umständen verstanden werden kann, in denen es sich äußert, z. B. als Sender in einer Kommunikationssituation. Der Strukturalismus wurde als Sprachtheorie gebildet, die Konsequenzen für die gesamte Welt- und Menschenauffassung hatte. Er gewann durch das ganze 20. Jahrhundert hindurch an Bedeutung für eine ganze Reihe literaturtheoretischer Schulen. Der literarische Strukturalismus, an den wir heute am meisten denken, ist der französische Strukturalismus der 1960er Jahre.
Literarischer Strukturalismus in den 1960er Jahren Der literarische Strukturalismus der 1960er übertrug die strukturalistische Sprachtheorie auf die Literatur. Grundsätzlich führte dies zu einer Theorie, für die die Bedeutung eines literarischen Werkes nicht in den Worten, sondern im Verhältnis der Worte zueinander liegt. „Die Form wurde zum Inhalt", wie man es mit einem Schlagwort beschreiben könnte. Diese Struktur, nach der man in der Literaturanalyse suchte, konnte sich auf allen Niveaus eines literarischen Textes zeigen. Z u m Beispiel ist der Begriff „Handlung" für Strukturalisten eine Relation zwischen verschiedenen Handlungsinstanzen, nämlich Subjekt, Objekt, Adjuvant (Helfer), Opponent (Gegner), Adressant (Geber) und Adressat (Empfänger, vgl. Greimas 1971:142). Diese Struktur wurde im berühmten „Aktantenmodell" festgehalten. Der Begriff „Thema" wurde für die Strukturalisten zur Relation zwischen entgegengesetzten Wertsystemen, beispielsweise die Be-
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ziehung zwischen kulturellen und natürlichen Werten — um nur das am häufigsten genannte Gegensatzverhältnis zu nennen. Auf rhetorischer Ebene wurde von der Relation zwischen Konkretem und Übertragenem und dem Verhältnis verschiedener Formen konkreter und übertragener Bedeutung zueinander gesprochen. Der literarische Strukturalismus hat sein Zentrum in Frankreich. Einer seiner Hauptvertreter ist A. J . Greimas, der 1966 die Schrift Sémantique structurale (dt.: Strukturale Semantik, 1971) veröffentlichte. In der Literaturanalyse hatte zuerst seine Theorie von der „elementaren Struktur der Bedeutung" durchschlagende Wirkung. Wir nehmen in Unterschieden wahr, meint Greimas. Was bedeutet dies? Greimas' Erklärung lautet folgendermaßen: „1. Unterschiede wahrnehmen heißt soviel wie zumindest zwei Terme-Objekte [termes-objets] als simultan anwesend zu erfassen; 2. Unterschiede wahrnehmen heißt soviel wie die Relation zwischen den Termen zu erfassen, sie auf die eine oder die andere Weise miteinander in Verbindung zu setzen. [ . . . ] Zwei Konsequenzen lassen sich unmittelbar daraus ableiten: 1. Ein Term-Objekt allein weist keine Bedeutung auf; 2. die Bedeutung setzt das Vorhandensein der Relation voraus: Die Erscheinung der Relation zwischen den Termen ist die notwendige Bedingung dér Bedeutung." (Greimas 1 9 7 1 : 1 3 , 14)
Diese Bedeutungstheorie gilt für alle Elemente der Sprache, von den Lauten als ihren kleinsten Teilen bis hin zu den abstrakten Begriffen. Greimas' bekannteste Beispiele sind der Begriff „Größe", den wir nur als Unterschied zwischen „groß" und „klein" verstehen können, und der Begriff „Geschlecht", der nur als Differenz zwischen „männlich" und „weiblich" verstanden werden kann. Diese Bedeutungstheorie wird in der Literaturanalyse zur Theorie der „Bedeutung" eines ganzen Textes. Bedeutung ist nicht mehr das, was in direkter, wörtlicher Rede vom Erzähler oder fiktionalen Cha-
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rakteren geäußert wird. Die Bedeutung ist mehr oder weniger das indirekt formulierte Gegensatzverhältnis zwischen den Werten, auf denen der Text aufzubauen scheint. Es ist diese Gegensatzstruktur, die nach strukturalistischem Verständnis die „Bedeutung" des Textes ausmacht. Dabei ist es gleichgültig, ob die Struktur im Text liegt, oder ob sie das analytische Werkzeug ist, mit dem ein Text entschlüsselt wird (persönlich neige ich zur ersten Auffassung). Wenn man einen literarischen Text entsprechend dieser Theorie untersucht, muß man sich darüber im klaren sein, was sie leisten und was sie nicht leisten kann. Die Gegensatzanalyse kann als letzter Schritt einer Untersuchung eingesetzt werden. Sie kann dann angewandt werden, wenn man alles Übrige — in der Lyrik z. B. Reim und Rhythmus, Erzählerinstanz, Rhetorik, Komposition, Situation, Gegenstand, Modus (Stimmungslage) — bereits analysiert hat. Ist man zu diesem Punkt vorgedrungen, hat man jenen Überblick, der die Voraussetzung für Zusammenfassung und Abstraktion ist. Mit der so gewonnenen Kenntnis ist es jetzt möglich, vom Text selbst ausgehend die Gegensätze zu konstruieren, auf denen er aufbaut. In der Regel wird sich zeigen, daß es zwei grundlegende Gegensatzpaare gibt, denen andere, vertiefende Gegensatzpaare zugeordnet werden können. Man kann nun das Verhältnis zwischen den beiden Gegensätzen untersuchen. Welcher wird positiv, welcher negativ dargestellt? Welcher von beiden ist der stärkere — am Anfang? Am Schluß? Was verursacht diese Entwicklung? Ich halte die Gegensatzanalyse für ein sehr wichtiges Instrument. Sie kann auf alle literarischen Formen angewandt werden und ermöglicht es, Texte zu vergleichen. So kann in dem einen Text „Liebe" als der Gegensatz zwischen Natur und Kultur dargestellt werden, in dem anderen als Kontrast zwischen zwei Formen von Natur oder zwei Formen von Kultur usw. Doch muß man sich dessen bewußt sein, daß die
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Gegensatzanalyse auf einem Abstraktionsprozeß aufbaut. Sie kann andere, unmittelbarere Lektüreverfahren nicht ersetzen und kann nicht isoliert für sich stehen. Als Untersuchungswerkzeug wird sie am besten am Ende des Analyseprozesses angewandt; sie unterscheidet sich stark vom Leseprozeß als Verlauf in der Zeit, für den Stanley Fish plädiert hat (vgl. Kap. 1).
Dekonstruktion: Derrida Als Derrida 1966 in die USA kam, geschah dies zwar aus Anlaß einer Strukturalismus-Tagung, doch lieferte er hier gerade eine Dekonstruktion des Strukturalismus. Die dekonstruktivistische Kritik am Strukturalismus könnte kurz folgendermaßen zusammengefaßt werden: alle Strukturen brechen von innen heraus zusammen. Sie tun dies, so Derrida, weil jede Struktur, um sich zu konstruieren, Elemente unterdrücken muß, die nicht in ihr System passen. Wird dieser Ausschließungsprozeß enthüllt, so zerfällt die Struktur. Derridas Dekonstruktion greift jedoch weit über den Strukturalismus hinaus, sie ist die Problematisierung einer grundlegenden Tradition des gesamten westlichen Denkens, die Derrida als Logozentrismus bezeichnet. Damit meint er zwei Dinge: daß das westliche Denken mit einem Zentrum arbeitet, und daß dieses Zentrum das Wort (logos), die Vernunft, die Rationalität ist. Das System in seiner Gesamtheit kann nur aufrechterhalten werden, wenn alles, was ihm widerspricht, ausgegrenzt wird. Die Kritik am Strukturalismus im Besonderen ist von Derridas Seite aus primär die Infragestellung der Saussureschen Sprachtheorie. Derrida läßt sich auf der Grundlage der Prämissen Saussures auf Saussures System ein und zeigt, daß
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dieses System Selbstwidersprüche beinhaltet, die weitreichende Konsequenzen haben. Zum Beispiel ist es möglich, andere Schlußfolgerungen aus dem Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem zu ziehen. Für Saussure ist das Bezeichnende, etwa R-O-S-E, ein Hinweis, weil es von anderen Bezeichnenden, wie z. B. P-O-S-E, abweicht. Das Bezeichnete ist also Produkt der Differenz zwischen zwei Bezeichnenden. Aber, meint Derrida, das Bezeichnete ist auch das Resultat der Differenz einer langen Reihe anderer Bezeichnenden, z. B. D-O-S-E, H-O-S-E, L- O-S-E. Damit problematisiert Derrida Saussures Vorstellung vom Zeichen als einem eindeutigen Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Derrida geht noch weiter: er behauptet, daß das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem nicht festliegt. Ein konstruiertes Beispiel: nehmen wir die Buchstaben H-U-N-D als das Bezeichnende. Tun wir so, als wüßten wir nicht, was dies bedeutet, und schlagen wir im Lexikon nach. Dort erfahren wir, daß „Hund" ein Tier ist. Falls wir auch nicht wissen, was „Tier" bedeuten müssen wir noch einmal nachschlagen, usw. Im Laufe dieses Prozesses hat „Tier" seine Stellung gewechselt. Zuerst war es das zu „Hund" gehörende Bezeichnete, dann wurde es selbst das Bezeichnende der nächsten Bedeutung. Wenn die grundlegenden Saussureschen Elemente Bezeichnendes/Bezeichnetes den Platz wechseln können, ist die Struktur nicht fest, sondern fließend. Um diese radikale Änderung von Saussures zentralem Begriff Differenz ( d i f f é r e n c e ) zu markieren, hat Derrida ein neues französisches Wort konstruiert: différence, das also falsch buchstabiert wird. Auf Französisch ist das neue Wort eine Vermischung des Verbs différer (nicht identisch sein, aufschieben) und des Adjektivs différant (im Zustand des NichtIdentischseins, des Aufschubs). Deutsche Übersetzungen versuchen entweder, den Neologismus nachzuahmen — bei-
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spielsweise mit „"'Differenz" (Grammatologie) oder „Differänz" (Die Stimme und das Phänomen) — oder behalten das französische Wort als „die différance" bei (Randgänge). Mit dem neuen Wort zeigt Derrida an, daß kein System endlich ist, daß es kein letztes, absolutes Glied gibt (wie z. B. den christlichen Gott, der als Ursprung und Ziel allen Wissens, Schaffens, aller Güte und Macht aufgefaßt wird). Jedes Glied wird sich immer durch den Unterschied gegenüber anderen Gliedern markieren. Différance ist das, was die Bewegung der Bedeutung möglich macht und alle Theoriesysteme aufhebt. ,Nicht nur gibt es kein Reich der différance, sondern diese stiftet zur Subversion eines jeden Reiches an." (Derrida 1988:47) Für Derrida ist es eine besondere Pointe, daß der Unterschied zwischen korrekt buchstabierter „différence" und konstruierter „différance" auf Französisch nicht gehört, sondern nur gesehen werden kann. Derridas Dekonstruktion stellt so alle Grundsätze des Strukturalismus in Frage: die Theorie der Strukturanalyse, die Theorie der Relation als bedeutungstragender Struktur und die Theorie des Subjektes als Relation. Gleichzeitig problematisiert die Dekonstruktion alle übergeordneten philosophischen Problemstellungen, deren Teilbereich der Strukturalismus ist. Derridas Philosophie ist nicht leicht zugänglich, und hier habe ich nur eine Art Handbuch-Dekonstruktion referieren können. Das Schwerzugängliche bei Derrida hängt zusätzlich von seinem Sprachgebrauch ab, er ist in der Regel selbst für geübte Leser nicht unmittelbar verständlich. Seine Fragestellungen an sich sind schwierig, doch hinzu kommt Derridas Wahl schwerer Termini und Satzkonstruktionen. Diese werden mit Elementen kombiniert, die dem wissenschaftlichen Stil fremd sind: Personifikationen, Metaphern, persönliche Assoziationen, Wortspiele und Kalauer. Letzteres ist eine Pro-
Dekonstruktion: Derrida
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vokation, die die universitäre Institution h e r a u s f o r d e r n soll, d o c h ist a u c h ein g u t Teil A f f e k t i e r t h e i t m i t i m S p i e l . H i e r nun ein B e i s p i e l f ü r D e r r i d a s S c h r e i b s t i l , ein A b s c h n i t t
aus
Es geht u m seine Polemik gegen
Saussure
(und R o u s s e a u ) , d e r b e h a u p t e t , d i e S p r a c h e h a b e
Vorrang
Grammatologie. vor d e r S c h r i f t :
„Unerträglich und doch faszinierend ist gerade diese intime Verknüpfung von Bild und Ding, Graphie und Phonie; sie geht so weit, daß das gesprochene Wort durch eine Spiegelung, Verkehrung oder Perversion seinerseits zum Spekulum der Schrift zu werden scheint, wobei diese „die Hauptrolle usurpiert". Die Repräsentation verflicht sich mit dem, w a s sie repräsentiert; dies geht so weit, daß man spricht wie man schreibt, daß man denkt, als wäre das Repräsentierte lediglich der Schatten oder der Reflex des Repräsentierenden. Gefährliche Promiskuität, unheilvolle Komplizität zwischen Reflex und Reflektiertem, welches narzißtisch sich verführen läßt. In diesem Spiel der Repräsentation wird der Ursprungspunkt ungreifbar. Es gibt Dinge, Wasserspiegel und Bilder, ein endloses Auf-einander-Verweisen — aber es gibt keine Q u e l l e mehr. Keinen einfachen Ursprung. Denn was reflektiert ist, zweiteilt sich in sich selbst, es wird ihm nicht nur sein Bild hinzugefügt. Der Reflex, das Bild, das Doppel zweiteilen, w a s sie verdoppeln. Der Ursprung der Spekulation wird eine Differenz. Was sich betrachten läßt, ist nicht Eins, und es ist das Gesetz der Addition des Ursprungs zu seiner Repräsentation, des Dings zu seinem Bild, daß Eins plus Eins wenigstens Drei machen. Nun bestimmen sowohl Rousseau als auch Saussure die historische Usurpation und die theoretische Absonderlichkeit, die das Bild in die Rechte der Realität einsetzen, als Vergessern eines einfachen Ursprungs." (Derrida 1 9 7 4 : 6 4 - 6 5 ) .
D i e s e r Stil, d e r D e r r i d a s O r i g i n a l i t ä t z u r N o t z u g e s t a n d e n werden k a n n , erhält t r a g i k o m i s c h e Z ü g e , w e n n seine Epigonen ihn ü b e r n e h m e n .
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
Dekonstruktion der Gegensatzstruktur Ein Zitat wie das oben angeführte schreckt mehr Leser ab, als es anzieht. Doch ist diese Passage von großer Bedeutung, denn sie handelt von Derridas Kritik an der Gegensatzstruktur, die wesentlich für das westliche Denken, den Strukturalismus und die literaturwissenschaftliche Strukturanalyse ist. Derridas Hauptgesichtspunkt ist, daß die Gegensatzstruktur nicht logisch sei. Sie ist hingegen eine Werthierarchie, und sie funktioniert gemäß einer langen Reihe von Wertmechanismen, die mit Logik nichts zu tun haben. Derrida verweist in seinen Schriften viele Male auf gängige Gegensatzpaare in unserer Kultur — Körper/Seele, Materie/Geist, Form/Inhalt, Gefühl/Verstand, buchstäblich/symbolisch, immanent/transzendent, Natur/Kultur, böse/gut, dunkel/hell — und zeigt, daß eine Seite immer höchste Priorität besitzt (hier ist es die rechte Seite). Diese Seite wird als die ursprüngliche gesetzt, als die authentische, erhöhte. Die andere Seite ist die niedrigere, die abgeleitete, abgespaltene, die später entstandene. Diese Gegensätze sind deshalb nicht logisch gleichberechtigt, und aus diesem Grund dominiert die positiv eingeschätzte Seite über die andere. Wir können uns beispielsweise einen Begriff wie „Natur" einfach nicht mehr vorstellen, da wir sie nach den Prämissen des Begriffes „Kultur" darstellen. Ausgehend von diesem Argument kommt Derrida zur Ansicht, daß die Gegensatzstruktur eine Gewalthierarchie sei, die nur aufrechterhalten werden könne, wenn die als niedriger eingestufte Seite marginalisiert wird, mitunter in solchem Maß, daß das Ausgeschlossene ganz verschwindet, un-gedacht oder immerhin un-denkbar gemacht wird. Derridas eigenes Hauptbeispiel in Grammatologie ist der Gegensatz zwischen Sprache und Schrift. In der westlichen Philosophietradition, so Derrida, hat das gesprochene Wort immer den
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Vorrang beansprucht. Es ist das Eigentliche, Ursprüngliche, Authentische. Es liegt näher beim Gedanken und beim Gefühl. Die Schrift ist nur eine sekundäre Einkleidung, notwendig zur Kommunikation, doch ein Hindernis der Arbeit des freien Gedankens, manchmal geradezu seine Entstellung. Diesen Gegensatz dekonstruiert Derrida, indem er behauptet, daß sowohl Rede als auch Schrift eine Art von Schrift seien. Derridas Kritik an der Gegensatzstruktur im westlichen Gedankengang scheint mir überaus wichtig. Sie allein ist bereits die ganze Dekonstruktion wert. Aber in bezug auf das Rede-/Schriftbeispiel bin ich unsicher: ist es nicht Derrida, der hier die Verhältnisse umgewichtet? In ähnlicher Weise könnte ja auch behauptet werden, daß die Reichen von den Armen unterdrückt werden. Ich kann nicht entscheiden, ob meine unmittelbare Vorstellung Resultat des Logozentrismus ist — der in diesem Falle so stark ist, daß ich nicht einmal erkennen kann, was nun eigentlich dominiert und was dominiert wird — oder ob nicht Derrida weniger dekonstruktiv ist, als er selbst glaubt, und die Schrift als das Primäre ansetzt, um sein Gegensatzsystem zu verteidigen. Wenn Derrida „Schrift" als gemeinsame Bezeichnung für Rede und Schrift verwendet, könnte dies der Einrichtung einer entgegengesetzten Gewalthierarchie gleichkommen, und es gibt zahlreiche Indizien für eine fast libidinöse Pflege des Begriffes „Schrift" durch Derrida und seine Schule. Ich bin davon überzeugt, daß Derrida einige zentrale Mechanismen des Logozentrismus aufzeigt, doch glaube ich auch, daß er in diesen weit mehr involviert ist, als er selbst erkennt.
Dekonstruktion als Analysemethode Derridas Kritik der Gegensatzstruktur eröffnet die Perspektive einer dekonstruktivistischen Analysemethode oder, um eine neue Sprache zu verwenden, einer dekonstruktivisti-
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
sehen Lesestrategie. Die Gegensatzstruktur kann nämlich nur durch eine lange Reihe von Illusionstechniken aufrechterhalten werden, und diese können in der Analyse aufgewiesen werden. Dekonstruktion als Analysemethode kann negativ angewendet werden: man zeigt, wie die Struktur zusammenbricht, in diesem Sinne ist die Methode eine „Destruktion". Der Leser kann aber auch von den neuen Voraussetzungen aus weiterarbeiten und neue Zusammenhänge konstruieren. Diese Bewegung hängt mit dem Begriff „Konstruktion" zusammen. Ich fasse die Dekonstruktion als eine aus diesen zwei Begriffen zusammengesetzte Doppelbewegung auf. „AbBau" könnte man stattdessen auch sagen, um die Doppelung festzuhalten. Die Dekonstruktion schafft den Strukturalismus nicht ab, er bleibt die Voraussetzung. Zuerst muß die Struktur gefunden werden, dann kann sie niedergerissen und eine andere an ihrem Platz aufgebaut werden. Derrida gebraucht selbst eine große Anzahl von Dekonstruktions-Strategien, einige von ihnen beschreibt er explizit, z. B. die Umkehrung. „[...] bei einem klassischen philosophischen Gegensatz [hat man es] nicht mit der friedlichen Koexistenz eines Vis-à-vis, sondern mit einer gewaltsamen Hierarchie zu tun [...]. Einer der beiden Ausdrücke beherrscht (axiologisch, logisch usw.) den anderen, steht über ihm. Eine Dekonstruktion des Gegensatzes besteht zunächst darin, im gegebenen Augenblick die Hierarchie umzustürzen." (Derrida 1986:88)
Derridas wichtigstes Instrument aber ist die doppelte Lektüre, eine Kombination aus dem, was er Umkehrung und Verschiebung nennt: die Dekonstruktion „muß durch eine doppelte Gebärde, eine doppelte Wissenschaft, eine doppelte Schrift, eine Umkehmng der klassischen Opposition und eine allgemeine Verschiebung des Systems bewirken. Allein
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unter dieser Bedingug wird die Dekonstruktion sich die Mittel verschaffen, um in das Feld der Oppositionen, das sie kritisiert, und das auch ein Feld nicht-diskursiver Kräfte ist, eingreifen zu können." (Derrida 1988:313) D e r r i d a s Analyse des G e g e n s a t z e s v o n R e d e u n d Schrift ist eine solche D o p p e l b e w e g u n g . Z u e r s t a r g u m e n t i e r t er d a f ü r , d a ß m a n e b e n s o gut sagen k ö n n e , die Schrift k o m m e vor der Rede, d a n n j e d o c h verschiebt er d a s g a n z e System u n d b e h a u p t e t , d a ß Rede u n d Schrift beide Schrift seien, die eine p h o n e t i s c h , die a n d e r e g r a p h i s c h . U n t e r D e r r i d a s eigenen D e k o n s t r u k t i o n s s t r a t e g i e n ist a u c h die Supplement-Analyse („Ergänzungs-Analyse") zentral. Z u r Illusion v o n gleichwertigen G e g e n s ä t z e n , so D e r r i d a , t r ä g t d a s S u p p l e m e n t - V e r f a h r e n m a ß g e b l i c h bei. Ein Glied w i r d z u m u r s p r ü n g l i c h e n e r k l ä r t , d a s a n d e r e w i r d zu einer A r t v o n E r g ä n z u n g , e t w a w i e ein E r g ä n z u n g s b a n d zu e i n e m L e x i k o n . D a s g e s p r o c h e n e W o r t ist d a s U r s p r ü n g l i c h e , die Schrift k o m m t als E r g ä n z u n g h i n z u . D i e N a t u r ist d a s Urs p r ü n g l i c h e , die E r z i e h u n g die E r g ä n z u n g . D o c h läßt diese S u p p l e m e n t v o r s t e l l u n g d a s K o n z e p t v o n der A u t h e n t i z i t ä t des ersten Gliedes z u s a m m e n b r e c h e n . W e n n e r g ä n z t w e r d e n m u ß , h a t d a s U r s p r ü n g l i c h e M ä n g e l , k a n n also nicht a u t h e n tisch sein. W e n n m a n die T h e o r i e a u f r e c h t e r h ä l t , d a ß die B e d e u t u n g eines jeden Textes als G e g e n s a t z s y s t e m s t r u k t u r i e r t ist, d a s auf einer Illusion a u f b a u t , d a n n e r f o r d e r t jede T e x t a n a l y s e eine D e k o n s t r u k t i o n . Eine solche D e k o n s t r u k t i o n k a n n eine v o n D e r r i d a s D e k o n s t r u k t i o n s t e c h n i k e n v e r w e n d e n (und es gibt weit m e h r als die, auf die ich hingewiesen h a b e ) o d e r selbst n e u e V e r f a h r e n e n t w i c k e l n . In der a m e r i k a n i s c h e n Lit e r a t u r w i s s e n s c h a f t h a t sich die D e k o n s t r u k t i o n u. a. auf diesem Wege ausgebreitet. A u c h m ö c h t e ich b e h a u p t e n , d a ß die meisten, die sich j a h r e l a n g m i t T e x t a n a l y s e a u s e i n a n d e r g e -
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setzt haben, in ihrer eigenen Methode verschiedene dekonstruktive Merkmale entdecken werden, ohne Derrida oder den Terminus „Dekonstruktion" überhaupt zu kennen. Wenn Derridas Dekonstruktion Durchsetzungskraft erlangt hat, hängt dies wohl auch damit zusammen, daß er Blickwinkel sichtbar macht, die viele teilen, ohne sie je so deutlich oder bewußt formuliert zu haben. Derrida hat Anhänger und Gegner. Letztere beschuldigen ihn der Destruktivität, des Nihilismus und, in letzter Instanz, des Zugrunderichtens der westlichen Kultur. Verschiedentlich wurde versucht, Derridas Außenseitertum damit zu erklären, daß er Jude sei. Es gibt gute Argumente für diese Betrachtungsweise, doch stellt sie zugleich auch eine starke Vereinfachung dar. Derrida ist der westlichen Metaphysik nicht im geringsten „fremd". Im Gegenteil bewegt er sich in der spekulativen Tradition wie ein Fisch im Wasser. Außerdem darf man nicht übersehen, daß die jüdische Tradition zur westlichen stark beigetragen hat.
Literarische Dekonstruktion, Barbara Johnson Barbara Johnson ist die auffälligste Repräsentantin der zweiten amerikanischen Dekonstruktionsgeneration. Sie ist gleichzeitig jene, die am konsequentesten mit der literarischen Dekonstruktion gearbeitet hat. In einem Interview hat sie eine Perspektive, der dekonstruktivistischen Textlektüre formuliert, die ich als Motto für die besten Entwicklungen dieser Bewegung setzen möchte. Sie spricht über ihren Lehrer Paul de Man: „Die Wirkung, die er ausübte, war mehr, daß sich ein Text als unglaublich viel reicher darstellte, als man erwartet hatte, und sein Autor und seine Sprache als außerordentlich ,gewieft' er-
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schienen. Diese Art von Wahrheit, die der Text vermittelte, war viel komplizierter und tiefgründiger, als es eine einfache
Bestim-
mung der Bedeutung jemals hätte zeigen können. Mir scheint, daß die effizienteste Art dekonstruktivistischer Lehre mit dem Hinweis beginnen müßte, wie viel bedeutungsvoller und nicht wie viel bedeutungsärmer ein Text möglicherweise sein könnte [ . . . ] . " (Salusinszky 1 9 8 7 : 1 6 2 )
Barbara Johnson selbst hat sich in ihren Untersuchungen auf die Gegensatzstruktur konzentriert, die sie auflöst, wann immer sie auf sie stößt. Die von ihr stets gestellte Frage lautet in aller Einfachheit: was ist eigentlich der Unterschied der zwei Teile eines Gegensatzpaares? Entsprechend einfach ist die Antwort, zu der sie kommt: den scharfen Unterschied, den wir gewöhnlich sehen, gibt es nicht. Die Differenz und ihre Auflösung sind der Hauptgegenstand ihrer Analysen; dieser Terminus taucht auch in den Titeln der beiden Bücher auf, die sie publiziert hat: The Critical Difference (1980) und A World of Difference (1987). Die Bände enthalten Untersuchungen zur französischen und englischen Literatur. Sie listet selbst die Gegensätze auf, mit denen sie sich am stärksten beschäftigt hat: maskulin/feminin, Literatur/Kritik, Sexualität/Textualität, Poesie/Prosa, Original/Wiederholung, Poesie/Theorie, performativ/konstativ, Referenz/Selbstreferenz, Wissenschaft/Literatur, Syntax/Semantik, naiv/ironisch, Mord/Fehler, Verbrecher/Opfer/Richter, Literatur/Psychoanalyse/Philosophie. Ihre Methode hat sie in The Critical Difference selbst kurz beschrieben. Sie erwähnt, daß Rousseau in seinen Bekenntnissen sich selbst als „verschieden" von anderen Menschen beschreibt, manchmal jedoch auch als „außer seiner selbst", d. h., verschieden von sich selbst. Barbara Johnson setzt fort: „Mit anderen Worten wird die Geschichte von der Differenz des Ichs von anderen unausweichlich zur Geschichte seiner eigenen
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in unüberbrückbaren Differenz zu sich selbst. Differenz liegt nicht im Raum zwischen Identitäten; es ist das, was jede Totalisierung der Identität eines Ichs oder der Bedeutung eines Textes unmöglich macht. Es ist jene Art von textueller Differenz, die dem Prozeß dekonstruktivistischer Literaturkritik zugrundeliegt. Dekonstruktion ist jedoch nicht, synonym mit Destruktion. Tatsächlich steht sie der ursprünglichen Bedeutung des Wortes analysis viel näher, das etymologisch ,etwas rückgängig machen' bedeutet — das wirkliche Synonym von ,de-konstruieren'. Die De-konstruktion eines Textes geht nicht mit zufälligen Zweifeln und arbiträrer Subversion vor, sondern lockt vorsichtig die streitenden Kräfte der Signifikation im Text selbst hervor. Wenn in einer dekonstruktivistischen Lektüre irgendetwas zerstört wird, dann nicht der Text, sondern der Anspruch auf einseitige Dominanz einer Signifikationsform über die andere. Eine dekonstruktivistische Lektüre ist eine Lektüre, die die Besonderheit der kritischen Differenz eines Textes zu sich selbst analysiert." (Johnson 1982:4—5) Das deutlichste und pädagogischste Beispiel dieser Lese-
weise liefert Barbara J o h n s o n in ihrer Analyse von Herman Melvilles R o m a n Billy Budd
(geschr. 1 8 9 1 , hg. 1 9 2 4 ) . Die
Titelfigur ist ein naiver, hübscher und gutherziger Matrose. Der berechnende Sergeant Claggert bezichtigt ihn fälschlich des Plans zur Meuterei. Billy Budd, der an Stottern leidet, wird aus Wut über die unwahre Anschuldigung stumm. Statt sich mit Worten zu verteidigen, führt er einen Schlag gegen Claggert und tötet ihn mit diesem einen Hieb. O b w o h l der Kapitän von der Unschuld Billys überzeugt ist, muß er ihn hängen lassen, um Rühe und Ordnung zu bewahren. Barbara Johnsons Dekonstruktion dieses R o m a n s bewegt sich auf verschiedenen Ebenen. Sie beginnt mit dem Argument, daß der scheinbar so einfache R o m a n in beträchtlichem M a ß e kompliziert ist, da der Gegensatz gut (Billy Bud) gegen schlecht (Claggert) nicht durchgehalten werden kann. Es stellt sich nicht nur die Frage nach dem Gegensatz
zwt-
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sehen, sondern auch nach dem Gegensatz in. Der Gute ist nämlich nicht ungeteilt gut, so Barbara Johnson. In Billy Budd liegt eine Spaltung zwischen Wesen und Handeln („being and doing") vor. Billy Budd ist gut, doch sein Handeln ist schlecht, er tötet. Umgekehrt kommt der Schlechte zur Opferrolle, die normalerweise dem Guten zugeteilt wird. Wenn der Gegensatz zwischen dem Guten und dem Schlechten zerbrochen ist, fällt auch der Roman als Allegorie über Gut und Schlecht in sich zusammen. Barbara Johnson führt die Analyse weiter als bis zu dieser Dekonstruktion auf dem Personenniveau. Sie zeigt, daß der Roman auch von Gegensätzen auf der Zeichenebene handelt. Der naive Bill geht von der Vorstellung aus, daß die Worte bedeuten, was sie sagen; für ihn ist das Verhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem eindeutig. Der intellektuelle Claggert hingegen glaubt nicht an Worte und physische Erscheinungen, sondern hört überall Ironie und verborgene Bedeutung heraus. Für ihn besteht kein Zusammenhang zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. Diese Textebene spiegelt die Differenzen der Kritiker, die den Roman entweder wörtlich oder ironisch'lesen; letzteres betrifft u. a. Billys letzte Replik vor der Hinrichtung: ,Gott schütze Captain Verre!" Die Pointe von Barbara Johnsons Analyse liegt darin, daß die Differenz von einem dritten Glied, Kapitän Verre, aufgehoben wird, der in seinem Urteil über Billy den Gegensatz aufhebt. Er befürwortet weder die Kohärenz (daß Billy gut ist und Gutes tut) noch die Spaltung (daß Billy gut ist, aber zufällig das Schlechte tut), sondern betrachtet allein das Resultat, den Totschlag. Auf politischem Niveau hebt Kapitän Verre insofern die Gegensätze auf. Dies ist das Gegenteil von dem, so Barbara Johnson, was im Krieg geschieht — und die Romanhandlung spielt sich im Jahr 1797 während des Krieges zwischen England und Frankreich ab. Im Krieg werden Gegensätze konstruiert und vereinfacht, es werden nur
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die Gegensätze zwischen (z. B. England und Frankreich) betrachtet, alle Gegensätze in (etwa in England) aber übersehen. Es gibt noch weitere Niveaus in Johnsons Untersuchung, die angeführten sind jedoch hinreichend, um ihre Methode und ihren Scharfsinn zu illustrieren. Die Billy Budd-Analyse wurde berühmt und hat tatsächlich große Qualitäten, vor allem in der Ausweitung der Ebenen: das Charakterniveau, das allegorische Niveau, das Zeichenniveau, das politische Niveau. Trotzdem muß ich auf die Grenzen der Untersuchung hinweisen. Barbara Johnson will mit ihrer Dekonstruktion zeigen, daß ein einfacher Text vielschichtig ist. Doch wählt sie den falschen Ausgangspunkt: der Text ist nämlich vielschichtig. Sie kann über diesen Umstand hinwegsehen, da sie u. a. den Erzähler nicht beachtet, der seine Erzählung in hohem Grade verkompliziert. Barbara Johnson ist, insgesamt gesehen, nicht ganz sorgfältig in ihrer Analyse, z. B. ist es diskutabel, ob Billy eine schlechte Handlung ausführt, und schlichtweg falsch, daß Claggert als Opfer dargestellt wird. Barbara Johnson entscheidet sich für die Vernachlässigung der psychologischen Seite des Romans, z. B. wird das Textangebot zum Verhältnis Claggert/Billy Budd nicht diskutiert: Claggert wird nämlich von Billy mit der intellektuellen Mischung von Zuneigung und Zerstörungsdrang angezogen. In gewisser Hinsicht kann gesagt werden, daß Barbara Johnson die Haltung Claggerts selbst einnimmt. Die Dekonstruktion kann alle Ebenen von Spaltung aufnehmen, bietet jedoch keinen Raum für das Einfache. Will man sich mit Johnsons Werk beschäftigen, ist die Analyse von Billy Budd entschieden die Stelle, mit der man beginnen sollte. Die übrigen Analysen in The Critical Difference sind zum größten Teil für ein sehr avanciertes Niveau konzipiert, wie beispielsweise die Untersuchung zweier Baudelaire-Texte mit ihrer Dekonstruktion von Genre und Rhe-
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torik. Auch die Analyse eines Poe-Textes — Der entwendete Brief — richtet sich an Fortgeschrittene; es handelt sich um eine Untersuchung der Lacan- und der Derrida-Lektüren des genannten Textes. Wieder zeigt Barbara Johnson hier ihr Können, meiner Meinung nach jedoch auch die Kehrseite ihrer Vorgehensweise. Ohne Frage ist die Verfasserin vertraut mit dem Werk Lacans und Derridas, doch stellt sie deren Methoden nicht in Frage, ja interessiert sich nicht einmal für Poes Text. Dies ist Literaturtheorie um der Theorie willen. Im zweiten Buch zeigt sich hingegen Selbstkritik. Barbara Johnson blickt nun distanziert auf das geschlossene Milieu und System der Dekonstruktion und wählt deshalb einen Titel, der das Wort „Welt" beinhaltet. Sie hat, wie man dem Band entnehmen kann, einige persönliche Schocksituationen durchlaufen: Paul de Man ist tot, seine pro-nazistischen Jugendschriften entdeckt worden. Gleichzeitig wurde sie selbst gefragt, wie die Dekonstruktion die Geschlechterproblematik handhabe, worauf sie bekennen mußte, daß das Yale-Milieu in extremem Maße männerdominiert ist und sie selbst, als einzige hervortretende Frau, zugleich jene ist, die die Geschlechterfrage am wenigsten reflektiert hat. Dies alles hat Barbara Johnson dazu bewegt, ihr professionelles Leben mit einer Reihe von Fragen zu konfrontieren. Im o. g. Interview formuliert sie jetzt, daß es der eigentlichen Dekonstruktion immanent sein müsse, derartige Probleme zu thematisieren: „[Sjicher ist einer der essentiellen Aspekte (i. e. der Dekonstruktion) die Frage, wo genau man steht, um das, was man tut, tun zu können: was sind die Grenzen, die man seinem Handeln gibt; was schützen diese Grenzen und was enthüllen sie? Um wirklich dekonstruktiv zu sein, müßte man ständig den Ort des eigenen Fragens wechseln, sich nicht nur zu anderen Texten hinbewegen. Man müßte fragen: ,Was tue ich, wenn ich hier sitze und rede, in dieser Institution?', und: ,Warum lese ich diesen Text?', statt bloß
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in zu sagen, ,Dieser Text ist gegeben, also werde ich ihn lesen'." (Salzusinszky 1987: 158)
Die Fragen zeigen ihre Auswirkung in Johnsons Beschäftigung mit neuen Texten, u. a. von Autorinnen, und in neuen Problemstellungen, z. B. die der Dekonstruktion als erfolgreicher und damit auch institutionalisierter Methode. Wenn sich hier eine Veränderung im Denken Barbara Johnsons abzeichnet, bleibt die Anwendung des dekonstruierenden Verfahrens hinsichtlich der Gegensatzstrukturen immer noch die gleiche. Dies führt zu weiteren hellsichtigen Analysen, die nicht ganz frei von Manier sind. Wenn sie beispielsweise bezüglich Paul de Mans Nazismus über den Gegensatz „zwischen und in" spricht, wird man der Formel überdrüssig; gleiches gilt für eine Anwendung auf die Rassen- oder Geschlechterdifferenz, über die sie nicht anderes als die anerkannte Wahrheit der 1970er Jahre — die schwarze Frau ist der unterste Teil des Systems — zu sagen hat. Barbara Johnsons Entwicklung zeigt deutlich die Qualitäten und Grenzen der Dekonstruktion. Sie hat eine einfache zentrale Struktur, den dualistischen Gegensatz, als Ausgangspunkt gewählt und auseinanderdividiert. Die Textanalyse tut gut daran, ihr in dieser Hinsicht zu folgen. Wenn die Verfasserin mitunter selbst im Leerlauf fährt, mag dies damit zusammenhängen, daß ihr Interesse für Theorie stärker ist als das für Literatur, und daß sie keine utopische Perspektive entwirft.
Dekonstruktion der Literaturgeschichte, Hillis Miller Hillis Miller ist ein eleganter Schreiber. In seiner Version zeigt sich die Dekonstruktion gleichsam beseelt, was ihre Vor- und Nachteile jedoch nicht mindert. Mit Textlektüren und Polemik hat er vor allem Kritik an den Nachkommen
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der Neukritiker geübt. Hillis Millers dekonstruktive Methode kann verknappt folgendermaßen charakterisiert werden: ein Wort wird herausgegriffen, seine Etymologie wiedergegeben, in ihr ein Gegensatz gesucht, der Gegensatz aufgelöst —dieses Verfahren trägt die gesamte Analyse. Ein gutes Beispiel ist der Aufsatz „The Critic as Host", ein Beitrag aus der Anthologie Deconstruction and Criticism. Ein Literaturkritiker beschuldigt die Dekonstruktion, ein Parasit der Literatur zu sein. Miller nimmt die Herausforderung an. Er untersucht das Wort „Parasit" hinsichtlich seiner Geschichte und Bedeutungen, zugleich auch das Wort „Gast". Den Gegensatz findet er im Substantiv „Wirt", dessen Wortgeschichte und Bedeutungsspektrum er ebenfalls etabliert. Hierauf folgt das dekonstruktivistische Geschütz: die Dekonstruktion ist nicht mehr Parasit als es das close reading ist, beide sind Gäste, und im übrigen kann der Kritiker auch ein Wirt sein, den andere Kritiker als Parasiten benutzen. Das Gedicht selbst ist ein Parasit, nämlich früherer Gedichte, und der Wirt jener Gedichte, die ihm als Parasiten nachfolgen. Wirt und Parasit setzen einander voraus und die Grenzen zwischen ihnen sind fließend. In gleicher Weise sind die Trennlinien zwischen New Criticism und Dekonstruktion fließend. „Einerseits enthält die ,offensichtliche und eindeutige Lektüre' immer die ,dekonstruktive Lektüre' als Parasiten, der in ihr eingeschlossen ist als Teil ihrer selbst. Andererseits kann sich die ,dekonstruktive' Lektüre niemals von der metaphysischen Lektüre befreien, die sie anzuzweifeln sucht. Das Gedicht selbst ist daher weder Wirt noch Parasit, sondern die Nahrung, die sie beide benötigen, ein Wirt in anderem Sinne, das dritte Element in diesem besonderen Dreieck. Beide Lektüren sitzen am gleichen Tisch, durch die seltsame Relation reziproker Verpflichtung aneinandergebunden, Gabe oder Nahrungsspendung und Gabe oder Nahrungsaufnahme." (Hillis Miller 1976:444—445).
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Die Schlußfolgerung aus dieser Position zieht Hillis Miller selbst: Literaturanalyse kann nicht durchgeführt werden, Literaturgeschichte kann es nicht geben. Jede Analyse wird etwas anderes als das, was im Text steht, formulieren, und jede Geschichtsschreibung ist ihrerseits eine Konstruktion. Doch trägt der Verfasser nicht die letzte Konsequenz: das Schweigen. Im Gegenteil schreibt er durchaus wohlgemut über alles Erdenkliche, was seinen eigenen Worten zufolge doch unmöglich ist. Verkündigung (Die Worte des Engels) D u bist nicht näher an G o t t als wir; wir sind ihm alle weit. Aber wunderbar sind dir die Hände benedeit. So reifen sie bei keiner Frau, so schimmernd aus dem Saum: Ich bin der Tag, ich bin der T a u , du aber bist der B a u m . Ich bin jetzt matt, mein Weg w a r weit, vergib mir, ich vergaß, was er, der g r o ß in Goldgeschmeid wie in der Sonne saß, dir künden ließ, du Sinnende, (verwirrt hat mich der R a u m ) . Sieh: Ich bin das Beginnende, du aber bist der B a u m . Ich spannte meine Schwingen aus und wurde seltsam weit; jetzt überfließt dein kleines Haus von meinem großen Kleid. Und dennoch bist du so allein wie nie und schaust mich k a u m ; das m a c h t : Ich bin ein H a u c h im Hain, du aber bist der B a u m .
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Die Engel alle bangen so, lassen einander los: noch nie war das Verlangen so, so ungewiß und groß. Vielleicht, daß etwas bald geschieht, das du im Traum begreifst. Gegrüßt sei, meine Seele sieht: D u bist bereit und reifst. D u bist ein großes, hohes Tor, und aufgehn wirst du bald. Du, meines Liedes liebstes Ohr, jetzt fühle ich: Mein Wort verlor sich in dir wie im Wald. So kam ich und vollendete dir tausendeinen Traum. Gott sah mich an: er blendete ... Du aber bist der Baum. (Rilke 1 9 2 2 : 3 - 4 )
Rainer Maria Rilkes „Verkündigung" aus Das Buch der Bilder (1902-1906) baut auf der Geschichte der Verkündigung aus Lukas 1, 26—38 auf. Es ist insofern ein Text über einen Text. Was Rilke mit seinem Text auf dem Herzen hat, muß der Leser anhand der Unterschiede zu Lukas' Version herausfinden. Würde Rilke das Gleiche sagen wie das Evangelium, so wäre sein Gedicht überflüssig. Die Änderungen an Lukas' Verkündigung lassen sich auf verschiedenen Niveaus beobachten. Rilke übersetzt Prosa in Lyrik, metaphorisiert den Text durchgängig, legt eine Gegensatzstruktur an, ändert Sprechsituation und traditionellen Titel der Erzählung (aus „Die Verkündigung" wird „Verkündigung"). Alle diese Abweichungen sollen in der folgenden Lektüre berücksichtigt werden, wobei das Schwergewicht auf der Gegensatzebene liegen wird, die Thema des 2. Kapitels ist.
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Das unmittelbare Leseerlebnis dieses Rilke-Textes wird vermutlich ein ästhetisches sein. Es ist ein suggestiver Text, den Rilke mit großem künstlerischen Gespür für das auditive Niveau der Sprache ausgearbeitet hat. Das Gedicht ist hörbar schön. Es schleicht sich in das Ohr des Lesers ein durch regelmäßige Reime {ab ab), vorwiegend jambischen Rhythmus (xx xx) und die einprägsame Wiederholung des Schlußverses „du aber bist der Baum". Rilke hat jedoch einige Unregelmäßigkeiten eingebaut, die dafür sorgen, daß die lautliche Ebene schön wirkt, ohne unproblematisch glatt zu sein. Die Asthetisierung ist Teil der Gattungsverschiebung von Evangelientext zu Gedicht. Während Lukas einen Erzähler hat, der sich zeitweise zurücknimmt, um den Dialog zwischen dem Engel und Maria anzuführen, präsentiert Rilkes Version den Monolog des Engels; der Erzähler beschränkt seine Äußerungen auf den parenthetischen Untertitel „(Die Worte des Engels)". Der Genrewechsel führt ferner dazu, daß die Botschaft, die „Verkündigung", um die es hier geht, nicht mehr eine vorwiegend explizite, sondern eine implizite Mitteilung darstellt. Die durchgängige Metaphorisierung trägt dazu bei, diese Mitteilung von Konnotationen und Assoziationen abhängig zu machen, wodurch sie offen und vieldeutig wird. Zu den zentralen Bildern gehören die Marienmetaphern „Baum", „Tor", „ O h r " und „Wald" sowie die Engelsmetaphern „Tag", „Tau", „das Beginnende" und „ein Hauch im Hain". Reime, Wiederholungen und Bildlichkeit schärfen die Leseraufmerksamkeit für die Opposition, die Rilke den Engel zwischen sich und Maria aufbauen läßt, und die vom wiederholten „aber" markiert wird („Ich bin [...], du aber bist"). In Rilkes Fassung werden zwei positive Prinzipien präsentiert, die sich gegenseitig bedingen. Welche Prinzipien dies genau sind, kann nicht präzise bestimmt werden, sie müssen mit
Dekonstruktion der Literaturgeschichte, Hillis Miller
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Hilfe der Konnotationen, die Metaphorik und Kontext vorbereiten, herausgelesen werden. Drei Themen umfaßt die Bildlichkeit des Gedichtes: Natur, Empfängnis und Dichtung. In dieser Hinsicht legt Rilkes Text indirekt nahe, daß der Erzengel sich zu Maria verhält wie Tag, Licht und Wind sich zum Baum verhalten, wie der Samen sich zur Gebärmutter und der Dichter sich zum Leser verhält. Auf einem noch höheren Abstraktionsniveau geht es um die Überbringung und das Entgegennehmen einer Botschaft. Der Titel „Verkündigung" in der unbestimmten Form kann in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß es verschiedene Formen von ,Verkündigung' gibt: Gottes Verkündigung an den Menschen, die des Befruchtenden an den Befruchteten und die des Dichters an den Leser. Es können noch viele weitere Gegensatzpaare aus der hier verwandten Metaphorik herausgelesen werden, z. B. geistigkonkret, männlich-weiblich, beweglich-verwurzelt. Ebenso könnte man dafür argumentieren, daß Elemente des logozentrischen Gegensatzsystems in Rilkes Gedicht eingehen, und daß er die diversen Oppositionen im Vergleich zum LukasEvangelium strafft und verstärkt. Rilkes Maria ist eine stumme Empfängerin, während Lukas' Maria über Antworten verfügt, beispielsweise das berühmte „Siehe, ich bin die Magd des Herrn", durch das sie sich aktiv als erste Christin ausweist. Mit der Wahl der Metaphern „Haus" und „Tor", die als Bilder für die Gebärmutter verstanden werden können, deutet Rilke eine patriarchalische Empfängnissauffassung an („Samen-Gebärmutter"), derzufolge der weibliche Anteil am Vorgang auf das Bewahren des Samens reduziert ist. Die biologisch korrekte Gegenüberstellung wäre „Samen-Ei". Man kann die bisherige Lektüre der Gegensatzstruktur in „Verkündigung" als dekonstruktivistisch werten, weil sie einen Ausschnitt des westlichen Kultursystems ideologiekri-
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Vom Gegensatz zwischen zum Gegensatz in
tisch liest. Eine weitere Dekonstruktion des Textes würde jedoch darin bestehen, nicht nur den Gegensatz zwischen, sondern auch den Gegensatz in aufzuzeigen. Bildlichkeit, Wiederholungen und Schlußverse der Strophen konzentrieren die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Opposition zwischen dem Engel und Maria. Das Gedicht legt aber auch Gegensätze im Engel an. Dieser steht in Beziehung zu Gott und ist dadurch selbst erst Empfänger, bevor er zum Überbringer der Botschaft wird. Interessant ist, daß Rilke den Engel zu einem schlechten Botschafter macht; er sagt in Strophe 2 selbst, er habe vergessen, was Gott ihm zu sagen aufgetragen habe. Die Metapher, die in diesem Kontext für Gott verwandt wird, ist (wie der Satzbau insgesamt) schwer verständlich: ,,[W]as er, der groß in Goldgeschmeid/ wie in der Sonne saß". Der Vergleich von Gott und Licht hat eine lange Tradition; Rilkes Konstruktion macht Gott zur Person (er „saß"), schließt Kunstassoziationen ein („Goldgeschmeid"), verkleinert (Gott sitzt in einem Goldgeschmeide), ordnet unter (wem gehört der Schmuck, in dem Gott sitzt?) und verwirrt (was ist das Verhältnis von Goldschmuck und Sonne?). Die zahlreichen Fragen, die hier aufgeworfen werden, verweisen darauf, daß der Gottesbezug nicht nur unbegreiflich, sondern auch vielfältig verwickelt ist. Gleichfalls ist bemerkenswert, daß der Engel erlebt, wie Gott ihn blendet. Mit dieser Geste hebt Rilke zwei grundlegende Engelscharakteristika auf: daß sie Gottes Botschafter sind und Gott sehen können. Man kann diesen Umstand so lesen, als löse Rilke den Engel von der Transzendenz. Die Veränderungen stärken Konnotationen, die den Engel mit dem Dichter in Verbindung bringen, mit dem modernen Dichter etwa, der nicht länger in einem Bezug zum Göttlichen steht. In diesem Zusammenhang ist wesentlich, daß der Engel den Ausdruck „Lied" zur Bezeichnung seiner Botschaft verwendet, und daß die Wendung „Du, meines Liedes liebstes Ohr" reim-
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lieh als einzige Stelle durch die Reimfolge ab aab hervorgehoben wird („Tor", „bald", „Ohr", „verlor", „Wald"). Doch auch die Lektüre des Engels als Überbringer seiner eigenen Botschaft spaltet sich in einen Gegensatz auf, denn der Engel sagt zwar, daß er vergessen habe, was er hatte sagen sollen, sagt es aber trotzdem. Der gesamte vierte Abschnitt des Gedichtes spielt auf Jesu Geburt an, und Strophe 3 kann ohne Mühe als Empfängnisszene gelesen werden. Man kann also Rilkes „Verkündigung" als Beispiel für einen Text lesen, der in einem fort seine Bedeutung aufbaut, niederreißt und dabei ausschließt. Es ist deshalb sehr schwierig zu sagen, was das Gedicht „bedeutet". Hingegen darf man festhalten, daß es in einem durchgehenden dynamischen Prozeß den Leser in die Bedeutungsfelder von Fleischwerdung, Empfängnis und Dichtung versetzt. Eine dekonstruktivistische Leseweise könnte daher die Augen des Lesers nicht so sehr für Bedeutung des Textes als vielmehr für die Voraussetzungen seiner Bedeutungsbildung öffnen.
3. Von was es bedeutet zu wie es bedeutet
Die amerikanische Dekonstruktion hat eine erhöhte Aufmerksamkeit gegenüber der Rhetorik mit sich gebracht. Dieser Begriff hat in seiner Geschichte schon viele Bedeutungen durchlaufen. In Verbindung mit der Dekonstruktion bezeichnet er Tropen und Figuren, d. h. Kunstgriffe, mit deren Hilfe die lexikalische Bedeutung von Wörtern verändert werden kann. Wenn ich etwa sage, „Dies ist eine R o s e " , so verwende ich „ R o s e " in der Bedeutung, die das Wort im Lexikon besitzt. Sage ich hingegen, „Das Mädchen ist eine R o s e " , gebrauche ich dasselbe Wort metaphorisch, also in übertragener Bedeutung. Diese übertragene Bedeutung kann nicht im Wörterbuch nachgeschlagen werden, sondern der Leser muß sich ihm selbst durch seine Assoziationsgabe annähern. Wenn das Mädchen eine „ R o s e " genannt wird, muß man eine Eigenschaft an der Rose finden, die auf das Mädchen übertragen werden kann (eine Metapher ist die Übertragung aus einem Bedeutungsfeld in ein anderes). Die meisten Leser werden Assoziationen zu Jugend, Schönheit, Liebe, schamhaftem Erröten, vielleicht auch Stolz haben. Bei der Äußerung „Der Junge ist eine R o s e " gehen die Assoziationen wohl eher in andere Richtungen. Die Metapher ist eine Trope, d.h. ein aus Worten geschaffenes Bild. Es gibt eine große Anzahl anderer Wort-Bilder, jedes mit seiner eigenen Wirkung, z. B. die Personifizierung, die eine Zuweisung menschlicher Eigenschaften an Abstrakta darstellt („Sorge und Freude gehen Hand in H a n d " ) . Figuren sind demgegenüber aus Worten bestehende Muster — es können beispielsweise Wiederholungen, Gegensätze und Reime gebildet werden.
Paul de Man
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Der norwegische Literaturkritiker Atle Kittang hat in einer Gastvorlesung an der Universität Kopenhagen 1990 hervorgehoben, daß dem gegenwärtigen lyriklesenden Publikum das rhetorische Bewußtsein fehle. Die Äußerung ist charakteristisch für die Literaturtheorie der 1990er Jahre. Vor 20 Jahren, in den politisch aktiven 1970ern, wurde der Leserschaft meistens mangelndes historisches Bewußtsein vorgeworfen. Das Interesse für Rhetorik wird von verschiedenen Seiten in die Dekonstruktion hineingetragen. Struktüralisten wie Jonathan Culler behaupten, die Rhetorik sei der „Widerstand", der Leser zu intellektueller Arbeit provoziere (vgl. Kap. 1); Michael Riffaterre hält sie für eine „Ungrammatikalität", die das Publikum dazu bringt, den „Sinn" eines Textes zu seiner „Bedeutung" (vgl. Kap. 1) zu transformieren. Die Dekonstruktivisten schließlich begnügen sich nicht mit der Fähigkeit der Rhetorik, übertragene Bedeutung zu schaffen; sie untersuchen vielmehr, was im einzelnen geschieht, wenn wir in Zeichen denken. Der einflußreichste dekonstruktivistische Rhetoriktheoretiker ist Paul de Man.
Paul de Man Paul de Man (1919-1983) ist ein Denker der Yale-Schule. Er bewegt sich in jenem besonderen Feld von Philosophie, Linguistik und Literatur, das die Dekonstruktivisten „Theorie" nennen. Seine Texte sind schwer zugänglich, doch hat de Man vor anderen den Vorteil, ernst genommen werden zu können — über sein Verfahren mag Uneinigkeit herrschen, unstrittig ist aber, daß er sagt, was er meint. Er verbirgt sich nicht hinter sprachlichen Bravournummern wie Jacques Derrida und Hillis Miller. Eine eingehende Darstellung seines Werks müßte seine Haltung vor und nach dem Zusammentreffen mit Derrida untersuchen, um Veränderungen in diesen
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beiden Schaffensperioden erklären zu können. Deutsche Überblicke zu seiner Entwicklung bieten Michael Cebulla (Wahrheit und Authentizität, 1992) und Stefan Speck (Von Sklovskij zu de Man, 1997). Ich selbst halte mich an das, was zusammenfassend aus de Mans Literaturtheorie entnommen werden kann. Seine literaturtheoretischen Artikel sind in mehreren Büchern kompiliert worden, von denen die wichtigsten für unseren Zusammenhang die folgenden sind: Blindness and Insight (1971), Allegories of Reading (1979) und The Rhetoric of Romanticism (1984).
Das Literarische an der Literatur Im vorangehenden Kapitel habe ich die Ausdrücke „das Bezeichnende" und „das Bezeichnete" verwandt, und beide zusammen wurden „Zeichen" genannt. Dieser von Saussure eingeführten Terminologie bin ich im Abschnitt über Strukturalismus und Dekonstruktion gefolgt. Im de Man-Kapitel muß ich jedoch eine etwas gängigere Terminologie anwenden, von der auch Paul de Man Gebrauch macht. Es wird über Zeichen und Bezeichnetes gesprochen, wobei „Zeichen" hier bedeutet, was (für Saussure) das „Bezeichnende" war. Dieser etwas verwirrende Unterschied muß leider hingenommen werden. Im Aufsatz „The Resistance to Theory" von 1982 faßt de Man seine wichtigsten Ansichten über die Literatur zusammen. Der Titel deutet bereits darauf hin, daß für ihn die meisten literaturtheoretischen Ansätze einem Widerstand gleichkommen, Literatur zu theoretisieren. Jeden Versuch, Literatur aus inhaltlichen (thematischen) Kriterien zu bestimmen, weist de Man scharf zurück, ebenso ästhetische Theorien, da Ästhetik nicht die Eigenarten der Literatur beachtet, sondern lediglich ihre Wirkung. Eine bessere Methode sei es,
Das Rhetorische an der Rhetorik
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Literatur aus einer sprachtheoretischen Perspektive zu betrachten. Was Paul de Man an der Linguistik interessiert, ist zunächst die Zeichenfunktion, d. h., die Hinweisfunktion. Sein Ausgangspunkt ist die an und für sich banale Feststellung, daß das Zeichen nicht die Sache ist: „niemand bei rechtem Verstand würde versuchen, Trauben im Lichte des Wortes ,Tag' zu ziehen". Die Verbindung zwischen Wort und Ding „ist nicht phänomenal, sondern konventionell" (de Man 1993:11, 10). Da die Sprache nicht die Realität ist, kann man durch Sprache nichts über die Wirklichkeit in Erfahrung bringen. Die Sprache hat drei Dimensionen: eine grammatische, eine logische und eine rhetorische. Die beiden ersten hängen zusammen, die dritte aber löst sich von ihnen. Da die literarische Sprache von der Rhetorik dominiert wird, ist „der Widerstand gegen die Theorie der Widerstand gegen die rhetorische oder tropologische Dimension der Sprache" (de Man 1993:17).
Das Rhetorische an der Rhetorik Paul de Mans zentraler Rhetorik-Artikel ist „Semiology and Rhetoric" von 1973. Jan Rosiek hält ihn für nichts weniger als „vermutlich den epochemachenden Beitrag zur angelsächsischen Literaturkritik seit Northrop Fryes mythenkritischem Vorstoß in den 1950er Jahren" (Tekst og trope:27). In diesem Aufsatz räumt de Man mit dem Rhetorik-Konzept der Strukturalisten und Semiotiker auf und entwickelt das, was man eine dekonstruktive Rhetoriktheorie nennen könnte (die Semiotik ist die Lehre der von Menschen gemachten Zeichen). Paul de Man beginnt bei einer Übereinstimmung mit Strukturalisten und Semiotikern; wie diese meint er, daß Lite-
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ratur aus einem sprachtheoretischen Blickwinkel untersucht werden sollte. Das führt dazu, daß Literatur wie eine Zeichen-Sprache beschrieben wird, oder, um seine berühmte Formulierung zu zitieren, „Semiologie ist im Gegensatz zur Semantik die Wissenschaft oder die Erforschung der Zeichen als Signifikate; sie fragt nicht danach, was Wörter bedeuten, sondern wie sie bedeuten." (de Man 1988:34). Diese Verschiebung von „Was" zu „Wie" teilt de Man mit den Grundsätzen der Semiotik. Hinsichtlich der Festlegung, wie dieses „Wie" zu verstehen ist, offenbart sich mit de Mans Kritik auch sein dekonstruktivistischer Ansatz. Paul de Man behauptet, daß Semiotiker und Strukturalisten in der Beschreibung dessen, was bei unserer Lektüre von Zeichen geschieht, weder radikal noch sorgfältig genug zu Werke gehen. Seine Kernthesen sind: 1) Zeichen und Bedeutung fallen nicht zusammen, es existiert kein direkter Weg vom Zeichen hin zu dem, was es bedeutet. 2) Das Zeichen bedeutet zugleich sich selbst und etwas anderes. Die Rhetorik ist jene Dimension der Sprache, in der diese Doppelbedeutung vorherrscht. Die Rhetorik steht im Gegensatz zu Grammatik und Logik, die jeweils eindeutige Regeln befolgen. Hans Hauge hat de Mans Haltung so formuliert: „Wenn wir annehmen, daß die Grammatik eine gänzlich automatisch wirkende Maschine ist, so besteht unsere sprachliche Freiheit in der Freiheit, Bilder und Metaphern zu konstruieren." (Hauge 1986:114). Seine Haltung zu Rhetorik und Literatur demonstriert Paul de Man am deutlichsten in seinen Überlegungen zur rhetorischen Frage. Er greift ein humoristisches amerikanisches Beispiel heraus: eine Frau fragt ihren Mann, ob sie seine Schuhe „drunter oder drüber" zuschnüren solle, er antwortet, „What's the difference?" (etwa: „Welchen Unterschied macht das?"). Diese Frage kann zweierlei bedeuten: 1) „Worin besteht der Unterschied, den Schnürsenkel drüber oder drunter zuzubinden?" — In diesem Falle fragt der Mann, um eine
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Erklärung zu bekommen. 2) „Der Unterschied ist mir ganz egal!" — hier weist der Mann die Problemstellung als irrelevant von sich. Das Interessante an der rhetorischen Frage ist nicht, so de Man, daß sie zwei widerstreitende Bedeutungen enthält, eine wörtliche und eine übertragene, sondern ihre Spitze liegt darin, daß wir nicht anhand grammatischer oder anderer linguistischer Kriterien ausmachen können, welche der beiden Bedeutungen nun gemeint ist. Die grammatische Dimension der rhetorischen Frage ist nämlich eindeutig: es ist eine Frage-, die rhetorische Dimension ist zweideutig: es ist sowohl eine Frage als auch das Zurückweisen einer Frage. Damit sind wir zur fundamentalen Auflösung aller Eindeutigkeit, ja allen Wahrheitsstrebens durch die Rhetorik gelangt: „Denn was soll das Fragen, so frage ich, wenn wir nicht einmal endgültig zu entscheiden vermögen, ob eine Frage fragt oder nicht fragt?"(de Man 1988:39). Das nächste Beispiel für rhetorisches Fragen sind die Schlußzeilen aus dem Gedicht „Among School Children" des irischen Dichters William Butler Yeats ( 1 8 6 5 - 1 9 3 9 ) : O chestnut ti;ee, great-rooted blossomer, Are you the leaf, the blossom or the bole? O body swayed to music, O brightening glance, How can we know the dancer from the dance? [O Kastanienbaum, großgewurzelter Blüher, Bist Blatt du, Blüte oder Stamm? O Leib, der zu Musik beschwingt, o glänzender Blick, Wie können wir vom Tanz den Tänzer unterscheiden?, de Man 1988:41]
Paul de Mans Interesse richtet sich auf die letzte Frage, die er als rhetorisch einstuft. Liest man den Schlußvers in übertragenem Sinn, wird nicht gefragt, sondern deklamiert:
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es ist unmöglich, Tanz und Tänzer zu unterscheiden — dies, so de Man, entspricht der gebräuchlichsten Lesart der Zeile. Sie wird dadurch zu einer Aussage über Ganzheit, d. h. über Zusammenhänge zwischen u. a. Teil und Ganzem, Bezeichnendem und Bezeichnetem, Form und Erlebnis, Schöpfer und Geschaffenem. Doch kann man den Satz auch auf andere Weise lesen, indem man ihn nicht deklamiert, sondern ganz aufrichtig fragt: wie können wir lernen, Tänzer und Tanz zu unterscheiden? Wie können wir uns vor der Verwechslung der beiden hüten? In Paul de Mans Worten: ,,[D]a Zeichen und Referent eben nicht so vorzüglich zueinander passen, daß jeder Unterschied zwischen ihnen zeitweise getilgt ist, da vielmehr die zwei wesentlich verschiedenen Elemente, Zeichen und Bedeutung, in der imaginierten „Gegenwart", die das Gedicht anruft, eng miteinander verschränkt sind, wie sollen wir da die Unterscheidungen treffen können, die uns vor dem Irrtum schützen, zu identifizieren, was nicht miteinander identifiziert werden kann." (de Man 1988:41).
Letztere Form des Lesens bezeichnet de Man als „dekonstruktiv".
Symbol und Allegorie Unter den rhetorischen Zeichen spielen Symbol und Allegorie eine wesentliche literaturhistorische Rolle. Wie alle Zeichen sind sie diversen Definitionen und Auslegungen unterworfen, allgemein aber besteht Einigkeit darüber, daß das Symbol eine Sache — real oder fiktiv — ist, die ihre Bedeutung in sich selbst hat, zusätzlich aber noch über eine übertragene Bedeutung verfügt. Die Allegorie hingegen hat keine selb-
Symbol und Allegorie
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ständige Bedeutung, sie wird nur in einer Hinweisfunktion gebraucht. In der Regel wird das Symbol höher besetzt als die Allegorie, dies vor allem wegen seiner Vieldeutigkeit, gegenüber der die Allegorie relativ eindeirtig erscheint. Als echter Dekonstruktivist läßt sich Paul de Man auf die Diskussion Symbol versus Allegorie ein und kehrt die traditionelle Ordnung um. Er wertet die Allegorie auf und weist das Symbol als Teil eines verwerflichen metaphysischen Erbes zurück. Der wichtigste Beitrag zum Thema ist hier „The Rhetoric of Temporality" (1969). Streckenweise wirkt seine Argumentation wie die reine Lust am Widerspruch gegen aktuelle Fachaufsätze anderer Literaturwissenschaftler, doch offenbart sich klar auch das authentische Projekt, mit der Idee des Zusammenhangs zwischen Symbol und Symbolisiertem aufräumen zu wollen. Ziel des Angriffs ist vor allem die romantische und nachromantische Idee vom Symbol als Vermittler oder Bindeglied zwischen getrennten Bereichen, etwa Zeit/Ewigkeit, Leben/Tod, Seele/Körper. Die Rehabilitierung der Allegorie führt de Man zu einer neuen Lektüre der Romantik. Er kommt zum — konsequent dekonstruktivistischeji — Ergebnis, daß in dieser Blütezeit des Symbols sich auch zahlreiche Allegorien zeigen. Deren Auftreten läuft der ganzen traditionellen Romantikauffassung zuwider. Die Allegorie hat nicht nur zahlreichen Aufsätzen de Mans, sondern auch einer ganzen Essaysammlung den Namen geliehen: Allegories of Reading (1979). Der Titel deutet an, daß die Allegorie nicht nur eine Eigenschaft des Textes, sondern auch eine Strategie des Lesers sein kann. Wenn in der Romantik so häufig Symbole beobachtet werden, hängt dies vor allem mit einer falschen Lektüre der Literaturwissenschaftler zusammen: diese, behauptet de Man, sehen das Symbol dort, wo die Allegorie steht.
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Von was es bedeutet zu wie es bedeutet Literatur ist selbst ein Z e i c h e n
O b e n h a b e ich Paul de M a n s rhetprische T h e o r i e skizziert, d. h., die T h e o r i e der Tropen und Figuren, die von der Literatur stärker als von jeder anderen S p r a c h f o r m verwandt werden. Paul de M a n geht jedoch n o c h einen Schritt weiter, wenn er ansetzt, Literatur selbst sei eine T r o p e . Sie ist ein Z e i c h e n für die Wirklichkeit (ein Bild der Wirklichkeit) und derselben Bedingung wie alle Zeichen unterworfen, nämlich d a ß das Z e i c h e n nie das ausdrücken k a n n , was es bezeichnet. Aus dieser B e o b a c h t u n g werden verschiedene literaturtheoretische Konsequenzen gezogen. Literatur scheint erstens besonders geeignet, diese allgemeine Bedingung des Zeichens zu repräsentieren, denn es ist offensichtlich, d a ß ein Dichter nicht W i r k l i c h k e i t , sondern Fiktion schreibt. Dieser Umstand ist für den Poeten der eigentliche Ausgangspunkt. In anderen Zeichensystemen tritt er weniger deutlich zutage, so d a ß man eher geneigt ist, Z e i c h e n und Bezeichnetes zu vermischen. D e r D i c h t e r konstituiert sich also durch die Konstruktion von Z e i c h e n im vollen Bewußtsein, d a ß sie nicht Wirklichkeit, sondern Z e i c h e n sind. Die zweite literaturtheoretische Konsequenz fordert die Einsicht, d a ß diesem poetologischen Konzept nichts Defizitäres anhaftet, sondern im Gegenteil die" starke Seite der Literatur gerade im Fiktionalen, das nicht „ w i r k l i c h " ist, liegt. P r o b l e m a t i s c h ist allein die Akzeptanz dieser Perspektive. Wenn m a n Litetaturwissenschaft unter diesem Gesichtsp u n k t b e t r a c h t e t , wird deutlich, w a r u m für de M a n Literaturtheorie nicht notwendigerweise an Literatur gebunden ist. J a n Rosiek hat diesbezüglich formuliert, d a ß die Literaturwissenschaft dafür k ä m p f e , a u t o n o m e Wissenschaft zu bleiben (Rosiek 1 9 9 0 : 1 3 ) . H a n s H a u g e diskutiert die Verwischung der Grenzen von Literaturtheorie und Literatur etwas kritischer (Hauge 1 9 8 6 : 1 0 0 - 1 0 1 ) . W ä h r e n d ich selbst ange-
Literatur ist selbst ein Zeichen
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sichts dieser Einstellung sehr skeptisch bin, ist sie für Paul de Man die Schlußfolgerung aus seiner zentralen Prämisse: das Zeichen kann niemals umfassen, was es bedeutet. Die Literatur kann die Wirklichkeit nicht umfassen, die Literaturwissenschaft kann die Literatur nicht umfassen. Im Artikel „Criticism and Crisis" aus Blindness and Insight betont de Man, daß auch diese Einsicht nicht notwendig eine Verschlechterung nach sich zieht, sondern lediglich eine Tatsache darstellt: keine Wissenschaft kann ihr Objekt beschreiben. Literaturwissenschaft verdient ihren Namen nicht, wenn sie diese Bedingung nicht anerkennt. Aus dieser Haltung heraus greift de Man verschiedene literaturwissenschaftliche Richtungen an, die glauben, literarische Illusionsmechanismen aufdecken zu können — er nennt es „entmythologisieren" —, womit besonders amerikanische und französische Strukturalisten gemeint sind (er hätte auch alle ideologiekritischen Schulen miteinbeziehen können). Diese Gruppe von Literaturwissenschaftlern enthüllt tatsächlich diverse Illusionen, so de Man, vergißt aber, ihre eigenen zu reflektieren. Immer noch wird an die grundlegende Illusion geglaubt, die Literaturwissenschaft könne Literatur vollständig ergründen. Während sie „Einsicht" in andere haben, sind sie „blind" für sich selbst, daher der Titel des Bandes. Paul de Mans Beschreibung der „Krise" der Literaturwissenschaft trifft, wie ich glaube, jeden, der an sein Fach glaubt oder an ihm zweifelt. Man kann de Mans Schlußfolgerung vom Gang seiner Argumentation her zwar nicht von der Hand weisen, doch ist zu fragen, ob seine Prämisse ihre Richtigkeit hat. Sollen Literatur und die sie untersuchende Wissenschaft wirklich unter der Leitidee des Zeichenbegriffes begutachtet werden? Auch ist anzumerken, daß de Man genau dem Analogie-Gedanken untersteht, den er selbst angreift. Er dekonstruiert den Zusammenhang zwischen Symbol und Symbolisiertem, übersieht jedoch, daß auch sein eigener
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Von was es bedeutet zu wie es bedeutet
Allegoriebegriff auf Analogiebildung beruht. Ausgehend von Saussures Grundsatz, daß der Buchstabe im Verhältnis zum von ihm bezeichneten Laut arbiträr ist, erreicht de Man nämlich über ständige Analogieketten sein Ideal der Allegorie, die sich ihrerseits zur Bedeutung verhält wie der Buchstabe zum Laut.
Das romantische Symbol Paul de Mans generelle Zeichentheorie entwickelt sich durch die lebenslange Beschäftigung mit dem romantischen Zeichen. Untersuchungen zur Romantik finden sich zwar überall in seinem Werk, eine spezielle Sammlung von Fachaufsätzen aus den Jahren 1956—1983 kommt aber mit dem Band The Rhetoric of Romanticism (1984) heraus. Der Leitartikel, „The intentional structure of the romantic image", faßt einige der markantesten Gesichtspunkte zusammen. Paul de Man beschreibt die romantische Rhetorik als Problematisierung sowohl der konkreten Naturschilderung als auch des symbolischen Gebrauchs von Natur. Beides ist als Reaktion auf die Verwendung der schmuckvolleren Allegorie im 18. Jahrhundert zu werten. An den Anfang seiner Diskussion der romantischen Poetik stellt de Man ein Zitat Friedrich Hölderlins ( 1 7 7 0 - 1 8 4 3 ) über die Wiederkehr der Götter („Brot und Wein", Str. 5): „... nun aber nennt er sein Liebstes, Nun, nun müssen dafür Worte, wie Blumen, entstehn."
Hölderlins Metapherngebrauch, so de Man, ist charakteristisch für die Romantik; er versucht, dem Wort das zu verleihen, was die Natur besitzt. Was aber besitzt die Natur? Dem
D a s romantische Symbol
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Zitat zufolge hat sie einen authentischen Ursprung. Während Blumen wie Blumen entstehen, entstehen Wörter nicht wie Wörter: „Wie entstehen Blumen? Sie wachsen o h n e Hilfe von Nachahmung oder Analogie aus dem Boden. Sie folgen keinem Modell außer sich selbst, das sie kopieren oder von dem sie das M u s t e r ihres Wachsens empfangen würden. Wenn wir sie Naiwrobjekte nennen, meinen wir, daß ihr Ursprung von nichts anderem als ihrem Wesen bestimmt wird. Ihr Ursprung fällt immer mit ihrer Entstehungsweise zusammen: nur weil sie Blumen sind, ist ihre Geschichte das, was sie ist, ganz und gar definiert durch ihre Identität. Es gibt keine Unsicherheit im Status ihrer Existenz: E x i stenz und Essenz fallen in ihnen immer zusammen. Ungleich den Wörtern, die wie etwas anderes („wie B l u m e n " ) entstehen, entstehen Blumen wie sie selbst: sie sind buchstäblich das, was sie sind, definierbar ohne Hilfe der Metapher. D a r a u s folgt, da es die Absicht des poetischen Wortes ist, wie eine Blume zu entstehen, daß es danach strebt, jede M e t a p h o r i k zu verbannen, vollständig buchstäblich zu w e r d e n . " (de M a n 1 9 8 4 : 4).
Hölderlins Metapher jedoch setzt noch eine Verwechslung voraus. Blumen können nämlich gar nicht „entstehen", dies vermögen nur Wörter. „Entstehen" setzt voraus, daß zuvor nichts war, die Blumen aber waren die ganze Zeit da, und die einzelne Blume ist nur eine Ausgestaltung der Blume als solcher. Jedem Naturgegenstand liegt in de Mans Logik ein transzendentales Prinzip zugrunde, hier die Idee der Blume. Es ist diese transzendentale Idee, mit der Hölderlin das Wort in Verbindung bringen will. Zusammengefaßt: Wörter können entstehen, Blumen können sein; das Wort aber kann nie entstehen, als sei es. Die romantische Poetik kann folglich als das Bestreben formuliert werden, den Worten den gleichen Status zu verleihen, den die Natur innehat. Paul de Mans zentraler Punkt ist nun, daß es noch eine andere Romantik gibt; diese findet er bereits in der vorro-
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Von was es bedeutet zu wie es bedeutet
mantischen Literatur. Auch hier thematisieren die Verfasser Natur, die sie in der Regel auf die Sphären des Himmels beschränken. Doch zeigt sich bei ihnen ein neues Element: die nicht von der Natur abhängige Phantasie. Für diese Literaten geht es also nicht darum, Wörter dazu zu bringen, wie Blumen zu sein: „Es wird stattdessen die Möglichkeit des Bewußtseins markiert, ganz und gar durch und für sich selbst zu existieren, unabhängig von jeder Relation zur Außenwelt, ohne von einer Intention bewegt zu werden, die sich auf einen Teil dieser Welt richtet." (de M a n 1 9 8 4 : 16)
Ausgehend von diesen Beispielen gelangt Paul de Man zu einer alternativen Romantikauffassung, besonders mit Hinblick auf die Vorromantiker, die fälschlich als Primitivisten, Naturalisten und Pantheisten klassifiziert worden sind. Sie sind es vielmehr, behauptet de Man, die als erste das Bild zur Diskussion stellen und hinter den ontologischen Status der Naturobjekte ein Fragezeichen setzen (Ontologie=Seinslehre). Damit nehmen sie die Probleme der modernen Lyrik vorweg. Gleichzeitig verweist ihre Dichtung wie keine andere intellektuelle Tätigkeit auf einen Ausweg aus der Krise der Moderne.
Allegorisch lesen Paul de Mans Interesse ist ausgemacht theoretisch; für die Textanalyse etwa hat er keine Methode ausgearbeitet. Doch ist es möglich, den jeweiligen Leseverfahren nachzugehen und aus ihnen seine Praxis abzuleiten. Deutlichstes Beispiel einer allegorischen Lektüre ist wohl der Aufsatz „Symbolic Landscape in Wordsworth and Yeats" (aus The Rhetoric of
Allegorisch lesen
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Romanticism). Gegenstand sind ein Sonett des englischen Romantikers William Wordsworth (1770—1850), „ C o m p o sed by the Side of Grasmere Lake", und ein frühes Gedicht des schon erwähnten William Butler Yeats, „Coole Park and Ballylee, 1931". Beide Gedichte beginnen mit der Beschreibung einer Wasserlandschaft. Paul de Mans Kernargument ist, daß beide Beispiele über weite Strecken als vollständig realistische Wiedergaben wirklicher Landschaften gelesen werden können. D e M a n zitiert Wordsworths Sonett folgendermaßen: Clouds, lingering yet, extend in solid bars Through the grey West; and lo! these waters, steeled By breezeless air to smoothest polish, yield A' vivid repetition of the stars; Jove, Venus, and the ruddy crest of Mars Amid his fellows beauteously revealed At happy distance from earth's groaning field, Where ruthless mortals wage incessant wars. Is it a mirror? — or the nether Sphere Opening to view the abyss in which she feeds Her own calm fires? — But list! a voice is near; Great Pan himself low-whispering through the reeds. „Be thankful, thou; for, if unholy deeds Ravage the world, tranquillity is here!" (de Man 1984:126-127). (Wolken, zögernd noch, drehen sich in festen Balken im grauen Westen aus; und sieh! diese Wasser, gestählt Von unbewegter Luft zur blankesten Fläche, zeigen Eine lebendige Wiederholung der Sterne Jupiter, Venus, und der rote Helm des Mars, Schön enthüllt zwischen seinen Gefährten, In glücklicher Entfernung vom stöhnenden Feld der Erde, Wo schonungslose Sterbliche nie endende Kriege führen. Ist es ein Spiegel? — Oder die niedere Sphäre,
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Von was es bedeutet zu wie es bedeutet Die dem Blick den Abgrund, aus dem sie Ihre eigenen ruhigen Feuer speist, enthüllt? — Doch horch! Eine Stimme ist nah; Der große Pan selbst, leise flüsternd durch das Schilf. „Sei dankbar, Du; denn, wenn unheilige Taten Die Welt verwüsten, ist Ruhe hier!") Die größte Partie des Gedichtes kann als Realismus gelesen
werden; das Beschriebene kann mit dem äußeren Auge gesehen werden. Erst im Vers „Is it a m i r r o r ? " („Ist es ein Spieg e l " ) zeigt sich mit dem S y m b o l die Fähigkeit, mit dem inneren Auge (Vision) zu sehen. Paul de M a n konzentriert sich a u f die Untersuchung der Frage, w o genau die genannte „ R u h e " sich finden läßt, was ist das „here"? Es ist nicht auf der Erde, auf der Kriege wüten, es ist nicht in den Sternen, w o der Kriegsgott herrscht. R u h e existiert in der Sphäre unter der Erde, die in realistischer Sichtweise nicht w a h r g e n o m men wird. D o c h das Fazit des Sonetts s t a m m t weder aus der höheren n o c h der niederen Sphäre, sondern aus dem Bereich zwischen den E b e n e n . R u h e gibt es a u f der Erde, sie existiert für den Dichter, der ihre S t i m m e vernehmen kann — „nicht weil er an übernatürlicher Weisheit teilhat [ . . . ] , sondern weil er die Art von doppelter Sicht besitzt, die ihm gestattet, Landschaften gleichzeitig als O b j e k t e und als Pforten zu einer Welt jenseits der sichtbaren N a t u r zu sehen. „Tranquillity", so scheint es, ist das Gleichgewicht zwischen wörtlichem und symbolischem Sehen, ein Gleichgewicht, das von der h a r m o nischen
Proportionierung
mimetischer
und
symbolischer
Sprache in der D i k t i o n des Gedichtes reflektiert w i r d . " (de M a n 1 9 8 4 : 1 3 2 ) . W o r d s w o r t h s „Landschaft der R u h e " symbolisiert in Wirklichkeit die K o m p l e x i t ä t der reinen Vision, so Paul de M a n . D a das Y e a t s - G e d i c h t recht lang ist, zitiere ich hier lediglich die erste Strophe:
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Under my window-ledge the waters race, Otters below and moor-hens on the top, Run for a mile undimmed in Heaven's face Then darkening through „dark" Raftery's „cellar" drop, Run underground, rise in a rocky place In Coole demesne, and there to finish up Spread to a lake and drop into a hole. What's water but the generated soul? (de Man 1984:133) (Unter meinem Fenstersims laufen die Wasser, Mit Ottern dadrunter und Teichhühnern obenauf, Laufen eine Meile unverdunkelt im Angesicht des Himmels Stürzen dann, dunkelnd, durch den „Keller" des „finsteren" Raftery, Laufen unterirdisch, steigen an einer felsigen Stelle Im Besitz Coole, und, um dort aufzuhören, Öffnen sich zu einem See und fallen in ein Loch. Was ist Wasser anders als die entwickelte Seele?)
Die erste Strophe ist durchgehend von Realismus geprägt: der Strom und sein Lauf werden detailliert und mit fast geographischer Präzision beschrieben. Rein biographisch gesehen folgt der Fluß Yeats' Weg von seinem Wohnort Thoor Ballylee zum Besitz seiner literarischen Freundin Lady Gregory in Coole. Auf den ersten Blick scheint das ganze Gedicht auf Analogien zwischen natürlichen, halbmythologischen und persönlichen Begebenheiten aufgebaut zu sein. Realistische Details (Otter und Teichhühner) sowie Ortsnamen halten dazu an, die Darstellung so buchstäblich wie möglich zu verstehen; man gerät beispielsweise nicht in Versuchung, den Fluß als die romantische Metapher des Lebenswegs zu interpretieren. Sogar die letzte Zeile, die immerhin überrascht, kann als Überleitung zur nächsten Szene gelesen werden, und
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auch der Rest des Gedichtes läßt sich auf die gleiche realistische Weise verstehen, einschließlich der Schlußstrophe, in der Yeats und Lady Gregory als die „letzten Romantiker" dargestellt werden. Gleichzeitig aber ist es durchaus möglich, den Text als Ausdruck einer historischen Bewegung aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu lesen. Die einzige Schwäche einer solchen Lektüre würde darin liegen, so de Man, daß sie Yeats' Verse als relativ dunkel und lose organisiertes Gebilde erscheinen ließe, in dem die Einzelheiten überflüssig wirken und ein Mißverhältnis zwischen leichtem Ton und düsterem Thema besteht. De Man setzt jedoch fort: „Es kann jedenfalls kein Zweifel darüber bestehen, daß eine ergiebigere Lektüre eines Gedichts wie „Coole Park and Ballylee, 1931" nur erreicht werden kann, wenn die Illusion des Naturrealismus aufgegeben wird." (de Man 1984:138). Das Gedicht in seiner Gesamtheit kann als Emblem gelesen werden, das auf eine Bedeutung festgelegt ist, die sich außerhalb des Textes befindet. Während de Man sich klar ist über die Kontroversität seiner Lektüre, kommt er doch zur Schlußfolgerung, daß der Schlüssel zum Gedicht in der Zeile „What's water but the generated soul?" liegt. Diese verweist auf Yeats' Interesse am platonischen Denken, wie es sich im Werk Ideas of Good and Evil offenbart. Die homerische Ode „The Cave of the Nymphs", in der die Höhle das Hinabsteigen der Seele zur Materie repräsentiert, macht diesen Bezug besonders deutlich. De Man verwendet den Hinweis zu folgender Argumentation: ,,[D]er „dunkle Keller" korrespondiert mit der Obskurität der Höhle (Ideas of Good and Evil, 119); der unterirdische Verlauf des Wassers korrespondiert mit der tatsächlichen Höhle, die von den Toren der Erzeugung und des Todes umrahmt wird. Die aufeinanderfolgenden Stadien des Flusses unter und über der Erde bezeichnen die verschiedenen Inkarnationen, die Yeats' poetischer
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Mythologie zufolge die Existenz der einzelnen Seele über mehrere Leben spannen; die unterirdischen Abschnitte entsprechen dem Leben auf der Erde, die anderen vermutlich einem zum Teil immateriellen, purgatorischen Stadium. In ihrer schließlichen Rückkehr zum göttlichen Prinzip, dem letzten Tod des Körpers, fällt die Seele in das „Loch" des Sees. Die „Teichhühner obenauf" sind das göttliche Prinzip, das Yeats generell mit Vögeln assoziiert, während die „Otter dadrunter" das animalische Prinzip sind und die kompositorische Natur der geschaffenen Welt indizieren." (de Man 1 9 8 4 : 1 3 9 - 1 4 0 ) .
Mit diesem Schlüssel interpretiert de M a n nun die übrigenen Elemente des Gedichtes, die so eine gänzlich neue Bewertung erfahren, die Figuren Yeats' und Lady Gregorys eingeschlossen. Die optimistische Sprechhaltung wird damit erklärt, daß der Tod im Piatonismus positiv belegt ist, insofern er die Heimkehr der Seele bedeutet. Paul de M a n selbst verwendet das W o r t „Allegorie" in diesem Aufsatz nicht, es ist aber offensichtlich, daß seine zweite Yeats-Lektüre allegorisch arbeitet. Hier wird ersichtlich, daß „Allegorie" sowohl die Wahl eines Leseverfahrens als auch eine Eigenschaft des Textes ist. Vor einer abschließenden Bewertung m ö c h t e ich noch ein weiteres Beispiel für das Vorgehen de M a n s anführen. Es handelt sich um die Rilke-Interpretation aus dem „Tropes (Rilke)" im Band Allegories
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Reading.
Ich liebe dich, du sanftestes Gesetz, an dem wir reiften, da wir mit ihm rangen du großes Heimweh, das wir nicht bezwangen, du Wald, aus dem wir nie hinausgegangen, du Lied, das wir mit jedem Schweigen sangen, du dunkles Netz, darin sich flüchtend die Gefühle fangen.
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Von was es bedeutet zu wie es bedeutet Du hast dich so unendlich groß begonnen an jenem Tage, da du uns begannst,— und wir sind so gereift in deinen Sonnen, so breit geworden und so tief gepflanzt, daß du in Menschen, Engeln und Madonnen dich ruhend jetzt vollenden kannst. Laß deine Hand am Hang der Himmel ruhn und dulde stumm, was wir dir dunkel tun.
Paul de M a n konzentriert sich auf den Umstand, daß der Text zwar eine Apostrophe an Gott darstellt, Gott aber mit so vielen unterschiedlichen Metaphern — Gesetz, Heimweh, Wald, Lied, Netz — bezeichnet wird, daß eine einzige zusammenfassende Bezeichnung unmöglich ist. Hinzu kommt, daß der Beschreibungsgegenstand, Gott, nicht an sich, sondern durch die Tätigkeit eines Subjektes beschrieben wird. Metaphern, Apostrophe, Aktivität machen daher eine Aussage über das sprechende Subjekt „ W i r " , nicht über das Objekt. Das „ D u " der Verse ist im Gedicht nur gegenwärtig, um an das sprechende „ W i r " eine Tätigkeit zu delegieren, die nicht direkt benannt wird und deshalb „dunkel" bleibt. Ein ungelöstes Paradox spannt sich zwischen der Unruhe der ersten und der Gelassenheit der zweiten Strophe, die in den harmonisierenden Bildern aufscheint (das „Wir" als wachsende Bäume, „ G o t t " als Sonne). Aufgrund der zahlreichen ungeklärten Elemente des Gedichtes wird Gott, folgert de M a n , letztlich also nicht beschrieben. Dies geschieht jedoch implizit durch die lautliche Meisterschaft der Verse: ihre phonetische Schönheit und tecltnische Perfektion stellen Tätigkeiten dar, die indirekt auf Gott verweisen; de M a n macht dies an einigen Beispielen deutlich. Der Begriff „Allegorie" fällt auch in dieser Analyse nicht. Aus der Argumentation heraus wird aber klar, daß Rilke durch seine Beherrschung lautlicher Effekte das geschaffen hat, w a s de M a n unter dem allegori-
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sehen Zeichen versteht — das Zeichen, das selbst v o n Bedeutung vollständig entleert ist: „Es mag unsinnig erscheinen, solch einen geradezu mechanischen Vorgang mit dem Namen Gottes in Zusammenhang zu bringen. Indes kann die offenkundige Blasphemie sehr wohl als die Hyperbel eines reinen Phonozentrismus angesehen werden. Ein Gedicht des Buches vom mönchischen Leben (Bd. I, S. 20) behauptet die Möglichkeit, selbst den Tod mittels Euphonie zu überwinden, und es löst diese Vorhersage in seiner eigenen Textur ein, „im dunklen Intervall", das in seiner Assonanz die beiden Worte „Tod" und „Ton" sowohl trennt wie vereint. Sobald es uns gelingen wird, das in der Sprache verborgene Lied zu hören, wird es uns von selbst zur Versöhnung von Zeit und Dasein geleiten. Dies ist tatsächlich der extravagante Anspruch, den diese Gedichte erheben, wenn sie vorgeben, Gott durch ein Medium zu bezeichnen, das sich selbst aller Mittel außer dem des Klanges beraubt. Darstellungs- und Ausdrucksmöglichkeiten werden durch eine Askese beseitigt, die keinen anderen Referenten duldet als die formalen Attribute der Bildsphäre. Da Klang das einzige Vermögen von Sprache ist, das ihr wirklich eigen ist und das keine Beziehung zu irgendetwas aufweist, das außerhalb der Sprache selbst gelegen wäre, wird er als das einzig verfügbare Mittel übrigbleiben." (De Man 1988: 6 3 - 6 4 ) . Paul de Mans Theorie der Allegorie stellt sich durch das Gesamtwerk hindurch als Konsequenz seiner oben referierten generellen Zeichentheorie dar, nach der sich auch seine Textlektüren streng ausrichten. Theoretisch gesehen ist diese Zeichentheorie provozierend und überaus perspektivenreich. Sie ist bedeutsam für jedes Schreiben, das auf der rhetorischen Spannung zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufbaut — also den Großteil der Literatur. D e n Rang, den er als Denker der Yale-Schule innehatte, rechtfertigen die Tiefe und der Ernst seiner Arbeiten. Ein Problem liegt jedoch in der Praxis seiner Textlektüre. Ich bestreite damit nicht Barbara John-
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sons Aussage (vgl. Kap. 2), Paul de M a n trage zur Bereicherung von T e x t e n bei; störend wirkt aber, d a ß sein Leseverfahren nicht i m m e r überzeugend und sorgfältig ist. Als Beispiel m ö c h t e ich die Lektüre des W o r d s w o r t h - S o nettes als S y m b o l und des Yeats-Gedichtes als Allegorie anführen. Es fällt durchaus nicht schwer, das Sonett als Allegorie zu lesen: etwa k ö n n t e man die T h e s e aufstellen, daß die ganze Szenerie eine Allegorie der menschlichen Psyche darstellt, wenn die unterschiedlichen Sphären als Bilder bes t i m m t e r Bewußtseinsschichten gesehen werden. D a ß das G e dicht von „ R u h e " handelt, k ö n n t e ein Indiz dieser psychischen Auslegung sein. Wenn Paul de M a n die allegorischen M ö g l i c h k e i t e n der W o r d s w o r t h - S t r o p h e n nicht w a h r n i m m t , tut er das ganz b e w u ß t . In den T e x t e n selbst tritt kein wie auch i m m e r gearteter prinzipieller Unterschied auf: beide sind realistische Naturschilderungen, die durch die Techniken des T e x t e s selbst S y m b o l c h a r a k t e r erhalten. J e d e r k ö n n t e diese S y m b o l e mit dem Hinweis zu Allegorien m a c h e n , d a ß sie die ein oder andere von außen s t a m m e n d e Idee illustrieren. Hinzufügen m ö c h t e ich, d a ß ich mit Paul de M a n in bezug a u f Qualitätsurteile gänzlich uneins bin; ich sehe weder Q u a lität n o c h „ R e i c h t u m " oder „ M e i s t e r h a n d " (de M a n 1 9 8 4 : 1 4 2 ) in einem Y e a t s - T e x t , der als Allegorie gelesen wird. Im Gegenteil scheint er mir b o m b a s t i s c h und in seiner detallierten Übersetzung fast k o m i s c h (Otter, Teichhühner). Gegen die Rilke-Analyse ist einzuwenden, d a ß die G o t t e s m e taphern zusammenfassend als M e t a p h e r n des Gebundenseins beschrieben werden k ö n n e n . D a s Gedicht handelt von dieser Bindung an G o t t . Zusätzlich ist anzumerken, d a ß G o t t durch die Tätigkeiten beschrieben wird, zu denen er den M e n s c h e n veranlaßt. Es gibt also Hinweise a u f G o t t in R i l k e s T e x t . Ich gehe mit Paul de M a n darin k o n f o r m , d a ß das Gedicht starke lautliche Q u a l i t ä t e n besitzt und stimme auch der zentralen
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Beobachtung des Lautes als Referent zu. Allerdings sehe ich die Lautfunktion nicht als einzigen Referenten des Textes. Diese Beispiele sollen, obwohl noch zahlreiche weitere genannt werden können, an dieser Stelle genügen. Sie reichen aus, um die grundsätzliche Frage aufzuwerfen, ob eine Theorie Stich hält, wenn die Praxis dies nicht tut, oder ob das theoretische Niveau bestehen bleiben kann, wenn die sie stützende Empirie zusammenbricht.
Ein Idealist Im vorangehenden Kapitel äußerte ich, daß die meisten Dekonstruktivisten ohne Utopie auskommen. Dies gilt nicht für Paul de Man; er ist Idealist. Ausgangspunkt seiner Philosophie ist, wie sein Herausgeber Dan Latimer aufgezeigt hat, die irreparable Trennung von Sein und Bewußtsein, oder zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Deshalb bemüht sich de Man, alle Illusionen über einen möglichen Zusammenhang zu dekonstruieren. Diese Illusionen sind metaphysische Überbleibsel. Zeichen bzw. Literatur, die solchen Gegenständen Ausdruck verleihen sollen, müssen reine Zeichen sein, d. h. Zeichen, die bar jeder innenwohnenden Bedeutung sind. Je größere Bedeutung das Zeichen selbst hat, desto stärker die Illusion, es könne etwas bezeichnen. Dies ist nicht der Fall, die Transzendenz ist leer. Es gibt wohl keine Brücke zwischen Sein und Bewußtsein, doch gibt es reines Bewußtsein und reine Theorie. Je leerer das Zeichen, umso größer seine Möglichkeit, das reine Bewußtsein auszudrücken. In diesem Sinne bemüht de Man sich, alle gefüllten Zeichen zu zerstören, konkret betrifft dies Begriffe wie Natur, Realismus, Organismus. Wann auch immer diese Größen auftreten, wird de Man sie dekonstruieren.
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Seine Dekonstruktion ist eine Ent-Naturalisierung und EntHumanisierung. Paul de Mans Arbeit mit dem Zeichenbegriff ist ein Vorstoß gegen die westliche Metaphysik, parallel zu Derridas Angriff auf den Logozentrismus. Es ist daher nicht erstaunlich, daß diese beiden Denker sich gegenseitig inspiriert haben. Während aber Derrida das System auch mit sprachlichen Kunstgriffen provoziert, ist de Man die Ernsthaftigkeit selbst. Er hat oder gibt sich eine Berufung. Der Antrieb dahinter ist ein intellektuelles Streben, das sich mit einem (lebens) philosophischem Projekt verbindet, dessen äußerste Konsequenz ein Idealismus und eine Askese sind, die derjenigen katholischer Heiliger in nichts nachstehen. Im Rilkekommentar zeigt sich der sprachliche Ausdruck dieses transzendenten Strebens: der reine Laut. Paul de Mans Jugendnazismus hat der Dekonstruktion einige ausgesprochen dekonstruktivistische Probleme bereitet: hängt ein Mensch mit sich selbst zusammen? Beeinflußt der Teil (de Man) das Ganze (Dekonstruktion)? Diese Fragen beschäftigen jeden, der sich mit der Dekonstruktion auseinandersetzt. Für mich zumindest besteht eine Verbindung zwischen dem jungen Paul de Man, der die deutsche Literatur von jüdischem Einfluß reinigen wollte und dem späteren de Man, dessen Utopie in der leeren, von aller natürlichen und menschlichen Sprache gereinigten Allegorie liegt. Ich zitiere eine Passage aus der Expressionismuskritik des jungen Paul de Man, „Menschen en Boeken" („Menschen und Bücher"), in der Zeitung Het Vlaämsche Land vom 20. August 1942: „Wenn wir die Nachkriegsliteratur in Deutschland betrachten, fällt uns sogleich der Kontrast zwischen zwei Gruppen auf, die darüberhinaus nach den Ereignissen von 1 9 3 3 auch materiell voneinander geschieden waren. Die erste dieser Gruppen feiert eine Kunst mit stark zerebraler Disposition, gegründet auf abstrakte
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Prinzipien und sehr weit entfernt von aller Natürlichkeit. Die an sich überaus bemerkenswerten Thesen des Expressionismus wurden von dieser Gruppe als Tricks verwandt, als geschickte Kunstgebilde, die mit einfachen Effekten kalkulierten. Die sehr berechtigte Grundregel künstlerischer Transformation, inspiriert von der persönlichen Vision des Schöpfers, diente hier als Vorwand einer gezwungenen, karikierten Repräsentation der Wirklichkeit. Dadurch gerieten [die Künstler dieser Gruppe] in offenen Konflikt mit den eigentlichen Traditionen der deutschen Kunst, die sich immer und vor allem anderen einer tiefen geistigen Aufrichtigkeit bedient hatte. Es wundert deshalb kaum, daß hauptsächlich Nicht-Deutsche und insbesondere Juden diesen Weg einschlugen." (de Man 1988:325). Beim Lesen sticht mir in die Augen, daß „die abstrakten Prinzipien," die de M a n hier u. a. bei jüdischen Künstlern angreift, an sein späteres allegorisches Streben selbst erinnern. Der späte Paul de M a n ist selbst „ J u d e " . Schlußfolgerung: Idealisten sind gefährlich, vor allem, wenn sie gegen sich selbst kämpfen.
Wie bedeutet Psalm 1 3 9 ? Psalm 1 3 9 ist einer der zahlreichen großartigen Psalmen des Alten Testamentes. Gleichzeitig handelt es sich hier um einen Text, an dem sich der Unterschied zwischen einer Lektüre nachweisen läßt, die danach fragt, was ein Text bedeutet, und einer, die sich darauf konzentriert, wie ein Text bedeutet. Psalm 139 1 Dem Chorleiter. Von David. Ein Psalm. HERR, du hast mich erforscht und erkannt. 2 Du kennst mein Sitzen und mein Aufstehen, du verstehst mein Trachten von fern.
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3 Mein Wandeln und mein Liegen — du prüfst es. Mit allen meinen Wegen bist du vertraut. 4 Denn das Wort ist (noch) nicht auf meiner Zunge — siehe, HERR, du weißt es genau. 5 Von hinten und von vorn hast du mich umschlossen, du hast deine Hand auf mich gelegt. 6 Zu wunderbar ist die Erkenntnis für mich, zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen. 7 Wohin sollte ich gehen vor deinem Geist, wohin fliehen vor deinem Angesicht? 8 Stiege ich zum Himmel hinauf, so bist du da. Bettete ich mich in dem Scheol, siehe, du bist da. 9 Erhöbe ich die Flügel der Morgenröte, ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres, 10 auch dort würde deine Hand mich leiten und deine Rechte mich fassen. 11 Und spräche ich: Nur Finsternis möge mich verbergen und Nacht sei das Licht um mich her: 12 Auch Finsternis würde vor dir nicht verfinstern, und die Nacht würde leuchten wie der Tag, die Finsternis wäre wie das Licht. 13 Denn du bildetest meine Nieren. Du wobst mich in meiner Mutter Leib. 14 Ich preise dich darüber, daß ich auf eine erstaunliche, ausgezeichnete Weise gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, und meine Seele erkennt es sehr wohl. 15 Nicht verborgen war mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewoben in den Tiefen der Erde. 16 Meine Urform sah deine Augen. Und in dein Buch waren sie alle eingeschrieben, die Tage, die gebildet wurden, als noch keiner von ihnen (da war). 17 Für mich aber — wie schwer sind deine Gedanken, o Gott! Wie gewaltig sind ihre Summen! 18 Wollte ich sie zählen, so sind sie zahlreicher als der Sand.
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Ich erwache und bin noch bei dir. 19 M ö g e s t du, o Gott, den Gottlosen töten! Ihr Blutmenschen, weicht von mir! 20 Sie, die mit Hinterlist von dir reden, vergeblich (die H a n d ) gegen dich erheben! 21 Sollte ich nicht hassen, H E R R , die dich hassen, und sollte mir nicht ekeln vor denen, die gegen dich aufstehen? 22 Mit äußerstem H a ß hasse ich sie. Sie sind Feinde für mich. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz. Prüfe mich und erkenne meine Gedanken! 24 Und sieh, o b ein abgöttischer Weg bei mir ist, und leite mich auf dem ewigen Weg! (Revid. Elberfelder Bibel 1 9 8 7 : 7 8 4 - 7 8 5 )
Ich möchte die textkritische Anmerkung machen, daß ich mit zahlreichen anderen Forschern die Verse 19—22 nicht einbeziehe, da die Möglichkeit besteht, daß sie zu einem anderen Psalm gehören. In einer dänischen Bibelübersetzung, die den biblischen Texten jeweils kurze Inhaltsreferate voranstellt, steht folgendes zu Psalm 139: „ D a v i d betrachtet die Allwissenheit Gottes, die alle Dinge erforscht und im Grunde kennt (1 — 6); seine Omnipräsenz, mit der er alle Dinge erfüllt (7—12), seine Allmacht, durch die er ihn so herrlich geschaffen hat (13 — 18). Er eifert gegen die Gottlosen, die G o t t nicht ehren wollen, und betet, G o t t möge ihn noch reiner und stärker im Guten machen (19—24)." (Autor. D ä n . Bibel:1871)
Dieser Kommentar zeichnet sich in zweierlei Hinsicht aus: 1. er ist thematisch, 2. er ist religiös. Als thematische Lektüre kann er als korrekte Z u s a m m e n f a s s u n g der expliziten Textaussagen gewertet werden. Als religiöse Lektüre ist er charakteristisch, insofern er auf der Voraussetzung beruht, daß
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der Text eine Realität reproduziert, die außerhalb des Textes liegt. Liest man die Verse 1—6 als Ausdruck dafür, daß „David Gottes Allwissenheit" betrachtet, setzt man voraus, daß das „Ich" des Textes der Verfasser ist, daß Gott existiert, daß Gott die Eigenschaft „Allwissenheit" besitzt und daß der Autor mit seinem Text die „Betrachtung" dieses Gottes darstellt. In der Tradition religiöser Dichtung kann man an vielen Stellen lesen, daß solche poetischen Umschreibungen des Göttlichen unvollkommen sind: die Sprache ist ein nur ungenügendes Werkzeug, um etwas über einen Gott zu sagen, der sich jenseits des Begriffsvermögens und der Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen befindet. Besonders die mittelalterlichen Mystiker repräsentieren diese Haltung. Eine dekonstruktivistische Lektüre würde ganz anders aussehen. Sie würde sich mit der Frage beschäftigen, wie Gottesvorstellungen und das Verhältnis Gott-Mensch sprachlich produziert werden, nicht die Realität dieses Gottes voraussetzen oder verneinen. Außerdem kann eine dekonstruktivistische Lektüre aufzeigen, daß ein Text wie dieser das eine sagt und das andere tut. Zu Vers 1 — 6 könnte z. B. ein dekonstruktivistischer Leser nicht anmerken, daß „David Gottes Allwissenheit betrachtet". Er oder sie würde stattdessen auf die Apostrophe („HERR") als den zentralen Begriff hinweisen, mit dem der Autor eine Vorstellung davon wachruft, daß etwas Göttliches gegenwärtig sein und angesprochen werden kann. Das fiktive „Ich" wird als Instanz ejngesetzt, die mit ihm sprechen kann, und seine Rede enthält verschiedene Wendungen, die auf die Eigenschaften Gottes, die Situation des Sprechers und das Verhältnis zwischen Gott und Ich hindeuten. Einige von ihnen sind explizite Aussagen, auf die sich auch der oben zitierte Stellenkommentar stützt: explizit ausgedrückt wird beispielsweise Gottes „Allwissenheit" in der Aussage „du hast mich erforscht und erkannt", die Position des Sprechers in
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den Worten „Zu wunderbar ist die Erkenntnis für mich,/ zu hoch: Ich vermag sie nicht zu erfassen." Beides, Allwissenheit und fehlendes Fassungsvermögen, wird auch durch eine Reihe impliziter Begriffe formuliert. Unter diesen impliziten Strategien ist die Kommunikationssituation selbst die wichtigste. Das „Ich" wird in die paradoxe Lage versetzt, einer allwissenden Instanz mitzuteilen, daß sie allwissend ist. Darüberhinaus läßt der Verfasser das Ich den rhetorischen Kunstgriff der Amplifikatio (Erweiterung) anwenden, die etwas in langer Form ausdrückt, das auch kurz formuliert werden könnte. Der gesamte Text stellt eine einzige ausschweifende Umschreibung der ersten Psalmenzeile — „ H E R R , du hast mich erforscht und erkannt" — dar. Logisch gesehen ist diese ganze Kommunikation überflüssig, denn warum dem Empfänger etwas erzählen, das dieser schon im voraus weiß? Genau diese Paradoxalität aber trägt dazu bei, das religiöse Verhältnis zwischen Gott und Mensch zu schaffen, in dem jede Anrede sowohl überflüssig als auch notwendig ist. Weitere rhetorische Techniken erzeugen inkongruente Zustände und verkehren dadurch die gewohnten njenschlichen und natürlichen Verhältnisse. Bereits in Vers 3 („du verstehst mein Trachten von fern") tritt eine solche Inkongruenz auf. Sie liegt im letzten Wort der Zeile, „von fern", da „fern" nicht verwandt werden kann, um einen Erkenntnisgrad zu bezeichnen. Würde die Phrase lauten „du siehst mich von fern", dann hätte sie nicht diese Inkongruenz. In gleicher Weise wirken andere Fügungen des Textes, die Abstraktes und Konkretes zusammenbringen, z. B. in den Versen 5 und 10, wo die göttliche „Hand" über räumliche Abstände und Existenzniveaus hinweg plötzlich ganz konkret das Ich ergreift. Die Inkongruenzen setzen sich in dichter Folge fort, u. a. in den zahlreichen Umkehrungen der Zeitverhältnisse: der
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Herr kennt alle Worte, bevor sie gesagt werden, er hat das Ich gesehen, noch bevor es geboren wurde und seine Tage geformt, bevor sie anbrachen. Gleiches geschieht in bezug auf die räumlichen Dimensionen, wenn die verschiedenen Fluchtwege des Ichs beschrieben werden: unendliche Ausdehnungen in H ö h e und Breite schrumpfen zu einem engen R a u m zusammen, den die Hand des Herren jederzeit erreichen kann. Als wäre die Verkehrung von Raum und Zeit noch nicht genug, werden in den Versen 11 und 12 auch Licht und Dunkelheit vertauscht und ein Ich gezeigt, das sich weder in Zeit noch in Raum oder Finsternis vor Gott verbergen kann. Das Besondere an Psalm 139 ist, daß das „Ich", das sich in ständiger Gottesüberwachung präsentiert, zugleich ausdrückt, daß dieser Zustand nicht nur unbegreiflich, sondern auch „ h o c h " ist. Dieses letzte Niveau wird geschaffen, indem die größten Verhältnisse, Zeit, R a u m und Licht, in Bewegung versetzt und radikal gewendet werden, und zwar in Verbindung mit einer Schönheitserfahrung. Das zeigt sich vor allem in den Versen 7—12 und am stärksten in den sehr schönen Zeilen „Erhöbe ich die Flügel der Morgenröte,/ ließe ich mich nieder am äußersten Ende des Meeres". Statt schlicht zu sagen, „Ginge ich so weit wie möglich nach Westen", hat der Verfasser hier eine lyrische Umschreibung gewählt. Es ist ein schönes, nicht ein erschreckendes Universum, das das „ I c h " erlebt. Diese Erhöhung wird mit Nähe kombiniert. Bemerkenswert sind die körpernahen Ausdrücke der Verse 13 — 15, in denen Worte wie „Nieren", „Leib d e r ' M u t t e r " und „Gebein" eingeführt werden. Das „Weben" verleiht der als „ H E R R " angesprochenen Gottheit weibliche Züge. Noch eine paradoxe Wendung liegt in der abschließenden Bitte. Der ganze Text war ein Lobgesang auf die göttliche „Erforschung" des „Ichs". Und worum bittet schließlich die-
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ses Ich? „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz"! Die vollkommene logische Inkongruenz zwischen Lobgesang und Bitte ist der letzte Schritt in die Unfaßbarkeit. Die Lektüre kann bis hierhin insofern dekonstruktivistisch genannt werden, als das Schwergewicht auf der Analyse der sprachlichen Mittel liegt, mit denen „Allwissenheit" und „Omnipräsenz" produziert werden. Doch könnte der Psalm auch in strengerem Sinn dekonstruktivistisch gelesen werden und die Inkongruenz des Textes zwischen dem, was er sagt, und dem, was er tut, aufgewiesen werden. „Denn du bildetest meine Nieren", sagt das „Ich" im 13. Vers, und die folgenden Zeilen verleihen dem zentralen religiösen Gedanken Ausdruck, daß Gott den Menschen erschaffen hat. Das sagt der Text, doch zeigt er das Gegenteil, nämlich daß es das Ich ist, das durch sein Sprechen Gott erst schafft. Das „Ich" preist das unfaßbare Wesen Gottes, das Zeit, Raum, Licht und Finsternis sprengt und die Grenzen zwischen abstrakt und konkret überschreitet; literarisch gesehen ist es jedoch die Sprache, die diese Kräfte besitzt. Vermittels der Sprache kann der Mensch Existenzniveaus jenseits von all dem etablieren, was er selbst zu begreifen vermag. Es ist die Sprache, die so wunderbar ist, daß sie unbegreiflich wird.
4. Von Frau zu Geschlecht
Wenn man Dekonstruktion als Auflösung des Subjektes, des Textes, der Gegensatzstruktur und des Zeichens definiert, stellt sich auch die Frage, welche Konsequenzen dies für die feministische Literaturkritik hat. So weit ich sehe, gibt es bisher noch keine Sammeldarstellung einer feministischen Dekonstruktion. Untenstehende Ausführungen sind somit mein persönliches Angebot, was und wen man unter dieses Etikett zählen kann. In meinen Augen ist feministische Dekonstruktion in erster Linie dadurch gekennzeichnet, daß sie das Interesse von der Frauenforschung zur Geschlecbterforschung, von der Empirie zur Theorie und von der Wirklichkeit zur Semiotik verschiebt.
Jeder Feminismus ist Dekonstruktion Alle uns bekannten Gesellschaften operieren mit der Geschlechterdifferenz. Die westlichen etwa haben den Unterschied der Geschlechter in die Kette grundsätzlicher Gegensatzverhältnisse integriert: Natur/Geist, Körper/Seele, Zeit/ Ewigkeit, Erde/HimmeJ, Dunkelheit/Licht, Tod/Leben, Frau/ Mann. Das letzte Gegensatzpaar, Frau/Mann, wird von Strukturalisten häufig zur Illustration ihrer Hauptthese verwandt, daß wir nämlich in Differenzen wahrnehmen. Gerade dieser Gegensatz ist jedoch besonders geeignet, die dekonstruktivistische Aussage zu stützen, daß derlei Gegensätze nicht gleichwertige, logische Oppositionen, sondern Behauptungen und Illusionen darstellen. In der westlichen Kultur —
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z. B. schon im biblischen Schöpfungsbericht — wird „ M a n n " ganz deutlich als das ursprüngliche und privilegierte Element des Paares eingeführt, während „Frau" das abgeleitete und sekundäre Element ist. Es muß nicht erst gesagt werden, daß jede Form von Feminismus Dekonstruktion genannt werden kann, da sie den marginalisierten Teil „Frau" zum Zentrum macht, wodurch das ganze System zusammenbricht. Vermutlich wird sich dereinst zeigen, daß gerade vom Feminismus die schlagkräftigste Unterminierung des Logozentrismus ausging. Im übrigen könnte man Derrida darüber befragen, wer jemals behauptet habe, der Gegensatz Mann/Frau sei gleichwertig: die feministische Theorie war niemals im Zweifel darüber, daß ein Wertgefälle besteht, in dem „ M a n n " der bessere Teil zufällt. Auch wenn man jeden Feminismus als Dekonstruktion bezeichnen könnte, werde ich mich im folgenden ausschließlich mit jenem Feminismus beschäftigen, der auf Grundlage des dekonstruktivistischen Subjekt- und Textbegriffs arbeitet. Zunächst aber muß ich auf ein Problem aufmerksam machen.
Keine Dekonstruktion ist Feminismus Es gibt zahlreiche Definitionen für „Feminismus". Persönlich verwende ich eine — mündliche — Definition Elizabeth Abels, Professorin für Anglistik in Berkeley: eine Feministin ist eine Frau, die glaubt, daß die Gesellschaft zum Nachteil der Frauen eingerichtet ist, und die versucht, diese Sachlage zu ändern. Wenn man an dieser Definition festhält, wird fraglich, ob Dekonstruktion überhaupt Feminismus sein kann. Man kann mit einigem Recht behaupten, daß, wenn der Akzent von Frau zu Geschlecht, von Empirie und Wirklichkeit zu Theorie
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und Zeichen verschoben wird, der Begriff „Weiblichkeit" so abstrakt wird, daß er mit Frauen nicht mehr allzuviel zu tun hat. Ferner ist in Betracht zu ziehen, daß eine feministische Dekonstruktion so weit von einer feministischen Politik entfernt ist, daß sie der Forderung nach Veränderung nicht nachkommen kann. Auf der anderen Seite läßt sich sagen, daß jede kritische Beschäftigung mit dem Geschlechterkonzept, selbst auf hohem Abstraktionsniveau, eine Bedeutung für Frauen hat; dadurch nähert sich Dekonstruktion dem Feminismus doch wieder an. Dilemma der feministischen Dekonstruktion Feministische Dekonstruktivistinnen stehen vor einem unlösbaren Dilemma. Einerseits sind sie Dekonstruktivistinnen, die nicht an Subjekt, Wissenschaft und Wahrheit glauben. Andererseits sind sie Feministinnen, die eben bestrebt sind, das historisch verdrängte weibliche Subjekt zu rekonstruieren, gleichzeitig eine ganzheitliche Wissenschaft aufbauen wollen, nach einer Wahrheit jenseits des Verschweigens und Verdrehens suchen. Biddy Martin hat im Aufsatz „Feminism, Criticism, and Foucault" 1982 das Dilemma folgendermaßen formuliert: „Unser humanistisches Erbe und die offensichtlichen historischen und politischen Notwendigkeiten stellen uns natürlich vor den Konflikt zwischen fundamental-dekonstruktivistischem Impuls und dem Bedürfnis, die Kategorie Frau zu konstruieren und nach Wahrheiten, Authentizität und Universalien zu suchen." (Martin 1982:13).
J a n e Flax, Dozentin für Politologie an der H o w a r d Universität und praktizierende Psychotherapeutin in Washington, D . C . , macht im Artikel „Postmodernism and Gender Rela-
D i l e m m a der feministischen D e k o n s t r u k t i o n
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tions in Feminist T h e o r y " 1987 sehr deutlich, daß die Dekonstruktion mit einer Reihe zentraler Vorstellungen gebrochen hat, die die Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert eingeführt hatte. Für das „Projekt Aufklärung", so Flax, sind folgende acht Grundüberzeugungen konstitutiv: 1) Der Glaube an ein stabiles, kohärentes Ich und an die Vernunft als das Zentrum dieses Ichs. 2) Der Glaube an die Vernunft als verläßliche und universelle Grundlage von Wissen. 3) Der Glaube, daß ein auf diesem Wege erworbenes Wissen „wahr" ist und die Wirklichkeit repräsentiert. 4) Der Glaube, daß die Vernunft transzendentale und universelle Eigenschaften besitzt und von beispielsweise körperlichen, historischen und sozialen Erfahrungen nicht strukturell beeinflußt wird. 5) Der Glaube, daß Vernunft und Freiheit zusammenhängen. Freiheit besteht im Gehorsam gegenüber jenen Gesetzen, die mit den Erkenntnissen der Vernunft übereinstimmen. 6) Der Glaube, daß M a c h t und Vernunft vereint werden können. Wird Wissen in den Dienst der M a c h t gestellt, sind Freiheit und Fortschritt garantiert. 7) Der Glaube, daß Wissenschaft neutral in Methode und Inhalt ist, ihre Resultate jedoch positiv auf das soziale Ganze wirken. 8) Der Glaube an die Durchsichtigkeit der Sprache und an die Korrespondenz von „Wort" und „Sache", (vgl. Flax 1987: 6 2 4 - 6 2 5 ) Diese zentralen Konzepte sind schwer aufzugeben, vor allem da, wo sie noch nicht vollständig für Frauen und durch Frauen in Anwendung gebracht worden sind. D o c h die feministischen Vorstellungen vom Subjekt, von Wissen und Wahrheit, so Flax, haben im „Projekt Aufklärung" keinen Platz. Ich selbst würde es umgekehrt formulieren: da das „Projekt Aufklärung" in so geringem M a ß Frauen einbezogen hat, hat es sich als Ausdruck von Vernunft und Objektivität selbst unterlaufen. Ganz gleich aber, wie man den Sachverhalt dreht und wendet, kann die Kritik am „Projekt Aufklärung" nur zu einer der folgenden Haltungen führen: entweder muß das Projekt
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dergestalt saniert werden, daß es auch die Frauen berücksichtigt, oder es muß ganz aufgegeben werden. Die feministischen Dekonstruktivistinnen haben die zweite Lösung gewählt.
Im System denken J e n e feministischen Dekonstruktivistinnen, die innerhalb des Systems einen anderen Weg des Denkens einschlagen wollen, sehen sich einer Vielzahl von Schwierigkeiten gegenüber. Sie sind selbst Ergebnis des Systems, das sie verwerfen, ihr Denken kann allein deshalb nicht rein alternativ sein. Hingegen ist es ausgesprochen dekonstruktivistisch, ein unmögliches Projekt zu verfolgen. Feministinnen dekonstruktivistischer Ausrichtung glauben, daß die einzige theoretisch zu rechtfertigende Haltung das ständige Bewußthalten dieses prinzipiellen Problems ist. Sie nehmen Abstand von sog. „Kulturfeministinnen", die behaupten, daß es eine wertvolle Frauenkultur gebe. Wenn die bestehende Gesellschaft tatsächlich die Grundlage einer solchen positiven Kultur geschaffen hat, so die Dekonstruktivistinnen, ist sie zureichend und muß nicht verändert werden. Außerdem ist der Begriff „Frauenkultur" eine Illusion, insofern eine Oase innerhalb oder eine Standpunkt außerhalb des Systems nicht denkbar ist. Biddy Martin hat im o.g. Artikel die Problemstellung wie folgt zusammengefaßt: „Frauen sind folglich mit der Herausforderung zweifacher Verweigerung konfrontiert:
der Verweigerung, das Andere
(„the
other") des männlichen Diskurses zu sein und der ebenso wichtigen Verweigerung, als das Gleiche („the same") integriert zu werden. Wir sehen uns der politischen und privaten Aufgabe gegenüber, in Kultur und Gesellschaft auf eine Weise einzutreten, die Identifikation und Unterwerfung zurückweist, den Dialog mit der
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symbolischen und sozialen Ordnung aufzunehmen, ohne in sie integriert zu werden, ohne darauf fixiert, dazu genötigt oder verführt zu werden, von nur einem einzigen Standpunkt aus zu sprechen." (Martin 1 9 8 2 : 2 0 ) .
Subjekttheorie Freud spaltete das Subjekt in einen bewußten und einen unbewußten Teil. Die Dekonstruktion löst es ganz auf. Der feministischen Dekonstruktion bleibt die Klärung der Frage überlassen: ist dieses aufgelöste Subjekt oder seine Teile vom Geschlecht beeinflußt? Für das Aufklärungsprojekt war das Subjekt geschlechtsneutral. „Die Seele hat kein Geschlecht", äußerte z.B. Leonora Christina (Hceltinners Pryd, „Der Stolz der Heldinnen", 1684). Auch die Position der klassischen Gleichstellungspolitik geht davon aus, daß psychische Eigenschaften ungeschlechtlich sind. Die feministische Dekonstruktion hingegen bricht mit dieser Neutralität, ebenso mit dem Zusammenhang zwischen Geschlecht und Biologie. Dadurch hält sie das Konzept „Weiblichkeit" aufrecht, behauptet aber, daß dieses nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun habe. Spitz formuliert ist die Auflösung des Subjektes selbst ein weiblicher Zustand. Es gibt zahlreiche feministisch-dekonstruktivistische Subjekttheorien. Ich möchte mich auf die Skizzierung zweier Hauptrichtungen beschränken, von denen die eine sozusagen mit dem unbewußten Teil des gespaltenen Freudschen Ichs arbeitet, die andere mit dem bewußten. Beide Richtungen können dadurch charakterisiert werden, daß sie nicht fragen: welche Psyche haben Männer, welche haben Frauen?, sondern vielmehr: welche Zeichen liegen für Männlichkeit und Weiblichkeit vor?
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Von Frau zu Geschlecht Es gibt kein Zeichen für Frau: Julia Kristeva
Julia Kristeva, geb. 1941, ist Linguistin und Psychoanalytikerin. Als 25jährige kam sie aus Bulgarien, wo sie solide Kenntnisse in Marxismus und Strukturalismus erworben hatte, nach Paris. Hier wurde sie stark von Jacques Lacans Psychoanalyse beeinflußt. Auf die Ausbildung der feministischen Theorie hatte sie großen Einfluß, obwohl sie auch feministischen Widerstand weckte und selbst ein ambivalentes Verhältnis zum Feminismus hat. Toril Moi hat eine gründliche Einführung in Kristevas Schriften (Sexual/Textual Politics, 1985; dt. Sexus — Text — Herrschaft. Feministische Literaturtheorie, 1989) und eine Anthologie zentraler Aufsätze der Autorin {The Kristeva Reader, 1986) herausgegeben. Jaques Lacans Theorie der Weiblichkeit kann verkürzt so wiedergegeben werden: in der menschlichen Psyche ist der Phallus jenes Zeichen, das den Begriff „Geschlecht" repräsentiert. „Phallus" ist der psychische Ausdruck des männlichen Penis und stellt das väterliche Gebot dar. Dieses Bild setzt sich in der Psyche während der sog. phallischen Phase fest, die für Lacan parallel zur sprachlichen Phase verläuft. Die Aufnahme des Phallus in die Psyche entspricht deshalb dem Eintritt in die „symbolische Ordnung". Es gibt kein entsprechendes weibliches Zeichen, das weibliche Pendant zum Penis ist ein Loch und kann als solches nicht repräsentiert werden. Die Definition von „Frau" ist dieser Theorie zufolge: „Mensch, dem der Penis fehlt". Die Definition psychischer Weiblichkeit ist die Kastration, d. h. der Zustand, in dem der Phallus fehlt. Anhänger dieser phallozentrischen Theorie sind der Ansicht, daß sie korrekt beschreibt, was Weiblichkeit innerhalb eines phallokratischen Systems ist. Andere, denen ich mich hundertprozentig anschließen möchte, glauben, daß Lacan die phallokratische Theorie verwendet, um einen phallokratischen Zustand zu beschreiben.
Es gibt kein Zeichen für Frau: Julia Kristeva
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Wie ihr Lehrer Lacan betont Kristeva, daß der Begriff „Frau" nicht definiert werden kann: „Der Glaube, daß „man eine Frau ist" ist fast so absurd und obskur wie der Glaube, daß „man ein Mann ist". Ich sage „fast", weil es immer noch viele Ziele gibt, die Frauen erreichen können: Freiheit abzutreiben und zu verhüten, Kinderhorte, Gleichstellung im Beruf usw. Deshalb müssen wir „wir sind Frauen" als Werbung oder Slogan für unsere Forderungen einsetzen. Auf einer tieferen Ebene kann eine Frau jedoch nicht „sein"; dies ist etwas, das nicht einmal zur Ordnung des Seins gehört. Daher kann feministische Praxis nur negativ sein, dem widersprechend, das bereits existiert, so daß wir sagen könnten, „das ist es nicht" und „das ist es immer noch nicht". In „Frau" sehe ich etwas, das nicht repräsentiert werden kann, etwas, das nicht gesagt wird, etwas über den und jenseits der Nomenklaturen und Ideologien." (Kristeva 1981: 137)
Kristeva kann „Weiblichkeit" also nicht definieren. Demgegenüber hat sie eine Zeitlang mit dem Begriff „das Mütterliche" gearbeitet, und in diesem Bereich hat sie Lacan gleichsam dekonstruiert. Für Lacan ist „das Imaginäre" ein Zustand vor der Bildung des Subjektes, vor der Sprache, vor dem Symbolischen, vor dem Phallischen. Kristeva hebt hervor, daß es auch im imaginären Stadium ein Zeichensystem gibt, sie nennt das Stadium deshalb „das Semiotische". Diese vorsprachlichen Zeichen bestehen aus Rhythmuswahrnehmungen und unartikulierten Lauten, hervorgerufen durch den Kontakt des Kindes mit dem mütterlichen Körper, noch bevor das Subjekt sich vom Objekt getrennt hat. Kristevas wichtigster Aspekt ist nicht, daß das semiotische, „mütterliche" Stadium im Gegensatz zum symbolischen, „väterlichen" steht, sondern daß es seine Existenz in das symbolische Stadium hineinträgt. Dies drückt sich u. a. im Rhythmus und Tonfall der Sprache aus, in Widersprüchen, Sinnlosigkeiten, Abbrüchen, Stummheit und Abwesenheit.
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In ihrer akademischen thèse, La Révolution du langage poétique (1974, dt. „Die Revolution der poetischen Sprache", 1978) führt Kristeva ins Feld, daß große Teile der modernistischen Literatur den Ausbruch und Durchbruch der „mütterlichen" Sprache darstellen. Die semiotische Sprache ist eine fließende Masse, die besonders die lautlichen und rhythmischen Qualitäten der Sprache zum Vorschein bringt. Sie ist vieldeutig und kreativ, sie bricht mit der präzisen Bedeutung der Alltagssprache. Semiotische Sprache zeigt sich, so Kristeva, beispielsweise bei den französischen Symbolisten, bei James Joyce und Virgina Woolf. Kristeva glaubt nicht, daß es ein Zeichen für „Frau" gibt, doch hat sie in einem hochspannenden Artikel, „Stabat mater" (1983), die Figur der Jungfrau Maria als Zeichen für „Mutter" gewertet. Faszinierend scheint ihr, daß in ihr der Versuch geglückt ist, ein Wesen zu konstruieren, das Männer wie Frauen gleichermaßen anzieht, und auf den Elementen dieser Konstruktion liegt Kristevas Hauptaugenmerk. Maria kann heute nicht mehr als universelles Zeichen gelten, und ein neues haben wir nicht gewonnen. Kristeva ist ein gutes Beispiel für die Konsequenzen des Denkens innerhalb des Systems. Abhängig vom Ort, an dem man selbst steht, kann man entweder urteilen, daß eine hochbegabte Theoretikerin die Lage durch die Modifizierung des phallokratischen Systems verbessert, oder daß sie die Situation noch verschlimmert, indem sie über eine abzulehnende Theorie einen versöhnlichen Glanz breitet.
Écriture féminine: Hélène Cixous Hélène Cixous, geb. 1937, ist Autorin und Doktorin der Philologie. Sie ist in Haltung und Stil von Jacques Derrida beeinflußt. Eines ihrer Projekte besteht darin, das logozentrische
Écriture féminine: Hélène Cixous
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Gegensatzsystem zu dekonstruieren. Dies tut sie u. a. durch die Konstruktion eines speziell weiblichen Schreibens, écriture féminine, das auf Eigenschaften baut, die der Logozentrismus marginalisiert. Dieses weibliche Schreiben ist fließend, ungebunden an feste Bedeutungen, befindet sich in stetem Prozeß. Prinzipiell ist es unabhängig vom biologischen Geschlecht und kann von Männern wie Frauen praktiziert werden. Wie Toril Moi jedoch nachgewiesen hat, liegen hierin einige Selbstwidersprüche, insofern als Cixous die écriture féminine auch als Schrift dargestellt hat, die vom weiblichen Körper aus geschrieben wird. (Moi 1985:110 f.). Als Beispiel für Cixouse' Schreiben hier ein Auszug aus La venue à l'écriture (1977): „Als ob ich direkt in die Schrift eingekoppelt leben würde, ohne Stromverstärker. In mir der Gesang, der starb, genau von ihm wird ausgesandt und kommt bei der Sprache an: ein Strom, der augenblicklich Text ist. Keine Unterbrechung, Lautgefühl, Gesangston, Blutton, alles ist die ganze Zeit bereits geschrieben, alle Bedeutungen sind ausgelegt. Später, wenn ich aus meinen Wassern steige, triefendnaß vor Freude, wenn ich meinen Brettern entlang zurückgehe, wenn ich von der Kante sehe, wie meine Traumfische sich im Liebesspiel tummeln, bemerke ich die unzähligen Figuren, die sie in ihrem Tanz vollführen; ist es nicht genug damit, daß unsere Frauenwasser rinnen, damit unsere wilden und volkreichen Texte ohne Berechnung geschrieben werden können? Wir sind selbst in der Schrift wie der Fisch im Wasser, wie die Sinne in unserer Zunge, Bedeutungen in unserer Sprache, Transformationen in unserem Unbewußten."
Indem sie den Begriff „Weiblichkeit" von der Biologie losreißt, gelingt es Cixous, auf die Konstruiertheit des Begriffes hinzuweisen und darauf aufmerksam zu machen, daß zahlreiche Eigenschaften, die Männern wie Frauen eignen, vom Logozentrismus verdrängt werden. Begreiflicherweise liegt
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eine Pointe darin, diese Werte „weiblich" zu nennen, ihr Preis aber ist, daß C i x o u s selbst gerade die logozentrischen Gegensätze zwischen männlich und weiblich reproduziert, die sie generell kritisiert. Für mein Teil glaube ich, daß mehr Schaden als Nutzen darin liegt, „männlich" und „weiblich" losgelöst v o m biologischen Geschlecht zu sehen.
Ein Zeichen für F r a u : Luce Irigaray Luce Irigaray ist Philosophin und Psychoanalytikerin. Sie dekonstruiert den Phallozentrismus und zeigt, daß es durchaus Zeichen für „ F r a u " gibt, wenn man sie nur sehen will. Ihr H a u p t w e r k stellt die Habilitationsschrift Speculum l'autre femme
de
( 1 9 7 4 ) dar. Irigaray liefert hier eine eingehende
Kritik der phallischen Sexuallogik, die sie auch als den „Imperialismus des Sichtbaren" bezeichnet. Die Alternative, das Zeichen für Frau, beschreibt Irigaray im norwegischen Interview „Frauen im E x i l " folgendermaßen: „Ich glaube, daß man zur Frage nach der Morphologie, nicht der Anatomie, des weiblichen Geschlechtsorgans zurückgehen muß, zur Untersuchung seiner Form. Das gesamte westliche Denken weist eine gewisse formale Ähnlichkeit mit dem männlichen Geschlechtsorgan auf: es ist gekennzeichnet durch Einfachheit, Form, Identität, Sichtbarkeit, Erektion (Zur-Form-Werden). Doch diese Formlogik entspricht nicht dem weiblichen Geschlechtsorgan: es ist nicht „ein'^ Geschlechtsorgan. Wenn also gesagt wird, die Frau „hat kein Geschlechtsorgan", könnte man das auch so auffassen, daß die Frau nicht „ein" Geschlechtsorgan besitzt und daß ihr Geschlechtsorgan als keine bestimmte Form wahrgenommen, repräsentiert oder identifiziert werden kann. Zwar hat das weibliche Geschlechtsorgan einen äußeren Teil, befindet sich vor allem aber „innen". Die sexuellen Funktionen der Frau können formalen Kategorien nicht unterworfen werden, denn was das
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weibliche Geschlecht vor allem auszeichnet, ist die Unbestimmtheit seiner Form. Die Aussage, ihr Geschlechtsorgan
sei ein
„ L o c h " , ist eine M ö g l i c h k e i t , auszudrücken, daß es sich selbst im herrschenden Diskurs oder der herrschenden Gedankenwelt nicht darstellen kann. Ich habe daher herauszufinden versucht, was die Funktionen des weiblichen Geschlechts und der weiblichen Phantasie sind. M i t den verschiedenen „Teilen" des Geschlechtsorgans, wie sie über maskuline Parameter definiert werden, h a b e ich mich nicht weiter aufgehalten; d. h. die Vagina oder „das H a u s des Penis", die Gebärmutter, die Kinder produziert, oder die Brüste (die aus mehr oder minder guten Gründen als phallisch metaphorisiert werden können). Ich m ö c h t e sagen, daß das weibliche Geschlechtsorgan vor allem anderen wie zwei Lippen aufgebaut ist. Diese beiden Lippen des weiblichen Geschlechts machen es ganz unmöglich, zur Eindeutigkeit zurückzukehren, da es immer wenigstens zwei von ihnen gibt. Nie kann man festlegen, welche von beiden die eine oder die andere ist; sie wechseln untereinander ständig. Sie können einander nicht gleichgesetzt oder voneinander getrennt werden. Und darüberhinaus scheint mir nicht ihr Sichtbares oder ihre Form das Entscheidende, sondern die Berührung. Die „zwei L i p p e n " umarmen einander ununterbrochen, ohne einander zu sehen und ohne von der jeweils anderen gesehen zu w e r d e n . " (Irigaray 1 9 7 6 : 1 1 7 - 1 1 8 )
Irigaray zerstört hier phallozentrische Vorstellungen auf verschiedenen Ebenen. Zunächst argumentiert sie, daß die weiblichen Geschlechtsorgane natürlich nicht als Negation des männlichen Penis beschrieben werden können. Zweitens betont sie die Vielfalt der weiblichen Geschlechtsorgane, u. a. Brust, Vagina, Uterus, Schamlippen. Die Rede von „einem" Geschlechtsorgan ist insofern unzulässig. Irigaray bedient sich ihrer dennoch und findet das Organ in den Schamlippen, die weder im unmittelbaren Dienste des Kindes noch des Mannes stehen. Soll dieses Geschlechtsorgan beschrieben werden, versagen alle männlichen Formkategorien; statt der Form ist die Berührung zentral. Irigarays Vorstellung einer
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weiblichen Sprache baut auf diesem Konzept des Geschlechtsorgans — als Vielfalt, Offenheit und Kontakt — auf, wodurch ihr radikal andere Qualitäten als der eindeutigen männlichen Sprache zugestanden werden. Als ich selbst 1976 diesen Interviewausschnitt einigen Freunden vorlas, fanden diese den Gedankengang naiv und komisch, und auch ich glaubte nicht, daß er Anklang finden würde. Dafür mag es zwei Gründe geben: 1) intelligente Menschen halten es für primitiv, ein ganzes Denksystem auf den Geschlechtsorganen aufzubauen, 2) diese intelligenten Menschen durchschauen vielleicht nicht, daß sie zuvor bereits durch die Gehirnwäsche der Geschlechtertheorien Freuds und Lacans gegangen sind, die ebenfalls auf einem Geschlechtsteil aufbauen, wenn auch nicht dem von Irigaray vorgeschlagenen.
Erfahrung und Semiotik Einige amerikanische Feministinnen wenden sich gegen die Trennung von „Weiblichkeit" und Frau durch die französischen „Nominalisten" und versuchen mit verschiedenen Strategien, Theorie und Empirie wieder in Verbindung zu bringen. Linda Aleoff, Dozentin für Philosophie am Kalamazoo College, stellt im Artikel „Cultural Feminism Versus PostStructuralism: The identity Crisis in Feminist Theory" 1988 drei Theoretikerinnen vor, die sich von „Kulturfeminismus" und „Nominalismus" gleichermaßen absetzen. Außer ihren eigenen Publikationen nennt sie Denise Rileys Buch War in the Nursery: Theories of the Child and Mother 1983 und Teresa de Lauretis' Schrift Alice Doesn't 1984. Ich begrenze mich hier auf ein Referat der Thesen Teresa de Lauretis'.
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Die Sammlung Alice Doesn't besteht vor allem aus Filmanalysen auf hohem theoretischen Niveau. Der Aufsatz „Semiotics and Experience" liefert jedoch eine allgemeine Subjekttheorie. Lauretis hat ihre Wurzeln zwar in der psychoanalytischen und hier besonders der Lacanschen Schule, folgt in diesem Beitrag aber Umberto Ecos kommunikationstheoretischen Untersuchungen des bewußten Ichs. Über Eco gelangt die Verfasserin zum amerikanischen Philosophen Charles Sanders Peirce (1839 —1914), dessen Zeichentheorie sie übernimmt. Peirce führt zwischen Zeichen und Bezeichnetem ein drittes Glied ein, nämlich den Interpretanten. Der Interpretant ist das Bild vom Zeichen, daß der Zeichenempfänger sich auf Grundlage seiner eigenen Voraussetzungen macht. Das so hervortretende Bezeichnete ist eine Kombination aus dem Zeichen des Senders und der Interpretation dieses Zeichens durch den Empfänger (vgl. Peirce 1986, 1:375). Von Peirce entlehnt Lauretis auch die Theorie darüber, was eigentlich geschieht, wenn ein Zeichen entgegengenommen wird. Peirce nennt drei Auswirkungen: zuerst produziert das Zeichen ein Gefühl, danach kommt es zur Meditation dieses Gefühls und schließlich zu einer Änderung der Gewohnheit. Eine einfache Zeichenkommunikation endet mit einer Handlung, doch kann jede Handlung auch wieder ein Zeichen werden usf. Als „Handlung" ist dabei nicht notwendig eine ausgeführte Handlung gemeint, sondern auch die Bereitschaft zur Handlung. Lauretis faßt dies wie folgt zusammen: „Wenn wir Zeichen verwenden oder empfangen, produzieren wir Interpretanten. Ihre signifizierenden Effekte müssen durch jeden von uns hindurchgehen, durch jeden Körper und jedes Bewußtsein, bevor sie eine Wirkung auf die oder eine Handlung in der Welt erzeugen können. Die individuellen Gewohnheiten als se-
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miotische Produktionen sind sowohl Ergebnis als auch Bedingung der sozialen Produktion von Bedeutung." (de Lauretis 1984: 178-179)
Das Subjekt entsteht für Lauretis also durch die Kombination von Semiotik und Erfahrung, oder anders ausgedrückt: wir werden wir selbst, wenn wir an der Zeichenproduktion der Gesellschaft teilnehmen. Ich möchte mit Lauretis Überlegungen ein wenig spielen, indem ich das Zeichen „Frau" nehme und als Sender ein beliebiges amerikanisches College einsetze, an dem Kristeva gerade groß in Mode ist. Die Studentinnen haben in diesem Fall die Botschaft empfangen, daß Weiblichkeit nicht repräsentiert werden kann. Eine dieser Studentinnen wird später eine berühmte Olympialäuferin. Sie trägt aufreizende Sportkleidung und lange rote Fingernägel. Sie hat alles über Kristeva vergessen, erinnert sich aber an männliche Sportjournalisten, die glauben, Sportlerinnen seien verkleidete Männer oder wenigstens sehr „unweiblich", d. h., daß Weiblichkeit im Sport nicht repräsentiert werden kann. Doch da die Läuferin sich auf neue Weise kleidet, verbinden die Sportreporter das Wort „Frau" nun mit Spitzentraining, aufregenden Trikots und roten Fingernägeln. Die Sportlerin hat ein Zeichen entgegengenommen, ihre Lebensgewohnheiten geändert und ist selbst zum Zeichen geworden. Es ist dies eine der besseren Geschichten über Lebensrealität und Semiotik. Zu den weniger guten gehören Berichte von Frauen, denen es schlecht geht, weil sie mit einem traditionellen Frauenzeichen gebrochen haben, die sich von Psychiatern behandeln lassen, die ihre Traditionsbrüche für „Unweiblichkeit" halten, wodurch die Lage der Patientinnen noch verschlimmert wird. Lauretis' Theorie zeigt, wie Zeichen und Wirklichkeit sich gegenseitig beeinflussen. Im besten Fall ist dies die Chance für Veränderung.
Das patriarchalische und das phallokratische Subjekt
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Das patriarchalische und das phallokratische Subjekt Alle oben angeführten Subjekttheorien setzen „Geschlecht" mit Sexualität gleich, dies ist die Folge der „Sexualisierung", die Ende des letzten Jahrhunderts einsetzte. Da der Prozeß von den Prämissen der Männergesellschaft ausging, kam es zur phallokratischen Sexualisierung, durch die das Subjekt ein phallokratisches wurde. Dieses löste das patriarchalische Subjekt ab. Unter der Herrschaft des Patriarchats wurde der Begriff „Geschlecht" mit Vater- und Mutterrolle verbunden, die ideologisch besetzten Geschlechtsorgane waren Samen und Gebärmutter. Da auch das Patriarchat den Mann über die Frau stellte, wurde die \ebensspendende Rolle, die dem Vater zukam, höher gewertet als die lebenserhaltende, die die Mutter übernahm. „Männlichkeit" war gleichbedeutend mit Väterlichkeit, mit Zeugen, Beschützen und Besitzen des Lebens. „Weiblichkeit" repräsentierte sich in der Mütterlichkeit, im Erhalten, Pflegen und Lenken des Lebens. Die Konzepte von Väterlichkeit und Mütterlichkeit haben je nach Zeit und Ort variiert, generell aber stellten sie das Geschlechtsmerkmal des patriarchalischen Subjektes dar. Die Zeichen, in denen sich Väterlichkeit und Mütterlichkeit in der Psyche manifestierten, waren „Same" bzw. „Erde". Der Vater verhielt sich zum Samen wie die Mutter zur Erde. Wiewohl das väterliche Zeichen höher gewertet wurde — einige Theorien bringen den Samen mit dem Heiligen Geist in Verbindung — so hat das Mütterliche doch immerhin ein Zeichen, und zwar ein positiv belegtes (wenn auch sekundäres). Mit der Sexualisierung tritt das patriarchalische Subjekt zugunsten des sexuellen zurück. Chefideologe der Veränderung ist Freud, der in seiner CEdipus-Theorie den Vater als denjenigen beschreibt, der das Recht besitzt, Begehren auszuüben: die sexuelle Männlichkeit verdrängt damit die zeu-
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gende Männlichkeit. Die Verdrängung verdoppelt sich noch, wenn Freud behauptet, der Kinderwunsch der Frau sei der verschobene Wunsch, einen Penis zu besitzen; ein zeugender Trieb wird zum Sexualtrieb, ein Trieb der Frau wird mit den Zeichen des Männlichen beschrieben. Dies ist zugleich Kultur- und Geschlechterkampf. Faktisch betrachtet hängt diese ideologische Umwälzung mit der Trennung von Zeugung und Sexualität durch die Geburtenkontrolle zusammen. Die Autonomisierung der Sexualität wird für gewöhnlich und auch von Feministinnen als eine Befreiung verstanden, nicht zuletzt eine Befreiung der Frau. Das scheint eine Wahrheit zu sein, die Modifikationen zuläßt. Die unbeschwerte Lust in der realen Welt wird von der Frau durch den Verlust ihres Zeichenwertes in der Semiotik bezahlt: von Mutter Erde hin zu nichts, könnte man sagen. Obenstehendes stellt meine eigene Meinung dar. Es ist die Weiterentwicklung von Gesichtspunkten, die ich in Det Moderne Gennembruds Kvinder („Die Frauen des modernen Durchbruchs", 1983) und in Liv og Lyst („Leben und Lust", 1987) vorgelegt habe.
Feministisch-dekonstruktivistische Literaturkritik Die feministische Literaturkritik hat sich in jüngerer Zeit in verschiedene Richtungen entwickelt. Elaine Showalter und Jonathan Culler sind größtenteils einig darüber, daß von drei Phasen gesprochen werden kann: in der ersten kritisierten feministische Wissenschaftlerinnen die Männerliteratur, weil sie die weibliche Erfahrung ausschließe, in der zweiten rückte das Studium von Autorinnen und die Darstellung weiblicher Wahrnehmung ins Zentrum, in der dritten, gegenwärtigen, ist das Geschlecht und sein Zeichen Hauptgegenstand der Untersuchung.
Arachnologie
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Hier sieht sich die feministische Dekonstruktion vor einem Dilemma. Weder die Arbeit an einer weiblichen Literaturgeschichte noch das Projekt der Poetik einer weiblichen Kreativität waren abgeschlossen, als das traditionelle Konzept von Verfasserschaft als subjektiv, produktiv und autoritativ plötzlich von der Theorie der textproduzierenden Lektüre überrollt wurde. Soweit ich sehe, ist dieses Problem von der feministischen Dekonstruktion noch nicht gelöst worden; es wurde zwar registriert, die empirische Arbeit aber anderen überlassen, während die Mitglieder selbst sich primär mit Textlesungen beschäftigen. Das Verfahren hat sich bisher in keinem Modell manifestiert, es findet sich lediglich eine Reihe von Lektüren, von denen keine mit dem Anspruch hervortritt, endgültig und erschöpfend zu sein. Im folgenden möchte ich einige Beispiele für diese Lesepraxis geben.
Arachnologie Arachne, die im 6. Buch der Metamorphosen Ovids auftritt, ist eine Weberin, die Athene zum Webstreit herausfordert. Athene webt ein Bild der Götter, die Athen den Namen gegeben haben, Arachne jedoch webt ein Bild von Göttern, die verkleidet irdische Frauen verführen. Zur Strafe zerreißt Athene Arachnes Webstück und verwandelt sie in eine Spinne. Diesen Mythos liest Nancy Miller als „sowohl eine Figuration weiblicher Produktionsrelationen zur dominanten Kultur als auch eine mögliche Parabel (oder ein kritisches Modell) einer feministischen Poetik." {Miller 1986:272). Das allgemein dekonstruktivistische der Geschichte liegt für Nancy Miller im Bild des Textes als Gewebe und der Vernichtung der Verfasserin als Subjekt. Die weibliche Geschichte sieht Miller darin, daß Arachne für die Wahl ihres Blickwinkels bestraft und dazu verurteilt wird, ohne reprä-
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sentative Gültigkeit zu weben (schreiben): sie spinnt aus sich selbst und in sich selbst, sie wird vom Terrain der Kunst ferngehalten und spinnt so als Frau. Nancy Miller nennt diese Lesestrategie selbst das „Unterbelesene überbelesen". Man könnte auch sagen, daß sie — wie Paul de Man — sich dafür entscheidet, einen Text als Allegorie über etwas zu lesen, mit dem sie sich gerade beschäftigt. Eine skeptische Bewertung Millers würde fragen, ob der Text Belege für ihre Lektüre liefert und ob es. wahrscheinlich ist, daß Ovid die von ihr skizzierte Absicht verfolgt hat; für eine dekonstruktive Analyse sind solche Fragen jedoch irrelevant. Wie Biddy Martin gesagt hat: wir müssen „uns von dem bürgerlichen Erbe befreien, das uns gelehrt hat, Texte als Ausdruck feststehender Bedeutungen zu betrachten, die aus der Intention und den Absichten des Verfassers entsprungen sind." (Martin 1982:17) Jan Rosiek hat in einer Vorlesung über Paul de Man noch radikaler formuliert, was das dekonstruktive Gültigkeitskriterium ist: „Die Existenzberechtigung der Kritik liegt nicht ausschließlich in der Fähigkeit, gültige Lesungen bereitzustellen. Theorie existiert nur, um die Praxis anleiten zu können. Ferner kann man darauf hinweisen, daß „starke" Lesungen interessanter als „gültige" Lesungen sind. Das verifizierbare Wissen ist zugleich auch das am wenigsten interessante." (Rosiek 1991:3) Eine feministisch-dekonstruktivistische Lektüre ist nach dieser Aussage dann gültig, wenn sie eine wirkungsvolle und vitale Formulierung der weiblichen Bedingung liefert. Ob ein Verfasser in diesen Bahnen gedacht und überhaupt Möglichkeit dazu gehabt hat, ist uninteressant. Schrift und Macht Nancy Armstrong und Leonard Tennenhouse haben die Anthologie The Violence of Representation. Literature and the
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history of violence (1989) herausgegeben, die diverse „Lektüren" des Verhältnisses von Macht und Zeichen (hier Repräsentation) beinhaltet. Der Band arbeitet mit einem sehr weiten Textbegriff und umfaßt Analysen von Macht und Repräsentation in Literatur, Kultur und Politik in der älteren und neueren europäischen Geschichte. In der Einleitung führen die Herausgeber eine Lesung des Romans Jane Eyre (1847) von Charlotte Bronte durch, der von einer armen Gouvernante handelt, die schließlich den Gutsherren heiratet. Jane Eyre fehlt jede soziale Macht: Geld, Familie, Bildung, Schönheit, angenehmes Wesen. Dennoch hat sie eine Macht, die niemand sonst im Text besitzt. Sie ist die Erzählerin. Ihre Macht benutzt Jane Eyre, um alle anderen Personen von der Haltung des Seelenadels, aus der heraus sie berichtet, „auszugrenzen". Aus dieser Position kann sie beträchtliche und aggressive Macht auf diejenigen ausüben, die sie beschreibt. Jane Eyre ist eine Frau, und die Herausgeber plazieren sich selbst und andere ebenfalls in dieser „weiblichen Position": ohne soziale Macht kann man doch immer durch die Macht der Schrift sich selbst als verschieden von den negativ besetzten „Anderen" definieren. Dies wäre wieder eine Form der „Weiblichkeit", die unabhängig vom biologischen Geschlecht ist.
Lesen wie eine Frau Frauen haben auf verschiedene Weisen „wie Frauen" gelesen, so Jonathan Culler, nämlich nach der Maßgabe der Phasen der neueren feministischen Literaturkritik. Zuerst lasen wir Männerliteratur und sahen ein, daß dieser der weibliche Erfahrungshorizont fehlte oder sie ihn unterdrückte; in der Literatur von Frauen fanden wir ihn. Gleichzeitig wurde deutlich, daß „wie eine Frau zu lesen" auch heißen konnte, „wie
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ein Mann zu lesen", d. h., sich mit dem männlichen Weltbild und oft gegen weibliche Interessen zu identifizieren. In der letzten Phase bedeutet weibliches Lesen, die „Weiblichkeit" des Textes als eine vom biologischen Geschlecht unabhängige Eigenschaft zu betrachten. Wenn wir diese letzte Form der Lektüre mit einer allgemeinen Auffassung von offenen und fließenden Identitäten in Verbindung bringen, lesen wir wie eine feministisch-dekonstruktivistische Frau. Ich möchte eine solche Lesung versuchen. Beispielstext ist die Prosaübersetzung eines Auszugs aus Claus Christoffersen Lyschanders (1558 — 1624) dänischer Billeslcegtens Rimkrsnike ("Die Reimchronik des Bille-Geschlechtes", 1597—1602, gedr. 1722). In dieser Chronik läßt Lyschander sechzehn Ahnen Sten Billes in Monologform aus ihrem Leben berichten. In diesem Abschnitt erzählt Margrethe Trolle, die Gattin Jens Holgersens: H e r IENS H O L G E R S 0 N saa hede hand Saa ridderlig hand mig feste H a n d haffde tilforn en B R A H E from Fru H O L G E lod hun sig nefne Men d0de hand kom o c käste det om Saa vnderlig er den skeffne. leg bleff hannem giffuen oc til hannem fort Med kaasteglig brudeskare Paa G L I M M I N G E bleff vort Bryllup giort Der boude vi mange aare. Midier sad h a n d vdi D A N M A R K I S raad O c hafde G V L L A N D y hande De T I V S K E sora holde de D A N S K E for haad Giorde hand bade sorrig oc vande. Det sigis hand forde sin Herre et aar Fragments Tivske Stseder meer bythe End alle de Slot udi Riget staar De hannem skattet o c ydthe. Thi holt hand y Soen saa sterck en fred
Lesen wie eine Frau Sin flode hand altid forde At ingen torde der losze ved Der gruede huem det horde. H a n d ocsaa mangthed Euentyr dreff Med lest oc listige sinde Som mand skal neppe y skrifft eller breff I fremmede driffter finde. Vy auffled tilsammen som k o m m e til aar Fem sonner oc dotter tuenne De sonner de voxte saa mandig de vaar Deris lige mand ingen kiende. De datter fick huer en Rigens raad De rigest y D A N M A R C K vaare De B I L L E R O C G Y L D E N S T I E R N k o m de paa foud O c leffde y mange aare. Omsiger vexte vy baade gammel oc suag Saa m o n " sig aldt Verden vende, O c dode saa hen; haffuer lise oc mag I himmerig vden ende. (Lyschander 1989: 80). (Herr J E N S H O L G E R S E N so hieß er So ritterlich nahm er mich zur Frau Er hatte zuvor eine fromme B R A H E [ = Familienname] Frau H O L G E ließ sie sich nennen D o c h der Tod kam und warf alles um So wunderlich ist das Geschick. Ich wurde ihm gegeben und zu ihm geführt M i t reicher Brautschar Auf G L I M M I N G E wurde unsere Hochzeit gehalten D o r t wohnten wir viele J a h r e Inzwischen saß er im Rat von D Ä N E M A R K Und hatte G O T L A N D als Lehen. Den D E U T S C H E N , die die D Ä N E N haßten Bereitete er Kummer und Not. M a n sagt, er führte seinem Herren in einem J a h r Aus den D E U T S C H E N Orten mehr Beute fort
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Von Frau zu Geschlecht Als alle Schlösser, die im Reich stehen Ihm zahlten und zollten. Denn er hielt zur See einen so starken Frieden Und führte seine Flotte immer so Daß keiner es wagte, das Feuer zu eröffnen Jeden graute, der das hörte. Er bestand auch viele Abenteuer Mit Lust und listigem Verstand Wie man sie kaum in Schrift oder Brief In fremden Schilderungen findet. Wir zeugten miteinander Fünf Söhne und zwei Töchter, die heranwuchsen Die Söhne wurden so mannhaft Daß man ihresgleichen nicht kennt. Die Töchter bekamen jede einen Reichsrat Sie waren die Reichsten in D Ä N E M A R K Die BILLER und die G Y L D E N S T I E R N E R [ = Familiennamen] folgten ihnen Und lebten viele Jahre. Wir aber wurden alt und schwach So muß sich alles in der Welt wenden, Und starben schließlich; wir haben Frieden und Ruhe Im Himmelreich ohne Ende.)
Lyschander weist darauf hin, daß seine Erzählung nicht realistisch ist, da er die Sprecher — hier Margrethe Trolle — von ihrem eigenen Tod berichten läßt. Kann man nicht mit dem Begriff „Realismus" operieren, bietet sich „Repräsentativität" als Beschreibungsterminus an. Was repräsentiert Margrethe Trolles Monolog in diesem Fall? Vor allem den Adel, d. h. die Namen und Besitztümer des Adels, die (wie Deutschland und Dänemark) großgeschrieben werden. Wie wird das adelige Ehepaar geschildert? Zuerst beim prachtvollen Hochzeitsfest („So ritterlich nahm er mich zur Frau", „Mit reicher Brautschar"). Es wird ferner durch die Aufga-
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ben des Mannes dargestellt, des Reichsrates, gotländischen Lehensmannes, See- und Kriegshelden, und durch die vielen Kinder. Wo ist die Adelige in dieser Repräsentation, mag eine Feministin fragen. Wo ist Margrethe Trolle selbst? Liest man als ideologiekritische Feministin, könnte man anmerken, daß sie nur da ist, um zu heiraten, Kinder zu bekommen und zu sterben. D a sie selbst von ihrem Leben erzählt, scheint sie die Form von Weiblichkeit zu vertreten, die sich mit dem Mann identifiziert: statt von sich selbst zu berichten, erzählt sie von den Taten ihres Gatten. Der Text beinhaltet keine weiblichen Erfahrungen und keinen weiblichen Alltag. Liest man den Text als Semiotiker, wird man nicht nach Erfahrung, sondern nach Zeichen suchen. Gibt es in diesem Text einen Repräsentanten für ,,Weiblichkeit"? Kristeva würde das verneinen, denn sie glaubt nicht, daß Weiblichkeit repräsentiert werden kann. Ebenso Irigaray, da der Text nicht viel „Begehren" aufweist. Sucht man nach Zeichen für Sexualität, findet man kaum eines. Wird der Text hingegen als patriarchalischer Text betrachtet und das patriarchalische Subjekt isoliert (vgl. o.), zeigt sich, daß die Frau weder voll repräsentiert noch voll verdrängt wird. Die Frau ist Teil des „Wir", das viele Kinder b e k o m m t , die ihrerseits viele Kinder bekommen. Deshalb ist Margrethe Trolle in hohem Grad repräsentiert: die Kinder sind das Zeichen, das jene „Weiblichk e i t " definiert, deren Identität das Geschlecht, die Sippe ist. Margrethe Trolle war auch Gattin, weshalb sich sagen läßt, daß sie über ihren Mann zur Darstellung k o m m t . Wenn er ritterlich, groß und mächtig ist, fällt positiv auf sie zurück, daß sie diesen M a n n hat; sie wird deshalb auch durch ihren Gatten repräsentiert. M a n kann bei der Lektüre wohl eine feministische Haltung einnehmen, die „ G a t t i n " und „Mutter" nicht als Identität akzeptiert, doch ist es nicht möglich, dem Text gerade diese
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weiblichen Subjektzeichen abzuerkennen. Die semiotische Lektüre findet deshalb eine Menge „Margrethe Trolle" in diesem Ausschnitt, auch wenn sie als „Realität" fehlt. Ich schrieb, Margrethe Trolle werde zwar repräsentiert, doch nicht vollständig. Letzteres zeigt sich daran, daß ihr Name, Trolle, verschwindet, ebenso der ihrer Töchter, der gemäß patriarchalischem Brauch in den Familiennamen Bille und Gyldenstiern aufgeht. Der gleiche Mechanismus patriarchalischer Vereinnahmung läßt sich am Ausdruck „Wir zeugten miteinander" ablesen. Die dahinterstehende Vorstellung vom Menschen konzentriert sich auf ein generelles Fruchtbarkeitsmerkmal, und dieses Merkmal ist männlich. Würde ein weibliches Merkmal das Zeichen „Wir" bestimmen, hieße es „Wir gebaren miteinander". Das Weibliche wird von diesem Zeichen sowohl benannt wie ausgeschlossen. Liest man wie eine Frau und mit Armstrongs und Tennenhouses Jane Eyre-Lektüre im Hintergrund, kann man sich darauf stützen, daß es Margrethe Trolle ist, die erzählt. Laut Armstrong und Tennenhouse wäre sie dadurch in der obersten Machtposition, nämlich jener der Schrift. Sie deutet und bewertet die anderen. Dies tut sie tatsächlich: der Gatte ist ritterlich, die Söhne sind so mannhaftig, daß man ihresgleichen nicht findet, die Töchter sind mit den vornehmsten Männern verheiratet. Sie hätte auch etwas Negatives sagen können; in jedem Fall steht der Nachruf des Geschlechtes in ihrer Macht. Darin kann eine doppelte Repräsentation gesehen werden, da die Frau durch die Legitimitätsfrage in zweifachem Sinn den Ruf der Sippe in ihrer Hand hat. Wo also die eine feministische Lektüre die Unterdrückung Margrethe Trolles lesen wird, kann die andere behaupten, daß sie im Gegenteil in eine Machtposition versetzt wird. Der Erzählerstandpunkt eröffnet eine neue Perspektive. Das Besondere an Billeslcegtens Rimkronike ist nämlich der Umstand, daß alle sechzehn auftretenden Ahnen Frauen sind.
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Da der Text vollständig ist, muß der Verfasser Lyschander die Auffassung vertreten haben, daß ein Geschlecht durch seine Frauen repräsentiert werden kann. Wir sehen an dieser Stelle, daß auf einer Ebene die Frau durch Mann und Kinder repräsentiert wird, auf einer zweiten Ebene aber die gesamte Sippe von der Frau repräsentiert wird. Zeichen und Bezeichnetes wechseln ständig den Platz. Noch interessanter ist der Bezug zur Editionsgeschichte der Chronik, die vom Herausgeber Flemming Lundgreen-Nielsen dargelegt wird. Der Text liegt in fünf Manuskripten vor, die alle von Lyschander selbst geschrieben wurden; er war also nachweislich involviert. Diese Handschriften sind jedoch nur den männlichen Mitglieder des Bille-Geschlechtes gewidmet. „Keiner der Texte, weder die eigenhändig noch die später abgeschriebenen, sind an die drei Töchter derselben Generation gerichtet [...]. Vielleicht, weil die Initiative von ihnen ausging [...]." (Lundgreen-Nielsen 1989 11:70) Wollten die Bille-Schwestern die Frauenlinie der Sippe markieren? Kann man von einem Aufbegehren reden? Wir wissen es nicht. Als der Text 1722 erneut gedruckt wurde, nannte die Ausgabe eine Frau, Birgitte Bille, als Verfassernamen. LundgreenNielsen bezeichnet diese Tradition als „spät und unzuverlässig" (Lundgreen-Nielsen 1989 11:70). Richtig oder falsch, jemand hat die Verbindung von Weiblichkeit und Schrift stärken wollen und damit „Weiblichkeit" als aktiven Repräsentanten des Geschlechtes. Noch ein Stein kann dem Repräsentationsmosaik hinzugefügt werden. Sophie Brahe (Schwester des Astronomen Tycho Brahe) enthüllt — dem Titelblatt ihres Exemplars zufolge spätestens 1624 — daß die Chronik von ihrer Großmutter mütterlicherseits, Lisbet Ulfstand, begonnen und später von der Familie weitergeschrieben wurde. Diese Tradition kann laut Lundgreen-Nielsen „nicht ganz von der Hand gewiesen werden" (Lundgreen-Nielsen 1989 II: 73), obwohl die Verse
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Lisbet Ulfstands verlorengegangen sind. Wenn Sophie Brahes I n f o r m a t i o n k o r r e k t ist, ist die R e i m c h r o n i k von Anfang an F r a u e n w e r k ; Lyschander mag in diesem Fall zu einem späteren Z e i t p u n k t als aktualisierender K o m p i l a t o r hinzugekommen sein. Auch außerhalb des Textes liegen also einige spannende geschlechtsbestimmte R e p r ä s e n t a t i o n s p r o b l e m e . Lyschander w a r Priester. Vielleicht hat er selbst die Schlußverse am Ende jedes M o n o l o g e s geschaffen: wenn der adelige Körper wie alles Irdische verfällt und stirbt, wird d o r t die christliche Ewigkeit der Seele in den T e x t eingebaut und hebt sozusagen den Ewigkeitsgedanken auf, den die Sippe darstellt. Umgekehrt hebt der Begriff der Sippe die Ewigkeitsvorstellung des Priesters auf. W i e d e r eine flottierende Identitätsfrage: liegt das transzendentale Ich im H i m m e l oder in der Sippe? Diese L e k t ü r e hat gezeigt, d a ß auch für Feministinnen Weiblichkeit ein offener Begriff sein k a n n . W o die eine Lesung nichts sehen will, deckt die andere eine g r o ß e Fülle auf.
Abschluß Alles ist relativ. S o kann m a n die Lehre der D e k o n s t r u k t i o n zusammenfassen. Dies ist im G r u n d e nichts Neues, sondern die gleiche Sichtweise, die in den 1 8 7 0 e r n von G e o r g Brandes in die dänische Literaturkritik eingeführt wurde. D i e D e k o n struktion hat diesen Ansatz weitergeführt und auf Gebiete ausgedehnt, von denen Brandes nie geträumt hätte und die er nicht akzeptiert hätte. In den Fällen, in denen die dekonstruktivistische Relativität zur b l o ß e n Wortgaukelei gerät, verliert die D e k o n s t r u k t i o n S t o ß k r a f t und Legitimität. W o sie jedoch klar und mit soliden Grundlagen arbeitet, ist sie ein w o h l t u e n d irritierender Beitrag zur literaturtheoretischen D e batte.
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